Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft [1 ed.] 9783428421336, 9783428021338


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Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft [1 ed.]
 9783428421336, 9783428021338

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Internationale Tagung der Sozialakademie Dortmund

Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft

Herausgegeben von

Herbert Scholz

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft

I N T E R N A T I O N A L E TAGUNG D E R S O Z I A L A K A D E M I E D O R T M U N D

Die Rolle der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft Herausgegeben von Prof. D r . Herbert Scholz

D U N C K E R

&

H Ü M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1969 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1969 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

Vorwort A u f der Suche nach dem gesellschaftlichen Ort der Wissenschaften heute muß festgestellt werden, daß das Verhältnis von Wissenschaftlern, Politikern und politisch mündigen Staatsbürgern vielfach noch stark belastet ist durch Vorurteile und Mißverständnisse. N u r langsam setzt sich die Einsicht durch, daß beispielsweise wissenschaftliche Freiheit durch wissenschaftliche Beratung der Politik nicht beeinträchtigt zu werden braucht. Die moderne Wissenschaft ist nicht umweltneutral, weder hinsichtlich der Erkenntnisprozesse noch hinsichtlich der Erkenntniswirkungen. Umwelt w i r d aber immer stärker als soziale Umwelt erlebt. Besonders deutlich w i r d dies, wenn man das Handlungsfeld des Forschers und die Grundwerte seiner Berufsrolle soziologisch analysiert. Eine derartige Betrachtung weist auch auf die soziale Problematik der modernen Wissenschaft, auf die Gefährdung wissenschaftlichen Selbstverständnisses und wissenschaftlicher Arbeit hin. Wirklich bewältigt werden kann die gegenwärtige Situation weder durch Rückzug auf das Individuum noch durch die vorbehaltlose Anpassung an die sozialen Gegebenheiten. Die Vermittlung der erforderlichen kritischen Distanz ist für die Wissenschaftler ebenso eine zentrale Bildungsaufgabe wie die Orientierung m i t Hilfe eines übergreifenden Menschen- und Gesellschaftsbildes. Letztlich muß der Wissenschaftler zutiefst der Überzeugung sein, daß die Bedingungen der Humanität das K r i t e r i u m des objektiven Fortschritts der Wissenschaft sind. Die Sozialakademie Dortmund wollte als freie Lehr- und Forschungsstätte auf ihrer Internationalen Tagung 1968 allen Interessierten Gelegenheit bieten, sich über die Rolle der Wissenschaft i n der modernen Gesellschaft zu informieren, und hat deshalb namhafte Wissenschaftler und Politiker des I n - und Auslandes ersucht, das Thema unter den verschiedensten Aspekten zu behandeln. Nach den Vorträgen war — alter Übung entsprechend — stets Gelegenheit zu gründlicher Diskussion mit den Referenten. Für eine Reihe von Hilfen, die für das Zustandekommen der Tagung wesentlich waren, möchte die Sozialakademie an dieser Stelle sehr herzlich danken, vor allem dem Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Dortmund, die die Arbeit der Akademie

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Vorwort

seit Jahren großzügig gefördert haben. Für die Übernahme der Drucklegung ist die Sozialakademie dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann, sehr verbunden. Meinen Mitarbeitern, Herrn Dr. Oskar Daiderich, Herrn Raimund Klingner, Frau A n t j e Huber und Frau Hildegard Opificius, danke ich für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Zusammenstellung dieses Buches. Die Lektüre der vorliegenden Referate und Diskussionen macht deutlich, wie wichtig die Rolle der Wissenschaft i n der modernen Gesellschaft ist und wie sehr ihre Bedeutung wächst. Aus diesem Grunde glaubt die Sozialakademie mit ihrer Internationalen Tagung 1968 nicht nur ein dankbares Thema aufgegriffen, sondern zu einer notwendigen Diskussion beigetragen zu haben. H. Scholz

Inhaltsverzeichnis I. Vorträge Staatssekretär Prof. Dr. Hermann Lübbe, Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Zur politischen Theorie der Technokratie

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Prof. Dr. Friedrich Fürstenberg, Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Linz/ Österreich: Die Wissenschaft im gesellschaftlichen Spannungsfeld

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Prof. Heinz Hartmann, Ph. D., Universität Münster und Sozialforschungsstelle Dortmund: Wissenschaft und öffentliche Meinung

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Priv.-Doz. Dr. Heiner Flohr, Universität Köln: Das Selbstverständnis der Wissenschaft und seine gesellschaftspolitische Bedeutung 49 Prof. Dr. Friedrich

H. Tenbruck,

Universität Tübingen:

Regulative Funktionen der Wissenschaft in der pluralistischen Gesellschaft 61 Jaroslav Tejmar, M. D., S. Sc., Prag, z.Z. am Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie, Dortmund: Der Begriff der Wissenschaft im Wandel des Weltbildes 86 Prof. Dr. Hans Joachim Jahn, Sozialakademie Dortmund: Koalition zwischen Medizin und Soziologie als besonderes Erfordernis der Industriegesellschaft 106 Prof. Dr. Robert Rie, State University College, Fredonia, New York: Die Vereinigten Staaten — ein wissenschaftliches Staatsgebilde und die Wissenschaft 133 Prof. Dr. Joseph H. Kaiser, Universität Freiburg/Br.: Planung als Wissenschaft und als Aktionsmodell

150

Prof. Dr. Wilhelm Kr eile, Universität Bonn: Anwendung der Entscheidungstheorie auf soziale Probleme

159

Dr. Harald Koch, Staatsminister a.D., Hoesch AG., Dortmund: Die Wirtschaft im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft

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Inhaltsverzeichnis

Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn, Fried. Krupp, Essen, und Sozialakademie Dortmund: Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung .. 207 Staatssekretär Dr. Hans von Heppe, Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, Bonn: Grenzen der Forschungsförderung durch den Staat 242 Prof. Dr. Karl Steinbuch , Technische Hochschule Karlsruhe: Technik und Gesellschaft im Jahre 2000

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Ulrich Lohmar, M.d.B., Bielefeld: Wissensdiaftspublizistik als Voraussetzung politischer Planung

277

n. Dikussionen zu den Vorträgen Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Friedrich reich)

Fürstenberg

(Linz/Öster287

Diskussion zum Vortrag von Prof. Heinz Hartmann, Ph. D. (Münster) .. 295 Diskussion zum Vortrag von Priv.-Doz. Dr. Heiner Flohr (Köln) Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Friedrich

304

H. Tenbruck (Tübingen) 314

Diskussion zum Vortrag von Jaroslav Tejmar, M. D., S. Sc. (Prag)

320

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) .. 330 Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Joseph H. Kaiser (Freiburg/Br.) .. 347 Diskussionn zum Vortrag von Prof. Dr. Wilhelm Krelle

(Bonn)

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen)

360 362

Diskussion zum Vortrag von Staatssekretär Dr. Hans von Heppe (Bonn) 372 Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Karl Steinbuch (Karlsruhe)

380

in. Zusammenfassung der Tagungsergebnisse Prof. Dr. Herbert Scholz, Sozialakademie Dortmund: Zusammenfassung der Tagungsergebnisse

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I. Vorträge

Zur politischen Theorie der Technokratie Von Staatssekretär Prof. Dr. Hermann Lübbe, Düsseldorf Unter dem Stichwort „Technokratie" w i r d heute nicht selten die Frage erörtert, ob die Wissenschaft zu einer Führungsmacht der modernen Gesellschaft werde. Diese Frage ist selten eindeutig gestellt. Ich entschließe mich, sie so zu verstehen, daß es m i r möglich wird, sie m i t einem runden „nein" zu beantworten. I m Fortschritt der Wissenschaft w i r d die Wissenschaft nicht zu einer Führungsmacht i m politischen Sinne des Wortes „Macht". Das heißt: Die Organisationseinheiten der Wissenschaft, die Zentren ihres Forschungs- und Lehrbetriebs sowie ihrer Verwaltung und Selbstverwaltung — diese institutionellen Subjekte der Wissenschaft verwandeln sich nicht i n Subjekte entscheidungsfähiger politischer Willensbildung. Ich sehe nicht, daß die soziale und funktionale Distanz zwischen wissenschaftlichen und politischen Institutionen sich wirklich i n einer Weise fortschreitend aufhöbe, die zu sagen erlaubt, daß die Wissenschaft wirklich zu einer gesellschaftlichen Führungsmacht wird, und ich w i l l zu begründen versuchen, warum das auch kaum zu erwarten ist. Immerhin hat sich die Frage, ob die Wissenschaft zu einer gesellschaftlichen Führungsmacht werde, nicht unvermittelt gestellt. I h r liegen Erfahrungen, Beobachtungen tatsächlicher Rollenverschiebungen zwischen Politik und Wissenschaft zugrunde, und ich möchte aus meiner Sicht der Dinge diese Rollenverschiebung gleich zu Beginn auf die Quintessenz einer These bringen. Meine These lautet, daß die Wissenschaft nicht zu einer Führungsmacht, sondern zu einem Führungsinstrument i n den Händen unserer gesellschaftlichen Führungsmächte werde. Ich möchte nun aber von vornherein einem Mißverständnis vorbeugen, dem diese These ausgesetzt sein könnte. Die These, die Wissenschaft sei nicht Führungsmacht, sondern Führungsinstrument, scheint ja ebenso traditionalistisch wie t r i v i a l das Verhältnis von Wissenschaft und Politik so zu bestimmen, als sei die Politik die Praxis der Entscheidung für Ziele und Zwecke, während die Wissenschaft der Politik instrumental dient, diese Ziele und Zwecke zu erreichen und zu verwirklichen.

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Hermann Lübbe

Es wäre das zweifellos eine Simplifizierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik. Die Kategorien von M i t t e l und Zweck sind präzis nur i n eingeschränkten, technologisch beherrschten Handlungszusammenhängen verwendbar. I n der politischen Praxis verwischt sich die klare Trennimg von Zweck und Mittel. So sind z. B. die militärischen Führungsinstrumente der Politik nur selten den Zwecken der Politik bedingungslos unterworfen geblieben. Schon allein ihre Erhaltung wurde stets selbst zu einem der wichtigsten, kräftebindenden Zwecke, und andere politischen Zwecke erlitten infolgedessen eine Verwandlung i m Ganzen des politischen Zusammenhangs. Generell läßt sich sagen, daß die klare Trennung von Zweck und Instrumentar i u m seiner Verwirklichung sich immer dann nicht durchhalten läßt, wenn eine i n gewissem Umfang autonome Änderung oder Entwicklung des Instrumentariums selbst die Neudefinition der Zwecke min* destens mitbestimmt. A n den Beziehungen zwischen Politik und M i l i tärtechnik ist das bis zur Evidenz deutlich, und dieser Fall ist zugleich einer der Fälle, und zwar unverändert einer der wichtigsten Fälle der Veränderung, ja der indirekten Steuerimg der Ziele der politischen Führungsmacht durch das Führungsinstrument der Wissenschaft, dessen sie sich bedient. Das also habe ich keineswegs übersehen, wenn ich nichtsdestoweniger leugne, daß die Wissenschaft heute zur politischen Führungsmacht zu werden sich anschicke. Die Bestimmung der Rolle der Wissenschaft als eines politischen Führungsinstruments schließt nicht aus, daß die Führungsmächte von diesem Instrument abhängig sind. Aber das Wort „Macht" verlöre seinen präzisen politischen Sinn, wenn man diejenigen, von denen die Mächtigen abhängig sind, eben deswegen i n gleicher Bedeutung „Mächtige" nennen wollte. Ich möchte jetzt meine These i n einem ersten Schritt begründen, indem ich Sie, zum Beweise e contrario, m i t derjenigen Wirklichkeit bekanntmache, die man sich als eine durch Wissenschaft und Technik, das heißt also durch Wissenschaftler und Techniker statt durch Politiker, geführte Gesellschaft vorgestellt hat. Es gibt diese Wirklichkeit aber nicht; deswegen kann ich sie Ihnen auch nur utopisch vorführen, indem ich Ihnen i n knapper Skizze aus literarischen Manifestationen dieses utopischen Gedankens berichte. Der Name dieser Utopie ist Technokratie. Als Klassiker der technokratischen Utopie läßt sich der Lordkanzler von England, Francis Bacon, ein Zeitgenosse des frühen 17. Jahrhunderts, bezeichnen. Bacon's fragmentarischer Roman „Nova Atlantis" ist die Utopie eines Gemeinwesens, das, statt von Politikern regiert, von wissenschaftlichen Sachverständigen verwaltet wird. Statt politischer Herrschaft von

Zur politischen Theorie der Technokratie

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Menschen über Menschen gibt es, wie i n der klassenlosen Gesellschaft marxistischer Prophetie, nur noch Sachverwaltung. Dem entspricht auf Nova Atlantis symbolhaft das Denkmalswesen. A u f den öffentlichen Plätzen der technokratischen Inseln sind nicht mehr die Mächtigen aufgestellt, wie überall i m Europa monarchischer Tradition, so auch i n Wien etwa auf dem Josefsplatz, also jene gerüsteten Herrscher auf stolzen Rössern, die Bezwinger ihrer Feinde und Sieger. Denkmäler haben auf der neuatlantischen Insel nur die Großen der Wissenschaft und der Technik, die Erfinder und Künstler, die Erleuchteten der Mathematik. „Der Zweck unserer Gründung ist es", so sagt der Chef der Insel, eine Mischung mönchischer, professoraler und bürokratischer Elemente, „der Zweck unserer Gründung ist es, die U r sachen der Bewegungen sowie die verborgenen Kräfte der Natur zu ergründen und so die Grenzen der menschlichen Macht soweit wie möglich zu erweitern". Hier begegnet uns i n wichtigem Zusammenhang das Wort „Macht". Macht, vormals die K r a f t des politischen Willens, der Zustimmung verlangt und notfalls Gehorsam erzwingt — „Macht" w i r d jetzt zum Namen der technischen Möglichkeiten, die jenen zuwachsen, welche die Gesetze der Natur zu erkennen und ihnen zu gehorchen gelernt haben. Der Gegensatz von politischer Herrschaftsmacht und wissenschaftlich-technischer Macht, aus dem heraus Bacon seine technokratische Utopie entwirft, ist i n zwei berühmten Sätzen mottohaft manifest. Der erste Satz hat Thomas Hobbes zum Autor. Er lautet: „The sciences are small power". Dieser Satz ist politisch, nicht technokratisch gedacht. Er reflektiert die politische Schwäche des Subjekts der WissenSchaft i m Verhältnis zum politischen Machthaber. Bacon dagegen hat i n gewisser Weise das Entgegengesetzte behaupt e t I n der Formel „Wissen ist Macht" ist es zum Schlagwort geworden: „Tantum possumus quantum scimus". I n Bacon's Formel herrscht die Gewißheit, daß schließlich die Macht des wissenschaftlich kontrollierten Realitätsverhältnisses größer sein w i r d als alle Gewalt des politischen Willens. Die Details der technokratischen Utopie können w i r uns hier ersparen — science fiction des 17. Jahrhunderts, und abermals ein Beweis, daß die tatsächlichen wissenschaftlich-technischen Entwicklungen stets noch phantastischer verlaufen, als die vorlaufende technische Phantasie sich vorzustellen vermochte. Die Leidenschaft des Wissens und des Erfindens sowie die Bewunderung, die den Wissenschaftlern und Erfindern gezollt wird, haben auf Nova Atlantis gleichsam den politischen Willen verzehrt und seine Energie an sich gezogen. Durch Neu-Atlantis weht bereits jener Geist,

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auf den heute vertraut, wer eine gewisse Neutralisierung der uns bestimmenden weltpolitischen Spannungen aus der Organisation von geophysikalischen Jahren sich erhofft, oder von west-östlichen Kosmonauten-Friedensfahrten zum Mars. Politische Herrschaft und Technokratie — dieser Gegensatz bestimmt i n anekdotischer Weise sogar die Biographie der beiden zitierten Männer Hobbes und Bacon. Hobbes wurde 1588, früher als erwartet, geboren, als die Furcht, die England vor der sich nahenden spanischen Armada ergriff, auch seine Mutter erschütterte. Bacon dagegen starb früher als wahrscheinlich» als ihn, der i m Frühjahrsschnee die Kältekonservierung von Hühnerfleisch erprobte, eine Lungenentzündung packte. A l s nun u m die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert die moderne Industrie i n ihren ersten Anfängen wirklich auf dem Schauplatz der europäischen Geschichte erschien, nahm die Idee technokratischer Verwandlung der Politik i n Sachverwaltung konkretere, politisch gezieltere Züge an. Wozu politische Herrschaft? — Das ist die Frage des französischen Grafen Saint Simon gewesen. Was geschähe, so hat Saint Simon ironisch erwogen, wenn über Nacht die Repräsentanten des politischen Prinzips, also Seine Königliche Hoheit der Bruder des Königs, der Herzog von Angouleme, gleichfalls die Herzogin nebst dem Fräulein von Conde, dito die Großwürdenträger, Staatsminister m i t und ohne Portefeuille, Kardinäle und Unterpräfekten alle dahinstürben? „Dieses Ereignis würde sicherlich die Franzosen betrüben, w e i l sie gute Menschen sind und nicht eine so große Zahl ihrer M i t bürger plötzlich verschwinden sehen könnten." Darüber hinaus aber geschähe gar nichts, „und zwar deswegen nicht, weil es sehr leicht wäre, die freigewordenen Stellen wieder zu besetzen". Die Zahl derer, welche die Pflichten eines Bruders des Königs zu erfüllen i n der Lage wären, ist groß, und was das Fräulein von Conde konnte, können viele Französinnen noch weitaus besser. Dagegen: verlöre Frankreich über Nacht seine ersten 50 Physiker, Chemiker, Ärzte, Seeleute, Kattunfabrikanten, Köhler, Messerschmiede usw. — was wäre die Folge? Zivilisation und öffentliche Wohlfahrt brächen zusammen. „ U m ein solches Unglück wieder gutzumachen, brauchte Frankreich mindestens eine Generation." Wenn so Arbeit evidenterweise das zivilisierte Dasein des Menschen trägt — wozu noch Herrschaft? Das ist die Frage des französischen Grafen, und sie weist utopisch i n jene Zukunft, i n der auch für den Marxisten die politische Geschichte der Menschheit als politische endet Die Technokratie ist die Idee der vollendeten Rolle der Wissenschaft als der Führungsmacht der modernen Gesellschaft. Sie bedeutet nicht,

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daß die Wissenschaftler die Macht i m Staate ergriffen; sie bedeutet, daß i m Medium wissenschaftlichen Sachverstandes Politik und m i t i h r politische Feindschaft sich i n einen Zustand technokratisch gewirkten sozialen Friedens und Wohlstands universeller A r t auflösen. I n Österreich spielt man Tarock, und wer es w i r k l i c h spielt, erinnert sich, daß auf dem schwächsten der Trümpfe außer dem Spatz, auf dem Tarock-Zweier, die Devise des Spiels notiert i s t Sie lautet: Industrie u n d Glück. Einstmals war diese Devise die von kartenspielenden Stammtisch-Bürgern, die beim Weine Früchte ihres Gewerbefleißes genossen. Heute könnte man sie als Wappenspruch der vollendeten Technokratie verwenden. Soweit meine Erinnerung an die Utopie der Technokratie als Beweis e contrario für die These, daß die Wissenschaft k a u m i n dem Sinnä zur Führungsmacht der Gesellschaft werden wird, daß sie i n ihren Organen und Repräsentanten sich an die Stelle der herkömmlichen politischen Machtinstanzen drängt und dabei diese Macht als politische auflöst. Man braucht ja weder Politiker noch Wissenschaftler, sondern nur ein urteilsfähiger Zeitgenosse zu sein, der sich nicht verblüffen läßt, u m zu finden, daß die Technokratie keineswegs drauf und dran ist, sich herzustellen. Man brauchte übrigens nicht, u m die technokratische Vision einer Machergreifung der Wissenschaft zu charakterisieren, sich auf die Reproduktion alter Texte aus früheren Jahrhunderten zu beschränken. Ich sagte schon, daß auch i m Marxismus ein technokratisches Element waltet. Auch der Marxist erwartet ja die entpolitisierte, das heißt herrschaftsfreie, klassenlose Endgesellschaft als einen Zustand höchst entwickelter Wissenschaft und Technik als conditiones sine quibus non. Der Kern des marxistischen Arguments, daß höchstentwickelte Wissenschaft und Technik Bedingungen einer kommunistischen, herrschaftsfreien Gesellschaft seien — der K e r n dieses Arguments ist die folgende Überlegung. Erst, wenn es endgültig und für alle überzeugend leichter geworden sein wird, die Güter des Lebens durch Arbeit der Natur als durch Ausbeutungsherrschaft anderen Menschen abzugewinnen, erst dann stirbt Herrschaft, stirbt ihre Institution, der Staat, zusammen m i t den ihnen zugrunde liegenden Interessen ab. Auch diesen Gedanken eines solchen Zusammenhangs zwischen Fortschritt i n der Verwissenschaftlichung unserer Zivilisation und Fortschritt i n der Depotenzierung der Politik dürfen w i r getrost ins Reich der Utopie verweisen. Jetzt, nach dem negativen Exempel für den negativen Teil meiner These, daß Wissenschaft nämlich nicht Führungsmacht sei, ein positives Beispiel für ihren positiven Teil, daß sie nämlich die Rolle des

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Führungsinstruments spiele. Die Politik macht heute einen vielfältigen Gebrauch von der Wissenschaft, und sie ist auf vielfältige Weise auf die Wissenschaft angewiesen. Hier soll nur ein einziger Fall ins Auge gefaßt werden, derjenige, an welchem man zugleich auch am deutlichsten das Hineinwachsen der Wissenschaft i n eine gesellschaftliche Führungsrolle bemerken zu können geglaubt hat. Dieser Fall ist der Fall der wissenschaftlichen Politikberatung, das sogenannte PolicyMaking, die wissenschaftliche Analyse entscheidungsrelevanter Sachverhalte, so daß die fällige politische Entscheidimg m i t maximaler Rationalität getroffen werden kann. Die wissenschaftliche PolitikBeratung hat sich inzwischen i n differenzierter Form institutionalisiert. I n der größten Anzahl der Fälle vollzieht sie sich i n der Kooperation zwischen Politikern und wissenschaftlichen Beiräten, die Empfehlungen zu vorgelegten Fragen liefern. M i t solchen Beiräten umgeben sich die Instanzen der politischen Entscheidimg, bei denen die Macht residiert. W i r dürfen dabei die allerdings gar nicht so seltenen Fälle i m wesentlichen übergehen, i n denen die wissenschaftlichen Beiräte tatsächlich weniger zur Erfüllung der Beraterfunktion als aus anderen Gründen i n Anspruch genommen werden. Von diesen Gründen möchte ich immerhin auf zwei, als auf die wichtigsten verweisen. Beiräte dienen den politischen Instanzen nicht selten als Dekor. Es gehört nun einmal zum Charakter einer rasch sich verwissenschaftlichenden Zivilisation, daß man sich selbst i n sinn- und nutzlosen Fällen auf die Wissenschaft beruft. I n diesen Zusammenhang gehört, daß es i m bundesdeutschen Wahlkampf 1965 möglich war, daß sich die u m Stimmen kämpfenden Parteien wechselseitig mit Hinweisen auf die Anzahl von Professoren zu überbieten versuchten, die sich ihnen jeweils zur Verfügung gestellt hatten. Der Glanz bedeutender Namen der Wissenschaft teilt sich den Politikern mit, von denen sie, zumeist gegen Honorar, engagiert worden sind; und umgekehrt ist es für nicht wenige Professoren, gerade w e i l sie Professoren — und das heißt: nicht Machthaber — sind, eine süße Verlockung, zwar nicht ins Zimmer, aber doch ins Vorzimmer der Macht gebeten zu werden. Soviel zur DekorFunktion der Wissenschaft. Die zweite hier noch rasch zu erwähnende, damit verwandte, aber nicht identische Funktion, die wissenschaftliche Beiräte gelegentlich erfüllen, ist die bekannte Feigenblatt-Funktion. Das Feigenblatt hat zunächst einmal eine Blöße zu bedecken; sekundär mag es dann auch noch oder gerade dadurch schmücken. U m es seriöser auszudrücken: Die wissenschaftlichen Beiräte übernehmen gelegentlich die Funktion der sekundären Rationalisierung politischer Entscheidungen, die sich tatsächlich ganz anderen Gründen verdanken. I n diesen Zusammenhang gehört der jedem politisch Erfahrenen bekannte Gutachter-Krieg. Die Figur ist immer dieselbe: man tut, was

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man sowieso t u n wollte, sagt aber, man täte es, w e i l es die Professoren geraten haben. Daß dergleichen möglich ist, beweist dreierlei. Erstens beweist es, daß die Wissenschaft keineswegs i n allen Fällen politisch fälliger Entscheidung evidente, nämlich unwidersprechliche Ratschläge zu erteilen vermag. Zweitens beweist es, daß die Professoren nicht selten an einer professionell bedingten Uberschätzung sowohl der Relevanz wie der Dignität ihrer Ratschläge leiden, oder anders gesagt, daß sie ihre wissenschaftlichen Ratschläge für wissenschaftlicher halten, als sie sind, und sich daher auch gegen ihre unwissenschaftliche Verwendung nicht immer kritisch genug verhalten. Drittens beweist es, daß sowohl bei Wissenschaftlern wie bei Politikern die Überzeugung Gemeingut geworden ist, ohne wissenschaftlichen Beistand sei heute Politik nicht mehr möglich, und für diese Uberzeugung gibt es nun gute Gründe. Diese guten Gründe hat bereits i m Jahre 1863 die Regierung der USA bewogen, ein nicht zufällig dem Kriegsministerium unterstelltes wissenschaftliches Beratungs-Gremium sich zuzuordnen, nämlich die „National Academy of Sciences". Fünf Spezialaufgaben waren zur Erfüllung ihrer Beraterfunktion der National Academy of Sciences ausdrücklich gestellt, nämlich erstens die Feststellung der Anwendungsmöglichkeiten der Meteorologie; zweitens die Lösung von Galvanisierungsproblemen bei der Verbindung von Zink und Eisen; d r i t tens Vorschläge zur Erschließung des Yellow-Stone-Gebietes; viertens Erschließung chemischer Möglichkeiten, das Abblättern der Farbe von armee-eigenem Tornister-Zeug zu verhindern; und fünftens schließlich die Uberprüfung des Reinheitsgrades des amerikanischen Whiskys. Soweit die National Academy of Sciences. Ihre Tätigkeit soll erfolgreich gewesen sein, und es läßt sich vermuten, w o r i n dieser Erfolg begründet war. Er w a r vermutlich darin begründet, daß die Probleme, für deren Lösung der Rat der Wissenschaftler nötig und erbeten war, hinreichend distinkt und detailliert gestellt worden waren. Und das ist es, w o r i n ich das angegebene anekdotische Beispiel auch auf unsere gegenwärtige Situation bezogen wissen möchte. Wissenschaftliche Beratung der Politik kann erfolgreich, produktiv und nützlich immer nur insoweit sein, als sie nicht i m Modus eines geistlichen Beistands erfolgt, sondern bezogen auf lösungsbedürftige Probleme, deren Lösung außerordentlich schwierig sein mag, die aber doch aus der allgemeinen Problematik unserer politischen Existenz hinreichend präzis ausgegrenzt sind, um für Wissenschaft lösungsfähig zu sein. Wissenschaft ist eine Praxis, die nur dort erfolgreich sein kann, wo man es sich jedenfalls über eine gewisse Zeit h i n leisten kann, nicht alle weiteren und größeren Zusammenhänge mit zu bedenken. Wissen2 Tagung Dortmund 1968

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schaftliche Praxis setzt eine institutionell garantierte Entlastung von Verantwortung für das Ganze voraus. Schon daraus allein ergibt sich, daß wenig wahrscheinlich ist, die Funktionen des Wissenschaftlers einerseits und des Politikers andererseits könnten beliebig austauschbar gemacht werden. Allerdings: heute berät nun i n der Tat die Wissenschaft die Politik bei der Lösung von Problemen, deren Relevanz u m ein qualitatives Quantum größer ist als das Problem des optimalen Anstrichs von Armee-Tornistergeschirr. Aber diese qualitativen Differenzen haben keineswegs die Wissenschaft i n den politischen Rang einer gesellschaftlichen Führungsmacht erhoben. Sie ist Instrument geblieben. Wohlgemerkt, ich leugne, daß i m Gang des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts die Wissenschaft per se zur politischen Führungsmacht wird. Ich leugne selbstverständlich nicht, daß i m Fortschritt der Wissenschaft diese fortschreitend i n das Ensemble der materiellen Existenzbedingungen unserer modernen Gesellschaft eingerückt ist. Die Realität, i n der unsere Selbsterhaltungschancen verbürgt sind, verdankt sich zu einem nicht exakt quantifizierbaren, jedenfalls erheblichen Teil bereits wissenschaftlich substrukturierter, technologisch definierter Praxis, und das bedeutet zugleich, daß w i r diese wissenschaftlich bedingte und selbst bedingende Realität nur noch m i t Hilfe der Wissenschaft meistern können. Das ist zugleich der Grund, warum es heute neben den klassischen Ressorts der traditionellen Politik auch die Spezialität der Wissenschaftspolitik gibt — ein Ressort von rasch anwachsender Wichtigkeit, i n Parallele zu den überall rasch anwachsenden Anteilen an Haushalt und Sozialprodukt, die als Investitionsrate langfristig, und das heißt, nicht mehr privat kalkulierbar, für Forschungs- und Bildimgszwecke aufzubringen sind. Es gibt also heute die Figur des Wissenschaftspolitikers, und ihre Funktion w i r d i n der Tat nicht selten von Wissenschaftlern erfüllt. Aber wiederum: die neue und wichtige Figur des der Wissenschaft selbst entstammenden Wissenschaftspolitikers beweist abermals nicht, daß die Wissenschaft sich i n ihren Repräsentanten anschicke, zur politischen Führungsmacht der Gesellschaft zu werden. I n der Wissenschaftspolitik w i r d die Wissenschaft, das heißt ihre planmäßige Förderung, zum Inhalt des politischen Willens. Aber das heißt gerade nicht, daß damit Politik sich verwissenschaftliche. Ich wiederhole: Unter dem Druck der Notwendigkeit, sich des Rats der Wissenschaft zu bedienen, w i r d die Wissenschaft zum unentbehrlichen Führungsinstrument politischer Instanzen, und die Wissenschaft-

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liehen Beiräte sind die wichtigste Organisationsform dieser Beratungsfunktion der Wissenschaft. Ich darf auch an dieser Stelle noch einmal wiederholen, was ich schon zu Beginn sagte: die wissenschaftliche Beratimg der Politik macht sich nicht so, daß die Politik einseitig die Zwecke setze und die Wissenschaft liefere lediglich Mittel. Die wissenschaftliche PolitikBeratung modifiziert selbstverständlich auch die politischen Zwecke und ist so schon an der Formulierung dessen beteiligt, was überhaupt m i t Aussicht auf Erfolg politisch gewollt werden kann. Der Dualismus von wissenschaftlichem Sachverstand, der i n den Beiräten organisiert ist, und politischer Dezision ist nicht rein. Dennoch t r i t t keine totale Vermischung ein. Es bleibt eine unverwischbare Grenze zwischen Wissenschaft und Politik, und dafür gebe ich hier zweierlei Gründe an. Der erste Grund liegt sozusagen i m Professionellen. Er besagt, daß politische Praxis einerseits und wissenschaftliche Praxis andererseits Gewöhnungen, Habitualitäten, erzeugen, die es den Wissenschaftlern einerseits und den Politikern andererseits nur i n Ausnahmefällen erlauben, v o l l i n die Funktion des jeweils anderen einzutreten. Politik ist, formal gesehen, die Kunst, i n Gremien, die zu entscheiden haben oder deren Meinung für sich zu haben belangvoll ist, Zustimmungsbereitschaften zu erzeugen; schärfer formuliert: Politik ist die Kunst, Machtlagen, also z.B. Mehrheitsverhältnisse, aufzubauen, auf deren Grundlage es dann möglich wird, was man w i l l durchzusetzen. Daher ist der Stil der politischen Argumentation wirkungsbezogen. Der Stil der wissenschaftlichen Argumentation ist dagegen eher sachbezogen. Das politische Argument erzeugt Anschließbarkeit von Handlungen oder Handlungsprädispositionen; das wissenschaftliche Argument erzeugt Anschließbarkeit anderer oder weiterer Argumente. Ich behaupte abermals nicht, daß diese Alternative reinen Charakter habe. Aber sie ist jedenfalls wirksam genug, um auszuschließen, daß schon vom professionell-habituellen her beliebige Austauschbarkeit zwischen Wissenschaftlern und Politikern möglich wäre. Es gibt groteske Beispiele für die Verwechselung von Katheder und Tribüne. Der zweite Grund, den ich gegen die Eignung der Wissenschaft als politische Führungsmacht geltend machen möchte, zwingt uns, ein wenig zu philosophieren. Ich sagte schon: Fragen, auf die antworten zu können Wissenschaft Aussicht hat, richten sich nicht aufs Ganze, sondern stets aufs Detail. Politisches Handeln aber ist Handeln i n wissenschaftlich nicht durchrationalisierten, komplexen Situationen. Zwar ist richtig, daß über Physik, Chemie, Biologie hinaus nun fortschreitend auch Ökonomie, Psychologie und Soziologie i n den Rang technologisch umsetzbarer Handlungswissenschaften einrücken. Den2*

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noch bleibt es aus prinzipiellen Gründen dabei, daß nicht jede Situation, i n der w i r uns unter politischem Entscheidungs- und Handlungszwang befinden, wissenschaftlich durchrationalisiert ist. Oder umgekehrt: gerade die Komplexität einer nicht durchrationalisierten Situation ist die Situation der politischen Entscheidung und Handlung. Das heißt n u n aber keineswegs, daß die politische Entscheidung irrational, blinde Dezision sei. Es heißt lediglich, daß w i r uns gerade i m politischen Handeln an Argumenten orientieren, die nicht exakt, sondern plausibel, nicht i n Versuchsreihen bewiesen, sondern lebenserfahrungsgemäß bewährt sind — Topoi nennen w i r i n aristotelischer Tradition solche Argumente nicht exakt wissenschaftlicher A r t , durch die w i r uns auf Totalitäten wissenschaftlich nicht durchrationalisierter Situationen beziehen. I n letzter Instanz ist n u n das, was ich hier die komplexe Situation des politischen Handelns nannte, unsere jeweilige Identität, und das äußerste Ziel des politischen Handelns ist die Behauptung dieser Identität. Das klingt abstrakt, philosophisch; aber es ist das nicht a u s g e d a c h t , sondern es handelt sich hier u m die Begriffe, die w i r verwenden müssen, wenn w i r z. B. i n allgemeiner Weise beschreiben wollen, was der Krieg Israels gegen die Araber oder welches politische Handeln auch von geringerer Dramatik sonst immer begrifflich darstellt. Unsere Identität — das ist das, was w i r jeweils zur A n t w o r t auf die Frage geben, wer w i r sind, und damit meine ich nicht nur den Namen, sondern die Geschichte, für die der Name steht. Die Geschichte ist der Kontext oder auch der Text, durch den allein die Identität jener sozialen Subjekte definierbar ist, i n deren Namen jeweils die politisch Handelnden handeln. Ich hoffe, diese kurzen Andeutungen genügen, u m Ihnen nun abschließend die politische Rolle der sogenannten Geisteswissenschaften zu skizzieren. Bislang hatte ich bei dem, was ich sagte, i m wesentlichen die exakten, und das w i l l ich hier übersetzen m i t : nicht-Geschichtenerzählenden Wissenschaften, i m Auge. Die politische Funktion der Geisteswissenschaften, zumal sofern sie historische Wissenschaften sind, ist n u n keine andere als die der verbalen, ideellen Vergegenwärtigung unserer historisch-genetischen Identität. Ich behaupte nicht, die Funktion der Geisteswissenschaften sei keine andere als die der Präsentation unserer herkunftsbezogenen Identität. Ich behaupte lediglich, daß faktisch überall die Funktion der Geisteswissenschaften u. a. auch die politisch-bedeutsame Funktion der Stiftung und Bewahrung unserer Möglichkeiten ist, zu sagen, wer w i r sind, i n welchen Solidaritäten w i r uns befinden, welchen Traditionen verbunden. Ich kann es m i r n u n wohl versagen, das m i t Beispielen i m einzelnen auszuführen.

Zur politischen Theorie der Technokratie

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Das Phänomen des Nationalismus ist das bislang wichtigste Beispiel einer solchen historisch-genetischen Identifizierung der eigenen politischen Existenz, und w i r kennen auch den A n t e i l der Geschichtswissenschaft an der Stabilisierung jenes Bewußtseins, das dem Nationalismus korrespondiert. Und m i r scheint, daß es wenig Sinn hat zu sagen, daß die Geschichtswissenschaft i n dieser Funktion stets mißbrauchte Wissenschhft gewesen sei. Das kann schon deswegen nicht zutreffen, w e i l die Fragen, die die Geschichtswissenschaft jeweils zu lösen sich aufgibt, ihrerseits jenem Kontext der Geschichte entstammen, als die politische Identität begründet ist. Der Nationalismus als Form politischer Selbstidentifikation kann durch übergreifende Formen abgelöst oder überlagert werden —, z.B. durch das, was w i r meinen, wenn w i r sagen: w i r Europäer, w i r Abendländer, w i r Kommunisten, w i r Katholiken oder was immer sonst. Pluralismus ist möglich; Interferenzen ereignen sich. Stets handelt es sich bei diesen Identifikationen u m Formen historisch-genetischer, nämlich Sondergeschichten erzählender Selbstidentifikation und damit zugleich Selbstunterscheidung von anderen. Und nun behaupte ich, daß diese durch die Geisteswissenschaften verbal präsent gemachten und reflektierten Identitäten i n letzter I n stanz die i n komplexer Situation sich befindenden Subjekte des politischen Entscheidens und Handelns sind, Subjekte, die heute zwar ohne Inanspruchnahme der Hilfe wissenschaftlich präparierter Technologien scheitern müßten, die aber doch die relative Totalität ihres geschichtlichen Daseins und das Ganze ihrer geschichtlichen Situation nicht technologisch beherrschen und begründen können, sondern vorfinden. Technologisch beherrschen w i r insulär je Partielles. Aufs Ganze unseres Daseins beziehen w i r uns reflektiert i n den zumeist Geschichten erzählenden Geisteswissenschaften, und dieses Ganze ist es dann auch, woraus sich bestimmt, was uns zu einem politischen Problem werden kann und muß, und zu welchem politischen Ende w i r uns des Bats der wissenschaftlichen Fachleute zu bedienen haben. Gewiß nun: i n immer größerem Umfang bestimmt die moderne Wissenschaft selbst, i n ihren praktisch-sozialen Konsequenzen, die historisch-genetische Situation der Völker der Welt. I n demselben Maße n i m m t auch die Anzahl derer zu, die über die Grenzen ihrer Traditionen, Lager und Unterscheidungen hinweg sich ohne weiteres miteinander verständigen können. Auch das ist ein politischer Faktor, und zwar ein Faktor von anwachsender Wichtigkeit. Aber ich meine andererseits, daß gerade Wissenschaftler i n der Gefahr sind, die Wichtigkeit dieses Faktors zu überschätzen. Das Pathos der Ideologen ist j a i n unserer Zeit nicht verstummt. Es dröhnt auf dem Hintergrund der nüchternen Sachlichkeit der wirklichen Wissenschaft nur u m so lauter.

Die Wissenschaft im gesellschaftlichen Spannungsfeld Von Prof. Dr. Friedrich Fürstenberg, Linz/Österreich Die Existenzgrundlagen des modernen Menschen werden durch wissenschaftliche Forschung und die Anwendung ihrer Ergebnisse immer stärker verändert und erweitert, z. T. sogar erst neu geschaffen. Der Mensch hat gelernt, auf der Antarktis komfortabel zu überwintern, sich i m Weltraum zu bewegen, Hühnchen aus dem E i heraus vollautomatisch bis zur Schlachtreife heranzuziehen, Stoffe m i t fast beliebigen Eigenschaften zu entwickeln, soziale Verhaltensweisen mit einiger Wahrscheinlichkeit vorherzusagen und vieles andere mehr. Dies alles gelang, weil die wissenschaftlichen Bemühungen sich immer intensiver und umfassender auf die Kontrolle der Außenwelt und ihrer Reflexion i m Bewußtsein richten. Das ist keineswegs selbstverständlich. I m europäischen Mittelalter standen die unterscheidende Beschreibung und der Beweis einer offenbarten Ordnung der Welt i m Mittelpunkt wissenschaftlicher Bemühungen. Erst nachdem logisch-rationale Methoden auf empirische Phänomene angewendet wurden, war es möglich, „Herrschafts- und Leistungswissen" über die Dinge zu erlangen. Der damit eingeleitete Prozeß der fortschreitenden Objektivierung und Rationalisierung der Welt ist der Sache nach unbegrenzt: Es gibt nichts, das nicht Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden könnte. Was einmal erfolgreich i n einen Erkenntniszusammenhang eingegliedert werden konnte, bleibt i n seiner Bedeutung für den Menschen aber nicht unverändert. Es w i r d zum beherrschbaren Bauelement und damit i n seinen neu erkannten Qualitäten Ausdrucksform des wissenschaftlichen Geistes selbst. Das gilt von einem Stück Kohle i n der Hand des Chemikers ebenso wie von solchen komplexen Zusammenhängen wie dem Einfluß der Geldwertstabilität auf die Vollbeschäftigung. Halten w i r aber fest: M i t fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis w i r d sich der Mensch seiner Distanz zur Außenwelt immer stärker bewußt und vermag sie gleichzeitig erfolgreich zu verringern. Die Außenwelt w i r d mehr und mehr zum beherrschbaren Handlungsfeld. Alles Handeln des Menschen hat aber letztlich einen sozialen Bezug. Es ist an anderen Menschen orientiert und w i r d von ihnen beeinflußt. So werden auch die Erkenntnisobjekte selbst zu Tatsachen m i t sozialer Bedeutung, indem eine Beziehung zwischen ihnen und dem handelnden Subjekt entsteht. Der funktionierende Ver-

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brennungsmotor ist ebensowenig nur noch Forschungsgegenstand wie die objektiv ermittelte Meinung eines Bevölkerungsquerschnitts zur Frage der Bekenntnisschule. Die moderne Wissenschaft steht also nicht nur i n bestimmten, dem flüchtigen Betrachter besonders auffallenden Auswirkungen i n engster Beziehung zur Gesellschaft. Sie ist i n umfassendstem Sinn ihre Grundlage. Denn m i t ihrer Hilfe produziert der Mensch eine beherrschbare Welt, ein kontrollierbares Medium und Objekt seines Handelns. Man kann die kaum abzuschätzende Tragweite dieses Sachverhalts auch so darstellen, daß die Wissenschaft, die i n früheren Kulturperioden i m wesentlichen nur M i t t e l der rein geistigen Orientierung war, i n der modernen Welt i n einen Produktionsfaktor ersten Ranges verwandelt wurde. I n diesem Punkte hat sich K a r l Marx als Prophet der gegenwärtigen wissenschaftlichen Zivilisation erwiesen. I n seiner 11. These über Feuerbach forderte er: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Dies gilt nicht allein für die Naturwissenschaften und ihre technische Anwendung. Auch i n den Sozialwissenschaften w i r d mehr und mehr die zweckorientierte Kontrolle von Wirkungszusammenhängen angestrebt, z. B. i n der exakten Wirtschaftsforschung. Die traditionellen „Kulturwissenschaften" haben ebenfalls i m gesellschaftlichen Produktionsprozeß eine wichtige Funktion, z.B. indem sie Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten erweitern und neu schaffen. Einige sind sogar eng m i t industriellen Neuentwicklungen verbunden, wie z.B. bei Massenmedien und Freizeitindustrie. Es gibt heute keinen Wissenschaftszweig ohne gesellschaftliche Nutzungsmöglichkeit. Die soziale Wertgrundlage der Wissenschaft Die Wissenschaft erfüllt ihre Funktion als Wegbereiter wachsender geistiger und materieller Weltbeherrschung unter ganz bestimmten sozialen Voraussetzungen. Das erklärt auch, warum die Gesellschaft erst verhältnismäßig spät Wissenschaft i m modernen Sinn förderte. Die Voraussetzungen sind an bestimmte Wertvorstellungen geknüpft, die sich i n den Erwartungen der Gesellschaft an den einzelnen Wissenschaftler und damit i n seiner Berufsrolle konkretisieren. Welche Erwartungen sind das? Uneingeschränkt sind in der westlichen Welt die Werte der Objektivität und der Universalität für das Verhalten des Forschers verbindlich. Sie werden jedoch i n zunehmendem Maße ergänzt durch die Forderung der Interdepenz zwischen Theorie und Praxis, und hieraus ergeben sich einige Spannungen, auf die nun einzugehen ist.

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Wissenschaftliche Objektivität bedeutet völlige Sachbezogenheit, die jederzeit überprüfbar sein, d. h. der K r i t i k zugänglich gemacht werden muß. Das immer wieder diskutierte Postulat der „Wertfreiheit" des Forschers gründet sich geradezu auf der Geltung dieses Wertes. Objekt i v i t ä t w i r d nur dann erreicht, wenn der Wissenschaftler sie wirklich anstrebt, wenn nachprüfbare Begriffssysteme und Methoden verwendet werden und wenn der Erkenntnisprozeß völlig autonom abläuft. Er darf nur von den wissenschaftlichen Erfordernissen selbst bestimmt werden. Objektivität ist also keineswegs nur ein Methodenproblem, wie es früher häufig dargestellt wurde. Gerade Max Weber hat mit großem Nachdruck die ethische Seite des Problems betont. I n der intellektuellen Rechtschaffenheit, die allein der Erkenntnis der Tatsache dient, sah er durchaus eine sittliche Leistung. Nach den Entgleisungen, die sich weltanschaulich gebundene Forschung zuschulden kommen ließ, wissen w i r , wie recht er hatte. Aber, so fragen w i r heute i m Zeitalter der organisierten Forschung, hängt denn die Objektivität n u r vom Forscher und seinen Methoden ab? Fällt nicht die Entscheidung oft genug seitens der Instanzen, die den Gang der Forschung beeinflussen? W i r d nicht immer noch die Wissenschaft als Instrument zur Rechtfertigimg und Widerlegung verwendet? Sind auch die Sozialund Kulturwissenschaften besonders anfällig für Fremdwirkungen auf den Erkenntnisprozeß, so zeigen doch auch die Naturwissenschaften prinzipiell die gleiche Beeinflußbarkeit, vor allem dort, wo es u m angewandte Forschung geht. Betrachten w i r nun die Forderung nach wissenschaftlicher Universalität Darunter ist das Streben nach uneingeschränkter Erkenntnis zu verstehen, einmal i n bezug auf den Erkenntnisgegenstand: Der wissenschaftlichen Problemstellung darf keine Grenze gesetzt werden, das Erforschliche muß erforschbar gemacht werden. Z u m anderen g i l t die Forderung i n bezug auf die Verbreitung der Erkenntnis. Auch sie muß — zumindest i n den Kreisen der Wissenschaft selbst — ohne Schranken möglich sein. Die Wissenschaft dient allen Menschen, nicht einer bestimmten Interessengruppe, Klasse oder politischen Organisation. Auch Universalität als konstituierender Wert der Berufsrolle des Wissenschaftlers ist nicht selbstverständlich. Noch stärker als die Objektivität hängt seine Verwirklichung von der Richtung sozialer U m welteinflüsse ab. Beschränkung der Problemstellung aufgrund weltanschaulicher Vorentscheidungen ist heute noch ebenso verbreitet wie die Beschränkung der Kommunikation unter Wissenschaftlern. Selbstverständlich geschieht dies selten ohne Rechtfertigung. Auch die Verfechter einer arischen Physik und einer völkischen Germanistik handelten i n wohldurchdachtem höheren Auftrag. Aber derartige Aufträge und Bindungen zerstören den Wert wissenschaftlichen Forschens und

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die Würde des Forschers. I n ergreifender Weise ist diese Gefährdung 1938/39 durch Bert Brecht i m „Leben des Galilei" gestaltet worden. Brecht macht deutlich, daß der Beruf des Wissenschaftlers ohne Wertgrundlage degeneriert. So läßt er Galilei sagen: „Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen können. Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden! Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können1." Wer i n diesem Jahrhundert Wissenschaft betreibt, w i r d eine Stellungnahme zu den hier angeschnittenen Problemen nicht vermeiden können. Wissenschaftliche Objektivität und Universalität begründen gemeinsam das berufliche Selbstverständnis des Wissenschaftlers. Seine soziale Rolle und das m i t i h r verbundene Ansehen ruhen gleichsam auf diesen Werten, auf ihrer Anerkennung und Verwirklichung. N u n ist, w i e schon deutlich wurde, wissenschaftliche Forschung kein Vorgang unter einer A r t sozialer Glasglocke. Je unentbehrlicher ihre Ergebnisse für die moderne Gesellschaft wurden, desto fraglicher wurde der private und sozial exklusive Charakter der Wissenschaft. So verdanken z. B. die deutschen Technischen Hochschulen ihre Entstehung der Reaktion von Praktikern auf die begrenzten Problemstellungen an den damaligen Universitäten. Helmut Schelsky stellt ganz zu Recht fest: „Sie sind allesamt nicht durch eine Abspaltung der angewandten Naturwissenschaften von der Universität, sondern aus einer Verschmelzung und Verwissenschaftlichung der handwerklichen und gewerblichen Praxis entstanden 2 ." Neben der Forderung nach Objektivität und Universalität erlangte n u n mehr und mehr die Fordes rang nach Interdependenz zwischen Theorie und Praxis Geltung. Der Wissenschaftler sollte gleichsam sein aristokratisches Selbstverständnis demokratisieren, sich i n seiner Forschung dem immer mehr sich durchsetzenden Arbeitscharakter aller Berufstätigkeit anpassen, d . h . i n seiner Problemstellung auf die Bedürfnisse der Praxis Rücksicht nehmen. Dies war für manche Wissenschaftszweige eine geradezu kopernikanische Wende. Auch heute ist die Diskussion u m das Problem „zweckfreier" Forschung noch nicht verstummt. Das mag vor allem daran liegen, daß eine unumschränkte Anerkennung der Forderung nach Interdependenz von Theorie und Praxis zunächst die Universalität des Forschens, aber auch ihre Objektivität gefährden kann. Die i Bert Brecht, Leben des Galilei, Berlin 1955, S. 98—99. * Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Hamburg 1963, S. 210.

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Verteilung sozialer Macht kann durchaus so sein, daß aus der Interdependenz einseitige Abhängigkeit wird. Höchstwahrscheinlich ist dann die Wissenschaft die Leidtragende. Wie aber auch immer das Problem gelöst wird, fest steht, daß sich kein Wissenschaftszweig mehr dem Interesse und der Beeinflussung durch seine „Konsumenten" verschließen kann. Der Uberblick über die sozialen Werte, die die Berufsrolle des modernen Wissenschaftlers konstituieren, zeigte, daß sie nicht widerspruchsfrei sind. Die soziale Entwicklung kann ihre Verwirklichung gefährden. Zugespitzt lautet die Frage: Inwiefern ist die Autonomie der Wissenschaft und des Forschers eine soziale Möglichkeit, j a Gebotenheit, inwiefern ist sie ein Traditionsrest, eine zunehmend ideologische Selbstinterpretation ohne Wirklichkeitsbezug? Das Autonomieproblem Die Spannungen, die i n der Berufsrolle des Wissenschaftlers angelegt sind, zeigen sich besonders deutlich i n dem i h m eigentümlichen Freiheitsbegriff. Der Autonomieanspruch der Wissenschaft ist durch eine jahrhundertelange Tradition gefestigt. Er besagt dem Sinn nach nichts anderes, als daß die Wissenschaft lediglich ihren eigenen Sachgesetzen unterworfen sein soll. W i r wissen, daß unsere Hochschulverfassungen wesentlich von dieser Idee beeinflußt wurden. Indem die freie Wissenschaft nun i n der Erkenntnis voranschreitet, emanzipiert sie mehr und mehr Sachgebiete vom traditionsverhafteten, teils dogmatisch gebundenen, teils rein empirisch gewonnenen Vorverständnis. Dieses erscheint aus der Sicht des Wissenschaftlers als Vorurteil, als bloße Meinung, als Faustregel oder schlimmer noch als ideologischer Trug, jedenfalls aber als „fragwürdig" i n beiden Bedeutungen dieses Wortes. W i r können diesen Vorgang an der Entstehungsgeschichte jedes wissenschaftlichen Fachgebiets veranschaulichen. Die ständige Entstehung neuer Fachgebiete zeigt seine Fortdauer i n der Gegenwart. So ist bis auf den heutigen Tag die moderne Wissenschaft kraft ihrer autonomen Stellung eine Emanzipationskraft ersten Ranges gewesen. Sie gab dem Menschen zunächst die Freiheit des Handelns gegenüber der Natur. Allmählich schuf sie aber auch i m Bereich der Gesellschaft, z. B. i m Wirtschaftsleben und i m kulturellen Bereich, Freiheit i m Sinne der Distanz gegenüber bestimmten historischen Uberlieferungen. Allerdings, und das ist die dialektische Umkehrung des wissenschaftlichen Freiheitsbegriffs, wurden dadurch auch neue Abhängigkeiten begründet. Die freigesetzten Bereiche des Bewußtseins und des Handelns unterliegen nun der besonders strengen, w e i l nicht mehr zufälli-

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gen und beliebig manipulierbaren Kontrolle anhand wissenschaftlich begründeter Sachgesetze. Immer mehr w i r d die Erfahrungswelt aus einer anschaulich beschriebenen und interpretierten Fülle irrationaler Phänomene i n ein Netzwerk notwendiger ^Wirkungszusammenhänge transformiert. Die zweite Form der neuen Abhängigkeit entsteht durch den Zwang zum Handeln i m Geltungsbereich dieser erkannten W i r kungszusammenhänge. Wo sie weitgehend determiniert sind, w i e z. B. i m Bereich vieler Naturwissenschaften, w i r d das Handeln funktional. Andernfalls gleitet es i n die Irrationalität ab. W i r sehen das am deutlichsten in der industriellen Arbeitswelt, die sich auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis entfaltet hat und einem permanenten Rationalisierungsprozeß unterworfen ist. I n dieser wohl folgenreichsten Selbstschöpfung des modernen Menschen muß rationales Handeln an Wirkungszusammenhängen orientiert u n d zweckgerichtet, d. h. funktional sein. Irrationale, emotionale und weltanschaulich gebundene Verhaltenskomponenten wirken, wenn sie nicht neutralisiert werden können, als Störungsfaktoren. Blieb die Wissenschaft selbst, die die Rolle eines autonomen Gesetzgebers für Richtung und Inhalt rationalen Handelns erhielt, von diesen Auswirkungen unberührt? W i r müssen feststellen, daß auch sie immer stärker i n dieses Netzwerk funktioneller Abhängigkeiten geriet. I n der reinen Forschung ist es zunächst die Anerkennung der von ihr selbst gefundenen Zusammenhänge, solange deren Gültigkeit nicht widerlegbar ist. I n der angewandten Forschung, die immer mehr Ubergewicht erhält, t r i t t dazu noch die Abhängigkeit von schon rationalisierten Umweltbereichen, deren Sachlogik zu berücksichtigen ist. Es ist heute immöglich, eine Maschine bis zur Anwendungsreife zu entwickeln, ohne ihre technischen, wirtschaftlichen und sozialen Implikationen zu antizipieren, d. h. i m Entwicklungsprozeß m i t zu berücksichtigen. Diese Implikationen mögen dem einzelnen Fachmann als nicht zur Sache gehörig, ja sogar als irrational erscheinen. Ein anderer Spezialist w i r d i h n aber rasch darüber aufklären, daß sie genauso notwendig oder zumindest rationalisierbar sind wie die Vorgänge i m eigenen engen Fachbereich. Angesichts dieses Sachverhalts ist das Festhalten an einem naiven Autonomieanspruch nichts anderes als nicht bewältigte Auseinandersetzung m i t den Beeinflussungsfaktoren der eigenen Tätigkeit. Da das Autonomieproblem aber für die moderne Wissenschaft konstitutive Bedeutung hat, muß es neu durchdacht werden. Die Auseinandersetzung m i t den Gegebenheiten sollte zu neuen Folgerungen für die Organisation der Forschung führen, z. B. zu stärkerer interdisziplinärer und interfakultativer Zusammenarbeit. Der Beruf des Wissenschaftlers

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selbst bleibt ebenfalls nicht unberührt. Eine genauere Analyse des Handlungsfeldes eines Wissenschaftlers w i r d dies noch verdeutlichen. Die Wissenschaft im gesellschaftlichen Spannungsfeld Bisher standen die Beziehungen zwischen dem Wissenschaftler und seinem Erkenntnisobjekt i m Mittelpunkt der Erörterungen. Schon hierbei wurde gezeigt, daß kein m i t Hilfe der modernen Wissenschaft gewonnenes Wissen umweltneutral ist. Hierin liegt die soziale Verantwortung jedes Wissenschaftlers begründet. Die Tatsache selbst w i r d bisweilen dadurch verdeckt, daß eine längere Zeitspanne vergehen kann, ehe die sozialen Sekundärwirkungen des Erkenntnisprozesses spürbar werden. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte der Entwicklung und Anwendung von Verbrennungsmotoren und der hierdurch eingeleiteten Motorisierung des Verkehrs. Man könnte einwenden, daß hier zwischen Forschung, technischer Erprobimg und industriewirtschaftlicher Nutzung zu trennen sei. Demgegenüber ist jedoch zu betonen, daß es sich u m eng miteinander verbundene Phasen eines umfassenden Prozesses handelt. I n jeder Phase hängen Grundlagenforschung, Entwicklung, Fertigung und Anwendung aufs engste m i t einander zusammen. Allerdings ist es richtig, daß die Steuerung dieses Prozesses nicht allein beim Wissenschaftler liegt. Aber gerade dari n manifestiert sich ja seine Umweltabhängigkeit. Er arbeitet gleichsam i n einem mehrdimensionalen sozialen Spannungsfeld, i n dem er keineswegs alle Dimensionen kontrolliert. Betrachten w i r die verschiedenen Dimensionen dieses Spannungsfeldes etwas ausführlicher. Zunächst spielt sich jede wissenschaftliche Arbeit i n der Gegenwart i n einem irgendwie organisierten Rahmen ab. Die Forschung selbst ist häufig ein arbeitsteiliger Prozeß, für dessen erfolgreichen Ablauf betriebsmäßig zusammengefaßte Produktionsfaktoren erforderlich sind. I n großen Instituten treten deshalb auch ähnliche Organisationsprobleme wie i n Industriebetrieben auf, und es w i r d nicht lange dauern, bis w i r auch bei uns Fachleute für Forschungsorganisation haben. Die eigentliche Forschung kann ihrerseits wieder i n einen größeren institutionellen Rahmen, z. B. den einer Hochschule, eingebettet sein, woraus sich neue komplizierteste organisatorische Verflechtungen ergeben. I n jedem Falle ist aber die Forschungsorganisation von grundlegender Bedeutung für die Wissenschaft. Ein zweiter Aspekt des sozialen Spannungsfeldes, i n dem der Wissenschaftler arbeitet, ist dessen berufliche Stellung. Forschung ist keine Feierabend- oder Wochenendbeschäftigung. Sie ist ein Beruf. Sie dient

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der Wahrheitsfindung ebenso wie dem Lebensunterhalt. Ein erfolgreicher Wissenschaftler findet die Anerkennung seiner Fachkollegen. Seine soziale Stellung richtet sich aber auch nach den soziologischen und sozialökonomischen Merkmalen seines Berufs, nach dem Ausmaß der Selbständigkeit, der Verfügungsgewalt über Sachen und Menschen, nach dem Einkommen, der sozialen Sicherung, der gesellschaftlichen Wertschätzung und nach vielen anderen Dingen. Gerade weil wissenschaftliche Tätigkeit nur als Berufstätigkeit kontinuierlich und m i t ganzem Einsatz geleistet werden kann, muß man diese Dinge ernst nehmen. Diese Berufsaspekte können Richtung und Umfang des Forschungsprozesses sehr einschneidend beeinflussen. Denken w i r nur an das Problem der Nebentätigkeit von Wissenschaftlern und die dahinterliegenden Motive. Besondere Beachtung bei der Analyse des Handlungsraumes eines Wissenschaftlers verdienen weiterhin die Primärinteressenten an den Ergebnissen seiner Arbeit. Es mag noch hie und da Forschung geben, an der kaum jemand außer dem sie Betreibenden beteiligt ist. I n der Regel sind zumindest die Mitarbeiter und Fachkollegen an den Resultaten interessiert. Gerade hierin liegt ein nicht geringer Leistungsanreiz. W i r müssen aber für die Gegenwart feststellen, daß ein immer größerer Teil wissenschaftlicher Arbeit i n Auftrag gegeben wird. Bei den Forschungslabors und Entwicklungsabteilungen der Industrie und bei den brain trusts der Verbände und Parteien ist das offenkundig. Die ökonomisierung der Wissenschaft beschränkt sich auch nicht mehr auf die Forschungseinrichtungen der Wirtschaft, sie hat längst i m Bereich der eigentlichen Wissenschaftszentren, i n den Hochschulen, Fuß gefaßt. Ein Blick auf die USA läßt die damit verbundenen Probleme, aber auch manche Vorteile dieser Entwicklung erkennen. Noch einschneidender für den Charakter der wissenschaftlichen A r beit wurde jedoch das Interesse des Staates, insbesondere das m i l i t ä r i sche Interesse. Die größten Forschungsprojekte, die i n der Gegenwart auf natur- und sozialwissenschaftlichem Gebiet durchgeführt werden, haben politische und sehr oft auch militärische Bedeutung. Forschung w i r d damit zu einer öffentlichen Angelegenheit, ihre Förderung zum politischen Problem. Es ehrt gewiß den Wissenschaftler, daß er von den Mächtigen dieser Welt so ernst genommen wird, es erfüllt ihn aber auch m i t Sorge. Denn sein berufliches Selbstverständnis, das ja ausführlich erörtert wurde, kann m i t einer politischen Funktionalisierung seiner Tätigkeit nicht i n Einklang gebracht werden. Die Tatsache, daß auch i m letzten Weltkrieg Wissenschaftler zur Kriegsbeute gehörten, legt nicht von der Wertschätzung der Wissenschaft, sondern von der Mißachtung ihrer eigentlichen Aufgabe Zeugnis ab.

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Ein vierter Gesichtspunkt darf schließlich nicht unbeachtet bleiben, wenn man die Dimensionen verstehen w i l l , i n denen die Arbeit des modernen Wissenschaftlers vonstatten geht. Es gibt ein immer stärker werdendes Interesse an der Wissenschaft seitens derer, die von den Sekundärwirkungen ihrer Ergebnisse betroffen sind. Man muß hierbei keineswegs nur an solche Spezialprobleme wie die möglichen Auswirkungen von Atomreaktoren auf ihre unmittelbare Umwelt denken. I n dem Maße, i n dem Ergebnisse der Wissenschaft den Lebensraum jedes einzelnen umgestalten, w i r d auch das Interesse an den Zusammenhängen und an den Folgen geweckt. Die Konsequenz ist eine wachsende Beschäftigung m i t der Wissenschaft seitens der Träger der öffentlichen Meinung. Da die öffentliche Meinung auch eine politische Macht ist, sind Rückwirkungen auf die Wissenschaft selbst unvermeidlich, mögen sie nun aus der Sicht des Forschers wünschenswert oder weniger wünschenswert sein. Vielleicht ist dies das Überraschendste für manchen Forscher, daß die Ergebnisse seiner Tätigkeit oft ohne sein Dazutun breitesten Kreisen vermittelt werden, natürlich nach entsprechender Umformung. Nicht jeder ist sein eigener Popularisator und damit sein eigener A n w a l t i n der Öffentlichkeit. Und die Zeit der i n sich geschlossenen Fachkreise scheint wenigstens i n einigen Wissenschaften endgültig der Vergangenheit anzugehören. W i r sehen also, daß die Tätigkeit des Wissenschaftlers sich i n einem vielschichtigen sozialen Spannungsfeld bewegt. Sie w i r d dabei von Faktoren beeinflußt, die m i t der eigentlichen Wissenschaft wenig zu t u n haben. Es ist völlig überflüssig, dies zu begrüßen oder zu bedauern. Man muß das Faktum kennen und m i t i h m rechnen. Schließlich ist es Ausdruck der grundlegenden gesellschaftlichen Bedeutung der Wissenschaft; sie läßt sich ebensowenig rückgängig machen wie etwa die industrielle Revolution m i t ihren sozialen Folgen. Möglichkeiten wissenschaftlicher Existenz Ein Wissenschaftler, der sich der sozialen Wertgebundenheit seiner Berufsrolle ebenso wie der sozialen Abhängigkeiten seiner Tätigkeit bewußt ist, w i r d sich nun vielleicht fragen, was denn der i h m angemessene Standort i n der modernen Gesellschaft sei. Es gibt ja hier für den einzelnen verschiedene Möglichkeiten der persönlichen Einstellung. Zumindest denkbar ist eine individualistische Rückzugshaltung. I h r Charakteristikum wäre die Konzentration auf eine bestimmte Spezialaufgabe, die Ablehnung jeder äußeren Einmischung. Als Ideal gälte dann das klassische Lebensmodell des Gelehrten, der i n äußerer, wenn

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auch bescheidener Geborgenheit sich ganz m i t dem „Abenteuer des Geistes" begnügt. Fragen w i r nach den Realisierungschancen einer derartigen Existenz, so stellen w i r fest, daß sie nur unter der Voraussetzung materieller Unabhängigkeit gegeben sind. Manche Wissenschaften scheiden dabei von vornherein aus, z. B. die Physik. Während Galilei bei seinen Versuchen am Schiefen T u r m i n Pisa praktisch nur seinen Zeitaufwand einkalkulieren mußte, Faraday bei seinen grundlegenden Experimenten noch m i t einem Aufwand von etwa 100 D M auskam, kostete das Inventar, m i t dessen Hilfe Hertz die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen gelang, schon etwa 10 000 DM. 1935 kostete ein physikalisches Institut für Grundlagenforschung etwa 300 000 DM, heute ca. 10 Millionen 8 . Von manchen Apparaturen der Kernphysik, die so kostspielig sind, daß selbst große Industrienationen sich den Aufwand teilen, soll hier gar nicht die Rede sein. Auch der sonst noch ziemlich bescheidene Soziologe muß bei einer Stichprobenerhebung m i t einem Sample von 2000 Personen schon m i t 30 000—50 000 D M rechnen, wenn er das Material nur unter Berücksichtigung eines Dutzends Variablen untersuchen w i l l . Der Rückzug aus dem sozialen Spannungsfeld würde also von den meisten Wissenschaftlern u m den Preis der Forschung erkauft werden müssen. Eine zweite, anscheinend i m Zunehmen begriffene Haltung ist die des Wissenschaftlers, der sich virtuos des hochorganisierten Forschungsapparats und des Interesses der sozial Einflußreichen bedient. Es ist derjenige, der nach den ironischen Worten von C. Wright Mills „ i n seiner Eigenschaft als Wissenschaftler und Verwaltungsmann die Wissenschaft macht" 4 .-Von den Vertretern dieses Typs des „sozial angepaßten" Wissenschaftlers stellt Mills weiterhin fest: „Ihre Position verlagert sich von der akademischen zur administrativen, i h r Publik u m von den Reformern zu den Einflußreichen und ihre Probleme von denen ihrer eigenen Wahl zu denen ihrer Kunden 5 ." Über die entsprechenden Zukunftsaussichten äußert er sich wie folgt: „Wer sich heute dem akademischen Beruf verschreibt, dem eröffnet sich eine ganz andere Karriere als die des altmodischen Professors. Man könnte sie die Laufbahn ,des neuen Unternehmertyps' nennen. Dieser ambitiöse T y p des Beraters sieht sich i n der Lage, sein Fortkommen innerhalb der Universität durch wachsendes Prestige und 3 Vgl. W. Stein, Physik und Gesellschaft, in: Die Wissenschaften und die Gesellschaft, Berlin 1963, S.42. 4 C. Wright Mills, Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied 1963, S. 105. s Mills, a.a.O., S. 143.

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sogar durch einen gewissen Einfluß außerhalb der Universität zu fördern. Vor allen Dingen kann er der Universität ein gut finanziertes Lehr- und Forschungsinstitut angliedern, das neue Kontakte m i t W i r t schaft und Verwaltung herstellt. Dieser neue Forschertyp kann dann innerhalb seiner m i t sich selbst beschäftigten Kollegen oft die Leitung der Universitätsangelegenheiten i n die Hand nehmen 6 ." Eine selbstkritische Haltung w i r d uns feststellen lassen, daß Mills keineswegs nur die amerikanische Situation charakterisiert hat. Gegenüber Mills muß aber auch betont werden, daß nicht allein der persönliche Ehrgeiz, sondern die Organisation der modernen Forschung den Wissenschaftler oft zum „Manager i n eigener Sache" werden läßt. Oft genug liegt i n solchem Verhalten angesichts der Verhältnisse die bewußt gewagte „Flucht nach vorn". Hinsichtlich der Gefährdung, die eine derartige Haltung m i t sich bringt, ist allerdings den Ausführungen von Mills nichts hinzuzufügen. Weder der sich von der Gesellschaft zurückziehende Wissenschaftler noch sein sozial völlig angepaßter Gegentyp des tüchtigen Organisators und Beraters sind geeignet, die umfassende Geltung der Wissenschaft i n der modernen Gesellschaft zu bewahren. Total angepaßte Wissenschaft verliert schließlich ihre wegweisende Wirkung. Total isolierte Wissenschaft verliert ihre soziale W i r k u n g überhaupt. Beide Konsequenzen vermeidet eine Grundhaltung, die umweltoffen und umweltkritisch ist, sich dabei aber doch für den Bereich der eigentlichen Forschung den traditionellen Werten der Objektivität und Universalität verpflichtet weiß. Das bedeutet die Fähigkeit, sich den sozialen Realitäten des Forschungsprozesses, seiner Beeinflussungsfaktoren und seiner Auswirkungen kritisch zu stellen. N u r eine derartige kritische Haltung vermag funktionalisierte Forschung zu humanisieren. Sie begnügt sich nicht m i t dem wohlgeordneten betriebsmäßigen Ablauf von bedarfsorientierten Untersuchungen. Sie beachtet den größeren sozialen Zusammenhang und beurteilt die Wirkungen der Ergebnisse nach ihren Konsequenzen für die beteiligten und betroffenen Menschen. Das geht selbstverständlich nicht ohne ein B i l d vom Menschen, ein B i l d von der Gesellschaft und ihrer wünschbaren Weiterentwicklung. Man mag einwenden, der moderne Wissenschaftler erfülle als Fachmann seine Pflicht. Weitergehende Anforderungen würden nur zur Verbreitung des Dilettantismus führen. Erinnern w i r uns i n diesem Zusammenhang an den preußischen Kultusminister C. H. Becker, der geradezu den „ M u t zum Dilettantismus" predigte 7 , u m die Erstarrung i n intellektualistischer Fachlichkeit zu verhindern. Man w i r d aber gar « Mills, a.a.O., S. 145. 7 Zit. bei Schelsky, a.a.O., S. 231.

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nicht so weit gehen müssen. Jeder Fachwissenschaftler muß i n seiner eigenen Forschungsarbeit Ergebnisse anderer Wissenschaftszweige als Arbeitsvoraussetzungen zur Kenntnis nehmen und anerkennen» Nichts anderes ist für eine allgemeine Orientierimg erforderlich, die der B i l dung eines kritischen Bewußtseins dient. Der Autofahrer kann nicht sein Auto i n allen Teilen ständig prüfen. Er braucht aber eine Kenntnis von dessen Möglichkeiten und ihren Grenzen, u m verantwortungsbewußt fahren zu können. Das gleiche gilt vom Wissenschaftler angesichts des sozialen Zusammenhangs seiner Arbeit. Die Vermittlung der erforderlichen kritischen Distanz zum eigenen Verhalten ist für den Wissenschaftler ebenso eine zentrale Bildimgsaufgabe, wie die Orientierung m i t Hilfe eines übergreifenden Menschen- und Gesellschaftsbildes. Dies ist jedoch nicht durch punktuell gewonnenes, beliebiges Bildungswesen zu erreichen. Das Scheitern des Studium generale lag ja gerade darin, daß — übrigens zu Unrecht — vielen Studenten sein Lehrgehalt als Luxus- und Feierabendwissen i n die Sphäre der völligen Unverbindlichkeit entrückt erschien. Es gibt wohl keine andere Lösung, als daß sich die einzelnen Disziplinen selbst stärker m i t ihren philosophisch-anthropologischen Grundlagen und ihren soziologischen Implikationen beschäftigen. Die so gewonnenen Einsichten müssen schon i m Fachunterricht weitergegeben werden. I h r übergreifender Zusammenhang kann dann durch die Vertreter synthetischer Wissenschaften sichtbar gemacht werden. Hierbei hat die Soziologie eine besondere Bedeutung, die Becker etwas überpointiert wie folgt darlegte: „Durch soziologische Betrachtung allein kann auf intellektuellem Gebiet die geistige Gewöhnung geschaffen werden, die dann, auf das ethische Gebiet übertragen, zur politischen Uberzeugung w i r d " und so den „staatsbürgerlichen Charakter" bildet 8 . Ein Soziologe w i r d von sich aus kaum einen derartigen Absolutheitsanspruch erheben, er w i r d aber feststellen, daß ohne soziologische Orientierung Umweltoffenheit und U m w e l t k r i t i k i m Bereich der Wissenschaft nicht möglich sind. Erst die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem sozialen Handlungsfeld des Forschers schafft die Distanz zum eigenen Verhalten, auf der Urteilsvermögen und Verantwortungsbewußtsein nicht zuletzt ruhen. I n der Geschichte der Wissenschaft hat oft schon die Erkenntnis gegebener Abhängigkeiten zur Entdeckung neuer Freiheiten menschlichen Handelns geführt. Es ist zu hoffen, daß diese i m Wesen moderner Wissenschaft liegende Fähigkeit auch i n der Gegenwart dem Menschen helfen wird, die Herausforderungen seiner U m w e l t zu meistern. Die große Aufgabe einer menschenwürdigen Gestaltung der Gesell« Zit. bei Schelsky, a.a.O., S. 230. 3 Tagung Dortmund 1968

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schaft mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnis bietet durchaus die Chance, daß der Mensch daran wächst und sich umfassendere geistige Horizonte erschließt.

Wissenschaft und öffentliche Meinung Von Prof. Heinz Hartmann, Ph. D., Münster Dieser Beitrag befaßt sich, erstens, m i t dem qualitativen Wandel i m Verhältnis von Universität und Öffentlichkeit. Zweitens beschäftigt er sich m i t einigen Vorstellungen, die die öffentliche Meinung heute zum Thema „Wissenschaft" unterhält. Und drittens werden hier einige Vorschläge zur Diskussion gestellt, durch die das Verhältnis von Universität und Öffentlichkeit für die Hochschulen vorteilhafter zu gestalten wäre. Die Beziehungen zwischen Universität und Öffentlichkeit sind i n letzter Zeit durch die Empfehlungen einiger Politiker zur Hochschulreform besonders aktualisiert worden. So hat der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen i m M a i 1968 vorgeschlagen, neben Professoren, Assistenten und Studenten auch „Kräfte des öffentlichen Lebens" an den Entscheidungen gehobener Universitätsgremien zu beteiligen. Nach seinen Vorstellungen sollen etwa „Arbeitgeber, Gewerkschaftler und Männer der Kirche" zwanzig Prozent der Sitze und Stimmen i n diesen Gremien beanspruchen dürfen. Auch i n Bayern sind entsprechende Vorstöße erfolgt. I m Juni 1968 verabschiedete die sozialdemokratische Fraktion i m Bayerischen Landtag eigene Grundsätze zur Hochschulreform, nach denen an jeder Hochschule eine Vertretung aller gesellschaftlich relevanten Kräfte geschaffen werden soll. Solche Versuche, der Öffentlichkeit mehr Gehör und gar Mitbestimmung i n Universitätsdingen zu verschaffen, dürften von jetzt ab auf der Tagesordnung bleiben. Damit ist i m Verhältnis der Universität zur Öffentlichkeit ein entscheidender Punkt erreicht. Bisher war die Universität i n ihrem Fortbestand ziemlich ausschließlich vom Staat abhängig. Natürlich gab es immer eine öffentliche Meinung zum Thema der Hochschule, der Wissenschaft. Aber diese öffentliche Meinung wurde vielfach interpretiert als die Verteilung von Einzelmeinungen über eine Gesamtheit von Personen, die durch nicht viel mehr miteinander verbunden waren als eben durch die Tatsache, daß sie zu ein und demselben Thema irgendeine Meinung äußern konnten. Zahllose Routinebefragungen der Öffentlichkeit verleiten dazu, diese besondere A r t von öffentlicher Meinimg als öffentliche Meinung schlechthin zu betrachten, öffentliche Meinung 3*

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erscheint hier als Häufigkeitsverteilung unterschiedlicher Stellungnahmen zu einer Frage. Früher sah man die öffentliche Meinung auch i n anderem Licht. Vor 150, 200 Jahren betrachtete man sie eher als eine „kritische Instanz" (Habermas). Hinter der Meinungsäußerung als solcher vermutete man selbständiges Räsonnement. öffentliche Meinung wurde identifiziert m i t den Ansichten des gebildeten Publikums, m i t der Meinung der bestinformierten, intelligentesten Mitglieder des Gemeinwesens. Zugleich unterstellte man dieser Meinung greifbaren Einfluß, hohe Durchsetzungsmacht. Die öffentliche Meinung galt als kritischer Faktor i n der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung. I n den letzten Jahren hat man verschiedentlich versucht, dieses alte Verständnis von öffentlicher Meinung zu reaktivieren. Dabei zeichnen sich zwei Schwerpunktbildungen ab, die der natürlichen Gabelung innerhalb des klassischen Begriffs folgen. Zum einen w i r d die kritische Qualität der öffentlichen Meinung betont. Wenn beispielsweise behauptet wird, es gebe keine öffentliche Meinung i m klassischen Sinne mehr, dann meint man häufig eben dies: daß die Meinung des einzelnen nicht mehr aus der selbständigen Auseinandersetzimg m i t dem Problem hervorgehe. Ähnlich bei der Forderung, die Öffentlichkeit müsse zukünftig wieder zu einer Meinung i m klassischen Sinne finden. Zum anderen w i r d der Schwerpunkt darauf gelegt, daß die öffentliche Meinung wie eine Instanz auftrete. Die spezielle Interpretation erweist sich heute als besonders brauchbar; denn sie ist nicht nur begriffliche Konstruktion, sondern besitzt einen deutlichen Bezug zu der eingangs skizzierten Wirklichkeit. Angesichts der neuen Plädoyers für eine Vertretung der Öffentlichkeit i n den Hochschulen lenkt sie unsere Aufmerksamkeit darauf, daß die öffentliche Meinung i n Entscheidungsprozesse eintreten kann, daß sie für die Durchsetzung bestimmter Ideen wirksam werden kann. Die Brauchbarkeit dieser Vorstellung von öffentlicher Meinung als Instanz kann meines Erachtens noch dadurch gesteigert werden, daß man sie von Anachronismen befreit. Unserer Zeit fremd w i r k t beispielsweise die alte Neigung, die öffentliche Meinung m i t der herrschenden politischen Macht gleichzusetzen. Rousseau hatte i n ihr „die Königin der Welt" gefeiert, und er sah i m Monarchen ihren obersten Sklaven. Eine entsprechende Tendenz schlägt durch i n demokratischrepublikanischen Formeln, i n denen die öffentliche Meinung als Substrat der Volkssouveränität verherrlicht wird. U n d selbst i n weniger absoluten Wendungen erscheint die öffentliche Meinung noch als Potenz, die sich gegen andere durchsetzt. Tönnies etwa apostrophiert sie

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als einheitlich wirksame K r a f t und Macht und setzt sie gleich m i t der Meinung eines politisch gewichtigen Besitz- und Bildungsbürgertums. Umgekehrt beobachten w i r jedoch auch einen anachronistischen Zug i n dem Versuch, die öffentliche Meinimg als eine Instanz auszuschildern, die der etablierten Herrschaft i n Opposition entgegensteht, öffentliche Meinung i n dieser Sicht erscheint als massenhafter Widerspruch oder gar als Kontrollmacht, als Korrektiv der geltenden Ordnung. Sowohl die Deutung von öffentlicher Meiung als Herrschaft w i e ihre Deutung als Herrschaftskritik orientieren sich an einem Dualismus, den die moderne Gesellschaft nicht mehr kennt. A n die Stelle eines historischen Spannungsverhältnisses von Macht und Gegenmacht (auch i n der Vergangenheit nur auf hohen Abstraktionsstufen zu unterstellen) ist ein vielfältiges Netz von Positionen und Strömen sozialer Beeinflussung getreten. Diese Ablösung ist gleichbedeutend m i t einer Partikularisierung der öffentlichen Meinung: es bilden sich die verschiedensten Öffentlichkeiten, die alle ihre eigene Meinung geltend zu machen versuchen oder verstehen. Soweit also öffentliche Meinung als Instanz auftritt, sollte man sie sehen als die Meinung einer partikularen Öffentlichkeit gegenüber anderen Instanzen i n der Gesellschaft. Dieser gezielte Rückgriff auf das klassische Konzept gibt uns einen Bezugsrahmen für die Analyse des neuen Verhältnisses von Hochschulen und Öffentlichkeit: die öffentliche Meinung zu Fragen des Studiums, der Forschung, der Anwendung von Wissenschaft darf heute von den Universitäten her nicht mehr als bloße Sammlung von Prozentzahlen verstanden werden — von Zahlen, die vielleicht interessant, aber nicht besonders belangreich sind. Sehr deutlich und unmittelbar zeichnet sich vielmehr die Möglichkeit ab, daß die öffentliche Meinung i m Verhältnis zur Universität zu einer „kritischen Instanz" werden könnte — wobei man wohl weniger m i t der Ausbildung von K r i t i k i m Sinne einer rationalen Auseinandersetzung zu rechnen hat als m i t der Eventualität, daß die Meinung der Öffentlichkeit (kritisch oder nicht) über gewählte oder bestallte Vertreter ihren Niederschlag i n Entscheidungen findet, die über die Universität und in der Universität getroffen werden. Dieser tendenzielle Anstieg i n der intervenierenden K r a f t der Öffentlichkeit t r i f f t zusammen m i t dem wachsenden Anspruch der Wissenschaft, entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft auszuüben. Das heißt: zu einer Zeit, i n der die Hochschulen immer stärker der gesellschaftlichen Mitbestimmung unterworfen werden sollen, begegnet man i n der Universität mehr und mehr der Mei-

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nung, daß die gesellschaftliche Entwicklung von eben dort aus bestimmt werde. Diese Uberzeugung t r i t t auf unter dem Kennwort der „Verwissenschaftlichung". Gemeint ist damit eine Entwicklung, i n der wissenschaftliche Ergebnisse und Verfahren, aber auch die Prinzipien und Personen des wissenschaftlichen Lebens zunehmende Bedeutung für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche erlangen. Als Extrem w i r d sogar ein Zustand vorausgesagt, i n dem Wissenschaftlichkeit zum allgemeinen Lebensstil wird. Operationale Kriterien dieses Prozesses sollen sein: die Ausdehnimg von akademischer Lehre und Forschung, steigendes Ansehen der Wissenschaftler, wachsende Bereitschaft zur Anerkennung und Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse. Die Hochschulen erscheinen i n diesem Entwurf als steuernde Zentren, die außerwissenschaftliche Welt paßt sich an: sie läßt sich von der Wissenschaft dirigieren, läßt sich „verwissenschaftlichen". Öffentlichkeit, i n dieser Sicht, w i r d zum Adressaten wissenschaftlicher Anregungen und Empfehlungen. Vorschriften und Zwang erübrigen sich, da der Rat der Wissenschaft aus der Sache heraus sich aufdrängt. Die öffentliche Meinung, so heißt es bei Schelsky, sei schon „heute immer leicht zugunsten einer sich sachlich-technisch als beste Lösung empfehlenden Position zu gewinnen" 1 . So beginnen denn aufeinanderzuprallen: der Anspruch der Wissenschaft, der Wissenschaftler auf steuernde und kontrollierende Positionen i n der Gesellschaft und, andererseits, erste Vorstöße zu einer Fremdbestimmung der Wissenschaft durch Vertreter der Öffentlichkeit. Hier entwickelt sich meines Erachtens ein neuer Sozialkonflikt, ein Konflikt u m Kontrollchancen und Entscheidungsmacht, kurz: ein politischer Konflikt. Aber selbst wenn man es bei der kürzer bemessenen Prognose beläßt: daß die Öffentlichkeit der Wissenschaft zu einer Öffentlichkeit i m klassischen Sinne, zu einer Instanz für die Wissenschaft zu werden beginnt, ergibt sich aus den vorausgegangenen Überlegungen reichlich Grund, die öffentliche Meinung zur Wissenschaft näher zu betrachten. Ehe sich hier der Blick öffnet zu den Meinungen „ f ü r " und „wider" Wissenschaft, muß man eines zur Kenntnis nehmen: Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang ist nicht gleichzusetzen m i t Bevölkerung; denn nur ein Teil der Gesamtbevölkerung interessiert sich für die Fragen, die m i t Universität und Wissenschaft zusammenhängen. I n einer Frage, die w i r durch das EMNID-Institut i n einer repräsentativen Stichprobe der westdeutschen Bevölkerung vorlegen konnten, hieß es beispielsweise: „Kennen Sie wissenschaftliche Entdeckungen oder Erfinduni Helmut Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf: Diederichs, 1965, S.458.

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gen — oder interessieren Sie sich für so etwas nicht?" Das Ergebnis war, daß etwas mehr als die Hälfte der Befragten i h r Interesse bestätigten (52 °/o), während mehr als ein D r i t t e l sich desinteressiert gab (37 °/o) und ein Rest von 11 °/o sich einer Äußerung enthielt Diese Ergebnisse machen schon deutlich, daß das Interesse der Öffentlichkeit für Wissenschaft einige Abgrenzungsprobleme m i t sich bringt. Als erstes ist diese Öffentlichkeit aus der Gesamtbevölkerung auszugrenzen. I n weiteren Schritten bleibt dann zu klären, w o die Zentren der Ablehnung, wo die Parteigänger der Wissenschaft sozial zu verorten sind. Immer mehr dürfte diese Öffentlichkeit sich sogar aufteilen i n einzelne Öffentlichkeiten: Unternehmerschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände, Politiker werden allmählich zu getrennten, „partikularen" Öffentlichkeiten für die Wissenschaft, die gesondert anzugehen und zu berücksichtigen sind und die jetzt schon den K e i m fortgesetzter Spaltung erkennen lassen. Noch ergeben die Repräsentativbefragungen zu allgemeinen Wissenschafts-Themen jedoch ein ziemlich einheitliches Bild. Typisch f ü r eine gewisse Uniformität i m öffentlichen Wissenschaftsbild ist beispielsweise, daß man allgemein dazu neigt, unter Wissenschaft „Naturwissenschaften" zu verstehen. Das zeigt unsere eigene Erhebimg. Unter anderem w a r dort nach Namen von Wissenschaftlern gefragt worden, an die man sich spontan erinnert. I n rund siebzig Prozent der Antworten, i n denen einzelne Wissenschaftler genannt wurden, erwähnte man Exponenten der Weltraumforschung (vor allem Wernher von Braun); knapp die Hälfte der Antworten — siebenundvierzig Prozent — enthielt Namen aus der Medizin (vor allem Christian Barnard, aber auch: Derra, Forßmann, Koch und Röntgen); ein knappes D r i t t e l der A n t worten schließlich bezog sich auf Namen aus Physik und Chemie (vor allem Hahn und Heisenberg, Albert Einstein und Max Planck) 2 . E i n weiteres Indiz der allgemeinen Gleichsetzung von Wissenschaft m i t Naturwissenschaften ergibt sich aus einer Studie des Wissenschaftsbildes von Oberprimanerinnen 8 . Nicht nur nennen diese Mädchen als bekannteste wissenschaftliche Ergebnisse vor allem Resultate der medizinischen, physikalischen und biologischen Forschung; sie stufen auch, i n einer Rangliste der Wissenschaftlichkeit, die Chemie, Physik, * Elisabeth Krahforst, Der Bekanntheitsgrad von Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Entdeckungen/Erfindungen in der Öffentlichkeit, unveröffentlichtes Manuskript, Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Sitz Dortmund, 1968, S.3. 3 Diese Studie erstreckte sich auf zwei Oberprimen eines neusprachlichen Mädchen-Gymnasiums und wurde im Rahmen einer Diplomprüfung durchgeführt, vgl. Monika Pohl, Einstellung zur Wissenschaft bei Oberprimanerinnen, Diplomarbeit, Universität Münster, 1968.

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Medizin eindeutig am höchsten ein. Das sind die Disziplinen, die sie am ehesten als Wissenschaften gelten lassen. Den zweiten und dritten Platz besetzen Biologie und Mathematik, also weitere naturwissenschaftliche Fächer, i m engeren oder weiteren Sinne. Psychologie und Philosophie, Pädagogik und Politikwissenschaft erhielten mittlere Rangplätze; Theologie und Publizistik erscheinen als Schlußlichter 4 . Neben dieser Uniformität i m Verhältnis der Öffentlichkeit zur Wissenschaft scheint eine zweite zu stehen: die ambivalente Einstellung zu den Folgen der Wissenschaft. Nach Erhebungen des Survey Research Center i n Michigan glauben die meisten Amerikaner, daß die Wissenschaft die Welt verbessert habe. Als positive Auswirkungen der Wissenschaft werden vor allem die Steigerung des Lebensstandards und die Förderung der Gesundheit genannt 5 . Aus der Befragung dieses Instituts wurden einige Formulierungen i n die deutsche Studie über die Oberprimanerinnen übernommen. Genauer gesagt, es wurden den Oberschülerinnen verschiedene Urteile über die Auswirkungen von Wissenschaft vorgelegt, die die Befragten dann annehmen oder ablehnen konnten. Dabei zeigte sich, daß eine Behauptung fast nur Zustimmimg fand: „Die Wissenschaft hat unser Leben gesunder, leichter und komfortabler gemacht". Wissenschaft w i r d i n ihren Folgen also vor allem deswegen positiv bewertet, w e i l sie zu unserem Zivilisationskomfort beiträgt. Dieses positive U r t e i l ist verbunden m i t entsprechenden Vorstellungen über das Ziel der Wissenschaft bzw. die Legitimation der Wissenschaft gegenüber ihrer Umwelt. Das meistgenannte Ziel (in der Befragung der Oberschülerinnen) ist die Sicherung des Friedens/die Erhaltung der Menschheit. Und auf die Frage, m i t welcher Begründung man die Förderung der Wissenschaft rechtfertigen könne, schließen sich fast alle Befragten dem Argument an: „ N u r m i t Hilfe der Wissenschaft können die großen Probleme der Menschheit, wie Krankheit und Hunger, behoben werden." Die Hälfte der Befragten stellt sich außerdem hinter das Argument: „Wenn w i r den heute erreichten Lebensstandard erhalten und verbessern wollen, so können w i r das nur m i t Hilfe der Wissenschaft 6 ." Insoweit Wissenschaft Anerkennung und Zustimmung findet, motiviert sich dieser Beifall also vorwiegend aus ihrem „Dienst an der Menschheit", sei es bei der Bewältigung allgemeiner Zivilisationsprobleme, sei es i n der Steigerung des Zivilisationskomforts. * Ibid., S. 41, A22 f. a Robert C. Davis, The Public's Image of Science and Scientists, unveröffentlichtes Manuskript, Survey Research Center, University of Michigan, 1958, S.2, 179, 180. • Monika Pohl, op. cit., S.56 L, S . A 3 5 1

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Charakteristisch für die öffentliche Bewertung der Wissenschaft ist n u n aber, daß zusammen m i t positiven Einstellungen auch negative auftreten. Aus dem Jahre 1955 bis 1960 liegen einige Ergebnisse dazu vor. A u f die Frage eines Meinungsforschungsinstitutes etwa, was man an Assoziationen m i t dem Begriff der „Atomenergie" verbinde, antwortet die große Mehrheit: „Bomben, Krieg, Vernichtung" 7 . Das ist, bzw. w a r i n Amerika nicht anders. Dort war, i n der schon erwähnten Erhebung, geradewegs nach negativen Auswirkungen der Wissenschaft gefragt worden. Über die Hälfte der Befragten antwortete m i t Hinweisen auf atomare Vernichtung, Entwicklung neuer Waffen und andere Aspekte kriegerischer Auseinandersetzung 8 . Das negative U r t e i l über die Wissenschaft nährt sich jedoch auch aus einer anderen Quelle. Neben der Furcht vor physischer Vernichtimg des Menschen steht die Furcht vor einer Vernichtung seiner Werte. „Eine mögliche Konsequenz der Wissenschaft ist, daß sie die Vorstellungen der Menschen über Gut und Böse zerstört", heißt es überraschend oft unter den schon erwähnten Oberschülerinnen 9 . Einigen Indizien kann man entnehmen, daß dieses Problem nicht nur einige vielleicht besonders skrupelhafte Jungmädchen beschäftigt, sondern breitere Kreise zieht. Hier läßt sich unter anderem das Echo deutscher Fernseher auf naturwissenschaftliche Sendungen anführen. Rudolf Kühn, bekannt durch seine Fernsehsendungen zu astronomischen und physikalischen Themen, berichtet folgendes: er habe seine Zuschauer einmal aufgefordert, Fragen an i h n zu richten. Als er dann Tausende von Anfragen nach ihrer Häufigkeit sichtete, zeigte sich, daß die Fragesteller vor allem wissen wollten: „Wie verhält sich die moderne Naturwissenschaft zur Religion 1 0 ?" Das vorliegende Material läßt meines Erachtens die begründete Vermutung zu, daß das U r t e i l der Öffentlichkeit zur Wissenschaft aufs Ganze ambivalent ist. Ihre Auswirkungen werden teils positiv, teils negativ gesehen. Damit hat sich weder der unbeschränkte Optimismus derjenigen bestätigt, die i m Zeichen der Verwissenschaftlichung eine allgemeine Bejahung erwarten; noch scheint ohne Einschränkung richtig zu sein, was die Pessimisten behauptet haben: daß der moderne Mensch sich vor der Wissenschaft fürchte. Wahr ist w o h l vielmehr, daß die Öffentlichkeit einerseits bereit ist, der Wissenschaft bestimmte 7

EMNID-Pressedienst Nr. 836 (1958), 1023 (1960). 8 Robert C. Davis, op. cit., S. 2, 182. 9 Monika Pohl, op. cit., S.A34. 10 Rudolf Kühn, „Wissenschaft im Fernsehen", Atomzeitalter (1961), S. 115.

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Leistungen gutzuschreiben, und daß sie andererseits dazu neigt, Wissenschaft m i t Skepsis oder geradezu m i t Furcht zu betrachten. Dieser Befund ist von großer Bedeutung für meine einleitende These, daß die Öffentlichkeit für die Hochschulen zur Instanz zu werden beginne. Zunächst einmal w i r d klar, daß die Universität nicht auf das unangefochtene Prestige der Wissenschaft rechnen darf, sondern darauf gefaßt sein muß, daß die Vertreter der Öffentlichkeit einige tief empfundene Vorbehalte geltend machen. Zum anderen liegt gerade i n der Ambivalenz der öffentlichen Meinung die Chance, den positiv empfundenen Leistungen der Wissenschaft größeres Gewicht beizulegen und die negativ beurteilten Folgen rational zu diskutieren, gegebenenfalls auch als öffentliche Einbildung aufzuzeigen. M i t anderen Worten: es ist Zeit — und Gelegenheit — für eine bewußte Öffentlichkeitspolitik der Hochschulen. Ehe ich jedoch dieses Plädoyer für Öffentlichkeitsarbeit fortsetze, bleibt ein wichtiger Punkt zu klären. I n meinen Angaben ist immer wieder von der öffentlichen Meinung zur „Wissenschaft" die Rede. Hier geht es aber doch auch u m die Hochschulen. Inwieweit sind diese beiden Bezüge identisch: die Hochschulen und die Wissenschaft? Oder w i r d m i t Absicht zwischen diesen beiden unterschieden? Wenn man sich die Meinungsäußerungen zur Wissenschaft ansieht, soweit sie nicht auf Einzelwissenschaften zielen, sondern Wissenschaft als Oberbegriff zu bestimmen suchen („Was ist Wissenschaft?"), so bieten sich für die Ordnung der Antworten vier Kategorien an: Wissenschaft ist Theorie, Wissenschaft ist Forschung, Wissenschaft ist Anwendung und Wissenschaft ist Organisation. Eine von diesen Kategorien scheint besonders stark besetzt: Wissenschaft als Forschung. Unter Wissenschaft stellt sich die Öffentlichkeit i n erster Linie „Forschung" vor. Das jedenfalls verraten amerikanische Unterlagen 1 1 . Für die Bundesrepublik steht uns nur wieder die Befragung der Oberschülerinnen zur Verfügung. Die aber sagen m i t großer Mehrheit: „Wissenschaft ist Forschung" — Forschung allgemein, naturwissenschaftliche Forschung, spezialisierte Forschung auf einem Gebiet, Forschung zum Wohl der Menschheit. Eine Minderheit setzt Wissenschaft m i t Wissen und der Anwendung von Wissen gleich. Daß diese Kategorie so schwach besetzt ist, mag verwunderlich scheinen, wenn man an die Äußerungen zum positiven Effekt der Wissenschaft denkt; dort war bekanntlich viel vom Zivilisationskomfort die Rede. Auch die negativen Einstellungen zur Wissenschaft zeigten teilweise klaren Bezug zur angewandten Wissenschaft: befürchtet wurde Beihilfe zur militärischen Rüstung, atomaren Vernich11 Robert C. Davis, op. cit., S. 183, 189.

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tung 1 *. Das alles hätte vermuten lassen, daß Wissenschaft i n der öffentlichen Meinung allgemein als Wissenschaft, angewandtes Wissen verstanden wird. Selbst eine Gleichsetzung von Wissenschaft und Technologie, Technik wäre nicht überraschend. Eine größere Befragung müßte deutlicher klären können, wieweit die Öffentlichkeit doch zu diesem Wissenschaftsbild neigt. Schon jetzt erfährt diese Kategorie eine indirekte Aufwertung dadurch, daß bei unserer EMNID-Umfrage nach bekannten Wissenschaftlern zwei Vertreter der angewandten Wissenschaft als Stars hervortraten: Wernher von Braun und Christian Barnard 1 3 . Daß die dritte Kategorie, die sich auf Wissenschaft als Theorie einschließlich der Wissenschafts-Theorie bezieht, für die Erfassung und Beschreibung des öffentlichen Wissenschaftsbildes eine geringe Rolle spielt, ist leicht verständlich. Daß aber i m öffentlichen Begriff von Wissenschaft auch die vierte Kategorie keinen Platz zu haben scheint: Wissenschaft verstanden als Organisation — das ist bemerkenswert. A u f die Frage „Was ist Wissenschaft?" müßte die A n t w o r t hier lauten: „Wissenschaft ist, was die Universitäten treiben", „Wissenschaft ist, was an den Hochschulen geschieht". Wissenschaft würde demnach als Spezialität eines organisierten Systems angesehen, so wie Wirtschaft als das betrachtet wird, was Betriebe und Unternehmen machen, und Religion als das, was i n den Kirchen geschieht. Den Mitgliedern des Hochschulsystems ist diese Sicht sehr vertraut; denn die Universität betrachtet sich selbst als eben dies: als Verkörperung der Wissenschaft. „Wissenschaftlich" gilt als Synonym von „akademisch"; Wissenschaft ist Basis und Produkt der Hochschulen, wenn man sie selbst befragt; Wissenschaft außerhalb des Hochschulsystems ist außergewöhnlich —außergewöhnlich wie die Max-Planck-Gesellschaft, außergewöhnlich wie der Privatgelehrte. Dieses Selbstverständnis scheint auf das Wissenschaftsbild der Öffentlichkeit nicht allzuviel Einfluß zu haben. Befragte außerhalb der Universität verfallen beim Thema „Wissenschaft" erst dann auf die U n i versität, wenn man sie darauf stößt. Aber selbst i n diesem Fall gerät die Gleichsetzung von Wissenschaft und Universität längst nicht so intensiv und exklusiv wie i m Eigenbild der Hochschulen und ihrer Vertreter. Als einführendes Beispiel diene noch einmal die Befragung der Oberprimanerinnen. A u f die Frage: „ A n welchen Stellen, i n welchen Institutionen sind Wissenschaftler... tätig?" hörten w i r i n dieser Befragung: 21mal „Universität", 19mal „Industrie", 16mal „freie Form Monika Pohl, op. cit., S. 67, A 33. " Elisabeth Krahforst, op. cit., S. 3 ff.

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schungsinstitute", lOmal „Regierung", 8mal „ K l i n i k e n " 1 4 . Danach ist die Universität nur einer der Orte, der verschiedenen Orte, an denen Wissenschaftler tätig sind. Ein anderes Indiz sind die Untersuchungen zum Prestige des Wissenschaftlers. Da diese Umfragen an repräsentative Stichproben der Bevölkerung gerichtet zu werden pflegen, bieten sie darüber hinaus ein verbindlicheres B i l d der öffentlichen Meinung als die Befragung ausgewählter Gruppen. Diese Prestige-Untersuchungen bestätigen seit Jahren stetig, daß „der Professor" an der Spitze der gesellschaftlichen Prestigeskala steht, oder doch jedenfalls einen sehr erlauchten Platz einnimmt. So fragt das EMNID-Institut seit 1956 regelmäßig i n einer repräsentativen Stichprobe die westdeutsche Bevölkerimg, wie sie einen Professor, einen General, einen Minister, einen Prinzen und einen Bischof dem Prestige nach einordnen würde 1 5 . U n d m i t beachtlicher Regelmäßigkeit geriet der Professor bisher an die Spitze dieser Skala. I n anderen Ländern war das Ergebnis übrigens genauso oder recht ähnlich 16 . U n d doch täuscht dieses B i l d i n einer ganz entscheidenden Hinsicht. Je stärker man nämlich i n den Berufen differenziert, u m so stärker verliert der akademische Lehrer zugunsten verwandter Berufsgruppen. Als Beispiel bieten sich die Berufsprestige-Untersuchungen eines amerikanischen Meinungsforschungsinstituts für die Jahre 1947 und 1963. Seine Skala für 1947 zeigt den College professor an 8. Stelle, den Wissenschaftler i n Regierungsdiensten an 10. Stelle und den Atomphysiker an 18. Stelle. I m Jahre 1963 hatte sich hier einiges geändert. Der College Professor steht noch immer auf dem 8. Platz, aber der Wissenschaftler allgemein und der Atomphysiker i m besonderen teilen sich jetzt Rang 3 bis 4; und der Wissenschaftler i n Regierungsdiensten ist auf Platz 5 bis 6 vorgerückt. Das bedeutet, daß der Hochschullehrer relativ i m Prestige abgestiegen ist 1 7 . I n anderen Ländern zeigen sich ähnliche Tendenzen. Die neuesten Ergebnisse hierzu werden uns aus der CSSR vorgelegt. I m Rahmen einer repräsentativen Befragung zum gesellschaftlichen Prestige wurde dort 1967 der wissenschaftliche Arbeiter auf Platz 4 eingestuft, der Hochschullehrer auf Platz 10. Die vergleichsweise Zurücksetzung des Universitätsdozenten w i r d i n dieser Skala noch dadurch verschärft, daß der Begriff des wissenschaftlichen Arbeiters sich nicht nur auf höchst14 Monika Pohl, op. cit, S.A25. ifi EMNID-Pressedienst Nr. 714 (1956); Nr. 918 (1958); Nr. 1305 (1963); Nr. 1568 (1966). 10 R. W. Hodge, D. J. Freiman und P. H. Rossi, „A Comparative Study of Occupational Prestige" in: Class, Status and Power; Hrsg. R. Bendix und S. M. Lipset, 2. Aufl., New York 1966, S. 309—321. 17 Ibid., S. 324.

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qualifizierte Forscher bezieht, sondern auch Assistenten und technischwissenschaftliches Personal umfaßt 1 8 . Was steht nun hinter dieser Tendenz zur unterschiedlichen Bewertung von „Professoren" und „Wissenschaftlern"? Ich kann meine Uberlegungen dazu aus räumlichen Gründen nur thesenhaft vorstellen. Ich unterstelle, (a) daß „Wissenschaftlichkeit" eines Berufes ein relevantes K r i t e r i u m der Prestigezumessung ist, (b) daß soziales Prestige und Wissenschaftlichkeit eines Berufes hoch korrelieren, (c) daß man dem Forscher, also: dem „wissenschaftlichen Arbeiter" i n der CSSR, dem government scientist i n den USA, höhere Wissenschaftlichkeit zuschreibt als dem College professor, dem Hochschullehrer, und daß dem Professor keine anderen Qualitäten zugeschrieben werden, die den vergleichsweisen Mangel an Wissenschaftlichkeit aufwiegen könnten. Aus den Prestige-Untersuchungen ergibt sich zumindest als These, was vorhin an anderem Material gezeigt werden sollte: daß die Öffentlichkeit unter Wissenschaft erst i n zweiter, dritter Linie die Universität, den Universitätsprofessor versteht. Soweit i n der öffentlichen Meinung Wissenschaft überhaupt als Organisation gesehen wird, figurieren i n diesem B i l d die Laboratorien und Forschungsinstitute der Industrie vor den Hörsälen und Instituten der Hochschulen . Es ist eine Frage für sich, als was man sich die Hochschulen denn nun anders vorstellt. Hier können w i r vorerst nur festhalten, daß Wissenschaft und Universität von der Öffentlichkeit anscheinend nur bedingt gleichgesetzt werden. Was bedeutet das für die Öffentlichkeitspolitik der Hochschulen? Ich möchte diesen dritten Abschnitt meines Beitrages nur i n der Gliederung vorstellen, denn meine Empfehlungen zu einer solchen Politik sind nur vorläufig gedacht. Ich gehe dabei davon aus, daß i n dieser Öffentlichkeitsarbeit m i t Hilfe von Fakten eine für die Hochschulen günstige Beeinflussimg der Öffentlichkeit erreicht werden soll. Dazu scheinen m i r drei Schritte empfehlenswert, die inhaltlich mehr oder weniger zusammenhängen und zeitlich synchronisiert werden können. Einen ersten Schritt habe ich schon skizziert. I m Zusammenhang m i t der Besprechung positiver und negativer Urteile zur Wissenschaft hatte ich empfohlen, den positiv bewerteten Leistungen stärkeres Gewicht zu geben und die negativ geschätzten Folgen zumindest rational zu klären und gegebenenfalls als öffentliche Einbildung aufzuzeigen. Letzten Endes läuft diese Politik hinaus auf eine Aufhebung der Ambivalenz i n der öffentlichen Meinung zur Wissenschaft zugunsten eines i m Schwergewicht positiven Urteils. 18 Vladimir Brenner und Milan Hrouda, „Wissenschaft und Hochschulbildung im Prestige der Berufe", Soziale Welt, im Druck.

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Dieser Teil der Öffentlichkeitsarbeit sollte ganz i m funktionalen Raum stattfinden. Das heißt: die Argumentation sollte sich anschließen an die tatsächlichen Beiträge und logischen Auswirkungen der Wissenschaft i n den Hochschulen. Dieser Versuch der Beeinflussung soll völlig an der Sache bleiben. Thema sind die tatsächlich erbrachten und zu erbringenden Leistungen der Universität, die Trennung von geplanten und ungeplanten und ungewollten Folgen wissenschaftlichen Handelns, die kausale Verknüpfung von Entscheidungen und Anstrengungen einerseits und von Ergebnissen und Anwendungen andererseits. Ein zweiter Schritt sollte meines Erachtens darin liegen, den wissenschaftlichen Charakter der Universitäten und Hochschulen stärker zu betonen. Dieser Versuch w i r d den Vertretern der Universität unnötig scheinen, da sie die Identität von Wissenschaft und Hochschule für ungebrochen halten. I n Wirklichkeit haben sich Forschung und Lehre an den Hochschulen stark auseinandergelebt, und ein Gutteil der Forschimg ist heute schon aus den Universitäten ausgewandert. Soweit man nun Forschung m i t Wissenschaft gleichsetzt, wie das i n der öffentlichen Meinung geschieht, lassen sich also gar objektive Zeichen dafür anführen, daß die Universität an Wissenschaftlichkeit verloren habe, daß die Gleichung „Wissenschaft = Universität" falsch erscheint. Die Möglichkeiten einer solchen Politik sind leicht zu bestimmen. Wenn sich zeigen ließe, daß die Hochschulen eben das betreiben, was die Öffentlichkeit für Wissenschaft hält (also Forschung); oder wenn sich zeigen ließe, daß das Geschäft der Hochschulen auch Wissenschaft sei, obwohl die Öffentlichkeit bislang zu einem exklusiven Wissenschaftsbegriff neigte; oder wenn sich demonstrieren ließe, daß die Stätten der Wissenschaft außerhalb der Hochschulen inhaltlich von diesen Hochschulen abhängen — dann müßte das Wissenschaftsverständnis der Öffentlichkeit wieder stärker den Gedanken an Hochschulen und Professoren einschließen. Wiederum versteht sich, daß solche Korrekturen am Wissenschaftsbild der Öffentlichkeit nicht an den Fakten vorbei erfolgen dürfen. Ein Problem für sich wäre die Korrektur der Fakten, die dieser Gleichsetzimg entgegenstehen. Dieser Schritt empfiehlt sich meines Erachtens nicht nur, w e i l sich die Universität historisch aus ihrem Auftrag zur Wissenschaft konstituiert hat und diese Tradition gewahrt werden müßte. Er empfiehlt sich vor allem auch, w e i l i n der Wissenschaft eine besonders vielversprechende Zukunft der Universität angelegt ist; Umfang und Bedeutimg der wissenschaftlichen Aufgaben können n u r wachsen. Schließlich gilt Wissenschaft als sozialer Wert und sichert somit ein gewisses Maß an sozialer Wertschätzung. Gewiß gibt es höher eingeschätzte Wertvorstel-

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hingen, wie „Religion" 1 9 . Aber wenn man Repräsentativbefragungen trauen darf, n i m m t „Wissenschaft" i n der Werte-Hierarchie der westdeutschen Bevölkerung einen achtbaren Platz ein und w i r d i n ihrer Wertigkeit höher eingestuft als etwa „Politik" und „Nation". U n d bei aller Ambivalenz, m i t der man der Wissenschaft begegnen mag, erfreut sie sich als solche doch anscheinend größerer Anerkennung als die I n stitution der Universität. Selbst eine erfolgreiche Gleichsetzung von Universität und Wissenschaft w i r d jedoch das Problem nicht ungelöst lassen, das ich eingangs besprochen hatte: daß die Öffentlichkeit als Instanz auf das Hochschulsystem zukommt, daß ihre Vertreter am universitären Entscheidimgsprozeß beteiligt werden und daß diese Vertreter eigene Kontrollwünsche durchzusetzen versuchen wollen. Dieses letztlich politische Problem stellt sich auch der Wissenschaft als Organisation. Gegenüber diesem Problem empfiehlt sich dann ein dritter Schritt: die Versachlichung der politischen Auseinandersetzung. Dieser Schritt läßt sich vollziehen i n direktem Anschluß an die beiden vorher erwähnten Schritte. Er erfolgt vor dem Hintergrund einer klaren, zukunftsträchtigen Mission und unter dem Schirm einer allgemein respektierten Wertvorstellung; und er besteht i m einzelnen darin, daß gegen den öffentlichen Anspruch auf Mitbestimmung die unstrittigen Leistungen der Wissenschaft angeführt und abgesichert werden. Die U n i versität sollte den Prozeß der Macht-Aufteilung und der Kompromisse, der jetzt eben anläuft, nicht i m Sinne einer bloßen K r a f t probe oder eines bloßen Oktroi verstehen. Vielmehr sollte sie unter Rückgriff auf den funktional orientierten Versuch zur Aufhebung der öffentlichen Ambivalenz gegenüber Wissenschaft nun auch dafür zu sorgen suchen, daß sie ihre wesentlich erachteten Beiträge auch i n Zukunft erbringen kann. Sie sollte darauf achten, daß bei aller politischen Auseinandersetzung ihre wissenschaftliche Leistungsfähigkeit unbeeinträchtigt bleibt. Diese Schritte wollten, eingestandenermaßen, die Öffentlichkeit und ihre Vertreter i n einem für die Universität günstigen Sinne beeinflussen. Die Hochschule soll nun aber ihre Öffentlichkeitsarbeit nicht allein nach A r t der üblichen Public Relations betreiben. Die übliche Öffentlichkeitspolitik zielt auf einseitige Aufklärung und Beeinflussung. So versteht etwa die Wirtschaft ihre Public Relations. Daneben aber sollte meines Erachtens von der Universität ein zweites Ziel verfolgt werden: die Aufdeckung der Hoffnungen und Befürchtungen, die i n der Öffentlichkeit über Wissenschaft kursieren. Diesen Teil der Öffentlichkeitsarbeit 19 Voraussetzungen politischer Meinungsbildung in Baden-Württemberg, Bielefeld: EMNID-Institut, 1964, S. 171 ff.

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habe ich bei anderer Gelegenheit einmal „inverse PR" genannt: Öffentlichkeitsarbeit i n umgekehrter Richtung, Selbstaufklärung über die Erwartungen, die andere an einen selbst richten 2 0 . Hier bleibt noch viel zu tun. Die Universität sollte zumindest wissen, welche Tabus die Gesellschaft nicht verletzt sehen w i l l und warum. Die Universität sollte wissen, welche gesellschaftlichen Erwartungen man an sie richtet, was die Universität leisten soll, wo und warum. Idealerweise müßte dabei unterschieden werden nach den verschiedenen Öffentlichkeiten, denen sich die Universität schon gegenübersieht oder bald gegenübersehen w i r d : Wirtschaft, Gewerkschaften, Freie Berufe, Politik. M i t diesen Vorschlägen zur Lösung einiger Probleme i n dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit werden auch neue Probleme geschaffen. Die strategische Frage etwa, wie weit die Hochschulen auf die Erwartungen der Öffentlichkeit eingehen solle, bleibt hier völlig unerörtert. Offen bleibt auch die Frage, inwieweit die Hochschulen eine tiefergehende Beeinflussung der Öffentlichkeit zu versuchen hätten, i n der nun die „Züchtung" ganz bestimmter Erwartungen angestrebt würde; offen bleibt, welche M i t t e l der Beeinflussung eingesetzt werden sollten. Undiskutiert ist weiterhin, ob nicht bestimmte Entscheidungen i n der akademischen Forschung und Lehre gegen die Intervention der Öffentlichkeit abzusichern bleiben. Wie immer man aber über diese Fragen entscheiden mag — und offensichtlich drängen sich zusätzliche auf —, die genannten drei Schritte scheinen m i r i n jedem F a l l empfehlenswert.

2® „Industrielle Unternehmen und moderne Gesellschaft", Technische Mitteilungen („Organ des Hauses der Technik, Essen"), LX, 1967, S. 176—179.

Das Selbstverständnis der Wissenschaft und seine gesellschaftspolitische Bedeutung Von Priv.-Doz. Dr. Heiner Flohr, K ö l n Für gewisse Grade der Verständigung genügen oft metaphorische Hedeweisen wie „das Interesse der Allgemeinheit" oder wie „das Selbstverständnis der Wissenschaft". Aber niemand sollte ernsthaft darauf beharren, daß die Allgemeinheit ein Interesse haben oder daß sich die Wissenschaft selbst verstehen könne. Folglich ist mein Thema so zu interpretieren, daß das Selbstverständnis derjenigen interessiert, die Wissenschaft betreiben, also der Wissenschaftler. Das muß gesagt werden angesichts der verbreiteten Gepflogenheit, bei der Rede von der Wissenschaft abzusehen von dem schlichten Umstand, daß die Wissenschaft von Menschen betrieben w i r d und jegliche Sinngebung durch Menschen erfährt. Wenn also daran erinnert wird, daß es sich nicht u m das Selbstverständnis der Wissenschaft als einer fragwürdigen, von den Menschen unabhängigen „Wesenheit" handeln kann, sondern daß es u m das Selbstverständnis der Wissenschaftler geht, dann mag gleich an die Möglichkeit gedacht werden, daß es mehrere Selbstverständnisse gibt. Eine weitere Verfremdung des scheinbar so glatten Themas ergibt sich durch die Frage, wer denn als Wissenschaftler gelten solle. Der Aufgabe, einen präzisen Begriff „Wissenschaft" zu bilden, möchte ich mich jetzt nicht unterziehen, zumal für die Diskussion unseres Themas eine exakte Definition nicht nötig sein dürfte, weil die Übereinstimmung hinsichtlich des m i t „Wissenschaft" Gemeinten ausreicht. Dabei gehe ich allerdings davon aus, daß relativ weite Begriffe verwendet werden, d. h. daß nicht unbedingt alle Positionen, die dem eigenen wissenschaftstheoretischen Standpunkt nicht ganz entsprechen, als unwissenschaftlich angesehen werden. Wer (im weiten Sinne) Wissenschaft betreibt, der gelte als Wissenschaftler, und sein Selbstverständnis interessiere, unabhängig davon, an welcher Stelle i n der Gesellschaft er forscht oder wissenschaftlich lehrt. Wissenschaft w i r d somit auch nicht nur bestimmten Institutionen zugeschrieben, etwa wissenschaftlichen Hochschulen. Ebenso unangemessen für eine Grenzziehung ist der akademische Grad; auch das Selbstverständnis der an Forschung beteiligten Studenten interessiert. Die Frage nach dem Selbstverständnis von Wissenschaftlern verstehe ich hier nicht genau i m soziologischen Sinne als Verständnis der eigenen 4 Tagung Dortmund 1968

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Rolle, sondern als die Frage nach den Zielen, die der Wissenschaftler verfolgt, und nach der Bewertung, die er m i t seiner Arbeit verbindet. Was nun den Inhalt des Selbstverständnisses angeht, so sei eingangs gefragt, wie es m i t der Richtigkeit der verbreiteten Meinung steht, alle Wissenschaft sei auf Erkenntnis von Wahrheit ausgerichtet. Man kann m i t Habermas empirisch-analytische, historisch-hermeneutische und kritisch orientierte Wissenschaften voneinander unterscheiden und wie Habermas meinen, daß den Wissenschaften des ersten Typs ein technisches Interesse, denen des zweiten Typs ein praktisches und schließlich denen des dritten Typs ein emanzipatorisches Interesse zugrunde liege 1 . Ob allerdings diese drei verschiedenen Interessen als Erkenntnisinteressen, als erkenntnisleitende Interessen bezeichnet werden sollten, so wie Habermas es tut, hängt ab von der Weite des Begriffs, den man m i t dem Ausdruck „Erkenntnis" bezeichnet. Ich hätte Bedenken, i n allen drei Fällen von Erkenntnis zu sprechen, wenn der Begriff „Erkenntnis" auf Wahrheit i m Sinne von tatsächlichen Eigenschaften von Sachverhalten bezogen ist. Aber das braucht nicht diskutiert zu werden; denn wer prüfen w i l l , ob Wissenschaft stets nur auf Erkenntnis der (wie auch immer definierten) Wahrheit ausgerichtet ist, der muß nicht von irgendeiner ja immer kritisierbaren Einteilung der Wissenschaften ausgehen, sondern kann sich einfach die als Wissenschaft geltenden Tätigkeiten ansehen und fragen, welcher Sinn jeweils damit verbunden wird. Die unbefangene Suche nach den Selbstverständnissen von Wissenschaftlern zeigt bald, daß die verbreitete Meinung, das Ziel aller Wissenschaft — jedenfalls i n „freien Gesellschaften" — sei Erkenntnis, nicht haltbar ist. Ich spiele damit nicht an auf die erkenntniskritische Problematik, was Wahrheit denn sei und wie man sich ihrer versichern könne. Vielmehr sei erinnert an die Existenz einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Disziplinen, deren Arbeit kaum ausnahmslos als Streben nach Erkenntnis von Wahrheit verstanden werden kann. So könnte z. B. manches des i n Disziplinen wie der Rechtswissenschaft und der Pädagogik Erstrebten als Erkenntnis gelten nur einem Verständnis, das ich für erkenntniskritisch fragwürdig halte, besonders sofern dabei an die Möglichkeit geglaubt wird, Grundwerte zu erkennen, seien es solche des Rechts, der Pädagogik oder wessen auch immer. Man braucht aber nicht einzelne Disziplinen herauszusuchen, u m die These der völligen Ausrichtung der Wissenschaft auf die Wahrheitsfindung zu widerlegen. Ein großer Teil dessen, was gemeinhin als wissenschaftliche Tätigkeit gilt, ist die Lehre an wissenschaftlichen Hochschulen. Nun ist Lehre i m günstigen Falle Wahrheitsverbreitung, vielleicht auch Vorbereitung i J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Merkur, 1965, H. 12.

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von Wahrheitsfindung, nämlich wenn die Fähigkeit wissenschaftlichen Forschens vermittelt wird, aber nicht Wahrheitsfindung selbst. Gewiß kann bei Gelegenheit des Lehrens die Erkenntnis auch des Lehrenden fortschreiten, aber das ist nur eine — wenngleich wünschenswerte — Nebenwirkung des Lehrens, nicht ihr Hauptzweck. Somit ergibt sich, daß keineswegs alle wissenschaftliche Arbeit immer und vollständig auf Erkenntnis von Wahrheit gerichtet ist. Darauf hinzuweisen war nötig, denn es w i r d nicht i n allen Diskussionen über das Selbstverständnis genügend beachtet. Z u diesen Diskussionen sei gleich noch etwas Kritisches gesagt. Besonders i n den Sozialwissenschaften w i r d viel über die Ziele der Wissenschaft, also über das Selbstverständnis i n dem von m i r angegebenen Sinne, nachgedacht und diskutiert, gesprochen und geschrieben. Hier w i r d viel Gedankenkraft investiert, wohl zu Recht. Aber es ist eine unter uns Menschen sehr verbreitete Unsitte, die relative Bedeutung der Probleme, an denen gerade w i r arbeiten, gewaltig zu überschätzen. Leicht halten w i r ausgerechnet die Dinge, m i t denen w i r uns befassen, für von zentraler Bedeutung für die eigene Gesellschaft oder gar für die menschliche Gesellschaft schlechthin. W i r Wissenschaftler machen da, so meine ich, nicht nur keine Ausnahme, sondern zählen geradezu m i t zur Spitze, wenn man die Leute danach einteilt, wie sehr sie die Wichtigkeit ihrer Arbeit überschätzen. I n unserer speziellen Frage habe ich den Eindruck, daß die meisten Wissenschaftler, die sich an der Selbstverständnis-Diskussion beteiligen, die praktische Bedeutung der Ergebnisse dieser Diskussion für größer halten, als sie ist. Vor allem w i r d häufig die simple Tatsache vernachlässigt, daß es nicht genügt, ein Selbstverständnis zu haben, sondern daß sich dieses Selbstverständnis auswirken muß, wenn es praktische Bedeutung haben soll. Nun kann der Wissenschaftler sein Selbstverständnis demonstrativ äußern, so von Professoren gegenüber Studenten oder — die modernere Richtung — von Studenten gegenüber Professoren; Dozenten und Studenten können es äußern gegenüber staatlichen Stellen usw. Aber wenn man an die möglichen unmittelbaren Auswirkungen des Selbstverständnisses von Wissenschaftlern denken w i l l , dann hat man wohl vor allem an die eigentliche wissenschaftliche Arbeit zu denken, also an Forschung und Lehre. Darauf möchte ich mich konzentrieren. Wichtig ist nun, daß die tatsächliche wissenschaftliche Praxis vom offiziellen Selbstverständnis meist mehr oder weniger abweicht. Und w e i l ein Selbstverständnis politische Bedeutung zum größten Teil nur insoweit erlangen kann, als es die tatsächliche Tätigkeit des Wissenschaftlers bestimmt, ergibt sich daraus, daß die Selbstverständnisse sowie die wissenschaftsinterne Diskussion dieser Selbstverständnisse eine 4*

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geringere politische Bedeutimg haben, als — wie gesagt — von manchen Wissenschaftlern geglaubt wird. Behauptet wurde, die tatsächliche wissenschaftliche Praxis weiche vom Selbstverständnis mehr oder weniger ab. Das kann hier nicht ausführlich belegt werden, etwa i n einem Soll-Ist-Vergleich, indem systematisch das Selbstverständnis und die tatsächliche Leistung einzelner Wissenschaftler oder einzelner Gruppen von Wissenschaftlern einander gegenübergestellt würden. Somit w i r d diese Abweichung nicht nachgewiesen, sondern nur behauptet, doch diese Behauptung mag wenigstens an Plausibilität gewinnen, wenn jetzt einige der möglichen Ursachen genannt werden, der Ursachen also, daß die tatsächliche wissenschaftliche Arbeit vor allem hinsichtlich ihrer Ergebnisse und das Selbstverständnis des betreffenden Wissenschaftlers differieren. Nicht alle Wissenschaftler lassen sich immer genau und ausschließlich von den Interessen leiten, die sie, wenn sie gefragt werden, als ihre Interessen als Wissenschaftler anzugeben pflegen. Wie i n anderen Berufen so werden auch von Wissenschaftlern nicht immer die wahren Motive genannt. Das sollte man ganz nüchtern sehen. Weder die Absicht, Geld zu verdienen, noch das Ziel, eine geachtete soziale Position zu erlangen oder zu behaupten, w i r d von vielen Wissenschaftlern als Teil ihres Selbstverständnisses angegeben, weil es nicht so hübsch uneigennützig klingt; aber das ändert nichts daran, daß diese Absichten von den meisten verfolgt werden, vielleicht bei vielen nicht als Hauptsache, dann aber eben doch i n zweiter oder dritter Linie. Es handelt sich also u m den Fall, daß das offizielle Selbstverständnis und die tatsächlichen Interessen des Wissenschaftlers voneinander abweichen. Insoweit diese tatsächlichen Interessen die konkrete Arbeit des Wissenschaftlers mitprägen, dürfte diese Arbeit dem offiziellen Selbstverständnis nicht v o l l entsprechen. Das wäre zum Beispiel gegeben, wenn ein Wissenschaftler das Objekt seiner Forschung nicht gemäß seinem Drange nach Erkenntnis oder der eventuellen Nützlichkeit der Forschungsergebnisse für die Allgemeinheit auswählt, sondern w e i l er die Forschungsergebnisse über dieses ihn sonst nicht sehr interessierende Thema besonders gut verkaufen kann. Jetzt zu einer anderen möglichen Ursache. Es kann sein, daß das Selbstverständnis des Wissenschaftlers aus prinzipiellen Gründen zu anspruchsvoll ist. Der Wissenschaftler kann es i n der praktischen Arbeit nicht einlösen, w e i l er sich eine Aufgabe gesetzt hat, die prinzipiell, zum Beispiel aus erkenntnislogischen Gründen, unlösbar ist. Das gilt z.B. meines Erachtens für den Wissenschaftler, der den Sinn seiner Arbeit darin sieht, die Rationalität von Praxis zu erhöhen durch den Nachweis, daß bestimmte politische Grundpositionen vorzugswürdig sind. Eine

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solche Aufgabe kann er aus logischen Gründen nicht lösen; er kann seinem Selbstverständnis i n praxi nicht gerecht werden. I n gewisser Hinsicht ähnlich liegt der Fall bei einer anderen möglichen Ursache des Auseinanderklaffens von Selbstverständnis und praktischer Leistung. Ich denke an den nicht ganz seltenen Fall, daß die persönlichen Fähigkeiten des Wissenschaftlers für ein dem Selbstverständnis entsprechendes Verhalten nicht ausreichen. Hier übernimmt sich der Wissenschaftler. Nehmen w i r an, ein Soziologe setze sich die Aufgabe, eine Theorie zu entwickeln, die eine umfassende Erklärung des gesamten bisherigen Geschichtsverlaufs enthält. Zumindest denken läßt sich doch, daß er bei diesem anspruchsvollen Unternehmen völligen Schiffbruch erleidet. Vielleicht mangelt es i h m an Geisteskraft, vielleicht einfach an Kenntnissen. Eine weitere mögliche Ursache oder besser eine ganze Ursachengruppe, warum die Praxis hinter dem Selbstverständnis zurückbleiben kann, sind die äußeren Umstände, die für die Arbeit des Wissenschaftlers beachtlich sind. Das schönste Selbstverständnis beseitigt nicht die Schranken, die wissenschaftlicher Arbeit i n Forschung und Lehre Grenzen setzen. Diese Schranken können finanzieller A r t sein; hier genügt das Stichwort „Wissenschaftsförderung". Oder die Schranke ist rechtlicher, disziplinärer A r t . Man denke an den Rahmen, der der Freiheit von Forschung und Lehre auch i n demokratischen Gesellschaften gezogen sein kann. Natürlich sind diese Schranken nicht unabhängig von den Erwartungen, die die übrige Gesellschaft an die Wissenschaft richtet, d. h. von der Rolle, die die Gesellschaft der Wissenschaft bzw. einzelnen Disziplinen zugewiesen hat. Daß der Hinweis auf diesen Zusammenhang aktuell ist, braucht angesichts der hochschulpolitischen Diskussion i n unserem Lande nicht gezeigt zu werden. Ich habe einige der Ursachen genannt, die dem von m i r behaupteten Abweichen der tatsächlichen Arbeit, speziell der tatsächlich erbrachten Leistungen, vom Selbstverständnis zugrunde liegen können. Es kommt m i r an auf die Behauptung, 1. daß das Selbstverständnis i n der tatsächlichen Arbeit oft nicht v o l l eingelöst w i r d oder werden kann, 2. daß die gesellschaftspolitische Bedeutung eines Selbstverständnisses aber sehr weitgehend davon abhängt, i n welchem Umfang es die praktische Arbeit prägt, und daß 3. — als Folgerung daraus — das Selbstverständnis nur eine begrenzte gesellschaftspolitische Bedeutimg hat. Das muß man als Realist sehen. Alles das soll aber nicht so verstanden werden, als sei es politisch gleichgültig, welches Selbstverständnis der Wissenschaftler hat oder

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welches Selbstverständnis unter Wissenschaftlern vorherrscht. Ich habe nur warnen wollen, die große Bedeutung des Selbstverständnisses noch zu überschätzen, so wie es oft geschieht, nicht nur i n der wissenschaftsinternen Diskussion, sondern auch i n Festreden, i n denen noch heute dem Geist, der die Wissenschaft durchziehe, ohne weiteres eine Berge versetzende K r a f t zugesprochen wird. Die Bedeutung gerade jener Selbstverständnisse pflegt überschätzt zu werden, i n die eine kritische Reflexion des Zusammenhanges zwischen Selbstverständnis, tatsächlicher wissenschaftlicher Arbeit und gesellschaftspolitischer Bedeutung nicht eingegangen ist. Diese Reflexion, i n deren Dienst mein ganzer Vortrag steht, kann zu einem realistischeren und gesellschaftspolitisch wirksameren Selbstverständnis führen. Wenn man sich frei gemacht hat von aller grotesken Uberschätzung, dann kann man sehen, daß es durchaus politisch wichtig ist, welches Selbstverständnis unter Wissenschaftlern dominiert. Wenn das richtig ist, dann ist das Selbstverständnis von Wissenschaftlern auch ein Politikum. Wie sehr es das ist, wissen w i r von der Fülle teils subtiler, teils massiver Versuche, das Selbstverständnis zu beeinflussen. Gefragt sei jetzt ganz allgemein nach den Möglichkeiten, auf das Selbstverständnis einzuwirken, wobei offenbleiben muß, i n welcher Richtung diese Beeinflussung gehen soll. Da ist nun wichtig — und auch das w i r d i n der wissenschaftsinternen Diskussion oft übersehen —, daß das Selbstverständnis eines Wissenschaftlers und ganzer Gruppen von Wissenchaftlern nicht ioliert ist, nicht unabhängig ist von anderen Faktoren, welche die Arbeit des Wissenschaftlers bestimmen 2 . Der faktische Zusammenhang zwischen dem Selbstverständnis und anderen Faktoren muß beachtet werden, wenn man das Selbstverständnis beeinflussen w i l l , etwa i n der Absicht, die gesellschaftspolitische Bedeutung der.Wissenschaft zu vergrößern. Bloße moralische Appelle zum Beispiel genügen sicher nicht. Z u berücksichtigen sind die Einflüsse, die dem Wissenschaftler bestimmte Selbstverständnisse nahelegen. Nach diesen Einflüssen sei nun gefragt, wobei ich besonders auf die Hereinnahme der gesellschaftspolitischen Verantwortung i n das Selbstverständnis der Wissenschaftler achten w i l l . Politische und nichtpolitische Praxis braucht Techniken zum Erreichen ihrer Ziele. I n hochentwickelten Industriegesellschaften wie der unseren 2 Das läßt sich am besten an einem Beispiel zeigen. Wenn gefordert wird, die Ordinarien sollten sich doch zu einer anderen Auffassung ihrer Rolle durchringen, speziell zu einem anderen Selbstverständnis, so wird dabei verkannt, daß das unter Ordinarien verbreitete Selbstverständnis mit bestimmten Erwartungen der Gesellschaft korrespondiert, jener Gesellschaft, die dem Ordinarius in rechtlicher, materieller und nicht zuletzt in ideologischer Hinsicht den Rahmen gab, in den das jetzt kritisierte vorherrschende Selbstverständnis tatsächlich am besten paßt, ja, in dem es sich, psychologisch gesehen, geradezu entwickeln mußte.

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bedarf es zum Entdecken eines großen Teils dieser Tediniken der Wissenschaft, die somit als Lieferantin von Tediniken und von Technikern interessiert. (Dabei verstehe ich „Technik" i n weitem Sinne, so daß auch die Sozialtechniken unter diesen Begriff fallen, etwa Methoden der Meinungsforschung oder der sogenannten Menschenbehandlung i m Dienste höherer Arbeitsleistung.) Indem Wissenschaft Techniken und — vermittelt durch die wissenschaftliche Lehre — auch Techniker der Praxis zur Verfügung stellt, t r i t t sie insoweit faktisch i n den Dienst der Praxis, d.h. i n den Dienst der von dieser Praxis verfolgten Ziele, welchen Inhalt auch immer diese haben. Diese Tatsache besteht natürlich völlig unabhängig davon, welches Selbstverständnis die Wissenschaftler haben, die diesen Dienst leisten; wichtig ist allein, daß sie diesen Dienst leisten. Vielleicht ist es aber nicht zuviel erwartet, daß die Wissenschaft dieses Faktum i n die Reflexion über sich selbst einbezieht. Das ist auch geschehen, aber nicht immer i n der erforderlichen Härte gegen sich selbst. Ich denke an das Argument, man könne ja die Rollen des Wissenschaftlers und des Praktikers unterscheiden auch i n der Weise, daß man beiden verschiedene Bereiche der Verantwortung zuerkennt: dem Wissenschaftler die Verantwortung für die sachliche Richtigkeit seiner Arbeitsergebnisse, dem Praktiker die Verantwortung für die politische Vertretbarkeit seines Verhaltens. Die Naivität dieser These von der strikten Trennbarkeit i n verschiedene Verantwortungsbereiche verdient heute w o h l kaum noch eine ausdrückliche Widerlegung. Ich möchte also ohne weitere Begründung davon ausgehen dürfen, daß der Wissenschaftler mitverantwortlich ist für den Dienst, den er der Praxis erweist. Dann aber darf er nicht vermeiden, sich die Ziele vor Augen zu führen, die die von ihm unterstützte Praxis anstrebt. Es ist jedoch nicht immer leicht, diese Ziele zu erkennen. Manchmal liegen sie auf der Hand, besonders dann, wenn der Wissenschaftler den Verwendungszweck schon bei seiner Arbeit kennt. Ich erinnere an die Entwicklung der Atombombe. Hier kam es bekanntlich zu einer ernsten Diskussion und auch zu Selbstvorwürfen einiger beteiligter Wissenschaftler. I n vielen anderen Fällen, vor allem bei der Forschung, die nicht Auftragsforschung ist, kann die spätere Verwendung seiner Ergebnisse dem Wissenschaftler nicht oder doch nicht ohne weiteres klar sein. Das liegt besonders an einer bestimmten Eigenschaft moderner Industriestaaten. I n solchen Staaten ist vor allem der ökonomische, aber auch der soziale Prozeß schlechthin i m ganzen und i n vielen Einzelheiten wenig durchsichtig, w e i l der Sinn der meisten einzelnen A k t i o nen nur i m Blick auf das jeweils unmittelbar verfolgte Ziel ohne weiteres klar ist, dieses Ziel aber selbst wieder nur M i t t e l i n bezug auf Ziele höherer Ordnung ist, auf Ziele, die oft schon weniger selbstver-

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ständlich sind und die i n der Regel selbst wieder nicht um ihrer selbst w i l l e n erstrebt werden, sondern zugunsten von Zielen von noch höherer Ordnung usw. Hinsichtlich seines Sinnes ist der sich i n unserer Gesellschaft vollziehende Sozialprozeß ein außerordentlich kompliziertes und verwickeltes Geflecht von Zweck-Mittel-Beziehungen. Dieses sich stets neu verknüpfende Geflecht ist auch noch deshalb so wenig über- und durchschaubar, w e i l viele Sachverhalte, seien es Zustände oder A k t i o nen, i n Wahrheit nicht oder nicht nur den Zwecken dienen, denen sie offiziell zugeordnet sind. Manche Funktionen von Sachverhalten sind vielleicht nur einigen Leuten bekannt. Das liegt i m Grundmuster nicht nur unserer Wirtschaftsordnung, sondern allgemein unserer Gesellschaftsordnung. I n dieser Situation ist es schwierig und deshalb zumindest lästig, den Sinn von Aktionen bis zum letzten zu verfolgen, u m die A k t i o n i m Lichte ihrer vermutlichen Konsequenz bewerten zu können. Aus Gründen, die i n der Sache liegen, ist die Versuchung groß, sich i n der Frage nach dem Sinn seines Handelns nicht radikal zu verhalten, sondern sich m i t einer bei oberflächlicher Betrachtung befriedigenden A n t w o r t zu begnügen. Diese Bescheidung sieht dann so aus: Man beleuchtet nur die unmittelbare Umgebung des eigenen Verhaltens, man prüft, ob das eigene T u n den Zweck erfüllt, dem es immittelbar zugeordnet ist. Diesen Zweck selbst wieder kritisch zu beleuchten durch das Zurückführen auf höhere Zwecke w i r d dann unterlassen. Man schneidet sich also einen engen Bereich heraus, nennt ihn den Bereich der eigenen Verantwortung, sieht als gewissenhafter Mensch zu, daß er i n Ordnung ist, sprich hier: daß die Zweck-Mittel-Beziehung erfüllt wird. Man begnügt sich m i t dieser partiellen Rationalität, frei übersetzt hier: m i t verstümmelter Vernunft. Ich spreche von der Versuchung, sich so zu verhalten, nicht davon, daß alle Menschen oder alle Wissenschaftler es so täten. Aber es dürfte klar sein, daß dieser Versuchung alle diejenigen Wissenschaftler erlegen sind, die i n dem vorhin erläuterten Sinne an die exakte Trennbarkeit von Verantwortungsbereichen glauben. Gesagt wurde, daß sich diese Versuchung aus den Schwierigkeiten der Sache ergibt, aus der Kompliziertheit von Ursache-WirkungBeziehungen und somit von Mittel-Zweck-Beziehungen. Auch auf die Rolle unseres politischen Grundmusters, das die Ubersicht zusätzlich erschwert, wies ich hin. Aber das Bemühen, ein wenig mehr Licht i n diese Zusammenhänge zu bringen, ist für den einzelnen nicht ganz hoffnungslos. Das gilt natürlich besonders für den Wissenschaftler, hier vielleicht vor allem für den Sozialwissenschaftler, i n ganz starkem Maße w o h l für Soziologen, aber eben nicht nur für diese. Es ist nicht unbedingt vergeblich, sich u m Durchsicht und Übersicht von UrsacheWirkung-Beziehungen zu bemühen, u m die Bedeutung des eigenen

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Verhaltens besser beurteilen zu können, und zwar über die unmittelbar verfolgten Zwecke hinaus, vielleicht i m Blick auf das Gemeinwohl (wenn Sie m i r wegen der Kürze der Zeit die Verwendung einer an sich so inhaltsarmen Formel wie „Gemeinwohl" ausnahmsweise gestatten wollen). Es ist, so meine ich, nicht unbedingt vergeblich, die Rationalität des eigenen Tuns i n weiteren Zusammenhängen zu prüfen. Aber hinzu kommt jetzt eine weitere Versuchung, solche geistige Anstrengung zu vermeiden. Diese Versuchung ergibt sich i m Unterschied zu der vorhin genannten nicht aus den Schwierigkeiten der Sache, sondern aus einer i n unserem Lande verbreiteten Mentalität. Nämlich: Die Frage nach den eigentlichen, den letzten Zielen, denen Handeln dient, entspricht offenbar nicht dem Zeitgeist. Jedenfalls scheint man zu fürchten, daß solche Versuche der Erhellung des eigenen Verhaltens i n Ideologien führen. Aus historischer Erfahrung ebenso wie i m Blick auf derzeitige Vorgänge ist Skepsis gegenüber Ideologien verständlich, und ich teile sie. Aber man „schüttet das K i n d m i t dem Bade aus", wenn man jede Besinnung auf Werte als Ideologie brandmarkt. Das geschieht dann i m Namen des Pragmatismus, und die Leute m i t dieser Mentalität nennen sich i n philosophischer Unbekümmertheit Pragmatiker; sie segeln gewiß unter falscher Flagge 3 . Die unkritische Meinung, man bedürfe nicht der Besinnung auf Werte, jedenfalls nicht beim praktischen Handeln etwa i n der Politik, ist selbst eine Ideologie, nämlich die Ideologie derer, die geistig „von der Hand i n den Mund" leben und noch stolz darauf sind. Daß diese Haltung besonders von Teilen der Jugend seit ganz kurzer Zeit nicht mehr hingenommen wird, ist bekannt, und es handelt sich nicht u m eine „kleine, ungewaschene, radikale, ferngesteuerte Minderheit", wie man so lange die Sache bagatellisieren wollte. Auch wenn die Neubesinnung auf Werte wie auf die Parolen der Französischen Revolution — wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit — begleitet ist von einer manchmal etwas hilflosen, manchmal fanatischen Anlehnung an Bücher des vorigen Jahrhunderts, sollte man nicht nur auf diese Seite blicken und solchen Studenten vorwerfen, ihre A r t passe ins vorige Jahrhundert. Aber diese Neubesinnung auf Werte oder — individualpsychologisch gesehen natürlich — „Erstentdeckung" von Werten beschränkt sich noch allzusehr auf die Jugend, als daß die verherrschende geistfeindliche Ideologie des Vulgärpragmatismus schon erheblich erschüttert wäre. Jedenfalls sehen sich sehr viele Wissenschaftler nicht gehindert, sich zu bescheiden, die Grenzen des leicht Überschaubaren peinlich zu a Zur Kritik dieser Position siehe G. Weisser, Grundsatzprogramm und Pragmatismus-Renaissance, in: K. Nemitz und R. Becker (Hrsg.), Gewerkschaft-Wirtschaft-Gesellschaft, Köln 1963.

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beachten und ihre Besinnung dort zu stoppen. Mehr ist ja nicht ihres Amtes. Und da die Grenze des Amtes gern als Grenze von Verantwortung (miß)verstanden wird, verwechselt man guten Gewissens die organisatorisch (z.B. rechtlich) geregelte Verantwortlichkeit gemäß der Berufsrolle m i t moralischer Verantwortung. Ich sagte, man verwechselt das guten Gewissens. Dieses Gewissen ist aber erst dann besonders gut, wenn man für das Selbstverständnis als Wissenschaftler eine Wissenschaftsauffassung zur Verfügung hat, die m i t dem Ausklammern ganzer Bereiche moralischer Verantwortung vereinbar zu sein scheint. Das gilt für die sogenannte moderne Wissenschaftslehre, sei sie nun positivistisch, neopositivistisch oder dem Neopositivismus i n manchen Punkten eng verwandt. Diese Wissenschaftslehre konzentriert sich auf den Fortschritt von Wissen i n Form der Vermehrung bewährter empirischer Aussagen, sei es über die Natur (Naturwissenschaften), sei es über das Zusammenleben von Menschen (Sozialwissenschaften). Wertende Aussagen gelten ihr als unwissenschaftlich. Man gibt zu, daß auch der Wissenschaftler politische Entscheidungen treffen muß, so bei der Auswahl seiner Untersuchungsgegenstände, aber diese Entscheidungen fallen außerhalb des Bereichs der Wissenschaft, sie sind sozusagen vorwissenschaftlicher A r t . Solche Entscheidungen t r i f f t man etwa als politisch denkender Bürger, nicht aber als Wissenschaftler. Diese Auffassung von Wissenschaft, dieses Selbstverständnis leugnet keineswegs die politische Verantwortung von Wissenschaftlern, das sei deutlich betont. Aber Leute, die den Fragen der politischen Verantwortung ausweichen möchten, berufen sich gern auf die Verschiedenheit der Aspekte und umgeben sich m i t der Glorie reiner, politisch unbefleckter Wahrheitssuche. Sie benutzen diese Lehre zur Legitimierung ihres unpolitischen Selbstverständnisses. Vermutlich t r i f f t das für einen großen Teil der Wissenschaftler zu. Nun erinnerte ich schon daran, daß es nicht unbedingt vom Selbstverständnis des Wissenschaftlers abhängt, welche politische Bedeutung seine Arbeit hat. Wer Techniken zur Verfügung stellt, die i m Dienst praktischer Zwecke benutzt werden, der w i r k t politisch, ob er w i l l oder nicht, ob er es überhaupt merkt oder nicht. Daß er getreu der modernen Wissenschaftlehre auf Wertungen, gar auf politische Bekenntnisse verzichtet, ändert daran nicht einen Deut. Wer meint, allein durch den Verzicht auf sprachliche Stellungnahme zu politischen Fragen die politische Wirkung seines Handelns zu vermeiden, der verhält sich wie der vielzitierte Vogel Strauß, der den Kopf i n den Sand steckt. Politisches Wirken ist nicht erst dann gegeben, wenn man sich offen politisch äußert.

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Man sollte sich bemühen, daß die Frage der gesellschaftspolitischen Bedeutung mehr als bisher i n die Selbstverständnis-Diskussion getragen wird. Man sollte der verbreiteten Praxis, mit dem Hinweis auf die beschränkte eigene Berufsrolle der Diskussion der politischen Bedeut i m g des eigenen Tuns auszuweichen, entgegentreten. Das sollte geschehen, indem man die immanenten Mängel dieser Position aufdeckt, nicht aber durch den Aufbau einer Gegenideologie. Hier muß nämlich entschieden gewarnt werden, wieder einmal „das K i n d m i t dem Bade auszuschütten". Ich meine die Idee, die wissenschaftliche Arbeit verbindlich auf bestimmte politische Ziele auszurichten, auf Ziele, die man nicht zur Diskussion stellt, sondern die einfach gesetzt werden. Eine solche Ausrichtung nach einem wie auch immer verstandenen Prinzip der Parteilichkeit 4 in der Wissenschaft darf es nicht geben 6 . Einige Gruppen der kritischen Studenten sind i n Gefahr, ihre — wie ich meine — berechtigte K r i t i k am herrschenden Wissenschaftsbetrieb und besonders an dem verbreiteten Verzicht auf politische Reflexion zu überspitzen zur Forderung, die Wissenschaft verbindlich auszurichten auf die Ziele, die sie selbst anstreben. Dagegen sollte man sich gegebenenfalls energisch wehren. Man sollte einen dritten Weg versuchen. W i r stehen ja nicht vor der Wahl, entweder ein unpolitisches Selbstverständnis zu akzeptieren, das ja doch politisch nicht so neutral ist, wie es tut, oder die Wissenschaft einer expliziten Ideologie zu unterwerfen. Es gibt die Möglichkeit eines Selbstverständnisses, innerhalb dessen man sich der Frage der politischen Verantwortung als Wissenschaftler stellt. Hier können dann durchaus bewußt politische Entscheidungen fallen, die sich auf die eigene konkrete Arbeit auswirken. Entgegen der Meinung, die politische Auffassung eines Wissenschaftlers w i r k e sich doch nicht auf seine Arbeit aus, etwa i m Labor, sei erinnert an die Möglichkeit, sich bei der Auswahl der Themen für Lehre und für Forschung auch nach seiner politischen Verantwortung zu richten. Natürlich geschieht das i m Rahmen eines finanziell und rechtlich begrenzten Spielraums, aber ich wehre mich gegen die Meinung, der sogenannte Sachzwang nehme einem hier praktisch alle Entscheidungen ab. Das ist nämlich weniger ein ehernes Gesetz als ein A l i b i für Entscheidungsfaule. Keineswegs meine ich, daß Wissenschaftler nun laufend Werturteile äußern sollten. Die Frage, ob man Werturteile abgibt oder nicht, halte ich für viel weniger wichtig als viele Teilnehmer an der Diskussion des sogenannten Werturteils* Siehe dazu G. Kiss, Gibt es eine „marxistische" Soziologie?, Köln und Opladen 1966, S.55ff. a Daß diese Forderung in unserer Gesellschaft plausibel sein mag, macht Ihre Begründung nicht überflüssig; diese hätte aber so ausführlich zu sein, daß hier darauf verzichtet wird.

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Problems i n den Sozialwissenschaften. Es geht u m Einsicht i n Verantwortung und u m Entscheidungen, nicht so sehr darum, die eigene politische Auffassung i n der Lehre oder gar bei der Forschung zu verkünden. Das alles sollte i n der Selbstverständnis-Diskussion mehr beachtet werden. Nach allem Gesagten w i r d nicht überraschen, wenn ich meine, daß ein politisch reflektiertes Selbstverständnis bei Wissenschaftlern nicht einfach durch gutes Zureden erreicht werden kann. Denn dieses Selbstverständnis ist großenteils sozial bedingt. Es entspricht starken Erwartungen, die an Wissenschaftler gerichtet sind, und die selbst wieder mit mächtigen Interessen zusammenhängen, Interessen, denen ein apolitisches Selbstverständnis von Wissenschaftlern gut paßt. Wer als Wissenschaftler sich wünscht, daß möglichst viele seiner Kollegen die politische Verantwortung, die sie so oder so tragen, ernst nehmen, indem sie sich m i t ihr auseinandersetzen, d.h. indem sie sich über die politischen Voraussetzungen und Wirkungen ihres Handelns als Wissenschaftler Gedanken machen, der kann sich an der SelbstverständnisDiskussion innerhalb der Wissenschaft beteiligen; auch kann er versuchen, sein eigenes Selbstverständnis i n Forschung und i n Lehre überzeugend zu demonstrieren, u m auf diese Weise exemplarisch zu wirken. Aber er sollte, zumal als Sozialwissenschaftler, eben auch wissen, daß das Selbstverständnis i n erheblichem Umfang von den Erwartungen abhängt, die von außen an Wissenschaftler gerichtet werden. Die Frage der Änderung dieser Erwartungen wirft, w e i l sie sich aus der Struktur der Gesellschaft herleiten lassen, die Frage der Änderung der Struktur dieser Gesellschaft selbst auf. Tatsächlich muß die Perspektive so sehr erweitert werden. Das ist nicht erfreulich, denn ein größerer Problemberg taucht dabei auf. Der Wissenschaftler kann hier haltmachen und sagen, diese Probleme lägen außerhalb seiner Verantwortlichkeit. Indes ist noch einmal zu bedenken, daß politische Verantwortung sich nicht unbedingt dem vorherrschenden B i l d einer optimalen Rollenverteilung anpaßt. Jean-Paul Sartre war das klar, als er sagte: „Man ist stets für das verantwortlich, was man nicht zu verhindern sucht 6 ."

0 J.-P. Sartre, Was ist Literatur?, Hamburg 1958, S. 170.

Regulative Funktionen der Wissenschaft in der pluralistischen Gesellschaft Von Prof. Dr. Friedrich H. Tenbruck, Tübingen Wissenschaft hat erstens einen Erkenntniswert, w e i l sie selbst ein System von Erkenntnissen ist 1 . Sie hat zweitens einen Gebrauchswert, insofern man ihre Erkenntnisse zweckhaft anwenden kann. Und Wissenschaft hat drittens Folgen, unter denen sich auch die gesellschaftlichen Funktionen befinden, von denen hier zu sprechen sein wird. Die Gewichte dieser drei Bedeutungsaspekte der Wissenschaft sind nicht immer gleich. So hat die vormoderne Wissenschaft keinen nennenswerten Gebrauchswert gehabt. Sie war nicht etwa folgen- oder funktionslos, aber Anwendungen waren selten und zufällig. Man betrachtete die Wissenschaft auch nicht als ein Instrument, um m i t den Lebensnotwendigkeiten besser fertig zu werden. A n t i k e wie Mittelalter haben immer wieder den Selbstwert der Erkenntnis betont und die wissenschaftliche Einsicht als einen Weg zur Selbstvervollkommnung beschrieben 2 . Entsprechend bestand auch nur ein sehr beschränktes Interesse an der Wissenschaft. Für die Repräsentanten der sozialen Institutionen und die gebildete Öffentlichkeit wurde Wissenschaft erheblich, wenn sie die Legitimationsnormen der Gesellschaft berührte, also moralische, religiöse oder politische Grundwerte. Ansonsten aber nahmen an der Wissenschaft nur diejenigen Personen Anteil, welche selbst Wissenschaft trieben. Und dieses Desinteresse w a r ganz folgerichtig, insofern sich an der Lebens- und Handlungssituation der übrigen Menschen so gut wie nichts änderte, wie immer die Wissenschaft ihre Fragen entschied. Daran hat sich nichts geändert, und man sollte sich darüber i m klaren sein, daß auch heute Fragen, die die Wissenschaft als Erkenntnissystem betreffen, eigentlich nur i m Kreis der Fachwissenschaftler interessieren 8 . Eine breitere Teilnahme an der 1 Die historischen Wissenschaften werden gewöhnlich nicht zu den systematischen Wissenschaften gezählt. Der Ausdrude „System von Erkenntnissen" wird hier also in einem weiteren Sinne gebraucht, wo er nur den Zusammenhang der Erkenntnisse und deren Überprüfbarkeit nach Richtigkeitsregeln meint, so daß er auch die historischen Wissenschaften einschließt. 2 So neuerdings auch A. G. M. van Meisen: „De betekenis van de wetenchap", in dem Kongreßbericht: Leven met de wetenchap, Utrecht 1968, p. 8 f. s Im gleichen Sinn jetzt N. W. Storer: The Social System of Science, N.Y. 1966, p. 1.

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Sache der Wissenschaft ist grundsätzlich nur zu erwarten, wenn diese die Lebens- und Handlungssituation der Menschen affiziert. M i t der Erkenntnis oder ihrer Anwendung müssen Folgen für die Handelnden verbunden sein, damit sie Wissenschaft als relevant erleben können. Nicht schon die Erkenntnis als solche ist interessant, sie w i r d es erst durch ihre Weiterungen für das Handeln. Nur soweit es einen Unterschied i n ihren Umständen und Entscheidungen setzt, welche Fragen die Wissenschaft stellt und wie sie sie beantwortet, und nur soweit Menschen sich dieser Zusammenhänge halbwegs bewußt sind, werden sie Anteil an der Wissenschaft nehmen. Die vormoderne Wissenschaft hatte, wie gesagt, so gut wie keinen Gebrauchswert. Sie ließ sich nur i n geringem Umfang anwenden. Sie war nicht deshalb auch folgenlos, sondern veränderte die Bewußtseinslage und schuf Handlungsmöglichkeiten. N u r waren diese Folgen unbeabsichtigte Wirkungen und nicht Ergebnisse zweckhafter Anwendungen. Bei diesem minimalen Gebrauchswert der vormodernen Wissenschaft war es schwierig, eine soziale Legitimation für die wissenschaftliche Existenz zu finden 4. M i t der Anwendung der Wissenschaft fehlte es an Interesse für sie und damit auch an der materiellen wie sozialen Honorierung. Deshalb bedurfte die individuelle Motivation besonderer Stilisierung. Man kann sich deshalb auch schwer vorstellen, daß Individuen die Erkenntnissuche zu ihrer beharrlichen Angelegenheit gemacht hätten, wenn solche Tätigkeit nicht anfangs m i t der Legimitation magischer oder religiöser Weihe versehen gewesen und später als Weg der Selbstvervollkommnung erklärt worden wäre 5 . Und natürlich besteht ganz allgemein eine Korrespondenz zwischen der Bedeutung, welche die Wissenschaft für eine Gesellschaft hat, und den gesellschaftlich legitimierten Motiven, welche der Tätigkeit des Wissenschaftlers beigelegt werden — oder welche er selbst seinem Tun beizulegen pflegt. Deshalb ist es auch lehrreich zu beobachten, wie die geschichtlichen Veränderungen des Erkenntnis- und Gebrauchswertes und der Folgen und Funktionen der Wissenschaft sich dann i n Modifizierungen typischer Motivationen niederschlagen. M i t der Ausbildung der Wissenschaft i n der Neuzeit w i r d sie zur Kämpferin gegen soziale und politische Enge (Aufklärungsmotiv), zum Vehikel sozialer und * So spielt die Legitimation wissenschaftlicher Existenz ja in den platonischen Dialogen eine zentrale Holle; geht es dort doch immer wieder um den Nachweis, daß Sokrates nicht der unnütze Außenseiter ist, als den die Gesellschaft ihn sieht, sondern mit der methodischen Selbstbesinnung den Weg weist, um öffentliche und private Angelegenheiten ins Lot zu bringen. « Für die magisch-religiös fundierte Wertschätzung des Weisen und anderer Vorformen wissenschaftlicher Existenz in einfachen Gesellschaften hat F. Znaniecki: The Social Hole of the Men of Knowledge, N.Y 1940, die noch immer beste Erklärung geliefert.

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geistiger Mobilität (Bildungsmotiv), zur Erlöserin der Menschheit, welche die Befreiimg von den Zwängen der materiellen Umwelt i n Aussicht stellt, und endlich gar zum M i t t e l der umfassenden Einrichtung und Planung des Daseins. Von der Vergangenheit trennt uns die organisierte Umsetzung von Wissenschaft i n Praxis. W i r sind eine verwissenschaftliche Gesellschaft, welche nicht bloß u m weiterer Zukunftsansprüche w i l l e n der Wissenschaft bedarf, sondern sich von Tag zu Tag ohne sie gar nicht erhalten könnte 6 . Der Umkreis der gezielten Anwendung definiert die gesellschaftlichen Aufgaben der Wissenschaft. M i t diesen Aufgaben sind w i r alle mehr oder weniger deutlich vertraut. Sichtbar treten sie hervor i n den Berufen, zu denen die verschiedenen Wissenschaften vorbereiten: die Medizin bildet Ärzte aus, die Kranke heilen; die Naturwissenschaften produzieren Experten für verschiedenste Aufgaben der Beherrschung der materiellen Umwelt; und ähnliches g i l t für die W i r t schaftswissenschaften, die Jurisprudenz, die Fächer der philosophischen Fakultät. Durch die Berufe, zu denen die Wissenschaften ausbilden, w i r d die absichtsvolle Benutzung und zweckhafte Verwendung der Wissenschaft kontinuierlich garantiert. Dabei betrifft Wissenschaft heute jeden, w e i l sie seine Umwelt und Umstände erhellt, schafft und verändert. Folgerichtig ist Wissenschaft zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses geworden, das sich weniger auf ihren Erkenntnisais auf ihren Gebrauchswert bezieht, der sich durch die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung für die Mobilitätschancen noch erhöht. Wissenschaft legitimiert sich i n der heutigen Gesellschaft von ihrem Gebrauchswert her. I m Vordergrund des Interesses stehen deshalb Fächer m i t unmittelbarem und faßlichem Gebrauchswert, vorneweg also die Naturwissenschaften. Die Leistungsstärke und Ausnutzung der Wissenschaften sollen gesichert werden. So dreht sich die öffentliche Diskussion u m Fragen wie: Reichen die Investitionen aus? Ist die Wissenschaftspolitik richtig? Ist der Wissenschaftsbetrieb optimal organisiert? Werden die Anwendungsmöglichkeiten der Wissenschaft ausgenutzt? Soviel einleitend über Erkenntnis- und Gebrauchswert der Wissenschaft und unsere heutige Situation. U m nun zu den Folgen der Wisschenschaft zu kommen, so kann natürlich auch die Erkenntnis, welche nicht zweckhaft angewandt wird, weitere Wirkungen ausüben. Sie kann die Vorstellungen und Werte der Menschen verändern und mit neuen Bewußtseinslagen auch neue Handlungssituationen schaffen. Wissenschaft, die nicht angewendet wird, ist also nicht etwa deshalb schon folgenlos. U n d i m Anwendungsfalle beschränken sich die Folgen 6 Das wird eindrucksvoll dargelegt von H. Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, 1961.

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selten genug auf die beabsichtigte Veränderung, ja, Nebenfolgen treten nach einer gewissen Zeit fast notwendig auf. Die Wirkungen, welche von der Erkenntnis ausgehen, und die nicht bezweckten Wirkungen, welche i m Falle der Anwendung von Wissenschaft auftreten, seien hier also als Folgen bezeichnet. Selbstverständlich gehen von der Wissenschaft i n jedem Zeitpunkt die mannigfachsten Folgen aus, die gar nicht alle auf einen Nenner zu bringen sind, zumal diese Folgen selten genug durch die Wissenschaft als solche determiniert sind und sich vielmehr erst i m Zusammenspiel von Wissenschaft und Gesellschaft zu formieren pflegen 7 . Gerade deshalb aber sind die Folgen, welche regelmäßig m i t Wissenschaft verbunden sind, von besonderem Interesse. Denn sie bilden einen konstanten Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Solche regelmäßigen Folgen werden soziale Funktionen genannt, wenn sie einen stetigen Beitrag zum Funktionieren der betreffenden Gesellschaft leisten 8 ; und von solchen sozialen Funktionen der Wissenschaft für unsere heutige Gesellschaft soll hier die Rede sein. Wissenschaft trägt absichtslos zum Funktionieren (oder auch zur Erhaltung) der Gesellschaft bei, das heißt selbstverständlich nicht, sie leiste der Konservierung des Bestehenden Hilfe und friere gegebene Zustände ein. Das würde schon schlecht zur geschichtlichen Rolle der Wissenschaft passen, die ein, wenn am Ende nicht der entscheidende 7 Die heute üblich gewordenen aufgeregten Angriffe gegen die „positivistische" Wissenschaft, welche angeblich gegen die Folgen ihrer Tätigkeit gleichgültig sei und dieser Inhumanität durch eine Ethisierung und Politisierung abzuhelfen gezwungen werden müsse, beruhen auf der kurzschlüssigen Annahme, daß sich aus dem Inhalt der Erkenntnis die Folgen zwangsläufig ergäben — ein ebenso naives wie gefährliches post hoc ergo propter hoc, das in Zeiten disziplinierterer geistiger Kultur schwerlich so leicht Gutgläubige gefunden hätte. Auf diesen Fehlschluß wird der Text noch näher eingehen. s An der funktionalistischen Auffassung in der Soziologie wird häufig Kritik geübt. Ob etwas einen wesentlichen Beitrag zum Funktionieren einer Gesellschaft leiste oder nicht, hinge, wie man sagt, von dem ab, was der Betrachter als wesentlich ansehe, und sei damit durch seine Werturteile bedingt. (So beispielsweise R. Mayntz: „Soziologie in der Eremitage?" in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. XII, 1960, pp. 110—125.) Ohne hier auf die Probleme des Funktionalismus in der Soziologie eingehen zu können, sei soviel bemerkt: es lassen sich in jeder Gesellschaft einige Aufgaben angeben, die gelöst werden müssen, obzwar es für die nähere Art ihrer Lösung alternative Einrichtungen geben kann. So sind beispielsweise in der industriellen Gesellschaft eine Reihe von gleichen Aufgaben zu lösen, gleichviel ob diese Gesellschaft nun „kapitalistisch" oder „sozialistisch" organisiert ist. Sofern es keine Institutionen zur Lösung solcher Aufgaben gibt, müßte die Gesellschaft ihren Charakter aufgeben, könnte also nicht mehr industrielle Gesellschaft sein. Mindestens in bezug auf solche grundlegenden Aufgaben, durch welche Typen von Gesellschaften konstituiert werden, läßt sich demnach von Funktionen sprechen, ohne subjektive Wertungen vorzunehmen.

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Motor der rapiden gesellschaftlichen Transformationen der Neuzeit gewesen ist. Der absichtslose Beitrag, den Wissenschaft zur Erhaltung der Gesellschaft leistet, gilt nicht der Erhaltung irgendwelcher Zustände, sondern dem Funktionieren bei gegebenem Komplexitätsgrad. Wissenschaft trägt entscheidend dazu bei, daß die pluralistische Gesellschaft nicht i n Freund-Feind-Verhältnisse auseinanderbricht; daß sie nicht illusionären und partikularen Lösungen zutreibt; daß sie kurzum die Fähigkeit bewahrt, als soziales Komplexgebilde zu Entwicklungen zu kommen, welche die Komplexität der Sachzusammenhänge respektieren. Diesen Bedingungen muß jede pluralistische Gesellschaft genügen, wie immer ihre Lösungen aussehen. Und wenn die Wissenschaft dieser Gesellschaft zu funktionieren ermöglicht, so also wesentlich auch dadurch, daß sie die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Veränderungen entdeckt. Welche sozialen Funktionen erfüllt nun die Wissenschaft heute? Da springen natürlich zuerst die Zwecke ins Auge, zu denen w i r Wissenschaft planmäßig anwenden. Es ist klar, daß sich eine verwissenschaftlichte Zivilisation nicht erhalten kann ohne den ständigen Einsatz der Wissenschaft. Der gesellschaftlich gebilligte und stetige Gebrauch, den w i r heute von der Wissenschaft machen, beschreibt also die offenbaren, oder wie man i n der Soziologie sagt, die manifesten Funktionen der Wissenschaft. Darüber ließe sich mancherlei sagen. Thema dieses Vortrages aber sind nicht die manifesten, sondern die latenten Funktionen. Die Wissenschaft leistet, m i t anderen Worten, stetige Beiträge zur Erhaltung unserer Gesellschaft nicht nur durch ihre planmäßige A n wendimg und gemäß ihren offenbaren Zwecken und Aufgaben. Sie trägt auch auf absichtslose Weise, nämlich durch latente Funktionen, zum Fortbestand unserer Gesellschaft bei. Und wie so oft sind auch hier die latenten Funktionen vielleicht noch wichtiger als die manifesten. Die wesentlichen latenten Funktionen der Wissenschaft sind heute regulativer Natur. Dieser Ausdruck erfordert vorneweg eine Erklärung. Denn man kann natürlich sagen, daß w i r mittels Anwendung von Wissenschaft unsere Umwelt zu regulieren versuchen. So nutzen w i r die geologischen, geographischen und strömungsdynamischen Kenntnisse beispielsweise, u m Flüsse zu regulieren. Die Arbeitsphysiologie h i l f t körperliche Leistungen, die Betriebssoziologie soziale Verhältnisse zu regulieren. Der Wirtschaftswissenschaftler regelt für seinen Betrieb i n einem bestimmten Sektor wirtschaftliches Handeln und h i l f t als Fachmann i m Wirtschaftsministerium, die wirtschaftlichen Vorgänge i m ganzen zu regulieren. Kurzum, jede Anwendung von Wissenschaft kann i n irgendeinem Sinn als Regulierung ausgelegt werden. Und es bedarf keiner Frage, daß w i r unsere natürliche und soziale Umwelt 5 Tagung Dortmund 1968

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heute ständig mittels Anwendung von Wissenschaft regulieren und nur dadurch existieren können. Wenn ich hier von den regulativen Funktionen der Wissenschaft spreche, so schließe ich jedoch diese absichtsvolle Benutzung der Wissenschaft, d. h. ihren gesamten Aufgabenbereich und die hierdurch zu erzielenden Wirkungen und Regelungen, ausdrücklich aus. Vielmehr soll es hier gerade u m Wirkungen gehen, welche die Wissenschaft ausübt, ohne daß sie intendiert würden. I n diesem Sinne verstehe ich hier unter regulativen Funktionen der Wissenschaft dauernde Beiträge, welche sie absichtslos zur sozialen Regulierung leistet. Diese regulativen Funktionen der Wissenschaft sind weitgehend imbekannt und unverständlich. Das öffentliche Interesse nimmt die Wissenschaft heute nach ihrem Gebrauchswert. Gewiß werden gelegentlich auch andere Folgen und Funktionen der Wissenschaft erwogen 9 . Regelmäßig aber steht die Anwendung der Wissenschaft i m Vordergrund, so daß die regulativen Funktionen immer zu kurz kommen und nachgerade die These, daß die Wissenschaft durch i h r Dasein und unabhängig von ihrer speziellen Verwendung entscheidende Beiträge zu unserer gesellschaftlichen Fortexistenz leistet, auf ungläubiges Erstaunen und mißtrauische Verständnislosigkeit stößt. Dabei sind die regulativen Funktionen der Wissenschaft von fundamentaler Bedeutung für die moderne Gesellschaft, und w i r verdanken es recht eigentlich diesen unbeabsichtigten Nebenwirkungen wissenschaftlicher Tätigkeit, daß w i r i n einem freiheitlichen Gemeinwesen leben können. Daß keine moderne Gesellschaft ohne die stetige Verbesserung i n der Benutzung von Wissenschaft mithalten kann, bedarf keiner Worte. Aber jede Benutzung der Wissenschaft zur befriedigenden Regelung der Verhältnisse setzt immer voraus, daß die Ziele, für die Wissenschaft eingesetzt wird, sozial gebilligt werden und daß die Ergebnisse allseitig befriedigen. Die Einrichtung unserer Lebensumstände ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches Problem der Willens- und Zielbildung i n der Gesellschaft und durch ihre verschiedenen Gruppen. Gerade hier nun leistet Wissenschaft absichtslos entscheidende Beiträge. Sie ist nicht nur das Instrument, das w i r absichtsv o l l zur Erreichung von Zielen einsetzen. Sie ermöglicht gerade auch erst die Ziel- und Willensbildung, ohne welche die Anwendung und Ausnutzung der Wissenschaft nicht dauerhaft möglich wären. U m so erschreckender muß die Tatsache gelten, daß i n der Öffentlichkeit, ja, 9 Folgen der Wissenschaft, die heute interessieren, sind: der Einfluß wissenschaftlicher Bildung auf die Lebenschancen; die Auswirkungen einer durch Wissenschaft geprägten Lebenswelt auf die menschliche Psyche und Persönlichkeitsstruktur; der endliche Gesamtbeitrag der Wissenschaft zur Menschheitsgeschidite.

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sogar unter Wissenschaftlern und Politikern kaum noch m i t irgendwelchem Verständnis für die gesellschaftlichen Leistungen der Wissenschaft zu rechnen ist. 1. Koordinationsprobleme der pluralistischen Gesellschaft Die Wissenschaft übt regulative Funktionen verschiedenster A r t aus, von denen hier vor allem die Koordinativen behandelt werden sollen, weil sie faßlicher als die übrigen sind. Da ist m i t der grundsätzlichen Tatsache zu beginnen, daß alles menschliche Zusammenleben Koordination erfordert. Teils müssen kooperative Leistungen erstellt werden; teils muß das Handeln gegen Behinderung durch andere gesichert sein. Und offenbar w i r d mehr Koordination nötig, wenn die soziale Arbeitsteilung steigt. I m übrigen sind Koordinationsprobleme nicht einfach quantitativer, sondern qualitativer A r t . M i t wachsender sozialer Differenzierung w i r d nicht nur mehr Koordination, es werden andere Mechanismen der Koordination nötig. So können etwa einfache Gesellschaften das Handeln ihrer Mitglieder hinreichend abstimmen, ohne auf herrschaftliche Institutionen zurückgreifen zu müssen. Die Gründe hierfür konzentrieren sich i n drei Tatsachen, welche alle mit der geringen sozialen Differenzierung zusammenhängen. Einmal bauen sich diese Gesellschaften aus solidarischen Gruppen auf. Charakteristisch ist die Dauerzugehörigkeit zu einer Gruppe, welche umfassend für die Bedürfnisse sorgt, so daß das Handeln der einzelnen unmittelbar am Gruppenwohl orientiert sein kann und muß. Liegt überdies noch eine durchgängige Verwandtschaftsordnimg vor, wie das i n einfachen Gesellschaften so häufig der Fall ist, so regelt sich das Verhältnis zwischen den Gruppen durch konzentrischen Aufbau: jede Verwandtschaftseinheit ist ein Teil einer umfassenderen Verwandtschaftseinheit, so daß Konflikte immer durch übergeordnete Einheiten eingegrenzt sind, wie die Untersuchungen segmentärer Gesellschaften gezeigt haben. Z u m zweiten besteht eine durchsichtige Arbeitsteilung. Die Beziehungen sind hochgradig komplementär, so daß jede Tätigkeit sich m i t der Tätigkeit weniger anderer bereits zu einer Zielerreichung ergänzt. Der eigene wie der fremde Aufwand stehen somit i n einem erlebbaren Verhältnis zum Ertrag. Dabei ist das Produkt der Tätigkeit auch das unmittelbare Objekt der Konsumption. Unter diesen Umständen bilden sich, wie w i r auch aus der Kleingruppenforschung wissen, zwangsläufig gemeinsame Bewertungsmaßstäbe. Aus der erlebten Aufgabenverteilung erwachsen unvermeidlich Vorstellungen von dem angemessenen Platz und dem angemessenen A n t e i l eines jeden. *

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Zum dritten w i r d die Befriedigung der Bedürfnisse i n gemeinsamer Arbeit durch eine Arbeitsteilung gesichert, für die es kaum denkbare Alternativen gibt. E i n Überschuß an wirtschaftlichen oder auch sozialen Gütern, insbesondere auch an politischer Macht, kann bei der minimalen Arbeitsteilung nicht produziert und folglich auch nicht verteilt werden. Bei wesentlich gleichbleibenden Zielen und Bedürfnissen, M i t teln und Erträgen reichen demnach traditionale Regelungen aus. Es besteht kaum ein Druck zur Änderung der Verhältnisse, w e i l es an Anreiz und Alternativen fehlt, so daß erreichte Koordinationen sich als stabil erweisen. Bei höherer Differenzierung nun versagen diese Koordinationsmechanismen. Dann treten bekanntlich soziale Schichtung und Herrschaft auf. Beide sind nämlich sowohl Gegebenheiten der Differenzierung wie auch Koordinationsmechanismen, welche menschliches Handeln abstimmen. Schichtimg und Herrschaft können sehr verschiedene Formen annehmen. Z u beiden gehört aber die Möglichkeit und durchschnittlich eine Tendenz, die Solidarität zu strapazieren, ja zu sprengen. Gewiß sind beide Phänomene durchaus nicht nur divisiver A r t . Aber sie bieten doch natürliche Ansatzpunkte für eine Verselbständigung von Gruppeninteressen, welche dann gegebenenfalls weitere Koordinationsmechanismen verlangen. Ich kann das hier nicht weiter verfolgen und bleibe nur bei der allgemeinen These, daß m i t wachsender Differenzierung die solidarischen Gruppenstrukturen aufgelöst werden; die Übersichtlichkeit der Arbeitsteilung verlorengeht; und soziale Setzungen an die Stelle von Traditionen rücken. Eine Gesellschaft von hoher Differenzierung, wie unsere heutige, ist m i t anderen Worten pluralistisch, insofern viele Gruppen m i t verselbständigten Interessen bestehen; sie ist komplex, insofern die Arbeitsteiligkeit nicht durchsichtig ist; und sie muß sich immer neu Gestalt geben durch einen Strom von Setzungen und Entscheidungen, u m die kraft gemeinsamer Arbeit geschaffenen Güter und Chancen wirtschaftlicher, sozialer und politischer A r t zu verteilen. I n dieser Situation also verselbständigen sich die Interessen der Gruppen. Das ist primär nicht als ein Zeichen extremer Selbstsucht aufzufassen. Es fehlt vielmehr jeder Gruppe an Einsicht i n die Zusammenhänge. Welche Beiträge andere Berufe, andere Rollen, andere Schichten für mich oder für irgendeine Gruppe leisten, das läßt sich mittels Primärerfahrung nicht mehr (ob richtig oder falsch) erleben. Die Einsicht i n die Lebensumstände und Leistungen anderer Gruppen fehlt, der Uberblick über die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des komplexen arbeitsteiligen Systems mangelt. Die eigenen Interessen werden deshalb nicht mehr unmittelbar durch eigene Vorstellungen

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von Gesamtinteressen kontrolliert. Folglich bilden sich die Bedürfnisse von Individuen und Gruppen nach mehr oder weniger zufälligen B i l ligkeitsempfindungen, welche wesentlich aus dem Vergleich von äußeren Lebensumständen fließen. Arbeit schafft nicht mehr unmittelbar die Befriedigimg der Bedürfnisse, so daß Aufwand und Ertrag nicht mehr kommensurabel erlebt werden können. So lösen sich die Bewertungsmaßstäbe aus dem Zusammenhang des arbeitsteiligen Systems und dienen nur zur Legitimation jeweiliger Gruppenansprüche, die als Forderungen wirtschaftlicher oder auch anderer A r t auftreten. Unter Forderungen sollen dabei nicht nur die bereits ausdrücklich formulierten Ansprüche, sondern grundsätzlich auch die noch nicht artikulierten Erwartungen und Bedürfnisse verstanden werden, welche praktische Auswirkungen zeigen (indem die Betreffenden etwa anderen politischen Programmen oder gesellschaftlichen Konzepten die Zustimmung versagen oder sonst sich gegen diese oder jene gesellschaftlichen Regelungen sperren.) Schließlich ist i n diesem Zusammenhang zu beachten, daß die Verselbständigung der Interessen nur eine Seite des Differenzierungsprozesses ist, der grundsätzlich Vorstellungen, Normen, Werte einbezieht. Wie kommt i n dieser Gesellschaft die nötige Koordination zustande? Diese Frage läßt sich nicht m i t einem reinen Herrschaftsmodell beantworten. Gewiß gibt es Entscheidungsstellen, welche über Ansprüche befinden und somit Handeln regeln. Herrschaft hat auch stets einen Eigenwert, insofern sie Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit schafft. Überdies lassen sich den Forderungen durch Herrschaftsmittel Riegel vorschieben. Aus diesen Gründen werden Gruppen ihre Forderungen weder v o l l durchsetzen wollen noch können. Dennoch können herrschaftliche Regelungen dauerhaft erfolgreich nur dann sein, wenn sie zwei Bedingungen genügen: sie müssen einerseits auf realistischer Einsicht i n die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Möglichkeiten beruhen; und sie müssen zum anderen i n gewissen Graden den vielfältigen Erwartungen und Forderungen der Gruppen genügen. Auch Herrschaft ist auf die Lösung der konfligierenden Forderungen angewiesen. Das bloße sie volo, sie jubeo kann nicht genügen. Die Koordination läßt sich aber auch nicht mit einem reinen Interessen- und Konfliktmodell erklären. Dieses unterstellt, daß die verschiedenen Interessen einem Druck zu koalieren unterliegen, damit genügend große Gruppen ihr Gewicht ins Spiel bringen können. Und zwischen den Gruppen soll der Kompromiß wirken, der sie auf eine Linie h i n drückt, welche den relativen Gewichten der Gruppen entspricht. Doch versteht sich die politische Vernunft solchen Zusammenspiels nicht von selbst. Kompromißlose Forderungen und Koalitionsablehnungen werden dadurch nicht unmöglich. Ferner läßt sich nicht

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ausschließen, daß überwiegend faule Kompromisse und flüchtige Koalitionen, kurzum nur temporäre Abstimmungen, zustande kommen, bei denen keine Gruppe sich befriedigt fühlt, und alle bloß auf die passende Gelegenheit warten, um rückhaltlos die eigenen Forderungen durchzusetzen. Auch w i r d aus dem gewichteten Durchschnitt von Forderungen, welche nicht primär aus einem Verständnis für die gesellschaftlichen Zusammenhänge entstanden sind, kaum eine Übereinkunft entstehen, welche diesen Zusammenhängen gerecht wird. Gewiß sind Herrschaft, Koalition und Kompromiß zentrale Mechanismen der Handlungskoordination. Aber sie bieten noch keinerlei Gewähr dafür, daß die Forderungen oder jedenfalls die Lösungen den Realitäten und Möglichkeiten entsprechen. Noch können diese Mechanismen konfiigierende Forderungen kommensurabel machen oder Bewertungskriterien liefern, welche Lösungen legitimieren. Ohne diese beiden Leistungen kann man sich jedoch schwerlich eine halbwegs stabile Koordination vorstellen. Bei Freund-Feind-Verhältnissen müßten die Entscheidungen dezisionistischer A r t sein, und das heißt, sachlich und sozial ungenügend. Es muß demnach durchschnittlich f ü r ein M i n i m u m an gemeinsamen und realistischen Bewertungsmaßstäben gesorgt sein. Andererseits läßt sich die Koordination nicht durch ein allgemeines Integrationsmodell erklären. Die soziologische Erkenntnis, daß jede Gesellschaft einen Wertkonsensus braucht, um sich zu erhalten, drückt ein funktionales Erfordernis aus. Hier aber handelt es sich darum, wie ein bestimmter Konsensus immer erneut zustande kommt. Und das ließe sich selbst durch die Annahme, daß irgendwelche gemeinsamen Werte vorliegen, noch nicht erklären. Gemeinsamkeit der Werte und Konflikt schließen einander nicht notwendig aus, wie die Diskussion u m die Probleme der Integration und des Konfliktes unwiderruflich gezeigt hat 1 0 . Werte enthalten nicht notwendig schon Kriterien f ü r alle Entscheidungen auf nachgeordneten Konkretionsebenen. Werte sind relative Leerformeln 1 1 . Sie regeln also Handeln zulänglich nur dann, Man vergleiche dazu vor allem L. Coser: The Functions of Social Conflict, London 1956 (Dt. Übersetzung 1965). " Aus einem Wert läßt sich logisch nicht eindeutig und vollständig deduzieren, welche Handlungen durch ihn geboten, erlaubt und verboten sind. Er setzt weite Grenzen, innerhalb derer logisch nicht entschieden werden kann, wie Handlungen bezüglich dieses Wertes zu beurteilen sind. Faktisch verbindet sich in jeder Gesellschaft allerdings mit einem Wert eine Kasuistik konkreter Handlungssituationen. Man glaubt also, daß die sozialen Werte die konkreteren sozialen Normen logisch in sich enthalten und diese aus jenen deduzierbar sind, während sie von ihnen in Wirklichkeit nur moralisch legitimiert werden. — Zum Begriff der relativen Leerformel ziehe man überdies Gert Degenkolbe: „Die logische Struktur und gesellschaftliche Funktion von Leerformeln", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. XVII, 1965, pp. 327—328, zu Rate.

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wenn man m i t einem Wert (logisch unzulässigerweise) eine, und zwar nur eine konkrete Erfüllung verbindet. Das aber ist nicht möglich i n einer Gesellschaft, welche i n immer neuen Situationen immer neue Forderungen und Regelungen hervorbringen muß. Anders gesprochen, gibt es für das Problem eigentlich nur zwei Lösungen: 1. Einmal ließe sich denken, daß das Gesamtwohl auf relativ konkrete übergeordnete Ziele festgelegt ist, so etwa die militärische oder politische Macht des Staates. Man hätte dann Ziele, welche allen Gruppenzielen vorgeordnet wären. Damit entfiele der Zwang, den Gruppen ihren angemessenen Vorteil auszurechnen. Ich unterstelle hier kurzerhand, daß auf diesem Wege nur eine temporäre Koordination erreichbar ist 1 2 . 2. Zum anderen müßte man erwarten, daß es spezifische Koordinationsmechanismen gäbe, welche die Vielfalt der Forderungen kommensurabel machten und für Lösungen sorgten, welche gleichzeitig realistisch und akzeptabel wären. Ich behaupte nun, daß diese Koordination i n der modernen Gesellschaft vorzüglich von der Wissenschaft bewirkt wird. 2. Die Vertretung von Gruppeninteressen U m die Rolle der Wissenschaft für die Koordination der pluralistischen Interessen und Forderungen zu verstehen, muß man sich einmal überlegen, wie Gruppen ihre Ansprüche gegen Ansprüche anderer Gruppen durchsetzen können, wobei m i t Ansprüchen hier und stets nicht nur strikt ökonomische Forderungen gemeint sind. Dazu müssen die Forderungen vorneweg einmal aufgestellt und dargelegt werden, und dazu wiederum braucht man Sprecher, die eine doppelte Rolle haben. Nach innen artikulieren und standardisieren sie die oft noch vagen und uneinheitlichen Vorstellungen und Erwartungen, wodurch sie die Gruppenbildung ermöglichen oder jedenfalls perpetuieren. Nach außen müssen sie dann die Gruppenforderungen vertreten, d.h. verbreiten und begründen. 12 In diesem Sinne ist jeglicher Nationalismus ein Integrationsmechanismus. Sein beschränkter Wert für die Integration der pluralistischen Gesellschaft liegt heute zutage. Die Forschung hat aber am Beispiel der Entwicklungsländer zeigen können, daß der Nationalismus ein unvermeidlicher Integrationsmechanismus für eine Gesellschaft ist, welche sich auf der Basis sekundärer sozialer Systeme als moderne Gesellschaft zu organisieren unternimmt, wie er auch im 19. Jahrhundert die europäischen Länder in ihrer entsprechenden Übergangsphase durchdrungen hatte.

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Schon Florian Znaniecki hat i n diesen Tätigkeiten eine der „sozialen Rollen des Gebildeten" gesehen 13 . Dieser vertritt eine Gruppe gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Er ist deshalb nicht notwendig schon der Gruppenführer, dem auch die politische Leitung zufällt; es ist das sogar die Ausnahme. Aber keine Gruppe kann ihre Ansprüche gegen andere durchzusetzen hoffen ohne einen solchen Sprecher, und es ist wichtig zu verstehen, warum das A m t des Sprechers einem Mann zufallen muß, der nach den Normen seiner Gesellschaft als i n einem ausgezeichneten Maße gebildet gelten darf und somit, unter heutigen Bedingungen, ein Wissenschaftler sein muß. Es liegt nämlich i n der Natur der Sache, daß die Vertretung von Ansprüchen immer auf einen doppelten Nachweis hinauslaufen muß. Z u m einen muß dargelegt werden, daß die Gruppe einen bestimmten Beitrag zum gesellschaftlichen Ganzen leistet (oder geleistet hat), und zum anderen muß deutlich gemacht werden, daß sie i m Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Leistung am gesellschaftlichen Ertrag unzureichend beteiligt ist. Sofern es nicht zu absoluten Freund-FeindVerhältnissen gekommen ist, bei denen die Gruppen sich ihren gewünschten Teil zu nehmen gewillt sind, ohne vor sich selbst oder anderen an irgendwelche Legitimationsversuche zu denken; solange also, m i t anderen Worten, die Gruppen einander noch überzeugen zu können und zu müssen glauben, solange muß die Anmeldung von A n sprüchen immer auf den Nachweis des eigenen Beitrags und der unbilligen Beteiligung hinauslaufen. Diese Aufgabe w i r d zwangsweise solchen Personen zufallen, welche i n eminenter Weise über die B i l dung ihrer Zeit verfügen. Die Sprecher müssen nämlich den Ton und die Vorstellungen der Gruppenmitglieder treffen. Sie müssen vage Erwartungen antizipieren und artikulieren, verschiedenartige Wünsche auf einen Nenner bringen, einem unbestimmten Malaise Richtung geben, und sie müssen das alles so tun, daß die Gruppenmitglieder sich darin wiedererkennen. Andererseits hängt der Erfolg der Gruppensprecher davon ab, daß sie die Forderungen gegenüber anderen Gruppen überzeugend vertreten. Sie bedürfen deshalb eines breiten Überblickes über die gesellschaftliche Situation, insbesondere auch über die Kenntnisse, Vorstellungen und Erwartungen der übrigen Gruppen. Gruppeninteressen müssen deshalb auf dem jeweiligen Kenntnis- und Bildungsniveau der Gesellschaft vertreten werden 1 4 . Und Gruppensprecher müssen sozial glaub13 Florian Znaniecki: The Social Role of the Man of Knowledge, N.Y. 1940. Während die gruppeninterne Artikulation auf dem Bildungsniveau der eigenen Gruppe erfolgen kann, muß sich die gruppenexterne Legitimation nach dem Bildungsniveau der anderen Gruppen richten. Es sei damit auch angedeutet, daß diese (und weitere) Funktionen der Sprecher unter Um-

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haft darstellen können, daß sie das relevante Wissen ihrer Zeit i n eminentem Maße beherrschen, weshalb die ideologischen Führer und geistigen Repräsentanten auch der unteren Schichten überwiegend aus Kreisen der höher gebildeten Schichten stammen 15 . (Was vermuten läßt, daß Gruppen, welche keine neuen Forderungen anzumelden haben, i n der ideologischen Vertretung ihrer Position geistig nicht auf der Höhe der Zeit zu sein pflegen.) Dieses generelle B i l d der Qualifikation von Gruppensprechern bedarf allerdings insofern der Verfeinerung, als sich mit steigender sozialer Differenzierung auch die ursprünglich relativ einheitlichen Sprecherfunktionen aufzusplittern und spezialistisch auf mehrere Personen zu verteilen pflegen. Dann sind einige vornehmlich m i t internen, andere mit externen Gruppenaufgaben beschäftigt, und die Aufgaben der Legitimation der eigenen Forderungen werden von den eigentlich politischen Führungsaufgaben stärker geschieden werden. Diese Differenzierung der Sprecherfunktionen ist eine unvermeidliche Folge des erhöhten Vertretungsaufwandes, der bei höherer sozialer Differenzierung notwendig wird. Denn mehr Gruppen bedeuten mehr Forderungen, gegen die sich jede Gruppe nur durch ein Mehr an Vertretung sichern kann. Dabei zwingt die wachsende Organisierung der Lebensumstände jede Gruppe, sich laufend fordernd i n die beschleunigten und vervielfachten Entscheidungsprozesse einzuschalten, durch welche eine Gesellschaft m i t hoher Differenzierung ihre Angelegenheiten regeln muß. Der erhöhte Vertretungsaufwand also drängt zur A u f spaltung der Sprecherfunktionen. Infolgedessen differenzieren sich auch die Qualifikationen der verschiedenen Sprecher einer Gruppe. Sie müssen nicht alle i n gleicher Weise auf dem geistigen Niveau ihrer Gesellschaft sein. Und um es direkt auf die heutige Situation anzuwenden, müssen sie nicht alle eine wissenschaftliche Bildung genossen haben. Es muß aber unter den Sprechern einer Gruppe heute auch die Wissenschaft vertreten sein, wofür die nähere empirische Bestätigung später noch anzufügen sein wird. U m die koordinativen Funktionen der Wissenschaft i n der pluralistischen Gesellschaft zu verstehen, muß man sich schließlich noch einmal vor Augen halten, wie sich die Gruppenforderungen bei wachsender Differenzierung entwickeln. Natürlich stammt die Vertretung von Gruppeninteressen nicht erst von heute. Aber bei einem gewissen Grad der sozialen Differenzierung treten die Gruppenforderungen ständen auf mehrere Personen verteilt werden können, wie das heute häufig der Fall ist. 18 So neuerdings wieder auch für die politische Repräsentation in Erinnerung gerufen von S. Greer und P. Orleans , „Political Sociology", in: R. E.L. Faris ed.): Handbook of Modern Sociology, Chicago 1964, p. 824.

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aus dem Gesellschaftszusammenhang heraus. Sie verselbständigen sich und sind damit immer i n Gefahr, unrealistisch zu werden. Sie unterliegen m. a. W. einem Zwang zur Ideologisierung. Den aus subjektiven Umstandsvergleichen erwachsenden Interessen und Forderungen mangelt m i t gemeinsamen Bewertungskriterien auch die Legitimation, und zwar seitens ihrer Träger wie gegenüber den Adressaten. Ihre Berechtigung muß erst erwiesen werden, um sie innerlich m i t Uberzeugung und nach außen m i t Argumenten vertreten zu können. Und diese Legitimation w i r d zwangsläufig zu einer Darlegung der Stellung und des Beitrages der eigenen Gruppe i m gesellschaftlichen Zusammenhang, also zum Vorgriff auf ein Gesellschaftsbild, das allen Gruppen ihren angemessenenen Platz zuweist. Die Forderungen werden demnach unter Rückgriff auf gruppenspezifische Gesellschaftsbilder legitimiert, welche einen Vorgriff auf die gesellschaftliche Zukunft darstellen. Die Ideologieforschung hat an diesen Gesellschaftsbildern ihren verschleiernden, vorgetäuschten, unwahren Charakter betont. Aber ihr tiefster Ursprung liegt eben i n dem Fehlen gemeinsamer Bewertungskriterien. I n dieser Situation muß jede Forderung entweder rein willkürlicher Anspruch bleiben oder sich mittels einer Vorstellung vom Platz und Beitrag der Gruppe ausweisen, also Ideologie werden. Diese Ideologisierung bei wachsender Differenzierung ist keine stetige Größe. I n der Tat w i r k e n i h r einige Momente sogar entgegen. So werden die Gruppen durch die höhere Organisation der gesellschaftlichen Zustände dazu gedrängt, sich laufend durch ad hoc Forderungen i n den Strom der fälligen Entscheidungen einzuschalten. Diese Forderungen ließen sich durch ein Prinzip sozialer Rundumverteilung, welches i m Turnus alle Gruppen berücksichtigt, auf der Ebene von pragmatischen Zugaben halten. Ähnlich w i r k t gegen eine stetige Ideologisierung der Umstand, daß bei wachsender Differenzierung Gruppen m i t umfassend einheitlichen Interessen abgebaut werden, w e i l Individuen ihre Interessen auf mehrere Gruppen verteilt finden. Diese Tatsachen haben unter anderem dazu geführt, daß etwa Parteien sozial heterogener zusammengesetzt sind als früher, d.h. untereinander i n ihrer sozialen Komposition konvergieren, und folglich auch nicht mehr intern Weltanschauungsparteien sind. Deshalb haben verschiedene Wissenschaftler (O. Brunner, D. Bell, H. Schelsky) das Ende der Ideologien vorausgesagt. Sie blieben allenfalls als obsolete Überhänge subjektiven Bewußtseins erhalten, würden aber von der Maschinerie des Entscheidungsbetriebes unterlaufen, der durch ständige Einzelentscheidungen die Lebensumstände gestalte. Jedoch ist das wohl nur eine Seite. Sie kann sich nur dann durchsetzen, wenn die Forderungen realistisch auf dem

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Boden der Tatsachen und i m Bereich des sachlich Möglichen blieben, wenn keine Gruppe sich benachteiligt fühlte und keine Forderungen gegen den Einspruch anderer Gruppen legitimiert werden müßten. Das ist aber bei der Verselbständigung pluraler Interessen dauernd kaum möglich. Deshalb w i r d man davon ausgehen müssen, daß ein System pragmatischer Rundumverteilung zeitweilig den Irrealismus und die Ideologie verdecken kann, beide aber immer wieder zum Durchbruch kommen. 3. Koordinative Funktionen der Wissenschaft Die koordinativen Leistungen der Wissenschaft beginnen nun damit, daß sie Autorität des Urteils besitzt. I m Getöse widerstreitender Behauptungen, Forderungen und Programme kann sie mit unabhängigem und sachlich qualifiziertem Urteil aufwarten. Es fällt i h r damit eine Schiedsfunktion zu. Diese besteht nicht etwa darin, daß sie die B i l l i g keit oder Unbilligkeit der Ansprüche bewertet, um dann der einen oder anderen Gruppe den Zuschlag zu geben. Würde der Wissenschaftler so verfahren, so brächte er sich u m den Kredit seiner Autorität. Seine Schiedsfunktion beruht eindeutig darauf, daß er sich auf Tatsachenzusammenhänge beschränkt. Er folgt den konfligierenden A n sprüchen gerade nicht auf die Ebene ihrer divergenten Wertstandpunkte. Er projiziert die Wertstandpunkte, die Forderungen und Programme vielmehr auf die Ebene der Tatsachenzusammenhänge. Stimmen die jeweils geltend gemachten Tatsachen? Was wären die Folgen und Nebenfolgen, wenn man dieser Forderung oder jenem Programm entspräche? Welche Kosten dieser oder jener A r t entstünden? Wie w ü r den sich die Folgen auf andere Gruppen und Bereiche auswirken, und w i e würden sie so vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt auf die fordernde Gruppe zurückwirken? Die Forderungen und Programme werden hypothetisch für die Wirklichkeit durchgespielt. Durch diese Projektion auf die Ebene der Tatsachenzusammenhänge werden die konfligierenden Interessen kommensurabel gemacht. Es werden die für die verschiedenen Gruppen relevanten gesellschaftlichen Interdependenzen bloßgelegt. Wissenschaft liefert insoweit immer wieder ad hoc die relevanten Ausschnitte aus dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, den heute die Primärerfahrung direkt überhaupt nicht, und das allgemeine Bildungswissen indirekt höchst unzulänglich hergibt 1 6 . Aber das Ergebnis dieser Analyse ist für die 10 Die Aufklärung und ein auf ihr fußender Liberalismus hielten dafür, daß allgemeine Bildung mündige Staatsbürger schaffe, welche aus eigener Sacheinsicht urteilen könnten. Die gebildete Öffentlichkeit wurde damit zur kritischen Instanz erklärt. Durch ihre freie Sacheinsicht sollte sie zu ein-

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Gruppen durchaus nicht nur: Einsicht in die gesellschaftlichen Inter dependenzen und damit in die Grenzen der eigenen Forderungen aufgrund begrenzter sachlicher Möglichkeiten und ermittelter Folgen, Nebenfolgen und Kosten. Es beschränkt sich nicht auf den durch die Sachmöglichkeiten in irgendwelchen Grenzen diktierten Kompromiß. Das Ergebnis der Analyse hat noch eine ganz andere Seite: es wird nach beiden Seiten nebenher Kenntnis der Lebensumstände, Leistungen, Motivationen, Erwartungen vermittelt. Für eine Weile wird durch die wissenschaftliche Analyse somit das erreicht, was in einfachen Gesellschaften unvermeidliches Moment jeder Rolle ist: Einsicht in die Verbundenheit in der Produktion der Lebensumstände. Nur daß diese Einsicht in einfachen Gesellschaften total, direkt und dauernd, hier aber partiell, indirekt und temporär ist. Wissenschaft konstruiert von Mal zu Mal die für Forderungen und Entscheidungen relevanten Zusammenhänge als jeweilig relevante Ausschnitte aus dem Gesamtheitlichen und richtigen Meinungen und Forderungen geführt werden, welche von den Politikern zu vollstrecken seien. — Diesem Ideal verpflichtet zu sein ist gewiß ehrenvoll. Aber seine Realisierbarkeit unbesehen zu unterstellen, sollte nach mehr als einem Jahrhundert gesellschaftlicher Veränderung und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis nicht mehr als seriös gelten dürfen, auch wenn die Wortführer der neuen Linken genau das tun. Wohl hat im 19. Jahrhundert die gebildete Öffentlichkeit über mehr Verständnis der Wissenschaft verfügt als die Institutionen, welche Entscheidungen trafen. Sie konnte insofern zu Recht beanspruchen, ein freieres und aufgeklärteres Urteil zu haben. Heute liegen die Dinge umgekehrt. Der Entscheidungsapparat der Institutionen verfügt über wissenschaftliche Sacheinsicht, sei es durch eigene Spezialbildung oder durch Heranziehung von Experten, und distanziert damit die gebildete Öffentlichkeit Die wissenschaftliche Erkenntnis, der Grad ihrer Nutzbarkeit, die Organisation der gesellschaftlichen Umstände aufgrund von Entscheidungen waren im 19. Jahrhundert noch so wenig fortgeschritten, daß sich die allgemeine Bildung wohl in mancher Hinsicht zu einem Urteil qualifizieren vermochte und jedenfalls besser qualifizierte, als die tradierte Staatskunst. Gewiß ist Bildung immer ein Bollwerk gegen grobe Unrichtigkeiten, und mehr Bildung mag insofern eine kritischere Öffentlichkeit schaffen. Aber das heißt gewiß nicht, daß Bildung den Einzelnen zur Einsicht in die Sachzusammenhänge befähige. Diese sind vielmehr so komplex geworden, daß nur der Wissenschaftler sie ermitteln kann, und genauer, die Wissenschaftler in Gemeinschaftsarbeit, denn — und das ist kennzeichnend für die heutige Lage — der einzelne Wissenschaftler ist außerhalb seines Faches Laie wie andere auch. Die regulativen Funktionen der Wissenschaft sind deshalb auch sehr verschieden von der These, daß eine gebildete Öffentlichkeit eine mündige Gesamtheit mündiger Einzelner sei. Die Funktionen, welche Aufklärung und Liberalismus noch naiv der Bildung zuwiesen, werden gerade heute durch die Wissenschaft erfüllt. Und wie irrig es ist, an die Erlösung der Gesellschaft und der Menschen durch die allgemeine Bildimg zu glauben, zeigt sich auch darin, daß dabei immer wieder unterstellt werden muß, daß eine gebildete Öffentlichkeit zu einheitlichen Meinungen und Forderungen käme. Die heutige Öffentlichkeit und auch die gebildete Öffentlichkeit zerfällt aber mehr denn je in partikulare Öffentlichkeiten, die bei gleichem Sachwissen und gleichem Sachverständnis unterschiedliche Werte vertreten. Wissenschaftliche Bildung führt nicht (mehr) zur Gemeinsamkeit der Werte, ohne die eine Öffentlichkeit als kritische Instanz, welche der Politik den Weg weisen könnte, gar nicht möglich wäre.

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Zusammenhang. Und sie läßt dadurch für einen Moment für die Interessenten eine sonst nicht faßliche Realität entstehen m i t dem doppelten Ergebnis: daß sie die Realbedingungen der gesellschaftlichen Stellung und der Forderungen der Gruppen sehen lehrt und die relevanten Umstände der Gruppen vermittelt. Wissenschaft vermittelt somit indirekt, partiell und temporär immer erneut fragmentarische Erlebnisse der Interdependenz und Solidarität 1 7 . Die koordinativen Funktionen der Wissenschaft beginnen, wie gesagt, m i t ihrer Fähigkeit, Sachautorität zu fixieren. Da sie i n sich ein System der Auslese nach Sachkompetenzen darstellt, verfügt sie über Mechanismen, Sachautoritäten zu benennen. Und diese Benennimg (durch akademische Grade, darüber hinaus durch Meinungsbildung innerhalb der Wissenschaft) w i r d von der Öffentlichkeit honoriert. (Die oft belächelte Sucht von Betrieben, dem Träger akademischer Grade den Vorzug zu geben, hat deshalb insoweit auch einen guten Sinn, als diese Grade für die Öffentlichkeit die sichtbare Bestätigung einer sachlichen Kompetenz und Autorität sind, welche allein die Wissenschaft attestieren kann.) Sachautorität aber bedeutet nicht nur einfach überlegene Sachkenntnisse. Sie schließt wesentlich ein: Objektivität und Sachlichkeit, d. h. daß die Darlegung von Tatsachen und Zusammenhängen nicht durch Bewertungen getrübt wird. (Wiederum w i r d hieraus der Drang, Kapazitäten als Gutachter zu bemühen, insoweit verständlich, als eben Kapazitäten für den Nichtwissenschaftier optimale Sachkenntnis und Sachlichkeit verkörpern.) A u f dieses interne Vermögen der Wissenschaft, Sachautorität gestuft zu fixieren, zu ermitteln und zu benennen, gründet sich also ursprünglich ihre Schiedsfunktion. Zwischen die Gruppen und ihre Forderungen stellt sie Personen, denen sie Sachkenntnisse und Sachlichkeit bescheinigt. Auf diese Weise übt sie ihre Schiedsfunktion i n überaus mannigfachen Formen aus, deren Ausmaß ich hier nicht einmal andeuten kann. Es geht dabei nicht nur um die dramatischen Situationen, i n denen Wissenschaftler als Gutachter, Sachverständige oder gar Schiedsrichter bemüht werden. 17 Es sei daran erinnert, daß schon Karl Mannheim eine ähnliche These vertreten hat, als er eine „Synthese" der „standortbedingten", und eben deshalb „ergänzungsbedürftigen" Teilaspekte gefordert hatte. Nur sollten dadurch die pluralen Wirklichkeitssichten zusammengefaßt werden, um die Objektivität einer Sozialwissenschaft zu ermöglichen, während hier die Wissenschaft die für die jeweüigen Standpunkte relevanten objektiven gesellschaftlichen Zusammenhänge ermitteln muß. Mannheims Frage und Antwort sind durch seinen „totalen Ideologieverdacht" bedingt, der wiederum auf der ungenügenden Trennung von Wert und Wirklichkeit beruht. Aber in bezug auf die sozialen Funktionen des von der Wissenschaft ad hoc zu entwerfenden „Gesamtbildes" besteht kein Unterschied, zumal auch Mannheim klar sah, daß die Synthese immer neu zu leisten sei. Vgl. K. Mannheim: Ideologie und Utopie, insbesondere im 3. Kapitel den Abschnitt „Das Problem der Synthese".

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Vielmehr übt Wissenschaft durch alle ihre Äußerungen diese Schiedsfunktionen aus. Durch ihre bloße Existenz w i r d sie zum Korrektiv aller Gruppenforderungen und zum stillen Partner aller Gruppenauseinandersetzungen. Sie steckt den Raum der sozialen Auseinandersetzimg so ab und legt die Regeln der Auseinandersetzung so fest, daß sachlich vertretbare und sozial befriedigende Lösungen gefunden werden können. Wie vielfältig das, offen oder verdeckt, ständig i n den verschiedensten Bereichen vor sich geht, kann ich hier nicht darzulegen unternehmen. Eine besonders wichtige Entwicklung aber mag hervorgehoben werden. Wie gesagt, muß normalerweise jede Gruppe ihre Argumente auf der Ebene der elitären Bildungskenntnisse vorzubringen trachten. Sie ist auf Sprecher angewiesen, welche m i t den herrschenden Sachannahmen und Legitimationen vertraut sind. Dieser Zwang nun produziert i n einer Gesellschaft, i n der die Wissenschaft etabliert ist, eine besondere Situation. Die Wahrscheinlichkeit, daß die eigenen Forderungen i n der Öffentlichkeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung werden, übt auf alle Gruppen einen Druck aus, sich ihrerseits mit wissenschaftlichem Sachverstand auszurüsten. So findet man heute i n Betrieben Fachpersonal nicht mehr nur m i t Aufgaben des unmittelbaren Betriebszwecks betraut, sondern m i t der Darstellung der Leistung, Stellung und Notwendigkeit des Betriebes oder der Gruppen. Und unter diesem Fachpersonal finden sich Wissenschaftler, welche sich m i t dem gesellschaftlichen Zusammenhang beschäftigen, i n dem diese Gruppen, Betriebe oder Organisationen stehen. Dadurch w i r d die Projektion der Gruppenforderungen auf Tatsachenzusammenhänge teilweise i n diesen Gruppen vorweg genommen. Die konfligierenden Gruppen treten m i t Forderungen sich gegenüber, die intern bereits wissenschaftlich i n die gesellschaftlichen Tatsachenzusammenhänge hineingestellt worden sind. So halten sich heute die Interessenvertretungen der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer Fachverstand für diese Aufgaben i m Hause. Sie müssen laufend die tatsächliche Lage beobachten, um der Interessenvertretung angeben zu können, wann welche Punkte der programmatischen Forderungen gestellt werden können oder müssen. Die Programme unterliegen somit i m eigenen Hause einer gewissen wissenschaftlichen Vorzensur, bevor sie i n der Öffentlichkeit der rückhaltlosen Analyse durch die Wissenschaft ausgesetzt sein werden. Denn der wissenschaftliche Fachverstand i m Hause ist, was die Sachkenntnisse und die Sachlichkeit angeht, noch nicht mit den vollen Qualifikationen der freien wissenschaftlichen Diskussionen ausgerüstet, aus denen erst das Ergebnis wissenschaftlicher Analyse hervorgehen kann. Erst wenn die Forderungen und Programme öffentlich angemeldet werden, können die Sachkenntnisse und

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die Sachlichkeit der Wissenschaft voll zum Zuge kommen. Das liegt nicht nur daran, daß die Forderungen und Programme i n der öffentlichen wissenschaftlichen Diskussion von den nach Sachkenntnissen und Sachlichkeit durchschnittlich höher qualifizierten Wissenschaftlern unter die Lupe genommen werden, sondern gerade auch daran, daß erst m i t der Öffentlichkeit der wissenschaftlichen Diskussion ein Mehr an Fächern und Gesichtspunkten frei zum Zuge kommen kann. Die Objektivität der wissenschaftlichen Aussagen beruht auf der freien und öffentlichen Diskussion, welche durch Fachverstand i m Hause nicht garantiert werden kann. Die Durchsetzung der Gruppe mit Fachverstand hat noch besondere Rückwirkung auf die Gruppenvertretung und -führung. Denn die Führung kann intern ihren Vertretungsanspruch nicht primär m i t Berufung auf Sachverstand begründen. Sie legitimiert sich vor den M i t gliedern vor allem durch ihre Bereitschaft und Fähigkeit, Stimme der schon bestehenden Forderungen und der noch unartikulierten Bedürfnisse zu sein. So entwickelt sich eine gewisse Aufgabenverteilung zwischen Führung und Fachpersonal gerade auch dort, wo es u m Gruppenvertretung geht. A m sichtbarsten w i r d diese Verteilung, wenn bei wirklichen Verhandlungen m i t Gegengruppen zeitweilig das Fachpersonal unter sich gelassen wird, weil der gemeinsame Fachverstand schneller und wirksamer die Relevanzstrukturen i n bezug auf die strittigen Forderungen ermitteln, das Feld der Möglichkeiten und Notwendigkeiten rascher abstecken, den resultierenden Kompromiß eher fassen kann. Diese Aufgabenverteilung hat erwiesenermaßen psychologische Funktionen: dem Kompromiß der Gruppenvertreter steht häufig ein Engagement i m Wege, das wegen anderer, insbesondere gruppeninterner Führungsaufgaben nicht abgebaut werden darf, so daß selbst bei Einsicht i n die Sachlage die Zustimmung zum Kompromiß schwerzufallen pflegt. Dieses emotionale Engagement braucht der Fachverstand nicht zu teilen und darf es jedenfalls i n der Verhandlung nicht zeigen, da es seine sachliche Position schwächen würde. So erfüllt Fachverstand sozialpsychologisch für Verhandlungen und Konflikte wichtige Funktionen. Durch zeitweilige Übernahme der Verhandlung, welche sich nicht nur am Verhandlungstisch, sondern i n jeder Auseinandersetzung abspielt, schafft er eine Abkühlungszeit für die Gruppenführer und erlaubt ihnen nach geschlossener Vereinbarung vor ihrem eigenen Gewissen wie vor ihren Anhängern die Geste der nur durch Sachverstand beschnittenen Entschlossenheit. Auch das ist ein nicht zu unterschätzender Beitrag, den die Wissenschaft ungewollt zur Versachlichung der internen Gruppenverhältnisse und der sozialen Gruppenbeziehungen leistet.

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Absichtslos ermöglicht die Wissenschaft, daß sich die Interessen und Forderungen auch i n der pluralistischen Gesellschaft koordinieren. Derweil die Wissenschaftler nur über Tatsachen entscheiden (und nicht über Werte), ermöglichen sie gerade durch diese Beschränkung der Gesellschaft, die inkommensurablen Forderungen ihrer Gruppen vergleichbar zu machen. Indem die Wissenschaft die relevanten Tatsachen und Zusammenhänge analysiert, bindet sie die Forderungen an eine gemeinsame Basis, die für alle Gruppen deshalb gültig ist, w e i l sie von einer anerkannt neutralen Instanz, welche keine eigenen Wertentscheidung trifft, ermittelt wird. M i t diesem absichtslosen Ergebnis ihrer Arbeit leistet die Wissenschaft der Gesellschaft Dienste, welche womöglich wichtiger sind als alles, was sie durch absichtsvolle A n wendung zur Erhaltung der Gesellschaft beisteuert. Wissenschaft ist das ständige Korrektiv, welches die Freiheit i n der pluralistischen Gesellschaft sichern hilft. Sie schiebt einerseits der Tendenz, daß inkommensurable Gruppenforderungen i n Freund-Feind-Beziehungen übergehen, einen Riegel vor und holt zum anderen alle Forderungen auf den Boden einer erst von ihr zu ermittelnden Wirklichkeit zurück. 4. Andere regulative Funktionen Wissenschaft ermöglicht nicht nur die Koordination von Gruppeninteressen, sie w i r k t i n vieler anderer Hinsicht regulierend, was hier wenigstens erwähnt werden soll. Ihre integrative K r a f t beginnt nicht erst dort, wo es u m Gruppenforderungen geht. Indem die Wissenschaft Tatsachen und Zusammenhänge analysiert, schafft sie eine Allgemeinheit verläßlicher Wirklichkeitsvorstellungen. Die unmittelbaren Folgen dieser Rekonstruktion von Wirklichkeitsausschnitten können recht verschieden sein. Es mag sich daran die Einsicht i n die Notwendigkeit kooperativen Handelns und gemeinsamer Aufgaben knüpfen; die Erkenntnisse können aber ihrerseits auch Anlaß zu Forderungen einzelner Gruppen werden. Immer aber erstellt die Wissenschaft durch die Rekonstruktion einer für alle gültigen Wirklichkeit eine brauchbare Handlungsgrundlage. Ihre regulative K r a f t setzt somit ein, lange bevor Gruppen ihre Forderungen entwickeln. Wissenschaft reguliert die gesellschaftlichen Verhältnisse bereits, indem sie einen Fundus gemeinsamer Wirklichkeitsvorstellungen schafft 18 . I m übrigen beschränken sich die regulativen Funktionen der Wissenschaft keineswegs auf das Gebiet, auf dem es direkt u m die Gestaltung 18 Es sei vermerkt, daß an diesem Punkt die gesellschaftlichen Funktionen der Wissenschaft aus ihr selbst heraus gefährdet sind. Denn die Spezialisierung und Differenzierung der wissenschaftlichen Arbeit schaffen wissenschaftliche SpezialÖffentlichkeiten, zwischen denen die Verständigung schwerfällt.

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der Wirklichkeit geht. Menschen leben nicht nur von der absichtsvollen Einrichtung der Wirklichkeit. Leben ist auch immer ein Bewältigungsprozeß, der nicht schon durch Erkenntnisse von dem, was ist, geleistet werden kann. I n geistigen und psychischen Sinndeutungs- und Wertungsprozessen müssen Menschen sich teils m i t der Wirklichkeit abfinden, teils neue innere Daseinsmöglichkeiten entdecken. Solche Bewältigungsprozesse müssen vor sich gehen, damit Menschen i n der pluralistischen, also mobilen und veränderlichen Gesellschaft Identität und Balance behalten. Ich kann darauf nicht weiter eingehen und muß es bei der Bemerkimg bewenden lassen, daß hier wichtige regulative Funktionen der Wissenschaft liegen, welche vor allem von den Geisteswissenschaften und Teilen der Sozialwissenschaften vorgenommen werden. Auch hier handelt es sich u m Funktionen, also Wirkungen, welche diese Wissenschaften beiläufig erzeugen. 5. Voraussetzungen für die gesellschaftlichen Funktionen der Wissenschaft Wie gezeigt, liefert die Wissenschaft nicht nur Ergebnisse, welche sich absichtsvoll zur Einrichtung der Umstände benutzen lassen. Sie erfüllt auch absichtslos regulative Funktionen, welche die Freiheitlichkeit des Gemeinwesens entscheidend sichern helfen. Doch die Wissenschaft leistet diesen gesellschaftlichen Beitrag nicht i n jedem Fall. Sie kann oft kaum sichtbaren Beschränkungen ausgesetzt sein, welche ihre regulativen Funktionen stören oder gar aufheben. Einige Voraussetzungen, welche für die heutige Situation von akuter Bedeutung sind, sollen kurz skizziert werden. So muß die Stimme der Wissenschaft gehört werden können. Es reicht nicht aus, daß es Wissenschaft gibt. Die verschiedenen Gruppen und Personen, die Stellen und Ämter müssen orientiert sein über das, was die Wissenschaft zu ihren Forderungen, Vorhaben und Programmen zu sagen hat. Hier kommen Fragen der Ausbildung, Rekrutierung und Organisation ins Spiel. Es ist aber wesentlich ein Problem der Kommunikationsmittel, welche die Urteile und Ergebnisse der Wissenschaft getreulich weitergeben müssen. Ihnen fällt die schwierige A u f gabe zu, den verschiedenen Kreisen der Öffentlichkeit die relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse m i t den nötigen sprachlichen und sachlichen Vereinfachungen gewissermaßen zu übersetzen. Die regulativen Funktionen der Wissenschaft werden heute durch die zahllosen Kanäle eines unübersichtlichen Kommunikationssystems gesteuert. Von der Schnelligkeit, der Getreulichkeit und Wirksamkeit der stufenweisen Weitergabe wissenschaftlicher Ergebnisse an eine differenzierte Öffentlichkeit hängen die regulative Kraft der Wissenschaft und ihre 6 Tagung Dortmund 1968

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gesellschaftlichen Funktionen ab. Presse, Verlagswesen entscheiden i n hohem Maße Resultate wissenschaftlicher Arbeit an die i n deren Urteilen gesellschaftlich wirksam

Rundfunk, Fernsehen und darüber, welche Seiten und Öffentlichkeit gelangen und werden.

Ferner muß die Wissenschaft frei sein, beliebige Probleme aufzugreifen und von beliebigen Seiten angehen zu können. Wie gezeigt, ergibt sich der gesellschaftliche Beitrag der Wissenschaft ja erst aus der wissenschaftlichen Diskussion. Die Freiheit von Forschung und Lehre ist also nicht bloß ein Postulat aus dem Selbstinteresse der Wissenschaft; sie ist gerade die unerläßliche Bedingung für den gesellschaftlichen Beitrag der Wissenschaft. Jede Einschränkung dieser Freiheit mindert die Chance, verläßliche und befriedigende gesellschaftliche Entscheidungen zu erreichen, und erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß die Freiheitlichkeit des Gemeinwesens durch illusionäre Entscheidungen oder mangelnde Integration verloren geht. Jede Behinderung der Wissenschaft bedeutet eben, daß ein relevanter Aspekt der Wirklichkeit aus der Diskussion und Meinungsbildung ausgeschlossen w i r d 1 9 . Die freie wissenschaftliche Diskussion kann auf mannigfache Weise eingeschränkt sein. I m äußersten Falle sind gewisse Gegenstände oder Auffassungen von Staats wegen untersagt. Uns näher liegen heute die Probleme, welche aus der Tatsache entstehen, daß die Bedingungen und M i t t e l wissenschaftlicher Arbeit von Staat und Gesellschaft bew i l l i g t werden müssen. Viel beredet w i r d heute die anschwellende Auftragsforschung. Nur scheint m i r die Verzerrung der Freiheit der Forschung durch gebundene M i t t e l noch augenfällig und abschätzbar und deshalb auch weniger gefährlich als die viel subtilere Steuerung der wissenschaftlichen Arbeit durch ideologisch gefärbte Forderungen, welche sich i n der Öffentlichkeit verbreiten. Freie wissenschaftliche Diskussion kann nur gewährleistet sein, wenn i n der Gesellschaft zulängliche Vorstellungen von der Arbeitsweise, W i r k u n g und Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit bestehen. Daran scheint es i n der gebildeten Öffentlichkeit, insbesondere unter den Studenten, ja, sogar unter Wissenschaftlern i n bedenklichem Maße zu fehlen. So kann man nur m i t Sorge beobachten, wie die Hochschulen immer ungehemmter einem Druck ausgesetzt sind, i n der Ausbildung — und gerade in der Massenausbildung — ihre oberste und eigentliche Aufgabe zu erblicken. A u f diesem Wege kann von der Freiheit der Forschung am Ende nur ein formales Recht übrigbleiben. Frei sein aber, und 19 Auch hier gilt natürlich, daß innerhalb der Wissenschaft gewisse Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn sie ein umfassendes Wirklichkeitsbild liefern soll.

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dadurch ihre gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen, kann die Wissenschaft nur, wenn die Wissenschaftler nach ihren konkreten Umständen die Möglichkeit haben, beliebige Fragen aufzugreifen und zu verfolgen. Die Chance, daß sich zu allen gesellschaftlich erheblichen Themen genügend Sachverstand äußert und mit umfassenden und ausgewogenen Beiträgen zu Wort meldet, besteht nur so lange, wie Wissenschaftler über Zeit verfügen, Zeitnot der Wissenschaftler verkürzt das Wirklichkeitsbild der Gesellschaft. Sie begünstigt i n der Wissenschaft die Beibehaltung konventioneller Gesichtspunkte und i n der Publikation die Produktion publikumswirksamer Auffassungen. Noch gefährlicher aber sind die Fehlurteile über die gesellschaftliche Wirkungsweise der Wissenschaft, welche sich heute wie ein Bazillus unwidersprochen ausbreiten. Von allen Seiten schallt einem die Parole entgegen, die Wissenschaft müsse sich an bestimmte gesellschaftliche Aufgaben binden, sie dürfe nur i m Dienste der rechten Zwecke tätig werden, und die Öffentlichkeit müsse sie dazu anhalten. Die gleichen Personen, welche i n der immerhin umschriebenen Auftragsforschung die Selbstverstümmelung der Wissenschaft sehen wollen, propagieren die Lenkung der Wissenschaft durch die Stimmungen eines i n Räten organisierten Publikums, die Kontrolle der Wissenschaftler durch öffentliche Massendiskussionen, die Einschüchterung der Wissenschaftler durch physische Gewalt, psychische Belastungen und eine zu diesem Zweck kultivierte Studentenpresse. Offenbar fehlt es hier an den dürftigsten Vorstellungen vom Charakter und den Bedingungen freier wissenschaftlicher Aussprache und von ihrem lebenswichtigen Beitrag für die Gesellschaft. Hinter diesen bedrohlichen Erscheinungen stehen aus Unkenntnis geborene Fehlvorstellungen von den gesellschaftlichen Wirkungen und Funktionen der Wissenschaft. Da w i r d von der Wissenschaft gefordert, daß sie nur solche Ergebnisse produziere, welche der Gesellschaft zuträglich seien. Aber was so schön und edel klingt, verkennt die W i r kungsweise der Wissenschaft und den Charakter der freien Gesellschaft. Der Gebrauchswert und damit die Folgen einer wissenschaftlichen Erkenntnis sind gar nicht vorauszusehen. Was anfangs wie eine unwichtige Nebensache aussah, erweist sich plötzlich als praktisch höchst bedeutsam, und umgekehrt. Insbesondere aber haben alle Erkenntnisse einen multiplen Gebrauchswert. I m einf achen Bild: die Atomkraft läßt sich für Bomben, aber ebenfalls i n der Heilkunst oder zur Herstellung billiger Energie benutzen. Der Gebrauchswert wissenschaftlicher Erkenntnisse w i r d nicht schon durch die Erkenntnis als solche, sondern eben erst durch ihren Gebrauch bestimmt. Jede Erkenntnis steht prinzipiell allen Parteien und Gruppen zur Verfügimg und kann von allen zu verschiedenen Zwecken benutzt werden, 6*

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von denen sich sogar immer nur ein Teil voraussehen läßt. Die Folgen der Wissenschaft lassen sich deshalb nicht beeinflussen durch ein besonderes Engagement der Wissenschaftler, freiwillig oder erzwungen. Es sind Probleme der Benutzung der Erkenntnis und somit politische Probleme, welche durch gesellschaftliche Entscheidungen gelöst werden müssen. Wer die wissenschaftliche Erkenntnis zu gängeln unternimmt, untergräbt m i t der Freiheit der Wissenschaft notwendig auch die Freiheit der Gesellschaft. Auch i n bezug auf einen anderen Punkt machen sich heute Vorstellungen breit, welche die gesellschaftliche Leistimg der Wissenschaft gefährden. Wie oben gezeigt, kann die Wissenschaft öffentliche W i r kungen nur ausüben, wenn ihr Urteil öffentliche Autorität besitzt. Darin liegt insofern ein schwieriges Problem, als sich die öffentliche Sachautorität der Wissenschaft ja grundsätzlich nicht schon auf die Sacheinsicht der laienhaften Öffentlichkeit gründen kann, sondern von i h r auf Treu und Glauben hingenommen werden muß. Das öffentliche Akzept wissenschaftlicher Sachautorität beruht auf vielen sich verstrebenden Stützen. Eine Hauptstütze ist die Erfahrung der Anwendbarkeit der Wissenschaft i m Dienste menschlicher Zwecke, also ihre Wirksamkeit i n der absichtsvollen Einrichtung der Verhältnisse, gekoppelt m i t der Annahme, daß die Folgen dieser Anwendung i m großen und ganzen wohltätiger Natur sind. Insofern tragen die Wissenschaften, welche der zweckhaften Anwendung m i t direkten und sichtbaren Folgen fähig sind, übermäßig zum öffentlichen Kredit der Wissenschaft bei. Öffentliche Sachautorität kann die Wissenschaft aber auch nur besitzen, wenn ihre Objektivität außer Frage steht. Jeder Zweifel an der Sachlichkeit der Wissenschaft bringt sie u m ihren öffentlichen Kredit. Deshalb gehört die Erziehung der Wissenschaftler zum Ethos der Sachlichkeit durch die dauernde Objektivierung der eigenen Wertpräferenzen zu den Bedingungen des Fortbestandes und der Wirksamkeit der Wissenschaft. Aber auch von außen kann die Wissenschaft u m ihren Kredit gebracht und dadurch an der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktionen gehindert werden, wenn Lehren verbreitet werden, die die Objektivität der Wissenschaft grundsätzlich zu bestreiten oder zu verdächtigen unternehmen. Und i n dieser Beziehung befindet sich heute die Wissenschaft i n einer prekären Situation. Denn seit Jahren schon w i r d der öffentlichen Meinung fast unwidersprochen suggeriert, daß Wissenschaftler i m Grunde als Klassen- und Standesvertreter agieren und objektive Wissenschaft nur ein Deckmantel für Eigeninteressen sei. Solche gefährlichen und leider weithin erfolgreichen Verdächtigungen der Wissenschaft erschleichen sich ihren Beifall durch eine Ver-

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drehung des Problems. Sie machen sich ein leichtes Spiel, indem sie die Objektivität des einzelnen Wissenschaftlers bezweifeln. Aber die Objektivität der Wissenschaft ergibt sich nicht aus der Summation der Sachlichkeit der einzelnen Wissenschaftler, und die Unsachlichkeiten einzelner Wissenschaftler addieren sich nicht zur Unsachlichkeit der Wissenschaft. Der einzelne Wissenschaftler kann irren, die Wissenschaft i r r t nicht. Der einzelne Wissenschaftler mag bei bestimmten Fragen nur unzulänglich i n der Lage sein, seine eigenen Wertpräferenzen zu neutralisieren. Aber die Stimme der Wissenschaft ergibt sich aus der wissenschaftlichen Diskussion, welche Prämien auf die Entdeckung von Fehlern und Unsachlichkeiten setzt. Wissenschaft ist nicht deshalb objektiv, weil alles, was einzelne Wissenschaftler sagen, richt i g ist. Was immer sie sagen ist dem U r t e i l und der K r i t i k von Fachgenossen ausgesetzt. Die Objektivität der Wissenschaft summiert sich aus diesem selektiven Prozeß, i n dem der sachlichen K r i t i k endlich notwendig der sachliche Preis zufällt, und die Objektivität des einzelnen Wissenschaftlers w i r d vor allem dadurch gestützt, daß er seine Urteile diesem Prozeß sachlicher K r i t i k ausgesetzt weiß und sein Status unter Fachgenossen davon abhängt, daß Fachverstand i h m Objektivität bescheinigt. Gewiß sind das nur einige Voraussetzungen, und andere Probleme konnten nicht erwähnt werden. Die Hinweise zeigen aber, daß das Verständnis für die gesellschaftlichen Funktionen der Wissenschaft m i t der enormen Steigerung ihres Gebrauchswertes nicht Schritt gehalten hat. Wenn w i r uns eine freie Gesellschaft erhalten wollen, so werden w i r dringend dafür sorgen müssen, daß die Arbeits- und Wirkungsweise der Wissenschaft und ihre gesellschaftlichen Funktionen angemessen verstanden werden.

Der Begriff der Wissenschaft im Wandel des Weltbildes Von Jaroslav Tejmar, M. D., S. Sc., Prag Es gehört zu den guten Sitten eines Referenten, die Definition bzw. eine Definition des zu behandelnden Gegenstandes zu bieten. Obwohl ich m i r dadurch i m gegebenen Falle, wie gleich zu sehen sein wird, erhebliche Schwierigkeiten bereite, halte ich dennoch einen solchen Versuch für unumgänglich. Er w i r d uns voraussichtlich nicht nur den Bereich und das Ausmaß unseres Gegenstandes abstecken, sondern Wesentliches über seine innere Problematik aussagen. Chorafas (1963) schreibt m i t einer empirischen Problemlosigkeit: „Wissenschaft ist die Gesamtheit unserer Erkenntnis" (S. 18). Lindsay (1963) ist bereits viel bestimmter: "Science is a method for the description, creation and understanding of human experience.". Der instrumentelle Gesichtspunkt ist hier also gegenüber dem substantiellen überbetont. Ähnlich Benjamin (1965): "Science is that mode of inquiry which attempts to arrive at knowledge of the world by the method of Observation and by the method of confirmed hypotheses based on what is given i n Observation." Holzamer (1963): „Wissen w i r d erst dann i n Wissenschaft überführt, wenn drei Bedingungen erfüllt werden . . . 1. sucht die Wissenschaft ein möglichst lückenlos geschlossenes Erfassen eines bestimmten Teilbereiches der wirklichen Welt (System); 2. der wissenschaftlich Forschende beobachtet alle Schritte, die er bei der Erfassung des Gesamtbereiches macht, und baut dabei eine Erkenntnis auf die andere folgerichtig auf (Methode); 3. endlich sucht die Wissenschaft, diese systematisch und methodisch gewonnenen Erkenntnisse zu sichern und i n einer gleichsam spiegelgetreuen Nachbildung der Wirklichkeit oder eines Teiles geordnet zusammenzufügen (Objektivität und Systematik)." Die Betonung eines Wissenssystems erscheint m i r besonders wichtig. W i r werden wahrscheinlich alle zugeben, daß diese Beschreibung, wenn auch nicht Definition der Wissenschaft, unseren Vorstellungen viel eher entspricht als die von Chorafas (1963), w e i l unser gesamtes Leben nichts anderes ist als eine ununterbrochene Reihe von Erkenntnissen, wie die Anwendung der informationstheoretischen Betrachtungsweise besonders überzeugend dargelegt hat. Es kann somit nicht irgendeine Erkenntnis sein, sondern nur eine ganz besondere. Auch wenn man die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erkenntnis meinen sollte, wäre streng zu unterscheiden, was eigentlich ihre Beschaffenheit ist; denn

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darunter können sich zum, Beispiel verschiedene unschädliche oder auch schädliche Aberglauben verstecken, die scheinbar auch auf „Erkenntnis" basieren. Man kann dagegen mit gutem Gewissen Erlinghagen (1963) beipflichten, wenn er feststellt: was eigentlich Wissenschaft ist, sei unter denen, die sich ihr widmen, und jenen, die über sie reden und schreiben, keineswegs einhellige Meinung. Er kommt dann zur Auffassung, daß es ein einheitliches, logisches System der Wissenschaft nicht gebe, vielmehr eine Vielzahl von Wissenschaften, zwischen denen die Grenzen oft fließend sind. Diese Auffassung mag tief beunruhigend wirken; man ist doch gewohnt, über Triumphe der Wissenschaft zu sprechen, die Wissenschaft für — sagen w i r — die Entwicklung der Atombombe zur Rechenschaft zu ziehen und, wenn es keinem anderen gelingt, die Wissenschaft zu beschwören, endlich der Menschheit ein besseres Los zu bereiten. W i r werden uns, wie es scheint, besonders mit diesem Problem der verschiedenen Aspekte und Erscheinungsweisen der Wissenschaft befassen müssen; denn es ist dabei eine besonders starke Verknüpfung m i t dem Wandel des Weltbildes gegeben, an dem allerdings die Wissenschaft selbst wieder maßgeblich beteiligt war. Wenn w i r bisher m i t unserer Definition des Begriffes Wissenschaft kein besonderes Glück hatten, so ist diese Sachlage ähnlich der Sachlage i n anderen Fällen, wo es bisher noch an einer passenden Definition mangelt. Eben die geläufigsten Begriffe finden meistens keine angemessene Definition. Obwohl jeder von uns mit vollem Verständnis über Gesundheit spricht, blieb beim Versuch, diesen Begriff zu definieren, auch das ehrwürdige und kompetente Gremium der Weltgesundheitsorganisation auf der Strecke. Oder gibt es vielleicht eine befriedigende Definition für den Begriff der Wahrheit? Ich fürchte, erst dann, wenn dies einmal gelingen sollte, werden manche Unstimmigkeiten unter Menschen und Völkern ausgelöscht werden. Bis dahin müssen w i r uns mit Kompromissen, Nachsicht und Mäßigung begnügen, wenn w i r nicht gemeinsam untergehen wollen. Ich gebe gern zu, diese Probleme mögen künstlich oder akademisch wirken, ohne vermutlichen Einfluß auf die dringenden Belange des Menschen und seines täglichen Lebens. Ich wünschte, es wäre der Fall; er ist es auch, solange es u m keine Entscheidung geht, sagen wir, auch nur um eine Entscheidung, ob eine gewisse Disziplin an einer Hochschule gepflegt werden soll oder i m Betrieb. Da streiten zwei namhafte Wissenschaftler, Murrell (1967) und Singleton (1967), ob die Ergonomie, die i n England etwas von den Aufgaben der Arbeitswissenschaft i n Deutschland auf sich lud, Wissenschaft oder Technologie sei; man bedürfe einer klaren Scheidimg, was also unter Wissenschaft noch zu verstehen ist, sonst ziele bereits die Erziehung der Träger dieser

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Disziplin i n völlig verschiedene Richtungen. Oder geht etwa Wissenschaft i n Technologie ohne Grenzen über? Das bejaht ausführlich und überzeugend z. B. Kranzberg (1967). Wenn eine gangbare Definition nicht gelingen w i l l , muß wenigstens versucht werden, ob Einigkeit in der Zielsetzung des Gegenstandes — hier also der Wissenschaft — besteht. Auch da scheiden sich die Geister. Lord Jackson of Burnley (1967), Techniker und Wissenschaftler i n einer Person, sagt i n seiner Begrüßungsansprache als gewählter Präsident der British Association for the Advancement of Science eindeutig, die Endaufgabe (ultimate purpose) der Wissenschaft als Verbindungskomplex von spekulativer Theorie und nachgewiesener Tatsache sei, Verständnis und Erklärung bekannter Tatsachen zu liefern und so experimentell nachprüfbare Voraussagen zu machen. Lassen w i r vorläufig beiseite, daß Seine Lordschaft anscheinend nur die experimentellen Wissenschaften als solche anerkennt. Dagegen ebenso eindeutig Bernai (1964): Die Wissenschaft hat sich von ihrem Anfang an m i t der Zukunft beschäftigt. Wenn w i r es interpretieren, heißt es also, sie w i l l die Welt ändern; dabei dürfen w i r w o h l unterstellen, zum Besseren ändern. Die Erkenntnis der Wahrheit ist hier also nicht ein Ziel an sich, sondern ein Instrument. Das läuft schließlich darauf hinaus, was bereits Auguste Compte verkündet hat: Savoir pour prévoir pour pouvoir. (Wissen, um vorauszusagen, aber auch das wieder nur, um zu können.) Diese Auffassung ist also betont intentioneil. Wenn ich lediglich wissen w i l l , dann werde ich höchstens mein Wissen verkünden. Wenn ich können möchte, dann w i l l ich i n das Weltgefüge eingreifen. Es ist kein Zufall, daß gesellschaftlich engagierte Wissenschaften oder Wissenschaftler eher zur zweiten Auffassung neigen, Naturwissenschaftler oft die erste vertreten, wie etwa Hahn (1963), der zwar ebenfalls Intensionalität, die aktive Bemühung des Menschen, betont, die nach seinen Worten jedoch auf das Erstellen eines „möglichst gültigen Weltbildes", also der wissenschaftlichen Wahrheit, abzielt. Es bleiben uns einige behelfsmäßige Ansätze übrig, um den Begriff der Wissenschaft etwas mehr aufzuhellen. W i r können eine semantische, eine wortinhaltliche Analyse versuchen; gewiß hängt Wissenschaft m i t Wissen zusammen. Wenn w i r allerdings Dr. Faustus als den Prototyp heranziehen, der alle Informationen seiner Zeit i n sich aufgenommen hat, kämen w i r vielleicht eher zum Begriff des heutigen Gelehrten, bei dem das aktive Erwerben von wissenschaftlicher Erkenntnis schwächer anklingt und der mehr ein enzyklopädisches Aufnahmevermögen betont. K e i n Mann von der Straße würde wahrscheinlich sagen: Gelehrte haben eine Raumkapsel gestartet; wohl könnte man sich jedoch einen Gelehrten, gebeugt über assyrische Textfragmente, vorstellen. Wissenschaftler klingt nach großen Laboratorien, riesigen Apparaturen und ab und zu

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auch nach Pressekonferenzen — Gelehrter nach einem ruhigen Bücherraum i n einem alten Universitätsgebäude. Ich befürchte, Gelehrte können i n absehbarer Zeit durch maschinelle Verarbeitung von Informationen verdrängt werden, dagegen Wissenschaftler und Hochschullehrer als Erzieher kaum. Dann ist noch der Begriff Forschung da. Nach Chorafas (1963) ist sie „das Streben, das systematische Fortschreiten i n der Lösung der Probleme". Folgerichtig arbeitet Forschung an der eigenen Vernichtung; denn je mehr w i r wissen, desto weniger brauchen w i r noch zu lernen. Merkwürdigerweise t r i f f t aber das Gegenteil zu; m i t jeder bedeutenden Entdeckung werden wenigstens zwei Richtungen neu erschlossen: eine i n die gesellschaftliche Praxis der Nutzung, die andere rückwirkend i n die eigene Disziplin, die dadurch bereichert oder auch umstrukturiert wird. A u f jeden Fall entsteht eine Reihe neuer Fragestellungen, die man vor der Entdeckung überhaupt nicht hat auf werfen können; denn sinnvolle Fragen zu stellen, ist der Weisheit erstes Wort. Es zwingt sich dabei die Frage auf, ob das Statische, das bereits Fertige, einen größeren Sinn für den Wissenschaftler hat als das erst zu Erreichende, das noch Widerstand bietet, das Dynamische der Erkenntnis. Ist es nicht vielleicht so, daß das einzige Charakteristikum, das eben alle Wissenschaften vereinigt, ohne Rücksicht darauf, ob sie experimentell oder spekulativ, massenanalytisch oder kasuistisch arbeiten, der Übergang vom Nichtwissen zum Wissen ist; ähnlich wie eine Bergwanderung eben nicht etwa darin besteht, daß man durch eine überirdische Macht sofort auf die höchste Spitze gesetzt wird, sondern m i t dem Berg Meter für Meter der Spitze entgegenwächst? R. L. Stevenson schreibt diesen merkwürdigen Satz: " I t is sometimes better to travel hopefully than to arrive." Als Mitglieder einer industriellen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wehren w i r uns gegen eine solche Vorstellung. Die Wissenschaft ist doch ein Instrument des Menschen, geschaffen zu seiner Hilfe; sie hat eine Mission, die durchaus ernst zu nehmen ist; sie soll das Leben zum Besseren hin verwandeln und vielleicht sogar retten. Vorweg genommen, daß zwischen beiden Aussagen kein unüberwindlicher Gegensatz bestehen bleiben muß, sollte man vielleicht folgendes bedenken: Welche gesellschaftliche Notwendigkeit hat am Anfang des 13. Jahrhunderts den Kaiser Friedrich II. veranlaßt, feststellen zu wollen, welche Sprache Kinder sprechen würden, die von Geburt an von niemandem angesprochen werden? (Salimbene di Parma, 1221—1288). Er hat dabei die tödliche Wirkung der psychischen Deprivation i m Kindesalter entdeckt, eine Entdeckung, die ganz neu erst nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht werden mußte. Damit ist er der eigentliche Begründer der Persönlichkeitsforschung. Auch die Ent-

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deckung bzw. Neuentdeckung der Elektrizität durch Galvani i m Jahre 1789, die Kapitza (1960) als die erste maßgebende — w e i l unvoraussagbare — Entdeckung der modernen Physik nennt, entstand nicht etwa auf Bestellung eines Konzerns; der Werdegang war eben umgekehrt. Ebensowenig war der Brünner A b t Georg Mendel, der Begründer der Genetik, ein Landwirtschaftsforscher. Mönche, Hochschullehrer und weltliche Fürsten mit philosophischen Interessen — das sind die ersten Wissenschaftler gewesen. Ein Beruf des Wissenschaftlers existiert vorerst nicht; denn Wissenschaft ist mehr ein Spiel, ein Turnier gegen einen schweigsamen Gegner: die Natur. Trotzdem zeigt eben das Beispiel von Galileo Galilei, daß mitunter gewisse Befunde plötzlich noch politische Bedeutung gewinnen und daß zwar das Finden von Wahrheit ziemlich frei ist, nicht immer jedoch ihr Verkünden. Nun ist allerdings wenigstens über Archimedes bekannt, daß er sein Wissen zu einem gesellschaftlichen Zwecke verlieh. Obwohl er dafür den höchsten Preis zahlen mußte, blieben diese seine Bemühungen ohne Spur verschollen, während sein Gesetz auch heute keiner sich als Wissenschaftler i n den Gang der weltlichen Dinge nicht einmischen sollen? Ich neige zu der Auffassung, man hätte ihn vielleicht früher um Hilfe bitten sollen, ehe es zu spät war. Das ist auch in der neueren Zeit nicht immer geschehen. Nun, wie es denn auch sein mag, es wäre ganz und gar falsch, einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen den inneren Triebkräften der Wissenschaft und der „gesellschaftlichen Bestellung" konstruieren zu wollen. Der Wissenschaftler geht mit einer gewissen Leidenschaft seiner wissenschaftlichen Neugier nach; die Gesellschaft verwertet seine Befunde. Ein Wissenschaftler soll jedoch niemals zu einem Angestellten werden, der eben irgendwie sein Brot verdient. Dem ist auch eine wirksame Schranke durch das lange Heranreifen gesetzt, das den Berichtigung bedarf. Soll daraus etwa geschlossen werden, er hätte persönlichen Lebenslauf i n eine fachliche Tradition umformt. Obwohl allgemeine wissenschaftliche Grundprinzipien für die meisten Wissenschaften gelten, ist es nicht denkbar, daß jemand von der Musikkunde zur Atomphysik oder von der Entomologie zur Kybernetik wechselt, wie es dagegen i n der Kunst oft der Fall ist, um ein anderes Gebiet der K u l t u r zu nennen. Das sachbezogene Interesse am Gegenstand kompensiert auch materielle Nachteile, die der Wissenschaftler i m allgemeinen einzustecken hat. Obwohl er keineswegs zum Proletariat gehört, könnte er doch mehr oder sogar bedeutend mehr als Unternehmer oder Geschäftsdirektor verdienen. Abgesehen vom ideellen Wert, ist wohl die höchste finanzielle Anerkennung eines Wissenschaftlers der einmal i m Jahr verteilte Nobelpreis. Er stellt den Gegenwert vieler Jahre voller

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Bemühungen — wenn nicht des ganzen Lebens — dar. Und doch beträgt er nur soviel, wie ein Schlagersänger i n 14 Tagen kassiert, oder etwa das Doppelte des „Schmerzensgeldes" eines entlassenen Quizmasters. Kennzeichnend ist auch eine Zeitschriften-Karikatur aus den Vereinigten Staaten, i n der vor einer Hochschule der Parkplatz für Studenten voller Kraftwagen ist — der der Professoren aber voller Fahrräder. Ich bezweifle jedoch, daß die Professoren darüber sehr unglücklich sind. Man unterhält sich eben herrlich in der Wissenschaft; wenn gleichzeitig nützlich für die Welt, um so besser. Wenn man diese zwei Quellen des Interesses für die Wissenschaft i m Auge behält, scheinen auch die nicht seltenen Streitigkeiten inhaltslos, woher die Anregungen zur wissenschaftlichen Arbeit kommen, ob sie vom Individuum ausgehen oder von der Gesellschaft. Natürlich geben beide Seiten die Impulse. Wehe jedoch einer solchen Regelung, die überhaupt keinen Raum für die Seitengänge des wissenschaftlichen Interesses frei ließe! Erfahrungen zeigen, daß dann sehr bald die Wissenschaft i n Entwicklungsarbeit oder Tatsachenstudien entartet, ohne die Wichtigkeit dieser Tätigkeiten bestreiten zu wollen. Aber sie sind eben keine Wissenschaft; sie mögen auch neue Erkenntnis bringen, jedoch keine allgemeingültige. Wäre nur das Aufgabe der Wissenschaft, unumstößliche Aussagen über bestehende Tatsachen zu liefern, dann wäre ein Telefonverzeichnis schon ein absolutes wissenschaftliches Werk. Ich darf Sie also ebenso enttäuschen, wie mich namhafte Autoren enttäuscht haben, weil sie keine einheitliche Definition des Begriffes Wissenschaft darbieten konnten. Trotzdem können w i r die wesentlichen Merkmale der Wissenschaft aufzählen: 1. Sie ist eine Tätigkeit, die ins Ungewisse einen Vorstoß unternimmt, um es oder seine Glieder gewiß und überschaubar zu machen; darunter ist das Ungewisse der Menschheit und nicht des Einzelmenschen zu verstehen. 2. Sie sucht das Gefundene zu ordnen i n ein System, d.h. in ein Gefüge, wo ein Befund dem anderen nicht widerspricht. Lücken i n diesem System sind provisorisch durch begründete Vermutungen (Hypothesen und Theorien) zu überbrücken, die für eine von der Person des Prüfers unabhängige Uberprüfung offenstehen. Inkongruenz zwischen Denken und Erfahrung muß durch Anpassung des Denkens an die Erfahrung beseitigt werden (Jordan, 1963). 3. Das so geschaffene und ununterbrochen berichtigte System der unabhängig gesicherten allgemeingültigen Erkenntnisse ist zur Voraussage konkreter Wirklichkeit anzuwenden; dadurch erfüllt die Wissenschaft ihre höchst ökonomische Sendung, denn sie erspart

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Ich finde durch Punkt 3 auch genügend die Forderung berücksichtigt, die Wissenschaft ziele i n die Zukunft (Bemal, 1964), der ich persönlich beipflichte. Mehr verlangen kann man von Wissenschaftlern als besonders weitblickenden und unvoreingenommenen Bürgern, jedoch nicht von der Wissenschaft als Kategorie. Ob die Welt vernichtet werden soll oder nicht, ist eine Frage, die wissenschaftlich nicht beantwortet werden kann, sondern nur menschlich. Ganz allgemein gesprochen, müssen die Zukunft alle Bürger schaffen, und einem Maurer oder einem Abgeordneten kommt darin nicht weniger Verantwortung zu als dem höchstgebildeten Wissenschaftler; allerdings ist dieser besonders verpflichtet, nicht nur auf die augenscheinlichen Gesichtspunkte zu verweisen, sondern auf die, die nur er als Sachkenner abzuschätzen oder vorauszusehen imstande ist. I n dieser Richtung nicht allgemeiner, sondern konkreter gesellschaftlicher Entscheidungen muß der Wissenschaftler — auch wenn er nicht danach strebt — viel stärker als bisher politisch i n den Vordergrund treten. Es ist kein gutes Zeichen, wenn als gesellschaftliche Reformer lediglich Schriftsteller auftreten. Dabei ist nicht die Reform der Welt Aufgabe der Wissenschaft, sondern das Projekt einer reformierten Welt. Auftraggeber und Erbauer sind w i r alle, hingegen Architekten die einzelnen einschlägigen Wissenschaften. Wenn die Politik das „Was" festsetzt, steht der Wissenschaft das „Wie" zu. Selbstverständlich gibt es Wissenschaftsdisziplinen, die nicht voll die oben genannten drei Punkte ausschöpfen. Manche von ihnen leben sich mehr oder weniger i n der Taxonomie aus, i m Ordnen einzelner Befunde; anderen ist überhaupt die Möglichkeit nachprüfbarer Voraussagen versperrt, ohne daß w i r diese Begrenzungen als Wertungen hier aufzählen. Es ist nicht die Schuld eines Historikers, daß er nicht noch einmal die Schlacht bei Solferino m i t etwas geänderten Bedingungen reproduzieren kann; er ist jedoch i n der Rolle eines Detektivs (übrigens heißt die Übersetzung dieses Wortes „Entdecker" oder „Aufdecker"!) bzw. Untersuchungsrichters, der alle Indizien erst überhaupt finden und dann ohne Rücksicht auf seine Sympathien prüfen muß, w i l l er die Wahrheit finden. Wenn es nun gelänge, eine solche Betrachtungsweise allen Menschen einzuimpfen, ihnen beizubringen, alle Für und Wider nicht m i t emotioneller Anteilnahme, nicht mit bereits vor dem Prüfen fertigen Urteilen, sondern mit der Kühle eines Richters abzuwägen, hätte sich dann die Wissenschaft nicht bereits hochverdient gemacht, auch wenn sie uns keine Raumkörper und Kernwerke geboten hätte? Tatsächlich betont Jordan (1963) die Bedeutung der Wissenschaft eben i n ihrer Einfluß-

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nähme auf die A r t des Denkens, auch wenn er vielleicht als Physiker mehr das streng folgerichtige mathematische Denken meinen mag. Und ich glaube, zumindest i n Europa bereits eine Wandlung i n den letzten Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg feststellen zu können, eine Wandlung von nationalistischen und anderen Phrasen zu einer selbstkritischen Betrachtungsweise, die wenigstens prinzipiell zugibt, daß auch der andere recht haben kann und daß seine Einwände ernst und ehrlich zu prüfen seien. A u f dem Wege zu größerer Anteilnahme einzelner Wissenschaften am Zukunftsprojekt der Welt liegt allerdings ein keineswegs leichtes und dabei entscheidend wichtiges Problem. Seit mehr als 100 Jahren, die eine gegenwartsbestimmende Entwicklung der Wissenschaft kennzeichnen, war ihr wesentlicher Zug die Analyse. Sie war zugleich ihre Stärke; denn eben sie hat ein systematisches Prüfen einzelner Kreise und Phänomene ermöglicht. Es ist doch geradezu typisch, daß K u r pfuscher immer eine Ganzheitsbetrachtung des Patienten durch „Einfühlen" versuchen oder ihn auch ganzheitlich durch „Fluidum, Magnetismus" und ähnliches zu beeinflussen suchen, während die auf Wissenschaft gestützte Medizin einzelne Funktionen prüft und ihre Einwirkungen genau zu lokalisieren sucht. Und trotzdem ist eben jetzt die Zeit eines unumgänglichen Wandels herangereift, soll die Wissenschaft nicht ihre Früchte von nicht v o l l sachverständigen Interpreten gefährdet sehen. Sie muß auch die Synthese, und zwar ebenfalls auf wissenschaftlicher Höhe, i n Angriff nehmen, und sie kann es nunmehr auch tun. Diese Möglichkeit ist historisch zum ersten M a l durch die Technik der Datenverarbeitung überhaupt gegeben. Diese Möglichkeit ist allerdings nicht einer Erfüllung der Aufgabe gleichzusetzen; denn i n manchen Disziplinen — und besonders i n den Wissenschaften, die den Menschen selbst zum Gegenstand haben —, wissen w i r über Wechselwirkungen katastrophal wenig. Das alles muß erst durch experimentelle Arbeit neu erschlossen werden, bevor w i r Modelle aufstellen können, die dann von Rechenmaschinen seriell bearbeitet werden, bevor w i r die Bezugswirkungen durch Formeln ausdrücken können. Daß es vorerst eine Maßarbeit und noch keine Serienfertigung sein kann, möchte ich nur an einem Beispiel klarstellen. Man sollte annehmen, daß sich verschiedene Belastungen des Menschen einfach addieren und daß eine Person unter Hitze, Lärm, psychischer Anstrengung eher zusammenbrechen müßte als unter diesen Noxen, gesondert angewandt. Nun ist nicht nur eine gewisse „Schutzwirkung" von Kohlendioxyd gegen Hitzewirkung gefunden worden, sondern Broadbent (1963) hat auch weitere verflochtene Kompensationen gefunden. Die trostlose Lage eben der Synthese i n den Wissenschaften vom Menschen, trotz Erfolgen i n einzelnen gut abgrenzbaren Richtungen, hat vor einem Jahr Chapanis

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(1967) veranlaßt, weitgehend K r i t i k zu üben an der Übertragung von i m Labor gefundenen Ergebnissen i n die gesellschaftliche Praxis. Es stimmt, daß i n den technischen Grundlagenwissenschaften und ihrer Anwendung i n der Technik die Sachlage viel günstiger ist. Doch muß gleichzeitig beunruhigen, wenn Jackson of Burnley (1967) feststellt, der Techniker müsse die Fähigkeit besitzen, Entscheidungen auch aufgrund unvollständiger Data und dabei unter Zeitdruck zu treffen. Sollen seine Maschinen trotzdem laufen und seine Häuser nicht einstürzen, dann würde er also mehr schaffen als ein Wissenschafter — eine unheimliche Vermutung. Und doch kann auch der Wissenschaftler durchaus m i t unvollständigen Unterlagen arbeiten, und er t u t es auch ununterbrochen — nur darf er nicht den Unterschied vergessen, was als mehr und was als weniger wahrscheinlich nachgewiesen ist; denn auch der Beweis ist immer nur eine Wahrscheinlichkeit, obwohl eine hochgesicherte! Dabei haben die technischen Wissenschaften trotz anderer Hürden ihre Aufgabe dadurch wesentlich erleichtert, daß ihre Problemkreise überhaupt eine begriffliche Trennung zulassen. Man kann wohl ein hervorragender Sachkenner für Dieselmotoren sein und doch von Elektromotoren nichts verstehen. Dies ist durchaus nicht das Ideal, denn Anregungen kommen meistens aus fremden Revieren, aber es ist gut möglich. Wir, die um den Menschen forschen, sollen ihn jedoch immer als Ganzes verstehen; denn er ist es auch. Sogar die Praxis stellt uns Ganzheitsfragen, und da versagen w i r , obwohl w i r viel wissen, es aber doch nicht voll systematisieren können. Die ganz jungen Systemwissenschaften sind gewiß eine große Hoffnung für uns, aber der Umfang der anfallenden Arbeit ist kaum vorstellbar. Eine gewisse Annäherung erlaubt das von Kapitza (1960) angeführte Beispiel aus der Metallurgie. Wenn die Beschreibung aller Eigenschaften eines Metalls 1 Druckseite erfordert, dann wären es bei 100 Metallen eben 100 Seiten; Legierungen zweier Metalle würden dann 5 • 103 und dreier Metalle 5 • 105 Seiten verlangen. Wenn man an die Zahl der zu beschreibenden menschlichen Parameter, Eigenschaften und Maße denkt, muß man den M u t verlieren; und dabei ist auch ihre Beschreibung und Sortierung noch i m Anfangsstadium. M i t Recht sieht man daher die Zukunft i n anthropologischen und biologischen Wissenschaften. Der Mensch weiß schließlich am wenigsten über sich selbst, unendlich viel weniger über die Tiefen seines Wesens als über die Höhen des Weltalls. Wenn er etwas weiß, dann das, was überhaupt einmal vorkommen kann, z.B. aus der menschlichen Pathologie, jedoch kaum je, wie oft und wann es i m konkreten Fall eintreten wird. Lassen Sie mich das am Beispiel des menschlichen Versagens darlegen: Straßenunfälle kosten die Welt jährlich mehr als 100 000 Tote (Hindle, Edwards u. Kirk, 1964), z. T. i m produktivsten Alter; weit mehr als alle Flugzeugkatastrophen insgesamt. W i r besitzen eine unüberschaubare Menge von Labor-

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Untersuchungen nur zum maßgeblichen Problem der Vigilanz, die aber trotzdem wenig Wertvolles für praktische Verhältnisse liefern (Kibler, Jerison u. Pickett, 1963). Warum sollte man dann tatsächlich noch weitere Untersuchungen bei der Zulassung von Kraftfahrern anordnen, wenn man mit ihren Ergebnissen vorläufig nichts anzufangen weiß, weil uns die Kriterien fehlen. Es ist doch bekannt, daß u. U. Taubstumme zu den sichersten Fahrern gehören, obwohl jede Zulassungsbehörde aufgrund des „gesunden Menschenverstandes" Fahrer mit körperlichen Gebrechen von vornherein ausschalten möchte. Und doch sind zusätzliche Untersuchungen ein aussichtsreicher Weg — allerdings vorläufig nicht zur Begründung irgendeines Fahrverbotes —, vorausgesetzt, daß sie mit den modernsten Ansätzen der Datenverarbeitung eine Zeitlang bearbeitet und zusammengelegt werden. Dann kann es durchaus passieren, daß allmählich Zusammenhänge auftauchen, so wie erst eine Flugaufnahme i m Sand der Wüste eine verschollene Siedlung an ihrem Grundriß erkennen lassen kann, obwohl früher unzählige Karavanen ahnungslos vorbeizogen. Ein anderes Beispiel dürfte noch enger jedermann ansprechen: Immer wieder kann eine Krankheit nicht befriedigend gedeutet werden, nur weil w i r nicht den Ausgangsstand kennen, eine „Beschreibung" der Persönlichkeit, sowohl physisch als auch psychisch aus der Zeit stammend, als sie noch nicht als kranker Mensch vor uns stand, also eine Bestandsaufnahme der Gesundheit. Alle diese Erhebungen scheitern nicht nur an der Abneigung des Menschen, etwas m i t sich unternehmen zu lassen, sondern vor allem an Mitteln. Dazu gesellt sich auch die Unlust der Wissenschaftler, jahrelang auf die Ergebnisse zu warten. Deshalb ist eine longitudinale Forschimg, die 10 oder 20 Jahre verläuft, eine ganz seltene Ausnahme. So schreibt Ardie Lubin (1967) zur Frage, warum w i r wissenschaftlich so wenig über die Folgen eines mangelnden Schlafes und umgekehrt über seine optimale Dauer wissen: Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß viele chronische Experimente nötig wären, und nur sehr wenige Wissenschaftler verfügen über die notwendigen Mittel. Uberhaupt gewinnt die Frage der Organisation und der Leitung wissenschaftlicher Arbeit immer mehr an Bedeutung, proportionell zum Umfang der Mittel, die bereitgestellt werden müssen. Hier ist es am Platz, zum Begriff der Forschung zurückzukehren. Er beinhaltet sinngemäß eine mehr dynamische Auffassung als der Begriff der Wissenschaft. Aber w i r können die Dynamik auch der Wissenschaft keineswegs absprechen, und dagegen ist die Bemühung — sagen w i r — eines klassischen Philologen nicht weniger systematisch, obwohl sie kaum jemand bei uns etwa m i t dem angelsächsischen Begriff „research" identifizieren würde. Forschung als Phänomen t r i t t erst i n diesem Jahrhundert i n den Vordergrund und hat ihre Instrumente, die

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spezialisierten Forschungsinstitute, zu einem Massenmittel der Erkenntnis entwickelt. Die Forschung ist die Wissenschaft des Maschinenzeitalters, ebenso wie der Großbetrieb seine Fertigungsform ist. Man reitet aber auch heute noch zu Pferde und stellt Luxuspapier i n handwerklicher Weise her. Es gibt Wissenschaftszweige, wo Formen individueller Stückfertigung durchaus berechtigt oder gar vorteilhaft sind. Man w i r d kein Forschungsinstitut einrichten, u m Inspirationsquellen europäischer Dichter des 19. Jahrhunderts kreuz und quer zu erforschen, w e i l uns das nicht einmal mehr gute Dichter brächte. Dabei werden sich immer Hochschullehrer gern m i t solchen Fragen beschäftigen, u m ihre erzieherische Wirkung zu unterbauen. Denn ohne wissenschaftliches Bemühen müßte die Hochschule auf das Niveau einer Grundschule herabsinken. Das Maschinenzeitalter brachte u. a. auch die Arbeitsteilung; so auch i n der Wissenschaft, obwohl sie hier i n ihren Auswirkungen noch fraglicher als sonst erscheinen muß. Sie erfolgte auch i n anderen Richtungen und besonders i n Form einer tiefgreifenden Spezialisierung. A u f jeden Fall ist die gegenwärtige Forschung durch große und geschichtete Arbeitskollektive gekennzeichnet; mein eigenes Institut hat z. B. mehrere hundert Mitarbeiter. Die Leitung solcher Kollektive ist eine A u f gabe sui generis; da wächst schon die Betriebsführimg über die wissenschaftliche Führung weit hinaus. Soll dann die Führung einem Organisator von Beruf überantwortet werden? Oder soll auch dann ein Wissenschaftler — und wahrscheinlich müßte es der angesehenste sein — an der Spitze bleiben? Obwohl für die verschiedenen Möglichkeiten Argumente ins Feld geführt wurden, hat die Praxis vorläufig keine Wahl getroffen und eben diese verschiedenen Möglichkeiten beibehalten. Der bekannteste Fall, wo ein Laie ein höchst kompetentes Team leitete, ist wohl der der ersten Atombombe. Und doch zeigt er einleuchtend, worum es geht. Der zuständige General Groves war keineswegs ein wissenschaftlicher Leiter des Teams, sonst wäre wahrscheinlich die Welt noch heute von der Bombe verschont geblieben. Er war i m wahrsten Sinne des Wortes ein Verwalter. Seine Mission bestand darin, alles zu besorgen, was nötig war, und auch alle Forderungen nach außen durchzusetzen. Damit war die kostbare wissenschaftliche Kapazität der „Eierköpfe" voll für die Hauptaufgabe vorbehalten. Dr. Oppenheimer und andere brauchten keineswegs lange Stunden m i t Verhandlungen i m Pentagon und auf Anreisewegen zu vergeuden. Einer solchen Regelung kann jeder Wissenschaftler nur zustimmen, und ich vermute, sie w i r d i n der Zukunft die einzig gangbare sein angesichts der sich als ein wissenschaftlich fundiertes Fachgebiet entwickelnden Betriebsorganisation. Diese w i l l Fachleute heranbilden, die ebensogut eine Käsefabrik auf einem Optimalstand betreiben können wie einen Seehafen. Ein Forschungsinstitut ist schließlich zunächst

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auch nur ein Instrument, das immer scharf sein soll. Was für ein Brot und wie es damit geschnitten wird, kann allerdings nur ein sehr weitblickender Wissenschaftler m i t gewisser Sicherheit bestimmen. Anders als ein Wissenschaftler, der an seinem Lehrstuhl nur seine Lehrtätigkeit durch vollkommen frei gewähltes Forschen zweckmäßig ergänzt, w i r d ein Forschungsinstitut von nun an immer unter einer gewissen Kontrolle der Gesellschaft stehen. Das ist begreiflich sowohl angesichts der großen materiellen Unterstützimg, über die öffentlich oder wenigstens i n einem Fachgremium entschieden werden muß, als auch angesichts der Bedürfnisse, die zur Stiftung eines großen wissenschaftlichen Kollektivs geführt haben. Die Gesellschaft ist allerdings fähig, ihre Belange nur i m größten Rahmen zu formulieren — etwa als Verlangen nach neuen Kraftquellen oder nach besserer Sicherung der Gesundheit. Es ist gut so, w e i l gleich diese Etappe m i t zwei großen Problemen behaftet ist: Außerhalb der Forschungseinrichtung läuft ein Streit um Proportionen — wer und wieviel. Bisher besitzen w i r kein Maß für eine exakte Bestimmung, sogar innerhalb einer einzigen Disziplin, w e i l bereits hier verschiedene Sachkenner m i t guten Begründungen unterschiedliche Standpunkte über die zu vergleichenden Wichtigkeitsgrade vertreten. Einen Schiedsrichter kann und w i r d es sobald nicht geben. So ist die Zuteilung von Mitteln überall auf der Welt eher die Kunst, den Kuchen so zu verteilen, daß das kräftigste K i n d am wenigsten schreit, als daß das am wenigsten ernährte aufholt. Dabei ist es oft so, daß viel Vorrat an wissenschaftlichem Wissen hier ist — besonders i n den technischen Wissenschaften —, aber nicht ausgenutzt w i r d aus weiteren, meist ökonomischen Gründen. Als Beispiel können Nahverkehr und Stadtverkehr dienen, die vom Raumverkehr trotz seiner riesigen Probleme doch bereits überflügelt sind. Heute dauert ein Flug ins Ausland ebenso lange wie die Fahrt vom Flugplatz ins Stadzentrum; und wissenschaftlich ist dabei gar nichts und technisch kaum etwas zu lösen. Owen Young von der General Electric Co. hat offen zugegeben, daß neue Erzeugnisse dieser Gesellschaft immer etwas hinter dem neuesten Fortschritt zurückbleiben (Calder, 1954); und es dürfte sich kaum eine Gesellschaft finden, wo die Entwicklung des Erzeugnisses nicht zu einer ähnlichen Verzögerung führt. Das zweite Problem, m i t dem die Etappe des Anlaufs von Forschung behaftet ist, löst sich bereits innerhalb des betreffenden Sachgebietes. Es ist die sachgerechte „Übersetzung" i n die Sprache der konkreten Forschung, ohne die keine analytische Lösung möglich ist. Diese Übersetzung ist m i t der Wahl der Methoden verknüpft. Wenn man jung i n die Hochschule eintritt, hat man wenigstens die Sehnsucht, etwas i n dem gewählten Fach zu leisten. Ist man mehr wissenschaftlich als praktisch ausgerichtet, dann möchte man vielleicht die Frage der 7 Tagung Dortmund 1968

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Krebsheilung lösen oder einen Motor m i t 80 vH. Wirkungsgrad bauen. Das Wertvollste, was man noch an der Hochschule in dieser Richtung lernen kann, ist das, daß man zu diesem Ziel Hunderte von kleinen Fertigkeiten erlernen muß, vom Rattenfüttern über Instandhaltung von Meßinstrumenten bis zur Berechnung von Signifikanzen, auch wenn man später viel davon anderen Mitarbeitern anvertrauen kann. Als Ganzes kann ein großes Problem nur i n Romanen, nicht jedoch i n der Wissenschaft i n Angriff genommen werden. Eine absolute Notwendigkeit führt also zu einer Aufsplitterung des Perspektivproblems, und man spürt oft, daß nicht nur der einzelne Wissenschaftler den Preis einer Fachblindheit dafür zahlen muß, sondern auch daß die erneute Synthese den Einzelergebnissen nachhinkt oder daß sie sogar völlig mißlingt. Es stehen zuviele an sich vorzügliche Arbeiten i n der wissenschaftlichen Gegend als einsame Monumente herum, ohne i n das Gesamtbild eingegliedert zu werden. Allzuoft verschiebt sich sogar das gesamte Zielinteresse des Wissenschaftlers vom ursprünglichen Ziel zu einem Ersatzziel, sagen w i r , vom Problem der menschlichen Fettleibigkeit zur Chemie des Pentosezyklus. Schlimm ist, wenn man nicht den Weg zurück zur Gesamtfrage findet; allerdings darf man mehr Anerkennung als besonders spezialisierter Forscher erwarten. Corlett (1967) schreibt m i t einer bewundernswerten Selbstkritik den Briten eine vom Snobismus diktierte Bevorzugung der „reinen" Wissenschaft zu. Ich finde es überspannt; dieser Snobismus ist nämlich über die Grenzen von Staaten, ja, sogar über die Grenzen von Machtblöcken erhaben. Die riesigen Schwierigkeiten und Gefährdungen, denen ein Wissenschaftler i n der angewandten Forschung ausgesetzt ist, zahlen sich nicht aus. Vor allem riskiert er seinen wissenschaftlichen Ruf, wenn Verflochtenheiten der Praxis — und besonders der gesellschaftlichen Praxis — seine sonst gut begründeten Annahmen über den Haufen werfen. Es t r i t t eben das ein, was — wie bereits erwähnt — Chapanis (1967) analysiert hat: Fragen der Praxis werden nicht komplex und konsistent gelöst. U m das zu erreichen, ist jedoch nicht nur eine neu aufzubauende Methodologie der Synthese erforderlich, sondern auch eine viel größere Anerkennung der Gesellschaft für die bisher „unterernährte Etage" der Wissenschaft, die sog. zweckgerichtete Grundlagenforschung (OECD, 1968), unumgänglich. Dieser Begriff wurde aus der Erkenntnis heraus geprägt, daß die frühere problemlose Teilung i n Grundlagenforschung und angewandte Forschimg ihren Sinn verliert. Bei der Abgrenzung gegenüber Entwicklung ist dabei auszugehen, daß Forschung keine Einzelfälle löst, es sei denn, es handelt sich um Modellund Bewährungsfälle oder auch u m Ausgangsmaterial. Die Entwicklung hat dagegen konkrete Anwendung unter Beibehaltung einer wissenschaftlich festgelegten Konzeption zu besorgen. Demgegenüber stellt sich die sog. freie Grundlagenforschung ihre Probleme selbst, wenn auch

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hier keine absolute Abdichtung gegen die zweckgerichtete herrschen sollte. Besonders durch Personalmaßnahmen, auswärtige Mitarbeit und Aufenthalt i n Instituten der anderen Gattung sollte ein tiefes gegenseitiges Verständnis gefördert werden. Immer da, wo es die Wissenschaft versäumt, ihre Aussagen selbst aufzubereiten und sachgerecht der Gesellschaft sozusagen ins Haus zu liefern, finden sich andere Vermittler, die nicht immer auf der Höhe der Probleme stehen; was schließlich begreiflich ist, da sie eben nicht entsprechend vorgebildet sind. Wäre es anders, dann müßte man m i t Hecht fragen, wozu eigentlich eine Fachausbildung auf Hochschulniveau notwendig sei, wenn man ohne sie ebensogut auskommt. Als Beispiel einer wenig zweckmäßigen Ausfüllung einer Lücke i m Gang der wissenschaftlichen Aussage bis zur Anwendung könnte der Industrial Design dienen, soweit er sich anmaßen w i l l , arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse i n stilistische Entwürfe von Erzeugnissen zu integrieren. Wie eine solche Integration ausfallen muß, wenn sie ein Formgestalter ohne wissenschaftliche Ausbildung besorgen w i l l , haben mehrere Autoren dargelegt (Shackel, Wilkes u. Blake, 1958, Schwarzenbach, 1966, Tope, 1966, Tejmar, 1967). Tope beschuldigt die Stilisten einer Mitverantwortung an Kraftwagenunfällen, bei denen es durch stilistische Unzweckmäßigkeiten zu einer Erschwerung des Wagenführens kam (z. B. Verwechslung von Lichtschaltung m i t Scheibenwischerschaltung dort, wo eine unübersichtliche Anordnung von gleich aussehenden Betätigungsknöpfen aus sog. ästhetischen Gründen entworfen wurde, Kantenbildung i m Wageninnern anstatt Abrundungen u. a. m.). Kefauver (1967) faßt die Meinimg der amerikanischen Consumers Union zusammen, nach der „der moderne Styling nur dazu geschaffen wurde, u m sowohl das A u t o als auch den Fahrer zu behindern" (S. 100); i n Wirklichkeit jedoch dazu, u m die Kosten eines Kraftwagens i n den Jahren 1956—1960 u m etwa 25 vH. unter Vorwand von „Verbesserungen" erhöhen zu können (Fisher, Griliches u. Kaysen, 1962). Für unsere Fragestellung ist es jedoch wichtiger festzustellen, wieso i n Einzelfällen dann doch ziemlich brauchbare Lösungen von Leuten entworfen werden können, die eigentlich Laien i n Fragen der Betätigungsfunktion sind. Es kommt gewiß eben hier der findige Dilettantismus zur Geltung, der i n einer heuristischen Denkweise unmittelbar und einfallsreich eine Problemlösung ansteuert. Die Sprecher des Industrial Design betonen immer wieder die creativity, die schöpferischen Fähigkeiten, die den Kern der Erziehung von einem Industrial Designer bilden sollen (Crist, 1966). Es w i r f t sich die Frage auf: Braucht ein Wissenschaftler nicht wenigstens das gleiche Maß an Schaffungskraft aufzubieten, oder w i r d er dazu nur ungenügend erzogen? Merkwürdigerweise betont auch Jackson of Burnley (1967) die Notwendig7*

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keit eines schöpferischen Ansatzes für den Ingenieur, nicht jedoch für den Wissenschaftler. Ich glaube auf jeden Fall, auch die Wissenschaft wäre nicht denkbar ohne einen bedeutenden Anteil von Invention, nur ist diese durch einen noch mehr auffallenden Anteil an k r i t i scher Prüfung relativ überschattet. Der Wissenschaftler w i r d erst dann für seine Einfälle anerkannt und belohnt, wenn sich ihre Brauchbarkeit oder Gültigkeit erwiesen hat. Und es ist gut so! Von der Kunst, auch von der angewandten, w i r d dagegen keine Beweisführung verlangt, da dies vom Sachverhalt her unmöglich ist. Das ist der Vorteil des Stilisten und der Nachteil des Konsumenten bei einem vom Stilisten unbefriedigend entworfenen Erzeugnis. Allgemein können w i r m i t der Erziehimg zum schöpferischen Denken keinesfalls zufrieden sein. Unser gesamtes Schulsystem befindet sich gegenwärtig i n einer Sackgasse, wobei der Umfang des menschlichen Wissens exponentiell wächst. Die Bewältigung des Problems verlangt nach einem neuen Comenius, obwohl auch seine Ideen noch nicht konsequent verwirklicht sind. Das Hersagen von Einzeltatsachen bei Prüfungen, besonders an der Mittelschule, w i r d allgemein überbewertet zuungunsten der Zusammenhänge. Erst auf dem diesjährigen UNESCO-Symposium (in Paris) über Hirnforschung und menschliches Verhalten berichtete Jolkonjin (1968) über eine neue Form von Arithmetik-Unterricht, wo allgemeine Bezugsabhängigkeiten und Formeln vor Rechnen mit realen Zahlen behandelt werden. Besonders die schulische Geschichtsschreibung ist immer noch personenbezogen, autoritär geprägt; sie ist eine Könige- und Schlachtengeschichte. Uber die Liebhaberinnen eines parasitierenden L u d w i g X V . kann auch heute noch mancher mathematisch und technisch hochbegabte Student stolpern. Die hussitische Reformation w i r d immer weiter vom Standpunkt eines eitlen Taugenichts Sigismund bewertet und nicht als die erste Bresche freien Denkens i n ein durch Übermacht geschütztes Denkmonopol einer veruntreuenden Kirchenclique, die jeglicher objektiven Prüfung der Dinge und damit der Wissenschaft i n ihrer ersten Entfaltung i m Wege stand. Unser gesamtes Schulsystem belohnt die Konformität m i t dem Lehrer und bestraft die Originalität (Getzels und Jackson, 1963: Divergent phantasy is often called "rebellious" rather than germinal). N i m m t der Drang nach ihr abwegige Formen an? Ist es der Drang nach Selbstverwirklichung, die die Studenten, völlig unabhängig vom jeweiligen politischen System, auf die Straßen treibt? Ich überlasse die Beantwortung dieser Fragen den Interpreten, die dafür kompetenter sind. Eins steht jedoch für mich als Physiologe fest: Die Aggression als eine Komponente der Persönlichkeit ist nicht nur negativ zu werten; negativ kann erst ihre Anwendungsform werden. Wenn w i r diesen starken Trieb einer durchaus gesunden und

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ausgewuchteten Persönlichkeit rechtzeitig kanalisieren und konstruktiv wirken lassen, dann ist sowohl dem einzelnen als auch der Gesellschaft bestens gedient. Und die Wissenschaft scheint eben viele Voraussetzungen zu bieten, spannende Abenteuer zu wecken und zu erleben (McClelland, 1953). Tausende von Jahren verschwenden die Menschen ihre besten Kräfte i m Kampf gegen sich selbst, und erst etwas über 100 Jahre kämpfen sie konsequent gegen die ihnen abgeneigte Natur. Ohne kreatives Denken würde auch die Wissenschaft auf einem — obwohl vielleicht statistisch gesicherten — Standort verharren. Ohne kritisch gezügelte Phantasie kann zwar gute Wissenschaft, niemals jedoch eine Entdeckung zustande kommen. Abschließend möchten w i r die wichtigsten Einflüsse zusammenfassen, die eine fortgeschrittene Phase des Maschinenzeitalters auf die Wissenschaft rückwirkend ausübt, obwohl sie selbst zum größten Teil Furcht der Wissenschaft ist. 1. Wissenschaft ist zu einer gesellschaftlichen Tätigkeit und zum Beruf geworden. I n einigen Disziplinen entstanden große Forscherkollektive m i t einer verflochtenen horizontalen und vertikalen Arbeitsteilung. Diese erzwingt die Entstehung einer neuen Aufgabe, die der inneren Organisation. Zimmerman (1964) schreibt darin den entscheidenden Einfluß dem Computer zu, der dem Forschungsadministrator geradezu schaffen hilft. 2. Diese Entwicklung führt ferner zu einem beträchtlich höheren gesellschaftlichen Einsatz, besonders materieller Art, zugunsten der Wissenschaft und Forschung. Obwohl diese zu der höchsten Verzinsung unter allen vergleichbaren Investitionsanlagen führen, ist es doch begreiflich, daß Entscheidungen über die zu fördernden Richtungen und über den Umfang der Zuschüsse auf immer höheren Ebenen — bis auf einer internationalen — fallen können. Einige Vorhaben übersteigen bereits jetzt die ökonomischen Möglichkeiten von einzelnen Staaten. Dadurch w i r d ferner sowohl ein Zusammenschluß zu höheren regionalen Einheiten gefördert, als auch die Bemühungen u m eine ökonomische Erfassung der wissenschaftlichen Ergebnisse verstärkt — Prestigeprogramme ausgenommen. 3. Die Auffassung von wissenschaftlichen Programmen als Prestigeproblem ist an sich historisch neu. 4. Wissenschaft und Forschung sind i n einen geschlossenen Kreis m i t der Technik und Fertigung eingebaut, i n dem der Kreislauf ständig beschleunigt wird. Das Bruttosozialprodukt der Vereinigten Staaten stieg zwischen 1933 und 1939 von 56 auf 90 Mrd. $ an, aber bis 1955 bereits auf 375 Mrd. $, hauptsächlich dank neuer Fertigungen. So waren u m das Jahr 1955 allein bei General Electric 80 000 Menschen

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Jaroslav Tejmar i n einer Fertigung beschäftigt, die bei Ende des Zweiten Weltkrieges überhaupt noch nicht existierte (Seaborg, 1956). Rückwirkend geht heute ein starker Zeitdruck auf die Wissenschaft von der Industrie aus, die als Mittelglied zur Gesellschaft i n beiden Richtungen w i r k t . Durch diese Beschleunigungstendenzen wächst der Bedarf an Mobilität (Hahn, 1966) i n allen Bedeutungen des Wortes.

5. Mobilitätsneigung wiederum steht in gewissen charakterologischen Zusammenhängen m i t schaffender, kreativer Denkweise. Durch ihre gezielte Erziehung kann ein entscheidender Umschwung i n der Ausrichtung der Wissenschaft herbeigeführt werden, nämlich der Umschwung von überwiegender Analyse zur Synthese. Bisher macht sich diese Ausrichtung bereits bei der Auswahl von Anwärtern für die Wissenschaft geltend. Dabei ist weder die Analyse zu vernachlässigen, noch darf Synthese mit unwissenschaftlichen Methoden, etwa nach sogenanntem „gesunden Verstand" oder nach Ermessen, betrieben werden. Die modernen Datenverarbeitungssysteme machen diese Aufgabe weitgehend real; es bedarf zusätzlich gewisser ideeller Bereitschaft zu diesem Ziel. So w i r f t z.B. Royce (1965) der amerikanischen empirischen Psychologie m i t Recht vor, daß sie auf die Errichtung von Wissenssystemen verzichtet und dadurch ihrer Aufgabe einer Wissenschaft untreu wird. Ein Modellfall synthetischer Ausrichtung ist die synthetische Chemie (Bemal, 1964), obwohl eine Synthese i n anthropologischen und Gesellschaftswissenschaften unvergleichlich schwieriger zu handhaben ist. 6. Erstellung von Synthesen ist nicht nur aus sachlichen Gründen der Fragestellung notwendig, sondern auch aus gesellschaftlichen. Wissenschaft und Forschung tragen immer mehr zu einer Änderung des Weltbildes bei. Bisher verspürt ein Naturwissenschaftler eine gewisse Scheu vor öffentlichen Äußerungen zu breiteren Themen (v. Weizsäcker, 1966), dabei kann manchmal nur er die Tragweite seiner Aussagen deuten. Vorerst kann und muß er als besonders kompetenter Bürger sprechen; gelingt ihm eine exakte Synthese, die kaum an der Anwendung der stochastischen Ansätze vorbeiführen kann, dann formuliert er seine Aussagen i n der Sprache der Wissenschaft. 7. Die bisherigen Arten der Informationsvermittlung sind i n der Wissenschaft nicht mehr aufrechtzuerhalten. Der Umfang läßt sich nur durch intensiven Einsatz maschineller Technik bewältigen, wobei an die baldige Erstellung einer Vermittlersprache zu denken ist, i n welche die Informationen aus den verschiedensten nationalen Sprachen umgekodet und, so verkodet, gespeichert werden. Das Buch als hauptsächliche Kommunikationsform der Wissenschaft hat sich überlebt i n einer Zeit, in der man eine Information sofort und

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direkt abrufen kann — sei es akustisch vom Magnetband, sei es optisch auf einem Fernsehschirm (Tejmar, 1966). Durch Eihbau eines Rechners „on line" könnte man bereits heute nicht nur die relevanten Ergebnisse während des Versuchs selbst verfolgen und entsprechend den Versuchsverlauf modifizieren, sondern sie gleichzeitig i n eine Informationszentrale einspeichern. Doch ich glaube, diese Betrachtungen auszuweiten, ist bereits eine Aufgabe, die über unser Thema hinausgeht. Schrifttum Benjamin, A C . (1965), Science, Technology and Human Values, University of Missouri Press, Columbia, 296 S. Bemal, J.D. (1964), Science and Technology in the World of the Future, in: Training for tomorrow, World Fed, of Scientific Workers, Moscow, 83 S. Broadbent, D. E. (1963), Differences and Interactions between Stresses, Quart. J. exper. Psychol. 15, 205—211. Calder, R. (1954), Science in our lives, Signet Key Books, New Amer. Library of World Literature Inc., New York, 137 S. Chapanis, A. (1967), The Relevance of Laboratory Studies to Practical Situations, Ergonomics, 10, 5, 557—577. Chorafas, D. N. (1963), Die Aufgaben der Forschung in der modernen Unternehmung, R. Oldenbourg, München/Wien, 237 S. Corlett, E.N. (1967), Comments on Murrell's Why Ergonomics?, Occup. Psychol. 41, 29—31. Christ, J. W. (1966), Educating Industrial Designers, Hum. Fact. 8, 4, 361—370. Erlinghagen, K. (1966), Die Wissenschaft in der Bildung des Lehrers, 492—508, in: Integritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit. Hrsg. von R. Wisser u. D. Stolte. Reiner Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen, 516 S. Fisher, F. M., Griliches, Z., Kaysen, C. (1962), 74 th Annual Confer, of American Economical Association, Amer. Econ. Rev. 52, 259, zit nach Kefauver (1967). Getzels, J. W., Jackson, P. W. (1963), The Highly Intelligent and the Highly Creative Adolescent, 161—172, in: Scientific Creativity: Its Recognition and Development, ed. by C.W. Taylor and F. Barron, J.Wiley & Sons, New York/London, 419 S. Hahn, W. (1966), Die Wandlung des Bildungsbegriffes in unserer Zeit, 109—114, in: Integritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit. Hrsg. von R. Wisser u. D. Stolte. Reiner Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen, 516 S. Hindle, T., Edwards, E., Kirk, S. (1964), Motor car design and driving skill; Design 189, 61—65. Holzamer, K. (1963), Wissenschaft. In: Staatslexikon, Bd. VIII, Spalte X X X X , Freiburg/Br.

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Koalition zwischen Medizin und Soziologie als besonderes Erfordernis der Industriegesellschaft Von Prof. Dr. Hans Joachim Jahn, Dortmund Vorbemerkung Der Behandlung des Themas liegt die These zugrunde, daß es i n der modernen Industriegesellschaft bedeutsame Sachverhalte, Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen gibt, deren wissenschaftliche Analyse nur auf der Basis einer engen Zusammenarbeit von Medizin und Soziologie vorstellbar ist. Ausgehend von einer schlaglichtartigen Erhellung lebensweltlicher Grundprobleme, soll versucht werden, diese These zu begründen und die Möglichkeiten eines spezifischen wissenschaftlichen Vorgehens aufzuzeigen. Das Bemühen w i r d vor allem darauf gerichtet sein, den Standort einer Medizin-Soziologie als Wissenschaftskoalition zu bestimmen und die Brauchbarkeit der Theorie anhand von konkreten Beispielen, vor allem aus dem Bereich des Rehabilitationswesens, nachzuweisen. Existentielle Gesamtlage Die Zeichen der Zeit vermögen offensichtlich und zunehmend eine Grundstimmung beim einzelnen und i n der Gesellschaft zu erzeugen, die allerorts Anlaß ist, ein großes Unbehagen zu beklagen 1 . W i r fühlen, daß es sich dabei nicht u m eines jener Schlagworte handelt, die heute kommen und morgen gehen. W i r spüren vielmehr — oder vielleicht richtiger: w i r beginnen zu erkennen, daß dieses große Unbehagen in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden muß m i t der Urangst des Menschen vor Krankheit und Tod, und zwar i n einem Sinne, wie er bis vor wenigen Jahren noch nicht gegeben sein konnte. Was also geht i n unserer Lebenswelt vor, das solche Empfindungen existentieller Bedrängnisse weckt, obwohl w i r , d.h. vor allem die industriellen Gesellschaften, wissenschaftliche, technische, wirtschaftliche und doch wohl auch soziale Leistungen vollbracht haben, die 1

Klenner, F.: Das große Unbehagen, Wien/Stuttgart/Zürich 1960.

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eigentlich das Selbstbewußtsein und damit auch das Lebensgefühl i n zuvor nie gekannte Höhen tragen müßten? Darauf eine A n t w o r t zu finden, ist außergewöhnlich wichtig und schwierig zugleich. Z u kompliziert geworden ist das Wechselspiel zwischen sozialem Wandel und technisch-naturwissenschaftlichem Fortschritt, als daß eine Oberflächenbetrachtung, womöglich noch aus einseitig ideologischer Sicht, das Konglomerat von Zusammenhängen durchschauen ließe. Aber diese i n die Tiefe gehende A n t w o r t auf die Frage nach dem, was ist und w a r u m etwas so ist und nach dem, was sein kann, muß gefunden werden, w e i l nur dann Aussicht besteht, auf die zweite nicht minder wichtige Frage eine A n t w o r t zu finden, nämlich auf die Frage: Was sollen w i r praktisch tun? Wie sollen w i r z. B. sozial- und gesundheitspolitisch entscheiden und handeln i m Interesse einer fortschreitenden humanitären Existenzbewältigung? Beide Kernfragen, jene nach dem, was ist, und jene nach dem, was sollen w i r tun, können begreiflicherweise nur als Hintergrund angedeutet werden; denn ihre eingehendere Diskussion käme dem Versuch einer umfassenden und vielschichtigen Situationsanalyse gleich, die innerhalb des hier zu behandelnden Themas — allein aus Zeitgründen — nicht zu leisten wäre. Es kann jedoch gewissermaßen als die Quintessenz einer solch umfassenden Situationsanalyse unter soziologischen, medizinischen und philosophischen Gesamtaspekten der Hauptnenner umschrieben werden für alle größeren und kleineren Teilursachen der eingangs zitierten allgemeinen negativen Geisteshaltung. Dieser Hauptnenner ist die philosophische Grundfrage nach der Lebens- und Überlebenschance der Menschheit von heute und morgen. Es ist ein Problem, das bislang hauptsächlich genährt wurde von dem nicht mehr umzukehrenden Tatbestand einer möglichen nuklearen Selbstvernichtung. Aber gleichsam i m Windschatten dieses Ungeheuerlichen — und deshalb mit Sicherheit i m Bewußtsein der Menschen noch nicht die Holle spielend, die i h m eigentlich zukäme — schiebt sich ein anderes Problem i n den Vordergrund, das nicht minder ernst zu nehmen ist als jenes der vorstellbaren Selbstzerstörung durch militärische Machtmittel. Die Bevölkerungsflut und der Hunger, unter denen vor allem noch i n der sog. dritten Welt furchtbar gelitten wird, sind zwar ein Teil dieses anderen Problems, aber sie sind es nicht an sich. Was hier gemeint ist, läßt sich nicht i n einem einzigen Begriff zusammenfassen; denn es bezieht sich auf die möglicherweise immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen dem Wollen und dem

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Können des Menschen, zwischen dem, was er sich und anderen an Lebenstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit abverlangt, und seinen biologisch bedingten Grenzen. Es ist also die Rede von dem Problemkreis der vorzeitigen Aufbrauchserscheinungen, der Zivilisationskrankheiten und der Invalidität; ein Problemkreis, der nachhaltigst sichtbar w i r d i n dem ansteigenden Erfordernis der Prävention und Rehabilitation; woraus weiter zu schließen ist, daß w i r es hier m i t einem verhängnisvollen Zusammenhang zwischen sozialem Wandel und den beiden ambivalenten Erscheinungen Krankheit und Gesundheit zu tun haben. Über diesen Zusammenhang muß nun allerdings einiges mehr gesagt werden, u m — davon ausgehend — die Wissenschaftskoalition zwischen Medizin und Soziologie begründen zu können. Es ist ein Zusammenhang, der deswegen als besonders verhängnisvoll zu bezeichnen ist, w e i l er gerade von jener Leistung des Menschen mitverursacht wird, auf die w i r so überaus stolz sind, nämlich auf den medizinischen Fortschritt. „ A u f keinem Gebiete der modernen Zivilisation", so sagt es Mühlmann, „läßt sich die Realität erzielter Fortschritte so unmittelbar quantitativ überzeugend und das menschliche Selbstvertrauen so ungeheuer ermutigend demonstrieren wie auf dem Gebiete der modernen Heilkunde; und innerhalb der Heilkunde wiederum sind die realen Fortschritte, die erzielt wurden, nirgends so unwiderleglich zu beweisen wie i n der Bekämpfung der großen Seuchen." Aber Mühlmann fügt dem weiter hinzu: „Dennoch zeigt die Analyse, daß der Gang des Fortschritts kein geradlinig fortschreitender Mechanismus ist, auf dessen ungestörtes Weiterlaufen einfach vertraut werden dürfe. Wie bei jedem Fortschritt, so treten auch hier auf der aufwärtsführenden Stufenleiter unvermittelt bedrohliche Seitensprosse auf, die wieder abwärtsführen können, wenn sie nicht rechtzeitig gekappt werden. Anders ausgedrückt: Der gedanklich idealtypisch isolierte Fortschritt, der immer nur für ein engeingegrenztes Sachgebiet gültig ist, muß m i t anderen Schritten koordiniert werden, wenn er nicht wieder illusorisch werden soll. Diese anderen Schritte aber reichen i n die Dimensionen anderer Sachsysteme hinein, d.h. also i n die soziologische und sozialpsychologische Dimension 2 ." Und i n der Tat, es gelang mit medizinischer Hilfe, die Lebenserwartung i n einem Jahrhundert mehr als zu verdoppeln und die Mortalität an Infektionskrankheiten um ein Vielfaches zu verringern. Es werden also zunehmend Menschen, selbst bei schwersten Erkrankungen, die früher unweigerlich zum Tode geführt hätten, am Leben 2

S.9.

Mühlmann, E.: Heidelberger Sociologica 2, Meisenheim am Glan 1965,

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erhalten und i n Altersregionen eingeführt, die bis dahin nur von besonders lebenskräftigen Naturen zu erreichen waren. Aber es gelingt dazu nicht i n vergleichbarer Weise, die vor der Erkrankung innegehabte Leistungsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit wiederherzustellen. Das allein macht jedoch den verhängnisvollen Zusammenhang zwischen sozialem Wandel und Krankheit noch nicht aus. Dieser bzw. die hier aufgerissene Frage des vorzeitigen Aufbrauchs und der Invalidität erhält noch i h r ganz besonderes Gewicht durch eine eigentümliche Arbeitsethik der Industriegesellschaft, die — einem Bazillus gleichsam — i m Begriff zu sein scheint, die ganze Menschheit zu infizieren. Damit gemeint ist ein Phänomen, das seinen besonderen Ausdruck findet i n der erstmaligen Forderung an die Menschen i n ihrer Gesamtheit, sich einem kontinuierlich verlaufenden Arbeitsleben m i t optimaler beruflicher Leistung i n vorbestimmten, immer neu zu regulierenden Zeiteinheiten und zunehmend sich wandelnden Arbeitsvollzügen zu beugen. Und das alles vollzieht sich i n wesentlichen Punkten nicht deckungsgleich m i t dem fortschreitenden Demokratisierungsprozeß i m außerberuflichen Bereich, sondern erstaunlich hartnäckig nach den Prinzipien der klassischen Hierarchie des Uber- und Unterordnens, nach den Prinzipien von antiquierten Arbeitsordnungen — Umstände, die Anlaß geben, von einer autoritären Leistungsgesellschaft zu sprechen, wie sie i n dem gegebenen Ausmaß i n der ganzen bisherigen Sozialgeschichte nicht feststellbar ist. Nicht so ohne weiteres verständlich, aber doch die Diskrepanz zwischen dem Wollen und dem Können deutlich machend, erscheint die Reaktion des Menschen auf diesen unvergleichbaren Leistimgsanspruch. Er w i l l ihn, wie es scheint, erfüllen, er w i l l sich an die gesetzten Normen halten, obwohl sein Leistungsvermögen dazu i n vielen Fällen sicherlich nicht ausreicht oder nur ausreicht auf Kosten anderer für die Gesundheit und das Wohlbefinden entscheidenden Lebensinhalte. Z u allem dem kommt natürlich noch hinzu, daß das Leistungsvermögen aus Gründen des Lebensalters, des Geschlechts, der Konstitution und auch der schwankenden Disposition individuell sehr unterschiedlich ist und von vielen Unwägbarkeiten abhängt. Die große Sorge, die sich m i t der hier aufgerissenen Problematik verbindet, t r i t t unmißverständlich zutage i n den vielen Publikationen, die sich — wenn auch noch viel zu wenig auf der Basis spezifischer wissenschaftlicher Untersuchungen und empirischer Feldforschungen — um eine Erhellung konkreter Sachverhalte bemühen. Bekannt geworden sind dadurch vor allem die Auffassungen über den anhaltenden Abbau des sog. biologischen Gleichgewichts, über die ansteigenden Gesund-

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heitsschädigungen durch Abgase, durch Wasser- und Luftverunreinigung, durch L ä r m und sonstige Reizüberflutungen, durch denaturierte Nahrung, durch gestörten Tag-Nacht-Rhythmus und dergl. mehr. Immer unstrittiger kristallisiert sich jedoch eine Zunahme der sog. Zivilisationskrankheiten heraus, vor allem der Herz- und Kreislaufschäden, der vegetativen Störungen und der Suchtkrankheiten. Wohl am eindeutigsten nachweisbar ist der Anstieg von Gesundheitsschäden infolge von Unfällen aller A r t , wobei hier natürlich — um das gleich hinzuzufügen — vieles relativ gesehen werden kann, was allerdings an dem absoluten Anstieg nichts ändert. Es kann deshalb kaum mehr angezweifelt werden, daß w i r es an Stelle eines Wandels vom früheren Sterblichkeitsproblem infolge lebensbedrohender Krankheiten zu einer gesundheitlich gefestigteren Gesellschaft zu t u n haben m i t einem Wandel von einem Mortalitäts- zu einem Individualitätsproblem größten Ausmaßes. Seinen w o h l eindeutigsten und alle Mitglieder der Gesellschaft unmittelbar treffenden Niederschlag findet diese Gesundheitsproblematik i n der volkswirtschaftlichen Belastung durch das Phänomen Krankheit i n weitestem Sinne. I n diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf die jüngsten Verlautbarungen über das drohende Milliardendefizit der Arbeiterrentenversicherung. Erinnert sei auch an eine i m Jahre 1965 erstellte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung über die Ausgaben für das Gesundheitswesen und über fiktive volkswirtschaftliche Verluste durch Krankheit, Unfall, Frühinvalidität und vorzeitigen Tod i n der Bundesrepublik Deutschland, die zu der Faustregel führte, daß etwa ein Viertel bis ein Drittel des gesamten erreichbaren Volkseinkommens auf diesem Sektor beansprucht w i r d ; das wäre heute ein DM-Betrag, der weit über die 100-Milliarden-Grenze zu liegen käme 3 . Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß man es i n dem vorliegenden Falle nicht nur m i t einem medizinischen und m i t einem soziologischen, sondern auch m i t einem volkswirtschaftlichen Superphänomen zu t u n hat, dem — richtig besehen — kein anderes gleichkommt. Die Prognose erscheint deshalb durchaus begründet, daß bei weiterem Anhalten dieser Entwicklung i n nicht allzu ferner Zeit die Versorgung der wachsenden Anzahl von Berufs- und Erwerbsunfähigen, von Pensionären, Rentnern und sonstigen hilfsbedürftigen Menschen, nicht mehr möglich ist und daß dann allein schon aufgrund dieses Sachverhaltes eine menschenwürdige Existenz i n der Industriegesellschaft i n Frage gestellt wäre. 3 Schaefer, H. und H. J. Jahn: Die volkswirtschaftliche Belastung durch das Phänomen „Krankheit" im weitesten Sinne, in: Mensch und Medizin, Heft 6/1965, S. 166 ff.

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Es muß also aufgrund dieser Ausgangstatsachen die Folgerung gezogen werden, daß nicht pur aus dem Blickwinkel der nuklearen Selbstvernichtungsgefahr, sondern i n ganz besonderer Weise auch aus dem Blickwinkel der Gesundheits- und Lebensgefährdung i n der Arbeitsund Privatsphäre die Lebens- und Uberlebenschancen des Menschen nicht mehr wie früher vorwiegend gründen i n seiner Fähigkeit zur Anpassung an die Gegebenheiten, sondern i n der Hoffnung, daß es dem Menschen jetzt und künftig gelingen möge, zunehmend umgekehrt die naturwissenschaftlich-technische und sozioökonomische Entwicklung den biologisch bedingten Grenzen und dem wirklichen Vermögen des Menschen anzupassen. Aber noch immer scheint sich als typische Grundform der Daseinsbewältigung i n unserer Industriegesellschaft jene zu behaupten, die auf der Soll-Seite den Leistungs- und den Genußübermenschen zum Idol erhebt, ohne sich dabei der relativ schwachen Haben-Seite bewußt zu sein oder auch nicht bewußt sein zu wollen. Beklagt w i r d ein Existenzkampf zwischen Paradoxen, z.B. Befreiimg von gesundheitsschädigender schwerer körperlicher Dauerarbeit und trotzdem erhöhtem vorzeitigen Verschleiß der Lebens- und Arbeitskraft — bekannt geworden ist die These Grafs von der Uberforderung durch Unterforderung —, und, wenn nicht alle Zeichen trügen, dann ist es auch ein Existenzkampf zwischen höherer Lebenserwartung und, wie sich vor allem am Selbstverständnis der alten Menschen zeigt, niedrigerem Lebensgefühl. Das Individuum geht ja auch seit geraumer Zeit i n die philosophische Literatur schon ein als ein Mensch ohne Mitte, als Mensch ohne Ich 4 t als ein Wesen, das zunehmend der Vereinsamung verfällt in einer Gesellschaft, deren soziokulturelles Gesamtverhalten man durchaus als die Schizophrenie unserer Zeit charakterisieren kann. Dürfen w i r uns angesichts einer solchen allgemeinen Geisteshaltung da noch wundern über die unverkennbare Zunahme des offenen Ausbruchs sozialer Konflikte i n allen Bereichen des privaten, des beruflichen und des politischen Lebens? Dürfen w i r uns da noch wundern über das Vordringen extremer revolutionärer Weltanschauungen auf der einen Seite und noch tieferer Resignation auf der anderen? Das Befassen mit dieser allgemeinen Geisteshaltung, ihren Hintergründen und ihren auslösenden Faktoren macht auch das Denken und Handeln unserer jungen Generation verstehbar; denn sie erhebt nicht zuletzt deswegen ihre Stimme, w e i l sie glaubt, erkannt zu haben, daß der moderne Mensch zur Lösung seiner Gesundheitsproblematik und, 4 Bodamer, J.: Der Mensch ohne Ich. Herder Bücherei, Bd. 21, Freiburg i. Br. 1964.

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damit verbunden, zur Wahrung der Über- und Weiterlebenschance sich einiges mehr einfallen lassen muß, als es ihm bislang offensichtlich möglich war. Dieses Selbstverständnis der jungen Generation ist bei aller Subjektivität — oder gerade deshalb — für die moderne Soziologie eine letzte empirisch faßbare Realität, die nicht minder als das Selbstverständnis anderer Gruppierungen der Gesellschaft zu den Ausgangstatsachen zu zählen ist, die das Erfordernis einer nachfolgend noch näher zu definierenden Wissenschaftskoalition zwischen Medizin und Soziologie unterstreichen. Notwendigkeit: Medizin-Soziologie Vor einem solchen schlaglichtartig aufgerissenen Hintergrund stellt sich jetzt die Frage, was an Besonderem von der Medizin und der Soziologie gemeinsam zu t u n sei als entscheidender Beitrag zur Schaffimg der Voraussetzungen für eine fortschreitende Entwicklung menschenwürdiger Daseinsformen. Es versteht sich von selbst, daß das hier gemeinte Tun i m wesentlichen und vor allem i m Hinblick auf das, was die Soziologie zu leisten vermag, sich primär auf eine Klärung der ersten Kernfrage bezieht, nämlich auf die Frage nach dem, was ist. M i t anderen Worten: Es geht hier um das Forschen einschließlich der Lehre und Bildung. Allerdings — und das muß wohl gleich hinzugefügt werden — die eigentliche Frage nach dem, was sollen w i r praktisch bzw. politisch tun?, die zweite Kernfrage also, läßt sich auch bei den weiteren Betrachtungen nicht ganz beiseite schieben, vor allem deswegen, w e i l die Dimension Medizin-Soziologie, wie sich noch zeigen wird, die Koordinierung von Politik und Wissenschaft geradezu herausfordert. Solche Umstände machen deutlich, daß es darauf ankommt, Wege aufzuzeigen, wie eine zentrale Gesellschaftsproblematik unter vielfachen wissenschaftlichen Aspekten und i n Verbindung zur sozialen Praxis optimal analysiert werden kann. Zunächst einmal ist die Frage, welcher Wissenschaft oder welchem Wissenschaftszweig es vorrangig zustände, das Konglomerat von möglichen Zusammenhängen zwischen sozialem Wandel und Krankheit zu untersuchen, eindeutig dahingehend zu beantworten, daß es nicht vorstellbar ist, wie eine bestimmte Wissenschaft oder gar eine Zweigdisziplin derselben i n der Lage sein könnte, den hier vorliegenden Beziehungsknäuel i n bester Weise zu entwirren. Die unabdingbare Notwendigkeit einer personalen interfakultativen und interdisziplinären Zusammenarbeit ist offenkundig. Ebenso klar

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ist, daß es sich dabei unter den gegebenen Voraussetzungen vorwiegend u m eine entsprechende Zusammenarbeit zwischen Medizin und Soziologie handeln wird. Beide Wissenschaften haben den Menschen i n seiner Verflechtung zur Umwelt als Forschungsgegenstand, m i t dem Unterschied allerdings, daß sich die Medizin vor allem m i t den Auswirkungen dieser Verflechtungen auf das Leben des einzelnen befaßt, die Soziologie aber mit diesen Verflechtungen selbst, mit den sozialen Strukturen und Beziehungen. Ein weiteres bedeutsames Unterscheidungsmerkmal besteht darin, daß die Medizin den Menschen vorwiegend i n seiner naturbedingten physikalischen, chemischen und biologischen Verwurzelung betrachtet, während die Soziologie bemüht ist, Ursache und W i r kung des Zusammenschlusses der Individuen i n Gesellschaftsgruppen zu erkennen, d. h. zu ergründen, wie das, was der Mensch als Gemeinschaftswesen erdenkt und gestaltet, also seine K u l t u r , zustande kommt, sich erhält und weiterentwickelt. Ungeachtet dieser divergierenden wissenschaftlichen Bezugssysteme — oder vielleicht richtiger: gerade deswegen —, zwingt die Problemstellung zur Koalition und zur Kooperation zwischen Medizin und Soziologie. Diese Verbindung ist als eine wissenschaftliche Dimension zu verstehen, die weder eine neue medizinische noch eine neue soziologische Disziplin sein soll und kann, sondern nur oder — positiver gesagt — vielmehr eine Wissenschaftskoalition, die eine systematische Erforschung vornehmlich der Beziehungen zwischen den Objektbereichen der Medizin und jenen der Soziologie einschließlich der Sozialpsychologie zum Ziele hat 5 . Es gab i n den vergangenen zwei Jahrzehnten mannigfaltige Versuche, diese Beziehungen begrifflich zu fassen. Erinnert sei z.B. an P. Christian und R. Haas, die i m Jahre 1949 noch unter dem Aspekt der Bipersonalität erste Grundlagen für eine medizinische Soziologie erarbeiteten 6 . Diese beiden Autoren waren noch sehr orientiert an dem Gedanken V i k t o r von Weizsäckers über die Artz-PatientenBeziehung, was verständlich macht, daß man versuchte, eine medizinische Soziologie zu begründen, „die von der Medizin selbst i n ihrer eigenen Substanz zu entwickeln sei". Etwa 10 Jahre später entwarf der Amerikaner R. Strauss eine umfassendere Systematik der medizinischen Soziologie 7 . Diese spaltete er i n eine Sociology i n s Jahn, H. J.: Rehabilitation als Problem der Medizin-Soziologie, Meisenheim am Glan 1965, S.30ff. fl Christian, P. und R. Haas: Wesen und Formen der Bipersonalität. 2. Teil, Grundlagen einer medizinischen Soziologie. Beiträge aus der allgemeinen Medizin, Hrsg. V. v. Weizsäcker, Stuttgart 1949, 7. Heft. 7 Strauss, R.: The Nature and Status of Medical Sociology, in: American Sociological Review, X X I I , 1957. 8 Tagung Dortmund 1968

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Medicine und i n eine Sociology of Medicine. Hierzu sei nur soviel gesagt, daß i m ersteren Falle es sich um jenen Sektor handelt, i n welchem zur Bearbeitung medizinischer Fragestellungen sozialwissenschaftliche Hilfe erforderlich ist, also z. B. bei einer Klärung der Frage nach dem Einfluß sozialer Faktoren auf bestimmte Krankheiten. Die zweite Version, also die Sociology of Medicine, bezieht sich auf Probleme, die nicht direkt m i t dem kranken Menschen, dafür aber m i t der Struktur, m i t der Organisation und m i t den Wertsystemen der Medizin, m i t dem Beruf des Arztes, m i t dem Krankenhaus als Institution und m i t dem öffentlichen Gesundheitswesen zusammenhängen. ML Pflanz vertritt hierzu den Standpunkt, daß dies Aufgaben seien, die nur von der Soziologie gelöst werden könnten 8 . H. Schelsky spricht davon, daß bei der Sociology of Medicine die eine Disziplin, also hier die Medizin, als Ganzes zum Gegenstand der anderen, zum Gegenstand der Soziologie, werde®. Der Definition Schelskys widersprachen vor allem R. König und M. Tönnesmann 10 ; sie meinten, daß auch dann, wenn die Fragestellung nicht ganz eindeutig soziologisch sei, von einer Sociology of Medicine bzw. von einer Soziologie der Medizin gesprochen werden könne. König stellt hierzu i m einzelnen fest, „daß die gleiche Voraussetzung, wie sie der eigentlichen Sociology i n Medicine zugrunde liegt, auch hier i n Erscheinung t r i t t ; genau wie Gesundheit und Krankheit des Menschen sich i n das Dreieck von Person, K u l t u r und Gesellschaft einfügen, das sich auf der biologischen Gegebenheit Mensch aufbaut, so entscheidet sich auch hier die Ausgestaltung der Techniken zur Erhaltung der Gesundheit und zur Bekämpfung der Krankheit sowie der Funktion aller i n deren Dienst stehenden Personen und Institutionen auf der gleichen Voraussetzung" 11 . Das Für und Wider u m diese speziellen Definitionsversuche soll hier nicht weiter vertieft werden, zumal bei einer ersten größeren Zusammenkunft von Medizin-Soziologen i n der Bundesrepublik Deutschland anläßlich der Einweihung des Instituts für Epidemiologie und Sozialmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover am 10. Mai 1968 als Gesamteindruck festzuhalten ist, daß i n bezug auf die Grundkonzeption einer Medizin-Soziologie kein Meinungsstreit mehr besteht. Es ist eine 8 Pflanz, M.: Sozialer Wandel und Krankheit, Stuttgart 1962, S. 21 f. Schelsky, H.: Die Soziologie des Krankenhauses im Rahmen einer Soziologie der Medizin, in: Der Krankenhausarzt, X X X I , 7, 1958, S. 170. 10 Tönnesmann, M.: Einige Aspekte zur Entwicklung einer Medizin- Soziologie und Sozialpsychologie in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 3, Köln/Opladen 1958, S. 294. König, R.: Probleme der Medizin-Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 3, Köln/Opladen 1958, S.7. 9

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Grundkonzeption, die übereinstimmt m i t der Auffassung Königs, daß auch Gesundheit und Krankheit sich i n das Dreieck von Person, K u l t u r und Gesellschaft einzufügen haben. Davon ausgehend, läßt sich, wie ich das bereits schon i n meiner Arbeit „Rehabilitation als Problem der Medizin-Soziologie" darzustellen versuchte, das Interessen- und Beziehungsgeflecht eines medizinsoziologischen Untersuchungsgegenstandes bildlich m i t einem Kreis darstellen, dessen Segmente Medizin und Soziologie von einem Segment der Sozialpsychologie hälftig überlappt werden. I n diesem Kreis bewegt sich, exzentrisch gelagert, ein kleinerer Kreis: das medizinsoziologische Untersuchungsobjekt. Es ist stets m i t allen drei Segmenten, m i t dem der Medizin, der Soziologie und der Sozialpsychologie, i n unterschiedlicher Gewichtigkeit verbunden; es dominieren jedoch bei den möglichen Konstellationen jene m i t einer überwiegenden Beziehung zwischen Soziologie und Medizin, und zwar so, daß u. a. eine Konstellation vorstellbar ist, die ein vorrangiges und zugleich ausgewogenes Verhältnis zwischen Medizin und Soziologie m i t nur unbedeutenden Kontakten zur Sozialpsychologie kennzeichnet, jedoch keine Konstellation, die ein ähnlich ausgewogenes Verhältnis zwischen Medizin und Sozialpsychologie bzw. zwischen Soziologie und Sozialpsychologie m i t n u r unbedeutenden Kontakten i m ersteren Falle zur Soziologie, i m zweiten Falle zur Medizin aufweist 1 2 . Diese theoretische Demonstration dürfte u. a. auch etwas veranschaulichen, daß die Erforschimg von medizinisch, soziologisch und sozialpsychologisch zusammenhängenden Erscheinungen ausreichend und zweckmäßig durch die Verbindung der beiden Substantive Medizin und Soziologie zu der neuen Wortkombination Medizin-Soziologie benannt ist. Es liegt auf der Hand, daß eine so deklarierte Medizin-Soziologie nicht nur intern engverwobene Bereiche haben wird, sondern auch extern i m Hinblick auf Wissenschaften wie Volkswirtschaft, Jurisprudenz, Arbeitswissenschaft und nicht zuletzt auch i m Hinblick auf die Praxis der Politik. M i t anderen Worten: Es ist m i t Grenzfällen, mit Überschneidungen und m i t Verzahnungen zu rechnen, die für das methodische Vorgehen bei einer medizin-soziologischen Analyse ganz besondere Akzente setzen; denn die augenfällige Notwendigkeit des medizin-soziologischen Forschens ist ja die personale interfakultative und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Der „Alleingang" kann nur ein Ausnahmefall sein. Selbst dann, wenn ein Wissenschaftler vollausgebildeter Mediziner und Soziologe oder gar noch Psychologe wäre, ist nicht vorstellbar, wie der BetrefJahn, H. J.: a.a.O., S.27ff. 8*

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fende seine wissenschaftlichen Neigungen m i t ihren teilweise entgegengesetzten theoretischen Bezugssystemen i n der Parität bzw. so unter Kontrolle halten könnte, daß es i h m jederzeit gelänge, i n Kongruenz zu den tatsächlichen und stets wechselnden wissenschaftlichen Erfordernissen sein Forschungsinteresse nach der medizinischen oder soziologischen Seite h i n zu verlagern. Was also bleibt, u m den Untersuchungsobjekten der Medizin-Soziologie grundsätzlich entsprechen zu können, ist eben die bereits schon mehrfach hervorgehobene personale interfakultative, interdisziplinäre Zusammenarbeit. Diese allerdings — und das sei nicht verschwiegen — setzt unter den Mitarbeitern neben einer großen Breite von Kenntnissen und Erfahrungswissen besondere Charakterqualitäten voraus, z. B. Kontaktfähigkeit und willige Bereitschaft zur Kooperation. Letztere, d. h. die Bereitschaft zur Kooperation, verlangt — nicht zuletzt auch unter dem Aspekt des doch allzu ungleichen quantitativen Kräfteverhältnisses zwischen Medizin und Soziologie — vor allem von medizinischer Seite „das Sich-Freimachen von dem Vorurteil einer radikalen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften nebst ihren berufsideologischen Konsequenzen, z. B. den selbstverständlichen Prestigeansprüchen betrieblich integrierter Fachkönnerschaften, und unbefangen dem soziologischen Fachmann dort das Wort und die Disposition zu geben, wo sein Wort und seine Disposition erforderlich sind" 1 3 . Es w i r d also besonders dort — und das w i r d meist der Fall sein —, wo die Soziologie, personal gesehen, als Minderheit oder gar nur i n Gestalt einer einzigen Person i n einem größeren Team von Medizinern zu wirken versucht, darauf ankommen, daß gemäß dieser Grundeinsicht gehandelt wird. Rohde t r i f f t sicher den Sachverhalt richtig, indem er sagt: „Gerade wenn man sich aber i n der Medizin auf längere oder kürzere Sicht von der Soziologie Hilfestellung verspricht, ist es nötig, die Soziologie auch als Medizin-Soziologie i n ihrer relativen Autonomie zu belassen. Die Medizin und unser gesamtes Gesundheitswesen können kaum etwas von Soziolgen profitieren, welche die Dinge durch ebendieselbe Brille betrachten wie die Mediziner. Der Soziologe, der ja schließlich selber Mitglied einer modernen Gesellschaft ist, i n welcher Medizin, Arzt und medizinische Institutionen von einer faszinierenden Aura umgeben sind, hat es ohnehin schwer, diese Faszination zu überwinden, u m die Aufklärung anbieten zu können, die nun einmal dem Auftrag seiner Wissenschaft, eben der Soziologie, entspricht 1 4 ." 13 Mühlmann, W.E.: a.a.O., S.8. Rohde, J. J.: aus einem Vortrag anläßlich der Einweihung des Instituts für Epidemiologie und Sozialmedizin der Medizinischen Hodischule Hannover am 10.5.1968.

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Rehabilitation als besonderer Untersuchungsgegenstand Die Notwendigkeit einer Medizin-Soziologie, die sich von dem Prinzip des wissenschaftlichen Alleinganges löst, demonstriert vielleicht am eindringlichsten das herausragende Objekt einer so verstandenen Medizin-Soziologie, nämlich die Rehabilitation. Darunter ist zu verstehen die objektivierte Idee von der denkbar besten Koordination der gesellschaftlichen und der einzelpersönlichen Interessen an einer menschenwürdigen Überwindung existenzbedrohender Situationen durch langwierige Krankheiten. Der Sachverhalt, den es zu erforschen gilt, ist ein schwer durchschaubares beziehungsverflochtenes, prozeßhaftes Kontinuum vielfältiger Verhaltensweisen bei der Auseinandersetzung des Menschen m i t der Gefährdung seiner Lebens- und Leistungsfähigkeit durch das Phänomen Krankheit. Z u dem medizin-soziologischen Objektbereich der Rehabilitationsforschung gehören deshalb nicht nur die medizinische, berufliche und soziale Wiederherstellung, sondern auch die Fragen der Frühinvalidität, der Prävention, der volkswirtschaftlichen Ergiebigkeit von Rehabilitationsmaßnahmen einerseits und der volkswirtschaftlichen Verluste infolge vorzeitiger Aufbrauchserscheinungen andererseits. Und nicht zuletzt gehören auch dazu die Institutionen des Rehabilitationswesens, also: Krankenhäuser, Sanatorien und Umschulungsstätten, einschließlich der Frage nach deren Organisation und Gestaltung. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich für die Erforschung der Rehabilitation eine Fülle von Grundfragestellungen; sie beziehen sich unter medizinischen, soziologischen, psychologischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und nicht zuletzt auch arbeitswissenschaftlichen Aspekten vor allem auf eine Erfahrung der drei großen Phasen beim Rehabilitationsgeschehen, nämlich jene der Vorgeschichte und Ausgangssituation, dann jene der Therapie m i t ihren medizinischen, beruflichen und sozialen Maßnahmen und schließlich die Phase der tatsächlichen Wiedereingliederung nach Abschluß der Rehabilitationsmaßnahmen m i t ihrem besonders wichtigen Erfordernis einer Erfolgskontrolle der Rehabilitation. Etwas ins Detail gehend, wäre deshalb zu fragen: 1. Aus welcher medizinischen, sozialen, psychologischen, wirtschaftlichen und beruflichen Vorgeschichte und Ausgangssituation wurden die jeweiligen Rehabilitationsmaßnahmen erforderlich? 2. M i t welchem unmittelbaren Erfolg wurde die therapeutische Phase der Rehabilitation, d.h. wurden die medizinischen, beruflichen und sozialen Rehabilitationsmaßnahmen abgeschlossen?

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3. Wie war der weitere Verlauf des Rehabilitationsgeschehens nach abgeschlossener Rehabilitationsmaßnahme, also nach stationärer oder ambulanter Heilbehandlung, nach Berufsumschulung bzw. Berufsumsetzimg; und wie war der Stand des Rehabilitationsgeschehens zum Zeitpunkt einer Rehabilitationskontrolle nach einer bestimmten A n zahl von Jahren? 4. Lassen sich bei einem Vergleich der untersuchten Rehabilitantengruppen nach medizinischen, soziologischen, ökonomischen und regionalen Gesichtspunkten bedeutsame Diskrepanzen, Schwerpunkte und Beziehungen feststellen? 5. Ergeben sich typische Verlaufsunterschiede bei den jeweiligen Rehabilitationssphasen, sobald der Rehabilitationserfolg zu bestimmten sozioökonomischen Gruppen und Sachverhalten i n Beziehung gesetzt wird? (Z. B. i m Interesse eines Herausfindens bestimmter Berufsgruppen, aus denen häufiger Rehabilitationsbedürftige kommen bzw. Rehabilitanten häufiger m i t Erfolg eingeliefert werden.) 6. Welchen Anteil haben die mißglückten Rehabilitationsfälle, spezifiziert nach Diagnosen, evtl. auch nach Behandlungsstätten bzw. Umschulungsstätten, Beruf und weiteren Kriterien? 7. Deckt sich das Selbstverständnis der Rehabilitanten i n bezug auf Gesundheitszustand, Ergebnis der Rehabilitationsmaßnahmen und Leistungsfähigkeit m i t der Beurteilung des Therapeuten? 8. Welchen Einfluß haben nicht-medizinische, d . h . vor allem soziale, psychologische und ökonomische Faktoren auf das Krankheitsgeschehen u n d auf den Rehabilitationsverlauf? 9. Wie hoch sind einerseits die Kosten und andererseits die volkswirtschaftliche Ergiebigkeit der Rehabilitationsmaßnahmen, spezifiziert nach bestimmten Kriterien? (Es interessiert z.B.: welche Rehabilitantengruppe benötigt pro Rehabilitationsfall den größten finanziellen Gesamtaufwand, und welche erzielt die größte volkswirtschaftliche Ergiebigkeit?) 10. Welchen Einfluß haben die Rehabilitationsmaßnahmen auf die Rentenbewegung, z B. bei der Sozialversicherung? 11. Welchen Einfluß haben die Rehabilitationsmaßnahmen auf den allgemeinen Krankenstand und auf die Fehlzeiten i m Betrieb? 12. Ergeben sich bei einer Vergleichsanalyse der Resultate nach Kostenträgern und Durchführungsinstitutionen von Rehabilitationsmaßnahmen bedeutsame qualitative und quantitative Aufschlüsse? 13. Welche Einsichten erbringen internationale Vergleiche, z.B. des Rehabilitationswesens i n den EWG-Staaten?

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14. I n welcher Größenordnung und m i t welchen Entwicklungstendenzen bewegen sich die jährlichen volkswirtschaftlichen Verluste infolge von Unfall, Krankheit, Frühinvalidität und vorzeitigem Tod? 15. Welche Prognosen und praktischen Konsequenzen ergeben sich aus den Untersuchungsergebnissen a) i m besonderen für die spezielle Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen? b) i m allgemeinen für das sozial- und gesundheitspolitische Handeln? c) methodisch für die Weiterentwicklung einer zweckdienlichen Rehabilitationsforschung? Wie soll dieser hier aufgerissene Fragenkomplex, der sich noch beträchtlich erweitern und differenzieren ließe, wissenschaftlich bearbeitet und die Ergebnisse dokumentiert werden, ohne personale Zusammenarbeit und Kooperation und ohne Verzahnung von wissenschaftlicher Theorie m i t praktischer Erfahrung? A l l e i n schon das umfangreiche statistische Urmaterial der Träger unseres sozialen Sicherungssystems, der Krankenkassen also, der Berufsgenossenschaften, der Angestelltenversicherung, der Arbeiterrentenversicherung, der Knappschaftsversicherung und der Versorgungsinstitutionen, weist eindeutig auf das Erfordernis einer Forschungsarbeit i m Sinne der Medizin-Soziologie. Hier liegen Materialien vor, die nur zu einem Bruchteil wissenschaftlich ausgewertet sind, die aber möglicherweise entscheidende Rückschlüsse zulassen, z. B. auf den tatsächlichen Gesundheitsspiegel unserer Gesellschaft und auf den tatsächlichen Wirkungsgrad der durchgeführten Gesundheitsmaßnahmen; denn über eines müssen w i r uns bei allen negativen Tendenzen, die w i r glauben erkannt zu haben, i m klaren sein: So verhängnisvoll die Veränderungen sowohl i n der existentiellen Situation einzelner Menschen als auch i n jener ganzer sozialer Gruppen, ja, i n der Struktur der Gesamtbevölkerung erscheinen mögen, und so sehr sich auch die Hypothese zu bestätigen scheint, daß der Anteil der chronisch Kranken und i m Gefolge damit auch jener der älteren Menschen immer größer wird, so sehr auch diese ganze Entwicklung ihren sichtbaren Niederschlag findet i n den Statistiken über Gesundheitsmaßnahmen und i n den öffentlichen Haushalten m i t ihren steigenden Ausgaben für Sozialleistungen, und so sehr auch befürchtet werden kann, daß die Versorgung der wachsenden Anzahl von Berufs- und Erwerbsunfähigen, von Pensionären, Rentnern und sonstigen Hilfsbedürftigen, i n absehrbarer Zeit unter solchen Umständen zusammenbrechen muß und damit nicht nur die Prosperität unserer Industriegesellschaft, sondern sogar ihre Existenz i n Frage gestellt w i r d — letztlich sind das alles überwiegend doch nur Hypothesen, die. wenn sie wirklich schon inzwischen eine gewisse Bestätigung erfahren

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haben, dann dies zumeist doch nur aus der Sicht irgendeines speziellen wissenschaftlichen Bezugssystems. Diese Methode genügt aber heute nicht mehr, um das Konglomerat von Wechselbeziehungen zwischen sozialem Wandel und Krankheit optimal analysieren zu können. Konkrete Beispiele a) vegetativ

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Zur weiteren Demonstration des Erfordernisses einer Medizin-Soziologie soll jedoch nicht versäumt werden, auf einige konkrete Begebenheiten und Sachverhalte beispielhaft hinzuweisen. Vom 5. 6.—7. 6.1968 war i n Heidelberg ein sog. Rehabilitationakongreß m i t beachtlicher Beteiligung und entsprechender Resonanz in der Presse, i m Rundfunk und i m Fernsehen. Es war ein Kongreß, der vorwiegend i m Zeichen der Medizin stand; darüber konnte auch nicht hinwegtäuschen, daß der Bundesminister für Arbeit- und Sozialordnung diesen Kongreß eröffnete, daß viele höhere Verwaltungsbeamte der Rehabilitationsträger zugegen waren und daß der Kongreß selbst i n einem großen praktischen Rehabilitationszentrum, nämlich i n dem Berufsförderungswerk Heidelberg, stattfand. I n mehreren wissenschaftlichen Symposien wurden Detailfragen behandelt, so auch die Frage der Rehabilitation von sog. vegetativ Erkrankten. Dabei stand neben anderen speziell fachmedizinischen Problemen wieder einmal mehr die Klage i m Mittelpunkt, daß i n der medizinischen Praxis der vegetativ Gestörte vielfach immer noch nicht i n seinem Krankheitswert richtig eingeschätzt würde, daß man ihn abschiebe m i t dem Vermerk „Vegetativling", obwohl es doch eindeutig feststände, daß gerade beim Auftreten erster Gesundheitsstörungen dieser A r t das Alarmsignal gegeben sein müsse für nachhaltige Präventivmaßnahmen; denn, wenn das nicht erfolge, stände am Ende doch eine konkrete organische Erkrankimg. Von dem Einfluß sozialer Faktoren auf dieses K r a n k heitsgeschehen war zwar die Rede, aber man blieb — was unter Medizinern durchaus verständlich ist — zu sehr i n einer Diskussion u m den Einzelfall verhaftet. Dabei müßte, so lautete etwa meine Stellungnahme, bei der Behandlung des Problems der Rehabilitation ernsthaft vegetativ Gestörter, die nach den dort gemachten Angaben anzahlmäßig etwa 15 v. H. unserer Bevölkerung ausmachen sollen, doch w o h l vor allem auch interessieren, welchen Stellenwert diese vegetativen Störungen innerhalb unserer derzeitigen soziokulturellen Konfliktsituation einnehmen. W i r müßten u.a. fragen nach dem möglichen Zusammenhang zwischen diesen vegetativen Erkrankungen und

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der erhöhten Aggressionsbereitschaft bestimmter Bevölkerungsgruppen, z. B. der jungen Generation. Es sollten also auf dem Sektor der vegetativen Dystönien medizin-soziologische Forschungen betrieben werden, die sich nicht zuletzt auch mit den Motivationen und soziopsychogenen Wirkzusammenhängen politischer Agressionen zu befassen hätten. Angesichts solcher Erfordernisse sei die Empfehlung gestattet, künftig bei derartigen wissenschaftlichen Großtagungen dann, wenn das zu behandelnde Thema i n so offenkundiger Weise wie das der Rehabilitation soziologische, medizinische und psychologische Probleme gleichermaßen miteinschließt, den hier gemeinten medizinisch-soziologischen Gesamtaspekt entsprechend zu berücksichtigen und neben den fachmedizinischen, den beruflichen und administrativen Rehabilitationsexperten m i t gleicher Gewichtigkeit auch den soziologischen und psychologischen Fachmann zu Worte kommen zu lassen. b) Herzinfarkterkrankte Auch am Beispiel des Herzinfarktgeschehens läßt sich aufzeigen, wie notwendig es ist, die modernen Zivilisationskrankheiten zum Gegenstand der hier genannten Medizin-Soziologie zu machen. Das soll nun allerdings nicht so klingen, als lägen bei uns noch keine Versuche vor, diesem Erfordernis zu entsprechen. Zu erwähnen sind hier u. a. die Untersuchungen von L. Delius, G. Geginat, I. v. Hardenberg und H. Mensen über die Rehabilitation von Herzinfarktpatienten. Waren noch diese Untersuchungen bei aller Berücksichtigung sozialer Faktoren letztlich doch vorwiegend medizinisch orientiert, so kann inzwischen das Institut für Sozial- und Arbeitsmedizin der Universität Heidelberg auf eine Vergleichsstudie zwischen Leberkranken und Herzinfarktpatienten verweisen, die i n personaler Zusammenarbeit zwischen Medizinern, Soziologen, Psychologen, Sozialfürsorgerinnen und der Landesversicherungsanstalt Baden erstellt wurde 1 3 . Es sei jedoch hier etwas anderes als die Rehabilitation zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht, nämlich die Hypothese, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen Bürokratie und Herzinfarkt. Zwei Umstände sind hier zu nennen, die möglicherweise unmittelbar miteinander korrespondieren. Erstens einmal, daß lt. Statistik des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger i n Frankfurt relativ dreimal mehr Angestelltenversicherte als Arbeiterrentenversicherte ifl Nüssel, E., H. J. Jahn, A.Atanasov: Vergleichende sozialmedizinische Untersuchungen bei Herzinfarkt- und Leberkranken der LVA Baden, in: Archiv für Kreislaufforschung, Bd. 57, 1968, S. 113—127.

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eine stationäre Heilbehandlung wegen Herzinfarkt durchführen 1 6 ; und zweitens, daß w i r es i n einem bürokratischen Betrieb zumeist noch immer mit einer vertikalen Institutionalistierung zu t u n haben, die typischerweise jeden i n dieser bürokratischen Hierarchie Tätigen einem Unter- und Überordnungsverhältnis aussetzt, das vielleicht bildlich als ein Hammer-und-Amboß-Verhältnis charakterisiert werden kann. Demgegenüber haben w i r es i n einem Produktionsbetrieb nur m i t einer relativ kleinen Gruppe zu tun, i n der dieses besondere Merkmal der Bürokratie feststellbar ist. Es handelt sich dabei etwa u m die zumeist ebenfalls angestelltenversicherte Gruppe der Betriebsleiter, der Meister und sonstiger Personen, die i m Betrieb personale Leitungsund Kontrollfunktionen auszuüben haben. Teilt man n u n die Auffassung von P. Christian, daß der Infarktanfällige eher leistungsgebunden als symptomgebunden ist 1 7 , und geht man dann weiter davon aus, daß ein leistungsgebundener Mensch nach allem, was man bis jetzt von seiner Persönlichkeitsstruktur weiß, dazu neigt, gesundheitliche Beschwerden zu ignorieren, daß er dazu neigt, die Leistung über alles zu stellen, dann erscheint es verständlich, daß i n einem bürokratischen Betrieb unter dem gleichzeitigen Über- und Unterordnungsverhältnis, also unter diesem Hammer-und-AmboßVerhältnis, der arbeitende Mensch typischerweise mehr leiden muß als i n einem Produktionsbetrieb. Letzterer kann i n seiner Betriebshierarchie, wenn überhaupt, dann prinzipiell doch wohl nur m i t einem einseitigen psycho-sozialen Spannungsverhältnis, nämlich nach oben, konfrontiert werden. Womit nun allerdings i n keiner Weise zum Ausdruck gebracht werden soll, daß allgemein der Leistungsanspruch im Produktionsbetrieb weniger gesundheitsschädigend sei als i m Büro. Der hier vertretene Standpunkt bezieht sich nur auf das Herzinfarktgeschehen und soll — u m das nochmals zu betonen — i n erster Linie zur Demonstration der Notwendigkeit einer Medizin-Soziologie dienen. Die Arbeitshypothese für die empirische Analyse des Zusammenhanges zwischen Bürokratie und Herzinfarktgeschehen würde demzufolge besagen, daß die i n der Bürokratie bzw. die i n den Verwaltungen tätigen Personen deshalb vom Herzinfarkt — und möglicherweise von Herz- und Kreislauferkrankungen überhaupt — mehr be16 Vgl. Die Gesundheitsmaßnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Statistik der deutschen Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Hrsg. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt/M., Bd. 20 bis 26. 17 Christian, P.: Risikofaktoren und Risikopersönlichkeit beim Herzinfarkt, in: Sonderdruck aus Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung — Soziosomatik der Kreislaufkrankheiten — 32. Tg. 1966, S. 97—107.

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droht und mehr befallen sind, w e i l neben der ohnehin kreislaufschädigenden körperlichen Unterforderung n u n auch noch die vertikale Institutionalisierung i n einer bürokratischen Hierarchie eine dem Menschen besonders inadäquate Arbeitssituation schafft. (Wir haben Grund genug anzunehmen, daß das Wohlbefinden des arbeitenden Menschen i n der Industriegesellschaft vor allem dann empfindlich gestört ist, wenn i h m zugemutet wird, zwischen „veralteten" Herr- und Knechtfunktionen h i n und her zu pendeln.) Gelänge es, diese Hypothese zu bestätigen, dann müßte die Forderung nach horizontaler Institutionalisierung — eine Forderung, der das moderne Großraumbüro entgegenkommt — aus einem neuen Blickw i n k e l beachtlichen Zuspruch erhalten. Auch die Frage, ob es sinnvoll sei, die informelle Gruppenbildung gerade i n einem Verwaltungsbetrieb zu fördern — was ja gleichbedeutend wäre mit einer Forcierung gewisser betrieblicher Sozialleistungen, wie Errichtung von betriebseigenen K u l t u r - , Sport- und sonstigen Freizeitgestaltungsinstitutionen einschl. der Durchführung von Betriebsfesten und Betriebsausflügen —, stellte sich dann i n einem anderen neuen Licht. Und nicht zuletzt könnte die sog. Arbeitgeberseite vielleicht mehr, als sie es heute noch zu sein scheint, m i t derart hieb- und stichfesten Beweisen über die gesundheitsschädigenden Auswirkungen antiquierter Uber- und Unterordnungsverhältnisse i m modernen Arbeitsleben davon überzeugt werden, daß es aus ureigensten volkswirtschaftlichen Rentabilitätsgründen erforderlich ist, eine optimale Demokratisierung auch i n der Arbeitswelt anzustreben, d. h. also eine Demokratisierung der Industriegesellschaft, die Industrie und Gesellschaft nicht mit zweierlei Maß mißt. (Solche und ähnliche Überlegungen erhalten zusätzlich noch ihr ganz besonderes Gewicht durch den fortschreitenden Prozeß einer Verschiebung der anzahlmäßigen Relation der i n der Produktion und i n der Bürokratie Tätigen zugunsten der Letzteren, also der Angestellten und Beamten.) Was an diesem Beispiel der statistischen Erfassung von Herzinfarkterkrankungen an Methodischem aufgezeigt werden soll — und darauf kommt es hier vor allem an — ist dies: Weder der Mediziner noch der Soziologe bzw. weder die Medizin noch die Soziologie ist für sich i n der Lage, derartige statistische Angaben, wie sie die Träger unseres sozialen Sicherungssystems liefern, i n bester Weise auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, entsprechend auszuwerten und sie zu interpretieren. Der Soziologe kann z. B. nicht feststellen, ob es sich bei der jeweils angegebenen Zahl von abgeschlossenen stationären Heilbehandlungen infolge Herzinfarkts auch wirklich i n jedem Falle u m Infarktkranke gehandelt hat oder ob darunter sich nicht eine beachtliche A n zahl von Fehldiagnosen befindet; er kann vor allem auch nicht beur-

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teilen, ob i n den beiden Sozialversicherungszweigen, also i n der Angestelltenversicherung und i n der Arbeiterrentenversicherung, vergleichbare medizinische Ausleseprinzipien angewandt werden. Das sind Fragen, die doch überwiegend nur von der medizinischen Seite geklärt werden können. Umgekehrt ist der Mediziner wohl kaum i n der Lage, nicht minder wichtige Fragen wie diese zu beantworten, ob es sich bei der genannten Zahl von Angestellten nun auch wirklich um Angestellte gehandelt hat, die bei ihrem Arbeitsvollzug diesem Hammer-und-Amboß-Verhältnis ausgesetzt waren. Auch aus dem Blickwinkel der Dokumentation und Auswertung von Gesundheitsstatistiken stellt sich somit das Erfordernis eines Zusammenwirkens von Medizin und Soziologie. Weitere Forschungsmöglichkeiten Vertiefend weitere Beispiele aus dem mannigfaltigen Spektrum medizin-soziologischer Forschungsmöglichkeiten hier anzuführen, muß aus Zeitgründen unterbleiben. Es sei aber doch kurz noch hingewiesen auf so bedeutsame medizin-soziologische Aufgaben, wie Strukturanalysen von Krankenhäusern, Sanatorien und Umschulungsstätten, von Einrichtungen öffentlicher Gesundheitsdienste, Krankenkassen, Gesundheitsabteilungen der jeweiligen Versicherungsträger, von ärztlichen Diensten u. dergl. mehr. Nicht zu vergessen sei auch die erforderliche Motivationsforschung i n diesen genannten Bereichen, die Frage nämlich: Was sind die Beweggründe des Handelns dieser Institutionen? Gibt es vielleicht Tabus, die nicht gerne angesprochen werden wollen? Es muß deshalb auch nach den Motivationen sowohl der Arzneimittelhersteller als auch der Arzneimittelverbraucher unter Einbezug der Apotheken gefragt werden; es muß weiter gefragt werden nach dem Selbstverständnis der Pflegeberufe und der Ärzteschaft; und es muß allerdings auch gefragt werden nach der Fremdeinschätzung, d. h. danach: wie sieht der einzelne Staatsbürger, der heute gesund und morgen krank sein kann, diese Institutionen und Personen des Gesundheitswesens, vor allem den Arzt, die ja schließlich i m Sinne des hippokratischen Eides vorgeben, alles zum Nutzen des kranken Menschen tun zu wollen, um Schaden von ihm fernzuhalten. Selbstverständnis; ein methodisches Problem M i t diesem Hinweis auf die große Bedeutung einer Erfahrung des Selbstverständnisses des Individuums und der Institutionen w i r d nun

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allerdings auch ein gewisser neuralgischer Punkt der Medizin-Soziologie sichtbar. Für die Soziologie besteht i n dieser Beziehung keine Schwierigkeit; für sie ist die Erfahrung des Selbstverständnisses ein zentrales A n liegen. Sie betrachtet es i m Sinne Max Webers als ihre legitime A u f gabe, i n den subjektiv gemeinten Sinn menschlichen Verhaltens einzudringen. Das Selbstverständnis ist für die Soziologie, wie bereits an anderer Stelle hervorgehoben, eine letzte empirisch faßbare Realität. Für die Medizin — oder richtiger: für einen Mediziner kann es ab hier problematisch werden, m i t der Soziologie weiterzuschreiten, wenn nicht klar genug voneinander gewußt wird, was für wissenschaftliche Grundprinzipien den Partner kennzeichnen. Es ist sehr wohl vorstellbar, daß das naturwissenschaftliche Bezugssystem der Medizin u. U. den weiteren Zugang und das Interesse an einem vertieften Kontakt zur Soziologie versperrt; denn die Medizin und ihre Forschung umspannen i n einem weiten Bogen vielfältige Aufgaben; sie reichen von naturwissenschaftlich zu analysierenden Objekten bis zur Aufstellung von Normen für die subjektive Lebensund Gesundheitsführung. Die Soziologie ist bei allen Abgrenzungsschwierigkeiten, so betrachtet, i n sich doch geschlossener. Sie hat festzustellen, was i m Bereich des Sozialen sich vollzieht, was ist und was evtl. sein kann, aber nicht, was sein soll 1 8 . Hinzu kommt noch, daß die empirisch gewonnenen Daten soziologischer Analysen stets nur wahrscheinlich und deshalb nicht so ohne weiteres zu vergleichen sind mit den Endresultaten medizinisch-naturwissenschaftlicher Untersuchungen. Die soziologischen Forschungsergebnisse müssen interpretiert, ausgelegt und i m Weberschen Sinne deutend verstanden werden. Das aber ist doch wohl i n hohem Maße auch eine philosophische Leistung. Es sei also hier auf diese mögliche Grenzsituation, i n der das weitere Miteinander von Medizin und Soziologie i n Frage gestellt werden kann, ausdrücklich hingewiesen. Es sei aber auch zugleich die Brücke genannt, die sich da anbietet, u m wieder zueinanderzukommen. Gemeint ist der Umstand, daß i n der angewandten Medizin Therapie und Erfolg des praktischen Arztes i n einem nicht geringen Maße von einer Erfahrung des Selbstverständnisses des Patienten, also von dessen A n sichten, Meinungen und Absichten, abhängen. Und schließlich bietet sich die Philosophie als Brücke an; denn Soziologie und Philosophie sind angesichts der gegenwärtigen und der zu 18 Weber, M.: Soziologie — Weltgeschichtliche Analysen — Politik, Stuttgart 1956, S. 190.

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erwartenden lebensweltlichen Verhältnisse dazu gezwungen, sich ebenfalls zu verzahnen, was allerdings — und das sei hervorgehoben — nicht mit Verschmelzen, also m i t der Aufgabe der Eigenständigkeit, gleichgesetzt werden darf. Dieser Vorgang aber, daß einerseits die Soziologie zunehmend korrespondiert m i t der Philosophie und andererseits die Medizin, da sie es ja i n letzter Konsequenz dauernd m i t dem Tode zu tun hat, i n nicht geringem Maße selbst Philosophie ist, schafft deshalb i n ganz besonderer Weise eine gemeinsame Interessenlage zwischen Medizin und Soziologie. Thesen der Standortbestimmung Dieser Versuch einer Begündung, Definition und Standortbestimmung der Medizin-Soziologie läßt sich thesenartig i n folgenden Punkten ausdrücken: 1. Die modernen Industriegesellschaften und — da sich j a offensichtlich jede Sozietät i n Richtung Industriegesellschaft bewegt — die Menschheit schlechthin sehen sich zunehmend m i t einem Gesundheitsproblem konfrontiert, das zur Wahrung der Weiter- und Überlebenschance i n absehbarer Zeit gelöst werden muß. 2. U m praktisch, d.h. vor allem sozial- und gesundheitspolitisch, den möglichen Erfordernissen entsprechend handeln zu können, müssen Sachverhalte, Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen gewußt und verstanden werden, deren wissenschaftliche Analyse nur auf der Basis einer vorrangigen Zusammenarbeit zwischen Medizin und Soziologie denkbar ist. 3. Die Komplexität der Probleme und die Verflochtenheit der Untersuchungsobjekte m i t dem lebensweltlichen und wissenschaftlichen Gesamtbereich, wie z. B. die Rehabilitation, werden dabei zur Folge haben, daß dieses gemeinsame Vorgehen von Medizin und Soziologie, abgesehen von der selbstverständlichen Verbindung zur Sozialpsychologie, noch u m besondere Kontakte bemüht sein muß zu den anderen Sozialwissenschaften, wie Volkswirtschaft, Arbeitswissenschaft, Rechtswissenschaft, Politische Wissenschaft und nicht zuletzt auch zu den Praxen der sozialen Sicherheit des Arbeitslebens, des Gesundheitswesens und der Politik. 4. Wenn aber nun weder die Medizin noch die Soziologie oder gar eine ihrer Zweigdisziplinen für sich allein durch bloße Ausweitung prinzipiell den neuen Erfordernissen gerecht werden kann, sondern nur die Kooperation von Medizin und Soziologie, bietet sich als Bezeich-

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nung der neuen wissenschaftlichen Dimension die Wortkombination „Medizin-Soziologie" geradezu an. 5. Die Wortfolge Medizin-Soziologie ist nicht nur wegen ihrer umgangssprachlichen Geläufigkeit, sondern auch aus wissenschaftslogischen Überlegungen einer etwaigen Umkehrung i n Soziologie-Medizin vorzuziehen. Während die Medizin aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit und auch Vieldeutigkeit den Ausdruck Soziologie-Medizin möglicherweise noch als Bezeichnung für eine medizinische Zweigdisziplin akzeptieren könnte — was die hier gemeinte wissenschaftliche Dimension unter gar keinen Umständen sein soll —, ist es der Soziologie, die weder normativ, therapeutisch noch individualisierend arbeitet, aus Gründen ihres Selbstverständnisses nicht möglich, den Begriff Medizin-Soziologie analog für sich zu beanspruchen. Es ist also, vom Selbstverständnis der Soziologie her gesehen, nicht möglich, i n einem Atemzuge etwa zu sprechen von Religionssoziologie, Betriebssoziologie, Wissenssoziologie, Familiensoziologie, „Medizinsoziologie". U m diese Unmöglichkeit und damit den Koalitionsgedanken auch sprachlich eindeutig zu deklarieren, ist die Verbindung der beiden Begriffe Medizin und Soziologie zu dem neuen Begriff Medizin-Soziologie nicht herzustellen durch Wortverschmelzimg, sondern durch eine Wortkombination m i t Bindestrich. 6. Die Medizin-Soziologie ist eine Wissenschaftskoalition und keine medizinische oder soziologische Zweigdisziplin für sich. Sie berührt deshalb nur sekundär die Definitions- und Abgrenzungsfragen zwischen den medizinischen Zweigdisziplinen mit dem vorgeschalteten und wertbeladenen Wörtchen „sozial", z. B. die Abgrenzungsfragen zwischen Sozialmedizin und Sozialhygiene. 7. Die Medizin-Soziologie unterliegt notwendigerweise der Forderung nach weitestgehender personaler interfakultativer, interdisziplinärer wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Der wissenschaftliche Alleingang hat die Ausnahme zu sein. 8. Demzufolge ist es möglich zu erklären, unter welchen Voraussetzungen von einer Forschungsarbeit i m Sinne der Medizin-Soziologie gesprochen werden kann, nämlich dort, wo Medizin und Soziologie — wenn auch je nach Untersuchungsgegenstand mit unterschiedlichen Gewichtigkeiten und externen sozialwissenschaftlichen und praxisnahen Kontakten — gemeinsam ein Problem untersuchen. 9. Somit erfüllt die Medizin-Soziologie, die zwar i m klassischen Sinne keine wissenschaftliche Disziplin für sich sein kann, doch als Wissenschaftskoalition die Forderung an jede wissenschaftliche Dimension, d.h. die Forderung nach Begrenzung und Eigenständigkeit. I h r Objekt ist der Zusammenhang zwischen soziologisch bedeutsamen

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Faktoren und den Phänomenen Krankheit und Gesundheit, und ihre besondere Methode ist die personale interfakultative, interdisziplinäre Zusammenarbeit. Ergänzende Interpretation Es kann also gesagt werden, daß der Objektbereich der MedizinSoziologie die Beziehungen ausmacht zwischen den ambivalenten Phänomenen Gesundheit und Krankheit auf der einen Seite und den Gegebenheiten und Prozessen, die das Verhalten des Menschen als Individuum und als soziales Wesen kennzeichnen, auf der anderen Seite. Aufgabe der Medizin-Soziologie ist es, die genannten Beziehungen mittels soziologischer Theorie und Methodik zu untersuchen, Beeinflussungen, Wechselwirkungen und Kausalzusammenhänge festzustellen, Regeln oder gar Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, Alternativen aufzuzeigen und nicht zuletzt auch Voraussagen zu treffen i m Sinne einer Zukunftsforschung. Das Ziel der Medizin-Soziologie i m allgemeinen ist es, wissenschaftliche Grundlagen zu erarbeiten für das soziale und gesundheitspolitische Handeln. Das Ziel der Medizin-Soziologie i m besonderen ist es, einerseits der Medizin zur besseren Erkenntnis des Wirkungsgrades und der Zweckmäßigkeit präventiver, curativer oder rehabilitativer Gesundheitsmaßnahmen zu verhelfen, und andererseits der Soziologie als empirischer Wissenschaft das Analysieren und Erkennen jener Probleme und Faktoren zu ermöglichen, die sowohl soziologisch als auch medizinisch relevant und deshalb gemeinsam zu erforschen sind. Die Medizin-Soziologie m i t einem Selbstverständnis, wie versucht wurde, hier darzulegen, kann zwar i n irgendeiner Form m i t allen lebensweltlichen Bereichen des Menschen zu t u n haben; aber sie beschneidet oder verdrängt keine jener schon bestehenden wissenschaftlichen Disziplinen, vor allem auf der medizinischen Seite, die sich schon seit eh und je m i t medizin-soziologischen Fragestellungen befassen. Entwicklungstendenz und Institutionalisierung der Medizin-Soziologie W i r d ein Ausblick gewagt i n die künftige Entwicklung, dann zeichnet sich ab, daß den vielen wissenschaftlichen Fachrichtungen, sowohl auf dem medizinischen als auch auf dem soziologischen Sektor und nicht zuletzt auch i n dem Gesamtbereich des Gesundheitswesens, sich neue Aspekte eröffnen, die zu einer den jeweiligen Erfordernissen entsprechenden Betätigung i n und an der neuen Wissenschaftskoalition veranlassen werden. Dazu dürfte vor allem auch die Sozialmedizin gehören; sie — und das soll hier ebenfalls nicht unerwähnt bleiben —

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kann als letztlich eben doch naturwissenschaftlich-orientierter Zweig weder mit der Medizin-Soziologie gleichgesetzt, noch i h r unter- oder übergeordnet werden. Da jedoch die Sozialmedizin wie wohl kaum eine andere medizinische Richtung es ebenfalls m i t der Wechelswirkung von Gesellschaft und Krankheit zu t u n hat, kommt ihr eine Schlüsselfunktion zu innerhalb dieser neuen wissenschaftlichen Dimension Medizin-Soziologie. Gemäß dieser Einsicht w i r d deshalb zunehmend versucht, i n den noch relativ wenigen und zumeist erst i m Aufbau begriffenen Universitäts- und Hochschulinstituten, die sich mit Fragen der Sozialmedizin befassen, den Erfordernissen einer Medizin-Soziologie gerecht zu werden. Hervorzuheben sind i n diesem Zusammenhange das von H. Schaefer und P. Christian geleitete Institut für Sozial- und Arbeitsmedizin der Universität Heidelberg und das gleichnamige Institut der Universität Erlangen/Nürnberg m i t seinem Direktor H. Valentin. Ferner sei hingewiesen auf das Gollwitz-MayrInstitut der Universität Münster und seinen Leiter L. Delius und auf das erst vor kurzem eröffnete Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover, dessen Leiter M. Pflanz ist. Das zuletzt genannte Institut ist m i t seinen drei hauptamtlich eingestellten Soziologen — sowohl von der Aufgabenstellung als auch von seiner arbeitstechnischen Organisation her — i n Deutschland als Novum zu betrachten. Es scheint, von der Zielsetzung her gesehen, auf der medizinischen Seite bis jetzt i n Richtung MedizinSoziologie am weitesten vordringen zu wollen. A u f soziologischer Seite sind vergleichbare Einrichtungen noch nicht vorhanden, doch gibt es viele empirische Analysen soziologischer oder soziologisch-orientierter Institute, die, ohne es i m besonderen zu erwähnen, medizin-soziologische Überlegungen m i t einfließen lassen. Auch hier darf vielleicht auf ein Heidelberger Institut verwiesen werden, nämlich auf das von W. E. Mühlmann geleitete Institut für Soziologie und Ethnologie, und dessen Mitarbeiter Horst und Helga Reimann. Zu nennen sind auch i n diesem Zusammenhange die Arbeiten von W. Kellner, Gießen, der sich seit Jahren bemüht, die Zusammenhänge zwischen soziologischen Situationen, wie er es nennt, und Krankheiten aus beruflicher und betrieblicher Sicht zu erforschen. Hinzuweisen ist ferner auf die den medizin-soziologischen Aspekt berücksichtigenden arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen von J. Rutenfranz, H. G. Wenzel und H. Scholz aus dem Max-PlanckInstitut für Arbeitsphysiologie, Dortmund. U m das B i l d der wissenschaftlichen Bemühungen abzurunden, muß selbstverständlich noch die psychologische Seite erwähnt werden, auf der kürzlich A. Mitscherlich m i t der Herausgabe eines medizin-soziologischen Sammelwerkes „Der Kranke i n der Gesellschaft" besonders hervorgetreten ist. 9 Tagung Dortmund 1968

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I n der Praxis unseres Gesundheitswesens geschieht parallel dazu ebenfalls Beachtenswertes, u m hinter die tieferen Zusammenhänge von Gesellschaft und Krankheit zu kommen. So ist z. B. der von H. Liebing geleitete Verband Deutscher Rentenversicherungsträger i n Frankfurt dabei, eine alle regionalen Versicherungsanstalten miteinschließende repräsentative Rehabilitationskontrolle durchzuführen, die sich über mehrere Jahre erstrecken dürfte. Konsequenz: Institut für Medizin-Soziologie Es soll aber nun nicht fortgefahren werden, noch weitere Institutionen und Personen hier zu nennen, die sich i n der Bundesrepublik Deutschland m i t diesen Fragen der Medizin-Soziologie beschäftigen, zumal j a bei einer weiteren Vertiefung i n das bisher Geleistete doch w o h l auch ein Blick über die Grenzen gewagt werden müßte. I m übrigen ging es bei diesen Hinweisen und Vermerken weniger u m ein Hervorheben bestimmter Institutionen als vielmehr u m das Verständlichmachen eines letzten hier noch zu nennenden Erfordernisses, dem unbedingt entsprochen werden muß, wenn die MedizinSoziologie als Wissenschaftskoalition so zum Tragen kommen soll, wie es wünschenswert und notwendig erscheint. Es ist das Erfordernis, zentrale Forschungsinstitutionen der Medizin-Soziologie einzurichten oder vorhandene Einrichtungen entsprechend auszubauen. Schon i m Namen dieser Einrichtungen müßte zum Ausdruck kommen, daß dort medizin-soziologisch geforscht wird. Es bleibt deshalb vorzuschlagen, derartigen Forschungsstätten Namen zu geben, wie z.B. „Institut für Sozialmedizin und Medizin-Soziologie" oder „Medizin-soziologisches Institut für Rehabilitationsforschung"; denn gerade auf dem Sektor der Rehabilitation w i r d es erforderlich sein, parallel zu dem forcierten Aufbau hervorragender praktischer medizinischer und beruflicher Rehabilitationszentren auch zentrale Rehabilitationsforschungsstätten zu errichten; eine Notwendigkeit, die nicht zuletzt unterstrichen w i r d von dem Tatbestand, daß i n der Bundesrepublik Deutschland mindestens anderthalb Millionen frühinvalide Menschen der Rehabilitation bedürfen. Zusammenfassung Ausgehend von dem Tatbestand des großen Unbehagens i n unserer Industriegesellschaft, wurde versucht nachzuweisen, daß die von vielen Menschen empfundene existentielle Bedrängnis und die allgemeine niedere Grundstimmung letztlich ihre Ursachen haben i n der Frage nach der Uberlebens- und Weiterlebenschance der Menschheit

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Es war von zwei Selbstvernichtungsgefahren die Rede, von denen die eine, nämlich jene durch militärische Machtmittel, bei allen Vorbehalten doch aufgrund der internationalen Bemühungen wenigstens scheinbar als stagnierend zu bezeichnen ist, während die andere, nämlich jene durch gesundheits- und lebenszerstörende Fehlhaltungen und Fehlleistungen des Menschen i n der Berufs- und Privatsphäre, zunehmend und — was ihre Hinterhältigkeit besonders charakterisiert — schleichend genannt werden muß. So groß auch der volkswirtschaftliche Aderlaß sein mag, den das Aufrechterhalten der militärischen Verteidigungs- und Vernichtungsmaschinerie darstellt, das andere Problem, das Gesundheitsproblem, impliziert jedoch, wie deutlich gemacht wurde, ein volkswirtschaftliches Belastungsphänomen, dem kein sonstiges gleichkommt Vor dem Hintergrund dieser existentiellen Gesamtlage 19 war das weitere Bemühen darauf gerichtet, die Notwendigkeit einer Wissenschaftskoalition zwischen Medizin und Soziologie nachzuweisen und den Standort dieser Medizin-Soziologie zu bestimmen. Fragen w i r nun i m Hinblick auf das Rahmenthema dieser Internationalen Tagung der Sozialakademie Dortmund abschließend nach der Rolle, die der Medizin-Soziologie als einer neuen wissenschaftlichen Dimension i n der modernen Gesellschaft zukommt, dann darf die A n t w o r t doch w o h l dahingehend gegeben werden, daß diese MedizinSoziologie einen entscheidenden Beitrag zu leisten vermag zur Erhaltung des menschlichen Lebens an sich und zur fortschreitenden Entwicklung eines menschenwürdigen Daseins i m Umgreifenden. Die Forschungsergebnisse der Medizin-Soziologie werden vor allem die Einsicht fördern, daß die Gefahren der Selbstzerstörung i m engeren und i m weiteren Sinne nicht gebannt werden können m i t dem Gleichgewicht des Schreckens, m i t dem Vertrauen auf einen biologischen Anpassungsautomatismus, m i t antiquierten Macht- und Herrschaftsverhältnissen und nicht zuletzt m i t einer Medizin, die darauf zielt, unter Einsatz aller Forschungs- und Therapiemethoden, einschließlich der pharmazeutischen Industrie und der Krankenanstalten, die Menschen lediglich fit zu machen und fit zu halten für einen Lebensstil, dem sie auf die Dauer nicht gewachsen sein können. Die Medizin muß heute, sowohl gegenüber dem Individuum als auch gegenüber der Gesamtgesellschaft, eine umfassende gesundheitspädagogische Aufgabe erfüllen; an den medizinischen Fakultäten unserer Hochschulen und Universitäten müssen Mediziner herangebildet weri® Schnabe, G.H.: Zur Selbstbedrohung des heutigen Menschen, in: Unabhängiger biologischer Nachrichtendienst (UBN), Hrsg. B. Manstein, Hilchenbach 1968, Ausgabe 3, S. 503 f. 9*

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den, die außer perfekten medizinisch-wissenschaftlichen und medizinisch-technischen Kenntnissen auch über ein entsprechendes medizinsoziologisches Wissen verfügen. Es ist aber auch für die Ausbildung von Soziologen zu fordern, daß sie i n vergleichbarer Weise m i t dem Zusammenhang von Krankheit und Gesellschaft vertraut gemacht werden. Es ist gerade i n den hier angesprochenen wissenschaftlichen Bereichen mehr als bislang zu begreifen, daß die Probleme zwischen den Wissenschaften liegen. Die Bedeutung des Arztes und des Sozialwissenschaftlers i n der modernen Gesellschaft ist durchaus vergleichbar m i t der Bedeutung des Politikers. A l l e drei haben gemeinsam i m Sinne einer Koordinierung von Wissenschaft und Politik vorrangig dafür zu sorgen, daß jene breit und tief zugleich angelegte soziokulturelle Forschung zustande kommt, die allein nur hoffen läßt, auch in einer industriellen Welt menschliche Hochkulturen zu bewahren und neu zu gestalten. Sie — der Mediziner, der Sozialwissenschaftler und der Politiker — sind hauptverantwortlich dafür, ob sich die menschliche Gesellschaft mittels ihrer phantastischen Technik und Naturwissenschaft fortschreitend entwickelt oder selbst zugrunde richtet.

Die Vereinigten Staaten — ein wissenschaftliches Staatsgebilde und die Wissenschaft Von Prof. Dr. Robert Rie, State University College, Fredonia, New York Ach! in Deutschland ist das anders. Vielleicht eben weil das Mittelalter dort nicht, wie bei euch, gänzlich tot und verwest ist. Das deutsche Mittelalter liegt nicht vermodert im Grabe, es wird vielmehr manchmal von einem bösen Gespenste belebt, und tritt am hellen lichten Tage in unsere Mitte und saugt uns das rote Leben aus der Brust . . . (H. Heine, Die Romantische Schule, III. Buch, VI.) I. Gerade i n den Zeitläuften unserer „heißen", das heißt rassenrevolutionsdurchdonnerten Sommer, der Kriegshandlungen i n Vietnam, der ungeheuren Ausgaben für Hilfeleistungen an unterentwickelte Länder, der Angriffe auf unsere Dollarwährung, die so vielen Angreifern einstmals sehr oft vergessene Hilfeleistungen i n scheinbar vergessenen Notzeiten hätte ins Gedächtnis rufen sollen, i n solchen Zeitläuften, scheint es — sage ich — angemessen, die Widersprüchlichkeiten zu überdenken, die einem wissenschaftlich gegründeten Staatsgebilde Prüfungen durch andere und Selbstprüfungen auferlegen. Wenn w i r die Vereinigten Staaten ein wissenschaftlich begründetes Staatsgebilde nennen, dann muß man auf das eingangs zitierte HeineWort verweisen: dieser große Dichter — und vielleicht noch größere politische Schriftsteller —, sicherlich Deutschlands größter am Ende der romantischen Epoche, hat immer wieder Europas Mittelalter herangezogen, u m das Phänomen „Deutschland" zu erklären, eben jenes Mittelalter, an dem die Vereinigten Staaten so gar keinen A n t e i l haben. „Amerika, du hast es besser, hast keine Ruinen, hast keine Schlösser" singt Goethe von uns — witzig, aber falsch. Denn Amerika hat seine Ruinen, hat seine Schlösser, hat sein Mittelalter, aber — und hier stoßen w i r geradlinig i n unser Thema ein — andere Wertungen.

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Die amerikanische Geschichte hat ihre Epochen — wie die europäische und jede Geschichte einer Nation —, aber mit schärferen EpochenTrennungen, wenn auch nicht so langen wie etwa der Staat Israel zwischen der Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus und der Neugründung durch Ben Gurion. Kurz schon nach der Entdeckung der Neuen Welt beginnt ihre ganz eigenartige Tragödie: die Vernichtung ihres präkolumbischen Altertums oder Mittelalters, von dem keine intellektuell-kulturellen Brücken i n unsere technologische Neuzeit führen. Die Latinität des mediterranen Europas, komplettiert durch jene germanisierten Gebiete, die immerhin zum Römischen Reich gehört hatten, stellen für uns das Ergebnis einer solchen „Brückenkultur" dar, eines Ausgleiches jedenfalls zwischen dem klassischen A l t e r t u m und unserer Zeit, der sogar ganz bewußt i n der mittelalterlichen Neugründung des Heiligen Römischen Reiches seinen Ausdruck findet. W i r dürfen äuch nicht vergessen, daß der mittelalterliche Mensch sich nicht als „mittelalterlich" empfand, sondern j ^ e n f a l l s als modern" gegenüber dem antiken. Die wichtigste Brücke war natürlich die Kirche — die abendländische für die westliche, die orthodox-schismatische für die östliche Hälfte des alten I m periums i m Sinne der Diokletianischen Teilung, die noch heute i m sogenannten „Ostblock" nachwirkt. Die Symbolik der Imperien der Römer des Westens und der Romäer des Ostens wurde von den Deutschen und von den Moskovitern, u m nur die wichtigsten Traditionsträger zu nennen, übernommen. Die christliche Kirche selbst kommt uns aus dem späteren mediterranen A l t e r t u m entgegen, wie auch das Volk ihrer ursprünglichen Gründer, nämlich das jüdische, das — an vorkirchlichen Traditionen festhaltend — diese durch die Diaspora i n alle Weltgegenden trotz Verfolgungen und Apostasien der einzelnen verbreitet. Die klassisch-humanistische Bildung tut ein übriges, u m die Verankerung des europäischen Geistes i n seinem Altertum zu fixieren; aber es wäre falsch, grundfalsch, einen Gegensatz zwischen der humanistisch-historisch-philologischen und technisch-naturwissenschaftlichen Bildung übermäßig zu betonen. Es soll nicht an dieser Stelle abgehandelt werden, inwiefern und welche großen Wissenschaftler oder Techniker die klassisch-humanistische Bildung als unerläßlich bezeichneten. W i r sehen keinen Anlaß, Frontlinien eines geistigen Kampfes aufzuzeigen, deren eine unter ihren Verteidigern einen E r w i n Schrödinger 1

i Erwin Schrödinger, selbst ein Schüler des altberühmten Wiener Akademischen Gymnasiums, war lange Zeit Ehrenvorsitzender des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums und wollte am liebsten Absolverten soldier Institute als Assistenten beschäftigen.

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nennen könnte, während auf der anderen Seite ein Wilhelm v. Ostwald oder Einstein zu finden wäre 2 . A u f dem amerikanischen Kontinent finden w i r einen Bruch. Gewiß bemüht man sich gegenwärtig u m die präkolumbische Geschichte und Literatur, sofern es diese gegeben hat. Manche Beweisstücke der vorkolumbischen Antike sind i n die Museen Europas gewandert, aber niemand kann i m Ernst behaupten, daß die vorkolumbische Geschichte und K u l t u r eine oder mehrere Brücken i n das moderne Amerika — w i r meinen den Gesamtkontinent, nicht bloß die Vereinigten Staaten — gefunden haben, wie es bei der klassischen Antike i n ihrem Verhältnis zum modernen Europa der Fall war. Es bleibt zuzugeben, daß sich Mexiko wiederum sehr stark seiner aztekisch-toltekischen Vergangenheit erinnert, aber dies hat etwas Künstliches, etwas Artifizielles, und geschieht w o h l nicht so sehr, w e i l sich das Volk i n der Tat „erinnert", sondern — und hier fürchten wir, etwas „rassische" Töne übelster deutscher Vergangenheit anzuschlagen —, u m die dunklere Hautfarbe der Halb- und Ganzindianer dieser nördlichen Republik der amerikanischen „Hispanidad" vor den Anglo-Amerikanern, um wiederum i n den Jargon des Ostblocks zu verfallen, zu entschuldigen. Die moderne Kirche zeigt Toleranz: denken w i r nur an die Mayas der guatemaltekischen Stadt Chichicastenango, die i n der dortigen Kirche i n aller Öffentlichkeit zu den alten Göttern beten dürfen; die mexikanische Universitätsarchitektur mit ihren vorkolumbischen Motiven ist weltberühmt, und überall bemüht man sich u m die Konservierung indianischer Altertümer: i n Yukatan nicht weniger als i n Arizona — i n Alaska, wenn man welche findet, genauso wie i n E l Salvador oder Peru. Es fehlt aber der Zusammenhang zwischen ihnen und uns: w i r stehen diesen alten metallosen und radlosen Zivilisationen ratlos — man entschuldige das billige Wortspiel — gegenüber. Daß dabei ein unerhörter Höchststand, eine unglaubliche Leistung erreicht wurde, sei zugestanden. Wozu braucht man Maschinen, wenn man genügend Sklaven hat? Wozu braucht man Metalle, wenn das reichlich zur Verfügung stehende vulkanische Obsidianmaterial dieselbe Schärfe und einen vielleicht höheren Härtegrad erreicht? Entsprechen Mittel- und das nördliche Südamerika der Inkas dem mediterranen Kulturkreise des Ostens, so mag man Nordamerika jenseits des Rio Grande m i t Germanien vergleichen: die blühende, wenn auch grausame K u l t u r der Azteken, Maya und Tolteken war nicht hinaufgedrungen — die holländischen und englischen Siedler fanden keine gleichwertige oder überlegene K u l t u r vor — m i t wissenschaftlich a Vgl. W. v. Ostwald, Die Forderung des Tages.

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durchgearbeiteten astronomischen Kalendern, mathematischen K a l k u lationen unter Auswertung der N u l l als Zahlenbegriff, Tempelpyramiden und Palästen 3 . Natürlich sahen sich die ersten Siedler auch nicht als „weiße Götter" begrüßt, sondern die Kolonisierimg begann eben ganz i m Sinne und System der „Maatschapij" und der zahlreichen „Königlichen Handelsgesellschaften", denen die britische Krone und das Parlament kommerzielle, administrative und judizielle Privilegien aufgrund einer „Charter" verliehen hatten. I m Nordosten des neuweltlichen Kontinents fehlte auch auf Seiten der aus dem Norden Europas gekommenen Siedler-Kaufleute die kreuzzugweisende Romantik der Conquista i m Namen der katholischen Majestät und der alleinseligmachenden Kirche. I m Norden mehr noch als i n den Provinzen der spanischen Krone entdeckte man bald, daß die Indianer das Arbeitstempo, welches die europäischen Siedler verlangten, nicht mitmachen konnten oder wollten. I m Jahre 1517, dem Jahre des Thesenanschlags M a r t i n Luthers, also i n einem für die Geschichte der „Würde des Menschen" wichtigen Jahre, schlug der spanische Bischof Las Casas vor 4 , es möge den Spaniern die Besiedlung der Neuen Welt dadurch erleichtert werden, daß jeder Siedler 12 Negersklaven mitbringen dürfe. Es soll hier nicht näher darauf eingegangen werden, daß der Ausdruck „slave" i n den Dokumenten der Kolonien zunächst überhaupt nicht vorkommt, obwohl die Engländer und Holländer, übrigens auch die Franzosen, sich als Seehandelsmächte am Sklavenfang und an der Sklavenlieferung von A f r i k a i n die Neue Welt beteiligten und i n diesem fürchterlichen Handelszweig, den viele Araber noch heute betreiben (ohne übrigens von den Vereinten Nationen gerügt zu werden, welche letztere über jede Abwehrhandlung Israels i n schäum wütige Empörung verfallen), miteinander wetteiferten. Man kann i m allgemeinen zu Ehren der nordamerikanischen „königlichen Provinzen" anführen, daß sie zunächst Schuldgefangene beschäftigten, die aber rasch entflohen und — ganz besonders i n A n betracht der bis zu Ende des 19. Jahrhunderts kaum entwickelten Identifizierungstechnik — nicht wieder stellig gemacht werden konnten. Die dunkle Hautfarbe und die anderen phänotypischen Qualifikationen prädestinierten die Neger zu diesen Dienstleistungen „ i n bondage", wie der beschönigende Rechtsausdruck lautet. M i t der Einführung der Sklavenarbeiten i n den Kolonien und ihrer Duldung i n 3 Siehe hierzu: Charles Gallenkamp, Maya (New York 1962). 4 Vgl. R. Rie, Das Schicksal der Neger in den Vereinigten Staaten (Schloß Laupheim: 1956).

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den Südstaaten nach dem Revolutionskrieg mußten jene Gebiete, die die Sklavenwirtschaft akzeptierten, einen Parallelfall zur antiken oder zumindest mittelalterlichen Wirtschaft mit ihren unterschiedlichen Unfreien darstellen. Daher haben w i r auch noch heute i n den Südstaaten der Union jene feudale Einstellung, die dem Reisenden so romantisch vorkommt und i h m allerlei aristokratisierende Genre-Bilder vorgaukelt, m i t klassizistischen Kleinpalästen, adelsähnlicher Lebensweise, treuherziger Negerdienerschaft und einem innigen Schutzverhältnis zwischen dem portikusgezierten Herrenhaus einerseits und den braven Hütten redlicher, vielleicht ärmlicher, aber reinlicher und glücklicher Halbleibeigener andererseits: eine Mischung aus „Gone w i t h the Wind" und „Onkel Toms Hütte" unter Ignorierung Tennessee Williams'. IL Für die Rolle der Wissenschaft i n den Vereinigten Staaten und ihr Übergewicht dürfen w i r aber die Ursachen nicht i m Süden suchen. Zwei Kategorien scheinen m i r die Anordnung zu liefern: der „ U r sprung" und die „Bewältigung". I m folgenden seien diese Terminologien erklärt: ihren Ursprung sehen die Staatsrechtler und Staatswissenschaftler m i t Recht i n der Gesamtphilosophie der Aufklärung. Der Revolutionskrieg wurde genauso i n der „Bei étage" der Enzyklopädisten vorbereitet wie — nach einem Worte Sainte-Beuves — die französische Revolution selbst. Die Präambel der noch heute gültigen amerikanischen Verfassung, der die Gerichte weit mehr als deklarative Bedeutung beilegen, könnte von Rousseau, Voltaire, von der Gesamtheit der intellektuellen Gäste der Pariser Salons dieser Zeit geschrieben worden sein — ganz so wie Jeffersons Unabhängigkeitserklärung. Verglichen mit modernen Verfassungen europäischer Staaten, kann man die transatlantische „ a l t " nennen. Wenn man sie aber aus dem Blickwinkel der Zeit ihrer Entstehung betrachtet, ist sie nicht nur neu, sondern auch das Produkt politologischer Erwägungen. Vergessen w i r doch nicht, daß i m Jahre 1789, als sie i n K r a f t trat — merkwürdige Koinzidenz: i m Jahre der Bastille —, die Goldene Bulle des noch bestehenden Römisch-Deutschen Reiches über 400 Jahre alt war, die Magna Charta weit über 500, Habsburgs Pragmatische Sanktion immerh i n einige 60 oder 70 Jahre — soweit man letztere überhaupt als Verfassung ansehen w i l l . Es fehlt uns i n den Vereinigten Staaten jene historische Mystik, die zu irgendwelchen Urvätern, apostolischen Erstaufträgen, Göttern oder Riesen der Vorzeit zurückleitet, obschon — wie w i r noch ausführen wollen — der Amerikanismus gerade nicht unter einem Mangel an apostolischem Sendungseifer krankt. Aber w i r kommen nicht, wie die

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Japaner, aus dem Unterleib einer Sonnengottheit; das amerikanische V o l k mag von den „Founding Fathers" seiner Union sprechen, kann sich aber nicht auf zwölf Brüder — oder waren es Stammesgötter mystischer Urzeit? — zurückleiten wie das Volk Israel, und es kann sich auch nicht wie das Papsttum auf Auftrag, Ermächtigimg und Nachfolgerechte i n die Schlüsselgewalt berufen, die der Gottes- und Menschensohn mit den Worten „ T u es Petrus" dem Fischer Simon übermachte. Wenn w i r also die unbestrittene These wiederholen, daß die Vereinigten Staaten ein Produkt des Gedankengutes der Enzyklopädisten sind, dann steht für die Erschaffung dieses Staatswesens, sobald w i r anerkennen, daß die Enzyklopädisten die Wissenschaft ihres Zeitalters repräsentierten, am Beginn der amerikanischen Geschichte das Wort: „ A m Anfang war die Wissenschaft". Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß die Wissenschaft i n dem noch jungen Staatswesen sofort ihre Herrschaft antrat. Ja, sogar das Wort „Wissenschaft" mag Deutung verlangen: i m deutschen Sprachbereich hat es eine weitere Jurisdiktion als i m englischen. Wenn man den Ausdruck „science" gebraucht, denkt man mehr an Naturwissenschaft und Technik. Man mag eine gewisse Symbolik darin erblicken, daß der erste Präsident der Vereinigten Staaten als Landvermesser anfing, während der intellektuell ungleich bedeutendere dritte, nämlich Thomas Jefferson, nicht nur ein Freund und Schüler der Enzyklopädisten war, sondern auch ein überaus origineller Erfinder, eine A r t Vorläufer Edisons. Es ist ohne weiteres verständlich, daß m i t der Stabilisierung der Union, dem Wachsen ihres materiellen Reichtums — w i r wollen noch nicht die heikle Frage seiner Verteilung erörtern — und der immer weiter sich verbreitenden Erkenntnis, daß das Vordringen zur Großmachtstellung nach dem Bürgerkrieg und zur Weltmachtposition nach dem Ersten Weltkrieg auch gewisse kulturelle Anforderungen stellt, das Interesse für Wissenschaft und Kunst beginnen und zunehmen mußte. M i t Absicht sagen w i r Wissenschaft und Kunst — i n dieser Reihenfolge; und nicht i m europäischen Schema Kunst und Wissenschaft. Diese Anordnung entspräche nicht der puritanischen Grundeinstellung eines Gesamtstaates, der faktisch kein Unterrichtsministerium besaß und i n seiner „Haupt- und Residenzstadt", als welche man die Kapitale Washington bezeichnen kann, keine aus öffentlichen M i t teln geförderte Schaubühne 5 .

s Die Situation hat sich heute etwas geändert: durch Bundesgesetz vom 11.4.1053 wurde ein Department of Health, Education and Weifare errichtet,

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Auch die Förderung der Wissenschaft seitens der öffentlichen Hand hielt sich i n sehr gemäßigten Grenzen, wobei w i r allerdings auch nicht vergessen dürfen, daß der wesentliche Posten des öffentlichen Einkommens, nämlich die Bundeseinkommensteuer, erst 1913 unter der Präsidentschaft Woodrow Wilson's eingeführt wurde — genauer: wieder eingeführt; denn ursprünglich hatte man zu Beginn des Sezessionskrieges bis 1872 eine solche Steuer erhoben. Man kann ruhig behaupten, daß bis i n die jüngste Zeit die Förderung der Wissenschaft wesentlich i n privaten Händen lag und daß erst das Heranbrechen des nuklearen Zeitalters einen Umschwung verlangte und erzwang. Zugeben muß man, daß die Hochschulen der bewaffneten Macht, also die drei Akademien, nämlich West Point für das Heer, Annapolis für die Marine, dann die Coast Guard (d. i. Küstenwach-)Akademie und i n jüngster Zeit die Akademie der Luftwaffe, Bundesunternehmungen verschiedenen Alters sind, wozu noch die Akademie der Handelsmarine und — merkwürdigerweise — die Negeruniversität Howard i n Washington kommen. Ansonsten lag die wissenschaftliche Ausbildung — geisteswissenschaftliche sowohl wie mathematisch-naturwissenschaftliche — i n den Händen der Privatschulen und Privathochschulen. Die Privatschulen, ganz besonders des Ostens, brachten — und bringen — ein gewisses Prestige, heute „status" genannt, als Abschlußgabe dem graduierenden Sekundarschüler dar. W i r wollen hier nur erwähnen, daß die bis vor kurzem höchstrangigen Privathochschulen noch heute jenseits öffentlicher Kontrolle stehen — vielmehr über andere, auch öffentliche, d. h. staatliche, Universitäten und Hochschulen direkte und indirekte Kontrollen ausüben: Harvard, Yale, Dartmouth, Columbia, Princeton, Cornell und einige andere gehören zur nicht näher definierten „ I v y ( = Efeu) League" und bilden nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch geistige Aristokratie, eine A r t Herrenhaus unter den weit über 2000 Hochschulen der Union. Die eben genannten Hochschulen besitzen Stiftungsvermögen (endowments), die für die individuellen Schulen in viele Hunderte Millionen Dollar gehen und es ermöglichen, die berühmtesten Gelehrten mit ganz hohen Gehältern anzustellen und die teuersten Apparaturen auch i n unserem nuklearen Zeitalter zu beschaffen. Es gibt auch eine Reihe nicht zur I v y League gehörige Hochschulen, die finanziell m i t dieser Schritt halten können: die Universitäten Chicago, New York, Northwestern und einige andere. das als Unterrichtsministerium aber nur sehr eingeschränkte Koordinationsbefugnisse besitzt. In letzter Zeit unterstützen die Bundesbehörden kulturelle Ereignisse aus bestimmten Fonds.

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Wegen der neuen finanziellen Anforderungen aber sind etwa seit Ende des Zweiten Weltkrieges, also seit Hiroshima, die staatlich betriebenen und finanzierten Hochschulen i n den Vordergrund getreten. Wissenschaft aber muß die beiden Problemkategorien der Union bewältigen: nämlich das Land i n seiner ungeheuren Größe als solches und die Bevölkerimg. Die Vereinigten Staaten, die sich gerne als the greatest country bezeichnen und auch als the world's riebest, sind merkwürdigerweise beides von Natur aus nicht. I n der westlichen Hemisphäre sind Kanada und Brasilien i m Areal größer — letzteres an Naturschätzen vermutlich reicher. M i t der Expansion des Territorialbesitzes mußte die Technik Schritt halten: Dampfschiff und Eisenbahn bewältigten diese Expansion i m 19. Jahrhundert. Das letzte D r i t t e l desselben sah aber bereits — sozusagen — das Aufblitzen des elektrischen Zeitalters an seinem Horizont. Es wäre ungerecht, wenn w i r i n diesem Zusammenhang nicht auch der juristischen Wissenschaft einen Anteil an der Entwicklung zusprechen wollten: einmal hatte der Höchstrichter Marshall i n zwei berühmten, i n Europa weniger bekannten Entscheidungen die höhere Souveränität der Union über die Bundesstaaten ausgesprochen; 1810 (Fletcher v. Peck) mußte sich Georgia gefallen lassen, von dem Höchstgericht als „not sovereign" bezeichnet zu werden, und 1819 wurde ein A k t des Parlaments New Hampshires, eines Neu-England-Staates, als die Bundesverfassung verletzend für ungültig erklärt (Dartmouth College v. Woodward). Ferner soll ausdrücklich daran erinnert werden, daß die meisten Staatsgesetze einander gleichen, so daß trotz der beschränkten Souveränität der Einzelstaaten praktisch i n allen Staaten dieselben meritorischen und formalen Vorschriften bestehen. Eine Ausnahme bildet der individualistische Staat Louisiana, der am Code Napoléon festhält. Die Expansion i m 19. Jahrhundert, die Westwärtsbewegung der „Frontier" — „dieses jugendlichen Staates bei seiner entschiedenen Tendenz nach Westen", um Goethe zu zitieren (Eckermann, 21. 2.1827) — folgte gleichsam einem „horror vacui", und es zeigte sich wieder die Richtigkeit der Hypothese, daß ein technisch fortgeschrittenes Volk, selbst wenn i n einer Minderzahl, die rückständige Urbevölkerung, selbst wenn i n der Mehrzahl, unterwirft oder vernichtet. Die zahlenmäßigen Angaben über die indianische Urbevölkerung schwanken, da sie j a statistisch nicht erfaßt werden konnte. „Die ,Frontier' und die Indianer" ist kein rühmliches Kapitel i n der amerikanischen Geschichte — zumal gerade heute die Amerikaner sich bemühen, überall die Deko-

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Ionisierung durchzusetzen —, was auch immer die Kongolesen oder Mau-Mau den weißen Siedlern zugefügt haben mögen. Die Expansion des territorialen Besitzstandes mußte logischerweise zu einem Wunsche nach Bevölkerungszunahme führen. Die Einwanderung wurde zu einer der größten Industrien des Landes, die — nicht sehr viel rühmlicher als die Sklavenverschiffung ein Jahrhundert früher — zu Ausbeutungserscheinungen übelster A r t führte. M i t großen Versprechungen lockten die Schiffsagenten ungelerntes Stadtund Landproletariat über den Ozean, das nun — m i t Ausnahme der bereits englisch sprechenden Iren oder Briten selbst — auch anglisiert werden mußte, soweit das möglich war. W i r haben bis zum Zweiten Weltkrieg drei große und für das Land sehr bestimmende Einwanderungswellen, -wogen, wenn man die Zahlen i m Verhältnis zu anderen abstimmt: erstens die besonders für den Mittelwesten sehr wichtigen deutschen Einwanderer aus und seit dem Jahre 1848; zweitens die irische Einwanderung, besonders nach der großen „Famine" des 19. Jahrhunderts, und endlich — zahlenmäßig viel kleiner, aber intellektuell von ganz großer Bedeutung — die Einwanderung der durch Hitler vertriebenen Juden und sonstigen „Nichtarier", deren Einfluß auf das amerikanische Geistesleben gar nicht abzuschätzen ist und wohl noch gar nicht abgeschätzt wurde. Natürlich dürfen w i r die anderen Einwanderermassen nicht vergessen, ganz besonders die Italiener, Griechen, die Skandinavier und Slawen, darunter viele Untertanen des habsburgischen Kaisers, die der dreijährigen Dienstpflicht der Doppelmonarchie entgehen wollten, und endlich die zahlreichen Juden, die vor zaristischen Pogromen flohen. Ostasiaten, die sich an der Westküste niederließen, aber auch bis an die Ostküste vordrangen, bilden eine eigene Gruppe. Ist es da ein Wunder, daß i n den Vereinigten Staaten die Soziologie Triumphe feiern konnte, ehe Europa diese noch recht als Wissenschaft anerkennen wollte? Irgendwie mußten diese ungeheuren Massen adaptiert, erfaßt und analysiert werden. U m sie zu „bewältigen", mußte ihnen vor allem der Begriff „Amerika" und der Amerikanismus — was immer man darunter verstehen wollte — nahegebracht werden, was die amerikanischen Schulen, ganz besonders die Hochschulen zwang, diesen Problemen nachzugehen, wobei und wodurch gerade die Politologen einen Aufschwung ihres Wissenszweiges zu verzeichnen hatten. Gewiß gerieten diese „Massen" zunächst i n Abhängigkeit von den politischen, für die Vereinigten Staaten so charakteristischen „Maschinen". Ihre Rechte als arbeitende Kräfte vertrauten sie den parteimäßig nicht gebundenen Gewerkschaften an, die seit Beginn dieses Jahrhunderts

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immer größeren Einfluß erlangten. Die Amerikanisierung erforderte eine gewisse minimale Schulbildung, schon u m die englische Sprache zu erlernen und sich auf die Naturalisierungsprüfimg vorzubereiten, die, wenn die Gerichts- oder Verwaltungsbeamten der einzelnen Grafschaften (Counties) boshaft sein oder bestimmte Individuen von der Bundesbürgerschaft ausschließen wollten, schwierig gemacht werden konnte. Nicht übersehen werden dürfen wissenschaftsfeindliche Strömungen, die vielleicht zu einer weiteren Höherbewertung der Wissenschaft und des Lernens beitrugen. A n und für sich haben w i r zwei „Hochschulmutterländer" i n der jungen Union — nämlich England und Deutschland. Bis etwa zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bildete das englische Hochschulwesen, die „Oxbridge"-Idee, das formale Erziehungsideal der einstigen königlichen Provinzen jenseits des Atlantiks. Die Triumphe der deutschen Schulmeister brachten den deutschen Universitäten — Heidelberg, Göttingen, Freiburg usw. — erneutes Prestige und eine A r t Exportqualität, obwohl ihre Organisationen, d. h. die Einteilung i n die historischen Fakultäten, i n der Union nicht nachgeahmt wurden. Die wissenschaftsfeindlichen Strömungen fanden sich dort, wo sich materieller Erfolg ohne formale Vorbildung eingestellt hatte. Zahlreiche Kaufleute, Industrielle, ja, selbst Techniker waren Millionäre geworden, ohne jemals eine europäische oder amerikanische Sekundärschule besucht zu haben — geschweige eine Hochschule. Bis i n die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, bis etwa i n jene Wochen, i n denen der „Sputnik" der angeblich rückständigen und i m Lebensstandard gedrückten Russen hübsch, aber drohend den Erdball umkreiste, kam aus diesen Kreisen der ökonomischen Naturwunder mancher Widerstand gegen „unpraktisches" Wissen, wozu all das gezählt wurde, was die Europäer etwa „Humaniora" nennen, womöglich Fremdsprachen, da alle Welt Englisch lernen mußte oder sollte, und gegen jene Fächer der „Sciences", die nicht unmittelbar „praktisch" genannt werden können, wie etwa höhere Mathematik, theoretische Physik und dgl. m. Man kann das Auftreten des „Sputnik" i m Herbst 1957 als eine Krise bezeichnen, die der Deweyschen Erziehungsphilosophie, die i n W i r k lichkeit viel mehr als das war, eine abschließende Grenze setzte. Man hat John Dewey viel vorgeworfen, was eigentlich seine Schüler und Nachahmer oder nacheifernde Zeloten verursacht hatten. Immerhin ist seine Idee der Ausbildung des jungen Amerikaners nicht zu einem

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hochschulreifen Gelehrten — w i r sprechen i n europäischen Kategorien und bitten, das unterrichtsadministrative Wort „hochschulreif" zu beachten — oder Kandidaten, sondern zu einem die Demokratie verstehenden und ihr nützlichen Staatsbürger als ein Resultat der sozialen Zustände des 19. Jahrhunderts i n den Vereinigten Staaten zu verstehen, als ein Präceptum zur Bewältigung der Einwanderungsund Bevölkerungsprobleme. U m eine Metapher zu gebrauchen: aus den herumgestoßenen Massen der Zwischendeckpassagiere mußten möglichst schnell bodenständige Bundesbürger geschaffen werden. Die amerikanische Einstellung unterscheidet sich hierin — w i r behaupten, vorteilhaft — von der europäischen: auf dem alten Kontinent w i r d der Zugereiste, der Einwanderer abgelehnt und seine Einmengung i n öffentliche Angelegenheiten w i r d i h m verübelt. Er kennt die Bräuche und Überlieferungen nicht, hat daher zu schweigen. Der Amerikaner wünscht, daß sich der Neuankömmling sofort für die „res publica" interessiert. Die vielbelachten Anekdoten, berichtet von europäischen Künstlern, die etwa zum erstenmal i n den Vereinigten Staaten, gerade i n Texas angekommen und i n einem Hotel abgestiegen, bereits von den lokalen Presseleuten mit Fragen für zu veröffentlichende Interviews bestürmt werden, wie etwa: „Was halten Sie von unserem demokratischen Kandidaten für den Posten des Staatsgouverneurs?", beleuchten diese Einstellung. „ L a politique, c'est le destin" — dieser Satz gilt natürlich auch i n den Vereinigten Staaten, aber auch der Satz, daß man alles lernen soll und kann, daher auch die bestimmenden Grundlagen des amerikanischen Lebens, nämlich die Politik bzw. ihre Wissenschaft, die Politologie. Die Ansicht eines distinguierten Fremden zu einer politischen Lokalfrage ist von Interesse, und der amerikanische Durchschnittsbürger kann sich nicht recht vorstellen, daß sich der Tourist für politische Fragen nicht interessiert. Die Umschichtung der immer mehr anwachsenden Bevölkerung erzeugte neue Probleme und verlangte nach neuen wirtschaftlichen und technischen Methoden: die Befreiimg der Sklaven bewirkte auch i m Süden eine weitere Industrialisierung, wenn sie auch nicht m i t dem Norden Schritt halten konnte. Der Großgrundbesitz verlor billigste Arbeitskräfte und mußte sich der Landwirtschaft der übrigen Staaten anpassen, die immer mehr maschinelle Apparaturen gebrauchte, damit aber auch ihre Produktion i n einer Weise und zu einem Grade erhöhte, der heute als Überproduktion den Behörden nicht wenig Sorge bereitet. Die Gewerkschaften organisierten die Arbeiter i n den Industrieund Grubenbetrieben. Erhöhte Löhne, aber auch das Abströmen besser gebildeter Arbeitskräfte i n andere Berufsschichten — i n der A g r i k u l t u r haben w i r klassische Beispiele von Landflucht — erzwangen neue

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technische Methoden, die heute wiederum — i m elektronischen Zeitalter — sehr gebildete Arbeitskräfte verlangen und die Existenz der weniger geschulten bedrohen. I m Gefühl ihrer verminderten Konkurrenzfähigkeit auf dem A r beitsmarkt sind diese letzterwähnten ungelernten Arbeitskräfte, die sich sehr oft, aber nicht nur aus den rassischen Minoritäten der Bevölkerimg, also hauptsächlich Negern, Puertorikanern, auch Indianern, rekrutieren, die Nährsubstanz der schweren sozialen Unruhen, die unser Land ganz besonders i n den jüngst vergangenen sogenannten „heißen" Sommern, aber auch bereits i m sehr „heiß" gewesenen Frühl i n g 1968 erschüttert haben. Anstatt der industriellen Revolution stehen w i r hier vor einer A r t automatonisch-elektronischen. W i r können aber auch eine sehr paradoxe, wenn auch parallele Entwicklung zu einer früheren gewahren: „We shall overcome" und „We want to be free!" rufen diese vorläufig aus dem elektronischen Automatisierungsprozeß ausgeschalteten — oder auch durch ihn arbeitslos gewordenen — verfügbaren Arbeitskräfte. Schulungsmethoden und -systeme aller A r t werden bereits erdacht, um diese Menschen, die sich durch die aufgezwungene A r beitslosigkeit oder mindere Handlangerarbeit an Sklavenzeiten erinnert fühlen, i n den technisch höheren Arbeitsprozeß zurückzuführen. (Ich w i l l nicht von denen sprechen, die die staatliche und Bundesarbeitslosenfürsorge als eine A r t lebenslängliche Pension gewissenlos ausnützen.) Zweifellos werden diese i n den Arbeitsprozeß Neueingestuften zu Sklaven einer noch viel entwickelteren, viel vollkommeneren Mechanisierung, die noch viel schnellere und viel monotonere Handgriffe verlangt als etwa Henry Fords „laufendes Band". Die Vereinigten Staaten, die schon heute an Überproduktion leiden, weshalb — trotz der Entwertung des Dollars i m Verhältnis zum Gold oder zur menschlichen Arbeitsstunde — die Waren i m allgemeinen überraschend billig geblieben sind, wovon sich jedermann bei einem Rundgang durch die amerikanischen Warenhäuser und die so überaus häufigen und beliebten „5 and 10 Cents stores" (Woolworth, Kresge, Murphy usw.) überzeugen kann, sehen sich dem Problem der Freizeitgestaltung als einem der ganz großen Probleme unserer nächsten Zukunft gegenüber. Man spricht bereits von einer 30-Stundenwoche und vermutet, daß automatisch geschaltete und nur zu überwachende Computer die A r beit der Individuen übernehmen werden. Sehr beliebt ist eine sonntägliche Fernsehsendung, veranstaltet von einem der drei großen nationalen Netzwerke und gesprochen von dem überaus populären Walter Cronkite, die (in meiner Ubersetzung) „Das 21. Jahrhundert"

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heißt und verschiedene technisch-wissenschaftliche Fortschritte zeigt, die i m 21. Jahrhundert der Bevölkerungsmasse zugänglich sein werden, an denen aber schon jetzt gearbeitet wird. Eine der amüsantesten Sendungen war „Der Haushalt der Zukunft", m i t dem verglichen der moderne Haushalt einer amerikanischen Familie m i t seinen — wenn w i r den Statistikern glauben dürfen — durchschnittlich 31 laufenden Motoren und Apparaturen mittelalterlich erscheinen muß. Der Gast des (zukünftigen) runden und je nach Wunsch dem Licht oder Schatten sich zuwendenden Hauses w i r d i m Vorraum von Strahlen antiseptisch gereinigt und betritt das k l i m a t i sierte und mit unzähligen Apparaturen ausgestattete Wohnzimmer seiner Freunde. Die Hausfrau drückt auf den Knopf einer kleinen A r t Taschenlampe, und es öffnet sich ein Wandschrank, aus welchem ein fürchterliches metallisches oder plastisches Wesen, ein Robot, m i t acht Beinen und mehrfachen Armen, durch Kugellager und m i t Hilfe elektrischer Signale, t r i t t . Dieses metallisch-plastische Scheusal ist das geschlechtslose Dienstmädchen der Zukunft, zugleich Kammerdiener und Koch. I n seinem Bauche bereitet es kleine Speisen und aus seinem metallenen Munde quellen — je nachdem — kalte oder warme Getränke. Das Scheusal serviert m i t mehreren Armpaaren, putzt, saugt Staub und betätigt sich auch sonst nützlich. Es reinigt sich selbst und kehrt auf elektronische Signalbefehle i n seinen Stehsarg zurück. Eine Küche gibt es kaum mehr — nur ein winziges Kabinett, i n welchem m i t Hilfe von Strahlen alle gewünschten Speisen i n wenigen Minuten gar gekocht, gebraten, geröstet oder gebacken werden. Dieser dienende Apparat ist w o h l mehr als ein Witz zu verstehen; viel ernster sind jedoch die Versuche m i t der Beeinflussung der genetischen und psychischen Struktur künftiger Generationen auf chemischem Wege. Ob der Gebrauch von Rauschmitteln (Marihuana, LSD usw.) wirklich so sehr verbreitet ist, namentlich unter der akademischen Jugend, wie die immer sehr sensationslüsterne Presse es behauptet, läßt sich schwer beurteilen. W i r müssen eher annehmen, daß die sehr ausgesprochene Verurteilung des Rauschmittelkonsums den starken Anreiz hervorruft, den jede verbotene Frucht besonders auf die Jugend ausübt. Unterschwellig macht sich bereits Angst vor der zunehmenden Macht der Wissenschaftler geltend: gewiß ist die erste erfolgreiche Herztransplantation i n Südafrika durchgeführt worden, und w i r alle freuen uns m i t dem Zahnarzt und seiner Familie, daß i h r Oberhaupt, i n seiner Brust das wiederbelebte Herz eines Negers, sein Krankenhaus als Genesener verlassen konnte. Schon wurde aber darauf hingewiesen, daß vielleicht i n einer späteren Zuk u n f t die Ärzte reicher und mächtiger Patienten ärmere und „ u n wichtigere" Kranke oder Verletzte mit gesunden Herzen sterben lassen 10 Tagung Dortmund 1968

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könnten, u m die Transplantation erfolgreich und reklameversprechend vorzunehmen. W i r wollen nicht vergessen, daß England vor etwa eineinhalb Jahrhunderten das Land der Leichenräuber w a r und angeblich gesunde und kräftige Menschen wegen ihrer lehrreichen Körperbildung möglicherweise ermordet wurden. I n Mexiko haben w i r die Azteken studiert, deren Priester Jünglinge als Menschenopfer aussuchten und den Todgeweihten m i t Obsidianmessern das Herz aus dem lebenden Leibe rissen, u m es der Gottheit darzubieten. Die heutige, die zukünftige Gottheit heißt Wissenschaft — eine andere Gottheit: Mammon, eine dritte: Publizität. W i r können da eine gefährliche Brücke erkennen, die doch von vorkolumbischer Zeit i n unsere Gegenwart und i n die nahe Zukunft leitet. Die große soziale Krise, die jetzt, da w i r hier diskutieren, daß große transatlantische Reich erschüttert, ist nicht zuletzt dadurch verursacht worden, daß die „Verwissenschaftlichimg" oder Technisierung des amerikanischen „Way of Life" zu einer Ausschaltung und Verarmimg der bildungsmäßig nicht vorbereiteten Bevölkerungsschichten geführt hat. Die privilegierte Rolle, die i m „Ancien Régime" von den beiden höheren Ständen, Adel und Klerus, gespielt wurde, ist den Wissenschaftlern und Technikern zugefallen. Unser „Tiers Etat" der Neger, Puertorikaner, Kleinfarmer usw. w i l l die Wissenschaftler nicht absetzen oder ausrotten, sondern verlangt nach Zulassung zu denselben Bildungsmöglichkeiten — oder zumindest ähnlichen —, die Beschäftigung und ein würdiges Lebensniveau versprechen. Diese Schichten wollen nicht ausgeschaltet bleiben, sondern i n den breiten Strom der Produktion und Konsumption eingeschaltet werden. Damit sind w i r bei den Urproblemen der großen Demokratie angelangt. I n staats- und verfassungsrechtlicher Hinsicht können trotz aller Schwierigkeiten und Gegenströmungen die Gesetze über konstitutionelle Gleichberechtigung verbessert und durchgeführt werden; die sogenannte Integration mag versuchen, die gesellschaftliche Gleichberechtigung zu erreichen, obwohl es unwahrscheinlich ist, daß soziologische Gegebenheiten i m gesetzlichen Wege geändert werden können: es scheint nicht sehr möglich und vernünftig, zu verordnen, daß Weiße und Schwarze gesellschaftlich zusammenkommen müssen, daß schwarze Kinder meilenweite Autobusfahrten unternehmen sollen, u m i n Schulklassen ein statistisches Spiegelbild der amerikanischen Gesamtbevölkerung zu erreichen, womit ja i n diesen speziellen Fällen die Verwissenschaftlichung des täglichen Lebens „ad absurdum" geführt w i r d — und zwar von wohlmeinenden Schuladministratoren. Denn genauso gut, wie man verlangen kann — und tatsächlich verlangt —, daß

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10 Prozent i n jeder öffentlichen Schulklasse schwarz sein müssen, könnte man verordnen, daß jedes 25. K i n d jüdisch sein müsse oder etwa 35 Prozent katholisch, soundso viele Schüler linkshändig und dgl. mehr. Was w i r hier am Werke sehen, ist, so paradox es klingen mag, der religiöse, fast fanatische Glaube der mathematisch ausgerichteten Wissenschaft — jenes Teiles derselben, der zwar nicht aus dem Unterleib irgendeiner Shinto-Sonnengöttin, sondern vom Schreibtisch der aufklärerischen Enzyklopädisten, der eigentlichen amerikanischen Patriarchen, i n unser Zeitalter entlassen wurde — an sich selbst und an ihre alleinseligmachende Qualität. Eine gewisse Atemlosigkeit des amerikanischen Lebens fällt jedem Besucher der Vereinigten Staaten auf: E i n Gebäude wurde vor nicht allzu langer Zeit errichtet, erscheint dem Europäer einigermaßen modern. Immerhin mag es den Anforderungen aus irgendwelchen Gründen heute nicht mehr genügen. Und schon w i r d es abgerissen! Die Möglichkeit eines U m - oder Ausbaues, einer Entwicklung, w i r d nicht erwogen. W i r haben dieses Prinzip der Atemlosigkeit, des Sich-nichtEntwickeln-Lassens auch i m Beruflichen: ehe man dem Angestellten erlaubt, sich an etwas Neues i m Betriebe anzupassen, entläßt man i h n lieber und hofft, daß der neue Mann wegen seiner Neuheit besser sei als der alte. Die Wissenschaft ist aber nicht nur eine herzlose, unmenschliche Diktatorin. I n sie eingebaut ist als ein wesentliches Element ihre Selbstkontrolle und Selbstkritik. W i r dürfen nicht vergessen, daß die Diskussion gerade i n den Vereinigten Staaten als ein wesentliches Element der Demokratie angesehen w i r d und daß die Wissenschaft in ihrer „Fast-Allmacht" eben wegen dieses „fast", wegen dieses „beinahe" einen Spielraum für ihre Antithese i m dialektischen Quid-proquo freiläßt. I m Lande der Computer kommt es immer wieder zu deren gelegentlichem Versagen: dann muß der Mensch eingreifen und das Produkt der Wissenschaft korrigieren; dieser Mensch ist vermutlich ein Wissenschaftler, aber er triumphiert über die Wissenschaft und bleibt zuletzt i h r menschlicher Herr! Vielleicht dürfen w i r als erste und wichtigste Folge der amerikanischen Einstellung zur Wissenschaft, i n ihrem Ursprung also eine durchaus aufklärerisch-enzyklopädistische Einstellung, ihren Homozentrismus ansprechen: der Mensch und seine Wohlfahrt bleibt der Hauptzweck der Wissenschaft und ihrer Ziele, wobei aber die Freiheit und Selbstbestimmung nicht vergessen werden sollen. I h r Berichterstatter ist sich dessen voll bewußt, daß i m öffentlichen Leben der Vereinigten Staaten die Wörter „ L i b e r t y " oder „Freedom" bis zum 10*

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Überdruß wiederholt werden und ihr Gebrauch i n einem Lande ironisch w i r k e n muß, i n welchem die Zeiten längst vorbei sind, da der Stellenbewerber zum Chef gehen kann und u m Anstellung ersucht. Denn fast i n allen Industrien — nicht i n allen — herrschen die Gewerkschaften, die die bei ihnen Eingetragenen aufgrund komplizierter Alleinvertretungsrechte i n den Arbeitsprozeß einschleusen. W i r wollen auch die ganz eigenartigen „Zoning"-Gesetze der Ortsoder Stadtgemeinden übergehen, die sehr bedeutende Einschränkungen für Hausbesitzer m i t sich bringen; endlich sei die wichtigste Freiheitsbeschränkung unbeachtet gelassen: die Konvention, jene so typisch anglo-amerikanische unsichtbare Kontrollmacht, die darüber Buch führt, ob ich meinen Rasen pflege, mein Haus i n einem reinlichen Zustand halte, samt Garage und Vorplatz, auf dem keine leeren Flaschen womöglich auf stattgehabten Alkoholgenuß hinweisen d ü r f e n . . . Obgleich die Vereinigten Staaten sich der Idee des Wohlfahrtsstaates mehr und mehr nähern, muß hervorgehoben werden, daß die Staatsphilosophie des Landes den starren Dogmatismus ablehnt, wie ihn etwa der marxistische Leninismus des Ostens aufrechterhält. M i t einer Ausnahme allerdings: w i r finden fast überall einen Glauben an die Majorität, an das Stimmrecht jedes Menschen und die Wahrheit der Willensbildung durch die Mehrheit bei Ausübung des freien, gleichen und geheimen Wahlrechts. I n unseren Tagen können w i r die manchmal grotesken Folgen dieser mehr arithmetischen als höher-mathematischen Einstellung sehen. Merkwürdig bleibt, daß die amerikanische Staatsphilosophie selbst nach Erkenntnis ihrer eigenen Unanwendbarkeit i m Bereiche minder entwickelter Nationen dennoch an ihrer eigenen Heilslehre festhält — also an den Grundsätzen der Dekolonialisierung, der Demokratie durch Majoritätsherrschaft und der nationalen Selbstbestimmung jenseits wirtschaftlicher und historischer Überlieferungen, welch letzteres Prinzip zur Auflösung großer ökonomischer Bereiche geführt hat — man denke nur an das Ende Österreich-Ungarns —, ohne daß übrigens das nationale Autonomieprinzip — man denke an die deutschen M i n derheiten i n den Nachfolgestaaten — v o l l zur Geltung gekommen wäre. Allerdings w i r k e n sich jetzt diese Prinzipien aufklärerischer, wissenschaftlicher A r t — w i r denken an Soziologie und Anthropologie — i m amerikanischen Inlande aus, jetzt, da dieser Vortrag gehalten w i r d : die ungemein schwache Retribution nach den schweren Negerunruhen des soeben abgelaufenen Frühjahres, die Manifestationen schlechten Gewissens und tätiger Reue auch seitens ganz imbeteiligter Weißer wären ohne die wissenschaftliche Einstellung der Beteiligten bzw. Un-

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beteiligten undenkbar. Der Grundsatz könnte etwa so formuliert werden: „Ich bin schuldig, weil ich zu einem gesellschaftlichen Problem der Nation keinen Lösungsvorschlag beigetragen habe." „Nel mezzo del camin , d i nostra vita" finden w i r Amerikaner uns i n tiefster Dunkelheit — nach glänzenden Perioden unserer noch kurzen Geschichte. „ W i r haben aber gesehen", sagt Schiller i n seinem Meisteraufsatz über die Gesetzgebimg des Lykurgus und Solon, „daß Fortschreitung des Geistes das Ziel des Staates sein soll". Solches wollen und dürfen w i r auch für die große transatlantische Demokratie erhoffen.

Planung als Wissenschaft und als Aktionsmodell Von Prof. Dr. Joseph H. Kaiser, Freiburg/Br. Lassen Sie mich sogleich m i t der Frage beginnen: Was ist Planung? Planung ist natürlich Bauplanung; Planung ist aber auch Stadtsanierung, Räumordnung. Sehr früh hat i n diesem Raum der Ruhr-Siedlungsverband z. B. geplant. I n den meisten Ländern der Bundesrepublik gibt es Planungsgesetze. Planung ist danach die Ordnung von Wohnund Industriesiedlung. Für das Bundesgebiet gibt es ein Bundesraumordnungsgesetz, das einen gewissen rechtlichen Rahmen für die Planung setzt. Planung ist aber auch Steuerung der Konjunktur 1 . Aber nicht nur bei uns w i r d geplant; Planung ist auch europäische Regionalpolitik. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften i n Brüssel plant, das deutsche Mitglied von der Groeben ist i n der Kommission für europäische Regionalpolitik zuständig. Darüber hinaus w i r d auch die räumliche Ordnung der Welt i n gewisser Hinsicht geplant. Die EWG ist ein Raum, und die EFTA ist ein Rand, der sich u m den Raum der EWG herumgelegt hat. I n den sozialistischen Staaten haben w i r das COMECON. I m Westen gibt es die N A T O und i m Osten den Warschauer Pakt: Planungsorganisationen i m militärischen Bereich, deutlich räumlich abgegrenzt. Die Planung ist aber nicht so neu, wie diese Beispiele andeuten könnten. Schon i m Zeitalter der Entdeckungen gab es Freundschaftslinien. Großräumig wurde unter dem französischen König Heinrich I V geplant. Der Herzog von Sully hatte einen Plan entworfen, den nannte er „Grand Dessin". Wer das hört, denkt an den „Grand Design" des Präsidenten Kennedy, der z.B. den Zuwachs des Sozialproduktes exakt plante. Das alles, meine Damen und Herren, ist Planung i n der Dimension des Raumes. Aus dem Raum entwickelt sich für diese verschiedenen Pläne jeweils eine bestimmte Ordnung und auch ein gewisses Recht, i n der Antike z. B. i n Ägypten aus der Regulierung des Nils und bei den Griechen aus der Verteilung von Grund und Boden. Diese Ordnung des Raumes nannten die Griechen „nomos". Ich nenne diesen Begriff hier, w e i l ich später darauf noch zurückkommen werde. Das ist aber nur eine Dimension, die des Raumes. Sie zeigt einen Pluralismus von Räumen. W i r sind hier m i t der Tatsache konfron1

Zum Ganzen vgl. Planung I—III, Baden-Baden 1965—1968.

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tiert, daß die verschiedenen Planimgsräume, die gleichzeitig auch Leistungsräume sind, sich überschneiden, je nach ihrer Funktion. Wenn man dann noch den Weltraum hinzunimmt, i n dem ja Russen und Amerikaner auch schon eine Rechtsentwicklung planen (die Haftung für Unglücksfälle i m Weltraum unter sich verteilen u. dergl.), so w i r d klar, w a r u m man heute gern von Raumexplosion spricht. Die genannten Beispiele zeigen aber auch noch einen anderen Aspekt solcher Pläne, nämlich ihre Funktionalisierung. Es gibt wirtschaftliche Planung, militärische Planung; es gibt i n der militärischen Planung das Crisis-Management. Wenn Sie an die Kuba-Krise denken, so haben Sie ein Exempel für Crisis-Management. Dieses Management von Krisen w i r d natürlich vorweg geplant — und nicht nur die Beherrschung militärischer Krisen — m i t der Tendenz, die Gefahren möglichst hinabzustufen. Und das ist gekonnt! Wie oft gab es z.B. i n dem Luftraum zwischen der Bundesrepublik und Berlin krisenhafte Ereignisse! Nach einem Ablaufplan sind diese Krisen — es gab mindestens fünf — herabgestuft worden, u m den Frieden zu erhalten, u m die möglichen Konfliktentwicklungen zu verhindern. Also es gibt militärische Planung, wirtschaftliche Planung, Unternehmensplanung. Es gibt die Planung von Branchen; die EinheitsgeseHschaft für die Ruhrkohle hat z.B. die Planung einer Branqhe zum I n halt. Ich verwende gerade dieses Beispiel, u m anzudeuten, was ein Mangel an Planung an Problemen zu bringen vermag. Ich wünschte, man hätte hier schon viel früher geplant. Daneben kennen w i r die Steuerung der Konjunktur. Der Bundeswirtschaftsminister hat — schon ist es ein Schulbeispiel — 1967 m i t den Investitionsprogrammen die K o n j u n k t u r beeinflußt. Dér Finanzminister hat die Finanzplanung der Bundesregierung dem Parlament präsentiert. Das sind verschiedene Arten von Planung. M i t der mittelfristigen Finanzplanung für fünf Jähre t r i t t nun noch eine andere Dimension i n unser Bewußtsein: neben der Erstreckung i n den Raum haben w i r hier die Erstreckung i n die Zeit. Auch sonst gibt es eine ganze Reihe von mittelfristigen Programmen oder Plänen; die sozialistischen Staaten kennen sie seit sehr langer Zeit. Warum nun, meine Damen und Herren, diese ganze Aufzählung von Dingen, die Sie alle längst kennen? Ich wollte Ihnen von der Anschauung her den Planungsbegriff entwickeln, u m die These aufzustellen, daß es einen Planungsbegriff für alle diese verschiedenen Arten von Planungen gibt. Die Erfahrung lehrt, daß Prinzipien und Methoden der Planung aus einem Bereich übertragbar sind auf andere Bereiche. Erlauben Sie mir, das an einer Geschichte darzustellen. Amerikanische Experten studierten den Ablauf der Planung des preußischen General-

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stabs i m Krieg 1870/71 und meinten, so müßte man doch auch eigentlich i m Unternehmensbereich planen können 2 . Fußend auf den Planungen des berühmten preußischen Generalstabs, entwickelten sich i n den USA nach der Jahrhundertwende Planungstheorien für die Unternehmensführung. Aus dem Unternehmensbereich wurden Planungsgrundsätze i n den militärischen Bereich übertragen, von dort i n den Bereich der Gesamtpolitik und von dort wiederum — nunmehr auch bei uns — i n den Bereich der Unternehmungen m i t ihren modernen Formen des Managements einschließlich des Marketing usw. Aus all diesen Bereichen gewinnt man Erfahrungen. Es bildet sich eine Terminologie; alles ist weitgehend übertragbar. A u f der Grundlage einer Studie des Pentagons hat einer meiner Mitarbeiter, Graf Schlieffen, einmal allgemeine Planungsgrundsätze am Beispiel der militärischen Planung dargestellt 3 . So viel über Planung. Nunmehr: Was ist denn die Wissenschaft der Planung? Die Verwissenschaftlichimg der Welt ist seit Max Weber ein Bestandteil aller Theorien des gegenwärtigen Zeitalters. Vor diesem Auditorium genügt es, den Namen Max Webers zu nennen, u m den Strom dieser Entwicklung i n seiner ganzen Breite zu umreißen. Die Soziologie hat daran einen großen und für die bisherige Phase auch typischen Anteil, wie namentlich an den durch die Namen Gehlen und Schelsky bezeichneten Richtungen abgelesen werden kann. Neben der Soziologie holen andere Disziplinen auf. Die Volkswirtschaft — vor allem die mathematische Richtung — und auch die Jurisprudenz vergrößern gegenwärtig ihren Anteil an diesem Prozeß, den ich global einmal m i t dem Wort „Verwissenschaftlichung der Welt" bezeichne. Die Wissenschaft der Planung bezeichnet i n diesem Prozeß, wie ich meine, eine Steigerimg der Verwissenschaftlichung, und zwar eine Steigerung i n mehreren Dimensionen. Überaus kennzeichnend ist für sie die Dimension der Zukunft. Planung ist Zukunftswissenschaft, mehr als alles andere, was zu der Verwissenschaftlichung der Welt beiträgt. Wenn es erlaubt ist, das Wesen einer Wissenschaft auch einmal durch Konfrontation zu erläutern, dann würde ich meinen: Planung hebt sich vorteilhaft ab von den Disziplinen, die sich die Bewältigung der Vergangenheit zur Aufgabe gemacht haben und immer noch machen. So verdienstvoll und so notwendig dies ist, sollten sich aber doch alle, die hier Verantwortimg tragen, Arbeiten anregen, M i t t e l bereitstellen, fragen, ob die persönliche und sachliche Investition i n die Vergangenheit i m richtigen Verhältnis steht zu den Investitionen i n die Zukunft. * Fritz Morstein-Marx: Zum Ursprung des Staatsbegriffs in den Vereinigten Staaten, Köln 1968. 5 Albrecht Graf von Schlieffen: Begriff und aktuelle Elemente militärischer Planung, Planung II, 1966, S. 29—47.

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Planung ist eine praktische Wissenschaft. Die Dimension der Praxis ist hier i n der Tat besonders ausgeprägt. Ich werde nachher am Aktionsmodell der Planung darstellen, daß kaum unterschieden werden kann zwischen Planaufstellung und Plandurchführung. Ebenso durchdringen sich i n der Planung Theorie und Aktion. Planungswissenschaft mündet immer i n einen Aktionsentwurf. So, wie für die aktive Planung das ständige feedback kennzeichnend ist, so ist auch für die Planungstheorie nicht nur die Konfrontation m i t den Ergebnissen und die Korrektur, die daraus folgt, typisch, sondern die Ergebnisse müssen und können unmittelbar eingeführt werden i n das wissenschaftliche Konzept. Die Wissenschaft erfährt i n der Planimg also gerade i n Richtung auf die Praxis eine Steigerung von größter Intensität. Eine andere Dimension der Planungswissenschaft ist i h r interdisziplinärer Charakter. Er ergibt sich von selbst aus den ganz verschiedenen Bereichen der Planung, von denen ich sprach. Schließlich kennt die Planung auch die historische Perspektive; sie weiß, aus der Vergangenheit zu lernen. Die Nationalökonomen wissen zu extrapolieren, und das ist ja auch schon das Nutzbarmachen der Kenntnis der Vergangenheit, vergangener Entwicklungstendenzen, um zu prognostizieren. Aber die Planung kann sich die ganze Tiefe unseres historischen Bewußtseins zunutze machen, wie sie horizontal auch die Planungserfahrungen anderer Länder — und u. U. sehr entfernter Länder — verwerten kann: Japans, Lateinamerikas z.B., die m i t großem Nutzen für die Entwicklung eines praxisnahen Planungsbegriffes, einer Planungsmethode verwandt werden können. Ich habe mehrfach von der Steigerung der Verwissenschaftlichung gesprochen, die die Planungswissenschaft hervorbringt. Die Einsicht i n die Zunahme geschichtlicher Größenverhältnisse ist sehr alt; sie ist eines der ersten Resultate europäischer Geschichtsschreibung. Thukydides hat diese Erkenntnis i n seiner Archäologie als Erfahrungssatz entwickelt: am Schiffsbau, an der Seefahrt, an den Rüstungen, an den Heeren, an den ökonomischen Mitteln, an den Ergebnissen, an der konkreten politischen Macht. Was Thukydides am Gewesenen erkennt, gilt für i h n auch für das Zukünftige, d. h. er glaubt, daß i n der langen geschichtlichen Entwicklung alle Räume, alle Kräfte, die Heere, die Rüstungen und schließlich die politische Macht immer größer und größer werden. Aber selten ist es das Phänomen dieser Steigerung selbst, das für i h n deutlich ins Blickfeld tritt. Einmal, am Ende der Einleitung seiner „Geschichte des Peloponnesischen Krieges" t r i t t es hervor, und er versucht das Maß dieser ständigen Steigerung zu erkennen; es liegt

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für ihn i n der Natur des Menschen. Dies ist der Hauptgrund, warum ich das Ganze hier darstelle. Thukydides erlebt die Steigerimg am Beispiel der ständigen Steigerung der Macht Athens 4 . Er hält sie für die Ursache des Peloponnesischen Krieges, aber sonst läßt er das Phänomen auf sich beruhen. Nun möchte ich unsere gegenwärtige Lage i n Vergleich zu der des Thukydides setzen. Für uns ist diese Steigerung selber das Problem; w i r nennen es das Problem des Wachstums. Damit meinen w i r natürlich zuerst ökonomisches Wachstum, aber auch: Vertiefung der Bildung, Verbesserung der Erziehung, Planung für bessere Gesundheit, Planung eines besseren Zivilisationskomforts, Planung i m Bereich der Wissenschaft. Das alles steht letzten Endes unter den Auspizien des Wachstums. Die Steigerung selbst bildet hier den Forschungsgegenstand. Wenn w i r uns nun wie Thukydides fragen, w o r i n das Maß der Steigerung liegt, werden w i r vielleicht genauso antworten müssen: Das Maß ist der Mensch; es ist die Natur des Menschen, die sich i n dieser langen Zeit doch wohl wenig verändert hat. Der Gesetzgeber hat das Wachstum heute zum Gegenstand seiner Gesetzgebung gemacht, nämlich i m Stabilitätsgesetz. Hier sind einige Komponenten des Steigerungsprozesses genannt als ein Rahmen, in dem sich dieser Prozeß vollzieht. Wenn ich dieses sog. magische Viereck zeichnen würde, dann würde ich an die Spitze immer das Wachstum setzen und es dreimal unterstreichen und darunter die anderen Ziele: Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Stabilität der Währung. Ich sprach einmal i n Freiburg darüber und erklärte: „Die Magie, die die Ökonomen i n diesem Viereck finden, hat der deutsche Gesetzgeber i m letzten Jahr zum Inhalt eines Rechtssatzes gemacht (§ 1 des Stabilitätsgesetzes). W i r Juristen werden noch merken, was das bedeutet, wenn der Gesetzgeber diese Magie zum Inhalt eines Rechtssatzes macht." Darauf sagte der große französische Planer Etienne Hirsch: „Kaiser hat etwas vergessen. Man kann sagen, was die Magie i n Wirklichkeit ist. Sie ist die Freiheit, die trotz aller Gesetzmäßigkeit des Wachstums noch besteht." W i r können die Gesetzmäßigkeit i n Prozenten des Wachstums des Sozialproduktes eruieren, auch wenn diese mal für ein oder zwei Jahre nicht stimmen würden. Auf lange Sicht ist es ein erstaunliches Phänomen, wie exakt man sie voraussagen kann. Diese Gesetzmäßigkeit hat Bindungswirkungen aller A r t — für die Sozialpartner vermutlich auch, 4 Vgl. J. H. Kaiser: Europäisches Großraumdenken, Die Steigerung geschichtlicher Größen als Rechtsproblem, Festschrift für Carl Schmitt, H, Berlin 1968, S. 529 ff.

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wie für alle anderen. Aber i n dieser Gesetzmäßigkeit gibt es nichtsdestoweniger etwas, das für die Techniker dieser ökonomischen Gesetzmäßigkeiten wie Magie aussieht und sicherlich sehr viel m i t Freiheit zu t u n hat. Gottseidank ist uns diese Freiheit geblieben; sie zu erhalten, meine ich, ist eine unserer Aufgaben. Ich möchte jetzt aber auch sprechen von der Planung als Aktionsmodell. W i r begegnen i h r zunächst praktisch i n der Anschauung; die Planung i n unserem eigenen Land ist seit der Großen Koalition j a sehr eindrucksvoll. Die Politik dieser Planung ist die Tochter der Krise. Eine Krise zwingt zur Planung. Krise ist nämlich immer ein Gesamtzustand des sozialen Körpers, den sie befällt. Und die Eingriffe, deren es zur Überwindung einer Krise bedarf, müssen darum, w e i l der ganze Körper davon befallen ist, global entworfen und i m Blick auf den Gesamtzusammenhang durchgeführt werden. Sie müssen vor allem i n ständiger Orientierung an einer maßgeblichen Zielprojektion entwickelt werden. Planung als Aktionsmodell kann man aufzeichnen. Ich habe schon begonnen, einiges zu skizzieren, was i n ein solches Modell hineingehört. Ich spreche gern von vier Dimensionen dieses Modells. Zwei Dimensionen habe ich genannt: Raum und Zeit. Ich schreibe sie untereinander und zwei weitere Dimensionen dazu: Volumen und Verfahren. Volumen, damit meine ich den sachlichen und persönlichen Aufwand, ohne den es natürlich keine Planung gibt. Verfahren, das ist sowohl die Planungstechnik, die man lernen kann (in den Schulen für Unternehmensmanagement w i r d das z. B. gelehrt), als auch das rechtliche Verfahren, i n dem Planung ausgearbeitet und durchgeführt wird. Es versteht sich eigentlich von selbst, daß technisches Planungsverfahren und rechtliches (also am Rechtsstaat orientiertes Verfahren, m i t Schutz der Betroffenen usw.) eng aufeinander abgestimmt sein müssen. Ich könnte Ihnen an Beispielen von Stadtsanierung oder der Planung von Satellitenstädten aber demonstrieren, wie wenig leider das Recht i n seiner gegenwärtigen Struktur — z.B. das Recht der Enteignung — den Erfordernissen einer, wohlgemerkt, rechtsstaatlichen Planung Rechnung trägt. Das Recht ist immer konservativ und schützt natürlich bestehende Strukturen. Aber von der Planungstechnik sollten stärkere Impulse i n die Fortbildung des Rechts eingehen, die, wie ich meine, leicht möglich ist. Nunmehr w i l l ich noch eine Determinante einzeichnen, das ist die sog. Zielprojektion. Diese Zielbestimmung w i r k t sich auf die Determination der vier Dimensionen aus; andererseits ergibt sich natürlich aus den Dimensionen Wesentliches für die Bestimmung des Zieles. A m einfachsten läßt sich das darstellen an der Dimension des Volumens. Es ist klar, daß die Menge der verfügbaren M i t t e l und der Fach-

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leute Einfluß auf die Bestimmung des Zieles hat wie natürlich u. U. auch auf die Bestimmung der zeitlichen Erstreckimg und die Umgrenzung des Raumes. Wenn z. B. i n Frankreich nach der Krise bestimmte Programme auf einen weiteren Zeitraum erstreckt wurden, die Entwicklung der Force de Frappe etwa, so ist dies ein Beispiel dafür. Betrachten w i r als ein Beispiel einer Zielprojektion auch die Zielprojektion des Bundeswirtschaftsministers, die ein wichtiges Element der mittelfristigen Finanzplanung i n der Bundesrepublik ist. Sie hatte zunächst einmal die Wiederherstellung einer dauerhaften Ordnung der Bundesfinanzen zum Gegenstand, aber doch auch die vorausschauende Gestaltung der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben, orientiert an den volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Das Ganze beruht also wesentlich auf Prognose, aber es enthält doch auch Postulate und bis zu einem gewissen Maße Imperative; denn man sagt ja nicht nur voraus, daß z. B. 4 °/o reales Wachstum pro Jahr innerhalb der nächsten fünf Jahre eintreten werden, sondern man will auch, daß das geschieht. Und dazu benutzt man ein eindrucksvolles Instrumentarium. Die Wissenschaft, und zwar die Nationalökonomie und die Jurisprudenz, offeriert ein Instrumentarium ökonomischer, nach den Maßen des Rechtsstaats geschreinerter Mittel, m i t denen die öffentliche Hand interveniert. Ich nenne noch einmal die beiden K o n j u n k t u r programme als wesentliche neue Elemente neben den eher klassischen Elementen der Geldpolitik usw., wie sie den Händen der Bundesbank anvertraut sind. Meine Damen und Herren, nun bleibt natürlich noch die Frage: Wer plant? Das ist wesentlich für die Bestimmung der Ziele. Wie w i r d überhaupt die Zielprojektion vorgenommen? W i r kennen das Verfahren, das man i n Bonn eingeschlagen hat; ein Kabinettsausschuß wurde unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers gebildet. Dieser Kabinettsausschuß versuchte, das Regierungsprogramm i n der Finanzplanung i n Zahlen zur Darstellung zu bringen, so daß die Finanzplanung also das i n Zahlen ausgedrückte Regierungsprogramm sein soll. Man ist damit noch lange nicht fertig, was niemanden überraschen sollte; man fängt ja m i t diesen M i t t e l n zu planen erst an. Es ist leicht, K r i t i k zu üben, daß das alles nicht schnell genug geht, daß vielleicht der ursprüngliche Impuls sich ein wenig verlangsamt hat, daß i n einigen Bereichen ein gewisser Immobilismus herrscht. W i r sehen ja, wie Mitglieder der Regierung versuchen, diesen Immobilismus aufzuweichen und wieder Bewegung hineinzubringen. Es spielen hier die Probleme des Bundesstaates hinein. Ich möchte mich aber darauf beschränken, zu sagen, daß die Aktionsmodelle hier i m wesentlichen abgeleitet werden von den Ziffern, Erfahrungen, Zielsetzungen des Bundes, obwohl die Länder wesentlich näher bei den

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Vorgängen sind. Trotzdem ist es sehr wertvoll, daß der Bund Ziffern über Wachstumselastizitäten usw. entwickelt, die für die Länder so maßgebend sind, daß von ihnen wie auch vom Konjunkturrat und vom Finanzrat diese Gesamtprojektionen i m wesentlichen übernommen wurden, obwohl sie zunächst noch zu schematisch und gleichförmig sind und der methodischen Erforschimg und Weiterentwicklung bedürfen. Hier entsteht allerdings ein besonderes Problem. Wenn der Bund diese Elastizitäten arithmetisch m i t 1 bezeichnet, dann meint er damit natürlich den Bundesdurchschnitt. Nicht überall geht es aber gleichschnell voran, und aus optischen Gründen ergeben sich dann die Probleme, daß manche Länder aus guten Gründen über 1 auf 1,2 etc. hinauskommen; andere Länder natürlich unter 1 zurückbleiben müssen, damit der Bundesdurchschnitt stimmt. Aber welches Land würde gern zugeben, daß es unter dem Durchschnitt liegt? Damit treten Probleme der Planung auf. Sie traten schon auf bei den bekannten Prognosegutachten, die für deutsche Länder oder für deutsche Städte entwickelt worden sind. Indessen scheint mir, daß die praktische Planung i n manchen Ländern der Planung des Bundes ein Stück voraus ist. Ich habe z. B. die Ziffern von Hamburg vor mir, die sog. Projektion wichtiger gesamtwirtschaftlicher Größen bis 1972. Das ist ein eindrucksvolles Dokument. Der große Hessenplan ist ein anderes Beispiel vorzüglicher Planung. Und hoffentlich können w i r i n ein paar Jahren dasselbe auch von der Einheitsgesellschaft an der Ruhr sagen. Ich möchte nun nur noch zu einer letzten Erwägung kommen. Planung, so zeigte sich, hat es m i t Gesamtvorgängen zu tun. Es ist jeweils der Gesamtablauf i m Bereich der Konjunktur, i m Bereich einer Branche usw., der von ihr ins Auge gefaßt werden muß, und Planungswissenschaft ist darum interdisziplinär. Sie muß eine exakte Wissenschaft sein, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll. Trotz der Geschichte, die ich zu Beginn erzählt habe, meine ich, u m an eine Bemerkung i n der diesem Vortrag vorausgegangenen Diskussion anzuknüpfen, können geschichtenerzählende Wissenschaften i m Bereich der Planung wenig ausrichten. Was den Rang dieser Wissenschaften angeht, so darf man durchaus nicht immer den Blick auf die öffentliche Meinung richten. Es ist keineswegs immer die normative Soziologie, die hier Maßstäbe zu liefern imstande ist. Aber wo die Maßstäbe zu finden sind, das ist eine der ernstesten Fragen, die sich jedem, der sich seriös m i t diesen Dingen beschäftigt, stellt. Ich nehme nicht für mich i n Anspruch, darauf eine leichte und kurze A n t w o r t zu finden. I n der Bundesrepublik ist die Auseinandersetzung über Planung zeitweise sehr scharf gewesen. Das Vertrauen auf die Spontaneität

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des Menschen — so wurde gesagt — würde damit preisgegeben. Es sei ein liberales Traditionsgut, das natürlich nicht preisgegeben werden dürfe. Aber auf der anderen Seite hat die naive Erwartung, daß m i t der Spontaneität allein schon alles sein Maß und sein Gleichgewicht finden werde, doch manche jüngere Erfahrung gegen sich. Und gar zu behaupten, Spontaneität sei dem planenden Geist überlegen, ist ohne alle Evidenz. Das Gegenteil ist der Fall; denn der Spontaneität w i r d nicht mehr wie bisher ein Maß gesetzt. Die Nationalökonomie hält auch heute noch vielfach daran fest, daß die M i t t e l des Menschen, die er spontan zu ergreifen vermag, knapp sind. Die These von der Knappheit der M i t t e l ist eine Basis mancher Theorien, aber sie stimmt doch nicht mehr v o l l und ganz. Zum Beweis nenne ich an erster Stelle natürlich die Atomkraft und den Anwendungsfall der Atombombe. Das ist nicht mehr Maß, sondern Übermaß. Bisher hat die Mittelknappheit den Kriegen eine Grenze gezogen. Dem Krieg m i t seiner prinzipiellen Tendenz zur Expansion ist heute aber kein Maß aus der Mittelknappheit gesetzt. Überflußprobleme rufen i n manchen Wirtschaftszweigen nach Planung, wo bisher Knappheitsprobleme m i t Spontaneität vielleicht noch einigermaßen gelöst werden konnten. Die Mittel, die der Mensch ergreifen kann, sind nicht mehr sämtlich knapp. Die Kräfte der Zeugung z. B. Gibt es einen Impuls von größerer Spontaneität? Soll er sich verströmen i n voller Spontaneität? Bevölkerungsexplosion ist kein Zukunftsbild, sondern Gegenwart, keine emotionale Übertreibung, sondern bezeichnet exakt die extreme Beschleunigung der Vermehrung. Meine Damen und Herren, hier entsteht überall die Frage nach dem Maß für Planungen. I n allen Bereichen sind w i r m i t Aufgaben und m i t Phänomenen des Wachstums konfrontiert. W i r müssen das Wachstum planen oder kanalisieren, und das kann nur geschehen durch Zielbestimmung. Damit erhält die Frage Gewicht, wer kompetent für die Entscheidung über die Ziele und das Setzen von Maßstäben ist, die Frage nach dem Recht der Planung überhaupt. Damit komme ich zurück auf den alten griechischen Begriff „nomos". I n der Tradition dieses großen Begriffes finde ich Bestätigung für die These, daß der nomos des Wachstums jedenfalls Planung ist.

Anwendung der Entscheidungstheorie auf soziale Probleme Von Prof. Dr. Wilhelm Krelle, Bonn Die Entscheidungstheorie w i l l einer Person oder einem Gremium, das eine Entscheidung zu treffen hat, dazu verhelfen, eine i n ihrem Sinne optimale Entscheidung zu treffen. Das scheint logisch ziemlich einfach zu sein, wenn es sich um Entscheidungen bei Sicherheit handelt. Die Entscheidungsregel folgt dann dem einfachen Extremalprin zip: Wähle die Entscheidung, die zur bestmöglichen Konsequenz führt, d. h. bei der das Befriedigungs- oder Nutzenniveau größer (oder zumindest nicht kleiner) ist als bei allen anderen möglichen Entscheidungen. Die praktische Rechenarbeit zur Feststellung der optimalen Entscheidimg kann allerdings prohibitiv sein, und vielfach w i r d man sich schon hier m i t Annäherungslösungen zufrieden geben müssen. Aber die Schwierigkeiten liegen nicht eigentlich bei der Entscheidung an sich, als vielmehr bei ihrer praktischen Vorbereitung. Aus diesem Grunde w i r d die Entscheidungstheorie meist auf Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit beschränkt. Hier sind bei jedem Entscheid mehrere Konsequenzen möglich, der Entscheidende weiß aber nicht vorher, welche von ihnen eintreten wird. Das ist die eigentliche, normale Entscheidungssituation, und m i t i h r werden w i r uns ausschließlich beschäftigen. Einfache Überlegungen zeigen, daß es nicht Aufgabe der Entscheidungstheorie sein kann, i n Fällen wesentlicher Unsicherheit einen optimalen Entscheid zu finden i n dem Sinne, daß sich dieser Entscheid i n jedem Fall nachträglich, wenn die Unsicherheit i m Zeitverlauf beseitigt ist, als richtig herausstellt. (Eine Unsicherheit ist „wesentlich", wenn man bei jedem möglichen Entscheid später bedauern kann, gerade diesen und keinen anderen Entscheid getroffen zu haben.) Echte Risiken, also die Möglichkeit, daß sich der gefaßte Entschluß am Ende als nicht optimal herausstellt, kann die Entscheidungstheorie dem Entscheidenden nicht abnehmen. Sie ist kein Prophet und weiß genausowenig, was eintreten wird, wie irgendeine Person. Trotzdem ist die Theorie dann nicht am Ende. Sie kann Entscheide ausschließen, die sicher nicht optimal sind, und damit die Wahlmöglichkeiten beschränken, i m glücklichsten Fall so, daß nur noch ein Entscheid übrigbleibt,

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Wilhelm Krelle

der nunmehr allerdings optimal ist. Meist bleiben aber mehrere Entscheide übrig. Auch dann gibt es aber noch Hinweise und Gesichtspunkte, die bei der weiteren Auswahl behilflich sein können, auch wenn jetzt das Risiko eines (im Rückblick) nicht optimalen Entscheides unabdingbar ist. Solche Gesichtspunkte und damit den ex ante optimalen Entscheid herauszufinden, ist der Gegenstand der Entscheidimgstheorie. Einige Vorbemerkungen zur Terminologie sind noch am Platze. Die Entscheidungstheorie bedient sich i. a. der von v. Neumann und Morgenstern eingeführten spieltheoretischen Terminologie. Derjenige, der eine Entscheidung zu treffen hat, heißt Entscheidender oder Spieler. Er hat die Wahl zwischen mehreren Alternativen. Jede Alternative definiert eine Strategie . Sie gibt eindeutig an, welche Maßnahmen von dem Entscheidenden zu treffen sind. W i r unterscheiden unbedingte und bedingte Strategien. Eine unbedingte Strategie ist eine bestimmte Handlungsvorschrift für den Entscheidenden, die von keiner weiteren Bedingung abhängt. Eine bedingte Strategie besteht aus einer Reihe von bedingten Anweisungen, derart: falls die Situation A\ vorliegt, so ergreife die Maßnahme 04; falls die Situation A2 vorliegt, so a 2 usw. Hierbei müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft sein, so daß bei jeder Strategie i n jeder vorkommenden Situation stets klargestellt ist, welche Maßnahme zu ergreifen ist. Das Ergebnis der Anwendung einer Strategie für den Entscheidenden kann nun eindeutig sein — dann haben w i r es m i t Entscheidungen bei Sicherheit zu t u n — oder mehrdeutig. Nur letzteres interessiert hier. Dann hängt dies Ergebnis also von den anderen, nicht m i t Sicherheit vorhersehbaren Ergebnissen ab. Diese sind entweder durch den Zufall bestimmt (wie die Ergebnisse eines Roulettespiels) oder von bewußten Entscheidungen eines oder mehrerer Gegenspieler (wie beim Schach) oder von einer Mischung von beiden (wie bei Kartenspielen oder i m Krieg). Die Mischform läßt sich auf den Fall der bewußten Entscheidung zurückführen. Das Ergebnis der Anwendung einer Strategie heißt Auszahlung . I n unserem Fall ist die Auszahlung das Nutzenniveau, das die betreffende Person erreicht. E i n Spiel ist eine Gesamtheit von Regeln, die die Menge der zulässigen Strategien für jeden Spieler definiert und für jede Kombination von Strategien die Auszahlung für jeden der Spieler festlegt. Es gibt n u n verschiedene Entscheidungssituationen. Je nach der A r t des Gegenspielers unterscheiden w i r zwei Haupttypen von Entscheidungssituationen: a) Spiele gegen die Natur (die ihre „Entscheidungen" nach Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten trifft) ;

Anwendung der Entscheidungstheorie auf soziale Probleme

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b) Spiele gegen einen bewußt handelnden Gegenspieler. Bei jeder dieser Spielarten gibt es: Spiele m i t endlich vielen oder m i t unendlich vielen Strategien, Spiele von endlicher und unendlicher Spieldauer, ein- und mehrstufige Spiele, 1-, 2 - , . . . N-Personenspiele, kooperative, nicht kooperative Spiele, Spiele mit oder ohne Ausgleichszahlungen zwischen den Spielpartnern, Nullsummen-, Nichtnullsummenspiele u. a. W i r beginnen m i t : Spiele gegen die Natur a) Ansatz bei endlichen Spielen ( = Spiele von endlicher Spieldauer m i t endlich vielen Strategien). Die Situation kann hier wie i n Fig. 1 dargestellt werden. Figur 1 Spieler B (Natur) Spieler A

Strategiein ßl

02

«i

( U1V Pll)

(W12'Pl2)

«2

(W21'P2l)

(U22>P22)

Strategien

¡*n

Kn'Pm)

...

(w2n'P2n)



. a

m

( % ' Pml)

(um2>Pm2)

...

( umn' Pmn)

Hierbei bedeutet: Ujj Nutzen für Spieler A, wenn Spieler A Strategie a { und Spieler B Strategie ßj spielt. Pij Wahrscheinlichkeit dafür, daß Spieler B seine Strategie spielt, wenn Spieler A Strategie spielt. 11 Tagung Dortmund 1968

^

Wilhelm Krelle

162 b) Entscheidungskriterien

U m zu wissen, welche von irgend zwei Strategien (im Sinne der möglichen Konsequenzen) „besser" ist, muß man sich entscheiden, was i,besser" genau heißen soll. W i r nennen Chäncenbündel.

= (uy, pu) eine Chance. Dann ist jede Strategie ty ein

Wenn man die folgenden Axiome akzeptiert: 1. Jede Nullchance kann fortgelassen werden

(Nullchancenaxiom),

2. Von zwei Ghancenbündeln, von denen das erstere stets höhere (oder gleiche) Nutzengrößen bei gleichen Wahrscheinlichkeiten aufzuweisen hat, ist das erstere vorzuziehen (Nutzendominanzaxiom), 3. Jedes Chancenpaar kann i n einem Chancenbündel durch eine einzige, geeignete äquivalente „mittlere Chance" ersetzt werden (Reduktionsaxiom), 4. Jede einzelne Chance kann i n einem Chancenbündel durch zwei andere Chancen m i t geeignet vorgegebenen Nutzengrößen ersetzt werden (Substitutionsaxiom), 5. Von zwei äquivalenten Chancenbündeln m i t zum Teil übereinstimmenden Chancen können die übereinstimmenden Chancenbündel durch andere, ebenfalls übereinstimmende ersetzt werden, ohne die Äquivalenz zu beeinträchtigen (Unabhängigkeitsaxiom), dann folgt die Existenz einer Risikopräferenzfunktio n

$ (u) und d a s

Entscheidungskriterium n «i


o,

> max

2

i

n

2 Pij

j=i =

1

f ü r

a

U e 1-

0 = 1

Eine Risikopräferenzfunktion (vgl. Fig. 2) gibt die „Verzerrung" der Nutzeneinschätzung durch die Risikobewertimg wieder. Ist jemand risikoscheu, so w i r d er mögliche große Nutzengrößen geringer einschätzen (da er sie ja doch nicht erhält, wenn er Pech hat), dagegen möglichen niedrigen Nutzengrößen ein höheres Gewicht beimessen (da er ja doch m i t ihnen ernsthaft rechnet). Bei Risikofreude t r i f f t das umgekehrt zu. Die Theorie besagt, daß der Entscheidende frei ist, den Grad von Risikoscheu bzw. Risikofreudigkeit zu wählen. Erst dann ist der optimale Entscheid bestimmt.

Anwendung der Entscheidungstheorie auf soziale Probleme

163

Figur 2 Bislko-

c) Sonderfälle, andere Theorien. 1. Man kann auch andere Axiomensysteme aufstellen, die natürlich zu anderen Entscheidungsregeln führen. Sie werden aber nur von wenigen akzeptiert. 2. Für häufig wiederholte Spiele gelten unter gewissen Voraussetzungen andere Regeln. Falls Nutzendifferenzen m i t Wahrscheinlichkeitsdifferenzen unterhalb einer bestimmten Schwelle unbeachtlich sind, gilt: bei häufig wiederholten Spielen muß man sich gegenüber dem Risiko normal verhalten (= Prinzip der mathematischen Erwartung ). 3. Für den Fall der Unsicherheit, d. h. wenn die Wahrscheinlichkeiten nicht bekannt sind, muß man ein eigenes Axiomensystem aufstellen. 4. Es gibt auch andere Entscheidungskriterien (z.B. das Maximax-, Maximin-, Hurwicz-, Niehans-Savage-Kriterium). Sie sind aber nur für gewisse Spezialfälle von Bedeutung. d) Ein Anwendungsbeispiel Die vorgetragene Theorie ist auf politische, wirtschaftliche, militärische und private, persönliche Probleme anwendbar. Grundvoraussetzung ist, daß es nur eine endliche Zahl von Entscheidungsalternativeii gibt, daß die Wahrscheinlichkeiten der Aktionen der Gegenseite geschätzt werden können und daß der Nutzen, der bei irgendeiner Kombination von eigenen und fremden Entscheidungen für die eigene Seite resultiert, quantifiziert werden kann. Ii*

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164

W i r wählen ein Beispiel aus dem politischen Bereich. Nehmen w i r an, die Staaten A und B haben einen Atom-Teststopvertrag für drei Jahre geschlossen. Beide haben die Möglichkeit, den Vertrag zu brechen ( = Strategie 1) oder ihn zu halten ( = Strategie 2), und das i n jedem der drei folgenden Jahre. Das Halten des Vertrages spart beiden Staaten Milliarden an Rüstungsaufwendungen, ohne ihre relative Machtposition zu verändern. Beide Staaten mögen das m i t + 5 bewerten. Ohne den Vertrag, oder, was dasselbe ist, wenn beide ihn brechen, bleibt die relative Machtposition zwar unverändert, aber es sind viele Milliarden aufzuwenden; beide Staaten mögen diese Situation mit 0 bewerten. Bricht ein Staat den Vertrag und entwickelt dadurch einen Vorsprung i m Rüstungsstand, so gewinnt er einen Vorteil von + 10, während der andere seine Situation als — 5 beurteilt. Ein Bruch des Vertrages ist nur m i t geringer Wahrscheinlichkeit geheimzuhalten. Was soll der Staat A tun: den Vertrag halten oder brechen? Die Spielmatrix sieht i n jedem Jahr wie i n Fig. 3 aus (die erste Zahl i n jedem der Kästchen bedeutet den Nutzen für den Spieler A, die zweite Zahl den Nutzen für den Spieler B): Figur 3

Spieler B Spieler A Vertrag brechen

i

Vertrag halten

2 0

Vertrag brechen

Vertrag halten

ßi

02

0 ;0

10; -5

-5; 10

5; 5

Es ist nun noch notwendig, die Wahrscheinlichkeiten p ^ ,

2};

t£{1, 2, 3}, zu bestimmen, daß der Gegenspieler B seine Strategie ßj i m Jahr r spielt. Dies hängt natürlich von der eigenen Spielweise ab und von der Wahrscheinlichkeit, einen Bruch des Vertrages gegenüber dem Partner verbergen zu können. Nehmen w i r an, die Wahrscheinlichkeit, das B den Vertrag i m ersten Jahr bricht, w i r d von A als 0,5 angesehen; diese Wahrscheinlichkeit steigt i m folgenden zweiten Jahr auf 0,8, wenn A den Vertrag i m ersten

Anwendung der Entscheidungstheorie auf soziale Probleme

165

Jahr bricht, und sinkt auf 0,3, wenn A i h n hält. I n ähnlicher Weise verändern sich die Wahrscheinlichkeiten i m dritten Jahr. Staat A hat also aufgrund der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Geheimhaltung eines Vertragsbruches und der Führungsschicht des Staates B das folgende B i l d der Situation: Figur 4 1.Jahr

2.Jahr

3.Jahr

Die über die Strategien ßi und ß2 geschriebenen Ziffern geben die Wahrscheinlichkeiten an. Jedes Kästchen ist eine Spielmatrix nach Fig. 3. Anstelle der eigentlichen Eintragungen der Spielmatrix nach Fig. 3 sind zur Bequemlichkeit des Lesers gleich die Gewinnerwartungen a für Spieler A, nämlich die Zeilensumme ijPjT> dort eingetragen.

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Wilhelm Krelle

Von einer Zeitdiskontierung ist der Einfachheit halber abgesehen; aus dem gleichen Grund nehmen w i r an, der Staat A verhalte sich normal gegenüber dem Risiko. U m die optimale Strategie

= ^a^, a ^ a^ J zu bestimmen, ist zu-

nächst die Bewertung jeder möglichen Strategiesequenz

a { , a t , at

Figur 5

Strategien des Superspiels = Strategiesequenz

1. Jahr

2. Jahr

5. Jahr

Wert der Strategie

«i

»i

8

~2

«i

«2

3

«3

«X

«2

a

i

5

«1

«2

°2

0

«5

«2

«i

«2

11

«8

a

«2

6

«7

«2

»2

«1

10

«8

«2

«2

«2

5

2

Man sieht, daß bei den geschätzten Wahrscheinlichkeiten des gegnerischen Vertragsbruches die optimale Strategie b 12

22'

b

22

...

a

...

a

iw

b

ln

2n> b2n

des Spielers A



....

....

a

a

m

mV

b

ml

a

m2* bm2

.... ...

a

mn* bmn

c) Die wichtigsten Sätze der Spieltheorie sollen hier angeführt werden. 1. (Satz von Nash): Jedes Spiel besitzt zumindest einen Gleichgewichtspunkt. 2. Jeder Sattelpunkt ist auch ein Gleichgewichtspunkt (aber nicht notwendig umgekehrt). 3. I n jedem Nullsummenspiel ist jeder Sattelpunkt auch Gleichgewichtspunkt und umgekehrt. 4. (Satz von v.Neumann): Sattelpunkt.

Jedes Nullsummen-2-Personenspiel hat einen

d) Unter Lösung eines spieltheoretischen Problems w i r d hier die optimale Spielweise für jeden der beiden Spieler verstanden. Es gibt spielbedingte und persönlichkeitsbestimmte Lösungen. 1. Spielbedingte Lösungen Alle Spiele ohne Nutzenübertragung, die ein einziges, nicht dominiertes Gleichgewichtsgebiet besitzen, haben eine spielbedingte Lösung. Sie besteht aus den Gleichgewichtsstrategien . Das sind: a) Alle Nullsummenspiele. b) Einige Nichtnullsummenspiele. Diese haben dann stets eine Lösung i n reinen Strategien.

Anwendung der Entscheidungstheorie auf soziale Probleme

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2. Persönlichkeitsbestimmte Lösungen Auch Spiele ohne spielbedingte Lösungen haben gewisse ausgezeichnete Lösungen. Allerdings folgen sie nicht mehr allein aus den Spielmatrizen, sondern die Persönlichkeiten der Spieler kommen stets m i t ins Spiel. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Die spielbedingte Lösung eines kooperativen Nichtnullsummen spiels m i t Nutzenausgleich besteht aus den Strategien des Maximalpunktes, i n dem der Gewinn beider zusammengenommen maximal ist. Der fehlende Teil der Lösung ist auf ein Teilungsproblem zurückzuführen, bei dem sich beide Spieler auf einen Teilungssatz für den durch Kooperation erreichbaren zusätzlichen Gesamtnutzen zu einigen haben. Dies ist der persönlichkeitsbestimmte Teil der Lösung. Kooperative Nichtnullsummenspiele ohne Nutzenausgleich und nichtkooperative Spiele sind gemeinsam zu behandeln. Auch bei letzteren ist nämlich eine Verabredung durch das Spiel selbst möglich, auch wenn eine offene Kooperation nicht zulässig oder möglich ist. Eine persönlichkeitsbestimmte Lösung von Nichtnullsummen spielen ohne Nutzenausgleich ist ein selbst nicht dominierter Punkt. Dies kann ein Gleichgewichtspunkt oder ein anderer Punkt sein. Es gibt stets mehrere solcher nicht dominierter Punkte. Welcher davon Lösung wird, ist jeweils auszuhandeln. Hier kommen die Persönlichkeiten der Spieler zum Tragen. Auch dieser Spieltyp ist also wieder auf ein Aushandlungsproblem zurückgeführt. e) Anwendungsbeispiele W i r wollen zunächst ein logisch ähnliches Beispiel wie früher behandeln. Zwei Fischfanggesellschaften A und B können ihre Fangschiffe nach Beendigung des Fanges entweder zu einem Hafen 1 i n einem Land dirigieren (Strategie ai bzw. ßi) oder zu einem Hafen 2 i n einem anderen Land (Strategie a 2 bzw. ß2). Kommen beide Schiffe zum selben Hafen, so ist das Fischangebot zu groß, der Fischpreis fällt dort sehr stark, und beide Gesellschaften machen (allerdings unterschiedliche) Verluste. Werden beide Schiffe zu verschiedenen Häfen dirigiert, so bleibt der Fischpreis hoch, und beide Gesellschaften machen Gewinne. Allerdings sind diese Gewinne unterschiedlich hoch: wer den Hafen 2 anläuft, hat einen etwas höheren Gewinn, als wer den Hafen 1 anläuft. Dies Spiel (das vom Typ des sogenannten Ehekonflikts ist) w i r d bei gewissen Annahmen über die numerischen Werte der Gewinne und Verluste i n Fig. 7 dargestellt.

170

Wilhelm Krelle Figur 7

Dies Spiel hat die beiden Gleichgewichtspunkte i n reinen Strategien ( a i , h ) und fa 2 , ßij sowie den Gleichgewichtspunkt i n gemischten Strategien (w*, v*) m i t wi = 1/2, 102 = 1/2, vi = 4/9, V2 = 5/9, wobei tü¿ die Wahrscheinlichkeit bedeutet, daß Spieler A die Strategie a¿ spielt und Vj die Wahrscheinlichkeit, daß Spieler B die Strategie ß; spielt. Die Gewinnerwartung für A ist dann = 2/9, für B = —1/2. Offensichtlich w i r d der Gleichgewichtspunkt i n gemischten Strategien von denen i n reinen Strategien dominiert i n dem Sinne, daß sich beide dort besser stehen. Da hier mehrere unterschiedliche Gleichgewichtspunkte existieren, hat das Spiel nur eine persönlichkeitsbestimmte Losung. Diese besteht darin, zwischen den beiden Gleichgewichtspunkten regelmäßig i n bestimmtem Rhythmus zu wechseln. Das heißt, die beiden Reedereien sollen sich verabreden, entweder abwechselnd oder i n sonst einem Wechsel die Häfen jeweils derart anlaufen zu lassen, daß immer nur ein Schiff zu einem Hafen gelangt. Die A r t des Wechsels (ob regelmäßig oder i n anderem Turnus) unterliegt der Aushandlung, und hier kommen die Persönlichkeiten auf beiden Seiten ins Spiel. Ein zweites Beispiel sei aus der aktuellen politischen Situation gewählt. Spieler A sei der Staat, Spieler B seien die anarchistisch-sozialistischen Gruppen, die eine Umgestaltung der Staats- und Gesellschaftsordnung i n ihrem Sinne durch Organisation von Unruhen herbeizuführen suchen. Spieler A hat zwei Strategien: den Forderungen i n vernünftigem Umfang nachzugeben (fa) ist aber dominiert von dem Niditgleichgewichtspunkt ( a u ßij* beide stehen sich besser dort. Da der Punkt aber kein Gleichgewichtspunkt ist, kann jeder den anderen dort „hereinlegen": indem er eben, trotz anderer Versicherung, die andere Strategie anwendet, hat er den größtmöglichen Vorteil, und der andere steht sich schlechter als i m Gleichgewichtspunkt. Man sieht, daß beide dem Dilemma nur entrinnen können, wenn sie i n Verhandlungen sich zu einer anderen Strategie verpflichten und wenn sie sich unbedingt darauf verlassen können, daß Absprachen auch eingehalten werden. Viele andere Beispiele sind möglich. Ob man für die Entscheidimg den Ansatz der „Spiele gegen die Natur" oder der „Spiele gegen einen bewußt handelnden Gegenspieler" zugrunde legt, hängt i m wesentlichen vom Informationsstand ab. Je klarer die Gesamtsituation beider ist, um so eher w i r d der letztere Ansatz zu wählen sein, je mehr Unsicherheiten ins Spiel kommen, u m so eher w i r d man den ersten Ansatz wählen.

Die Wirtschaft im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft Von Dr. Harald Koch, Staatsminister a. D., Hoesch AG, Dortmund Wie es das Thema dieser Internationalen Tagung vorsah, haben Sie i n diesen Tagen über die Rolle der Wissenschaft i n der modernen Gesellschaft, insbesondere also auch über das Verhältnis der Wissenschaft zu Politik und Verwaltung aus berufenem Munde Grundlegendes gehört. Unter den verschiedensten Aspekten ist das Thema behandelt worden; Sie haben Wissenschaftler gehört und Politiker, dazu hohe Verwaltungsbeamte, die dank ihrer Funktionen wissenschaftliche Erkenntnisse i n den politischen Alltag umsetzen können. Doch darf ich mich auf das, was i n diesen Tagen hier gesagt wurde, nicht einlassen; denn entweder kämen Sie zu dem Schluß, daß ich nichts von dem Gesagten verstanden hätte, oder ich müßte eingestehen, daß ich infolge anderweitiger Inanspruchnahme — auch infolge einer Auslandsreise — an den Vorträgen nicht habe teilnehmen können. Das möchte ich, mich gleichzeitig entschuldigend, hiermit t u n und meinem Auftrage entsprechend, wenn auch zögernd, wie Herr Professor Scholz bestätigen wird, das Wagnis unternehmen, den hervorragenden Vorträgen dieser Tagung abschließend einen eigenen Beitrag hinzuzufügen. Die Veranstalter dieser Tagung ließen sich, als sie an mich herantraten, sicherlich von dem Gedanken leiten, daß man die Rolle der Wissenschaft als Beraterin der Politik i n unserer Bundesrepublik an einer Institution beispielhaft erklären solle, und könne, die nun schon seit fünf Jahren kraft Gesetzes die undankbare Aufgabe der Politikberatung betreibt, nämlich am Beispiel des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Uber die Notwendigkeit wissenschaftlicher Politikberatung bedarf es nach allem, was Sie hörten, sicherlich keines Wortes mehr. Wissenschaftliche Forschung und wissenschaftliche Erkenntnisse auf allen Gebieten und i n voller Freiheit sind die Voraussetzung und die Grundlage für die Bewältigung unserer Zukunftsaufgaben, für die Bewältigung der Existenzkrise der Menschheit. So hat sich denn auch überall — doch spät erst i n der Bundesrepublik — die Erkenntnis durchgesetzt, daß Politik heute mehr verlangt als Fingerspitzengefühl, mehr

Die Wirtschaft im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft

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als Eloquenz, mehr als eine kräftige Dosis Machtstreben, daß ohne ein wissenschaftliches Fundament Politik nicht mehr zu betreiben ist. Man ist geradezu geneigt, dem bekannten Wort Napoleons „Die Politik ist unser Schicksal" und dem Wort Rathenaus „Die Wirtschaft ist unser Schicksal" ein drittes hinzuzufügen: „Die Wissenschaft ist unser Schicksal." Die Zeiten, da nur auf subjektiver Erfahrung und auf Phantasie beruhende Spekulationen die Grundlagen zukunftsträchtiger Entscheidungen bildeten, sollten hinter uns liegen. A l l e i n das Gefühl als Entscheidungshilfe heranzuziehen, hat sich je länger, u m so deutlicher als nachteilig herausgestellt und ist weitgehend aus der Mode gekommen. A n seine Stelle treten wissenschaftlich gesicherte Vorhersagen, Prognosen also als M i t t e l der Politik, die zwischen rational konstruierten, wissenschaftlich begründeten Zukunftsalternativen entscheiden muß. Aufgrund der Darstellung möglicher Entwicklungen, die die Wissenschaft der Politik unterbreitet, soll die Politik angemessene Entscheidungen für die Zukunft treffen können. Spreche ich von Politik, so meine ich hier und heute i n erster Linie Wirtschaftspolitik, von der nur noch Romantiker glauben, sie könne ohne Planung auskommen. Doch bedeutet auch hier Planen nicht, daß nun alles „verplant" werden soll; sondern Planen bedeutet, den Rahmen setzen, i n dem Wirtschaft sich vollziehen kann. Denn Planlosigkeit fordert, wie uns die Entwicklung des letzten Jahrzehntes besonders deutlich gelehrt hat, Zufall und Dirigismus heraus. Planung erst macht die Freiheit möglich, die w i r meinen. Freiheit durch Planung: das ist nur scheinbar ein Widerspruch, wenn w i r i n der Planung das Gelenk zwischen Forschung und politischer Entscheidung sehen; diese beiden aber müssen sich i n Freiheit vollziehen und die Freiheit als Ziel haben. Jedenfalls ist das Planungsangebot der Sachverständigen nicht mehr und nicht weniger als die Basis der politischen Entscheidimg. Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft Das führt aber sofort zu der Frage, ob und i n welchem Umfange die Sachverständigen, die die wissenschaftlichen Fundamente für politische Entscheidungen legen, sich selbst i n die Politik einschalten, selbst Politik machen — was naheliegt, ihnen bestimmt aber nicht zukommt! M i t solchen Fragen hat sich — wer sonst — die Wissenschaft befaßt. Sie hat, soweit ich das übersehen kann, drei Denkschemata — oder, wie man heute lieber sagt: drei Modelle — für das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft entwickelt, die ich kurz diskutieren möchte.

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Harald Koch Das dezisionistische Modell

Es war Max Weber, der für das Verhältnis von Fachwissen und politischer Praxis als erster klare Definitionen gefunden hat. Weber empfand bereits u m 1920 die wissenschaftliche Beratung i n öffentlichen Diensten als neue Stufe i n einem Rationalisierungsprozeß, der damit begonnen hatte, daß der moderne Staat nicht mehr ohne den Fachverstand juristisch geschulter Beamter auskommen konnte. Dabei ging Max Weber — richtungsweisend — von der klaren und scharfen Trennimg zwischen den Funktionen des Politikers und denen des Sachverständigen aus. Der Politiker bedient sich des technischen Wissens — so stellt sich i h m wissenschaftliche Erkenntnis dar —, u m die Welt nach seinen Vorstellungen und nach seinen Zielen zu formen. Er macht vom Sachverstand Gebrauch wie von einem jeglichen Dienstleistungsgewerbe, ganz i m Sinne der Arbeitsteilung, der w i r letzten Endes all unseren Fortschritt verdanken. I n letzter Instanz könnte aber, meinte Weber, politisches Handeln nicht rational begründet werden; denn jedes politische Handeln stelle eine Entscheidung zwischen konkurrierenden Wertordnungen dar, die zwingender Argumente entraten und einer verbindlichen Diskussion unzugänglich blieben. Werden die Zuständigkeiten zwischen Sachverständigen und Politikern nach diesem Weberschen sogenannten dezisionistischen Modell verteilt, werden also die Rollen zwischen Wissenschaftler und Politiker klar getrennt, dann w i r d der Experte zum bloßen Gehilfen einer i n ihren M i t t e l n rationalen, i n ihren Zielen aber völlig irrationalen Polit i k (um so irrationaler — möchte ich scherzhaft hinzufügen —, wenn der Beratene auf dem Standpunkt steht: „Ihre Zahlen sind m i r zu exakt" oder, wie ein führender Politiker — auch i m Bundestage — sagte: „Ich lasse mich durch noch so viel Sachverstand nicht von meinen politischen Entscheidungen abbringen"). Es liegt auf der Hand, daß i n diesem dezisionistischen Weberschen Modell die Rolle des Sachverstandes unberührt davon bleibt, ob dieser Sachverstand i n einer Diktatur oder i n einer Demokratie die letzten Endes entscheidenden Politiker berät. Das technokratische Modell Doch — so muß nun beinahe zwangsläufig die nächste Frage lauten — besteht nicht die vielleicht erschreckende Möglichkeit, daß i m Gefolge der immer rascher fortschreitenden technisch-wissenschaftlichen Entwicklung der Sachzwang der Spezialisten die willkürliche Entscheidung der politischen Führer ersetzt? Bedeutete das dann nicht die

Die Wirtschaft im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft

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Herrschaft der Technokraten? Es gibt gewichtige Stimmen, nach denen die Trennung von Fachwissen und politischer Praxis i m Sinne Webers abgelöst w i r d von einem anderen Modell — ob w i r es wollen oder nicht —, nämlich vom technokratischen Modell. I m technokratischen Modell w i r d das Verhältnis zwischen Politiker und sachverständigem Berater auf den Kopf gestellt: es macht — ich zitiere Jürgen Habermas, der diesen Fragen seine besondere Aufmerksamkeit schenkte — „die Politiker zu Vollzugsbeamten einer wissenschaftlichen Intelligenz, die unter konkreten Umständen den Sachzwang der verfügbaren Techniker und Hilfsquellen sowie die optimalen Strategien und Steuerungsvorschriften entwickelt". I n einer solchen „Expertokratie" t r i t t an die Stelle politischer Entscheidung die nicht mehr zu beeinflussende Logik des besten Weges, kurz: die „Logik der Tatsachen". Wo einst die Herrscher, die Obrigkeit, die Volksvertretung nach eigenem Ermessen entschieden, da befiehlt jetzt der Zwang der Gegebenheiten. Denn immer vollständiger w i r d unser Wissen über die Zusammenhänge dieser Welt und immer widerspruchsloser. Aber die Schwächen dieses technokratischen Modells liegen — w i r möchten sagen: glücklicherweise — auf der Hand. Zunächst einmal setzt es einen Stand des Wissens voraus, den w i r allenfalls auf eng begrenzten Teilgebieten erreicht haben. Zu diesen gehört die Volkswirtschaft m i t ihren Tochterfächern ganz sicher nicht. E i n weiterer Einwand, der gegen das technokratische Modell erhoben wird, ist noch wichtiger: das technokratische Modell setzt eine beständige und gleichmäßige Vernunft i n der Behandlung technischer und praktischer Fragen voraus, die es faktisch nicht gibt und aus logischen Gründen nicht geben kann. Denn sowohl der Forscher wie auch der Politiker vollziehen dauernd Wahlakte, die logisch nicht begründet werden können; man denke nur an die vielen Wahlmöglichkeiten, die bei jeder wissenschaftlichen Arbeit immer wieder zur Entscheidimg zwingen, zu einer Entscheidung, die eben nicht immer vom Sachzusammenhang diktiert wird. Was sollen w i r daraus folgern? Hüten w i r uns vor denen, die stets nach den Fachleuten rufen und diesen die letzten Entscheidungen übertragen wollen; w e i l politische Entscheidungen nicht einzig und allein der Logik des Sachzwanges unterliegen, kann man Politiker niemals durch Nur-Fachleute oder durch Nur-Sachverständige ersetzen. Politiker müssen Risiken — und darum auch die Verantwortung — tragen. Wenn eine aus Politikern bestehende Regierung durch eine Regierung der Fachleute abgelöst wird, ist das nur allzuoft der A n fang vom Ende; denn das Latein, das den Politikern ausgegangen ist, ersetzt keine Fachsprache der Fachleute.

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Harald Koch

Doch bitte ich, mich nicht mißzuverstehen. Das alles sagt nichts gegen den Sachverstand, nichts gegen die Wissenschaft; sie haben nach wie vor die Aufgabe — wie während dieser Tagung Professor Fürstenberg sagte —: „Das Erforschliche erforschbar zu machen." Ein bekanntes Wort abwandelnd, w e i l das, was die Wissenschaft klar und eindeutig ohne Alternative beantworten kann, nicht mehr besonderer politischer Entscheidung bedarf, möchte ich vielleicht sagen: „soviel Wissenschaft w i r möglich — soviel Politik wie nötig" oder — Goethe variierend — Aufgabe der Wissenschaft ist es, „das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschte" — nun — nicht n u r „ r u h i g zu verehren", sondern eben ruhig oder vielleicht besser unruhig den Politikern zu überlassen. Das pragmatistische Modell Die K r i t i k oder gar die Ablehnung dieser beiden Denkschemata, also des dezisionistischen Modells Max Webers und des technokratischen Modells, hat einige Wissenschaftler zu einer dritten Vorstellung geführt: zum pragmatistischen Modell, wie es Jürgen Habermas nennt: A n die Stelle der scharfen Trennung zwischen den Funktionen des Sachverständigen und denen des Politikers t r i t t i n diesem Modell ein kritisches Wechselverhältnis zwischen den Beratenen, den Politikern, und den Beratern, den Experten, den Wissenschaftlern. W i r wissen, daß ein solches Wechselverhältnis für die Beziehungen zwischen dem amerikanischen Präsidenten und seinen wissenschaftlichen Beratern typisch ist. Gerade an diesem Beispiel erkennen w i r , wie der „rückgekoppelte Kommunikationsprozeß" zwischen Fachverstand und Polit i k das gegenseitige Geben und Nehmen zwischen Beratenen und Beratern voraussetzt: Praktische Fragen werden i n wissenschaftlich gestellte Probleme übersetzt, und wissenschaftliche Informationen i n Antworten auf praktische Fragen zurückübersetzt. Zumeist erkennt der Berater das Problem erst ganz, wenn er es praxisnah durchdenken muß, und der Beratene, wenn ihm die Berater theoretische Lösungen und Antworten anbieten. Der Dialog zwischen Wissenschaft und Politik darf also nicht abreißen. „Dieser Übersetzungsprozeß zwischen Wissenschaft und Politik", schreibt Jürgen Habermas, „ist i n letzter Instanz ganz auf öffentliche Meinung bezogen. Die Aufklärung des politischen Willens über sein technisches Können, die wiederum bestimmt, welches technische Können für morgen gewollt wird, drängt ja i m Prinzip über den engen Rahmen geheimer Kommunikation zwischen beratenden Experten und Regierungsvertretern hinaus." Folgen w i r diesem Gedanken, dann müssen auch w i r zu dem Ergebnis kommen, daß nur dieses pragmatistische Modell auf die Vermitt-

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lung der politischen Öffentlichkeit, also auf Demokratie, notwendig bezogen ist. So abstrakt diese Betrachtungen über das Verhältnis von Politik und Sachverstand sein mögen, so nützlich erweist sich die klare Unterscheidung zwischen den drei Modellen, dem dezisionistischen Webers, dem technokratischen und dem pragmatistischen, wenn man konkrete Fälle wissenschaftlicher Politikberatung — wie w i r es nunmehr t u n wollen — auf eines dieser drei Modelle, auf eine dieser drei „Philosophien", h i n untersucht. Doch haben w i r uns, wenn w i r uns m i t der gebotenen Kürze der Frage zuwenden, wie andere Länder die Wissenschaft für die Beratung der Politik nutzbar machen, auf einige Beispiele zu beschränken: auf die M i t w i r k u n g der Sachverständigen bei den wirtschaftspolitischen Entscheidungen i n den Vereinigten Staaten, i n Großbritannien und i n der Sowjetunion. Politikberatung In den Vereinigten Staaten Sehr früh schon ist der Ubergang von der fallweisen zur laufenden, institutionell gesicherten Beratung i n den Vereinigten Staaten vollzogen worden. Bekannt ist die Bedeutung, die Roosevelts „brain trust" für die Politik des New Deal hatte. Den Markstein i n dieser Entwicklung setzte indes das amerikanische Beschäftigungsgesetz, der Employment Act von 1946, der den Präsidenten der Vereinigten Staaten verpflichtete, zu Beginn eines jeden Jahres dem Kongreß einen W i r t schaftsbericht, Economic Report, zu erstatten und sich i n diesem Bericht über den Stand der Beschäftigung, der Produktion und der Kaufkraft sowie über das Programm der Regierung zu äußern, das der Verwirklichimg der i m Gesetz sorgfältig aufgezählten Ziele dienen sollte, derselben Ziele i m übrigen, die w i r i m deutschen Gesetz über den Sachverständigenrat von 1963 und i m Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 wiederfinden werden. Zur Erfüllung dieser Aufgabe schuf das amerikanische Gesetz als einen Teil der Verwaltung den Council of Economic Advisers, der den Präsidenten laufend i n allen wirtschaftspolitischen Fragen berät. Das parlamentarische Gegengewicht bildet das Joint Economic Committee on the Economic Report, das sich aus Vertretern beider Häuser des Kongresses zusammensetzt; dieses Joint Economic Committee verdankt seine starke Stellung vor allem dem Umstand, daß es — wie alle Kongreßausschüsse — Anhörungen (Hearings) veranstalten kann. W i r können dieses Committee mit einem aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates gebildeten wirtschaftspolitischen Ausschuß vergleichen, wobei ich daran erinnern darf, daß sich der SR i n 12 Tagung Dortmund 1968

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seinem 2. Jahresgutachten 1965 bereits ausdrücklich auf dieses Joint Economic Committee des Kongresses m i t den Worten bezogen hat: „Es scheint somit, daß es eines Umdenkens auch i m Bereich der öffentlichen Finanzwirtschaft bedarf, wenn Geldwertstabilität i n der Tat oberstes Gebot der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sein soll. Weitblick i n die Zukunft und Einsicht i n die komplexen gesamtwirtschaftlichen Sachzusammenhänge sind hierfür unabdingbare Voraussetzungen. Aus diesen Gründen ist der Umstand, daß Bundestag und Bundesrat kein Gremium haben, das dem Joint Economic Committee des Kongresses der Vereinigten Staaten vergleichbar wäre, sicherlich nicht nur ein geringfügiger Nachteil." Denken w i r an die drei Möglichkeiten wissenschaftlicher Beratimg politischer Instanzen, so können w i r für die Vereinigten Staaten feststellen, daß die Beratung der höchsten politischen Instanzen dem pragmatistischen Modell am nächsten kommt. W i r erinnern uns auch, daß dieses Modell das eigentlich demokratische war. In Großbritannien Großbritannien verfügt über eine lange Tradition i n der wissenschaftlichen Beratung der Politik. Die Praxis, außenstehende Experten zur Beurteilung einzelner Probleme heranzuziehen, ist dort zu einer hohen K u l t u r gereift. Eine Parlamentsanfrage beantwortend, berichtete der Premierminister dem Unterhaus i m März 1960, daß zwischen Januar 1955 und Februar 1960 — also i n nur fünf Jahren — nicht weniger als drei Royal Commissions und 67 sogenannte Committees of Enquiry zur Beantwortung wissenschaftlicher und sozialer Fragen eingesetzt wurden. A m bekanntesten wurde der i m August 1957 eingesetzte Council on Prices, Productivity and Incomes; für sein Gutachten, nach seinem Vorsitzenden Cohen-Gutachten genannt, waren diesem Council etwa dieselben Ziele gesetzt wie später dem deutschen Sachverständigenrat und nunmehr nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der deutschen Wirtschaftspolitik: Vollbeschäftigung und steigender Lebensstandard auf der Grundlage zunehmender Produktion und vernünftiger Preisstabilität. Nach verschiedenen Umgestaltungen nimmt nunmehr der National Board for Prices and Incomes, den die damals erst wenige Monate amtierende Labour-Regierung i m A p r i l 1965 einsetzte, die Aufgabe eines permanenten wirtschaftswissenschaftlichen Beratergremiums wahr.

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I m Gegensatz zu den Verhältnissen i n den Vereinigten Staaten haben w i r es i n Großbritannien bei allen diesen Einrichtungen, die der wissenschaftlichen Beratung politischer Stellen dienen, m i t der klaren Form dezisionistischer Beratung i m Sinne Max Webers zu tun, m i t der Einsetzung des Sachverstandes also als reinem Gehilfen der politisch entscheidenden Stellen. Das dürfte auch der Hochachtung entsprechen, die dieses so eminent politische V o l k seit eh und je seinen Politikern und der verantwortlichen politischen Entscheidung zollt. In der Sowjetunion Und wie ist es i n der Sowjetunion? Als ich i m A p r i l 1967 einige Wochen die Sowjetunion besuchen konnte, hatte ich die gewünschte und gern zugebilligte Gelegenheit, einige Stunden m i t maßgebenden Mitarbeitern des Staatlichen Planungskomitees zu sprechen, also m i t den Beamten der staatlichen Stelle, die m i t wissenschaftlichen Erkenntnissen und m i t wissenschaftlichen Methoden die mittelfristigen und langfristigen Pläne für die gesamte Sowjetwirtschaft erstellt, also alljährlich auch den „gossudarsdwennij-plan", den sogenannten Gosplan, der die wichtigsten Proportionen und die wichtigsten Tempi der Wirtschaftentwicklung bestimmt. Das Selbstbewußtsein unserer Gesprächspartner — einer von ihnen war Mitglied der Akademie der Wissenschaften — hatte verständliche Gründe: trotz Irrtümern und trotz Fehlkalkulationen — und dabei dürfen w i r w o h l niemals den Ausgangspunkt 1917 vergessen, auch einen Tag Null, der allerdings mit dem deutschen des Jahres 1945 nicht verglichen werden kann — ist es i n den 50 Jahren seit der Revolution gelungen, die Produktionskraft des Landes gewaltig zu steigern, den Wohlstand der breiten Masse zu heben und damit die Grundlage für ein umfassendes Bildimgswesen zu legen, das uns immer wieder und allerorten tief beeindruckte. W i r sprachen eingehend über das „neue ökonomische System der Planung und wirtschaftlichen Stimulierung", das bereits für einige Tausend Großunternehmen und für den gesamten Bereich der Mechanik, des Maschinenbaues und der Textilindustrie allgemein gilt; an die Stelle des früheren und meistens unumgänglichen Zwanges t r i t t die aufgeklärte Planung, jedoch nicht, wie man ausdrücklich betonte, eine allgemeine Dezentralisierung, w e i l viele und wohl gerade die wichtigsten Entscheidungen nach wie vor zentral getroffen werden müßten. 1927, 10 Jahre nach der Oktoberrevolution, hatte Erich Koch-Weser, der damalige deutsche Reichs justizminister, wie er i n seinem heute noch lesenswerten Rußlandbuch schreibt, i n der Sowjetunion „ n u r das 12*

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Experimentieren m i t einer Idee gesehen, die den Erfordernissen der Wirklichkeit nicht standhält". „Es ist kein lebendiger Organismus", schrieb er, „sondern eine tote Organisation, die man geschaffen hat". Nun, seit jener Zeit starrster Zwangswirtschaft, die der liberale Politiker beobachtete, hat sich einiges geändert. Die Planung w i r d bleiben; auch hier ist sie das Gelenk zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und ökonomischer Praxis, wenn sie den wirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung trägt und sich nicht nur von der Ideologie führen läßt. Ohne Planung — und das heißt auch: ohne die wissenschaftliche Beratung der Politik — wäre alles i n Frage gestellt, und sicher w i r d sie u m so wichtiger sein, je mehr der Zwang abgebaut wird. M i t den Planungsbeamten als Handlangern der Politik bei unbestrittenem Primat der Politik und bei völliger Ausschaltung der Öffentlichkeit entspricht demnach das Verhältnis zwischen Politiker und Sachverständigen i n der Sowjetunion dem dezisionistischen Modell Max Webers. Doch lassen uns — dieser Satz sei m i r noch erlaubt — die Lockerung des Zwanges i n der sowjetischen Wirtschaft und das wachsende Verständnis für Planung i m Westen hoffen, daß die beiden großen Systeme wirtschaftlichen Handelns einander näherkommen, vor allem dann, wenn sich der Dogmatismus dialektisch-materialistischer Prägimg ebenso lockert wie der Dogmatismus des paläo-liberalistischen Kapitalismus. Die westdeutsche Wirtschaftspolitik und ihre sachverständigen Berater Verglichen m i t den Verhältnissen i n den Vereinigten Staaten, i n Großbritannien und auch m i t denen i n der Sowjetunion, hat die wissenschaftliche Beratung der Wirtschaftspolitik i n der Bundesrepub l i k lange Jahre ein kärgliches Dasein gefristet. Gewiß gab es da die Beratung der Bundesregierung durch den verstorbenen Ordoliberalen Wilhelm Röpke. Es gab auch das von Bundeskanzler Adenauer bestelle und Anfang 1960 erstattete Blessing-Gutachten zur Lohnpolitik, das aber, als allzu einseitig von der Arbeitnehmerschaft klar abgelehnt, bedeutungslos blieb. Die Beratung der Wirtschaftspolitik durch unabhängige Sachverständige, die über diesen mehr privaten Charakter hinausging, lag ausschließlich bei den wissenschaftlichen Beiräten der verschiedenen Bundesministerien und vielleicht noch bei den wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten, die i n der „Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute" zusammengefaßt sind.

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Der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium Von diesen wissenschaftlichen Beiräten ist für unsere Betrachtung der Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium besonders wichtig, der Anfang 1948, damals noch als Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes i n Minden, entstand. Der Beirat ist ein ehrenamtliches Professorengremium, das sich durch Kooptation ergänzt. Er ist autonom i m Hinblick auf die Auswahl der Mitglieder wie auch i m Hinblick auf die Themen, die er sich selbst wählt und bearbeitet. Allerdings geht die Initiative der Aufgabenstellung meist vom Bundeswirtschaftsministerium aus. Das Ministerium ist jedoch nicht verpflichtet, zu den Äußerungen des Beirates seinerseits Stellung zu nehmen oder gar sie zu beachten. Da nicht der Beirat, sondern das Ministerium die Gutachten des Beirates veröffentlicht, kann das M i n i sterium auch jede i h m unangenehme Meinungsäußerung des Beirates beliebig lange zurückhalten. Dies hat eine große Rolle gespielt bei der Behandlung des Beiratsgutachtens vom 30. A p r i l 1957 über die „Wirtschaftspolitische Problematik der deutschen Exportüberschüsse". I n diesem Gutachten hatte sich der Beirat für eine alsbaldige Aufwertung der D - M a r k ausgesprochen. Erst nachdem die Aufwertung i m März 1961 — zu spät und zu schwach — durchgeführt worden war, veröffentlichte das Bundeswirtschaftsministerium dieses Gutachten des Beirates aus dem Jahre 1957 — zu spät also, als daß es zu einer sachkundigen Urteilsbildung i n der Öffentlichkeit hätte beitragen können. W i r können feststellen, daß dieser Beirat — wie auch die wissenschaftlichen Beiräte bei einigen anderen Ministerien — ein blütenreines Beratergremium i m Sinne des dezisionistischen Modells ist. Der Sachverständigenrat Die Entstehung des Gesetzes Neben diesen wissenschaftlichen Beiräten der einzelnen Ministerien ein wirtschaftswissenschaftliches Gutachtergremium zu schaffen, das von Regierung und Parlament unabhängig sei: dieser Gedanke taucht i n der Bundesrepublik erstmals Mitte der fünfziger Jahre auf. Damals haben Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und andere Verbände jeglicher A r t eine solche Instanz gefordert, die unabhängig von Regierung und Parlament, von Parteien und Interessengruppen die gesamtwirtschaftliche Entwicklung beobachten und bei Fehlentwicklungen geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen vorschlagen sollte. Gelegentlich stand dabei auch die Einrichtung eines Bundeswirtschaftsrates zur Debatte; diesem Vorschlag wurden freilich die wenig ermutigenden Erfahrun-

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gen m i t dem Reichswirtschaftsrat i n der Weimarer Republik entgegengehalten. Ihren Niederschlag fanden alle diese Überlegungen bereits 1956 i m Zweiten Bundestage i n einem Initiativantrag der Fraktion der SPD über den Entwurf eines Gesetzes zur Förderimg eines stetigen Wachstums der Gesamtwirtschaft. § 5 dieses Gesetzentwurfes sieht einen „volkswirtschaftlichen Beirat" vor, der nicht an Weisungen gebunden und i n der Gestaltung seiner Arbeit frei ist. Er sollte sich aus höchstens neun unabhängigen Wissenschaftlern zusammensetzen. Nach diesem Gesetzentwurf wäre die Bundesregierung verpflichtet gewesen, dem Bundestage alljährlich bis zum 15. Februar einen Wirtschaftsbericht m i t einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für das abgelaufene Wirtschaftsjahr und m i t einer Vorausberechnung der möglichen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung i n Form eines NationalBudgets vorzulegen. Dieser Initiativentwurf der SPD-Fraktion hat also wichtige Aspekte zweier Gesetze vorweggenommen: des Gesetzes über den Sachverständigenrat von 1963 und des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft von 1967. Jedoch erlitt dieser Gesetzentwurf dasselbe Schicksal wie die meisten Initiativanträge der Opposition i n jenen Jahren: er wurde abgelehnt. Es ist müßig, darüber nachzudenken, wie sich unsere Wirtschaft unter einem solchen vor nunmehr zwölf Jahren vorgeschlagenen Gesetz entwickelt hätte. Jedenfalls — das w i r d niemand bestreiten — verfügten w i r heute sicherlich nicht nur über ein ausgefeilteres Instrumentarium zur Konjunkturpolitik, sondern auch über fundiertere Erfahrungen, es zur rechten Zeit und i n rechtem Maße einzusetzen. Jedoch arbeitete w o h l nicht nur die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die immer mehr nach einer aktiven Wirtschaftspolitik verlangten und vielleicht auch nach einer Vorurteils- und wertfreien Konfrontation dieser Wirtschaftspolitik m i t wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch die Entwicklung des volkswirtschaftlichen Denkens selbst für die Gedanken, die i n dem sozialdemokratischen Initiativantrag enthalten waren. Jedenfalls brachten 1962 die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP den „Entwurf eines Gesetzes zur Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" ein. Diesen E n t w u r f billigte der Bundestag am 26. Juni 1963 — lassen Sie es mich besonders betonen —: einstimmig. I m Februar 1964 berief dann der Bundespräsident, dem Gesetz entsprechend, auf Vorschlag der Bundesregierung die ersten fünf Mitglieder des Rates. Diese kurze Entstehungsgeschichte des Gesetzes läßt zunächst einmal erkennen, daß bei der Schaffung des Sachverständigenrates nicht

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Gruppeninteressen und deren Vertretung gegenüber Regierung und Parlament, also nicht die Interessen bestimmter Wirtschaftskreise, Pate gestanden haben, sondern der deutliche Wunsch, die wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen mit Hilfe des Sachverstandes zu versachlichen. Darüber hinaus dürfen w i r i n der einstimmigen A n nahme des Gesetzes durch den Bundestag und i n der Tatsache, daß die Regierung selbst der Gesetzesinitiative der Parlamentsmehrheit nicht widersprach, ein erfreuliches Bekenntnis zu einer verwissenschaftlichten Wirtschaftspolitik sehen. Die Zeit war, nachdem w i r fast zwanzig Jahre ohne gestaltende Wirtschaftspolitik ausgekommen waren, reif. Die Aufgaben und die Stellung des Sachverständigenrates Welche Aufgaben n u n überträgt das Gesetz dem Sachverständigenrat, und welche Stellung räumt es ihm ein? Nach § 1 des Gesetzes w i r d „ein Rat von unabhängigen Sachverständigen" gebildet „zur periodischen Begutachtimg der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitischen I n stanzen sowie i n der Öffentlichkeit". Aus diesen Worten des Gesetzes lassen sich schon mehrere Unterschiede zu den bisher genannten Institutionen wissenschaftlicher Politikberatung erkennen: Der Sachverständigenrat begutachtet periodisch — i n jedem Jahr zum 15. November — und nicht nur gelegentlich. Der Sachverständigenrat dient nicht ausschließlich der Bundesregierung, sondern allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen, vor allem also Bundestag und Bundesrat, und darüber hinaus der ganzen Öffentlichkeit. W i r sind also, weil das Gesetz die demokratische Kommunikation wünscht, versucht zu sagen, der Sachverständigenrat sei i m Sinne des pragmatistischen Modells gebildet. Andere Vorschriften des Gesetzes bestätigen dies — doch sagen sie auch etwas wesentlich anderes aus. Vorerst indes nur dies: Der Sachverständigenrat ist unabhängig. Das Gesetz sagt es ausdrücklich und ordnet für die Mitglieder des Rates eine Reihe von Inkompatibilitäten an: sie dürfen „weder der Regierung oder einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes oder dem öffentlichen Dienst des Bundes, eines Landes oder einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts, es sei denn als Hochschullehrer oder als Mitarbeiter eines wirtschaftsoder sozial wissenschaftlichen Instituts", angehören, noch Repräsentanten „eines Wirtschaftsverbandes oder einer Organisation der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer" sein. Außerdem beruft der Bundespräsident

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die fünf Mitglieder des Rates, alljährlich eines für ein ausscheidendes; die Bundesregierung hat — nach Anhörung des Rates selbst — lediglich ein Vorschlagsrecht. Auch darin dürfen w i r ein Zeichen der Unabhängigkeit gegenüber Parlament und Regierung sehen. Darüber hinaus ist der Sachverständigenrat aber auch unabhängig i n dem Sinne, daß er „ n u r an den durch dieses Gesetz begründeten Auftrag gebunden" ist. Die Mitglieder des Rates sind also, wenn ich so sagen darf, wie Richter nur dem Gesetz und ihrem Gewissen unterworfen und verantwortlich. Entgegen dem Wunsch, die Gutachten des Sachverständigenrates nur für die Zwecke der Bundesregierung erstellen zu lassen, hat sich das Parlament — und die Gründe liegen nun auf der Hand — dafür entschieden, daß der Rat seine Gutachten selbst veröffentlicht; das gilt auch für die Gutachten, die der Rat etwa auf Anforderung der Bundesregierung erstattet. Damit w i r d die Öffentlichkeit zum Adressaten des Gutachtens. Unmittelbarer Empfänger der Gutachten allerdings ist die Bundesregierung, doch wohl nur, damit sie i n den Stand gesetzt ist, ihre Stellungnahme zu den Gutachten rechtzeitig zu erarbeiten. Seit dem Gesetz zur Förderung von Stabilität und Wachstum i n der Wirtschaft von 1967 ist diese Stellungnahme wesentlicher Bestandteil des alljährlich i m Januar zu erstattenden Jahreswirtschaftsberichtes der Bundesregierung. Da die Bundesregierung i n dieser Stellungnahme die wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen, die sie aus dem Gutachten zieht, darzulegen hat, ist auch damit das Primat der Politik gewahrt. Der Rat ist — u m Professor Lübbe zu zitieren — Führungsinstrument; er hat keine Führungsmacht. Zu veröffentlichen hat aber der Rat selbst sein Jahresgutachten „unverzüglich" nach der Abgabe am 15. November; die Bundesregierung leitet das Gutachten an diesem Tage den gesetzgebenden Körperschaften — als den eigentlichen Empfängern des Gutachtens — zu. Der Gesetzgeber hat also zu verhindern gewußt, daß die Bundesregierung unbequeme Gutachten des Sachverständigenrates, wie es zum Beispiel m i t einem entscheidenden Gutachten des wissenschaftlichen Beirates geschah, i n ihren Schubladen zurückhält. Natürlich ist auch die Veröffentlichung des Gutachtens Voraussetzung dafür, daß die Gutachten i m Sinne des Gesetzgebers die „Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen und i n der Öffentlichkeit erleichtern". W i r sind wieder versucht zu sagen: alles dies geschieht ganz i m Sinne des pragmatistischen Modelles, i n dem die Beratung der politisch entscheidenden Stellen sich i m Blickfeld und i n der Kommunikation m i t der Öffentlichkeit abspielt.

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Die vier dem Rate vorgegebenen Ziele I n seinen Gutachten nun soll der Sachverständigenrat „die jeweilige gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung darstellen". Für den Ist-Soll-Vergleich, der solche Lageuntersuchungen erst sinnvoll macht, hat der Gesetzgeber dem Rat einen festen Katalog von Zielen vorgegeben. Das Gesetz fährt nämlich fort: „Dabei soll der Sachverständigenrat untersuchen, wie i m Rahmen der m a r k t w i r t schaftlichen Ordnimg gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können." Unter diesem Zielsystem stehen auch die weiteren Untersuchungen, m i t denen der Gesetzgeber den Sachverständigenrat beauftragt, die Untersuchungen über „die Bildung und Verteilung von Einkommen und Vermögen" und über „die Ursachen von aktuellen und möglichen Spannungen zwischen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und dem gesamtwirtschaftlichen Angebot". Aus den i m Gesetz festgelegten Zielen ergibt sich zunächst klar und unbestritten: Das Gesetz gibt dem Sachverständigenrat keine Möglichkeit, die Ziele der Wirtschaftspolitik zu erörtern. Diese Ziele hat — und das m i t Recht — die Politik vorgegeben. Wie der Gesetzgeber sich über die Diskussion, die seit Jahren die Volkswirte über die möglichen schwerwiegenden Zielkonflikte i m Bereich der Konjunkturpolitik geführt haben, hinweggesetzt hat, so hat der Sachverständigenrat aufgrund des gesetzlichen Auftrages zu unterstellen, daß alle vier Ziele gleichzeitig verwirklicht werden können und sollen. Weil sie aber nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes, was leider nur allzuoft übersehen wird, gleichzeitig erreicht werden sollen, sind sie für den Sachverständigenrat grundsätzlich gleichrangig. Der Sachverständigenrat hat daher immer jenen Zielen die größte A u f merksamkeit zuzuwenden und zugewandt, die i n der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Lage und i n deren absehbarer Entwicklung am wenigsten verwirklicht sind. So hat denn auch der Rat i n allen Gutachten der Versuchung widerstanden, einem der Ziele den Vorrang vor den anderen zu geben; hätte er es getan, wäre er seinem Auftrag nicht gerecht geworden. Noch i n seinem Jahresgutachten 1967/68 über „Stabilität und Wachstum" (Ziffer 306) hat den Sachverständigenrat dieses Problem beschäftigt: „Sollen mehrere Ziele gleichzeitig erreicht werden, wie es i n den beiden einschlägigen Gesetzen vorgesehen ist, so müssen auch die entsprechenden Maßnahmen gleichzeitig erwogen und ergriffen werden;

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infolgedessen ist bei der Erörterung jeder einzelnen Maßnahme der Erfolg der anderen vorwegzunehmen, sie sind aufeinander abzustimmen. Dies steht i m Gegensatz zu der herkömmlichen Diskussion und Praxis, i n der man immer wieder dazu neigt, die Aufgaben nacheinander zu sehen und nicht nebeneinander, die einzelnen Maßnahmen für sich zu betrachten (ceteris paribus) und nicht i n ihrer Interdependenz (mutatis mutandis) und Maßnahmenpakete, die als Ganzes präsentiert werden, ohne Rücksicht auf das Ganze aufzuschnüren." Und schließlich: für den Rat sind die vier Ziele des Gesetzes unter allen Umständen vorrangig vor anderen Zielen, wenn diese m i t jenen in Konflikt kommen. Ausdrücklich hat der Rat das bereits i n seinem ersten Jahresgutachten 1964 (Ziffer 241) bei der überwiegend politischen Frage nach dem Verhältnis von flexiblen Wechselkursen und Integration festgestellt; diese Frage „zu beantworten ist nicht Aufgabe des Sachverständigenrates, zumal das Gesetz, das die Grundlage seiner Arbeit bildet, nur die Ziele Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum nennt, nicht aber Integration und feste Wechselkurse", ganz abgesehen davon, daß eine bloß institutionelle Integration dem Wachstumsziel nicht unbedingt den besten Dienst leistet. Dies alles übersahen die K r i t i k e r des Rates, der darum unbeirrt — die K r i t i k e r meinen: geradezu penetrant — die gerade auch heute wieder höchst aktuelle Forderung wiederholt, jede Stabilitätspolitik sei außenwirtschaftlich abzusichern. Ein weiteres Beispiel, das erkennen läßt, wie ernst es der Rat m i t den i h m vorgegebenen Grenzen nimmt, sei aus dem Jahresgutachten 1966/67 „Expansion und Stabilität" hinzugefügt: „Der Sachverständigenrat ist sich bewußt, daß m i t jeder an Preisstabilität orientierten Währungspolitik, mag sie nun das Programm eines gehärteten Devisenstandards oder eines mittelfristig garantierten Paritätsanstiegs oder einer Bandbreitenerweiterung m i t begrenztem Paritätsanstieg als Vorstufen zur Härtung der Weltwährungsverfassung beinhalten, Vorteile und Nachteile, Chancen und Risiken verbunden sind. Da diese aber vornehmlich politisch-gesellschaftliche Voraussetzungen haben und daher letztlich Fragen sind, die die Politik abzuwägen und zu entscheiden hätte, liegen die Antworten außerhalb des gesetzlichen Auftrages des Sachverständigenrates." Noch einmal also: die letzte politische Entscheidimg bleibt bei den Politikern, bei den Beratenen; sie bestimmen unter politischen Gesichtspunkten den Rang der Werte, wobei ihnen jetzt allerdings das

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Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gewisse Fesseln anlegen sollte. M i t dieser Einschränkung gelten nach wie vor die Worte Schillers (1955): „Der Kampf um die Rangordnung der obersten Werte selbst w i r d sicherlich i n anderen Bereichen als denen der Wissenschaf t ausgetragen. Aber der einzelne Wissenschafter muß seinen eigenen Beitrag zur Erfüllung dieser Werte leisten." Wo der Gesetzgeber die Grenze zwischen den Aufgaben des Sachverständigenrates und denen der wirtschaftspolitischen Instanzen gezogen wissen w i l l , bringt das Gesetz unmißverständlich zum Ausdruck: der Rat darf „keine Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen aussprechen". Damit w i r d jeder unerwünschte Einfluß auf die Politik zurückgewiesen, der unbedingte Vorrang der Politik gesichert und gesagt: Die politische Verantwortung auch in diesem wirtschaftspolitischen Bereich bleibt unverändert bei den verfassungsmäßig zuständigen Organen; diese Verantwortung soll nicht einmal durch Empfehlungen, auf die sich vielleicht dieser oder jener berufen könnte, abgeschwächt werden. Der Sachverständigenrat ist m i t h i n kein Organ der politischen Willensbildung, er ist in dieser Hinsicht lediglich beratender Gehilfe i m Sinne des dezisionistischen Modelles. Das gilt selbst dann, wenn man der Ansicht ist, daß zwischen wertender Begutachtung und einer Empfehlung kaum ein Unterschied besteht. „Vermeiden Sie", sagte den fünf Sachverständigen am Tage der ersten Berufung (Januar 1964) der damalige Bundeswirtschaftsminister Schmücker, „vermeiden Sie das Wort: empfehlen; was Sie für richtig halten, werden w i r schon aus dem Gutachten herauslesen und als Empfehlung ansehen". Die Arbeit des Sachverstindigenrates a) Die erste Stellungnahme

vom 20. Juni 1964

Als der Sachverständigenrat i m Frühjahr 1964 seine Arbeit begann, befand sich — und damit sehen w i r schon beim ersten Satz über die Tätigkeit des Rates die Ähnlichkeit m i t der sich anbahnenden w i r t schaftlichen Situation i n diesen Tagen des Sommers 1968 — die W i r t schaft der Bundesrepublik i n einem Aufschwung, der sich bei ständig steigenden Exporten gefährlich beschleunigte. Überall wurden Zeichen der Ubernachfrage sichtbar. A n der Preisfront und an der Lohnfront bestand zwar noch Ruhe, aber i n wenigen Monaten konnte sich eine gefährliche inflatorische Welle ausbreiten, wenn die Wirtschaftspolitik dieser drohenden Fehlentwicklung nicht m i t marktkonformen M i t t e l n entgegenwirkte.

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Schon wenige Monate nach seiner Berufung legte der Rat i n einer Stellungnahme vom 20. Juni 1964 dem damaligen Bundeskanzler Erhard seine Sorgen dar und erörterte auch die Frage, wie man den drohenden Preis- und Lohnerhöhungen begegnen könnte: durch eine Verbilligung der Importe und durch die Wiederherstellung normaler Wettbewerbsverhältnisse auf den Exportmärkten, durch eine Aufwertung also. Die Stellungnahme wurde ignoriert; niemand hörte auf die Warnungen. b) Das Jahresgutachten

1964165: „Stabiles Geld — Stetiges Wachstum"

I m Herbst 1964, i n der Prognose seines ersten Jahresgutachtens „Stabiles Geld — Stetiges Wachstum", präzisierte dann der Rat seine Sorgen über den drohenden Geldwertschwund: der Preisindex für die Lebenshaltung werde i m ersten Halbjahr 1965 um 3 Prozent über dem Vorjahresstand liegen. Der Rat erkannte der GeldWertstabilität durch außenwirtschaftliche Absicherung — nämlich durch flexible Wechselkurse — den ersten Rang zu; er stellte an den Anfang seiner Betrachtungen die Alternative — und steht heute noch zu i h r : entweder stabile Preise für die ausländischen Währungen, also internationale Geldwertgemeinschaft m i t der Gefahr und dem Risiko der Geldentwertungsgemeinschaft, oder stabiles Binnenpreisniveau, aber veränderliche Währungsparitäten. Das sind die beiden Möglichkeiten, zwischen denen man wählen muß. Doch bot er daneben ein Bündel von Bedingungen an, unter denen angemessene Wachstumsraten erzielt werden könnten: 1. eine stabilitätskonforme Haushaltsgebarung (Ziffer 242), 2. eine die Preisflexibiiitat fördernde Wettbewerbspolitik (Ziffer 246) und 3. eine kostenniveau-neutrale Lohnpolitik (Ziffer 248). I n ihrer Stellungnahme zum ersten Jahresgutachten aber lehnte die Bundesregierung die vom Sachverständigenrat zur Diskussion gestellten wechselkurspolitischen Maßnahmen — das war der Hund, für den sich am schnellsten ein Knüppel finden ließ — und gleichzeitig pauschal die anderen Maßnahmen ab; sie hielt die vorhergesagte Preiserhöhung auch ohne derartige Maßnahmen für vermeidbar. Wie Sie wissen, stieg 1965 der Preisindex für die Lebenshaltung u m 3,4 Prozent, obgleich die Bundesregierung i n ihrer Stellungnahme programmatisch erklärt hatte, sie werde nicht zögern, „bei gefährlichen Fehlentscheidungen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen".

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Bei der weitverbreiteten Neigung, Gegenwartsphänomene durch Gegenwartsphänomene zu erklären, n i m m t es nicht wunder, daß die herrschende Meinimg diesen Preisanstieg i m Jahre 1965 als eine autonome Lohnkosteninflation erklärte. Aber die Würfel über die Preisentwicklung waren schon 1964 gefallen, wie die Preissteigerungen von 1969 und 1970 das Ergebnis von Fehlhandlungen und Versäumnissen — insbesondere des Verzichts auf eine entschlossene und ausreichende' außenwirtschaftliche Absicherung — i n der Gegenwart sein werden. Daß 1965 die Zahlungsbilanz vorübergehend ins Defizit geriet, beunruhigte den Rat keineswegs; nichts anderes ist i m System fester Wechselkurse zu erwarten; zunächst werden Überschüsse gebildet; andere Länder werden zu bitterer Restriktionspolitik gezwungen und — w e i l Wechselkurskorrekturen tabuiert sind — passen sich das heimische Kostenniveau und vor allem das Preisniveau an das ausländische an. W i r werden m i t aller Wahrscheinlichkeit einer Preisanpassung nach oben vielleicht schon i n diesem Jahre, sicherlich aber i n den kommenden Jahren abermals ausgesetzt sein, da offenbar immer noch nicht letzte Klarheit darüber besteht, daß das westdeutsche Preisniveau viel weniger binnenwirtschaftlich als — zum mindesten auf mittlere Sicht — international determiniert ist. I n einer inflationierenden Welt kann sich auf die Dauer kein Land bei festen Wechselkursen und freier Konvertibilität der schleichenden Inflation entziehen. Für die Bundesbank freilich war damals — 1965 — der Zeitpunkt gekommen, i n dem sie als Hüterin der Währung auftreten konnte: Da die Zahlungsbilanz zur Passivierung tendierte, konnte sie das Geld immer knapper machen, ohne befürchten zu müssen, daß ihre Politik alsbald durch den Zustrom ausländischen Geldes durchkreuzt würde. Sie entwickelte also nach traditioneller A r t — man möchte sagen: geradezu hemdsärmelig und ohne Rücksicht auf Verluste — einen zahlungsbilanzkonformen Restriktionskurs. c) Die zweite Stellungnahme

vom 19. Juni 1965

Die Sorgen der Bundesbank waren nicht die Sorgen des Sachverständigenrates; für diesen schob sich seit dem Sommer 1965, als die Restriktionen das Wachstum zu bedrohen begannen, neben das Stabilitätsziel immer mehr das Ziel eines angemessenen und stetigen Wachstums i n den Vordergrund. A m 19. Juni 1965 teilte der Rat, nachdem er eingehend und wiederholt m i t den Vertretern der Sozialpartner und mit denen des Bundesverbandes der Industrie gesprochen und diese für eine „konzertierte A k t i o n " gewonnen hatte, die darauf abzielen sollte, die Stabilisierung

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ohne Wachstumskrise zu erreichen, dem Bundeskanzler das Ergebnis dieser seiner Besprechungen mit. Es war sehr positiv gewesen: ebenso wie die Repräsentanten der Arbeitgeberseite stimmten die Repräsentanten der Gewerkschaften den lohnpolitischen Grundsätzen des ersten Jahresgutachtens zu, also einer kostenniveau-neutralen Lohnpolitik. Allerdings forderten alle, die sich damit erstmals zu einer „konzertierten A k t i o n " bekannten, die Beteiligung gerade auch der öffentlichen Hand an einem solchen umfassenden Stabilitätskonzept. Der Rat faßte sein Konzept einer solchen Politik i m Jahresgutachten 1965/66 „Stabilisierung ohne Stagnation" zusammen: „Der Sachverständigenrat ist nach wie vor der optimistischen Auffassung, daß Geldwertstabilität auch ohne deflatorische Begleiterscheinungen erreichbar ist, wenn sie wirklich gewollt w i r d und wenn die gesellschaftlichen Kräfte systematisch auf dieses Ziel h i n gelenkt werden. Dazu reichen freilich Appelle an einzelne nicht aus; vielmehr bedarf es einer Abstimmung der Verhaltensweisen i m Rahmen einer umfassenden w i r t schaftspolitischen Konzeption. Der Rat hat die Möglichkeiten hierfür auch m i t Vertretern der Sozialpartner erörtert. Sie haben sich, nachdem die lohnpolitischen Grundsätze des vorigen Jahresgutachtens (Ziffer 248) auf beiden Seiten Zustimmung gefunden hatten, gemeinsam zur Mitarbeit bereit erklärt, gingen dabei allerdings davon aus, daß die Bundesregierung die hierfür erforderlichen Voraussetzungen schafft und die Führung übernimmt. Von diesem Ergebnis hat der Rat die Bundesregierung i n einem Memorandum vom 19. Juni 1965 unterrichtet. Nach den langjährigen Disputen u m die Lohnpolitik sieht er hier eine neue Möglichkeit für ein gemeinsames Vorgehen." I n einer zusätzlichen Stellungnahme, die der Rat dem Bundeskanzler i m J u n i 1965 zuleitete, machte er die Gefahren, die drohten, deutlich, wenn es nicht zu einer „ A k t i o n Geldwertstabilität", wie er damals die Konzertierte A k t i o n nannte, käme: „Sollten sich Anbieter und Nachfrager", so schrieb der Sachverständigenrat dem Kanzler, „zunehmend der Geldentwertung anpassen, so w i r d es immer schwieriger, vielleicht unmöglich, zu einer Politik der Geldwertstabilität zurückzukehren, ohne daß eine Stabilisierungskrise i n Kauf genommen werden müßte." Außer vor einer Stabilisierungskrise warnte der Rat vor der Gefahr eines erneuten außenwirtschaftlichen Überschuß-Ungleichgewichtes: „Eine Politik der Geldwertstabilität allein m i t binnenwirtschaftlichen Mitteln hätte bald wieder ein außenwirtschaftliches Uberschuß-Ungleichgewicht zur Folge." Das war i m Juni 1965. Sie werden es m i r nicht verübeln, wenn ich daran erinnere, daß der Sachverständigenrat m i t diesen seinen Sorgen — leider — recht behalten hat. Geschehen ist 1965 — fast möchte man

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sagen: natürlich — nichts; es war das Wahljahr, und der Deutsche Bundestag war gerade dabei, sein Füllhorn über Gerechte und Ungerechte zu leeren. „Bundestagswahlen", so sagt mein Kollege Professor Giersch, „bringen erfahrungsgemäß selten eine Hochkonjunktur i n sachgerechten Entscheidungen. Auch der Vierte deutsche Bundestag bangte eher u m die Gunst des Wahlvolkes als u m den Nachruhm i n der Wirtschaftsgeschichte." d) Das Jahresgutachten

1965166: „Stabilisierung

ohne Stagnation"

„Stabilisierung ohne Stagnation" war der Buchtitel des zweiten Jahresgutachtens, das der Rat zum 15. November 1965 der Bundesregierung für die gesetzgebenden Körperschaften zuleitete. Schon dieser Titel brachte erneut die Sorge des Sachverständigenrates vor einem künftigen Konflikt zwischen Wachstum und Stabilität zum Ausdruck. Er schrieb: „Das Wachstum w i r d sich abschwächen, doch w i r d auch ein langsameres Wachstum 1966 den Geldwertschwund nicht zum Stillstand bringen. . . . Da inzwischen die konjunkturellen Auftriebskräfte erheblich schwächer geworden sind, könnte die Bundesbank i m kommenden Jahr vor einem ernsthaften Zielkonflikt stehen. Während der Preisauftrieb anhält, kann man von einer realen Überforderung der Produktivkräfte nicht mehr sprechen. Die Fortsetzung der Restriktionspolitik wäre dann eine Entscheidung zugunsten der Geldwertstabilität, aber gegen das Wachstum . . . . Die Bundesbank allein kann diesen K o n f l i k t nicht aufheben" (JB 65 Ziffer 129). Die damalige Bundesregierung antwortete Anfang Januar 1966 i n ihrer Stellungnahme zu diesem Gutachten: sie sei nicht der Ansicht, daß die Kreditpolitik i n näherer Zukunft i n einen Zielkonflikt geraten könnte. Derselben Meinung waren die Vertreter der Bundesbank, die allerdings ausschließlich Geldwertstabilität ansteuerten, nicht aber außenwirtschaftliches Gleichgewicht, nicht hohen Beschäftigungsstand, geschweige denn stetiges und angemessenes Wachstum — nicht also die übrigen drei nach den Gesetzen gleichrangigen Ziele der W i r t schaftspolitik, obwohl auch das Gesetz über die Bundesbank dieser ausdrücklich die Pflicht auferlegt, mit allen ihren Maßnahmen die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu stützen. Wo der Weg einer Stabilitätspolitik, die traditionellem Denken entspricht, enden würde, nämlich i n einer Stabilitätskrise, und wie man diese durch ein planvolles Zusammenwirken i n einer konzertierten Stabilisierungsaktion hätte verhüten können, versuchte der Sachverständigenrat darzustellen: „Wichtig ist, daß die Stabilisierung nicht für den hohen Preis einer Stabilisierungskrise erkauft werden muß.

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eine Gefahr, die nach allen Erfahrungen der Konjunkturgeschichte um so mehr droht, je länger eine inflatorische Entwicklung angehalten hat und je stärker sie w a r " (JG65 Ziffer 186). „Stabilisierung ohne Stabilisierungskrise erscheint . . . als eine Aufgabe, die hohe Anforderungen an die psychologische und politische Führungskunst der Regierimg stellt" (JG 65 Ziffer 205). „Eine rasche Stabilisierung ohne Stabilisierungskrise könnte u m so eher erreicht werden, je mehr es gelingt, den Unternehmern klarzumachen, daß Zurückhaltung i n der Preispolitik der faire Preis für eine kostenniveau-neutrale Lohnpolitik ist und daß es überdies i m wohlverstandenen Interesse der produzierenden Wirtschaft liegt, einer zur Geldwertstabilität entschlossenen Regierung eine Deflationspolitik und sich selbst eine Stabilisierungskrise . . . zu ersparen. Die Wirtschaftsverbände könnten aufklärend viel dazu beitragen, daß sich die Unternehmer auf ein anderes Preisklima und Preisverhalten umstellen, ohne daß es dazu erst eines Deflationsschocks bedarf" (JG65 Ziffer 206). Jedenfalls verwarf damals die Regierung den Gedanken einer konzertierten Stabilisierungsaktion nach den Prinzipien der Gleichzeitigkeit, der Gleichmäßigkeit — das ist wohl das, was man heute m i t „sozialer Symmetrie" bezeichnet — und der Allmählichkeit. Es geschah, wie es gewollt war: die restriktive Kreditpolitik traf einseitig und m i t unkontrollierter Schärfe die Investitionen, löste die erste schwere Nachkriegsrezession i n der Bundesrepublik aus und führte nahezu zu einer Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung Westeuropas. Die Bundesbank bekräftigte noch i m M a i 1966 ihren Kurs; sie erhöhte den Diskontsatz u m einen ganzen Punkt auf 5 Prozent, obwohl die Produktion i n vielen Bereichen damals schon stagnierte, zum Teil sogar schrumpfte. Sie tat es, u m die Sozialpartner und die öffentlichen Hände Mores zu lehren — quasi als vierte Gewalt i m Staat. Sie tat dies alles, obwohl sie — wie sie selbst i n ihrem Geschäftsbericht 1966 schreibt — aus vielfachen Erfahrungen i m Ausland wußte, daß das Zusammentreffen von Kostenanstieg und Nachfragedämpfung „langdauernde Stagnations- oder Krisenerscheinungen" zur Folge haben kann und der Erholungsprozeß dann seine Zeit braucht. I n seinem zweiten Jahresgutachten unterstrich der Sachverständigenrat i n einem besonderen Kapitel „Wachstum und Strukturwandel", daß nur ein stetiger Wandel der Strukturen ein reibungsloses Wachstum der Wirtschaft ermöglicht. Dieses Kapitel, das sich auf umfangreiches statistisches Material über das wirtschaftliche Wachstum seit dem Jahre 1950 stützte, umriß die grundlegenden Fragen der Strukturpolitik zu einem Zeitpunkt — i m Herbst 1965 —, als sich die W i r t schaftspolitik i n der Euphorie des Booms wenig m i t den Fragen der

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Wirtschaftsstruktur befaßte. Noch bevor i n der Öffentlichkeit der Ruf nach Strukturpolitik laut wurde, versuchte der Rat zu zeigen (Ziffer 213), daß ein stetiges Wachstum den Preis flexiblen Verhaltens von allen verlangt, die wirtschaftspolitische Verantwortung tragen, „von den Unternehmen die Bereitschaft, den technischen Fortschritt zu nutzen und dem wachstumsbedingten Wandel der Nachfragestruktur — sei es durch Umstellung oder Verzicht — vorzugreifen oder wenigstens zu entsprechen; von den Arbeitnehmern die Bereitschaft, erlerntes Wissen und Können zu erweitern und zu erneuern, gegebenenfalls sogar den A r beitsplatz oder den Betrieb, den Beruf oder den Wohnort zu wechseln; von allen i n der Wirtschaft Tätigen die Bereitschaft, sich von überlieferten Vorstellungen vom sozialen Rang bestimmter beruflicher Lebensformen zu trennen, wenn der wirtschaftliche Fortschritt diese veralten läßt; von den Sozialpartnern die Bereitschaft, die Ausbildung und Weiterbildung der Arbeitskräfte zu fördern, Widerstände gegen den technischen Fortschritt durch Aufklärung abzubauen und den wechselnden Wertungen des Marktes i n der Tarifpolitik entgegenzukommen; von den Sozialpartnern und von dem Gesetzgeber die Bereitschaft, die aus früherer Zeit herrührenden Vorschriften und Traditionen i m Arbeits- und Sozialrecht daraufhin zu überprüfen, ob sie nicht durch modernere und vielleicht den Strukturwandel weniger hemmende Formen angemessener Einkommenssicherimg ersetzt werden könnten; von den Regierungen des Bundes und der Länder eine Neuorientierung ihrer Strukturpolitik i n dem Sinne, daß sie dem Drängen von Gruppen, die aus Mitleid m i t sich selbst für Erhaltungssubventionen eintreten, weniger nachgeben, damit mehr Spielraum entsteht für Maßnahmen, die es den Unternehmen und den Regionen erleichtern, sich der Struktur von morgen anzupassen". Wichtigste Voraussetzung für ein stetiges Wachstum i n einer sich wandelnden Welt ist der Mensch. So schrieb der Sachverständigenrat damals weiter: „Stetiges und angemessenes Wachstum erfordert den Wandel der Strukturen, der Wandel der Strukturen jedoch Menschen, die i h m gewachsen sind, die i h n treiben und i h n tragen. A n den Menschen werden immer neue Anforderungen gestellt, denen er nur genügen kann, wenn zu einer breiten Grundausbildung die Möglichkeit ständiger Fortbildung kommt. Fortschritte auf dem Gebiet der Bildung, an der i n unserer Gesellschaft alle Schichten der Bevölkerung teilhaben sollen, setzen sich auch i n wirtschaftlichen Fortschritt um, allerdings 13 Tagung Dortmund 1968

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erst nach langen Jahren, vielleicht sogar erst nach einem Menschenalter. Wenn es somit auf irgendeinem Gebiet öffentlicher Tätigkeit der langfristigen Vorausschau, der Planung und der Stetigkeit bedarf, dann auf diesem." e) Das Jahresgutachten

1966/67: „Expansion

und

Stabilität "

Als der Sachverständigenrat i m November 1966 sein drittes Jahresgutachten m i t dem Titel „Expansion und Stabilität" vorlegte, wurde die Bundesrepublik von einer schweren Regierungskrise, die i n eine Staatskrise einzumünden drohte, geschüttelt. Das Vertrauen weiter Bevölkerungskreise hatte Schaden genommen, nicht zuletzt, w e i l — auch für den letzten erkennbar — eine geschlossene wirtschaftspolitische Konzeption fehlte. I n einer solchen echten Notlage der Wirtschaft und des Staates war eine Prognose besonders schwer und besonders unsicher. Der Rat hat damals zwar die Entwicklung des Jahres 1967 i n ihrer Richtung erkannt: Nachlassen der wirtschaftlichen A k t i v i t ä t i m ersten Halbjahr, Erholung i m zweiten Halbjahr; aber er hat zweifellos das Ausmaß des Rückganges der K o n j u n k t u r erheblich unterschätzt. Gei r r t haben sich viele; ihren I r r t u m zugegeben haben nur wenige. Der Sachverständigenrat hat jedenfalls nicht gezögert, seine Prognose vom November 1966 i m Frühjahr 1967 i n einem Sondergutachten zu revidieren, als nach der Jahreswende 1966/67 neue Informationen über die Auftragslage i n der Industrie, über die öffentlichen Ausgaben, über die Arbeitsmarktentwicklung und über die Investitionen vorlagen. Jedenfalls hatte der Rat i n dem dritten Jahresgutachten — vom Herbst 1966 also — zum Ausdruck gebracht, daß unsere Wirtschaft 1966 einer Stagnation ebenso nahe sei wie 1958 und 1963, obwohl die entsprechende Phase i m Wachstumszyklus noch bevorstand (Ziffer 232), daß die interne Stabilisierungspolitik m i t spürbaren Wachtstumsverlusten einherginge, w e i l sie nicht auch unmittelbar auf eine M i n derung des Kostendrucks gerichtet sei, sondern allein auf einen — noch dazu einseitigen — Abbau übermäßiger Nachfrage (Ziffern 246. 249), daß sich der Konflikt zwischen Stabilität und Wachstum 1967 noch verschärfen könne, sollten i n der Wirtschaftspolitik neue Wege wieder nicht beschritten werden (Ziffer 232), daß eine traditionelle Stabilisierungspolitik i n den binnenmarktorientierten Bereichen eine sehr fühlbare Unterbeschäftigung voraussetze, die viele kleine und mittlere Unternehmen, die i m Export wenig Aussichten haben, an die Grenze ihrer selbständigen Existenz dränge (Ziffer 285).

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Das Bild, das sich Anfang 1967 darbot, war trotz des entschlossenen Eingreifens des neuen Wirtschaftsministers recht trübe. Ich glaube, w i r alle haben mindestens dies aus den Ereignissen von 1966/67 gelernt: daß es nicht leicht ist, eine Talfahrt zu stoppen, und daß es schwer ist, einen sich selbst tragenden Aufschwung i n Gang zu setzen. f) Sondergutachten

vom März 1967

Dank der Initiative des neuen Wirtschaftsministers hatte der Bundeskanzler i n seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 bereits einen Eventualhaushalt angekündigt. Man stritt sich i n Bonn noch über die Höhe der einzelnen Tranchen dieses Haushaltes, als der Sachverständigenrat i m März 1967 in einem Sondergutachten anregte, unverzüglich einen zweiten Eventualhaushalt zum mindesten vorzubereiten, zumal der erste Eventualhaushalt — zweifellos gegen den Willen des Wirtschaftsministers, aber unter dem Druck der Öffentlichkeit — viel zu geringe Mittel, vorsah, die dazu noch i n den Maschen der Verwaltungsvorschriften allzulange festgehalten wurden. Bestimmt übertreibe ich nicht, wenn ich behaupte, daß der Sachverständigenrat mit seinem Vorschlag, unverzüglich einen zweiten Eventualhaushalt vorzubereiten, fast ganz allein stand; aus den fünf sogenannten Weisen waren fünf „Vollwaisen" geworden. K r i t i k übten alle, vor allem auch der Präsident der Bundesbank, K a r l Blessing, der noch am 5. A p r i l 1967 i n einer Rede vor dem Bund der Steuerzahler erklärte, daß er „kein Verständnis" für die Forderung nach einem zweiten Eventualhaushalt aufbringe, „weder aus konjunkturpolitischen noch aus währungspolitischen noch aus finanzpolitischen Gründen"; das w a r u m so unverständlicher, als zu diesem Zeitpunkt — i m Frühjahr 1967 — fast eine M i l l i o n Menschen weniger beschäftigt waren als ein Jahr zuvor, sodann absehbar war, daß die Bundesrepublik 1967 Rekordaußenhandelsüberschüsse erzielen und damit die internationale Währungsordnimg vor eine schwere Belastungsprobe stellen würde, weiterhin immer deutlicher wurde, daß die Länder und Gemeinden ihre Investitionsausgaben den sinkenden Steuereinnahmen anpassen würden, statt die Chancen der Rezession zu nutzen, und schließlich damit gerechnet werden mußte, daß 1967 für fast 30 Milliarden D M weniger Güter und Dienste erstellt würden, als es angesichts unserer Produktivkräfte möglich gewesen wäre. Daß man sich über die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Rezession Rechenschaft ablegen müsse, damit sich die Fehler der vergangenen 13*

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Jahre möglichst nicht wiederholen — auch nicht i n abgewandelter Form —, regte der Sachverständigenrat i n seinem Jahresgutachten 1967/68 an (Ziffer 234). Ich darf einige Sätze über die volkswirtschaftlichen „Kosten" der Rezession vorwegnehmen: „ I n dem Sondergutachten vom März 1967 haben w i r geschätzt, daß sich der Unterschied zwischen potentiellem und tatsächlichem Sozialprodukt i m Jahre 1967 — i n Preisen von 1966 — auf rund 30 Mrd. D M erhöhen werde, nicht gerechnet das Importdefizit, das hinzugeschlagen werden muß, wenn man den unausgenutzten Spielraum für die Absorption der vorhandenen Ressourcen ermitteln w i l l . . . Doch gibt es auch Folgewirkungen. Investitionen, die 1967 unterlassen wurden, lassen sich gesamtwirtschaftlich nicht nachholen, weder 1968 noch i n den Jahren danach. U m einige Milliarden Mark w i r d unser Produktionspotential daher künftig kleiner bleiben, als es ohne diesen Investitionsausfall gewesen wäre. Auch kann man noch nicht ausschließen, daß die Rezession 1966/67 die Investitionsbereitschaft der Unternehmer nachhaltiger getroffen hat als i n den Jahren 1953/54, 1958 und 1962/63." Zwar schreibt die Bundesbank i n ihrem Geschäftsbericht für das Jahr 1967, „nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschafts- und sozialpolitisch" bedeute es sehr viel, „wenn es zumindest i n einem Jahr gelingt, der schleichenden Entwertimg der . . . Geldvermögen Einhalt zu gebieten und damit zugleich den Beweis zu erbringen, daß Geldentwertung keineswegs unabwendbares Schicksal sein muß" (S. 24). Aber ich fürchte, den Wechsel, den die Bundesbank hier ausgestellt hat, w i r d sie nicht einzulösen vermögen. Der Preis, den w i r für den einjährigen Stillstand des Preisanstiegs zahlen mußten, war ein allzu hoher Preis; er wäre es vielleicht nur dann nicht, wenn das Jahr 1967 w i r k l i c h den Beweis erbracht hätte, daß auf die Dauer die schleichende Geldentwertung bei konstanten Wechselkursen keineswegs unser Schicksal sein muß. Doch bedenken w i r : w i r haben zwar u m den Preis sinkender Beschäftigung, stagnierenden Sozialproduktwachstums und eines erheblichen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichts Geldwertstabilität — und wohl nur vorübergehend — erzielt; währenddessen aber hat sich das Tempo der Geldentwertung i m Ausland keineswegs verlangsamt. Darum werden unsere Wirtschaftspolitiker über kurz oder lang wieder vor der hinlänglich bekannten Frage stehen, vor der sie 1964/65 standen: mit welchen M i t t e l n sie der Lage Herr werden wollen, wenn sich — bei festen Wechselkursen und freier Konvertibilität — das inländische Kosten- und Preisniveau wiederum dem unserer Handelspartner anpassen wird.

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A l l e Anzeichen deuten i n jüngster Zeit darauf hin, daß die Preissteigerungen wieder einsetzen. Es steht zu befürchten, daß die M a r k t kräfte darauf hinarbeiten, den entstandenen Preisabstand zum Ausland, i n dem die Inflation unvermindert weitergegangen ist, wieder zu verringern; das heißt: es besteht Gefahr, daß die Rezession uns — für allzuhohe Kosten — nur eine Pause i m Preisanstieg verschafft hat, auf die u m so raschere Preissteigerungen folgen. Es lohnt sich schon, über die Feststellungen des Sachverständigenrates aus seinem Gutachten 1966/67 „Expansion und Stabilität" nachzudenken (Ziffer 282): „Welche politischen Entscheidungen auch getroffen werden mögen — der Rat versäumte seine i h m vom Gesetzgeber auferlegte Pflicht, die Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie i n der Öffentlichkeit zu erleichtern, wenn er nicht — i n Zusammenfassung einzelner i h m wichtig erscheinender Gedanken des ersten Abschnitts dieses Kapitels — ausdrücklich und einmütig folgendes feststellte: Solange man m i t weiteren ausländischen Preissteigerungen rechnen muß, kann von zwei Dingen allenfalls eines versprochen werden, entweder: Konstanz des Binnenpreisniveaus, also Geldwertstabilität i m Sinne des Ziels, das i m gesetzlichen Auftrag an den Sachverständigenrat ausdrücklich genannt ist, oder: Konstanz der Wechselkurse. Verspricht man Konstanz des Binnenpreisniveaus, dann muß man Raum dafür geben, daß Auslandspreissteigerungen durch entsprechende Verbilligung von Devisen, also Anhebungen der Wechselkurse, kompensiert werden. Verspricht man Konstanz der Wechselkurse, dann muß der Bevölkerung gegenüber offen bekannt werden, daß man sich dem Ziel der Konstanz des Binnenpreisniveaus nur i n dem Maße nähern kann, als auch die wichtigsten Partnerländer aus eigenem Antrieb und unter dem marktmäßigen und politischen Einfluß der Wirtschafts- und Währungspolitik der Bundesrepublik diesem Ziel näherkommen, und dann müssen auch die entsprechenden Konsequenzen für die innere Rechtsordnung gezogen werden. Wer angesichts dieser Zusammenhänge i n einer Umwelt steigender Preise den deutschen Bürgern beides verspricht, Konstanz der Wechselkurse und Konstanz des Binnenpreisniveaus, gibt ein Versprechen ab, von dem von vornherein klar ist, daß er es nicht w i r d einlösen können" (Ziffer 282). Freilich läßt sich u m den Preis einer Rezession für eine Zeit Konstanz des Binnenpreisniveaus auch i n einer inflationierenden U m w e l t

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und auch bei fixen Wechselkursen erzielen. Dies illustriert wieder einmal die jüngste Erfahrung i n der Bundesrepublik. Zugleich macht unsere gegenwärtige Wirtschaftsentwicklung aber auch deutlich, daß die Preisstabilität eines Landes i n der heutigen Welt notwendigerweise alsbald zu übermäßigen außenwirtschaftlichen Überschüssen führt, die auf die Dauer eine schwere Belastung für das ganze internationale Währungssystem darstellen. A u f diese Zusammenhänge hatte der Sachverständigenrat schon i n seinem ersten Jahresgutachten hingewiesen, i n seinem vierten Jahresgutachten hat er i h n i n einem besonderen Kapitel: „Noch einmal: Der internationale Preiszusammenhang" unterstrichen. Angegriffen wurde der Sachverständigenrat auch, w e i l er sich für eine Verschuldung der öffentlichen Hand oder richtiger für eine echte Schuldenpolitik als ein M i t t e l antizyklischer Wirtschaftspolitik einsetzte, einer Politik also, wie sie dann auch i m Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und i n den beiden Eventualhaushalten ihren Niederschlag fand. Daß auslaufende Anleihen durch neue ersetzt werden und daß die Staatsschuld insgesamt — etwa wie das Sozialprodukt — zunimmt, ist durchaus normal und das unersetzliche Gegenstück zur privaten Vermögensbildung; daß das alles i m Rahmen einer antizyklischen Fiskalpolitik zu geschehen hat, hat der Rat i n jedem Gutachten ausgeführt und begründet. Wenn w i r auch Verständnis haben für die w o h l mehr aus emotionalen Gründen vorgetragenen Gegenargumente, denen die tragischen Erfahrungen aus unserer jüngsten Geschichte gerade vor und i n den beiden großen Kriegen mit ihren Inflationen zugrunde liegen, so sollten w i r doch nicht vergessen, daß jene zügellose Verschuldung eine Folge der Verschwendung war und nicht die Verschwendung eine Folge der Verschuldung. Doch w i r sollten auch die anderen Beispiele aus unserer Wirtschaftsgeschichte nicht vergessen, i n denen der mangelnde M u t zur Verschuldung — i n völliger Verkennung wirtschaftlicher Möglichkeiten — zu „Fehlentwicklungen" führte. So führte der mangelnde M u t zur öffentlichen Verschuldung i n eine Katastrophe, als die Reichsregierung unter Brüning zu Beginn der 30er Jahre an der Deflationspolitik festhielt und die öffentliche Nachfrage nicht erhöhte, sondern sogar noch senkte. Das Ende, das unser Volk i n die größte Tragödie seiner Geschichte führte, ist bekannt. Vor einer Fehlentwicklung, wenn auch nicht solchen Ausmaßes, standen w i r 1966/67, vor dem Übergang aus einer konjunkturellen A b kühlung i n eine Rezession, die gefährliche Ausmaße hätte annehmen können, wenn uns nicht nach dem Regierungswechsel i m Dezember

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1966 eine neue Wirtschaftspolitik vor einem furchtbaren Absturz — darf ich sagen: aus einer Talsohle i n eine Schlucht — bewahrt hätte. Verschuldung an sich ist — wie die Planimg — weder gut noch böse; es kommt nur darauf an, welchem Ziele sie dient. Eine Frage des Stiles unserer Demokratie ist es dann, ob aus Verschuldung Verschwendung wird. W i r sollten unsere Demokratie und die, die sie vertreten, trotz aller unguten Erfahrungen endlich m i t dem Vertrauen ausstatten, das sie lebensnotwendig brauchen! Und schließlich sollten w i r doch auch nicht vergessen, was ein Teil der öffentlichen Meinimg i n der Bundesrepublik, wenn er — wie gesagt: aus an sich verständlichen Gründen — gegen eine Verschuldung des Staates eingestellt ist, übersieht: daß das Gemeinwesen immer größere, unsere Zukunft entscheidende Gemeinschaftsaufgaben zu lösen hat. Was nützt etwa die immer breitere Motorisierung, wenn die Straßen fehlen? Wie wollen w i r den Strukturwandel fördern, wenn w i r die „Investitionen i n den Menschen" vergessen, also die Ausgaben für Bildung, Fortbildung und Gesundheit, Aufgaben, die auch nach der überwiegenden Meinung unserer Bevölkerung zu einem großen Teil die öffentliche Hand zu tragen hat? öffentliche Ausgaben erweitern, sorgfältig geplant und durchgeführt, unser Produktionspotential genauso wie private Investitionen. Die Entwicklung i m Jahre 1967 ist Ihnen bekannt: auch die Bundesbank gab schließlich ihren Segen zu dem zweiten Eventualhaushalt, so daß das Bundeskabinett i m J u l i 1967 das zweite K o n j u n k t u r - und Strukturprogramm beschließen konnte, dem der Bundestag i m September 1967 zustimmte. Schließlich gab es inzwischen das Stabilitätsund Wachstumsgesetz, das Regierung und Parlament ausdrücklich zum Handeln verpflichtet, wenn die Lage es erfordert. Wenn sich nun seit dem Sommer 1967 ein neuer Aufschwung entfaltet, so ist das nicht zuletzt das Verdienst des neuen Wirtschaftsministers, der den w i r t schaftskonservativen Kreisen die Expansion scheibchenweise abringen mußte. Man frage die, die heute die Rezession so loben, w e i l sie angeblich die Unternehmer und die Arbeiter aus ihrer Lethargie gerissen habe, wo w i r stünden, wenn nicht die Konjunkturprogramme des Bundes eben die Rezession überwunden hätten! g) Das Jahresgutachten

1967168: „Stabilität

im Wachstum"

Auch i n seinem letzten Jahresgutachten vom Herbst 1967, i n deni der Sachverständigenrat nun schon wieder prüft, wie i n dem angeregten und erhofften Wachstum Stabilität gewahrt werden könne, wendet er sich — wie i n den drei früheren Gutachten — nicht nur an die

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öffentliche Hand — also an Bund, Länder und Gemeinden — als den ersten Adressaten des Gutachtens, sondern ebenso auch an die Unternehmer und an die Sozialpartner, die Arbeitgeber und die Gewerkschaften. Gerade die Sozialpartner hatte ja, wie ich schon gesagt habe, i n den Vorjahren immer wieder erkennen lassen, daß sie durchaus bereit waren, an der vom Sachverständigenrat angeregten „Konzertierten Aktion", also an einem sachlich aufeinander abgestimmten Verhalten, teilzunehmen — doch immer wieder nur unter der Bedingung, daß die öffentliche Hand die Führerschaft übernähme und mit ihren Maßnahmen, insbesondere was die außenwirtschaftliche A b sicherung betrifft, das abgestimmte Verhalten der Sozialpartner abdeckte. Wer auch immer angesprochen wird, Disziplin zu halten, zumutbar ist sie nur, wenn die verantwortlichen Wirtschaftspolitiker das uneingeschränkte und glaubwürdige Versprechen geben können, daß Geldwertstabilität geschaffen und gesichert wird. Schon i n seinem Jahresgutachten 1965/66 „Stabilisierung ohne Stagnation" hatte der Rat ausgeführt: „Eine konzertierte Stabilisierungsaktion kann nur dann zustande kommen, wenn die Bundesregierung ihren Teil dazu beiträgt, daß das Mißtrauen i m Verhältnis der Beteiligten zueinander, das i n den bisherigen Auseinandersetzungen u m den Schuldanteil an der schleichenden Inflation entstanden ist, systematisch abgebaut w i r d und einem zukunftsbezogenen Vertrauensverhältnis Platz macht." So ist immer deutlicher geworden: Wenn die Initiatoren des Gesetzes, die Regierungsparteien und mit ihnen die Bundesregierung, geglaubt haben, sich i m Rat einen Bundesgenossen geschaffen zu haben gegenüber den sozialen Gruppen i m Kampf u m die Verteilung des Sozialproduktes: diese Hoffnung hat der Rat nicht erfüllt. I m Gegenteil; denn von Gutachten zu Gutachten wurde klarer, daß i n erster Linie nicht der Verteilungskampf der sozialen Gruppen das Dilemma der wirtschaftlichen Entwicklung — Geldwertminderung zwischen Stabilität und Wachstum — verschuldet hat, sondern die staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik. Hat man i n diesen Tagen einmal von der „Feigenblattfunktion" der sachverständigen Berater der Politiker gesprochen: i m Falle des Sachverständigenrates darf man wohl m i t Recht sagen: höchst peinlich: dieses Feigenblatt verhüllt nichts. Der Sachverständigenrat ist nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, daß für eine Wirtschaftspolitik m i t konzertierter Aktion, die auf ein stetiges Wachstum bei Geldwertstabilität abzielen müßte, die Ausgangslage auch heute noch nicht ungünstig ist, w e i l insbesondere die Gewerkschaften viel Einsicht i n die wirtschaftlichen Zusammenhänge

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und deren Notwendigkeiten bewiesen haben und täglich erneut beweisen; nicht etwa, w e i l sie soviel friedlicher geworden sind, sondern w e i l sie mehr und mehr erkennen, daß sich das Interesse der Beschäftigten allermeist m i t dem der Unternehmen und m i t einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik deckt. Was i m übrigen eine „konzertierte A k t i o n " bedeuten kann, hat m i t beredten Worten Bundeswirtschaftsminister Schiller, als er die Hannover-Messe am 27. A p r i l 1968 eröffnete, deutlich gemacht. Er wies auf die nicht nur wirtschaftspolitische, sondern geradezu gesellschaftspolitische Bedeutung eines solchen aufeinander abgestimmten Verhaltens hin: „ U n d w i r leisten einen speziellen Beitrag zur Stabilisierung und zur Erneuerung unserer Gesellschaft, nämlich durch die Konzertierte A k tion. Diese Veranstaltung ist der runde Tisch der gesellschaftlichen Vernunft. Durch rationale Information untereinander und nach außen werden die sozialen Konfliktfelder eingegrenzt und sichtbar gemacht. Unter den Menschen von heute herrscht Furcht vor anonymen Herrschaftsgruppen. Auch durch die Konzertierte A k t i o n werden wichtige autonome Gruppen, die gesellschaftliche Verantwortung tragen, aller Welt sichtbar gemacht. Dieser demokratische Vorgang ist begrüßenswert, und er zeigt auch, daß es sich bei der Konzertierten A k t i o n nicht um Manipulationen, sondern u m gesellschaftliche Kommunikation und Kooperation handelt. So dient die Konzertierte A k t i o n der Fortentwicklung unserer demokratischen Ordnung." Sicher dürfen w i r — ohne allzu unbescheiden zu sein — behaupten, daß der vor einigen Wochen erzielte Kompromiß i n der Metallindustrie, immerhin dreieinhalb Millionen Arbeitnehmer betreffend, und dazu die eben jetzt abgeschlossenen Tarifverträge i n der Eisenschaffenden Industrie und i m Bergbau auch auf die jahrelange Beschäftigung m i t dem Gedanken und m i t den Anregungen des Sachverständigenrates und auf deren vertiefter Durchführung durch den neuen Bundeswirtschaftsminister i n der „Konzertierten A k t i o n " zurückzuführen sind. Schließlich hatte der Sachverständigenrat schon sehr früh und immer wieder auf die Möglichkeit, ja, auf die Notwendigkeit wenn auch unverbindlicher Lohnleitlinien hingewiesen und darüber hinaus i n seinem letzten Jahresgutachten angeregt, langfristige Tarifverträge abzuschließen, wie sie i n diesem Jahr für die drei genannten Wirtschaftszweige n u n auch wirklich abgeschlossen wurden. „Wenn es richtig ist", so sagte der Rat, „daß die Arbeitgeber und Investoren ebenso wie die Arbeitnehmer und Verbraucher mehr Sicherheit hinsichtlich der künftigen Lohnentwicklung brauchen, und wenn zu befürchten ist, daß ohne dieses Mehr an Sicherheit der Aufschwung

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i n der erwünschten Stärke nicht zustande kommt, so ist es ratsam, Tarifverträge abzuschließen, die sich von vornherein auf die ganze Zwei-Jahres-Periode erstrecken." Schließlich regen längerfristige Tarifverträge den i n und nach einer Rezession viel zu lange nachhinkenden privaten Verbrauch auch u m deswillen an, w e i l die Verbraucher für einen längeren Zeitraum über ein gesichertes Einkommen verfügen können. Doch hat der Sachverständigenrat darüber hinaus i n seinem letzten Jahresgutachten — angemessenes und stetiges Wachstum und Erhaltung der Geldwertstabilität getreu seinem gesetzlichen Auftrage i m Auge — einen „Rahmenpakt für Expansion und Stabilität" zur Diskussion gestellt. Wenn allerdings die Bundesregierung zu diesem Diskussionsbeitrag i n ihrem Jahreswirtschaftsbericht von Januar 1968 erklärte» ein solcher „Rahmenpakt", also die stabilitäts- und wachstumskonforme Koordination der Verhaltensweisen, „stelle unter den gegebenen Verhältnissen zu hohe Anforderungen an die gesellschaftlichen Kräfte", so haben w i r zu bedauern, daß man nicht einmal versucht hat, „den gesellschaftlichen Kräften" eine Aufgabe zu stellen, wie sie der „Rahmenpakt", der mehr gewesen wäre als die unverbindliche „Konzertierte Aktion", zweifellos bedeutet hätte. Wenn sich die für die Wirtschaft und für die Wirtschaftspolitik Verantwortlichen — und nun lassen Sie mich drei Bilder unseres Bundeswirtschaftsministers gebrauchen — „am runden Tisch gesellschaftspolitischer Vernunft" für eine „Wirtschaftspolitik des permanenten Dialoges" entscheiden und i h n üben: dann sollte doch wohl der „ A u f schwung nach Maß" möglich und erreichbar sein. I m übrigen wurde gegen den „Rahmenpakt", der darauf abzielte, das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential nach der Rezession möglichst bald wieder v o l l auszuschöpfen, i n der Öffentlichkeit auch eingewandt, er überschätze die ungenutzten Angebotsspielräume. I n zwischen hat es zum Jahresende 1967 einen mühelosen „Senkrechtstart" der Produktion gegeben. Die Leichtigkeit dieses Aufschwunges und die reibungslose Expansion seither deuten darauf hin, daß der Sachverständigenrat die ungenutzten Angebotsspielräume i n der Größenordnung richtig eingeschätzt hat. Wenn nun weiter gegen die Idee des „Rahmenpaktes" eingewandt wurde, daß das Produktionspotential j a auch ohne die dort beschriebenen Maßnahmen — eine lohnpolitisch abgesicherte Expansionspolitik der öffentlichen Hand — rasch ausgeschöpft worden sei, so übersieht dieses Argument ganz, daß der Aufschwung eine unerwünschte Produktionsstruktur bedingt: die Binnennachfrage wächst zu schwach, die Auslandsnachfrage zu rasch. Die außenwirtschaftlichen Uberschüsse,

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die — w i e gesagt — als Erbe der Rezession jetzt anfallen, sind, so gesehen, die Folge mangelnden fiskalischen Mutes i m Jahre 1967. Auch daß die Bauproduktion, ein echter Binnenbereich, die Rezession bei weitem noch nicht überwunden hat, deutet i n diese Richtimg. Schließlich war der Aufschwung nicht so sicher, wie manche heute glauben. Zu der Expansion der Exporte und der Investitionen, hier vor allem der Lagerinvestitionen, mußte eine entsprechende Entwicklung des Verbrauchs treten, der noch i n den ersten Monaten dieses Jahres 1968, wie w i r an den Einzelhandelsumsätzen ablesen konnten, erheblich zurückblieb. Der Hauptgrund hierfür war, daß die Lohnentwicklung i n diesem Aufschwung noch stärker hinter der allgemeinen Entwicklung einherhinkte, als dies i n früheren Aufschwungsphasen der Fall war. Der Wirtschaftsminister hat nicht unrecht, wenn er Lohnerhöhungen etwa i m Rahmen der vom Sachverständigenrat als Orientierungshilfen aufgestellten Lohnleitlinien als notwendige Ergänzung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen geradezu fordert. Die Teilnehmer der „Konzertierten Aktion", also auch die Vertreter der Unternehmer- und Arbeitgeberverbände, gaben i h m i m Grundsatz recht. Sie haben nachgerade erkannt, daß Löhne und Gehälter nicht nur Kostencharakter haben, und darüber hinaus, wie wichtig die Masseneinkommen für die Gesamtnachfrage i m Konjunkturablauf sind. Wie sehr i m übrigen die vom Sachverständigenrat angeregte „ K o n zertierte A k t i o n " und die kaum jemals abgebrochene Beschäftigung und Auseinandersetzung m i t den Aussagen der Gutachten, wie sehr sicherlich auch i n besonderem Maße die Wirtschaftspolitik des Bundeswirtschaftsministers, der nun endlich ein Vakuum ausfüllte, zur Bewußtseinsbildung i n der Öffentlichkeit beitragen, ließ i n diesen Tagen (Mai 1968) das zweite Konjunkturgespräch der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft erkennen: „Insgesamt hat dieses Gespräch" — ich zitiere nach der „Frankfurter Rundschau" vom 21. M a i 1968 — „auf den verschiedensten Bereichen f ü r Sozialpartner, Staat, Bundesbank und Verbände den Fortschritt i n der geistigen Orientierung aller Be^teiligten auf wirtschaftspolitischen Wachstumsaufgaben deutlich gemacht." Der Lernprozeß in der Öffentlichkeit hat gewiß seine Zeit gebraucht; doch niemand kann mehr bestreiten, daß er Fortschritte macht. Sie voranzutreiben, darin könnte eine besonders wichtige A u f gabe des Sachverständigenrates liegen. Und wenn während dieser Internationalen Tagung Professor Jungk diese Forderung i n den Raum stellte: „Eine wissenschaftlich gebildete Öffentlichkeit und eine verantwortliche Wissenschaft und Technik könnten eine neue Ä r a begründen, i n der Geschehen übersichtlich und Voraussagen über den rieh-

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tigen verantwortbaren Weg möglich werden, und so könnte der Mensch vom blinden zum wissenden Fortschritt gelangen", so hat, glaube ich, der Sachverständigenrat — neuerdings i m Verein m i t dem Bundeswirtschaftsminister — diese Herausforderimg angenommen. Doch auch jetzt noch steht die Frage i m Raum, ob das nunmehr eingeleitete Wachstum „angemessen" i m Sinne der beiden einschlägigen Gesetze ist, angemessen angesichts des volkswirtschaftlichen Leistungsvermögens und angesichts unserer Außenhandelsüberschüsse, die die Währung und die Wirtschaft unserer Partner gefährden. Seitdem das Jahresgutachten 1967/68 abgeschlossen ist, zeichnet sich die Gefahr übermäßiger außenwirtschaftlicher Uberschüsse immer deutlicher ab. E i n wichtiges Anliegen des „Rahmenpaktes" war es gewesen, durch kräftige Expansion i m Innern auch die großen Leistungsbilanzüberschüsse, die der Rat wohl richtig prognostiziert hatte, abzubauen. Hierzu ist es nicht gekommen, auch w e i l die britische Regierung nicht — wie vom Sachverständigenrat kurz nach der Pfundabwertung ausdrücklich unterstellt — jene restriktiven Maßnahmen wählte, die erforderlich gewesen wären, heimische Kapazitäten für den Export freizumachen und Importnachfrage zurückzudrängen. M i t einer kräftigen Belebung der internen Nachfrage — der Investitionen, des privaten und öffentlichen Verbrauches — müßte eine kräftige Belebung der Importe i m Sinne einer Aktivierung des Preiswettbewerbs von außen einhergehen. Eine solche Entwicklung wäre — unter Berücksichtigung auch der Bedeutung billiger Importe für die Sicherung des i m Aufschwung bald wieder gefährdeten Geldwertes — auch ein wichtiger Beitrag zur Wiederherstellung der gestörten internationalen Währungsordnung. Damit betrieben w i r eine „good-creditor-policy", die w i r insbesondere auch Großbritannien zur Stützung seiner Abwertung und der damit verbundenen Restriktionsmaßnahmen schuldig sind. W i r sollten unser Produktionspotential voll ausschöpfen, ohne daß es — mit Hilfe auch der „Konzertierten A k t i o n " — zu starken Preissteigerungen kommt, ganz ähnlich übrigens, wie dies die erfolgreiche Politik der Lohnleitlinien i n den Vereinigten Staaten zwischen 1961 und 1965 erreichte. Unsere wirtschaftlichen Anstrengungen also, die ihren Ausdruck i n einem angemessenen und stetigen Wachstum finden, tragen zunächst einmal den Aufschwung i m Innern, über dessen Bedeutung kaum einer zutreffendere Worte gefunden hat als Professor Walter Heller, der von Kennedy berufene Chairman of the Council of Economic A d visers: „Eine Politik, die zu einer wachsenden und blühenden Wirtschaft führt, ist auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung von großer B e d e u t u n g . . . Eine große und menschenwürdige Gesellschaft... schlägt schneller Wurzeln i m Garten des Wachstums als i n der Wüste

Die Wirtschaft im Spanngsfeld von Politik und Wissenschaft

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der Stagnation. Wenn die Wünsche eines Volkes aus einem immer größer werdenden Füllhorn bestritten werden können — anstatt dem einen etwas wegzunehmen, u m es dem anderen zu geben —, schwinden ideologische Barrieren, und Konsens t r i t t an die Stelle von Konflikt." Sodann aber geben diese Anstrengungen und ihre Erfolge uns überhaupt erst die Möglichkeit, unsere vielfältigen aus unserer jüngsten Geschichte überkommenen oder selbstgewählten Verpflichtungen i n der Welt gebührend und angemessen zu erfüllen. Hierauf jedenfalls hinzuweisen, hat der Sachverständigenrat i n keinem seiner Gutachten versäumt; i n seinem Jahresgutachten 1967/68 hat er es angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten zwei, drei Jahre m i t besonderem Nachdruck getan: „Wenngleich Wachstum"', schrieb der Rat, „häufig allein aus nationalpolitischen Gründen gefordert wird, so könnten doch gerade w i r die größeren Möglichkeiten, die ein kräftiges wirtschaftliches Wachstum m i t sich bringt, nutzen, um unseren großen humanitären Verpflichtungen i n Europa und i n der übrigen Welt gerecht zu werden." Unseren großen, auch humanitären Verpflichtungen i n Europa und i n der übrigen Welt — es ist unschwer zu erkennen, was der Sachverständigenrat damit meint; aber auf diese Gedanken des Rates i n der letzten Stunde, ja, i n den letzten Minuten einer Internationalen Tagung hinzuweisen, ist m i r wie meinen deutschen Freunden ein Herzensbedürfnis. Denken w i r also an die Zukunft und an die großen Aufgaben, die die hochentwickelten Industrienationen u m der friedlichen Zukunft willen bewußt auf sich zu nehmen haben; die Hilfe für die Entwicklungsländer insbesondere, die wesentlich mitentscheiden wird, ob w i r eines Tages i n dieser einen ungeteilten Welt den dauernden Frieden haben werden, ohne den diese gequälte Menschheit ihre Daseinsgrundlage für immer verliert. „Dieser Weltfriede ist", wie Carl-Friedrich von Weizsäcker sagt, „nicht das goldene Zeitalter, sondern es ist die Verwandlung der Polit i k i n Weltinnenpolitik. Die Weltinnenpolitik hat schon begonnen, denn es gibt schon große praktische Gemeinschaftsaufgaben der ganzen Menschheit. Der Weltfriede verlangt von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung". U n d damit b i n ich am Ende meiner Ausführungen. Ich danke Ihnen, daß Sie m i r so geduldig gefolgt sind. M i t den Worten Napoleons und Rathenaus: „Die Politik ist unser Schicksal" und „Die Wirtschaft ist unser Schicksal" begann ich meine Ausführungen und fügte hinzu: „Die Wissenschaft ist unser Schicksal." Sicherlich ist alles drei richtig:

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Politik — Wissenschaft — Wirtschaft sind unser Schicksal. Aber was uns den M u t geben sollte, den Forderungen unserer Zeit gerecht zu werden: sie alle drei sind eine menschliche Gestaltungsaufgabe. A n dieser Gestaltungsaufgabe mitzuarbeiten, auf dem i h m durch das Gesetz, nach dem er angetreten, zugewiesenen Gebiet, hat der Sachverständigenrat, häufig verkannt, immer wieder bis an die Grenze des Erträglichen gescholten, trotz allem unermüdlich und unverdrossen versucht. Seine Mitglieder sind optimistisch genug, anzunehmen, daß i h m — und da halten sie sich an ihr eigenes Rezept — auf längere Sicht der niemals meßbare Erfolg nicht versagt bleiben wird. Wie er, so sind auch alle wirtschaftspolitisch verantwortlichen I n stanzen und alle, die i n der Wirtschaft selbst Verantwortung tragen, aufgerufen, das langfristige Interesse über das kurzfristige zu stellen. Sie dürfen nicht mehr wie früher meist nur das Heute i m Auge haben; sie müssen möglichst auch auf das Morgen und auf das Übermorgen abzielen. Daß die verantwortliche Wirtschaftspolitik langfristig Schaden nähme, wenn sie i n der langfristigen wie i n der kurzfristigen Perspektive auf das Wort der Wissenschaft hörte, scheint m i r so gut wie ausgeschlossen. Wer Verantwortung i n der Gegenwart trägt, trägt zugleich Verantwortung für die Zukunft. Die Zukunft verantwortlich zu bewältigen, w i r d immer nötiger und immer möglicher. I n unserer Welt fügt man sich nicht länger fatalistisch i n das — scheinbar oder tatsächlich — Unvermeidliche. Hier und heute gilt mehr noch denn eh und je, u m m i t Tocqueville zu sprechen, das Unvermeidliche zu erkennen, u m das Vermeidliche i m Unvermeidlichen zu sehen.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung Vor Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn, Essen I. Begriff und Inhalt 1. Der Begriff wissenschaftliche Unternehmensführung wurde erstmals von Frederick Winslow Taylor i n seinem Buch „The Principies of Scientific Management" gebraucht 1 . I n seinem Inhalt bezog er sich vor allem auf die Planimg des Produktionsvollzuges, insbesondere des Arbeitsablaufes. Wie sein Kollege Gilbreth legte Taylor großen Wert auf die Rationalisierung des Produktionsablaufes und seine Zerlegung i n einzelne Abschnitte. Sein Ziel war die Verbesserung der Arbeitsproduktivität durch optimalen Einsatz der Produktionsfaktoren. Sowohl die Arbeitswissenschaften als auch die Betriebssoziologie haben den Begriff wissenschaftliche Unternehmensführung i n ihrem Sinne weiterentwickelt. Erinnert sei nur an die früheren Arbeiten von Elton Mayo, die Untersuchungen von Peter Drucker und die Schriften von Georges Friedmann. Unserer Betrachtung der wissenschaftlichen Unternehmensführung liegt weder der von Taylor verwandte noch der von der Betriebssoziologie entwickelte Begriff zugrunde. Die Unternehmensführung soll vielmehr daraufhin untersucht werden, ob und inwieweit wissenschaftliche Erkenntnisse allgemein i n ihr Anwendung finden. Wissenschaftlichkeit i n der Unternehmensführung bedeutet ein Doppeltes: vorhandene Erkenntnisse der Wissenschaft zur Führung eines Unternehmens zu nutzen und der Wissenschaft neue Aufgaben zur rationalen und systematischen Durchdringung unternehmenspolitischer Probleme zu stellen. Beides setzt voraus, daß Unternehmensleitungen aufgrund ihrer Ausbildung und Einsicht fähig und willens sind, Ergebnisse und Methoden der Wissenschaft bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen und für ihre Aufgabenstellung einzusetzen. Umgekehrt muß von der Wissenschaft erwartet werden, daß sie sich m i t den Problemen beschäftigt, die den Unternehmen gestellt sind, und dafür Lösungen anbietet, die für den Praktiker nicht nur von theoretischem Interesse sind. Ich muß es m i r ersparen, näher auf das i n Deutschland nicht selten * Frederick Winslow Taylor : The Principies of Scientific Management, deutsch von Rudolf Roesler, München und Berlin 1913.

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angespannte Verhältnis von Wissenschaft und Praxis einzugehen. Erinnert sei nur an jene Diskussionen, bei denen K r i t i k am Inhalt und an der Form der betriebswirtschaftlichen Ausbildung an deutschen Hochschulen geäußert worden ist 2 . Zweifellos sind die Beziehungen der sozialwissenschaftlichen Fakultäten zur wirtschaftlichen Praxis nicht von der intimsten A r t . Zwar arbeiten Hochschullehrer gelegentlich als Gutachter, werden auch schon einmal zu Vorträgen eingeladen und treffen sich m i t Praktikern i n (den wenigen) wissenschaftlichen Gesellschaften. Umgekehrt hört das persönliche Verhältnis des Hochschulabsolventen zu seiner früheren Fakultät i n der Regel dann auf, wenn i h n die Praxis eingefangen hat und seine Alltagsaufgaben ihn v o l l beanspruchen. Nur selten w i r k e n i n der Bundesrepublik erfolgreiche Unternehmensleiter an einer Hochschule; nur i n Ausnahmen bietet sich einem erfolgreichen Hochschullehrer die Möglichkeit seines Wechsels i n das Management eines Unternehmens. Obgleich beide aufeinander angewiesen sind, verhalten sich Sozialwissenschaft und Praxis nach der Lutherschen „Zwei-Reiche-Lehre"; sie achten auf strenge Trennung, obgleich jedes der Reiche nur gemeinsam m i t dem anderen bestehen kann. Einem größeren Verständnis entgegen w i r k t die akademische Tradition i n Deutschland: Wissenschaftlichkeit w i r d — oft nicht zu Unrecht — m i t Abstraktheit, Wirklichkeitsferne und auch Unverständlichkeit gleichgesetzt. Bis heute ist es andererseits nicht gelungen, den Praktikern ihren unangebrachten und häufig unbegründeten Respekt vor der Wissenschaft zu nehmen, u m beide einem natürlichen Verhältnis zuzuführen. Es scheint, als wirke sich darin noch das Humboldtsche Bildimgsideal aus, dessen Ablehnung jeglicher Beschäftigung m i t t r i vialen, praktischen — sowohl technischen als auch wirtschaftlichen — Fragen zu einer Ätherisierimg deutscher Wissenschaft geführt hat 8 . 2. Ist somit wissenschaftliche Unternehmensführimg sowohl eine subjektive als auch objektive Unmöglichkeit? — Unter Wissenschaftlichkeit w i r d i m allgemeinen eine systematische zweckfreie, nicht von pragmatischen Gesichtspunkten bestimmte, den Gesetzen der formalen Logik unterworfene Erforschung von Einzel- oder Gesamtproblemen verstanden. Wissenschaftliches Handeln ist prinzipienbezogen. Wissenschaft kennt — i n Lehre und Forschung — keine Tabus. Wissenschaftliche Fragestellungen sind stets radikal. So sehr auch die Wissenschaft « Ausführlich hat sich u. a. „Der Volkswirt" damit beschäftigt. 3 Vgl. Theodor Litt: Das Bildungsideal der Klassik und die moderne Arbeitswelt. 5. Aufl., Bonn 1958. Litt betont, daß „in das Bildungsleben des an die Klassik sich anschließenden Jahrhunderts die Humanitätsidee in eine Fassung übergegangen (sei), die die ohnehin bestehende Entfremdung gegenüber den Grundtendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstärken (geeignet war)".

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 209 an einem Ergebnis ihrer Arbeit interessiert ist, so wenig kann dieses andererseits bestimmend für wissenschaftliches Arbeiten an sich sein. Bezieht man dieses Wissenschaftsverständnis auf die Praxis der Unternehmensführung, so werden einerseits jene Elemente wissenschaftlichen Handelns sichtbar, von denen auch die Unternehmenspraxis i n ihren Entscheidungen bestimmt sein sollte; andererseits zeigen sich jedoch auch die Grenzen, die einer „Verwissenschaftlichung" der Unternehmensführung gesteckt sind. Soweit es sich u m die radikale Durchdringung gestellter Aufgaben und u m die Anwendung exakter Methoden handelt, muß auch die Unternehmensführung wissenschaftlich bestimmt sein. Sie muß sich selbst i n die Lage versetzen, den ihren Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalt hinlänglich zu kennen. Ziel und Inhalt der jeweiligen Entscheidung exakt zu definieren, mögliche Alternativen i n die Überlegungen einzubeziehen und die Wirkungen ihrer Entscheidungen sowohl i m allgemeinen als auch i m besonderen richtig zu erkennen. Andererseits können Unternehmensentscheidungen sowohl der Schnelligkeit wegen, m i t der sie häufig getroffen werden müssen, als auch i m Hinblick auf ihren i n der Regel „pragmatischen" Charakter nicht i m wissenschaftlichen Sinne getroffen werden. Obgleich insbesondere Großunternehmen immer stärker unter den Einfluß der Organisation geraten, intuitive Entscheidungen somit zur Ausnahme werden, ist die Führung eines Unternehmens ohne Intuition, ohne das schöpferische, nicht formalisierbare Element unternehmerischen Handelns kaum denkbar 4 . So verstanden, ist wissenschaftliche Unternehmensführung kein Gegensatz, sondern die Voraussetzung einer erfolgreichen Unternehmenspolitik. I L Elemente wissenschaftlicher Unternehmensführung 1. Optimale Information Inwieweit entsprechen Theorie und Praxis der Unternehmensführung — insbesondere der Unternehmensplanung — dieser Bedingung? Während die deutsche Betriebswirtschaftslehre bis i n die jüngste Vergangenheit vom „Taylorismus i m weiteren Sinne" bestimmt wurde und somit dem Management und seiner Aufgabenstellung nur im * In der Regel sind es allerdings die Gründer und ersten Inhaber eines Unternehmens, die vor allem mit dieser Fähigkeit ihren Betrieb aufbauen, um alsbald durch die „Organisation" ersetzt ziu werden, wenn Umfang und Kompliziertheit der Entscheidungen deren rationale Vorbereitung notwendig machten. Vgl. Ernest Dale: „Die großen Organisatoren, eine Analyse des Erfolgs amerikanischer Konzerne", Düsseldorf/Wien 1962, S. 7. 14 Tagung Dortmund 1968

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Hinblick auf den Betrieb als Glied der Gesamtwirtschaft und i m Rahmen der Produktionstheorie Bedeutung zumaß, hat die amerikanische Betriebswirtschaftslehre schon früh zwischen Economics und Business Administration unterschieden. Letztere beschäftigt sich ausschließlich m i t der rationellen Führung eines Unternehmens. I m Mittelpunkt der amerikanischen Business Administration steht die Lehre vom Management, seinen Funktionen sowie den Grundsätzen und Methoden zur optimalen Verwirklichung seiner Aufgabenstellung 5 . Während die Lehre vom Management i n der deutschen Betriebswirtschaftslehre — von wenigen Ausnahmen abgesehen — nur ein A n hängsel der allgemeinen Theorie vom Unternehmen ist, ist sie i n der Business Administration eigenes Erkenntnisobjekt. Bei der Kompliziertheit der Entscheidungsprozesse i n großen Unternehmen ist dies nahezu zwangsläufig. So wichtig die Produktions- und Kostentheorie ist, so notwendig das bilanzielle Verständnis auch sein mag, reichen sie und die übrigen Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre nicht aus, der Unternehmensführung brauchbare Entscheidungshilfen zu bieten. Vielmehr muß die Führungstechnik selbst wissenschaftlich erforscht und weiterentwickelt werden, wenn die Unternehmensleitungen i n Zukunft nicht vor unlösbaren Problemen stehen sollen. Grundlage jeder Entscheidung ist eine rechtzeitige und umfassende Information jener Sachverhalte, auf denen die Entscheidung beruht. Die heutigen Informationstechniken, vor allem die Kombination von Fernsehen und Datenverarbeitung, ermöglichen die schnelle Auswahl, Aufbereitung und Zuleitung solcher Informationen, auf die ein Management i m Sinne von Entscheidungshilfen angewiesen ist 6 . M i t der zunehmenden Fülle von Informationen w i r d es u m so wichtiger, eine sinnvolle, dem Informationszweck entsprechende Auswahl vorzunehmen. Dabei dürfen weder der Zufall noch Mißverständnisse mitwirken. Jenen, die für die Auswahl der Informationen verantwortlich sind, muß klar sein, welche Informationen gesammelt und an die Unternehmensleitung weitergeleitet werden sollen. I n diesem Zusammenhang ist — trotz des heute vorhandenen Informationsreichtums — auf die Grenzen der insbesondere zukünftige Ereignisse betreffenden Information hinzuweisen. Es w i r d i m Zusammenhang m i t der Behandlung von Fragen der Unternehmensplanung « Vgl. Kurt Junckerstorff: Internationaler Grundriß der wissenschaftlichen Unternehmensführung, Berlin 1964, S. 10 und 11. 6 Vgl. u.a. Arnold Kaufmann: Entscheidungstechnik im Management, München 1968, sowie Karl Steinbuch: Falsch programmiert, Stuttgart 1968; zu Recht weist Steinbuch darauf hin, daß Information im Gegensatz zu früher heute keine Mangelware mehr ist, sondern in einem Überfluß angeboten wird (a.a.O., S. 98).

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 211 noch i m einzelnen auf die Unsicherheit bei der Voraussage der künftigen Wirtschaftsentwicklung zurückzukommen sein. Hier sei zunächst auf ein erkenntniskritisches Phänomen hingewiesen: Die nationalökonomische Gleichgewichtstheorie nennt als eine für das Zustandekommen des Gleichgewichts entscheidende Voraussetzung die vollkommene Markt- und Betriebstransparenz. Unternehmerisches Verhalten richtet sich i m Prinzip auf die Zukunft. Markttransparenz kann deshalb nur bedeuten, über die künftigen Marktdaten informiert zu sein. Das Wissen der Vergangenheit vermag, so wichtig es auch i m einzelnen sein mag, die Kenntnis zukünftiger Entwicklungen nicht zu ersetzen. Vollkommene Transparenz bedeutet somit vollkommene Voraussicht. Abgesehen davon, daß — wie Albert nachweist 7 — die Verwirklichung der vollständigen Transparenz i m Sinne der zukünftigen Voraussicht zu logischen Paradoxien i m statischen Gleichgewichtsmodell führt, ist diese Bedingung aber auch aus praktischen Gründen nicht erfüllbar. Carl Friedrich von Weizsäcker hat i n seinem jüngsten Vortrag über „Die Kunst der Prognose" 8 auf die Unsicherheiten verwiesen, denen insbesondere Prognosen über wirtschaftliche Entwicklungen ausgesetzt sind. Die Wirtschaftsentwicklung vollzieht sich nicht nach Naturgesetzen, sondern w i r d weitgehend von menschlichen Entscheidungen bestimmt. Sie exakt vorherzusagen und damit eine Information für wiederum menschliche Entscheidungen zu liefern, ist schlechterdings unmöglich. Bei aller Fülle informativer Daten, trotz Perfektionierung der Informationstechniken, bleibt somit die Information über die zukünftige Entwicklung brüchig, mangelhaft, ungenau und unzuverlässig. Aber noch ein anderes Problem mag für unsere Betrachtung der Information als Voraussetzung wissenschaftlicher Unternehmensführung interessieren: Eine Unternehmensleitung w i l l ausreichend und rechtzeitig über die Realitäten informiert sein. Was aber ist „Wirklichkeit"? — Je umfangreicher die der Information zugrunde gelegten Daten sind, um so schwieriger ist deren Auswahl. Das Sprichwort: „Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht", kann typisch sein für jede A r t von „Überinformation". Wichtiger als die lückenlose Erfassung aller nur möglichen Daten ist ihre richtige Ordnimg und Zuordnung. Zwar w i r d die Wirklichkeit damit „manipuliert", jedoch ist eine Information ohne die Aussonderung der unwichtigen Daten und die Einordnung der wesentlichen Daten i n ein formales Informationssystem schlechterdings unsinnig. Auch die für die politischen Entscheidungsprozesse entstehenden „Datenbänke" sammeln nicht alle, sondern nur solche Informationen, die für eine spätere Entscheidung relevant sein können. Information bedeutet somit stets 7 Hans Albert: ökonomische Ideologie und politische Theorie, Göttingen 1954, S. 59 ff. s Gehalten vor der Jahrestagung 1968 des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft am 24. Mai 1968 in Wiesbaden. 1 *

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auch Beschränkung. Dies i n dem Sinne, daß aus einer Fülle von Einzeldaten eine sinnvolle Auswahl zu treffen ist. Damit aber w i r d jenen, die für diese Auswahl verantwortlich sind, eine Schlüsselstellung zugewiesen. Theodor Geiger 9 weist zu Recht auf den ideologischen Charakter einer Aussage hin, die auf einer unzureichenden oder falsch interpretierten Vorstellung von der Wirklichkeit beruht. Demjenigen, der für die „richtige" Information von Unternehmensleitungen zuständig ist, kann nicht ein lediglich subjektives Recht der Auswahl zugestanden werden, sondern die Kriterien, nach denen die Auswahl vorzunehmen ist, müssen einen möglichst geringen Spielraum für willkürliche Auswahl bieten. Erst dann kann eine Unternehmensleitung — wie i m übrigen auch andere Führungsinstitutionen — einigermaßen sicher sein, daß ihre Information „sachgerecht" ist und dem vorhandenen Stand an Wissen entspricht. Bisher wurde Information als ein einseitiger Prozeß der Unterrichtung des Managements über die wichtigsten Umweltdaten zum Zwecke der Entscheidungsfindung verstanden. Information hat aber auch noch eine andere Bedeutung: Das Management muß seine Einschätzung der Situation und die darauf begründeten Entscheidungen den von diesen Entscheidungen Betroffenen rechtzeitig und hinlänglich klarmachen. Es muß m i t anderen Worten nicht nur eine Information von unten nach oben, sondern i m Sinne des „two-ways-flow" ebenfalls eine Information der Mitarbeiter durch das Management erfolgen. Zahlreiche Mißverständnisse, nicht wenige Störungen i m betrieblichen Arbeitsablauf, gelegentlicher Ärger über entgangene Abschlüsse, Unzufriedenheit und Unruhe unter den Mitarbeitern, starke Fluktuation, geringes Interesse der Mitarbeiter an der Entwicklung des Unternehmens und anderes mehr sind nicht selten die Auswirkung einer mangelhaften oder zu späten Information durch die Unternehmensleitung. Der für ein so kompliziertes soziologisches und technisches Gebilde wie ein Unternehmen zwingend notwendige kooperative Führungsstil setzt eine optimale Information aller Beteiligten voraus. Es scheint bedenklich, wenn — u m mit Ernst Topitsch zu sprechen — „unter Benutzung nicht selten vertraulicher Informationen ein System von Hypothesen (gebildet wird), das man den eigenen Entschlüssen zugrunde legt, i m übrigen aber für sich behält" 1 0 . Obgleich es immer unterschiedliche Stufen und Qualitäten der Information geben wird, sollte es i m Rahmen des Unternehmensgeschehens nicht eine Gruppe von einerseits bestinformierten, anderer9 Ideologie und Wahrheit — eine soziologische Kritik des Denkens, Stuttgart—Wien 1953. Ernst Topitsch: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 1961, S. 129.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 213 seits uninformierten Menschen geben. Vielmehr muß jeder i m Unternehmen Beschäftigte wissen, wie er seine eigene Situation, die seines Unternehmens und die übersehbare künftige Entwicklung zu beurteilen hat. Daß die Forderung nach mehr Mitbestimmung nicht zuletzt auf diesem Bedürfnis nach zureichender Information beruht, w i r d vielfach (leider) nicht erkannt. Möglicherweise w i r d es deshalb i n Zukunft stärker notwendig sein, Informationsmonopole, welcher A r t auch immer, zugunsten einer allgemeinen und demokratischen Information zu beseitigen. Die Informationstechnik hat heute einen beachtlichen Stand erreicht 11 . Dennoch w i r d die persönliche, d . h . die auf dem Gespräch und der unmittelbaren Unterrichtung von Vorgesetzten und Mitarbeitern beruhende Information i m Unternehmensgeschehen auch künftig ihre zentrale Stellung behaupten. Solange in einem Unternehmen zwischenmenschliche Beziehungen über Erfolg oder Mißerfolg, über Wachstum und Stagnation entscheiden, w i r d ihre fortlaufende Verbesserung für die Zukunftschancen eines Unternehmens entscheidend sein. Die I n formation bildet dafür eine wichtige Grundlage. 2. Erfolgreiche Unternehmenspolitik dürfte i n Zukunft verstärkt davon abhängen, inwieweit die ihr zugrunde liegenden Entscheidimgsprozesse rationalisiert werden. Der i n t u i t i v handelnde, seinem Fingerspitzengefühl vertrauende und i n scheinbarer Alleinverantwortung handelnde klassische Typ des Unternehmers w i r d i n Zukunft allenfalls für die große Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen repräsentativ sein. I n Großunternehmen jedoch w i r d es i n der Regel ein Team von Führungskräften sein, das die Entscheidungen i n Abwägung aller Konsequenzen und Kenntnis alternativer Lösungen trifft. Das Management muß von den Möglichkeiten Gebrauch machen, welche i h m die Entscheidungstheorie i n ihren verschiedenen Zweigen bietet 1 2 . Sind etwa die Perspektiven der Entwicklung eines Unternehmens festgelegt worden, so müssen i m Prinzip alle folgenden Entscheidungen m i t dieser Richtung übereinstimmen. Es ist somit für eine Unternehmensleitung wichtig, Einzelmaßnahmen i n ihrer Auswirkung auf das von i h r festgelegte Gesamtkonzept beschließen zu können. Soll z. B. die Unternehmensstruktur verändert, sollen i n Zukunft neue Fabrikate entwickelt und traditionelle Tätigkeiten des Unternehmens aufgegeben werden, so ist eine Entscheidung über die Investitionsanträge i m ein11 Vgl. dazu Karl Steinbuch: Die informierte Gesellschaft — Geschichte und Zukunft der Nachrichtentechnik, Stuttgart 1966. 12 Einen allgemeinen Einblick in die „Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung" gewährt das Buch von Gerard Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung — Untersuchungen zur Logik und ökonomischen Bedeutung des rationalen Handelns, Tübingen 1963.

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zelnen stets unter diesem Gesichtspunkt zu treffen. Ähnliches mag für den Vertrieb gelten: Grundsätze über zukünftige Zahlungs- und Lieferungsbedingungen müssen selbst dann beachtet werden, wenn dadurch Umsatz und ggf. auch Rentabilität verringert werden. Gerade an diesem Beispiel w i r d andererseits die Problematik starrer Unternehmensziele sichtbar. Die strikte Beachtung finanzierungspolitischer Grundsätze mag zwar für ein Unternehmen existenznotwendig sein, andererseits kann seine Marktposition dann langfristig geschwächt werden, wenn diese Grundsätze ohne Ausnahme auch zu Lasten der optimalen Auslastung der Kapazitäten und rentabler Geschäftsabschlüsse verfolgt werden. Der Unternehmensleitung müssen somit Alternativen angeboten werden, welche die Auswirkungen der einen oder anderen Entscheidung auf die Position und Entwicklung des Unternehmens i m ganzen erkennen lassen. U . U . kann es i m langfristigen Interesse des Unternehmens liegen, den grundsätzlich notwendigen finanziellen Konsolidierungs-Prozeß nicht m i t Gewalt und i n kurzer Zeit, sondern i n einem längeren Zeitraum zu verwirklichen. Ähnliches gilt für innerbetriebliche Rationalisierungsmaßnahmen. Eine Verringerung der Beschäftigtenzahlen kann zwar zu einer Senkung der Personalkosten führen, verringert aber andererseits möglicherweise die Leistungsbereitschaft des Unternehmens, erhöht seine Lieferfristen und macht es relativ unelastisch, wenn sich die Auftragslage schnell und anhaltend verbessert. Es gibt w o h l keine Entscheidung, die nicht i n diesem Sinne „durchgespielt" werden und i n ihren positiven wie negativen Konsequenzen bedacht werden müßte. I m Hinblick auf die Kompliziertheit solcher Entscheidungen und die große Zahl möglicher Lösungen ist die jeweils „richtige" Entscheidung oftmals nur aufgrund komplizierter Berechnungen möglich 1 3 . I m A l l t a g eines Unternehmens ist es allerdings nur selten möglich, den Bedingungen für eine rationale Entscheidung v o l l zu entsprechen. Die von Gäfgen geforderte Zusammenstellung aller nur denkbaren Alternativlösungen und aller m i t jeder dieser Alternativen verbundenen Konsequenzen ist nur i n Ausnahmefällen und auch dann noch unvollkommen zu verwirklichen. Die Wirklichkeit m i t ihrer stets unendlich großen Zahl denkbarer Lösungen kann auch mit Hilfe der Spieltheorie nicht exakt eingefangen und i n den Entscheidungen berücksichtigt werden. Wichtiger ist vielmehr, daß eine Unternehmensleitung i n die Lage versetzt wird, eine Strategie i m Sinne eines vollständigen Verhaltensplanes für jede nur denkbare Situation zu entwickeln, i n die sie i m Verfolg ihrer Entscheidungen gelangen 13 Arnold Kaufmann: Entscheidungstechnik im Management, a.a.O., S. 12.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 215 kann 1 4 . Die von der Spieltheorie und der fortentwickelten Theorie der Wahlhandlungen angebotenen mathematischen Modelle alternativer Strategien können für wichtige Entscheidungen einer Unternehmensleitung durchaus hilfreich sein. Die Anwendung der Spieltheorie — wie überhaupt von Unternehmensspielen ganz allgemein — begegnet i n deutschen Unternehmen immer noch einer großen Zurückhaltung. Ihre Methoden werden als wenig seriös, als der harten Wirklichkeit nicht gerecht werdend, als naiv und wissenschaftlich abstrakt und als praxisfern bezeichnet. I n Verbindung mit den Möglichkeiten der Entscheidungssimulation sind sie jedoch durchaus geeignet, Fehlentscheidungen von beachtlichem Ausmaß zu verhindern. So läßt sich z. B. aus den Zufallsvariablen (Lagerhaltungskosten, Verkaufserlösen, Transportkosten, Beständerisiko etc.) und den erfaßbaren Variablen der Lagerhaltung (mengenmäßiger Bestand und Veränderung des Lagers) auf mathematischem Wege ein Programm für eine Datenverarbeitungsanlage erstellen, das die Errechnung einer optimalen Lagerhaltung unter Berücksichtigung angenommener und veränderter Nebenbedingungen ermöglicht. Ä h n liches gilt für die übrigen Bereiche der Unternehmenspolitik, die Marktstrategie, das Verkaufsprogramm, die Preispolitik, die Investitionspolitik u. a. m. 1 5 . Die Vorteile einer solchen Simulation sind erheblich. Kaufmann weist darauf hin, daß sich X U Jahr betriebswirtschaftlicher Realität u. U. auf 2 Stunden versuchsweisen Rechnens am Computer komprimiert. Die Mathematik hat zusammen m i t der ökonomischen Theorie durch die Fortentwicklung der linearen und nichtlinearen Programmierung darüber hinaus Methoden zur Verfügung gestellt, m i t deren Hilfe preis-, produktions- und absatzpolitische Entscheidungen von Unternehmen formalisiert und quantifiziert werden können 1 6 . Die dem Management als Entscheidungshilfen zur Verfügung stehenden neuen Techniken 17 sind zwar i n den letzten Jahren auch i n Deutschland verbreitet worden, jedoch werden sie nur i n Ausnahmefällen i m Sinne einer Effektuierung der Unternehmenspolitik angewendet. Nur selten werden die kostspieligen und leistungsfähigen, ja geradezu sensiblen Apparaturen, über die Großunternehmen heute i n der Regel verfügen, für Leitungszwecke eingesetzt. Üblich ist es viel14 Vgl. auch Ewald Burger: Einführung in die Theorie der Spiele, Berlin 1966, S. 10. 13 Arnold Kaufmann: Entscheidungstechnik im Management, a.a.O., S. 213 ff. 16 Vgl. u. a. Hans Paul Künzi , Wilhelm Krelle und Wilhelm Oettli: Nichtlineare Programmierung, Berlin, Göttingen und Heidelberg 1962. tf Vgl. Die neuen Management-Techniken — was jeder Unternehmer und Manager von den neuen Techniken wissen sollte, München 1967.

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mehr, sie f ü r das Rechnungswesen, den Fertigungsablauf u n d allenfalls die Lagerhaltung zu verwenden. Unternehmer, deren Aufgabe es ist, höchste Wirtschaftlichkeit anzustreben, verhalten sich i n diesem Falle wie der Eigentümer eines wertvollen Gestüts, der seine Rassepferde n u r i n der Landwirtschaft einsetzt. Es ist erschreckend, w i e handwerklich, w i e unvollkommen und i n völliger Verkennung vorhandener technischer Möglichkeiten selbst große Unternehmen heute vielfach geführt werden. Dabei läge es nahe, daß sich die Unternehmensleitung der vorhandenen Techniken bedient, u m die Risiken der zu treffenden Entscheidungen möglichst einzuengen. Der E i n w a n d der Praktiker, wissenschaftliche Methoden der genannten A r t entsprächen nicht den Bedingungen der Praxis, sie seien wirklichkeitsfern u n d erschwerten i m Gegenteil notwendige und schnell zu treffende Maßnahmen, läßt n u r die Komplexe erkennen, die formal oft mangelhaft ausgebildete P r a k t i k e r solchen Methoden gegenüber haben. Sie übersehen, daß sich wissenschaftliche Führungssysteme stets i m praktischen A l l t a g bewähren müssen. Z u Recht hat Popper darauf hingewiesen, daß „jede A n w e n d u n g der Wissenschaft darauf beruht, daß aus den wissenschaftlichen Hypothesen besondere Prognosen abgeleitet w e r den . . . „ E i n empirisch-wissenschaftliches System — u n d d a m i t auch die Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung — muß an der Erfahrimg scheitern k ö n n e n " 1 8 . Die unter dem Schlagwort operationsresearch 19 bekanntgewordenen Führungstechniken sind i m m e r n u r H i l f s m i t t e l der Unternehmensführung. Sie können das kreative Element der Unternehmensleitung nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen. Die von der ökonomischen Theorie u n d der Mathematik zur Verfügung gestellten Techniken sollen der Unternehmensleitung die Möglichkeit geben, sich — stärker als dies sonst der F a l l wäre — den eigentlichen Führungsaufgaben w i d m e n und der Routine entziehen zu können. Insofern sind diese Techniken auf ein „Management by except i o n " i m Sinne der Delegation von Verantwortung gerichtet. 3. Es ist überraschend zu beobachten, w i e gering die Zahl jener Unternehmen ist, die überhaupt planen 2 0 . Unternehmerisches Handeln 18

S. 15.

Vgl. Carl R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen 1966, S. 36 und

19 Vgl. Operations Research, Mittel moderner Unternehmensforschung, hrsg. von der American Management Association, Essen 1958. Eine im Jahre 1964 vom RKW veranstaltete Befragung über „Rechnungswesen, Organisation und Planung im Unternehmen" zeigt, daß von rund 1000 antwortenden Unternehmen 49 °/o angaben, wenigstens einen Teilplan zu besitzen, während die Hälfte dieser Unternehmen über keinerlei Planung verfügte. Eine integrierte Planung langfristiger Art besaß nur der kleinste Teil der befragten Unternehmen. Vgl. Heinrich J. Steigerwald: Die neuen Management-Techniken der betrieblichen Planung und Kontrolle, in: Die neuen Management-Tediniken,

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 217 ist immer zukunftsbezogen und zweckorientiert. Insofern müßte das i n der Nationalökonomie so betonte Rationalprinzip — wenn überhaupt — für Unternehmer gelten. Diese müßten dann aber wiederum den Notwendigkeiten einer rationalen Erfassung künftiger Entwicklungen gegenüber besonders aufgeschlossen sein. Stellt man dieser These die i n den Untersuchungen zum Ausdruck kommende mangelhafte Verbreitung formaler Planungssysteme gegenüber, so zeigt sich, wie groß die K l u f t zwischen Norm und Wirklichkeit ist. Dabei taucht als Argument gegen eine Unternehmensplanung nicht selten der Einwand auf, sie beeinträchtige die Flexibilität der Unternehmenspolitik und nähme ihr den notwendigen Schwung; sie mache die Unternehmensentscheidungen zur Angelegenheit von Technokraten und gefährde das eigentliche unternehmerische Element. Muß man nicht erstaunt sein über die Naivität solcher Einwände? Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß m i t Hilfe der Simulation von Entscheidungsprozessen Zeit und Energie gewonnen und das Unternehmen i n die Lage versetzt werden kann, schneller zu reagieren als sonst möglich. Uberhaupt sollen die genannten Führungstechniken die Arbeit der Unternehmensleitungen erleichtern, nicht aber erschweren. Man muß nur m i t ihnen vertraut sein. Wie jemand, der nicht Schreibmaschine schreiben kann, einen Brief schneller mit der Hand schreibt, w i r d eine Investitionsentscheidimg selbst i n der althergebrachten Forni schneller überprüft werden können, wenn die modernen Methoden der Investitionsrechnung nicht bekannt sind. Unternehmenspolitik muß stets aktuell sein. Sie ist u m so erfolgreicher, je schneller sie sich den Änderungen des Marktes anzupassen versteht. Entscheidungen, die heute richtig sind, können bereits morgen überholt sein. Dies t r i f f t nicht nur auf den A l l t a g der Unternehmenspolitik zu, sondern auch auf die Struktur und Organisation eines Unternehmens. So ist es zwar verständlich, wenn sich ein Unternehmen seiner Tradition verpflichtet fühlt; ist diese Tradition jedoch m i t Stagnation oder gar Schrumpfung verbunden statt m i t wirtschaftlichem Wachstum, kann sie leicht verderblich werden. Tradition, statisches Verhalten, Konservativismus, Beharrungsvermögen, Trägheit und ungenügende Elastizität lassen die Unternehmensstruktur vielfach erstarren. Eine Änderung w i r d oft nur dann möglich sein, wenn die Ausweglosigkeit der Situation offenkundig ist. a.a.O., S. 151; siehe auch die Ergebnisse des Stanford Research Institute, wiedergegeben in Horst Albach: Die Koordination der Planung im Großunternehmen, Vortrag anläßlich der Tagung des Vereins für Socialpolitik, Hannover 1906, S. 8 ff. Danach besaßen von den befragten 3 600 größten Industrie-Unternehmen der Vereinigten Staaten von Amerika 20 °/o formale Planungssysteme. 60°/o der 500 größten Industrie-Unternehmen der USA wenden formale Planungstechniken an, ein weiteres Viertel will in Zukunft formale Planungstechnik einführen.

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Unternehmensleitungen sind i n dem Bemühen u m eine ständige Überprüfung und Verbesserung der wirtschaftlichen und organisatorischen Struktur ihres Unternehmens auf eine überzeugende Begründung ihrer Absichten angewiesen. Sie müssen ihren verantwortlichen Mitarbeitern — aber auch den übrigen Arbeitnehmern — klarmachen, wohin die Entwicklung des Unternehmens gehen soll und welche Nachteile ein Festhalten an der bestehenden Struktur haben würde. Führen kann nur, wer zu überzeugen vermag. Überzeugen aber vermag, wer sich auch m i t anderen Vorschlägen als seinen eigenen beschäftigt und deren Vor- und Nachteile seinen eigenen Absichten gegenüberstellt. Unbestritten ist inzwischen auch i n deutschen Unternehmen die Bedeutung der neuen Management-Techniken für die laufende Kontrolle. Es ist angenehm, täglich die Zahlen über die Liquidität zu erfahren und kurzfristig über Umsatz-, Ergebnis- und Auftragsentwicklung informiert zu sein. Selbst die Planung der Abteilungsbudgets einer Konzernleitung erscheint sinnvoll, w e i l erst sie einen Vergleich mit den tatsächlich entstehenden Kosten ermöglicht. Unbestritten scheint auch, daß statistisch-mathematische Methoden zur Errechnung der optimalen Lagerhaltung viel zur Wirtschaftlichkeit beitragen können. Bei der Planung und Errichtung von Industrieanlagen hat sich i n den vergangenen Jahren ebenfalls der Gebrauch solcher Tendenzen als nützlich erwiesen. So ist es etwa mit den Methoden der Netzplantechnik möglich, den Auftrag zur Lieferung einer schlüsselfertigen Industrie-Anlage i n eine große Zahl von Teilabschnitten zu zerlegen, welche die zu treffenden Maßnahmen ebenso erkennen lassen wie ihren Zusammenhang untereinander. Sowohl dem Lieferanten wie dem Kunden ermöglichen sie eine genaue Disposition der erforderlichen Arbeiten. Es mag verblüffend sein, wie etwa m i t Hilfe des PERTSystems nicht nur der zeitliche Ablauf eines Projektes exakt vorausberechnet werden kann, sondern auch die Kosten jedes Abschnittes genauestens ermittelt werden können. Man möchte somit meinen, die Praxis der deutschen Unternehmensführimg sei nicht so schlecht wie ihr — von der Wissenschaft dargestellter — Ruf. I n der Tat haben spezielle Planungstechniken vor allem dort, wo Techniker über ihre Anwendung entscheiden, i n deutschen Unternehmen eine feste Heimstatt. Die Unternehmensleitungen selbst sind davon oftmals nicht einmal unterrichtet. Für sie sind solche Methoden Hilfsmittel der Techniker, die sie nicht mit den Notwendigkeiten der allgemeinen Unternehmensplanung i n Verbindung bringen. Dies ist erst der Fall, wenn große Teilbereiche der Unternehmenspolitik — Finanzen, Verkauf, Forschung und Entwicklung, Personal — von diesen Methoden erfaßt und m i t ihrer Hilfe analysiert und vorausberechnet werden. Neue Methoden der Unternehmensführung werden eher pragmatisch als

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 219 grundsätzlich beurteilt. Sie finden Anwendimg, wo ihre Vorteile offenkundig sind. Sie bleiben dort unbeachtet, wo man die Effektivität der bisherigen Methoden höher einschätzt und zumindest Zweifel an der Nützlichkeit der neuen Techniken bestehen. 4. W i r d die Zukunft nur zu bewältigen sein, wenn es uns gelingt, ein neues, revolutionäres und m i t der bisherigen Konzeption nicht vergleichbares Leitbild vom Management zu entwickeln? Die wirtschaftliche Entwicklung der beiden letzten Jahrzehnte könnte dazu verleiten, die Frage m i t einem glatten „Nein" zu beantworten. Die Leistungen deutscher Unternehmen sind i n aller Welt anerkannt, die Qualität deutscher Erzeugnisse, das Organisationstalent deutscher Ingenieure sind geradezu sprichwörtlich. Der internationale good-will der zweitgrößten Welthandels-Nation ist unbestritten. Sind dies die A k t i v a unserer Erfolgsbilanz, so können andererseits die Passiva nicht verschwiegen werden. Die Leistungen der Vergangenheit sind kein Beweis für ähnliche Erfolge auch i n der Zukunft. Dazu sind andere Kriterien notwendig. Steinbuch macht i n seiner Schrift „Falsch programmiert", m i t dem Untertitel „Über das Versagen unserer Gesellschaft i n der Gegenwart und vor der Zukunft und was eigentlich geschehen müßte" darauf aufmerksam 21 . Er verweist vor allem auf die Bildungslücke, auf den i n vielen Bereichen bestehenden Forschungsrückstand der deutschen Industrie, den Mangel an Naturwissenschaftlern und Mathematikern, die i m Vergleich zu anderen Ländern geringe Zahl an Abiturienten, die Saturiertheit unserer Gesellschaft, die Rückständigkeit der deutschen Philosophie, das geringe Ausmaß an wissenschaftlich-technischen Innovationen, die Antiquiertheit des deutschen Schul- und Bildungswesens, die gefährliche Distanz gegenüber den modernen Informationsmethoden und auf die „psychologische Barriere", die vielfach der Einführung moderner Techniken entgegensteht. So pointiert diese K r i t i k i m einzelnen auch sein mag, so enthält sie doch einen richtigen Kern. Die Leistungen der deutschen Wissenschaft und Praxis liegen mehr i n der Vergangenheit als i n der Zukunft. Dies zu behaupten, ist nicht etwa eine unbeweisbare These, sondern die Konsequenz der unzureichenden Bildungsinvestitionen der Vergangenheit. Wer i m Vergleich zu anderen Industriestaaten so wenig i n sein Forschungs- und Bildungspotential investiert hat wie die Bundesrepublik, geht mit offenen Augen einem kulturellen und wirtschaftlichen Niedergang entgegen. Es ist müßig, die Schuldigen dafür zu suchen. Alle sind beteiligt: Parteipolitiker wie Konfessionsdogmatiker, Föderalisten wie Zentralisten, Erzieher wie Eltern, Universitäten wie Schu21

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len, Regierung wie Opposition, Unternehmer wie Gewerkschaften, alt und jung. Es scheint erschreckend, daß man über Bildung, Bildungsurlaub, Bildungsnotwendigkeit, Universitätsreform, Schulreform, Wissenschaftsförderung, Forschungsausgaben u. ä. so lange und meist ergebnislos diskutiert. Wichtig allein ist, rasch die Konsequenzen zu ziehen und die Prioritäten unserer Zukunftsaufgaben zu bestimmen. Welche Rolle hat dabei das Management zu übernehmen? Die künftigen Aufgaben deutscher Politik i m allgemeinen wie der Unternehmenspolitik i m besonderen lassen sich nur auf der Grundlage eines kooperativen Führungsstils lösen. Gasser weist darauf hin, daß die Spitze eines Unternehmens ihre Tätigkeit vor allem darin sehen sollte, den Konsensus herbeizuführen, zu überzeugen und Übereinstimmung zu erzielen, u m eine richtige Lösung möglichst gemeinsam erarbeiten zu helfen. Auch eine „Einmannspitze" kann sicher nicht heißen: unbeschränkte, unkontrollierte Macht eines einzelnen, einsame Entscheide über die Köpfe aller hinweg 2 2 . I n der Tat läßt sich die kombinatorische und koordinierende Funktion einer Unternehmensleitung nicht anders als auf der Grundlage vorbehaltloser Gleichberechtigung aller an einer Entscheidung Beteiligten verwirklichen. Die Selbstverständlicheit, m i t welcher dieser Stil i n der Praxis amerikanischer Unternehmen geübt wird, kann i n mancher Hinsicht für deutsche Unternehmen Vorbild sein. Trotz eines weiter entwickelten Systems unternehmensverfassungsrechtlicher Normen steckt der betriebliche Demokratisierungsprozeß hier noch i n den Anfängen. Die künftigen Aufgaben lassen sich jedoch nur m i t „mündigen", überzeugten und selbstbewußten Mitarbeitern lösen, nicht aber m i t solchen, die ihnen erteilte Anweisungen unkritisch und ohne eigenes Engagement entgegennehmen. Der von Neuloh beschworene „neue Betriebsstil" setzt echte Partnerschaft voraus, die wiederum nur auf der Grundlage vorbehaltloser Anerkennung des anderen möglich erscheint 28 . Der dynamische, an der Zukunft interessierte und orientierte Unternehmer w i r d bemüht sein, die Grundlagen, Bedingungen und Notwendigkeiten zu erkennen, die seine Tätigkeit i n den künftigen Jahren bestimmen. Er wird, kaum daß die neue Gestalt des Unternehmens fixiert ist, bereits die nächste Entwicklungsstufe antizipieren und i n seine Überlegungen einbeziehen. So wichtig auch die Gegenwart ist, so sehr kann er die Bewältigung von Tagesaufgaben auf seine M i t 22 Christian Gasser: Dynamik der Unternehmensführung, Sonderdrucke Industrielle Organisation, Zürich 1968, S. 10. 23 Otto Neuloh: Der neue Betriebsstü — Untersuchungen über Wirklichkeit und Wirkungen der Mitbestimmung, Tübingen 1960; vgl. auch Karl-Heinz Sohn: Gedanken zur Partnerschaft, in: „Gesellschaftspolitische Realitäten", hrsg. von Johannes Doehring, Gütersloh 1964, S. 20 ff.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 221 arbeiter delegieren und nur die Kontrolle darüber selbst ausüben. Seine Aufgabe ist es, neue Probleme zu sehen, sie i n ihrer Bedeutung für das Unternehmen zu erkennen, zu konkretisieren und die Richtung zu bestimmen, i n der sie zu lösen sind. Der Unternehmer gleicht einem Schachspieler, der seine Strategie nicht aufgrund einzelner Züge aufbaut, sondern diese auf der Grundlage seines strategischen Gesamtkonzeptes realisiert. Diese Seite unternehmerischer Tätigkeit w i r d gelegentlich als Kreativität bezeichnet, womit „produktives Denken" i m Sinne von Ideenfindung gemeint ist. Obgleich ein Unternehmer von seiner Aufgabenstellung her stets kreativ, schöpferisch, und ideenbezogen sein sollte, ist dies — so seltsam es auch klingen mag — für den modernen Unternehmer keineswegs selbstverständlich. Die Vielzahl administrativer Aufgaben, die Perfektion der von i h m selbst geschaffenen Organisation, das Netz der ihn umgebenden formalen Beziehungen und die Gesetze der hierarchischen Ordnung lassen ihn, vor allem als Leiter eines Großunternehmens, nur noch selten kreativ i n des Wortes wahrer Bedeutung sein. Vielmehr ist er darauf angewiesen, ein Gespür für die schöpferischen Leistungen anderer — seiner Techniker, Ingenieure, Kaufleute — zu entwickeln. Selbst hier kann er jedoch nichts dem Zufall überlassen, sondern muß die „Kreation" organisieren 24 . Es muß sein Ziel sein, die unter seinen Mitarbeitern vorhandenen schöpferischen Kräfte aufzuspüren und der Unternehmenspolitik zugänglich zu machen. Genies sind immer nur eine Ausnahme. Die Wirklichkeit w i r d vom Mittelmaß bestimmt. Trotzdem kann die Ausnutzung der i n vielen durchschnittlich befähigten M i t arbeitern ruhenden kreativen Kräfte erfolgreicher sein als die Leistungen eines Genies. Schöpferische Fähigkeiten i n diesem Sinne können durch eine entsprechende Organisation besser genutzt werden. Sie brauchen allerdings für ihre Wirksamkeit gleichzeitig ein Höchstmaß an Freiheit. I n amerikanischen Unternehmen hat man m i t der Methode des „brain storming" besten Erfolg erzielt. Gruppen von 5 bis 12 Personen versammeln sich mit dem ausdrücklichen Ziel, sich zur Lösung eines bestimmten Problems möglichst viele Ideen einfallen zu lassen. Wenn auch die Masse der Vorschläge kaum sinnvolle Lösungen bietet, so finden sich immerhin einige, deren nähere Prüfung für das Unternehmen interessant sein mag. Zu kreativen Leistungen fähig sind auch solche regelmäßig tagenden Gruppen, die sich aus qualifizierten Fachkräften der wichtigsten Ressorts zusammensetzen. Teams dieser A r t sind nicht selten i n der Lage, die geistige Enge der Fachbezogenheit

So auch Horst Gesdtka und Helmut Wiggert: Suche mit SystemInnovationsideen müssen kein Zufall sein; Der Volkswirt, Wirtschafts- und Finanzzeitung, 22. Jg., Nr. 2 v. 12. Januar 1968, S. 36/37.

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zu überwinden und Anregungen zu geben, die der Entwicklung des Unternehmens i m ganzen oder i n Teilbereichen förderlich sind 2 6 . Von völlig anderer Qualität ist jene Seite des Managements, die als Kontrollfunktion bezeichnet werden kann. Wenn es Aufgabe der Unternehmensleitung ist, sich Gedanken über die Zukunft des Unternehmens zu machen und die Bewältigung der Tagesfragen den engeren Mitarbeitern zu überlassen, so bedeutet dies nicht gleichzeitig Verzicht auf die laufende Kontrolle des Unternehmensgeschehens. Das Management muß zu jeder Zeit über den Standort des Unternehmens, die wichtigsten Ereignisse und die Hauptdaten informiert sein. Dies bet r i f f t vor allem die Finanzlage, den Auftragsbestand, den Stand wichtiger Verhandlungen, die allgemeine Marktsituation und die Stimmimg i n der Belegschaft. Eine Unternehmenleitung muß stets, unverzüglich und ohne Ausnahme, über all jene Ergebnisse unterrichtet werden, die aus dem Rahmen des üblichen fallen und die für die Ziele der Unternehmenspolitik i m ganzen wichtig sind. Zur Kontrollfunktion des Managements gehört die Beschränkung. Interessant sind immer nur wichtige, nicht jedoch für die Führungsaufgabe selbst unerhebliche Daten. Die Kontrollfunktion erstreckt sich vor allem auf den Vergleich der Unternehmensplanung mit der tatsächlich eingetretenen Entwicklung. Sie dient nicht etwa primär der K r i t i k an Planabweichungen, sondern der Analyse der diesen Abweichungen zugrunde liegenden Ursachen. Planung ist immer zukunftsbezogen und deshalb unsicher. Sie dürfte somit auch nur selten m i t dem späteren Ablauf der Ereignisse voll identisch sein. Kontrolle i m Sinne eines Plan-Ist-Vergleiches ist deshalb auch nicht primitive K r i t i k , sondern Erforschung der für die Abweichungen maßgeblichen Gründe mit dem Ziel, sie i n das K a l k ü l künftiger Planungen einzubeziehen. Kooperativer Führungsstil w i r d oftmals fälschlicherweise m i t Autoritätslosigkeit und Mangel an Entscheidungsfreudigkeit gleichgesetzt. U m Mißverständnisse zu vermeiden, sollte betont werden, daß es Aufgabe der Unternehmensleitung ist, die Prioritäten der Unternehmenspolitik zu bestimmen. Diese Verantwortung kann ihr niemand abnehmen. Ob ein Unternehmen expandieren w i l l , ob es sich zunächst zu konsolidieren versucht, ob es seinen Marktanteil für groß genug hält, inwieweit es i n neue Märkte vordringen, welche Politik es dabei verfolgen w i l l , welchem seiner Einzelbereiche es den Vorzug zu geben gedenkt und für welche Zwecke es seine M i t t e l verwenden w i l l , kann 25 vgl. auch Wolfgang Hummer: Die neuen Management-Techniken der Ideenflndung sowie des schöpferischen Denkens und Mitdenkens, in: „Die neuen Management-Techniken", a.a.O., S. 101 ff.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 223 immer nur in der Verantwortung der Unternehmensleitung liegen. Sie vermag sich zwar dabei beraten lassen, die Entscheidung selbst n i m m t ihr jedoch niemand ab. Sie kann sich deshalb auch nicht exculpieren, wenn sie auf die Erarbeitung einer langfristigen Konzeption verzichtet oder aber damit nachgeordnete Stellen beauftragt haben sollte. Die Axiomatik der Unternehmensführung, i h r Leitbild und damit die Grundzüge der langfristigen Planimg lassen sich nicht delegieren. I h r Träger kann immer nur die Unternehmensleitung selbst sein, „die damit eine ihrer wichtigsten Funktionen erfüllt" 2 6 . Darauf ist auch schon deswegen nicht zu verzichten, weil nur die Autorität der Unternehmensleitung selbst diese Grundsätze i n K r a f t setzen kann. Wie sie das tun und welcher Hilfen sie sich dabei bedienen kann, wurde bereits gezeigt. Das Wachstum eines Unternehmens dürfte i n Zukunft i n erheblichem Maße davon bestimmt sein, ob es i h m gelingt, sich qualifizierte Mitarbeiter zu sichern. Die geradezu tragische Beurteilung der künftigen Leistungsfähigkeit unseres staatlichen Ausbildungssystems zwingt zur Selbsthilfe. Wie nie zuvor werden die Unternehmen gezwungen sein, Bildungsinvestitionen vorzunehmen, u m das Niveau ihrer Mitarbeiter den Anforderungen des Unternehmens anzupassen. Schon heute werden Fachleute für Datenverarbeitungsanlagen, für elektronisch gesteuerte Maschinen und Anlagen, für die Planung des Fertigungsflusses und der diffizilen Lagerhaltungsprobleme i n den Unternehmen selbst ausgebildet. Nur selten kann man sie noch engagieren. Es ist zu überlegen, ob nicht i m Rahmen der Zukunftsaufgaben Unternehmen dazu übergehen sollten, spezielle Ausbildungsstätten, selbst Hochschulinstitute und spezielle Hochschulen — etwa nach dem Muster des M I T — zu gründen oder wenigstens frei zu finanzieren, u m auf diese Weise sowohl wissenschaftlichen Nachwuchs zu bekommen, als auch ihren Fachleuten die Möglichkeiten für ein permanentes Kontaktstudium zu verschaffen. Für das Einzelunternehmen würden die anteiligen Kosten sicherlich nicht höher sein als die Aufwendungen für die „handgestrickte", eigene Fortbildung dieser Fachleute 27 . 5. Die Anwendung neuzeitlicher Informations- und Führungstechniken durch eine Unternehmensleitung erscheint allerdings nur dann möglich, wenn eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt ist. Als erstes muß ein Unternehmen über einen Stab hochqualifizierter Fachleute für Operations-research-Methoden verfügen. Diesem Team, das auch iden26 Joachim H. Horn: Zukunftsgestaltung durch Unternehmensplanung, München 1967, S. 86. 27 Die amerikanische Zeitschrift „International Management" weist in ihrer Mai-Ausgabe 1968 (S.42ff.) darauf hin, daß das Management Gap in Europa um so größer werde, je mehr man es untersuche.

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tisch sein kann mit dem Planungsausschuß, sollten ein m i t den mathematischen Methoden der Entscheidungstheorie vertrauter Mathematiker angehören, ferner ein Marktforscher, ein Techniker, je ein verantwortliches Mitglied der Ressorts Finanzen und Personal sowie i n koordinierender Funktion der Leiter der Planungsabteilung 28 . Ein solches Team von Fachleuten unterschiedlichster Ressorts kann seine Arbeit allerdings nur wirksam erfüllen, wenn i h m die entsprechenden technischen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Allein die richtige Auswahl und Aufbereitung der betrieblichen und außerbetrieblichen Informationen und ihre Auswertung für die Unternehmensleitung sind manuell nicht zu bewältigen. Ebenso kann die für grundsätzliche Entscheidungen notwendige Simulation konkreter Ereignisse allein mit Hilfe von Datenverarbeitungsanlagen erfolgen. Auch wenn es solche Anlagen i n einem Unternehmen bereits gibt, ist damit noch nicht sichergestellt, daß sie für die Vorbereitimg von Unternehmensentscheidungen eingesetzt werden. I n der Regel erleichtern sie nur die innerbetriebliche Statistik, verbessern das betriebliche Rechnungswesen und stehen allenfalls noch dem Techniker zur Verfügung. Wer den Kampf u m die Benutzung der Datenverarbeitungsanlagen, die Probleme des „Schlangestehens" und die Wünsche der klassischen Ressorts auf Einbeziehung i n die Datenverarbeitung kennt, w i r d die Schwierigkeiten ermessen können, vor denen ein junges Team von Unternehmensforschern steht, wenn es gleichfalls Benutzungsansprüche geltend macht. Führungstechniken der geschilderten A r t können sich somit nur langsam und parallel zu einem allgemeinen Prozeß der „reeducation" durchsetzen. Die klassischen Ressorts müssen davon überzeugt werden, daß sie sich letztlich i n Frage stellen, wenn sie ihre Entscheidungen nicht vorbereiten und einer labormäßigen Überprüfung unterziehen. Es genügt nicht, daß ein Unternehmen Fachleute für Führungstechniken engagiert; vielmehr muß auch der geistige Boden jener M i t arbeiter vorbereitet werden, deren Sachentscheidungen der neuen Methode zugänglich gemacht werden sollen. Dieser Prozeß, und um einen solchen handelt es sich, ist solange mühselig, wie moderne Informations- und Führungstechniken der Mehrzahl unserer Bürger — einschließlich der wirtschaftlichen Führungskräfte — ein delphisches Orakel sind. Gehört der Umgang m i t diesen Techniken erst zum täglichen Handwerkszeug, w i r d mit anderen Worten das Rechnen mit Computern und die Benutzung optisch-akustischer Hilfsmittel erlernt wie heutzutage die Grundzüge der Mathematik und der deutschen 28 Vgl. auch Joachim H. Horn: Zukunftsgestaltung durch Unternehmensplanung, a.a.O., S. 85 ff.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 225 Grammatik, gehören Schwierigkeiten dieser A r t bald der Vergangenheit an. Der Katalog dieser Voraussetzungen läßt erkennen, daß die neuen Führungstechniken zwar jedermann zugänglich, jedoch nicht für jedermann anwendbar sind. Sie sind nicht billig, selbst wenn sie langfristig erheblich rationalisierend wirken. Zunächst werden es deshalb vor allem Großunternehmen sein, die sich solcher Entscheidungshilfen bedienen. Gewiß erringen sie damit ihren kleineren Wettbewerbern gegenüber einen technologischen und wettbewerblichen Vorsprung. Der „dynamische Unternehmergewinn" ist. wie Schumpeter zeigt, allerdings immer nur ein Pioniergewinn, der eine zeitlich begrenzte Differentialrente gewährt, jedoch m i t der Zeit und i m Rahmen eines allgemeinen Wettbewerbs verschwindet. Die Großunternehmen werden somit zwar Vorreiter einer neuen Führungstechnik sein können, jedoch kein Monopol dafür besitzen. Es liegt i m übrigen an den Klein- und Mittelbetrieben selbst, ob sie sich so organisieren, daß es auch ihnen möglich ist, wissenschaftliche Methoden für die Lösung ihrer Aufgaben einzusetzen. I m Prinzip jedenfalls besteht kein Unterschied zwischen einem dezentral geführten Konzern m i t einer Vielzahl w i r t schaftlich selbständiger Betriebe und dem Zusammenschluß einer entsprechend großen Zahl von Mittelbetrieben einer Branche zu einer gemeinsamen Holding. Werden einer solchen Holding — deren Anteile bei den rechtlich selbständigen Mitgliedsbetrieben lägen — zentrale Informations-, Koordinations- und Entscheidungshilfefunktionen übertragen, kann man auch i m Rahmen (relativ) selbständiger Mittelunternehmen die von der Unternehmensforschung angebotenen Leitungsmethoden verwenden. I I I . Unternehmensplanung als Beispiel wissenschaftlichen Managements 1. Unter Planung soll hier i n Anlehnung an Kaiser „der systematische Entwurf einer rationalen Ordnung auf der Grundlage alles verfügbaren, einschlägigen Wissens" verstanden werden 2 9 . Planung steht somit i m Gegensatz zu irrationalem, von Eingebungen bestimmtem Handeln. Planimg kann andererseits nicht „ins Blaue" hinein, d. h. ohne eine solide Kenntnis der Ausgangslage und i n völliger Unkenntnis der voraussichtlichen Entwicklungstendenzen, erfolgen. Information und Planung bedingen einander: wie Planung ohne Information ein Wunschbild beschwört, so ist unausgenutzte, nicht i n Planung umgesetzte Information brachliegendes Kapital. Die Gesa Joseph H. Kaiser: Planimg I, Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft, Baden-Baden 1965, S. 7. 15 Tagung Dortmund 1968

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schichte der Konjunkturforschung zeigt, wie sehr Analyse m i t dem Ziel der Information und Vorausschau Hand i n Hand geht. Wie eine rationale Ordnung ohne die Kenntnis ihrer Zusammenhänge nicht denkbar ist, so ist sie andererseits sinnlos, wenn man sie statisch und nicht zukunftsbezogen konzipiert. Diese Überlegungen gelten auch für die Unternehmensplanung. A n ihrem Anfang steht die Festlegung der langfristigen unternehmenspolitischen Ziele, gelegentlich auch Strategie eines Unternehmens genannt 3 0 . Schon eine eindeutige Definition der unternehmenspolitischen Zielsetzung stößt sowohl auf inhaltliche wie auf formale Schwierigkeiten. So ist etwa die Gewinnmaximierung als unternehmenspolitisches Ziel solange nur eine Leerformel, wie der Gewinnbegriff nicht eindeutig definiert und gegenüber möglichen anderen unternehmenspolitischen Zielsetzungen abgegrenzt ist. Die Unternehmensplanimg hat es immer nur m i t der künftigen Gestaltung von Teilordnungen zu tun. Unter zahlreichen denkbaren Gestaltungsformen muß sie eine — mehr oder weniger willkürliche — Auswahl treffen. Als Entscheidungshilfen dienen dabei die zur Verfügung stehenden Informationen. Auch sie geben nicht die volle Vielgestaltigkeit einer gegebenen w i r t schaftlichen Situation wieder. Selbst wenn dies möglich wäre, haben Unternehmensleitungen für eine gewissenhafte Tatsachenanalyse und Entscheidungsvorbereitung i n der Hegel nicht genügend Zeit. Dies ist der Grund, weshalb man beides Spezialisten überträgt und somit die Entscheidungsfindung des Managements vorbereitet. Kaufmann betont, daß gerade darin „die Bedeutung der mathematischen Planungsverfahren" liege 31 . Für die Unternehmensplanung gelten somit die gleichen tatsächlichen und formalen Einwände wie für die volkswirtschaftliche Planung. I m Zusammenhang m i t seiner K r i t i k am Maximum-Theorem hat Gerhard Weisser die Inhaltslosigkeit der Forderung nach einer Maximierung des Sozialproduktes nachgewiesen 32 . Weisser weist auf die Unmöglichkeit des sogenannten „rein ökonomischen Standpunktes" hin. Er geht davon aus, daß wirtschaftliche Interessen lediglich mittelbarer 30 Vgl. Edward C. Bursk und Dan H. Fenn: Unternehmerstrategie, mit einem Geleitwort von Berthold Beitz, hrsg. von Carl Hundhausen, Essen 1957; ferner Joachim H. Horn: Zukunftsgestaltung durch Unternehmensplanung, a.a.O., S. 15 ff.; Horst Albach: Die Koordination der Planung im Großunternehmen, a.a.O., S. 75 ff.; Klaus Agte und Erich Schnaufer: Unternehmensplanung, Baden 1966; Arnold Kaufmann: Entscheidungstechnik im Management, a.a.O., S. 103 ff. 31 Arnold Kaufmann: Entscheidungstechnik im Management, a.a.O., S. 20. 32 Gerhard Weisser: Über die Unbestimmtheit des Postulats der Maximierung des Sozialprodukts, in: Leonhard Nelson zum Gedächtnis, hrsg. von Minna Specht und Willy Eichler, Göttingen 1953, S. 151 ff.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 227 Natur sind. Es sei kein Interesse denkbar, das sich auf eine bestimmte Beschaffenheit des i n Marktwerten ausgedrückten Sozialproduktes erstrecke. Wer deshalb eine Maximierung des Sozialproduktes fordere, könne nicht die Größe meinen, die sich durch Addition der M a r k t werte der i n einer Periode produzierten Güter und Dienstleistungen ergebe, vielmehr meine er — mehr oder weniger bewußt — etwas anderes. Ähnlich inhaltsleer ist das Ziel der Gewinnmaximierung. K r i t e r i u m dafür ist i n der Regel der Bilanzgewinn. Abgesehen davon, daß er sich aus den verschiedensten Positionen zusammensetzt — Abschreibungen, Zuweisungen zu den Rückstellungen und Rücklagen, Schuldentilgung, Änderungen i n der Bewertung des Vorratsvermögens und schließlich dem ausgewiesenen Gewinn —, hat nicht nur der Methodenstreit innerhalb der Betriebswirtschaftslehre — zwischen den Anhängern der dynamischen, der statischen und der organischen Bilanztheorie — sichtbar gemacht, wie relativ Bilanzen zu beurteilen sind, sondern der Gewinnbegriff selbst ist fraglich. Gewinn als Uberschuß der Erträge gegenüber den Aufwendungen impliziert die Frage, welche Aufwendungen den Erträgen eines Geschäftsjahres gegenübergestellt werden. Unter Umständen mag zwar der Gewinn zu Lasten solcher Aufwendungen gesteigert worden sein. Tatsächlich sind die letzteren jedoch auf andere Kostenträger überwälzt worden: auf die Sozialversicherung, den Staat, auf dritte Unternehmen u . a . m . Der Gewinnbegriff ist unbestimmt, w e i l er eine ausschließlich ökonomische Größe darstellt und ohne Berücksichtigung der außerökonomischen Interessen eines Unternehmens und unter Verzicht auf seinen gesellschaftlichen Charakter ermittelt wird. Als K r i t e r i u m des Erfolgs einer Unternehmenspolitik kann er deshalb nur bedingt akzeptiert werden. Möglicherweise vermag ein Unternehmen über mehrere Jahre hinweg einen ansehnlichen Bilanzgewinn vorzuweisen; trotzdem kann es sich i n einer akuten Notlage befinden 38 . Trotz dieser kritischen Bemerkungen zum Gewinn als K r i t e r i u m des Unternehmenserfolges soll nicht der Eindruck erweckt werden, als sei i m Rahmen unserer Wirtschaftsordnung der Gewinn als K r i t e r i u m einer Unternehmensplanung ungeeignet. Als statistische Größe ist er kaum zu ersetzen. Inhaltliche wie formale Bedenken sind vielmehr gegenüber dem Gewinnbegriff i m Sinne einer normativen Größe zu erheben. Als ausschließliches K r i t e r i u m langfristiger unternehmenspolitischer Zielsetzung reicht er nicht aus. Vielmehr müssen die Ziele 33 im Zusammenhang dieses Vortrages muß leider darauf verzichtet werden, darauf im einzelnen einzugehen. Immerhin kann auf eine Reihe großer Publikumsgesellschaften verwiesen werden, die trotz jahrelang ausgewiesenen Gewinns großen Schwierigkeiten ausgesetzt waren. 15*

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eines Unternehmens seinem Wesen als soziologischem Gebilde entsprechen und ebenso umfassend formuliert wie inhaltlich exakt definiert werden. Ziele dieser A r t sind die Bestimmimg seiner künftigen Preispolitik, die Festlegung seines künftigen Warensortiments, die Fixierung seiner Marktstrategie, die Verständigung über die Grundzüge der Personalpolitik, die Bestimmung der zukünftigen Organisationsstruktur des Unternehmens u. a. m. Der Rahmen dieser allgemeinen unternehmenspolitischen Zielsetzung bestimmt letztlich sowohl die Umsatz- als auch die künftige Gewinnentwicklung. So nützlich formale Planungssysteme für ein Unternehmen auch sind, so vermögen sie doch nicht mehr zu leisten als die Ausgangdaten, welche der Unternehmensplanung zur Verfügung stehen. Geht die Unternehmensplanung von falschen Prämissen aus, w i r d sie bei aller technischen Perfektion nicht zu einem brauchbaren Ergebnis führen. Mindestens ebenso wichtig wie die Verfeinerung interner Planungsmethoden ist deshalb die Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Ausgangsdaten. Wenn Ernest R. Breech i n seiner Eigenschaft als Chairman der Ford Motor Company betont, daß es Aufgabe jeder großen Unternehmung sei, „Konjunkturentwicklungen zu schaffen und nicht ihnen zu folgen" 8 4 , so mag dies für die größten amerikanischen Unternehmen zutreffen; europäische Unternehmen werden jedoch i n der Regel gesamtwirtschaftlichen Konjunkturentwicklungen mehr oder weniger passiv ausgesetzt sein. U m so wichtiger ist es für sie, den erkennbaren Trend der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung i m Rahmen ihrer eigenen Planung zu berücksichtigen. 2. Die Festlegung der Ziele eines Unternehmens i m einzelnen erfolgt i m Rahmen seiner Gesamtstrategie. I m Regelfalle handelt es sich dabei u m die angestrebte Umsatzentwicklung und u m die Planung einer langfristig befriedigenden Kapitalrentabilität. Umsatz- und Ergebnisplanung wiederum setzen eine Planung der Hauptfabrikate voraus, die das Unternehmen auf den M a r k t bringen w i l l . N u r i n seltenen Fällen w i r d es seinen M a r k t beherrschen. I n der Regel ist es einem mehr oder weniger starken Wettbewerb ausgesetzt. Durch fortgesetzte Verbesserung seiner Produkte w i r d es m i t Hilfe von Forschung und Entwicklung versuchen, seinen Marktanteil zu halten oder zu erweitern. Parallel dazu muß es danach streben, das i m Unternehmen gebundene Kapital (Mittelbindung) zu optimieren und seine langfristigen Forderungen unter Kontrolle zu halten. Es w i r d ferner für einen angemessenen Eigenfinanzierungsspielraum sorgen Ernest R. Breech: Die Planung der grundlegenden Strategie einer großen Unternehmung, in: Bursk und Fenn: Unternehmerstrategie, a.a.O., S. 23.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 229 und durch ständige Rationalisierungsmaßnahmen die Produktivität zu steigern suchen. Handelt es sich u m ein organisatorisch gegliedertes Großunternehmen, werden diese speziellen Unternehmensziele i n der Regel zentral festgelegt, anschließend m i t den Leitern der einzelnen Betriebe erörtert und ggf. korrigiert. Sie sind der Rahmen, innerhalb dessen sich die Planung der Einzelbetriebe vollzieht. I n ihren Grundsätzen und Methoden richtet sich diese nach dem zentralen Unternehmensplan. Die Erstausführungen der Einzelpläne werden zweckmäßigerweise i n Planungsbesprechungen zwischen den Geschäftsleitungen der Betriebe und der Unternehmensleitung erörtert, der generellen Zielsetzung angepaßt und anschließend zu einer integrierten Unternehmenplanung zusammengefaßt. Falls sich innerhalb des einen oder anderen Einzelplanes entscheidende Voraussetzungen ändern — z. B. die Umsatzerwartungen für eines der Hauptfabrikate —, muß nicht nur dieser Einzelplan i n allen davon berührten Positionen, sondern auch die Unternehmensplanung als Ganzes korrigiert werden. Es leuchtet ein, daß dies nur möglich ist, wenn die Planung m i t Hilfe der Datenverarbeitung erfolgt und Betriebe wie Unternehmen i n der Lage sind, die Anpassung unverzüglich vornehmen zu können. A m Ende jeder Planperiode — i n der Regel am Schlüsse eines jeden Geschäftsjahres — werden die Planziele m i t der tatsächlichen Entwicklung verglichen und die Ursachen eventueller Planabweichungen ermittelt. Dies gilt sowohl für negative als auch für positive Abweichungen. 3. U m die Planung des Unternehmens so realistisch wie möglich zu gestalten, setzt jede Festlegung von Einzelplänen eine gründliche Analyse der Marktentwicklung voraus. Z u diesem Zweck ist es wichtig, den M a r k t der Hauptfabrikategruppen — etwa für Förderanlagen — i n seiner gegenwärtigen Struktur und zukünftigen Entwicklung zu kennen, die zu erwartenden Preistendenzen und Zahlungsbedingungen sowie die Wachstumsentwicklung wichtiger Abnehmerbereiche zu untersuchen, den Umsatz nach Auftragsgröße und Abnehmerzahl zu fixieren und die Zweckmäßigkeit der Absatzorganisation zu überprüfen. — Daneben müssen der technische Stand der Fabrikate sowie die eigene Patent- und Lizenzbilanz überprüft werden. Für die Planung des Ergebnisses entscheidend sind solche Fragen wie die der voraussichtlichen Garantie- und Wrackkosten sowie die Entwicklung der Kapazitäten und ihre Auslastung. Die Abhängigkeit des Einzelunternehmens vom Markt fordert es, sich Klarheit über die eigene Marktposition und die der wichtigsten Wettbewerber zu verschaffen. Dies gilt vor allem für den technischen

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Stand der Fabrikate, deren Qualitäten und Preise und für die künftige Politik der konkurrierenden Unternehmen. Wichtig sind die Kenntnis der Fort- oder Neuentwicklung von Fabrikaten, die Lage auf den Substitutionsmärkten, die Produktivität des eingesetzten Kapitals i m Vergleich zu der des Wettbewerbs (Kapitalkoeffizient), der Stand und die Entwicklung der Absatzorganisationen der Wettbewerber und deren Zahlungs- und Lieferbedingungen. 4. Lassen Sie mich i n diesem Zusammenhang ein kritisches Wort zu den Voraussetzungen der Umsatzplanung eines Unternehmens sagen. Die Prognose der Umsatzentwicklung bildet die Grundlage jeder Unternehmensplanung. Ihre Zuverlässigkeit entscheidet darüber, ob auch die übrigen Planziffern verwirklicht werden können. Gerade die Umsatzplanung ist aber i n einer prinzipiell marktwirtschaftlich orientierten Ordnung die schwache Stelle jeder Unternehmensplanung. Sie muß ein Optimum jener Daten i n den Entscheidungsprozeß einbeziehen, die für die Gesamtstrategie des Unternehmens — vor allem für seine Absatzpolitik — von Bedeutung sind. Die künftige Konjunkturentwicklung ist dafür ebenso wichtig wie strukturelle Änderungen, etwa der Wirtschafts- und Sozialstruktur, der Einkommensentwicklung und der Verbrauchsgewohnheiten. Bombach schreibt dazu i n seiner Einleitung zu einem der PrognosBerichte: „ I n der Einzelunternehmung w i r d wenig dadurch gewonnen, daß man etwa fortgeschrittene Verfahren der Operations-Research auf schwache Ausgangsdaten der Absatzforschung anwendet, vielmehr ist es Tatsache, daß der Grenznutzen beim Ausbau der theoretischen Modelle heute schon sehr gering, wenn nicht nahe N u l l zu veranschlagen (ist), während die Verbesserung und strukturelle Zerlegung des Basismaterials noch sehr hoch ist." I n der Tat ist es sowohl unter theoretischen Gesichtspunkten als auch der praktischen Auswirkungen wegen überraschend, wie groß gelegentlich die Mühe ist, die auf die Erstellung neuer Entscheidungsmodelle verwandt wird, während die Unternehmen andererseits das von der Marktforschung i n die Entscheidung einfließende Ausgangsmaterial relativ unkritisch übernehmen, obgleich es vor allem über die Realisierung der geplanten Umsatz- und Ergebniszahlen entscheidet. Selbst dort, wo wenigstens der Versuch einer gediegenen Auswertung des prognostischen Ausgangsmaterials unternommen wird, liegen die Schwierigkeiten auf der Hand. Wenn etwa i n einem organisatorisch gegliederten Großunternehmen aufgrund allgemeiner Zielprojektionen die einzelnen Betriebe eigene Planungen aufstellen, so wenden sie sich i n der Regel an die volkswirtschaftliche oder Marktforschungsabteilung der Zentrale, u m von dort allgemeine Informationen über die voraussichtliche Entwicklung des Sozialproduktes, die erwartete Umsatzent-

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 231 wicklung ihrer Branche, über Preistendenzen, Zahlungsbilanzentwicklung, Markttendenzen, Einkommensentwicklung, Geld- und Kreditpolitik, Besonderheiten der Ausfuhrförderung u . a . m . für die Planperiode zu erfahren. Aufgrund der ihnen übermittelten Daten — die ihrerseits wiederum weitgehend den Prognosen der Konjunkturforschungsinstitute, der Gutachten des Sachverständigenrates oder (und) den Berichten des Bundeswirtschaftsministeriums entstammen — werden alsdann unter Berücksichtigung der Umsatzentwicklung der Vergangenheit, der bereits verbuchten Auftragseingänge und — allenfalls — von Vertreter- oder Konsumentenbefragungen die Umsätze geplant. Zweckmäßigerweise werden diese nach Fabrikaten oder Fabrikategruppen aufgegliedert, um differenzierte Entwicklungen sichtbar zu machen. Alles in allem richtet sich die Unternehmensplanung i n ihrem entscheidenden Ansatz — der Umsatzplanung — nach Daten, die i m wesentlichen nicht von den Unternehmen selbst stammen, sondern ihnen — mehr oder weniger vollständig — von außen zur Verfügung gestellt werden. Man kann bei dem heutigen Stand der Unternehmensplanung i n der Bundesrepublik i n aller Regel davon ausgehen, daß die bewußt globalen, wenig differenzierten Prognosen der Konjunkturinstitute die Grundlage der Umsatzplanung — und damit der Unternehmensplanung — i m ganzen darstellen. Dies ist überraschend, weil diese Prognosen zwar von bekannten „Regelmäßigkeiten i n der Sozialstruktur, der Technologie, dem Verhalten der Wirtschaftssubjekte u. ä." ausgehen, jedoch i m Unterschied zur französischen Planification bewußt darauf verzichten, allzu detailliert zu werden. Vielmehr beruht die mittelfristige Projektion der Bundesregierung, um eine der externen Grundlagen für Umsatzplanungen zu nennen, „auf einem angebotsorientierten Modell" 3 5 . Sie geht von der Schätzung der voraussichtlichen Entwicklung der Produktionsfaktoren (Kapital und Arbeit), ihrem Verhältnis zueinander (Kapitalintensität) und ihren Beziehungen zum Produktionsergebnis (Arbeitsproduktivität und Kapitalkoeffizient) aus. Es w i r d zunächst ein Wachstumsspielraum abgeschätzt, innerhalb dessen alsdann die Werte für eine mittlere Linie errechnet werden. „Konjunkturelle Veränderungen innerhalb des Schätzungsspielraums werden dabei nicht berücksichtig i n der Annahme, daß sie sich mittelfristig ausgleichen 36 ." — Diese Zielprojektionen sind „Orientierungstableaus, die die i n der Wirtschaft Verantwortlichen informieren über die vom Staat angestrebte und für möglich gehaltene Entwicklung der Gesamtwirtschaft, ohne andererseits durch Branchen»s Aktuelle Beiträge zur Wirtschafts- und Finanzpolitik, Nr. 3/1968, 8. Januar 1968, S. 7. 3f l a.a.O.

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zahlen die unternehmerischen Entscheidungen unmittelbar zu beeinflussen". Sie sollen die unternehmerische Entscheidimg „rationaler" gestalten, wobei zugegebenermaßen „die rechnerische Genauigkeit der einzelnen Positionen einer Projektion nicht überbewertet (werden soll)." Dort, wo die Unternehmen eigentlich eine Information erwarten, w i r d sie ihnen somit nicht zuteil. Sie kennen zwar den vermutlichen Trend der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung — wobei konjunkturelle Schwankungen nicht einmal berücksichtigt sind —; die Prognose ihrer eigenen Branchenentwicklung ist ihnen hingegen selbst überlassen. Dabei können sie sich sowohl i m Gefrierfach als auch auf dem Rost befinden, w e i l die allgemeine Wirtschaftsentwicklung lediglich den Durchschnitt aus beiden Extremen wiedergibt. Meines Erachtens zu Recht weist M a r t i n Lohmann 8 7 darauf hin, daß die Unternehmen langfristig nicht nur an allgemeinen volkswirtschaftlichen, sondern auch an Informationen über die Entwicklung ihrer eigenen Branche interessiert sind. Die Wirtschaftspolitik i n einer marktwirtschaftlichen Ordnung kann ihnen offenbar diese Aufgabe nicht abnehmen. Die Unternehmen müssen demnach andere Informationsmöglichkeiten suchen. Einen mittleren Weg beschreiten i n diesem Sinne die bereits genannten „Prognos reports". Zwar sollen auch sie „die Planungsprobleme des Unternehmens der Branche X oder der Verwaltung Y nicht direkt angehen", jedoch diesen für deren spezielle Fragestellung die notwendige ökonomische und demographische Grundlagenanalyse und -prognose (liefern) 88 . Für „bessere Informationen" werden Spezialstudien empfohlen. Ein Unternehmen w i r d demnach, w i l l es die Entwicklung der Erzeugnisse seines Produktionsprogrammes — und damit seinen Umsatz — richtig vorausschätzen, veranlaßt, Spezialuntersuchungen i n Auftrag zu geben. I m Rahmen eines breitgefächerten, oftmals mehrstufigen Unternehmens ist dies ein ebenso aufwendiges wie umständliches Verfahren. — Selbst dieses ist überdies nicht frei von Unsicherheiten. Marktforschungsinstitute orientieren sich einmal an den bisherigen Konjunkturentwicklungen, Branchenverläufen und Verbrauchsstrukturen; zum anderen aber auch an Erwartungen. Hierfür aber wiederum werden oft die Befragungsergebnisse jener Unternehmer zur Grundlage genommen, die ihrerseits auf diese Informationen warten. Die wichtigst Martin Lohmann: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Planung, in: Joseph Kaiser, Planung I, Baden-Baden, 1965, S. 321 ff. 38 Prognos report Nrd. 1, „Die Bundesrepublik Deutschland 1980, Basel, Dezember 1965.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 233 ste Voraussetzung jeder Unternehmensplanung i n einer m a r k t w i r t schaftlich geordneten Volkswirtschaft — die annähernd genaue Kenntnis des künftigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklungstrends sowie des mutmaßlichen Branchenverlaufs — steckt voller Unsicherheiten. I m Unterschied dazu werden die allgemeinen und speziellen Wachstumsziele i n zentralverwaltungswirtschaftlichen Volkswirtschaften verbindlich festgelegt. Sie sind den betreffenden Unternehmen bekannt, i n der Regel sogar von ihnen erarbeitet worden. Selbst das System der „Planification" legt sie wenigstens für die öffentlichen Wirtschaften und die staatliche Wirtschaftspolitik verbindlich fest. Die privaten Unternehmen bedienen sich dieser Projektionen als Orientierungsmittel 8 9 . Damit dabei keine „Pannen" passieren, indem sich wichtige Wirtschaftszweige zielwidrig verhalten, ist die „Planification" dem sanften Druck der staatlichen Kredit-, Investitionsförderungs- und Subventionspolitik ausgesetzt. I n der Bundesrepublik ist das m i t der Unternehmensplanung verbundene Vorausschätzungsrisiko größer als i n Volkswirtschaften mit einem stärkeren Staatsengagement. Allerdings sind die seit der Bildung der Großen Koalition geschaffenen volkswirtschaftlichen Orientierungsdaten, wie sie u. a. das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967, die mittelfristige Finanzplanung und der Wirtschaftsbericht der Bundesregierung enthalten, wesentlich umfassender, praxisnäher und deshalb brauchbar geworden. Offen bleibt die Aufgabe, die i n den Unternehmen, Wirtschaftsverbänden, Instituten und staatlichen Stellen anfallenden Daten über die Zukunft unserer Wirtschaft zu sammeln und zentral auszuwerten. Insofern kann der Forderung Bombachs nach einer gründlicheren Aufbereitung und Auswertung des Basismaterials zugestimmt werden 4 0 . Vgl. Helmut Peikert: Frankreichs Wirtschaft heute — Struktur und Tendenzen, Wiesbaden 1961; Helga Grote: Frankreichs Wirtschaftsreform 1958/59 — Maßnahmen und Auswirkungen, Inauguraldissertation, Mannheim; Hans Peter Philippi: Finanzreform und finanzpolitische Neuordnung in Frankreich nach dem Scheitern der Vierten Republik, Dissertation, Stuttgart 1966. 40

Wie entwicklungsfähig spezielle Branchenuntersuchungen sind, zeigt das von der Universität Maryland entwickelte input-output-Modell für die amerikanische Maschinenbauindustrie. Die Untersuchung zeigt, wie sich das Wachstum der US-Maschinenbauindustrie in ihren Hauptzweigen einerseits auf der Basis eines konstanten Kapitalkoeffizienten in den wichtigsten Abnehmerbereichen, zum anderen auf der Grundlage des erwarteten technologischen Fortschritts — und damit unter Berücksichtigung einer Änderung des Kapitalkoeffizienten — entwickeln dürfte. Vgl. Business Week, June 15, 1968, S. 126. Für die Bundesrepublik liegen derartige Trenduntersuchungen m. W. noch nicht vor.

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5. Eine Umsatzplanung ist nur sinnvoll, wenn man von der Entwicklung der Hauptfabrikategruppen ausgeht. Es muß sich demnach immer u m eine integrierte Planimg handeln, die i n ihren Ausgangsdaten so praxisnah wie möglich ist; Globalzahlen helfen wenig. Ausgehend von den geplanten Brutto-Inlands- und Auslandsumsätzen, ist durch Abzug der Sonderkosten des Vertriebs der Nettoumsatz zu ermitteln, von dem wiederum die Einzelkosten der Fertigung sowie die Fertigungs- und Vertriebsgemeinkosten abzuziehen sind, um den Netto-Erfolg — absolut und i n v.H. des Umsatzes — zu ermitteln. Diese Planung ist für alle wichtigen Fabrikate vorzunehmen, soweit diese ihren eigenen, statistisch erfaßten M a r k t haben. Die Planung der Einzelfabrikate ist alsdann i n einer Gesamtumsatzplanung zusammenzufassen. Der so geplante Umsatzerfolg ist unter Berücksichtigung von Kostenstellen-Über- und Unterdeckungen, Entwicklungskosten u. a. zum Betriebsergebnis und von diesem aus unter Berücksichtigung des neutralen Ergebnisses zum Jahresüberschuß bzw. -fehlbetrag fortzuentwickeln. Das allerorts wirksame „Parkinsonsche Gesetz" — der zunehmenden Bürokratisierung — legt es nahe, das Augenmerk vor allem auf eine sinnvolle Planung der Gemeinkosten zu legen, damit sich diese nicht unkontrolliert über die Einzelkosten hinaus entwickeln und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens am M a r k t gefährden. I n nicht wenigen Fällen sind kleinere Unternehmen größeren überlegen, w e i l sie mit erheblich geringeren Gemeinkostenzuschlägen arbeiten, oft zwar i n den Einzelkosten höher, i n den Gesamtkosten jedoch niedriger liegen als ihre größeren Wettbewerber. Die Planung der Umsätze, Kosten und Ergebnisse findet ihren Niederschlag i n der geplanten Gewinn- und Verlustrechnung. Hierbei kommt insbesondere der Planung der Zinserträge und -aufwendungen, der Abschreibungen und des Personalaufwandes eine wichtige Funktion zu. Auf einem stark umkämpften M a r k t kann ein Unternehmen sein Ergebnis vielfach nur durch Verringerung des Aufwandes verbessern. I n der Bilanzplanung sind vor allem die Sachanlagen i n einer dem Umsatz angemessenen Weise zu planen und eine vernünftige Relation zwischen Zugang und Abschreibungen zu sichern. Wegen ihrer Bedeutung für die Mittelbindung, d . h . für Liquidität und Rentabilität, sind auch die Vorräte i n einer der Umsatzplanung angemessenen Weise festzulegen. Z u hohe Vorräte mindern die Kapitalrentabilität. Sie binden unnötig Mittel, die an anderer Stelle besser verwendet werden können. Der Umfang der Mittelbindung ist von Branche zu Branche verschieden. Insbesondere die Vorratshaltung ist auch von der jeweiligen Konjunktursituation abhängig. Es ist heute relativ leicht, die optimale Mittelbindung eines Unternehmens m i t Hilfe mathematischer (Optimierungs-)Methoden zu errechnen. Dabei sind die Lagerhaltungs- bzw.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 235 die Kosten der Mittelbindung gegen die Auftrags- und jene Kosten abzuwägen, die durch Erschöpfung des Lagerbestandes, verzögerte Lieferung und Änderung des Produktions- oder Einkaufsvolumens verursacht werden. Von besonderer Bedeutimg für die Liquidität ist auch die Planung der Warenforderungen und -Verbindlichkeiten. Grundsatz sollte es sein, nach Möglichkeit keine Zahlungsziele zu gewähren, die über einen mittleren Zeitraum, etwa von 4 Jahren, hinausgehen. Gerade i n den vergangenen zwei Jahren, i n denen deutsche Unternehmen wegen des schlechten Inlandsmarktes verstärkt in den Export gingen, hat sich die Gewährung unangemessen langer Zahlungsziele als schwerwiegend erwiesen. Produktionsunternehmen sollten gute und preisgünstige Waren liefern, nicht aber auch noch die Kredite ihrer Abnehmer. Es leuchtet andererseits ein, daß die Limitierung der Exportkredite kein Dogma sein kann, sondern u . U . anderer Unternehmensziele wegen vorübergehend aufgegeben werden muß. Eine besondere Aufgabe stellt sich dem Unternehmen m i t der Planung des künftigen Personalbedarfs. Die „Verwissenschaftlichung" des Managements, die Einführung neuer Produktionsmethoden, die Anpassung der Unternehmensorganisation an die neuen Planungstechniken, die Notwendigkeit verstärkter Innovationen und die Erweiterung der Absatzmärkte erfordern einen neuen Mitarbeiter-Typ. Als Teil der Personalpolitik sichert die Personalplanung den Personalbestand der Zukunft. Sie untersucht die Auswirkungen der allgemeinen Unternehmensplanung auf den künftigen Personalbedarf i n quantitativer und qualitativer Hinsicht, berücksichtigt die Besonderheiten der betrieblichen Altersstruktur, sorgt für eine zweckmäßige, die Mobilität der Arbeitskräfte fördernde Aus- und Fortbildung, zieht die Konsequenzen aus geplanten Rationalisierungsmaßnahmen und sichert den Führungsnachwuchs. Sie ist somit die entscheidende Grundlage jeder erfolgreichen Unternehmenspolitik. I m Rahmen dieses Themas muß verzichtet werden, Modelle der Personalplanung deutscher Unternehmen zu skizzieren. I n der Bundesrepublik stehen w i r damit erst am Anfang, wenn auch die Wichtigkeit des Problems inzwischen allgemein anerkannt wird. 6. Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Methoden der Unternehmensplanung sagen. Die Unternehmensplanung ist i n den letzten Jahren verstärkt i n den Mittelpunkt der betriebswirtschaftlichen Forschung gerückt. Erinnert sei nur — aus der Sicht der Bundesrepublik — an die Arbeiten von Albach, Gutenberg, Lohmann, Kosiol und Krelle 4 1 . 41

Horst Albach: Die Koordination der Planung im Großunternehmen,

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Die Literatur der Planung und Planungsmethoden ist selbst für den theoretisch interessierten Praktiker kaum noch zu überschauen. Unternehmensplanung als Teil einer allgemeinen Entscheidungsstrategie 42 w i r d u m so wichtiger, je differenzierter das Produktionsprogramm eines Unternehmens ist, je größer und heterogener der Kreis seiner Abnehmer und je komplexer ein Unternehmen an sich ist. Allerdings bedeutet dies nicht, daß Planung nicht auch für mittlere und kleine Unternehmen m i t einfachem Produktionsprogramm lebenswichtig sein kann. Die Vorteile der betriebswirtschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Unternehmensplanimg liegen vor allem i n ihrer Anleitung zur Systematik sowie i n den erarbeiteten Planungsmodellen. Ohne i m Zusammenhang dieses kurzen Vortrages darauf näher eingehen zu können, läßt sich soviel sagen, daß für Unternehmen mit breiten und gegliederten Programmen die von Betriebswirten und Mathematikern erarbeiteten Simulationsmodelle auch von praktischer Bedeutung sind. Sie erlauben es, die Planung nicht nur i m Sinne einer starren Richtwertplanung — m i t dem dadurch notwendigerweise verbundenen Gewinnentgang — durchzuführen, sondern sie i m Sinne einer anpassungsfähigen und elastischen Alternativplanung zu vollziehen. Eine Unternehmensplanung ist — wie w i r sahen — soviel wert wie die Voraussetzungen, von denen sie ausgeht. Sie muß deshalb ständig überprüft und ggf. kurzfristig der veränderten Situation angepaßt werden. Dies ist für einzelne Fabrikate oder auch einzelne Betriebe noch relativ leicht möglich — wenngleich die Schwierigkeiten einer Auswirkung der Veränderung einzelner Daten auf die Teilpläne und das Planungsziel selbst hier nicht übersehen werden sollten —; äußerst schwierig jedoch ist die Berücksichtigung von Datenveränderungen (z. B. des Umsatzes, des Ergebnisses, der Kosten, der Verbindlichkeiten, der Liquidität u. ä.) für einen organisatorisch, wirtschaftlich und technisch tiefgegliederten Konzern. Allerdings kann man hier wiederum davon ausgehen, daß die Zufälligkeit der Veränderung einzelner Daten nach dem Gesetz der großen Zahl nicht selten ausgeglichen wird. Den Vortrag, geh. anl. der Tagung des Vereins für Socialpolitik, a.a.O.; Erich Gutenberg: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, Erster Band, Die Produktion, S. 114 ff.; Zweiter Band, Der Absatz, S. 53 ff., ferner: Martin Lohmann, Betriebswirtschaftliche Aspekte der Planung, in: Planung, a.a.O., S. 321 ff.; Erich Kosiol: Zur Problematik der Planung im Unternehmen, Vortrag, gehalten anl. der Tagung des Vereins für Socialpolitik, Hannover 1966. Vgl. auch den in diesem Band veröffentlichten Vortrag von Wilhelm Krelle. 48 Vgl. Gerard Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, a.a.O.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 237 Unternehmensplaner kann diese Zufallsvariante bei der Erfüllung des Gesamtplans allerdings nicht befriedigen. Vielmehr muß er die Entwicklung wenigstens der Hauptfabrikategruppen verfolgen und ggf. Korrekturen vornehmen können. Künzi und Krelle 4 3 haben dankenswerterweise den Versuch unternommen, über die bekannten Methoden des Operations research hinaus Modelle für die Lösung nichtlinearer Aufgabenstellungen i n der Unternehmensplanung zu entwickeln. Ihrer Übernahme durch die Unternehmen stehen allerdings selbst i n den größten Unternehmen der Bundesrepublik noch erhebliche — vorwiegend personalpolitische — Schwierigkeiten entgegen. N u r i n seltenen Fällen werden die Rechenzentren der großen Unternehmen für die Planung eingesetzt. Selbst dort, wo die Kosten budgetiert und die Umsätze und Ergebnisse geplant werden, beschränkt sich der Einsatz vorhandener Apparaturen i n der Regel auf die Planung des laufenden Geschäftsjahres. Auch werden bislang i n noch unzureichendem Maße Programme für mathematisch-orientierte Unternehmensplanungen angeboten. Sie zu entwickeln wäre eine bemerkenswerte Aufgabe, der sich Betriebswirte, Mathematiker und Datenverarbeitungsfachleute annehmen sollten. Lassen Sie mich — so reizvoll dies auch wäre — darauf verzichten, die wichtigsten, von der betriebswirtschaftlichen Theorie erarbeiteten Planungsmodelle zu skizzieren und ihre Anwendungsmöglichkeit i n der Praxis darzustellen. So hilfreich diese Arbeiten für den aufnahmebereiten Praktiker auch sind, so groß ist (jedenfalls i n der Bundesrepublik) trotz allem doch noch die K l u f t zwischen theoretischer Vorarbeit und praktischer Handhabung. Kosiol weist zu Recht darauf hin, daß — auch wenn „gewisse Teilprobleme der Planung mit einer anspruchsvolleren Einstellung als früher und m i t verbesserten Methoden und Hilfsmitteln angegangen (werden) — von einer Bewältigung des Problems generell nicht gesprochen werden (kann)" 4 4 . Wichtiger noch als die Erstellung von Einzelplänen — sowohl der zu einem Konzern gehörenden Unternehmen als auch der verschiedenen Ressorts — scheint m i r allerdings die „Koordination der Planung i m Großunternehmen" zu sein. Dazu hat sich meines Erachtens Albach 4 8 * i n einer gleich praxisnahen wie theoretisch interessanten Weise geäußert. Nichtlineare Programmierung, Berlin 1962. Erich Kosiol: Zur Problematik der Planung im Unternehmen, a.a.O. 45 Horst Albach: Die Koordination der Planimg im Großunternehmen, a.a.O. 44

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7. Ich möchte dieses Kapitel der Unternehmensplanung als Teil wissenschaftlicher Unternehmenspolitik nicht schließen, ohne den Ablauf der Planimg anhand eines Beispiels i n seinen verschiedenen Etappen zu schildern: Insgesamt würde ich 10 Etappen unterscheiden: (1) Die Bestimmung des Standorts eines Unternehmens durch: Auswertung des zugänglichen Informationsmaterials, Besprechung mit allen leitenden Mitarbeitern, Vergleich m i t der Situation anderer Unternehmen. (2) Die Festlegung allgemeiner unternehmenspolitischer Ziele sichtlich der einzelnen Ressorts: Verkauf, Forschung und Entwicklung, Finanzen, Personal; der wichtigsten Unternehmensbereiche: Verarbeitung, Handel, Grundstoffe, Dienstleistungen.

hin-

(3) Die Erarbeitung und Festlegung einheitlicher Methoden für die Planerstellung der Unternehmensbereiche, und zwar unter Berücksichtigung der strukturellen Besonderheiten. (Der Handel kann z.B. keine Fabrikateplanung vornehmen.) (4) Die Erarbeitung von Einzelplänen durch die Leitung der einzelnen Betriebe, verbunden mit einer ersten Erörterung der Planentwürfe zwischen Betriebsleitungen und Unternehmensleitung und unter Hinzuziehung der Leiter der wichtigsten Stabsabteilungen: Rechnungswesen, Marktforschung, Technik und Entwicklung, Personal, Finanzen. (5) Korrektur und Überarbeitung der Einzelpläne aufgrund dieser ersten Erörterung. Vorlage einer zweiten Fassung. (6) Zusammenfassung der wichtigsten Positionen der Einzelplanungen zu einer konsolidierten bzw. Gesamtplanung. Kritische Überprüfung dieser Gesamtplanung durch die Unternehmensleitung. Evtl. Vornahme einer erneuten Korrektur: Veränderung der Einzelplanungen soweit wie nötig. (7) Endgültige Aufstellung des Gesamtplanes aufgrund der verabschiedeten Einzelpläne. Inkraftsetzen dieses Gesamtplanes. Bekanntgabe seiner wichtigsten Grundsätze! (8) Durchführung der Planung, d. h. Verwirklichung ihrer Ziele. Errichtung von Planungsgruppen, z.B. Technik und Entwicklung, Verkauf, Finanzen, Personal. Die Planungsgruppen haben alle Maßnahmen zu veranlassen, die m i t der Verwirklichung der Planziele zusammenhängen. Sie werden jeweils von einem Ressortleiter der Konzernspitze geleitet.

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 239 Beteiligt sind sowohl die Mitglieder der Geschäftsleitung der Betriebe als auch die Leiter der Stabsstellen. (9) Laufende Korrektur der Planungen, wenn deren Voraussetzungen sich ändern sollten. (10) Kontrolle der Planzahlen und Vergleich m i t den Ergebnissen des jeweils abgeschlossenen Geschäftsjahres; Erörterung der Ursachen von Planabweichungen. IV. Künftige Aufgaben Die Kunst, ein Unternehmen zu führen, bleibt weder Naturtalenten überlassen, noch ist sie eine Domäne der Wissenschaft. Vielmehr kann sich ein Unternehmen auf die Dauer ohne den schöpferischen, phantasievollen, eigenwilligen, wagemutigen und m i t Führungsqualitäten ausgestatteten Unternehmer ebensowenig entfalten wie unter Verzicht auf die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Führung selbst. Talent und Wissen, Persönlichkeit und Methodik, Risiko und Kalkulation, Entscheidungsbereitschaft und Entscheidungsvorbereitung gehören zusammen. Ein einzelner kann ein differenziertes Großunternehmen nicht mehr leiten. Allenfalls w i r k t er als Koordinator. Die Entscheidungen selbst können immer nur einem Führungsteam anvertraut werden. Auch i n mittleren Unternehmen muß die Politik der Leitung soweit vorbereitet werden, daß die Wahl zwischen mehreren möglichen Lösungen die damit verbundenen Konsequenzen erkennen läßt und die scheinbar freie Entscheidung eher ein formaler A k t ist. Wenn dies richtig ist, so gilt es zweifellos, noch eine Reihe von Bedingungen zu erfüllen, bevor diese Ansicht Allgemeingut wird. 1. Die — insbesondere auf amerikanischen Erfahrungen beruhende — Erkenntnis, daß Wissenschaft und Praxis einander sinnvoll ergänzen, muß sich allmählich auch i m Hinblick auf die Leitung eines Unternehmens durchsetzen. Ebensowenig, wie die Hilfsfunktionen der Wissenschaft unterschätzt werden sollten, ist andererseits eine Euphorie der Führungstechniken geeignet, die theoretischen Erkenntnisse mit den praktischen Erfordernissen i n Einklang zu bringen. Die Wissenschaft erfüllt bei der Führung eines Unternehmens immer nur eine — wenn auch wichtige — Hilfsfunktion. Wissenschaftliche Methoden der Unternehmensführung vermögen diese selbst nicht zu ersetzen. Voraussetzung für den Erfolg eines Unternehmens ist stets, daß die Grundkonzeption der Unternehmensleitung stimmt und zur richtigen Zeit die richtigen Entscheidungen getroffen werden. 2. Ein großes Unternehmen kann heute weniger denn je aufgrund von Eingebungen geleitet werden; vielmehr bedarf es einer rationalen,

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zielbewußten und langfristigen Planung. Diese ist wiederum ohne hinreichende Information, d . h . ohne Kenntnis des „Datenkranzes", nicht zu erstellen. Obgleich ein marktwirtschaftlich orientiertes Unternehmen seine Planung i n eigener Verantwortung vornimmt, ist es dabei auf eine möglichst genaue Kenntnis aller gesamtwirtschaftlichen Daten angewiesen. Die Wirtschaftspolitik hat die Aufgabe, i m Rahmen des i n einer Marktwirtschaft Möglichen für Transparenz zu sorgen. 3. Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse i n der Unternehmensführung setzt voraus, daß nicht nur das Management dafür gewonnen wird, sondern auch qualifizierte Mitarbeiter i n den Prozeß der Entscheidungsvorbereitung eingeschaltet werden. Beides ist bisher noch keineswegs selbstverständlich. Die bisher angebotenen Modelle der Unternehmensplanung beziehen sich fast ausschließlich auf Detailfragen, etwa auf Optimierung der Lagerhaltung, auf Alternativrechnungen für Investitionsentscheidungen, auf Fragen der Termin- und Ablaufplanung für die Errichtung von Industrieanlagen, die Simulation von Entscheidungen zur Umsatzplanung u. ä. Programme für integrierte Unternehmensplanungen fehlen indessen. Die Beurteilung der Planungsmethoden und ihre praktische Anwendung hängt jedoch weitgehend davon ab, ob sie die Entscheidungen der Unternehmensspitze spürbar erleichtern und diese i n die Lage versetzen, das kalkulierte Risiko einzugrenzen und Änderungen i n den Planungsbedingungen schnell zu berücksichtigen. Gerade dazu hat die Unternehmensforschimg jedoch erst bescheidene — wenn auch interessante — Beiträge geleistet. 4. Die vielfach verbreitete Ansicht, Planung bedeute Manipulation und verringere somit den Freiheitsspielraum, ist i n dieser Form nicht zutreffend. Das düstere Bild, welches Huxley und Orwell vom manipulierten Menschen entwerfen, gilt nicht für eine freiheitliche Gesellschaft, die m i t Hilfe der Planung ihre Zukunft erkennen und gestalten w i l l . Planimg i n diesem Sinne sichert die Freiheit, anstatt sie zu verringern. Dies gilt auch für die Unternehmensplanung. Ihre Grundlage bilden deshalb auch verantwortungsbewußte, an der Fortentwicklung des Unternehmens interessierte Mitarbeiter. Sie anzutreffen, w i r d dort am ehesten möglich sein, wo eine Unternehmensleitung bereit ist, sie i n den allgemeinen Informationsprozeß und i n die unternehmenspolitische Willensbildung einzubeziehen. Je breiter die Grundlage einer Unternehmensplanung ist, je stärker sie i m Unternehmen rechtlich gesichert ist, um so eher werden Planungsziel und Unternehmenswirklichkeit übereinstimmen. 5. Schließlich sollte nicht übersehen werden, daß eine „Rationalisierung" unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ein nahezu vollständiges Umdenken auch i m pädagogischen Bereich voraussetzt. Die Bewältigung unserer Zukunftsprobleme w i r d entscheidend davon bestimmt, ob B i l -

Grundlagen und Methoden wissenschaftlicher Unternehmensführung 241 dung und Ausbildung zukunftsorientiert sind oder von historischen Leitbildern ausgehen. Wichtiger als die detaillierte Kenntnis von Leistungen unserer Vergangenheit ist das Wissen u m jene Aufgaben, die uns i n Zukunft gestellt sind. Das Konzept unseres Bildungswesens kann nur dynamischer Natur sein. Dies gilt auch für die verwendeten Methoden. Geistes- wie Naturwissenschaften haben ihre Methoden i n letzter Zeit grundlegend gewandelt. I n der Ausbildung des Nachwuchses aber w i r k t sich dies oft mit einer Verzögerung von Jahrzehnten aus. Die allerorts benutzten modernen Informationstechniken werden i m deutschen Schulunterricht nicht einmal beschrieben, von ihrer Verwendung ganz abgesehen. Den Universitäten wie den Unternehmen aber ist es auf die Dauer ebenso unzumutbar, wie es für die Volkswirtschaft improduktiv ist, die Funktion eines pädagogischen Lückenbüßers zu spielen. Das vor uns liegende Jahrzehnt w i r d vermutlich zu einer durchgreifenden Veränderung der Führungstechniken führen. Wissenschaft und Praxis sollten es als eine gemeinsame Aufgabe ansehen, diese „Managerial Revolution" zu fördern. Erst dann besteht die Chance, die Erfolge der beiden letzten Jahrzehnte auch i n der Zukunft fortzusetzen.

Grenzen der Forschungsförderung durch den Staat Von Staatssekretär Dr. Hans von Heppe, Bonn Es erscheint auf den ersten Blick verwunderlich, i n einem Augenblick über die „Grenzen der Forschungsförderung durch den Staat" zu sprechen, i n dem nicht nur die Politiker, sondern auch eine breite Öffentlichkeit die Bedeutung dieser Staatsaufgabe anerkannt, ihr Priorität i m Verhältnis zu anderen Aufgaben gegeben haben und bereit sind, dem durch überdurchschnittlich hohe Steigerungsbeträge Rechnung zu tragen. Hemmt es nicht den schon sichtbar gewordenen Elan, wenn man nun sozusagen die Bremse bedient und dazu auffordert, sich der Grenzen unserer Möglichkeiten bewußt zu werden? Sollte man nicht zunächst einmal ohne Rücksicht auf etwaige Grenzen alles tun, um die Wissenschaft nach Kräften und auf breiter Basis zu fördern, und es der weiteren Entwicklung, vor allem den eigenen Gesetzen der Wissenschaft überlassen, ob und wann die Grenzen erreicht sind? Noch hat sich doch jede Grenze, vor die sich die Wissenschaft gestellt sah, als überwindbar herausgestellt, sei es, daß die Wissenschaftler weiterführende Methoden und Feststellungen entwickelten, sei es, daß i h r neue technische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt wurden, m i t denen bisher undurchschaubare Weiten des Universums oder kleinste Bausteine der Materie der wissenschaftlichen Betrachtung und dem wissenschaftlichen Experiment erschlossen wurden. Kann man es verantworten, solche Entwicklungen durch theoretische Erwägungen über etwaige Grenzen zu beeinträchtigen oder gar auszuschließen? Nun, ich möchte zunächst betonen, daß ich nicht über die Grenzen der Wissenschaft selbst sprechen möchte. Dies könnten allenfalls Wissenschaftler, und wie schwer es auch ihnen aus sachlichen, i n der Wissenschaft selbst liegenden Gründen wird, hat erst kürzlich anläßlich der Jahrestagung des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft Carl Friedrich von Weizsäcker eindrucksvoll geschildert. Es geht hier u m die Grenzen staatlicher Wissenschaftsförderung und damit, u m das vorwegzunehmen, überwiegend u m begrenzende und hemmende Faktoren, die „außerwissenschaftlich" sind. Schon an dieser Feststellung w i r d deutlich, daß der Wissenschaftler und der seine Arbeit fördernde Politiker oder Beamte verschiedenen Handlungsprinzipien unterliegen. Es wäre verhängnisvoll, wenn der Staat sich nicht vorausschauend über die Grenzen seiner Möglichkeiten klar würde; es wäre freilich genauso

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verhängnisvoll, wenn die Wissenschaft sich auf diese Grenzen einstellen, resignieren und i n ihrer Erfindungsfreudigkeit nachlassen würde. Das zeigt, daß w i r uns hier m i t einem Thema beschäftigen, das, aus der Natur der Sache heraus, zwischen Staat und Wissenschaft weitgehend kontrovers sein muß. Eine Lösung dieser Kontroverse etwa i n dem Sinne, daß die Wissenschaft nur noch soviel denken und erdenken darf, wie der Staat bezahlen kann oder w i l l , oder auch in dem Sinne, daß der Staat sich bereit erklärt, alles zu zahlen, was die Wissenschaft fordert, würde düstere Prognosen eröffnen, nämlich entweder sterile Einfallslosigkeit oder den finanziellen Bankrott. Die Feststellung erweckt den Eindruck, daß die Grenzen staatlicher Wissenschaftsförderung allein durch die zur Verfügung stehenden finanziellen M i t t e l bestimmt seien. Ich möchte dieser Auffassung sachlich entgegentreten, aber zunächst doch auf das finanzielle Problem eingehen, dessen Bedeutung für unser Thema weitgehend bekannt ist. Für die Wissenschaft wurden i n der Bundesrepublik 1966 rd. 11,4 Milliarden D M ausgegeben, davon rd. 6,9 Milliarden durch staatliche Stellen und rd. 4,5 Milliarden durch private, vor allem die gewerbliche Wirtschaft. Insgesamt waren dies 2,4 °/o des Bruttosozialproduktes. Von den Gesamtausgaben der öffentlichen Verwaltung, also des Bundes, der Länder und Gemeinden, entfielen 1966 — nur u m einige für unsere Überlegungen wichtige Beispiele zu nennen — 19,2 % auf das Sozialwesen, 11,9 %> auf die Verteidigung, 7,2 °/o auf den Verkehr, 7,8% auf das Unterrichtswesen, 4,7 °/o auf die Wissenschaft einschließlich der Verteidigungsforschung. Sowohl i n absoluten Beträgen, als auch i n relativen Zahlen ist die Wissenschaftsförderung quantitativ immer noch als unzulänglich zu bezeichnen, und zwar gemessen an den entsprechenden Leistungen vergleichbarer ausländischer Staaten, gemessen an den Ausgaben für andere staatliche Zwecke, gemessen aber auch an den Notwendigkeiten unserer staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und an den Forderungen der Wissenschaft. Wie schwierig es aber sein wird, den Anteil der Ausgaben für die Wissenschaft an den Gesamtausgaben der öffentlichen Hand zu erhöhen, macht eine kurze Überlegung deutlich: Bei einem Bundesetat von 80 Milliarden D M betragen 0,1 °/o 80 Mio D-Mark. Eine Erhöhung der Wissenschaftsausgaben von 4,7% auf beispielsweise 5 % würde m i t h i n bedeuten, daß 240 Mio D M innerhalb des Bundesetats umgeschichtet, d. h. anderen Ressortaufgaben entzogen und den Aufgaben des B M w F zugeschlagen werden müßten. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, u m sich auszumalen, m i t welchen 16»

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Schwierigkeiten eine solche Entscheidung verbunden ist. Es ist sehr leicht, von den Politikern derartige Entscheidungen zu fordern, wenn man außer acht läßt, daß ja von jedem Politiker und insbesondere von jedem Ressortvertreter derartige Entscheidungen zugunsten seines Ressorts erwartet werden. Ein Wohnungsbauminister etwa oder ein Landwirtschaftsminister, der zugunsten des von allen für so zukunftsträchtig gehaltenen Forschungsetats auf die erwähnten 240 Mio D M oder auch nur einen beachtlichen Teil davon verzichten würde, würde zweifellos bei den Interessenverbänden, die hinter dem entsprechenden Ressort stehen, sofort zur persona non grata erklärt werden. Es bedarf also eines mühsamen Ausgleichs von Interessen, um derartige Umschichtungen i n der genannten Größenordnung vorzunehmen, und ich glaube, daß man der Bundesregierung i n diesem Punkt den Respekt nicht versagen kann: wenn angesichts einer allgemeinen realen Zuwachsrate von etwa 4,0%, die der mittelfristigen Planung zugrunde gelegt wurde, dem Forschungsetat eine Zuwachsrate von 16%, also nahezu des Vierfachen der allgemeinen Zuwachsrate, zugebilligt wurde, so bedeutet dies, daß zahlreiche andere, ebenfalls legitime Interessen zurückgestellt wurden. Dies gelingt aber nur i n gewissen Grenzen, und so läßt sich voraussagen, daß eine Steigerung des Forschungsetats um etwa 25 °/o—30 % jährlich, wie sie von manchen gefordert wird, politisch wenig aussichtsreich ist. Man mag dies bedauern, und ich persönlich schließe mich, allerdings m i t gewissen, noch zu erwähnenden Einschränkungen, diesem Bedauern an, aber es wäre sinnlos, sich diesem Sachverhalt zu verschließen. Ich schränke mein Bedauern insofern ein, als ich nicht glaube, daß das Wohl der Wissenschaft vom Geld allein abhängt. Doch darüber später mehr. W i r werden m i t h i n das Ziel, 3 % des Bruttosozialproduktes, das wären z. Z. etwa 29 Milliarden DM, für Wissenschaft und Forschung auszugeben, nur Schritt für Schritt erreichen. Dabei sei aber zur Vermeidung von Mißverständnissen darauf hingewiesen, daß diese 3 % nicht vom Staat allein, sondern von Staat und Wirtschaft gemeinsam aufzubringen sind. Die Wissenschaft w i r d sich m i t h i n weiter nach der Decke strecken müssen, d. h. sie w i r d nicht alle Wünsche erfüllt sehen, und die staatlichen Stellen werden auch i n absehbarer Zeit nicht allein unter dem Gesichtspunkt des Gewünschten entscheiden können, sondern zumindest auch, vielleicht sogar überwiegend, unter dem Gesichtspunkt des Möglichen. Wie unbefriedigend diese Vorstellung ist, w i r d daran deutlich, daß man m i t durchaus sachlichen Gründen die Ansicht vertreten kann, daß eine Steigerung von 10 % jährlich erforderlich ist, um den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Forschung auch nur zu erhalten. Begründet w i r d dies nicht nur m i t den steigenden Preisen für Personalkosten und den steigenden Preisen für wissenschaftliche Geräte — dies sind Einschränkungen, die i n der einen oder anderen Form jeden

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Bereich treffen —, sondern vor allem damit, daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse nur bei höherem Aufwand möglich sind, jedenfalls i n den Disziplinen, die m i t kostspieligen Apparaturen arbeiten. Das Ein-MannLabor hat der Großforschung Platz gemacht, und selbst wenn es hier und da gelingt, neue wissenschaftliche Erkenntnisse mit verhältnismäßig geringen Mitteln zu gewinnen, so werden zumindest ihre Weiterentwicklung, Auswertung, Nachprüfung und Verbreitung erhebliche Kosten verursachen. Wo ist nun aber die Grenze zu ziehen, an die der Staat stößt, soweit die Wissenschaftsförderung unter finanziellen Gesichtspunkten zu sehen ist? Ist sie objektiv meß- und greifbar, sind 3°/o des Bruttosozialproduktes die optimale Höhe für Wissenschaftsausgaben, würde darüber hinaus sozusagen eine Verschwendung einsetzen, oder werden w i r nicht in wenigen Jahren feststellen, daß diese 3 °/o zu niedrig angesetzt waren? Alle diese Fragen sind offen; erwarten Sie von m i r hierzu bitte keine konkrete Antwort, und ich bezweifle, ob sie überhaupt gegeben werden kann. Denken w i r beispielsweise daran, daß die wesentlich höheren britischen Aufwendungen für Wissenschaft und Forschung, die auch i n der deutschen Publizistik oft als beispielhaft hingestellt wurden, doch offensichtlich nicht den Effekt gehabt haben, den man sich von ihnen versprach. Dafür sind Gründe maßgebend gewesen, die m i t den Finanzen nichts oder nur wenig zu t u n haben. Das gegenteilige Beispiel ist übrigens Japan, wo eine bewundernswerte technologische Entwicklung m i t einem M i n i m u m an gelenkter staatlicher Förderungstätigkeit für die Forschung erzielt ist. Man w i r d sich m i t der Feststellung begnügen müssen, daß die finanzielle Grenze für die staatliche Förderung dort gezogen ist, wo höhere Ausgaben für die Wissenschaftspolitik nicht erreichbar sind, d. h. es ist eine Grenze, die sich nicht aus der Wissenschaft selbst ergibt, sondern aus ihrer Konkurrenz m i t anderen Bereichen staatlichen Handelns. Und ich glaube, man sollte über diesen Umstand nicht dauernd lamentieren; man sollte sich bewußt sein, daß für die Wissenschaft mehr ausgegeben werden muß und daß diese Mehrausgaben auch sinnvollen Projekten und Programmen zugeführt werden müssen, aber man sollte nicht ewig dem Wunsch nachjagen, als ob es auch nur i n der Theorie möglich sei, alle Wünsche der Wissenschaft zu befriedigen. Je eher w i r uns dies vergegenwärtigen, desto eher werden w i r das vernünftige, sachgerechte Instrumentarium geschaffen haben, um Prioritätenentscheidungen zu treffen, und zwar i n eigener Verantwortung der Wissenschaft. Ich muß z. B. ganz ehrlich sagen, um ein m i r bekannt gewordenes Einzelbeispiel herauszugreifen, daß m i r die Finanzierung eines Forschungsvorhabens über die Berufsaspirationen der Bewohner einzelner mittelamerikanischer Städte trotz aller Bedeutung der Entwicklungshilfe i n der Größenordnung von 200 000 D M nicht

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so vordringlich erscheint, wenn andererseits Beträge dieser Größenordnung für wichtige Forschungsvorhaben, beispielsweise der Medizin, fehlen. Sprechen w i r doch einmal ganz ehrlich aus, daß es sinnlos ist, den Versuch zu machen, die Forschungsförderung unter dem Gesichtspunkt eines finanziell ausgewogenen Verhältnisses von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zu sehen. Natürlich bedürfen die Geisteswissenschaften dringend der Förderung, aber die Naturwissenschaften sind einmal erheblich teurer und für die Gesamtentwicklung dringend, so daß sich dies auch i n der Forschungsförderung niederschlagen muß. Dabei nehme ich hier aus dem Bereich der Geisteswissenschaften alle Probleme der Bildungsforschung aus, vor allem soweit sie sich nicht nur auf quantitative, sondern auch auf qualitative Aspekte beziehen. Hiervon hängt für unsere weitere Entwicklung kaum weniger ab als von den Naturwissenschaften. Und dies ist für den Staat meines Erachtens ein legitimes, ja, geradezu notwendiges Kriter i u m für die Forschungsförderung. Bitte unterstellen Sie jetzt nicht, daß ich die Geisteswissenschaften i n ihrer Bedeutung nicht sähe oder vernachlässigte. Aber angesichts der effektiven Kosten, die ein naturwissenschaftliches und technisches Forschungsvorhaben verursachen i m Verhältnis zu denen, die i m allgemeinen i n den Geisteswissenschaften anfallen, erscheinen m i r manche Proportionen zumindest einer sachlichen K r i t i k bedürftig. Ich habe das Gefühl, daß sich hier ein wenig eine deutsche Philosophie in die Forschungsförderungspolitik einschleicht, nämlich die Philosophie, daß das universitäre Leben sich mehr durch den Geist als durch die Naturwissenschaft auszeichne, oder, wie es kürzlich ein Wissenschaftler ausdrückte, daß ein Mann zwar dann als gebildet gilt, wenn er mittelhochdeutsche Texte genau interpretieren kann, aber als „ungeistig", wenn er das Funktionieren eines Computers zu erklären vermag. Diese Einstellung hat i m vergangenen Jahrhundert dazu geführt, daß sich die Technischen Hochschulen neben den Universitäten entwickelt haben, und w i r sollten ähnliche Fehler nicht noch einmal machen. Verstehen Sie aber meinen Hinweis nicht so, als ob ich nun glaubte, die Forschungsförderungsmaßnahmen sollten die Geisteswissenschaften außer acht lassen. Es geht m i r nur u m ein kritisches Durchdenken bisheriger Proportionen. I n diesem Zusammenhang noch einige Worte zu dem Problem der notwendigen gemeinsamen Förderung von Großforschungsvorhaben durch mehrere Staaten. Ihnen allen ist bekannt, daß die Aufwendungen für die Weltraumforschung z.B. so gewaltig sind, daß kein europäischer Staat, für sich allein genommen, es unternehmen könnte, ernsthaft m i t den Vereinigten Staaten oder der Sowjetrepublik i n Konkurrenz zu treten. Hier sorgen internationale Abmachungen dafür, daß die beitrittswilligen Mitglieder der europäischen Völker- und

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Staatengemeinschaft sich zu bestimmten Forschungsvorhaben zusammengeschlossen haben, die — das möchte ich hier ausdrücklich sagen — trotz aller in der Gegenwart teilweise negativen Erfahrungen für jeden von uns so viele Vorteile bieten, daß an dieser Zusammenarbeit unbedingt festgehalten werden sollte. Ein anderes gutes Beispiel ist CERN, die europäische Kernforschungsorganisation i n Genf für den Betrieb großer Beschleuniger. Sie hat bisher für die Hochenergiephysiker Europas eine beachtenswert gut funktionierende internationale Zusammenarbeit gebracht, die noch dazu den Vorteil hat, daß sie auf einem Gebiet stattfindet, das militärisch uninteressant ist, aber der Grundlagenforschung weite Ausblicke bietet. Hier gibt es das neue Projekt eines europäischen Großbeschleunigers m i t einem Investitionsaufwand von über 1 V2 Milliarden — natürlich also ein Vorhaben, das die Finanzkraft eines einzelnen europäischen Staates weit übersteigt. Ein weiteres Beispiel notwendiger und fruchtbarer Betätigung auf dem Gebiet internationaler Zusammenarbeit beim Bau und Betrieb teurer Forschungseinrichtungen bietet die Astronomie, die ja ohnehin durch ihren Gegenstand, die Beschäftigung m i t der Sternenwelt, nicht dazu angetan ist, an den Staatsgrenzen haltzumachen. Die Grenze staatlicher Wissenschaftsförderung ist i m finanziellen Bereich m i t h i n abstrakt zu definieren; sie kann nur langsam und auch nur i n begrenztem Umfang weiter ausgedehnt werden. Dort, wo sie sich als unüberwindbar darstellt, w i r d man i n zunehmendem Maße die begrenzten M i t t e l verschiedener Staaten zusammenlegen müssen. Beispielsweise w a r es für die Bundesrepublik unmöglich, auch nur zu erwägen, ob ein 300 MeV-Beschleuniger m i t Investitionskosten von etwa 1,6 Milliarden D M und späteren laufenden Kosten von etwa 400 Millionen D M allein von uns gebaut werden kann. Es ist notwendig, hierfür M i t t e l mehrerer Staaten zusammenzufassen, u m so mehr — und damit komme ich zu einem zweiten Punkt —, als auch die Personal-Kapazität i m Forschungsbereich nicht unbegrenzt ist, uns vielmehr die Personalknappheit eine weitere Grenzlinie aufzeigt, die z. Z. auf manchen Gebieten noch empfindlicher spürbar ist als der finanzielle Engpaß. W i r befinden uns z. Z. i n der Phase, in der sich die durch den Krieg und seine Folgen empfindlich geänderte Altersstruktur der deutschen Bevölkerung besonders bemerkbar macht. Diejenigen Jahrgänge, die jetzt voll i m Beruf stehen, sind dezimiert. Durch noch so zusammenfassende Maßnahmen kann dieses Manko nicht von heute auf morgen ausgeglichen werden. Natürlich kann man den Beruf des Wissenschaftlers attraktiver machen, und ich glaube, daß auf diesem Gebiet i n den letzten Jahren manches geschehen ist. Es t r i f f t einfach nicht zu, daß der junge Nachwuchs i n Deutschland keine Chance habe, wie kürzlich ein angesehener Wissenschaftler behauptete. Ich finde es i m Gegenteil recht verhängnisvoll, diese Behauptung so pauschal auf-

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zustellen, da sie, besonders aus solchem Munde gesprochen, möglicherweise einen wesentlich höheren Abschreckungseffekt hat, als es die objektiven Umstände rechtfertigen. Aber w i r müssen uns darüber klar sein, daß eine wesentliche Erhöhung des Forschungspersonals z. Z. an anderen Stellen Lücken aufreißen würde und daß diese Lücken irgendwann auch wiederum Rückwirkungen auf die Forschung haben werden. Würde es beispielsweise gelingen, mehr junge Menschen auf wissenschaftliche Arbeit zu lenken, so würde m i t großer Wahrscheinlichkeit der Lehrermangel noch größer werden, und dies würde i n einem späteren Zeitpunkt wiederum zu einer Verminderung zumindest der Qualität, vielleicht aber auch der Quantität des wissenschaftlichen Nachwuchses führen. Es bedarf also auch hier eines Abwägens von Vor- und Nachteilen und des Versuchs, unter den gegebenen Umständen optimale Berufsstrukturen zu entwickeln. Das Bild, das sich auf diesem Gebiet nach einer Erhebung der OECD für die Jahre 1963—1964 bietet, zeigt für die Bundesrepublik erstaunliche Disproportionen. Wenn man das gesamte i n Forschung und Entwicklung tätige Personal berücksichtigt, so ist der Anteil der Bundesrepublik m i t 32 pro 10 000 Einwohner besser als beispielsweise der i n Frankreich (28 pro 10 000) und der Durchschnitt i n den EWG-Staaten (24 pro 10 000). Das B i l d ändert sich aber wesentlich, wenn man nur die Wissenschaftler zählt. Hier liegt die Bundesrepublik m i t 6 pro 10 000 zwar auf dem EWG-Durchschnitt, aber weit hinter den USA (25 pro 10 000), Schweden (22 pro 10 000), Großbritannien (11 pro 10 000) und Japan (12 pro 10 000). W i r können voraussagen, daß w i r wesentlich mehr qualifizierte ausgebildete Naturwissenschaftler und Ingenieure benötigen und daß w i r , bis sie zur Verfügung stehen, manches Forschungsvorhaben deshalb nicht anpacken können, w e i l die wissenschaftlichen Mitarbeiter fehlen und sich daher auch die Investitionsmaßnahmen nicht rentieren. Diese Situation mag sich i n nicht ferner Zeit durch die wesentlich stärkeren Geburtsjahrgänge ändern, die jetzt auf den Universitäten sind, und insofern besteht berechtigte Hoffnung, daß die durch das Forschungspersonal sich zeigende Grenze sinnvoller Förderungsmaßnahmen i n wenigen Jahren nicht mehr so hemmend sein w i r d wie bisher. Finanzielle M i t t e l und die Zahl des wissenschaftlichen Nachwuchses sind quantitative Faktoren, die die staatliche Wissenschaftsförderung begrenzen. Von kaum geringerem Gewicht sind strukturelle Faktoren. Das gilt zunächst für die Förderungsmethoden. Sie wissen, daß die deutsche Wissenschaft stolz darauf ist, daß die Forschungsförderung i n der Bundesrepublik zu einem guten Teil m i t den Methoden wissenschaftlicher Selbstverwaltung betrieben wird. Dem Staat obliegt insoweit die Verpflichtung, die großen Selbstverwaltungsorganisationen m i t Beträgen auszustatten, die es zulassen, daß die von den Selbstverwaltungs-

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Organisationen i n eigener Verantwortung bestimmten Programme und Ziele durchgeführt und erreicht werden können; zugleich obliegt i h m aber auch die Verpflichtung, sich einer Einflußnahme auf die Arbeit der Organisationen zu enthalten, abgesehen von der M i t w i r k u n g einzelner Staatsvertreter i n deren Organen. Ich halte dieses Prinzip für gut, aber es darf nicht dazu führen, daß dem Staat Fesseln auferlegt werden, wenn er sich i n Wahrnehmung seiner Verantwortung solcher Disziplinen annimmt, die bisher m i t den Methoden und Mitteln der Selbstverwaltung gefördert wurden. Ich möchte auch hier ein Beispiel aus der Praxis der jüngsten Vergangenheit bringen. A l l e Verantwortlichen sind sich darüber klar, daß die Meeresforschung eines derjenigen Gebiete ist, das für die zukünftige Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung ist. Ich brauche nur auf die Hoffnungen hinzuweisen, die man sich aus der Nutzung des Meeres als Nahrungsmittelreserve zur Lösung des Problems der Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung macht, oder auf die Hoffnung, wichtige Rohstoffe und Mineralien aus dem Meer und dem Meeresboden zu gewinnen. Seit Jahren w i r d deshalb gefordert, daß auch i n der Bundesrepublik von Seiten des Staates mehr für dieses Gebiet getan wird. Als der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung sich dazu entschloß, gab es erhebliche Schwierigkeiten, w e i l die Selbstverwaltung erklärte, sie habe dieses Gebiet bisher, wenn auch m i t unzulänglichen Mitteln, gefördert und sie erwarte, daß der Staat seine Förderung dadurch intensiviere, daß er der Selbstverwaltung mehr M i t t e l für diesen Zweck zur Verfügimg stelle. Dies ist ein unguter Weg. Naturgemäß sind die staatlichen Zielvorstellungen und Forderungen bei derartig wichtigen, weitgehend auch m i t der technischen Entwicklung zusammenhängenden und auf diese rückwirkenden Forschungsgebiete sehr viel konkreter als i m Bereich der Grundlagenforschung. Man kann hier nicht nur mit den Methoden der Selbstverwaltung arbeiten, sondern muß legitimerweise Planziele aufzeigen, u m i m Rahmen eines abgestimmten Gesamtprogramms den größtmöglichen Nutzen aus den zur Verfügung stehenden M i t t e l n zu ziehen. Es hemmt die Forschung, wenn gegen derartige Pläne des Staates erheblicher Widerstand geleistet und dieser immer wieder mit der Behauptung motiviert wird, die unmittelbare Förderung des Staates gefährde die Freiheit der Forschung. Dies ist u m so verwunderlicher, als gleichzeitig meist auf die USA verwiesen wird, u m zu zeigen, was eigentlich für die Wissenschaft getan werden müßte, und dann nicht bedacht wird, welcher große Anteil der in den USA zur Verfügung stehenden M i t t e l an staatliche Programme gebunden ist. Ich glaube also, daß die Grenze, die sich aus klassischen Prinzipien der Wissenschaftsförderung i n Deutschland hier für die staatliche Wissenschaftsförderung ergibt, weiter gesteckt werden muß, daß also der Staat i n zunehmendem Maße auch unmittelbare Forschungsförderungspro-

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gramme entwickeln muß und sich nicht m i t der Vergabe von Pauschalbeträgen an Dritte begnügen darf. Dies soll das erprobte und bewährte System wissenschaftlicher Selbstverwaltung nicht ersetzen, wohl aber ergänzen. Wie sieht es nun m i t diesen unmittelbaren Forschungsprogrammen des Staates aus? A n zivilen Großprojekten i m Bereich des Forschungsministeriums bestehen bisher oder befinden sich i m Stadium der Entwicklung: 1. die friedliche Nutzung der Kernenergie als eine wichtige Energiequelle der Zukunft. Die Bundesregierung hat i m 3. Atomprogramm für dieses Projekt für den Fünfjahres-Zeitraum von 1968—1972 5 Milliarden D M vorgesehen. 2. Die Weltraumforschung, für die ein Fünfjahres-Programm von 1967 bis 1971 rd. 2 Milliarden veranschlagt, ist für die Bundesrepublik nur i n internationaler Zusammenarbeit denkbar. Zur Bestimmimg ihrer Priorität soll ein kürzlich i n Auftrag gegebenes Gutachten über den wissenschaftlichen, ökonomischen und sozio-ökonomischen Nutzen der Weltraumforschung Unterlagen erbringen. 3. Die Förderung der Datenverarbeitung, die als eine „Schlüsseltechnologie" für die Entwicklung der Technik, insbesondere i n den Bereichen der Automation und des Informationswesens, gesehen werden kann, ist i n der Bundesrepublik auf breiter Basis i n Angriff genommen worden. Sie erstreckt sich auf die Grundlagenforschung und die Heranbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs, auf die Schaffung von Rechenzentren, auf den Bereich der Technologie, auf die Systemprogrammierung von Datenverarbeitungsanlagen und auf die Erschließung neuartiger Anwendungen der Datenverarbeitung, vor allem für die Lösung öffentlicher Aufgaben, z.B. i m Gesundheits- und Bildungswesen und i n der Verwaltung. 4. I m Bereich der Meeresforschung lassen sich wichtige Beiträge zum Problem der Welternährung und der Rohstoffversorgung erwarten. Hier w i r d sich erst nach einer Anlaufperiode des Förderungsprogrammes absehen lassen, welche dringlichen Aufgaben die Bundesrepublik dann lösen kann und muß. Es ist denkbar, daß die geographische Situation unseres Staates eine wesentliche Erweiterung des Förderungsprogrammes nicht zuläßt. Es ist aber ebenso denkbar, daß i m Laufe der nächsten Jahre technische Entwicklungen möglich werden, die der Bundesrepublik auch eine Nutzung der offenen See erlauben. I n diesem Fall müßte m i t einem hohen Finanzaufwand gerechnet werden. Neben diesen bestehenden Programmen läßt sich nun aus dem Katalog dringlicher öffentlicher Aufgaben zur Gestaltung der künftigen

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Umwelt des Menschen die Notwendigkeit für weitere technologische Projekte ableiten, für die Prioritäten ermittelt werden müssen. Lassen Sie mich wenigstens einige andeuten: Hierher gehört vor allem ein Projekt „Verkehrs- und Transporttechnik". Das Verkehrswesen der Zukunft erfordert die Entwicklung moderner Massenverkehrsmittel, vor allem für den Personen-Nahverkehr, die Entwicklung neuer Verkehrswege und Verkehrsmittel für den interregionalen Landverkehr, insbesondere den Güterverkehr, und schließlich muß sich die Bundesrepublik entscheiden, i n welchem Ausmaß sie sich i n der Luftfahrtforschung an zivilen Projekten des Flugzeugbaues beteiligen w i l l . Die hier angeschnittenen technologischen Entwicklungsaufgaben w i r d man nicht losgelöst von den Problemen der Städtesanierung, des Wohnungs- und Siedlungswesens, der Raumplanung und des Schutzes der natürlichen Umwelt des Menschen behandeln können. Als weitere Zukunftsaufgabe kommen Grenzgebiete von Biologie und Technik i n Betracht. Für die Biologie ist i n letzter Zeit wiederholt vorausgesagt worden, daß sie nicht nur als Wissenschaft, sondern auch i n der Anwendung ihrer Erkenntnisse auf die Technik in den kommenden Dekaden eine Entwicklung erleben wird, die man i n ihrer Bedeutung kaum überschätzen und allenfalls m i t der Entwicklung von Kernforschung und -technik i n den vergangenen Jahren vergleichen kann. Für die Planung eines biologisch orientierten, technologischen Projektes lassen sich i m wesentlichen drei Bereiche herausstellen, von deren Bearbeitung Beiträge zur Lösung öffentlicher Aufgaben der Umwelthygiene, der Nahrungsmittelsynthese, der technischen Medizin und auch des Informationswesens zu erwarten sind. Diese Bereiche sind: 1. die Biotechnik, z. B. der Einsatz niederer Organismen für die technischen Prozesse der Proteinsynthese, der Abwässerreinigung, der Luftregeneration, aber auch der Metallgewinnung u. a.; 2. die biomedizinische Technik, z.B. die Entwicklung künstlicher Organe und Organhilfen, die Entwicklung elektronischer Spezialinstrumente für Diagnose, Therapie und Krankenüberwachung; 3. die Bionik, z.B. die modellmäßige Verwendung biologischer Organisationsund Funktionsprinzipien bei der Entwicklung neuer technischer

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Hans von Heppe Systeme und Verfahren und -Simulation).

(akustisches Radar,

Spracherkennung

Bei der Vorbereitung und Planung neuer technologischer Großprojekte muß künftig i n verstärktem Maß auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Staat, Industrie und Wissenschaft Wert gelegt werden, um die Zielsetzungen des Staates, die sich aus den öffentlichen Aufgaben ergeben, m i t den überwiegend wirtschaftlichen Zielen der Industrie und den Erfordernissen der Wissenschaft abzustimmen. Das Thema, das ich behandele, sieht den Staat als Einheit I n der Bundesrepublik haben w i r aber aufgrund unserer Verfassung sowohl den Bund als auch die 11 Länder als Träger und Verantwortliche der staatlichen Wissenschaftsförderung. Auch hierdurch ergeben sich Grenzen staatlicher Wissenschaftsförderung, und zwar sowohl für den Bund als auch für die Länder. Die Grenzen des Bundes sind durch das Grundgesetz verhältnismäßig eng gezogen. Er hat nur die konkurrierende Gesetzgebung für die Förderung der wissenschaftlichen Forschimg und damit nicht ohne weiteres das Recht, auf diesem Gebiet auch verwaltend tätig zu sein. Von seinem Gesetzgebungsrecht hat er noch keinen Gebrauch gemacht, vielleicht ein Versäumnis, das zu manchen Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Wissenschaftsförderung m i t beigetragen hat. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß das Fehlen eines Forschungsförderungsgesetzes der dynamischen Entwicklung der Forschungsförderungstätigkeit des Bundes bisher zugute gekommen ist und daß ein solches Gesetz, wann auch immer es beschlossen werden mag, der A k t i vität des Bundes i n irgendeinem Zeitpunkt Beschränkungen auferlegen kann, die vielleicht zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes begründet und berechtigt sein mögen, aber morgen und übermorgen vielleicht schon nicht mehr. Gehen w i r von der bisherigen Praxis aus, so ergibt sich etwa folgende Arbeitsteilung: Der Bund fördert die Infrastruktur der Wissenschaft durch die Beteiligung am Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen, ferner die Tätigkeit der großen Selbstverwaltungsorganisationen und nimmt sich vor allem unmittelbar der Großforschung, d.h. der Atomforschung, der Weltraumforschung, der Datenverarbeitung und neuerdings der Ozeanographie, an. Diese Kompetenz für die Großforschung w i r d dem Bund von den Ländern i m Rahmen der Finanzverfassungsreform ausdrücklich zugestanden werden. Sehr wichtig für die Förderungstätigkeit des Bundes werden die i m Zuge der Finanzreform m i t den Ländern verabredeten und vorbereiteten Grundgesetzänderungen sein. Einmal soll der Ausbau und die Neugründung wissenschaftlicher Hochschulen zur Gemeinschaftsaufgabe von

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Bund und Ländern erklärt werden, wobei dem Bund ein gesetzlich festgelegtes und umschriebenes Mitspracherecht i n Form der Rahmenplanung bei diesen Maßnahmen zugestanden würde. Die Kostenbeteiligung durch den Bund beträgt bei diesen Investitionen 50 °/o. Zum anderen soll i n die Verfassung eine Bestimmung kommen, die den Bund berechtigt, mit einzelnen oder mehreren Ländern Verwaltungsvereinbarungen zur Förderung von Einrichtungen und Vorhaben von überregionaler Bedeutung abzuschließen. Die Aufteilung der Kosten w i r d fallweise geregelt. Damit ist ein weites neues Feld einer legitimen Betätigung geschaffen, die die Forschungsförderungstätigkeit des Bundes eröffnet, die bisher i m wesentlichen durch Verwaltungsvereinbarungen oder stillschweigend m i t Zustimmung der oder des Betreffenden ausgeübt worden ist. Dem Bund bleibt aber gegenwärtig formal nach wie vor ein großer Bereich wissenschaftlicher Disziplinen verschlossen. Vor allem kann er ohne Widerstand der Länder keine eigene Forschungskapazität auf Gebieten außerhalb der Großforschung aufbauen, soweit sie nicht i n unmittelbarem Zusammenhang mit dem gesetzlichen Auftrag seiner Ressorts stehen. Die Biologie etwa, deren nachhaltige Förderung durch den Bund immer wieder gefordert wird, ist ihm, streng genommen, z. Z. noch verfassungsrechtlich verschlossen; allenfalls ist ihre indirekte Förderung durch den Ausbau der Hochschulen und durch die Vergabe von Mitteln an die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die MaxPlanck-Gesellschaft möglich. Dies sind nicht nur juristische Spitzfindigkeiten, sondern höchst alltägliche Fragen. Die Länder befürchten — teilweise nicht zu Unrecht —, daß eigene Förderungsmaßnahmen des Bundes auf diesen Gebieten und insbesondere der Auf bau eigener Forschungskapazitäten langsam aber sicher zu einer Abwanderung moderner Disziplinen aus den Hochschulen führen würde, eine Entwicklung, die auch der Bund nicht w i l l und nicht zulassen dürfte. Darüber hinaus spielen hier selbstverständlich auch grundsätzliche finanzverfassungsrechtliche Probleme eine Rolle. Die Länder erklären, der Bund benötige für seine i h m wirklich zugewiesenen Aufgaben keineswegs einen so hohen Anteil am Steueraufkommen, wie er ihn fordert. Er möge den Ländern ihre Aufgaben und damit auch das Geld belassen. Die Wirkungsmöglichkeiten überregionaler Forschungsförderung durch den Bund sind dadurch nicht unwesentlich begrenzt. Ich möchte schließlich noch auf eine letzte Grenze staatlicher Wissejischaftsförderung zu sprechen kommen. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben nahezu allen Staaten heute Massenvernichtungsmittel an die Hand gegeben, die, wenn sie angewandt werden, den Segen der Wissenschaft vergessen lassen können. W i r tun oft so, als ob dies nur ein theoretisches Problem sei. Aber wenn man die Mittel moderner Kriegs-

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führung auch i n den begrenzten Konflikten i m vergangenen Jahr i m Vorderen Orient oder i n Vietnam betrachtet, so muß einen ganz unabhängig von der politischen Wertung dieser Kriege ein Grauen überkommen. Soll der Staat auch weiterhin eine Forschung fördern, die Umfang und Gewalt solcher Vernichtungsmittel potenziert? Ich weiß, daß diese Frage heute noch mit einem recht klaren „Ja" beantwortet wird, w e i l man glaubt, daß die Selbstverteidigungspflicht und das Selbstverteidigungsrecht eines Staates dies erfordern. Aber wäre es nicht von Nutzen für die ganze Menschheit, wenn die Staaten sich auf diesem Gebiet selbst Grenzen auferlegen und bewußt davon absehen würden, derartige Forschungen zu unterstützen? Ähnliche moralische Fragen stellen sich auch auf dem Gebiet der Biologie. Soll man dem Drang nach wissenschaftlicher Kenntnis ungezügelt Raum lassen, wenn sie darauf abzielt, den Menschen zu verändern, das Gehirn zu vergrößern, Charaktereigenschaften zu töten oder zu entwickeln? Ich kann hierauf keine A n t w o r t geben, weil es i n der heutigen Gesellschaft eine klare Antwort auf diese Frage noch nicht geben kann. Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort zu der Frage sagen, m i t welchen Methoden Entscheidungen über die hier zur Diskussion gestellten Probleme zu treffen sind. Den staatlichen Stellen fehlt weitgehend der Sachverstand, um bestimmte Fragen i n eigener Verantwortung entscheiden zu können. Es ist auch unmöglich, das Forschungsministerium so auszubauen, daß es diese sehr breit verstreuten Sachverstände i n allen Einzelheiten selbst i m Ministerium bereithalten kann. Auch dem Wachstum jedes Ministeriums sind organisch und strukturell Grenzen gesetzt, und man tut gut daran, vor Übernahme neuer Aufgaben sorgfältig zu fragen und zu prüfen, ob die richtigen und qualifizierten Fachkräfte auch vorhanden sind, um diese Aufgaben wahrzunehmen. Wie dem auch immer sei, w i r können i n keinem Fall den erforderlichen Sachverstand allein i m Ministerium konzentrieren, sondern müssen versuchen, diesen Mangel i n zunehmendem Umfang durch ein vielfältiges und wohldurchdachtes System wissenschaftlicher Beratung auszugleichen. Das Forschungsministerium ist diesen Weg bei seiner ersten Feuerprobe, der Atomforschung, m i t Erfolg über die „Deutsche Atomkommission" gegangen und hat versucht, auf den anderen Gebieten staatlicher Förderungstätigkeit ähnliche Beratungsgremien sich zu schaffen, so die „Deutsche Kommission für Weltraumforschung", den „Fachbeirat für Datenverarbeitung" und künftig auch die neue „Deutsche Kommission für Ozeanographie". Daneben gibt es die vorhandenen und bewährten Einrichtungen der wissenschaftlichen Selbstverwaltung, wie den Wissenschaftsrat, die Rektorenkonferenz, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die MaxPlanck-Gesellschaft.

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Als zusammenfassende und gemeinsame Klammer und übergeordnetes Gremium schließlich ist vor einigen Monaten der „Beratende Ausschuß für Forschungspolitik" ins Leben gerufen worden, der vor allem die Aufgabe hat, die Arbeit der einzelnen Gremien zu koordinieren, Schwerpunkte und Prioritäten festzusetzen und übergeordnete wissenschaftspolitische Entscheidungen vorbereiten zu helfen. Aber w i r sehen uns bei all diesen Betrachtungsgremien vor einem neuen Konflikt: die Wahrnehmimg der politischen Verantwortung ist ohne wissenschaftliche Beratung nicht mehr möglich, umgekehrt kann und darf die wissenschaftliche Beratung die politische Verantwortung aber auch nicht ersetzen. Gerade auf dem Gebiet der Wissenschaftsförderung befinden w i r uns daher tagtäglich in einer Situation, die der berüchtigten Gutachterprozesse vergleichbar ist: die Entscheidung ist jemandem übertragen, der sich die Grundlage seiner Entscheidungen erst mühsam und nur mit Hilfe anderer erarbeiten kann. Dies macht vielleicht die ganze Schwäche unseres Systems verständlich; Versäumnisse w i r d man uns deswegen aber auch i n Zukunft nicht billig abnehmen. Meine Damen und Herren! Hier möchte ich abbrechen. Ich habe versucht, an den Grenzen der Forschungsförderung durch den Staat den Inhalt, die Vielfalt und das richtige Maß der Aufgabe wenigstens anzudeuten. Vieles blieb dabei notgedrungen skizzenhaft. Wenn es m i r dennoch gelungen sein sollte, Ihnen ein wenig von der Größe und Schwierigkeit dieser Aufgabe, aber auch von dem Reiz, zu vermitteln, ist der Zweck meiner Ausführungen erfüllt.

Technik und Gesellschaft im Jahre 2000 /

Von Prof. Dr. K a r l Steinbuch, Karlsruhe Vorbemerkungen Meine Überlegungen beanspruchen nicht, vollständig zu sein, und beanspruchen auch keine Autorität: Sie sollen also nicht geglaubt, sondern — nach Möglichkeit — wohlbegründet kritisiert werden. Aussagen über die Zukunft sind immer unsichere Aussagen. Wer behauptet, sichere Aussagen über die Zukunft machen zu können, ist nicht ernst zu nehmen. Es w i r d davon ausgegangen, daß die Technik i n den kommenden Jahrzehnten die Ursache stärkster Veränderungen sein wird, die Technik aber nicht der Zweck des Geschehens sein darf. Diese Überlegungen sind ausgesucht nach dem Gesichtspunkt, was w i r hier und jetzt bedenken müssen, wenn w i r i n Politik, Wissenschaft und Technik zweckmäßige Entscheidungen treffen wollen. Überlegungen zum Jahre 2000 setzen geistige Beweglichkeit voraus; man muß bereit sein, Vorurteile zu überwinden. Erinnern w i r uns beispielsweise an Vorurteile, die einst ex cathedra verkündet wurden: „Pferdelose Wagen sind unmöglich", „Fliegen schwerer als L u f t ist immöglich", „Verlassen der Erdanziehung ist unmöglich" usw. Glaube niemand, solche Vorurteile seien Zeichen vergangener Zeiten! Wieviel Eloquenz w i r d beispielsweise heutzutage auf den Nachweis verwandt, daß Automaten dieses und jenes niemals können werden, z. B. niemals Zeichen erkennen, niemals lernen und so weiter. Nur die Objekte der Vorurteile wandeln sich, unverändert bleiben jedoch die Vorurteile als solche. Das Argument „Ich kann m i r dieses nicht vorstellen!" hat bei Diskussionen über die Zustände i m Jahre 2000 kein Gewicht. Wenn w i r unsere gegenwärtigen Lebensformen einem kaiserlichen Geheimrat vor 66 Jahren beschrieben hätten, dann hätte er wohl auch gesagt: „Dies kann ich m i r nicht vorstellen!". Vermutlich werden sich aber unsere Lebensumstände i n den nächsten 33 Jahren stärker als i n den letzten 66 Jahren verändern. Wenngleich es recht sicher ist, daß uns die Zukunft Unvorstellbares bringt, hat doch nicht jedes Vorgestellte die Zukunft für sich. Die Mehr-

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zahl der unverstandenen Entdecker, Erfinder und Propheten sind nicht Boten der Zukunft, sondern Irrende. Die entscheidende intellektuelle Leistung ist nicht die Produktion phantastischer, unglaublicher Ideen, sondern deren kritische Selektion. 1. Der weltpolitische Rahmen Unsere Überlegungen sollen den Fall ausschließen, daß die menschliche K u l t u r durch einen Großkrieg mit Atomwaffen vernichtet oder auf eine primitive Stufe zurückgeworfen wird. Die Weltbevölkerung wächst jährlich um etwa 2—2,5 %. B i l d 1 zeigt ihren weiteren Verlauf unter der Voraussetzung, daß die Wachstumsrate bei nur etwa 1,8 °/o p. a. bleibt. I m Jahre 2000 werden etwa 6 M i l liarden Menschen leben. Die Schätzungen, wieviele Menschen m i t den heute bekannten Methoden der Nahrungsmittelproduktion ernährt werden können, divergieren stark, glaubwürdig ist etwa 30—50 M i l liarden. Praktisch zeigt es sich jedoch, daß ein großer Teil der Erdbevölkerung schon heute unterernährt ist und daß es bisher nicht gelang, die Produktionsmöglichkeiten der Erdoberfläche auszunutzen. Dem erwähnten Bevölkerungswachstum von etwa 2—2,5 °/o steht eine mittlere jährliche Steigerung der Nahrungsmittelproduktion von nur etwa 1 °/o gegenüber. U m diese mittlere Steigerung ergeben sich starke Schwankungen bis h i n zu katastrophalen Mißernten. Deshalb werden bis zum Jahre 2000 mehrere hundert Millionen Menschen verhungern. Hungerkatastrophen dürften die Realitäten der Weltpolitik viel stärker bestimmen, als w i r es uns gegenwärtig vorstellen können. Deprimierend ist, daß realisierbare Methoden zur Abwendung dieser Hungersnöte nicht genutzt werden: Ausdehnung der Nutzfläche, Bewässerung, Schädlingsbekämpfung, Sortenwahl, Düngung, Rationalisierung des Ackerbaus, Meeresfarmen usw. Es zeigt sich, daß — besonders i n Indien — viele Voraussetzungen fehlen, u m durch Anwendimg solcher Techniken gegen die Hungersnot anzugehen. Eine Repräsentativbefragung unter der indischen Bevölkerung ergab, daß die meisten (etwa 80 °/o) entweder nicht glauben oder nicht wünschen, daß durch Anwendung technischer M i t t e l die Not gemindert wird. Illustriert w i r d diese Situation nicht nur durch die Existenz von etwa 100 Millionen heiliger Kühe, sondern auch durch die Weigerung, Ratten zu töten, den ungewohnten Weizen oder ungeschälten Reis zu essen oder auch durch die verrostenden Landmaschinen. Bei genauer Betrachtung erweist sich die Entwicklungshilfe primär gar nicht als ein Problem der materiellen Mittel. Erst wenn Motivation und materielle M i t t e l zusammenpassen, ist ein Erfolg zu erwarten. 17 Tagung Dortmund 1968

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Nach neueren Einsichten kann der Nahrungsmittelbedarf nicht einfach nach Kalorien gemessen werden. Es kommt vor allem auch auf den Gehalt an Proteinen und deren Zusammensetzung an. Von den etwa zwanzig Aminosäuren, welche der menschliche Körper braucht, kann er etwa zwölf synthetisch herstellen, die anderen müssen i n der Nahrung enthalten sein. Dies begründet den höheren Wert tierischen Proteins gegenüber pflanzlichem Protein. Beträchtliche Reserven an tierischem Protein enthält vor allem das Meer — und hier besonders die südliche Erd-Halbkugel. Gegenwärtig sind jährlich etwa 20 Millionen Tonnen reines Tierprotein verfügbar (17 Millionen Tonnen aus der Landwirtschaft und 3 Millionen Tonnen aus dem Meer), gebraucht werden aber 34 Millionen Tonnen.

wo ooo -

Weltbevölkerung in Millionen

so ooo Vermutete Grenze der ErnahrbarkeJt (30000 - 50000 Millionen)

20000

wooo sooo -

! 1,8 X pro Jahr )

/ 2000

-

1000

-

/

500 4"

wo

1500

T.H.Karlsruhe Nachrichten Verarbeitung

1600

1700

1600

1900 2000

2100 2200 2300 —• Jahreszahl

Extrapolierte Entwicklung der Weltbevölkerung, vermutete Grenze1964 - Z/8 der Ernahrbarkeit und Prognose. Bildl

Technik und Gesellschaft im Jahre 2000

259

Die Forschung konzentriert sich gegenwärtig auf die Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktivität und tendiert dazu, die Alternativen zu übersehen. Ein entscheidender Durchbruch ist allerdings sichtbar: die Erzeugimg von Einzeller-Protein aus Petroleum / 10, Beitrag E. Jantsch/. I n B i l d 1 wurde die Erdbevölkerung m i t der sehr vorsichtigen Wachstumsrate von 1,8 % pro Jahr extrapoliert und ergab etwa 35 Milliarden i m Jahre 2100. Wenn es tatsächlich so weitergeht, dann werden Stadtgebiete m i t hundert Millionen Menschen entstehen und Bevölkerungsdichten, wie w i r sie gegenwärtig i n Hongkong beobachten können. Umstritten ist, ob dann bei Menschen ähnliche biologische Regelungen einsetzen, wie sie beispielsweise bei Ratten beobachtet wurden, die sich oberhalb einer gewissen Dichte nicht mehr vermehren; Nach unseren heutigen Vorstellungen ist unter solchen Verhältnissen kein „menschenwürdiges" Leben mehr möglich. Aber es muß damit gerechnet werden, daß die Vorstellungen sich ändern. Die Produktion ausreichender Mengen an Nahrungsmitteln gelingt nicht wegen menschlicher Mängel. Die Chancen, rasch wieder die weitere Zunahme der Erdbevölkerung zu stoppen, ist ebenfalls durch menschliche Eigenschaften verhindert. Obwohl die Geburtenbeschränkung i n unserer Zeit perfektioniert wurde, ist eine rasche Wirkung noch nicht abzusehen. Viele Menschen erreicht diese Möglichkeit überhaupt nicht, und viele andere werden durch bestimmte Moralvorstellungen an ihrem Gebrauch gehindert. Besonders kritisch erscheint die Situation i n Südamerika: Solange die katholische Kirche sich nicht für wirksame Geburtenkontrolle ausspricht, sind hier die Chancen sehr schlecht. Der weltpolitische Rahmen w i r d i n Zukunft vermutlich weniger durch Spannungen zwischen Ost und West bestimmt sein (die sich — abgesehen von China — immer mehr angleichen werden) als vielmehr zwischen Nord und Süd. „Nord" steht hier hauptsächlich für die hochindustrialisierten Länder, wie USA, Europa, Rußland, Japan. „Süd" sind die vielen anderen Länder, deren Industrialisierung und Organisation noch kein konkurrenzfähiges Mitspielen am internationalen Austausch ermöglicht. Hierbei zeigen sich drei Tatbestände sehr deutlich: 1. Der ökonomische Abstand zwischen „Nord" und „Süd" w i r d i n unserer Zeit nicht kleiner, sondern immer größer. 2. China paßt weder i n das Ost-West-, noch i n das Nord-Süd-Schema. Angesichts seiner großen Population stellt es einen beträchtlichen Unsicherheitsfaktor der Weltpolitik dar. 3. Die Konkurrenzfähigkeit hängt nur wenig von den materiellen Ressourcen ab, sondern von der Anpassung an moderne Methoden. 17*

260

Karl Steinbuch Erziehung erweist sich als diejenige menschliche Aktivität, welche langfristig die größte Rendite erzielt.

I m weltpolitischen Rahmen ist i n übersehbarer Zeit kein Mangel an verfügbarer Energie zu erwarten. Die politische Bedeutung der meisten Bodenschätze nimmt durch die zunehmende Austauschbarkeit ab. Einige Länder ohne nennenswerte Naturschätze, allen voran Japan, haben neuerdings ein ökonomisches Wachstum, welches dasjenige von Ländern m i t reichen Naturschätzen übersteigt. Diese Länder haben die menschlichen Produktivkräfte besonders intensiv entwickelt. Dieser neue Weg zu ökonomischem Wachstum geht über Investitionen i n Erziehung, i n den kommunalen Aufbau, i n industrielle Organisationen und Übernahme neuer Techniken; dazu die Entwicklung von Lebensformen, die Energie, Zeit und Materialien sinnvoll und sparsam nutzen. Der Aufbau des Wohlstands erfordert Zentralen (Stadtkerne), die in dauerndem informationellen Kontakt miteinanderstehen. Kapitalistische und sozialistische Staatsformen haben beide bewiesen, daß sie ökonomisches Wachstum organisieren können. Die Sowjets brauchen relativ mehr Energie für dieselbe Produktion und haben auch größere Schwierigkeiten bei der Nutzbarmachung von Bodenschätzen, sie haben aber andererseits viel sinnlosen Verbrauch vermieden. Die Bevorzugung privaten oder sozialen Eigentums der Produktionsmittel und des Bodens scheint ziemlich bedeutungslos zu sein, wesentlich für irgendeine moderne Wirtschaft ist ausschließlich das Vorhandensein eines informierten und aktiven Managements /10, Beitrag R. L. Meier/. Die menschlichen Produktivkräfte müssen immer mehr als ein Repertoir wirkungsvoller Routinen und Konzepte angesehen werden, welche die Mitglieder der Gesellschaft beherrschen. Je reichhaltiger dieses informationelle Repertoir ist, desto erfolgreicher ist die Gesellschaft. Investitionen für menschliche Produktionsfaktoren sind mehr kommunikations-intensiv als andere Investitionen i n der Industrie. Sie sind letztlich auch produktiver. Die Verteilung von Investitionen hat sich beträchtlich verschoben, und zwar i n Richtung auf Ausgaben für Erziehung und Information. Die Länder, welche diese Verschiebung vornahmen, hatten großen Erfolg damit. Durch mehrere neuere Publikationen (siehe z.B. /13, 14/) wurde die Öffentlichkeit gewahr, daß die meisten Staaten Europas gegenüber einigen hochtechnisierten Staaten, vor allem den USA, aber auch der UdSSR und Japan, eine zunehmende „technologische Lücke" aufweisen. Besonders J. J. Servan-Schreiber betonte ausdrücklich, daß diese tech-

Technik und Gesellschaft im Jahre 2000

261

nologische Lücke keine Geldfrage ist. Einige Zitate aus seinem Buche mögen zeigen, daß er sie als Folge einer geistigen Fehlhaltung ansieht: „Unsere Universitäten befinden sich i n einem Zustand der Verkalkung, i n einer dramatischen Unterlegenheit, und w i r haben die größten Schwierigkeiten, sie zu reformieren. So ist das vor uns liegende Problem ein Problem der Umgestaltung unseres gesamten Systems: der Unternehmen, der geistigen Arbeit, der Schule, der Forschung" /14, Seite 194 /. „Unsere Probleme lassen sich also auf ein einziges reduzieren, nämlich die Umwandlung der tief verkalkten europäischen Gesellschaftssysteme, die alle Mühe haben, sich Neuem zu öffnen." „Es liegt nicht mehr i n den Zahlen, sondern i n den Geistern" /14, Seite 197 /. 2. Technische Veränderungen Technische Voraussagen sind Voraussetzung zweckmäßiger Entscheidungen i m Bereiche der industriellen Planung, der Wissenschaftsplanung und der Politik. Technische Voraussagen sind ebenso wie alle anderen Voraussagen m i t Unsicherheiten behaftet, jedoch scheinen technische Prognosen m i t größerer Wahrscheinlichkeit möglich als beispielsweise Prognosen menschlichen Verhaltens. Die bessere Voraussagbarkeit ist vor allem durch die langen Entwicklungszeiten und großen Investitionen begründet, welche bedeutungsvollen technischen Innovationen meist vorausgehen. Wer die Arbeit der Forschungslaboratorien genau kennt und weitsichtig extrapoliert, der kann manche technischen Voraussagen machen. Zweifellos wäre einst das Aufkommen der Atomtechnik, der Computertechnik und der Raumfahrttechnik bei Kenntnis aller Forschungsaktivitäten und unvoreingenommener Beurteilung voraussagbar gewesen. Bei technischen Voraussagen spielt manchmal ein Begriff eine Rolle, nämlich der sogenannte „Hahn-Strassmann-Punkt". Nach den Experimenten von Otto Hahn und Fritz Strassmann i m Dezember 1938 konnte m i t einer gewissen Weitsicht die folgende Entwicklung der Atomtechnik vorausgesagt werden. .Auch bei anderen technischen Entwicklungen ist der „Hahn-Strassmann-Punkt" erkennbar. Beispielsweise hätte man spätestens i m Jahre 1941 nach K . Zuses erstem Computer erkennen müssen, daß hier etwas Neues entsteht, was die technische Entwicklung grundlegend verändert. Als „Hahn-Strassmann-Punkt" der Raumfahrt kann w o h l der Start des ersten „Sputnik" i m Jahre 1957 angesehen werden. Es sei hier

Karl Steinbuch

262

erwähnt, daß i m US-Kongreßausschuß für Wissenschaft und Weltraumfahrt vorgeschlagen wurde, ein „Frühwarnsystem" zur kritischen Beurteilung neuer technischer Entwicklungen zu organisieren. Welche Innovationen werden gefördert, und welche werden nicht gefördert? Hier zeigt sich zwischen den westlichen und östlichen Industriegesellschaften eine wenig ehrenwerte Ubereinstimmung: Gefördert werden solche Innovationen, die entweder militärische Überlegenheit begründen, oder ökonomisch vorteilhaft sind oder das nationale Prestige heben. Geringe Chancen haben i n Ost und West solche Innovationen, die nur (!) der menschlichen Wohlfahrt dienen, beispielsweise Blindenlesegeräte. A n ihrer Entwicklung w i r d deshalb weder i m Osten noch i m Westen m i t einem sinnvollen Aufwand gearbeitet.

1970

Meerwasser - Entsalzung Synthetische

wirtschaftlich

Baustoffe für ultraleichte

Bauweise

Luftverkehrsüberwachung durch Verfolgen aller Zuverlässige Wettervorhersage Direkte Verbindung zwischen Geschäften und Verbreitete Verwendung von Lehrautomaten Vollautomatische Bibliotheken

1980

Zentrale

Flugzeugbewegungen Banken

Informationsbanken

Organprothesen

Kontrollierte

( Plastik und Elektronik )

thermonukleare

Energie

Bergwerksmäßiger Abbau von Meeres-Bodenschätzen Vollautomatische Steuererhebung 1990

Begrenzte Wetter kontrolle Protein - Synthese wirtschaftlich Immaterielle

Zustellung

von

Verunreinigung von Luft und Automatische Abstimmungen

2000

Möglichkeit, Defekte durch

Zeitungen

Wasser

Eingriffe

und

Briefen

beseitigt

in die Erbsubstanz zu korrigieren

Bild 2. Erwartete Innovationen

Technik und Gesellschaft im Jahre 2000

263

B i l d 2 gibt eine Ubersicht über einige wichtige bis zum Jahre 2000 zu erwartende Innovationen. Sie wurden überwiegend aufgrund der Publikationen von Olaf Helmer von der R A N D Corporation zusammengestellt I i i . Diese Voraussagen entstanden durch Befragen einer Anzahl von Experten und durch Konfrontation widersprüchlicher A n sichten. Die bisherigen Methoden der Voraussage wissenschaftlich-technischer Innovationen sind — nüchtern betrachtet — nichts anderes als „Educated Guess", also etwa „sachverständige Abschätzung". Man kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer beurteilen, ob dieser unbefriedigende Zustand der Prognosetechnik langfristig so bleiben muß. Vier Gesichtspunkte seien ausdrücklich vermerkt: a) Die Geschwindigkeit, m i t der technische Innovationen aufeinanderfolgen, w i r d immer größer. Einerseits w i r d der A n t e i l der i n Forschung und Entwicklung tätigen Menschen immer größer, andererseits steigt deren Effizienz durch die Anwendung technischer Mittel, besonders durch Computer. b) Wenn die zukünftige technische Entwicklung i n wünschenswerten Bahnen verlaufen soll, dann muß sie geplant werden. Unter Planimg sei hier mindestens verstanden, daß man die Wünschbarkeit oder Unwünschbarkeit technischer Innovationen vorausschauend analysiert, daß man die M i t t e l i n Übereinstimmung m i t den Bedürfnissen der Gesellschaft einsetzt und politische Entscheidungen m i t der technischen Entwicklung abstimmt. c) Gesellschaftsstrukturen müssen eine gewisse Stabilität aufweisen. Solange die Lebensformen sich nur relativ langsam veränderten, konnte eine A r t „statischer" Stabilität" verwirklicht werden. A n gesichts der immer rascheren Veränderungen der Lebensformen muß eine andere A r t Stabilität, eine „dynamische" Stabilität", angestrebt werden: W i r müssen Gesellschaftsstrukturen suchen, die bei rasch veränderlichen Lebensformen stabil sind. d) U m die Bedingungen einer wünschbaren menschlichen Existenz realisieren zu können, müssen solche politischen Verhältnisse angestrebt werden, welche den Zwang zum unbegrenzten technischen Fortschritt aufheben. Der zunächst zweifellos utopische Gedanke einer „Weltregierung" ist möglicherweise das einzige realisierbare Prinzip, welches dieses leisten könnte. 3. Zukünftige Informationstechniken Das neunzehnte Jahrhundert w a r geprägt durch die Kraftmaschinen, vor allem durch die Dampfmaschine und den Elektromotor. Das vor uns

Karl Steinbuch

264

liegende letzte Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts w i r d m. E. vorwiegend geprägt durch die Informationstechnik: Das Fernsehen, die Nachrichtensatelliten, die Computer und die Lehrmaschinen. N u r kurz erinnert sei an die Perfektionierung existierender Techniken, wie z. B. das Farbfernsehen, das dreidimensionale Fernsehen, das drahtlose Telefon usw. I n Zukunft werden die Menschen der Industriegesellschaften nicht nur über mehr materielle Güter und über mehr Energie verfügen, sondern auch über sehr viel mehr Information. Der Besitz an Wissen w i r d m i t unvorstellbarer Geschwindigkeit zunehmen, Informationen über Vorgänge an entferntesten Orten werden durch Telegrafie, Fernsprecher und Fernsehen überallhin transportiert werden, diese werden i n Computern miteinander verknüpft und auf ihre Wirkung analysiert, das gesamte Wissen w i r d i n großen, allen Menschen zur Verfügung stehenden Informationsbanken gespeichert sein. Jahr 1970

1975

1980

• 50.000 Computer

In

Betrieb

Automatischer Nachweis juristischer Informationen Lehrautomaten im allgemeinen Gebrauch Vollautomatische Büchereien Spracherkennende Computer Handschrifterkennende Computer . Informationsbanken Automatische Luftbildauswertung

1985 •

Automatische medizinische Diagnose Automatische Sprachübersetzung Elektronische Prothesen Automatische Besteuerung

1990 - .

Immaterielle Zustellung von Zeitungen und Briefen

1995 - .

Automatische Abstimmung und Gesetzgebung

2000 -

Bild 3. Erwartete Innovationen der Informationstechnik B i l d 3 zeigt die wichtigsten Innovationen der Informationstechnik. Die Zeitangaben sollten hierbei m i t einer gewissen Großzügigkeit verstanden werden. Vermutlich die spektakulärsten Fortschritte w i r d die Computertechnik machen: Die Computerindustrie ist i m Jahre 2000 möglicherweise

Technik und Gesellschaft im Jahre 2000

265

der Industriezweig m i t dem größten Umsatz, vermutlich noch vor der Automobilindustrie und der Bauindustrie. Es w i r d kaum mehr I n dustrieprodukte geben, i n welche Computer nicht hineingewoben sind, etwa so, wie das Nervensystem i n Organismen hineingewoben ist. Es w i r d weder Werkzeugmaschinen, noch Fahrzeuge, noch Belehrungstechnik, noch Bürotechnik, noch wissenschaftliche Forschung, noch technische Entwicklung, noch sonst irgendeinen Bereich produktiver Tätigkeit geben, der nicht die Computertechnik intensiv benutzt. Die Konkurrenzfähigkeit einer Gesellschaft w i r d sehr stark durch die Leistungsfähigkeit ihrer Computerindustrie bestimmt sein. Computer werden i m sozialen Bereich vielfach benutzt, beispielsweise zum Nachweis juristischer Informationen, zur Flugbuchung und Flugüberwachung, für die Einwohnerregistratur, für Dokumentationen und Büchereien. Es w i r d üblich sein, mit dem Computer unmittelbar schriftlich — teilweise auch sprachlich — Informationen auszutauschen. Die Computer werden ein flexibles Verhalten zeigen, sie passen sich den jeweiligen äußeren Gegebenheiten optimal an. Nach diesen stetigen Fortschritten der Informationstechnik seien nun drei Innovationen ausführlicher diskutiert: a) Informationsbanken, b) Anwählbare Lehrprogramme, c) Immaterielle Zustellung von Zeitungen und Briefen. a) Informationsbanken Als „Informationsbank" sei ein Spezialcomputer bezeichnet, der eingehende Informationen klassifiziert, komprimiert und abspeichert, und diese auf Anfrage wieder ausgibt (Bild 4). Sie soll von nahen und fernen Quellen Informationen empfangen und an nahe und ferne Empfänger Informationen liefern und so das verwirklichen, was früher als „Enzyklopädie" bezeichnet wurde, nämlich das gesamte Wissen einer Zeit geordnet zur Verfügung stellen. Sie unterscheidet sich von früheren Enzyklopädien dadurch, daß sie stets auf dem neuesten Stand ist und die gewünschte Information in Sekundenbruchteilen zur Verfügung steht, also innerhalb des Zeitraumes, i n dem die meisten Entscheidungen getroffen werden müssen. Dieses schnell verfügbare U n i versalwissen w i r d die gesellschaftliche und politische Praxis stärker verändern, als es irgendeine Enzyklopädie jemals vermochte. Informationsbanken werden nicht nur örtlichen Informanten und Verbrauchern zur Verfügung stehen, sondern auch räumlich entfernten, welche durch Fernschreibverbindungen oder Datenübertragungsanlagen angeschlossen sind. Hierfür w i r d auch die automatische Spracherken-

266

Karl Steinbuch

nung, Spracherzeugung und Sprachübersetzung benutzt werden, so daß auch fremdsprachige Anfragen beantwortet werden können.

Vermutlich werden solche Informationsbanken für bestimmte Sachgebiete aufgebaut werden, z.B. für die Polizei, für den Wetterdienst, für technische Auskunfteien einschließlich Patentwesen, für die Medizin und für das Rechtswesen (z. B. Auskünfte über Gesetze, Verordnungen und höchstrichterliche Entscheidungen). Wenn auf lange Sicht die Funktion der Einwohnermeldeämter, Finanzämter und der Geldwirtschaft durch solche Informationsbanken übernommen werden, dann muß durch Gesetzgebung und technische Vorkehrungen sichergestellt werden, daß kein Mißbrauch m i t den abgespeicherten Informationen getrieben wird. Es ist möglich, die Informationsbanken so zu organisieren, daß bestimmte (als vertraulich)

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267

gékennzeichnete Informationen nur von hierzu berechtigten Stellen abgefragt werden können und die Tatsache dieser Abfrage registriert wird. Wenn viele solcher Informationsbanken existieren, dann werden sie zu informationellen Verbundnetzen zusammengefaßt. Über diese kommunizieren die Banken vollautomatisch, das heißt, wenn die eine Bank èine Information braucht, die sie nicht besitzt, w o h l aber eine andere, dann befragt sie diese vollautomatisch. Dieser Informationsaustausch w i r d viel rascher geschehen, als es gegenwärtig vorstellbar ist: Beispielsweise mag eine Rückfrage i n Tokio oder Toronto i n einer Sekunde erledigt sein, und der Fragende weiß gar nicht, welche weltweite A k t i o n er ausgelöst hat. Die gegenwärtige Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, daß sich die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen etwa alle neun Jahre verdoppelt. Es w i r d geschätzt, daß 1—2 % der M i t t e l für Forschung und Entwicklung direkt i n das Dokumentationswesen gehen. Rechnet man aber die Arbeitszeit der Wissenschaftler hinzu, die für das Erstellen der Publikationen oder die Informationssuche aufgewandt wird, so kommt man möglicherweise auf etwa 20 %>. Kennzeichnend ist auch, daß i m Jahre 1968 die US-Regierung für Bibliotheken 600 Millionen Dollar ausgeben wird. A n verschiedenen Stellen werden Möglichkeiten zur organisatorischen und technischen Kanalisierung der zunehmenden Flut wissenschaftlicher Informationen untersucht. Vermutlich das interessanteste Projekt ist „EDUNET", ein Informationssystem des „Interuniversity Communications Council" (EDUCOM). Durch EDUNET w i r d der Benutzer schriftliche Vorlagen momentan bildtelegrafisch austauschen können, von entfernten Büchereien Auszüge aus Büchern und Zeitschriften beziehen, m i t Kollegen an anderen Orten Telefonkonferenzen abhalten, Lehrfernsehen empfangen, an programmiertem Unterricht teilnehmen und auch Analog-Daten aussenden oder empfangen. Dieses EDUNET soll i m Laufe des Jahres 1968 zunächst i n kleinerem Umfang getestet und i m Jahre 1969 allen interessierten Universitäten zur Verfügung gestellt werden. Für die Zeit nach 1970 ist auch die Benutzung von Fernmeldesatelliten für EDUNET vorgesehen. Wahrscheinlich w i r d die Existenz eines solchen Verbundnetzes die geistige Effizienz einer Gesellschaft gewaltig vergrößern. b) Anwählbare Lehrprogramme Die Hilfsmittel der Informationstechnik werden i n Zukunft mehr als bisher für Lehrzwecke verwendet werden. Beispielsweise werden

268

Karl Steinbuch

Rundfunk und Fernsehen i n großem Umfange Unterrichtssendungen hohen Niveaus ausstrahlen. I m Zeitalter der rasch veränderlichen Lebensumstände und des lebenslangen Lernens werden die programmierte Instruktion und die Lehrautomaten eine sehr große Bedeutung bekommen. Man kann menschliche Lehrer nicht durch Automaten ersetzen, man kann sie aber von zeitraubender Routinearbeit befreien und ihnen viel größere W i r k i m g verschaffen. Programmierte Instruktion bietet mehrere Vorteile: Sie kann zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort ohne Absprache mit einem Lehrer benutzt werden. Die Anwendung einzelner Lehrautomaten ist sehr kostspielig. Ein Computer kann aber gleichzeitig Hunderte oder Tausende von Schülern bedienen. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß ein Nachrichtenübertragungsnetz für Lehrprogramme entstehen wird, m i t Hilfe dessen viele verschiedene Programme jederzeit angewählt werden können. Dieses „Lehrnetz" kann entweder i m normalen Fernsprechnetz realisiert werden oder ein Spezialnetz sein. Einen möglichen technischen Entwurf zeigt B i l d 5. Ein Lehrautomat, der von einem möglichst großen Teilnehmerkreis aus anwählbar ist, steht i n einer Zentrale und ist über eine Anschlußeinheit angeschlossen. Durch eine spezielle Durchwahlnummer w i r d die A n w a h l verschiedener Programme ermöglicht. Die Anschlußeinheit ist m i t billigen Speichern ausgerüstet, i n welche aus dem Lehrautomaten i n kurzer Zeit das gewünschte Programm übernommen werden kann, u m dann dem Schüler m i t B i l d und Ton zur Verfügung zu stehen. Der Lehrautomat kann gleichzeitig andere Schüler m i t anderen Programmen versorgen. Wenn solche technischen Möglichkeiten gegeben sind, dann w i r d das Verhältnis des Menscheii zum Lernen möglicherweise stark verändert: Es ist nicht mehr ein kollektiver Dressurakt der Kinder, sondern ein interessantes Spiel für jung und alt, das während der langen Freizeit aus persönlicher Initiative heraus und nach persönlichem Geschmack betrieben wird, und bei dem man sich nicht vor Mißerfolgen fürchtet, sondern diese als Anreiz zu besserem Lernen empfindet. Der Aufbau solcher Lehrsysteme erfordert nicht nur große finanzielle Mittel, sondern auch eine sorgfältige, vorausschauende Planung, zu der Pädagogen, Psychologen, Politiker und Ingenieure jahrelange Vorarbeiten leisten müssen. Wenn also die Notwendigkeit zum Aufbau solcher Lehrsysteme dereinst allerseits begriffen wird, kann doch nicht m i t ihrer Realisierung begonnen werden, sondern es müssen noch langjährige Vorarbeiten geleistet werden. Eigentlich müßte man schleunigst beginnen.

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* . . I A Anwohl des LA Endamt

Knotenamt

1

1

269 i i i

LA-AnschlußEinheiten

Hauptamt

Lehrautomat

Vermittlungsstellen

Informationsübertragung über Fernsprechleitungen

0

sehr schnelle Übertragung der Informatio

Schülerplatz

T. H.Karlsruhe Nachrichten Verarbeitung

Prinzip der automatischen Belehrung über das öffentliche Fernsprechnetz.

1965-88

Bild 5 c) Immaterielle Zustellung von Zeitungen und Briefen Vermutlich w i r d i n zwanzig oder dreißig Jahren die Fernsehtechnik dazu benutzt werden, Zeitungen und Briefe „immateriell" ins Haus zu bringen. Beispielsweise so, daß eine Automatik die übertragenen Zeitungen oder Briefe auf Fotopapier fixiert. Es ist möglich, auch i n dieser Technik das Briefgeheimnis zu wahren und einen vertraulichen Brief i n Sekundenschnelle von Washington nach Bonn zu „transportieren". Ein solcher immaterieller Transport von Zeitungen oder Briefen mag i m Augenblick noch unökonomisch sein, die sinkenden (relativen) Kosten dieser Technik und die steigenden Personalkosten für das materielle Austragen dürften jedoch die Situation i n wenigen Jahrzehnten umkehren. Es ist auch vorteilhaft, daß beim immateriellen

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Transport — wenn nur der interessierende Teil fixiert w i r d — weniger Abfall entsteht. Die zukünftigen Bedürfnisse der Informationstechnik können nicht durch die traditionellen Berufsbilder befriedigt werden: weder vom Nachrichtentechniker, noch vom Mathematiker, noch vom Wirtschaftswissenschaftler. Was i n Zukunft gebraucht wird, ist ein Wissenschaftler m i t soliden logischen und mathematischen Grundlagen, der i n der Lage ist, sich rasch i n die verschiedensten technischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Problembereiche einzuarbeiten, theoretisch genügend versiert ist, neue Sprachen und neue Methoden zu erfassen, den Lern-, Prognose- und Entscheidungsprozeß versteht und seine Kenntnisse i n den unterschiedlichsten Bereichen anwenden kann. Eine solche Ausbildung gibt es i n unserem Lande noch nicht, sie entwickelt sich gegenwärtig i n den USA etwa i n dem Bereich, der als „ComputerScience", „Systemanalyse" oder auch „Kybernetik" bezeichnet wird. Auch unsere Universitäten müssen solche Ausbildungen betreiben. Die zukünftige Entwicklung der Informationstechnik w i r d zu einer Veränderung des Stils politischer Entscheidungen führen. War es einst typisch, daß Entscheidungen wegen unzureichender Informationen irrational gefällt werden mußten, w i r d i n einiger Zukunft jede bedeutungsvolle Entscheidung aufgrund sorgfältiger rationaler Analyse gefällt werden. Die Informationstechnik ist eine starke Waffe gegen die Irrationalität politischen Handelns. Sicher ist, daß durch die zukünftige Entwicklung der Informationstechnik die Möglichkeiten der geheimen Verführung stark vergrößert werden. Bedenkt man, daß schon der Sprachgebrauch ideologisch ist, so erkennt man, daß nicht nur die Interpreten der Massenkommunikationsmittel, sondern auch die Programmierer der Informationsbanken enorme Möglichkeiten der geheimen Verführung haben werden; und dies i n einem Ausmaß, wie es gegenwärtig auch den größten Pressekonzentrationen kaum gegeben ist. Hierauf müssen w i r höchste A u f merksamkeit richten. Vermutlich ist dieses Problem überhaupt nicht m i t einem einzigen kohärenten Informationssystem lösbar, sondern nur m i t Hilfe mehrerer konkurrierender Informationssysteme. 4. Der Mensch, die große Unbekannte Vorläufig weiß niemand eine glaubwürdige A n t w o r t auf die Frage, welches Verhalten Menschen i n der zukünftigen, hochtechnisierten Welt, i n der dichten Massengesellschaft und zur Zeit weltweiter Hungersnöte zeigen werden. Die Erfahrung, daß Menschen beinahe grenzenlos manipulierbar sind und die Möglichkeiten der Manipulierbarkeit noch zunehmen, vergrößert unsere Unruhe.

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Die falsche Einschätzung oder gar Vernachlässigung menschlichen Verhaltens führt leicht zu falschen Voraussagen. Dies sei an einem bekannten Beispiel veranschaulicht. W. Fucks errechnete die „Macht" aus der Produktion an Eisen und der Entwicklung der Bevölkerung / 9 /. Hierbei ergibt sich ein enormer zukünftiger Anstieg der Macht Chinas, welche die der USA oder der UdSSR weit übersteigt. Den Widerspruch Zwischen dieser Prognose und der gegenwärtigen Entwicklung kann man w o h l so erklären: Fucks hat die materiell mögliche Macht prognostiziert, nicht aber die realisierte Macht. Zwischen diesen beiden steht noch das Verhalten der Menschen, die entweder materielle Möglichkeiten aktivieren oder sie nicht aktivieren. Einige Gesellschaften, wie z. B. die der USA und der UdSSR, sind fähig, materielle Ressourcen zu aktivieren, andere Gesellschaften, vor allem die indische und die chinesische Gesellschaft, sind vorläufig hierzu unfähig. Allerdings besteht zwischen der indischen Gesellschaft und der chinesischen ein beträchtlicher Unterschied: Während die indische Gesellschaft lethargisch verharrt, erlebt die chinesische eine Kulturrevolution, die möglicherweise i n einer extrem aktiven Gesellschaft ausmündet. Vielleicht w i r d m i t einigen Jahren Verzögerung der Machtanstieg realisiert, dessen Möglichkeit W. Fucks voraussagte. Wie weit sich menschliches Verhalten von einer als selbstverständlich angesehenen Norm entfernen kann, zeigt sich besonders deutlich an den „Hippies", deren Lebensstil vor allem durch Psychedelik, die Anwendimg lusterzeugender Drogen und durch „Love-Ins" gekennzeichnet ist. E i n japanischer Professor stellte kürzlich die Frage: Es ist seit alters her üblich, Geld für Reisen auszugeben, man kauft so für das Geld Erlebnisse. Wie können w i r es den Hippies verübeln, wenn sie sich z. B. durch LSD erfreuliche Erlebnisse verschaffen? Vor allem dann, wenn sich dessen Unschädlichkeit erweisen sollte und sie sich dabei meist friedlich verhalten? Ist dieses Verhalten nicht als die modernste Form des Informationskonsums zu verstehen? Bemerkenswert ist auch, daß hier Menschen darauf verzichten, möglichst viel Geld zu verdienen und damit gewissermaßen aus den traditionellen ökonomischen Praktiken ausbrechen. Welche wirtschaftlichen Folgen hat dieses Verhalten dann, wenn immer mehr Menschen das System des Verdienstmaximierens nicht mehr mitmachen? Die gesellschaftlichen Realitäten der Zukunft müssen m i t den Realitäten einer perfekten Technik zurechtkommen: Die Energiequellen werden ergiebiger, die Produktionsautomaten wirkungsvoller, die Computer immer intelligenter und die Waffen immer schrecklicher. Durch einen winzigen Einsatz des Menschen werden enorme Wirkungen ausgelöst. Es w i r d immer wichtiger, daß dieser Schalthebelmensch das Richtige will. Das Problem der Wertsysteme und der Moral w i r d w o h l

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zum Zentralproblem menschlichen Denkens, der Soziologie, Politik und Philosophie. Die Erziehung der Kinder ist das Ergebnis spezieller gesellschaftlicher Prinzipien, und umgekehrt sind diese gesellschaftlichen Prinzipien ihrerseits das Ergebnis der Erziehung: Hier besteht offensichtlich ein Rückkopplungskreis, bei dem nicht entschieden werden kann, was nun Ursache und was Wirkung ist. Dieser Tatbestand wurde besonders anschaulich durch den Kybernetiker D. M. McKay charakterisiert, der sagte/5/: „Es ist . . . absolut unmöglich, nach einer Orientierungsmarke zu segeln, die w i r an den Bug unseres eigenen Schiffes genagelt haben." W i r müssen bezweifeln, ob manche bei uns tradierten Moralvorstellungen für die Zukunft brauchbare Anweisungen für praktisches Verhalten ermöglichen. Was sollen w i r i m Zeitalter der Überbevölkerung und weltweiten Hungersnot m i t dem Bibelspruch „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde . . . " . Was soll die Lobpreisung der Arbeit i m Zeitalter zukünftiger Automatisierung, und was soll der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit i n Zeiten, wo nur der Widerstand moralisch ist? U n d wenn Menschen darüber zu entscheiden haben, wann die weitere Behandlung eines Kranken aufzugeben ist, obwohl es noch technische Möglichkeiten gibt, sein Leben zu verlängern, dann stehen sie Hilfe-los m i t dem Spruch „ D u sollst nicht töten". M i t diesen Überlegungen soll nicht gegen ehrwürdige Formen tradierter Moral polemisiert werden; es soll aber festgestellt werden, daß unsere Industriegesellschaft keine praktikable Moral besitzt und an diesem Mangel leidet. Dieser Mangel ist zweifellos ein Element gesellschaftlicher Instabilität. Das gegenwärtige Spannungsverhältnis zwischen jung und alt, welches vermutlich die Ausmaße des klassischen Generationenproblems weit überschreitet, ist möglicherweise dadurch begründet, daß w i r Älteren es versäumen, den Jungen eine glaubwürdige und praktikable Moral zu zeigen, und recht stumpfsinnig überalterte Denkformen wie sauer Bier anbieten. Man könnte die psychische Situation des Menschen i n der zukünftigen hochtechnisierten Welt vergleichen m i t der eines Kindes vor einem ungeheuren Baukasten. I n diesem Baukasten finden sich grauenhafte, unwirtliche Städte, chaotische Verkehrsverhältnisse, das Inferno des Atomkrieges, aber auch großartige Möglichkeiten, menschliches Leben erfreulich zu gestalten, intellektuelle Abenteuer, künstlerische Höhepunkte, religiöse Verinnerlichung und anderes mehr. Es kommt

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darauf an, daß dieses K i n d seine Steine nicht unüberlegt nach alten Mustern setzt, sondern neue Muster sucht, ein neues Bewußtsein entwickelt, ein kritisches Bewußtsein. Ich bin davon überzeugt, daß unsere gegenwärtigen geistigen A n sätze, m i t den Gefahren der zukünftigen perfekten Technik fertigzuwerden, unzureichend sind. Vor den Gefahren der Technik zu warnen, wurde das pathetische Metier einer Gilde meist hauptberuflicher K u l t u r pessimisten. Es sei ganz deutlich gesagt: U m die Gefahren zukünftiger Techniken zu erkennen und abzuwehren, muß man diese Techniken verstehen und die Zukunft m i t rationalen Mitteln analysieren. Pathetik und Deklamation sind gänzlich ungeeignet. Es ist keinesfalls so, wie es bei uns oft dargestellt w i r d : Einerseits thumbe Techniker, die unbedacht gefährliche technische Entwicklungen betreiben, und andererseits weitsichtige Kulturpessimisten, welche die Folgen der Technik wieder korrigieren. I n Wirklichkeit sehen die Ingenieure ebenso gut — oder noch besser — die Gefahren der Technik; sie sehen aber deutlicher als jene Nebulisten, daß die Gefahren der Technik nicht durch eine technik-immanente Gesetzlichkeit bedingt sind, sondern durch die Machtstrukturen, welche die Technik benutzen. I m Gesellschaftsmodell des „Technischen Staates", wie es u.a. von H. Schelsky dargestellt wurde, stecken m. E. große Gefahren. Das wichtigste Kennzeichen dieses „Technischen Staates" ist, daß an die Stelle politischer oder moralischer Prinzipien i n Zukunft sogenannte „Sachzwänge" treten werden. Ich halte die Überlegungen, aufgrund derer Schelsky die Dominanz von „Sachzwängen" voraussagt, nicht für zwingend. Die Gefahr dieses Modells „Technischer Staat" liegt vor allem darin, daß es dem eindimensionalen Apparatschik-Denken eine akademische Rechtfertigung verschafft. Diesem Modell des „Technischen Staates" sei ein anderes gegenübergestellt: das Modell des „Kybernetischen Staates", bei welchem zwar die Funktionen bis zur höchsten Perfektion durchrationalisiert sind, aber keinem anderen Ziel dienen, als bewußte menschliche Zwecke zu verwirklichen. Hierbei darf sich der Mensch der Zukunft nicht durch angebliche Sachzwänge beirren lassen: Der Mensch muß der Kybernetes all dieses politischen Geschehens bleiben, Maßstäbe geben und Ziele setzen. E i n spezieller Tatbestand scheint besondere Beachtung zu verdienen, nämlich die Vorstellung, industrielle Entwicklungen müßten fortwährend eine positive Zuwachsrate haben. Gleichbleibende relative Zuwachsrate bedeutet exponentielles Wachstum. Exponentieller A n stieg kann aber i n realen Systemen nur über begrenzte Zeiträume hinweg bestehen; er ist ein explosionsartiger Vorgang, den zu stoppen 18 Tagung Dortmund 1968

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jeder trachten muß, der Zerstörung vermeiden möchte. Vermutlich w i r d deshalb auch die Vorstellung vom unbegrenzt wachsenden Anstieg korrigiert werden müssen. Man spricht hier vom „nachindustriellen Zeitalter", dessen Kennzeichen eine gezügelte Produktion ist, welche nicht mehr durch Massenbeeinflussung zur Weißglut angeheizt wird. Voraussetzung einer solchen kontrollierten nachindustriellen Entwicklung ist die Planung technischer und ökonomischer Veränderungen. Das freie Spiel der Kräfte kann m. E. den Ubergang vom exponentiellen Wachstum zu stabilen ökonomischen Verhältnissen nicht bewirken. Eine zunehmende Bedeutung w i r d i n Zukunft das Freizeitproblem haben. Besonders J. Fourastie wies darauf hin, daß etwa i m Jahre 1995 der durchschnittliche Mensch von den 700 000 Stunden seines Lebens nur noch etwa 40 000 Stunden, also etwa 6 °/o, arbeiten wird. D. Gabor vermutet sogar, daß aus der vielen Freizeit ebenso große Gefahren für die Menschen resultieren wie aus dem Atomkrieg und der Überbevölkerung / 3 /. Vermutlich w i r d ein Teil dieser Freizeit durch die Notwendigkeit lebenslangen Lernens absorbiert werden. Aber zweifellos müssen hier noch soziale Erfindungen gemacht werden, um die psychische Situation des Menschen i n der dichten Massengesellschaft zur Zeit der perfekten Technik erträglich zu gestalten. Die zu lösenden Probleme sind vor allem das gewaltlose Abreagieren des Aggressionstriebs und die Uberwindung der Einsamkeit. Hier ist bisher noch recht wenig geschehen. Uber partielle Diagnosen ist man kaum hinausgekommen, und von einer erfolgreichen Therapie ist man noch weit entfernt. Hier ist ein Betätigungsfeld, wo m. E. die Kirchen segensreich wirken könnten — wenn sie bereit wären, sich der Welt und der Zukunft zu stellen. Aber auch durchdachte Planungen der Erziehung, des Städtebaues, des Sports, der Massenkommunikationsmittel usw. könnten manche Probleme lösen. 5. Zur Situation der Bundesrepublik Wer die Rolle der Bundesrepublik i n der zukünftigen Entwicklung abschätzen möchte, der darf sich weder durch Äußerungen etablierter Instanzen noch durch den momentanen Zustand unserer Industrie täuschen lassen, sondern muß kritisch die Frage stellen: Ist unsere Gesellschaft fähig, die Aufgaben der Zukunft wahrzunehmen und zu lösen? A u f diese Frage werden von verschiedenen Beurteilern verschiedene Antworten gegeben. Die überwiegende Uberzeugung scheint die, daß unsere Gesellschaft — verglichen nicht nur m i t den USA oder Rußland, sondern beispielsweise auch verglichen mit Japan, Schweden, Frankreich und England — i m internationalen Vergleich immer weiter

Technik und Gesellschaft im Jahre 2000

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zurückfällt. Selbst der „Bundesbericht Forschung I I " des Bundesministers für wissenschaftliche Forschimg von 1967 kommt zu der Feststellung: „ . . . Die Bundesrepublik Deutschland ist weniger als manche vergleichbaren Industrieländer darauf vorbereitet, Zukunftsaufgaben i n Forschung und Entwicklung i n Angriff zu nehmen . . . " Wenn nicht schnell tiefgreifende Veränderungen geschehen, ist m. E. die Bundesrepublik Deutschland i m Jahre 2000 keine international führende Industrienation mehr, sondern nähert sich dem Zustand eines halbentwickelten Landes; etwa dem Zustand, i n dem sich heute Spanien befindet: wissenschaftlich," technisch und sozial zurückgeblieben. Ich halte es für einen Irrtum, anzunehmen, die Unzulänglichkeiten unserer Schulen und Hochschulen, unserer Institutionen und Bemühungen u m Wissenschaft und Technik seien vorwiegend ein organisatorisches oder finanzielles Problem. Ich bin davon überzeugt, daß das Versagen unserer Gesellschaft vor den Problemen der Wissenschaft und der Technik, vor der Gegenwart und der Zukunft primär kein finanzielles oder organisatorisches, sondern ein geistiges Problem ist. Verstehen w i r unter dem Begriff „Ideologie" ganz unpolemisch die Wertvorstellungen, Denkmodelle und Zielvorstellungen, welche das Verhalten einer Gesellschaft überwiegend bestimmen, so können w i r feststellen, daß die bei uns dominierende Ideologie sich von der Praxis soweit entfernt hat, daß sie nicht mehr Anreiz zu vernünftigem Handeln i n der Gegenwart und Zukunft ist, sondern sich nur noch für Deklamationen zwischen Lorbeerbüschen eignet. Unsere Gesellschaft hat i n der Vergangenheit durch einen fatalen Hang zu irrationalem Denken schweren Schaden genommen. Wenn w i r i n Zukunft solche Schäden vermeiden wollen, dann müssen w i r uns m i t den zukünftigen Problemen rational auseinandersetzen.. Hierzu gehört: Rationale Ordnung der erkennbaren wissenschaftlichen, technischen, sozialen und politischen Probleme der Zukunft. Vorausschauendes Entdecken der noch nicht offensichtlichen auf uns zukommenden Probleme. Untersuchung der optimalen Lösungsmöglichkeiten der zukünftigen Probleme. Engagement der Öffentlichkeit für Zukunftsfragen. Einbau progressiven Denkens i n Schulen und Universitäten. Entwicklung rationaler Entscheidungsmechanismen für Verwaltung, Wirtschaft und Regierung. 18.*

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Internationale Zusammenarbeit zukunftsorientierter Forschungen und Planungen. Vor allem aber muß i n unserer Gesellschaft wieder Optimismus und Hoffnung erzeugt werden: Die Zukunft ist nicht notwendigerweise so, wie es uns i n vielen düsteren Visionen schrecklich dargestellt wird. Die Zukunft kann auch ganz anders sein: erfreulich und wünschenswert. Hierzu müssen w i r aber etwas tun, von selbst kommt es so nicht. Literaturhinweise 1/ Helmer, O.: 50 Jahre Zukunft, Mosaik Verlag, Hamburg 1967. 2/ de Jouvenel, B.: Die Kunst der Vorausschau, Luchterhand Verlag, Berlin 1967. 3/ Gabor, D.: Menschheit morgen, Scherz Verlag, Bern 1965. 4/ Daedalus: Journal of the American Academy of Arts and Science, Sonderheft, Sommer 1967 (Toward the Year 2000). 5/ Jungk, R. und H. J. Mündt: Das umstrittene Experiment: Der Mensch, Desch Verlag, München 1966. 6/ Wtdmaier, H. P.: Bildung in neuer Sicht, Sdiriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg, Neckar Verlag, 1966. 7/ Mitscherlich, A : Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Edition Suhrkamp, Frankfurt 1965. 81 Kaufmann, B.: Die Menschenmacher, S. Fischer Verlag, Hamburg 1964. 9/ Fucks, W.: Formeln zur Macht, DVA, Stuttgart 1965. 10/ — Berichte anläßlich der Tagung „Mankind 2000" Oslo 1967, die demnächst im Umschau-Verlag publiziert werden. 11/ Steinbuch, K.: Die informierte Gesellschaft, DVA, Stuttgart 1966. 12/ -— Information, Computer und künstliche Intelligenz, Umschau-Verlag, Frankfurt 1967. 13/ — Falsch programmiert, DVA, Stuttgart 1968. 14/ Servan-Schreiber, J. J.: Die amerikanische Herausforderung, Hoffmann und Campe, Hamburg 1968.

Wissen8chaftspublizi8tik als Voraussetzung politischer Planung Von Ulrich Lohmar, M. d. B., Bielefeld Wissenschaft und Politik begegnen einander i n unserer Industriegesellschaft auf zwei wesentlichen Ebenen: Der Staat fördert die Wissenschaft, vor allem die Forschung, und die Wissenschaft kann die Staatsführung beraten. I n der Bundesrepublik ist die erste Beziehung des Staates zur Wissenschaft bisher noch nicht zureichend, die zweite nur i n Ansätzen entwickelt. Vor allem die Handlungswissenschaften, als die hier Natur- und Sozialwissenschaften zusammengefaßt werden sollen, weil ihre Problemstellungen und Resultate den Kreislauf von Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Politik vor allem beeinflussen, haben diese zweifache Beziehung zur Politik h i n möglich gemacht. I n den Maßen, wie der Staat die Wissenschaft fördert, ist diese auch i n der Lage, umgekehrt den technologisch-wissenschaftlich vorgegebenen Entscheidungsrahmen auf seine politische Relevanz h i n zu untersuchen und zu interpretieren. Das gilt selbstverständlich nicht isoliert für den nationalen Bereich, sondern w i r d i m internationalen Zusammenhang wirksam. Dennoch spielen auch die innerstaatlichen Dimensionen der Beziehungen von Wissenschaft und Politik auf beiden Ebenen eine entscheidende Rolle. Der gegenläufige Kreislauf von Wissenschaft und Politik sollte übersichtlich und geordnet sein. Das Instrument einer Ordnung ist die Planung. Sie war i n der politischen Diskussion der Bundesrepublik unter deren beiden ersten Regierungschefs nicht vorhanden oder wurde tabuisiert. Hier soll unter Planung die sachgerechte Fixierung eines begrenzten Zeitraums aufgrund der gegebenen technologischen und gesellschaftlichen Tatbestände und Trends, der politischen Ziele und der verfügbaren finanziellen M i t t e l verstanden werden. So verstandene Planung bedeutet, wie es Hartmut von Hentig einmal formuliert hat, sein Verhalten so einzurichten, daß sich nichts unvermutet rächen kann. Die Bereitschaft zu einer unideologischen Diskussion einer solchen dispositiven Rahmenplanung ist m i t der Etablierung der Großen Koalition i n Bonn gewachsen, obwohl man erst i n den Bereichen von Wirtschaft, Finanzen und Wissenschaft von konkreten Planungsansätzen sprechen kann. Es ist auch noch nicht hinreichend bedacht worden, daß Planung m i t den uns geläufigen und vertrauten Formen der Honoratioren-Beratung zwar vorbereitet und ergänzt, aber nicht

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durchgeführt werden kann. Dazu bedarf es neuer soziologischer und politischer Arbeitsformen. Die Planungsdiskussion sollte andererseits frei gehalten werden von utopischen Erwartungen, wie sie i n der Kybernetik und der sogenannten Zukunftsforschimg mitschwingen. Planung muß keineswegs Ausdruck einer i m ganzen neuen, oft unpräzisen und emotional geladenen Utopie von möglichen gesellschaftspolitischen Zukunftsentwürfen sein; sie ist zunächst nichts anderes als die systematische Zuordnung von Werten, Zielen, Methoden und Mitteln. Die utopische Übersteigerung von Planungserwartungen mindert eher die Chance. Wissenschaft, Wirtschaft und Politik dafür zu gewinnen, die Möglichkeiten der Planung realitätsbezogen zu nutzen. Wenn man etwa den Begriff der Kybernetik auf seinen wirklichen Gehalt h i n abklopft, dann zeigt sich, daß damit konkret drei Forschungsrichtungen gemeint sind, die sich auf die inhaltliche und methodische Klärung von Informationen, Entscheidungen und Systemen beziehen. Kybernetik als Oberbegriff der Informations-, Entscheidungsund Systemforschung n i m m t dabei eine ähnliche Stellung ein wie der Begriff der klassenlosen Gesellschaft als Sammelbezeichnung für die Ziele und Wünsche der Marxisten. Er verstellt die Situation mehr, als er sie erhellt. Planung w i r d ungenau, wenn sie zeitlich und sachlich zu weit ausgreifen w i l l . Systemforschung, Entscheidungsforschung und Informationsforschung fordern von der Wissenschaft und von der Politik das Begreifen neuer technologischer, sprachlicher und methodischer Kategorien. Der Informationshorizont i n der Politik ist darauf noch weniger vorbereitet als der i n der Wissenschaft i n ihrer Gesamtheit. Die drei Forschungsrichtungen kennzeichnen Kooperationsfelder von Politik und Wissenschaft, die auch eine neue personale Führungsstruktur erfordern. Uns ist die Vorstellung vertraut, daß Politiker und Wissenschaftler i n ihrem Denken und Handeln von unterschiedlichen Normen bestimmt werden. Richt i g bleibt daran, daß der Politiker prinzipiell i n Aufgaben, der Wissenschaftler hingegen i n Problemen denkt. Aber die personalen Anforderungen an den Wissenschaftler wie den Politiker werden einander immer ähnlicher. K a r l Jaspars hat darauf i n seinem Vergleich der Verhaltensanforderungen an Professoren und Parlamentarier hingewiesen. Was heute i n Wissenschaft und Politik gebraucht wird, ist Kreativität. Darunter verstehen w i r eine Haltung, die etwa durch intellektuelle Neugier, vorausschauende Orientierung, Flexibilität, Empfindsamkeit für neue Informationen und durch die Fähigkeit zur Problemformulierung gekennzeichnet ist. Wie stellt sich nun die Situation i n unserem Lande in den beiden Bereichen der Begegnung von Wissenschaft und Politik, i n der Wissenschaftsförderung und i n der Politikberatung, praktisch dar? I n der

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Wissenschaftsförderung finden w i r auf der politischen Seite eine Fülle miteinander locker kooperierender Institutionen vor: Bund, Länder, Stiftungen, Wissenschaftsorganisationen. A u f der wissenschaftlichen Seite entspricht dieser Situation die Gliederung der Wissenschaft i n eine Vielzahl von Spezialgebieten. Aus beiden Tatbeständen folgt f ü i die wissenschaftspolitische Planimg, eine Schwerpunktbildung und eine Arbeitsteilung miteinander verbinden zu müssen. I n der wissenschaftlichen Politik-Beratung der Staatsführung ist die Situation noch unübersichtlicher. Zwar w i r d die Bundesregierung von mittlerweile mehr als tausend Professoren ständig oder gelegentlich beraten, aber von einer Koordinierung dieser Beratungstätigkeit sind w i r weit entfernt. Es gibt nicht einmal eine Institution innerhalb der Regierung, die die erbetenen Hinweise und vorhandenen Ergebnisse der Politik-Beratung auf ihre Verwertbarkeit für die Gesamtpolitik der Regierung registrierte, geschweige denn systematisch sichtet und auswertet. Diese Koordination scheitert dabei einmal an dem Ressortpartikularismus, zum anderen an einem diffusen Selbstverständnis des wissenschaftlichen Anspruchs auf Autonomie i n der Forschung. Adolf Butenandt hat dieses Problem auf der diesjährigen Tagung der Max-Planck-Gesellschaft offen angesprochen und angeregt, den Autonomiebegriff und zugleich die Kooperationsmöglichkeiten von Staat und Wissenschaft zu überdenken und neu zu fassen. Bei alledem ist zu beachten, daß Planung keine Stufe der Beratung oder der Konsultation ist, sondern die erste Stufe der Entscheidungsbildung. Daraus folgt für Planer und Entscheider, daß man ihre Kompetenzen nicht voneinander trennen kann. Das weitgehende Scheitern der Reformvorschläge des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen z. B. ergab sich aus der fehlenden Kongruenz von Planungs- und Entscheidimgskompetenz. Der Wissenschaftsrat leidet, wenn auch nicht i n diesem Maße, unter dem gleichen Dilemma. Für das Parlament bedeutet die Her einnähme der Planung i n das politische Instrumentarium, daß sich die Haushaltskontrolle zu einer sachgerechten Plankontrolle entwickeln muß, wenn sie effektiv sein soll. Für die Regierungsebene ist zu konstatieren, daß die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers ohne eine i h m zugeordnete Planungskompetenz weitgehend i n der L u f t hängen würde. Zwischen einer zweigleisigen, auf Wissenschaftsförderung und Politik-Beratung gerichteten Planung einerseits und der Wissenschaftspublizistik andererseits gibt es vielfache Zusammenhänge. Zunächst ist eine vernünftige Organisation des Informationsgefüges erforderlich. Für unsere Wissenschaft ist ja kennzeichnend, daß sie nicht nur viele Fach- und Forschungsrichtungen, sondern auch unterschiedliche Spra-

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chen ausgebildet hat. I m Bereich der Handlungswissenschaften sind die Sprachen der Naturwissenschaftler und der Technologen sowie der Sozialwissenschaftler dem jeweiligen Partner oft nur teilweise verständlich. Die Ubersetzung der wissenschaftlichen Fachsprachen i n die Politik ist dann erst die weitere, ebenso schwierig zu lösende Aufgabe. Sie w i r d nicht leichter dadurch, daß i n den hohen Hängen der Verwaltung und i m Parlament nur verhältnismäßig wenig ausgebildete Naturwissenschaftler und Techniker zu finden sind, ein Mangel, den sich ein Industriestaat vom Zuschnitt der Bundesrepublik i n der politischen Führungsstruktur nicht mehr erlauben kann. Institutionell gesehen, entspricht dem Schrebergartensystem i n der wissenschaftlichen Forschung eine hoheitlich, prestigemäßig abgestufte und pyramidenförmig aufgebaute Gliederung der Verwaltung. Interdisziplinäre Integration der Wissenschaft ist die A n t w o r t auf die eine, sachbezogene Delegation der Verantwortung i n der staatlichen Verwaltung die andere A n t w o r t auf beide Tatbestände. Wer das Beharrungsvermögen wissenschaftlicher und staatlicher Institutionen kennt, weiß allerdings abzuschätzen, wie schwierig ein Wandel zu bewirken sein wird. Dennoch müssen w i r zu einer neuen Kongruenz von Leistung und institutioneller Verantwortimg kommen. W i r brauchen weiter, um bei der Information zu bleiben, für Parlament, Regierung und Verwaltung zunächst eine Kartei, die über alle Forschungsvorhaben und über möglicherweise politisch relevante Forschungsergebnisse Aufschluß gibt. Inwieweit dabei die Möglichkeiten der Datenverarbeitung nutzbar gemacht werden können, bliebe zu prüfen. Zweitens benötigen w i r für den Bereich der Wissenschaftsförderung einen neuen T y p von Wissenschaftsmanager, der zugleich i n den Zusammenhängen der Politik und der wissenschaftlichen Forschung denken kann. W i r haben solche Wissenschaftsmanager vereinzelt i n der Verwaltung und i n den Wissenschaftsorganisationen; ihre Beratimg sind — drittens — „Dauerberater" erforderlich, das heißt Wissenschaftler, die sich für mehrere Jahre für einen begrenzten Themenkreis der Beratung der politischen Führung zur Verfügung stellen. Das jetzige Honoratiorensystem i n der Politik-Beratung kann die notwendige Systematik und Kontinuität nicht gewährleisten. Viertens ist eine A r t wissenschaftspolitischer „Dolmetscher" notwendig, der die Resultate der Forschung i n die Sprache der Politiker und deren Fragen wiederum i n die Kategorien wissenschaftlicher Forschung übersetzen muß. Wissenschaftsmanager, Dauerberater und „Dolmetscher" müssen i n einer Clearing-Stelle i n der institutionellen Nähe des Bundeskanzleramtes zusammengefaßt werden, u m die politische Integragration der Meinungs- und Willensbildung i n der Regierung sichern

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zu helfen. Die staatliche Verwaltung bedarf — fünftens — der Ergänzung durch Fach- und Führungsstäbe. Stäbe haben keine Entscheidungskompetenz, sondern eine Beratungsverantwortung. Sie sind m i t dem traditionellen Selbstverständnis der deutschen Verwaltung oft nur schwer i n Einklang zu bringen. E i n Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung u m die Einrichtung einer Planungsabteilung i m Bundeskanzleramt. Der Chef dieser Stabsabteilung hat es nicht durchsetzen können, ein unmittelbares Vortragsrecht beim Regierungschef zu erhalten. E r wurde i n die amtsinterne Hierarchie eingemauert. Darin w i r d ein eklatantes Mißverständnis der Funktion deutlich, u m die es bei Planungsstäben geht. Sie müssen neben der Ebene der Linie denken und planen können, nicht innerhalb des hierarchischen Kompetenzgefüges. Daraus folgt, daß z. B. der Bundeskanzler sich der ständigen Zuarbeit der Linie und der Konsultation der Stäbe versichern müßte. Wo und wenn das nicht möglich ist, w i r d die Chance politischer Planung durch das formale Zuständigkeitsdenken i n der Verwaltung planiert. Die Erwägimg Bundeskanzler Kiesingers, seiner hierarchisch eingemauerten Planungsabteilung ein Gremium von mehr oder weniger ehrenamtlich tätigen Wissenschaftlern zur Seite zu stellen, weicht umgekehrt i n das Schema der Honoratiorengremien aus. Die Bundesregierung ist sich offensichtlich über den Zusammenhang von wissenschaftlicher Information und Wissenschaftsförderung, von Beratung und Entscheidung, von Planung und Koordination noch nicht hinreichend schlüssig geworden. Die Große Koalition würde jedoch eine der modernen I n dustriegesellschaft angemessene Form der Führung verfehlen, wenn sie es bei dem gegenwärtig erkennbaren Stand ihrer Einsicht beließe. Was folgt nun aus dieser Skizze der Dimensionen politischer Planung für die Wissenschaftspublizistik? Sie muß inhaltlich, personell und methodisch aus einer Kooperation von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft ihren Sinn erhalten. Wissenschaftspublizistik sollte, wenn sie wirksam sein w i l l , zugleich den Bereich der Wissenschaftsförderung und den der Politik-Beratung einbeziehen. Engt sie ihren Informationsradius auf einen dieser Bereiche ein, verfehlt sie schon damit den i n haltlichen K e r n ihrer Aufgabe. Geht man von den strukturellen Merkmalen eines demokratischen Gemeinwesens aus, dann ist Transparenz, Durchschaubarkeit, eine der wichtigen Bedingungen für eine offene Meinungsbildung und w i r k same Kontrolle. Die Wissenschaftspublizistik ist hier ein unentbehrlicher Mittler und Vermittler. W i r haben es ja in der Politik wie i n der Wissenschaft m i t einer gleichzeitig vorhandenen Über- und Unterinformation der Beteiligten zu tun. I n der Wissenschaft kann diesem Übel durch bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit und durch sprachliche Verständigung begegnet werden. Für die politische Füh-

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rung des Staates sollte die Wissenschaftspublizistik eine integrierende Darstellung der Probleme und Resultate wissenschaftlicher Forschung leisten. Ansätze dazu gibt es, aber sie sind i n ihren publizistischen Ausdrucksformen einerseits noch zu partiell orientiert und andererseits zur Politik hin kaum wirksam geworden. Für den unter Zeitmangel leidenden Politiker, ganz gleich, ob es sich u m einen Minister, Parlamentarier oder hohen Beamten handelt, könnte eine andere Hilfe gleichfalls eine Erleichterung bedeuten. W i r brauchten einen Informationsdienst, der den Inhalt wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Forschungsresultate i n knapper, für die Politik verständlicher Form wiedergibt. Natürlich ist es ein sympathischer Ausdruck der Meinungsvielfalt, wenn w i r uns entscheiden können, den Rezensionsteil der „Zeit" oder des „Rheinischen Merkur" zu Rate zu ziehen. N u r entsteht so, soweit die Politik als Führungsgruppe i n Betracht kommt, kein Informationszusammenhang, der annähernd gleiche Voraussetzungen ermöglichen würde. Dieser Hinweis ist kein Plädoyer für publizistische Uniformität, sondern für bessere Kommunikation und Darstellung i n der Wissenschaftspublizistik. Zum dritten wäre es notwendig, daß unsere Wissenschaftspublizistik den Stand und die Problemlage der internationalen Forschung aufn i m m t und widerspiegelt. Internationalität ist zwar für die Forscher vor allem i m Bereich der Handlungswissenschaften selbstverständlich; eine dementsprechende umfassende Aufnahme des internationalen Forschungsstandes i n die deutsche Wissenschaftspublizistik fehlt uns hingegen noch. Schließlich müssen sich unsere Wissenschaftler und ihre Organisationen darüber klar sein, daß ein kooperatives Selbstverständnis der Wissenschaft eine bessere überregionale Kommunikation voraussetzt, daß also die Wissenschaft als Ganzes sich i n ihren Wechselbeziehungen zur Politik sehen und begreifen muß. Unsere Wissenschaftsorganisationen haben eine brauchbare Form zur Verwirklichung ihrer Absichten i m Rahmen der ihnen verfassungsmäßig garantierten Selbstverwaltung bisher nur i n Teilbereichen der Forschimg entwickelt. Wissenschaftspolitisch dagegen ist etwa die Repräsentation der westdeutschen Hochschulen immer noch dadurch behindert, daß die Westdeutsche Rektorenkonferenz keine ausreichende Autorität beansprucht. Für das Autonomieverständnis der Wissenschaft müssen über die Fakultäten und Universitäten hinaus neue Integrationsformen entwickelt werden, wenn es nicht bei einem sehr unübersichtlichen Nebeneinander bleiben soll. Auch dies ist zu einem guten Teil eine Aufgabe, bei deren Bewältigung die Wissenschaftspublizistik helfen kann.

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E i n entscheidendes Problem stellt sich der Wissenschaftspublizistik bei der öffentlichen Diskussion der Haushaltspolitik. Der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung hat zwar wiederholt und m i t Recht darauf hingewiesen, die deutsche Öffentlichkeit sei, nicht zuletzt dank der großen Presse, wissenschaftsbewußter geworden. Aber es wäre ein fataler Irrtum, anzunehmen, daß die erforderlichen Zuwachsraten i n der Wissenschaftsfinanzierung oder für den Ausbau einer wirksamen Politik-Beratung ohne eine gediegene, planmäßige und wirkungsvolle Selbstdarstellung der Wissenschaft gesichert werden könnten. Der Kampf u m den kleiner gewordenen Kuchen der öffentlichen Haushalte w i r d i n Bonn und i n den Landeshauptstädten i n den nächsten Jahren m i t aller Härte geführt werden. Sich auf die objektive Einsicht i n den erforderlichen Vorrang der Wissenschaft einfach zu verlassen, wäre deshalb politisch leichtfertig. Die staatsbürgerliche Verantwortung der Wissenschaftler w i r d sich i n der nächsten Zukunft vor allem darin auswirken können, ob sie es zuwege bringen, die Kooperationschancen der Wissenschaft zur Politik h i n plausibel zu machen und auf diese Weise eine enge Partnerschaft m i t der politischen Führung zu begründen. IJicht der Rückzug auf wissenschaftliches Prestige und verfassungsmäßige Rechte, sondern der Vorstoß zur Kooperation ist die angemessene, wahrscheinlich auch einzig erfolgversprechende A n t w o r t der Wissenschaft auf die Frage nach dem politischen Stellenwert ihrer Arbeit. Eine wichtige Voraussetzung für die Wissenschaftspublizistik ist die weitgehende Publizität der wissenschaftlichen Forschungsresultate. Der Sektor von Forschungsvorhaben, der geheimhaltungsbedürftig ist, dürfte i n den letzten Jahren i n der Bundesrepublik zu weit gezogen worden sein. Die wissenschaftliche und damit auch die politische Debatte lebt davon, daß Forschungsresultate öffentlich bekannt und diskutiert werden können. Hier ist ein oft unbegründetes Geheimnisdenken geradezu wissenschaftsfremd und mindert überdies die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Staat und Wissenschaft i m ganzen erheblich. Adolf Butenandt hat i n seinem schon erwähnten Kieler Vortrag davon gesprochen, daß eine europäische und darüber hinausreichende Zusammenarbeit der Wissenschaftler eine wirksame innerstaatliche Kooperation erfordere. Auch das haben w i r bisher nur i n Ansätzen erreicht. Die Aufspaltung der Wissenschaftspolitik i n Landesentwicklungspläne, wie sie i n einigen Bundesländern sich abzeichnet, würde zu einer Provinzialisierung der Wissenschaft führen. Das Konzept der Gemeinschaftsaufgaben, auf die Wissenschaft bezogen, hat seinerseits nur dann einen wissenschaftspolitischen Wert, wenn die Wissenschaft als Gemeinschaftsaufgabe vom Bund und allen Bundesländern, nicht aber als die des Bundes oder eines Landes oder als die des Bundes

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und eines einzelnen Landes begriffen wird. Forschung und Entwicklung brauchen überregionale Kooperationsformen, auf nationaler und auf internationaler Ebene. Eine Finanzreform, die diesen Zusammenhang aus formellen verfassungsrechtlichen oder aus finanztechnischen Erwägungen übersähe oder ignorierte, würde die Wissenschaft i n Deutschland entscheidend treffen. Auch auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, ist eine wesentliche, langfristig außerordentlich wichtige Aufgabe der Wissenschaftspublizistik. Der Verfasser des Gutachtens zur Finanzreform, Heinrich Troeger, hat den Begriff des kooperativen Föderalismus geprägt. W i r müssen damit ernst machen. Der Bundesstaat bedeutet keine Auffächerung i n einen Staatenbund, am allerwenigsten darf das i n der Wissenschaft geschehen. Ein kooperativer Föderalismus i n der politischen Planung der Wissenschaftsförderung und der PolitikBeratung ist notwendig; i h n durchsetzen zu helfen dürfte m i t Hilfe einer wirksamen Wissenschaftspublizistik leichter gelingen. Der Geist weht weder i n der Politik noch i n der Wissenschaft nur da, wo er w i l l . Er braucht den Rahmen einer freiheitlichen und präzisen Planung, und er benötigt die Hilfe einer die Wissenschaft angemessen begreifenden und umgreifenden Publizistik.

I I . Diskussionen zu den Vorträgen

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Friedrich Fürstenberg, Linz/Österreich Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Sehr geehrter Herr Kollege Fürstenberg! Haben Sie recht herzlichen Dank für Ihre interessanten Ausführungen, die uns gezeigt haben, daß Wissenschaft ohne Gesellschaftsbezogenheit nicht existent ist. Während w i r gestern i n der Technok r a t e die Wertigkeit der Wissenschaft erkannt haben — bis zur philosophisch begründeten Bedeutung der Identität —, haben Sie uns heute i n die Realität unserer menschlichen Gesellschaft zurückgeführt und — wenn man so w i l l — wieder Grund unter die Füße gegeben. W i r sehen jetzt, daß die Sachbezogenheit nicht genügt, daß es nicht ausreicht, der Wissenschaft u m der Wissenschaft willen zu dienen, sondern daß die Gesellschaftsbezogenheit unter allen Umständen hinzukommen muß. Sie haben außerdem darauf hingewiesen, daß die Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis Gefährdungen m i t sich bringt, daß man aber die Sachbezogenheit und die Universalität unter ailen Umständen als Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit wahren muß. Dafür unseren herzlichen Dank. Ich möchte nun die Diskussion eröffnen. W i r erinnern uns der vier Grundelemente, die Sie genannt haben: Sachbezogenheit, Universalität, Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis und Sekundärwirkung. Ich kann m i r vorstellen, daß sich gerade bezüglich der Sekundärwirkung, von der j a die Gesellschaft wahrscheinlich i n stärkstem Maße betroffen ist, sehr interessante Aspekte ergeben. Wer wäre bereit, i n die Diskussion einzutreten? Prof. Dr. Robert Rie (Fredonia/New York) Herr Kollege Fürstenberg hat die Probleme w i r k l i c h ganz ausgezeichnet dargestellt. Ich habe eine Frage zur Technokratie. Wie erklären Sie, Herr Kollege, den Rückfall des Publikums von technischen Produkten zu Produkten des Handwerks, also alter Herstellungsweise? I n Amerika gibt es eine immer deutlichere Tendenz, bei allen möglichen Produkten gewissermaßen i n das Viktorianische zurückzufallen. Davon haben Sie vielleicht gehört.

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Diskussion zum Vortrag von Friedrich Fürstenberg

Dann eine weitere Frage: Haben Sie i n Amerika den Eindruck gewonnen, daß dort eine größere interfakultative Zusammenarbeit herrscht als hier? Mösbauer hat ja besonders die Universität Kalifornien als so eine A r t Paradies geschildert, von dem aber die amerikanischen Kollegen weniger überzeugt sind. G. Mackrodt (Goslar) Habe ich recht verstanden, Herr Professor, daß nach Ihrer Meinimg i n der angewandten Wissenschaft, i n der Technik z. B., ein Apparat, eine Maschine dann nicht konstruiert wird, wenn von anderen Faktoren her — sagen wir, sozialen, betriebswirtschaftlichen — dieser neue Konstruktionsgedanke i n Frage gestellt wird? Ich persönlich möchte das bestreiten. Dr. R. Lautmann (Dortmund) Herr Prof. Fürstenberg, Sie haben von der Universalität und von den Sekundärwirkungen gesprochen. Universalität definierten Sie als Streben nach uneingeschränkter Erkenntnis. Und Sie meinten, alles Erforschliche müsse erforschbar gemacht werden. Ich entnehme daraus, daß Sie der Meinung sind, daß es noch keine Grenze gibt für das, was der Wissenschaftler erforscht. Zu den Sekundärwirkungen haben Sie dann gesagt, man müsse darauf achtgeben, daß man nicht ein Unkrautvertilgungsmittel herstellt, m i t dem man nachher Menschen umbringen kann. Ich glaube, man muß bereits bei der Problemstellung darauf achten, was mit den möglichen Antworten auf diese Probleme später gemacht werden kann. Wenn der Wissenschaftler erst einmal das Unkraut Vertilgungsmittel gefunden hat, dann hat er j a keine Möglichkeit mehr, zu verhindern, daß es auf falsche Weise angewandt wird. W i r müssen als Wissenschaftler uns darüber i m klaren sein, daß w i r schon bei der Durchführung der Forschung Gefahren auf uns nehmen; und w i r müssen uns überlegen, w i e w i r diesen Gefahren steuern können und Wege finden, daß die Wissenschaft keine verbrecherischen Wirkungen zeitigt. Dr. Wolfgang Lipp (Bochum) Die ethische Fragestellung ist bei der modernen Wissenschaft natürlich am Platze. Man muß aber zugleich sehen, daß die Wissenschaft heute Potenzen für freibleibende Zwecke schafft, die gar nicht mehr kontrolliert werden können, einfach w e i l die Verzweigungen der Wissenschaft, die einzelnen Forschungsrichtungen, sich nicht mehr gegenseitig kontrollieren können. Die hier investierten ungeheuren M i t t e l

Diskussion zum Vortrag von Friedrich Fürstenberg setzen Mächte und Potenzen frei, die nicht mehr kontrolliert werden können. Das ist ein großes politisches Problem, auf das vor einigen Jahren Helmut Glässner hingewiesen hat, die Emanzipation der Macht, die m i t der Wirkweise der Wissenschaft i n unserer Gesellschaft gegeben ist. Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Ich möchte eigentlich keine Frage stellen, sondern nur auf etwas sehr Bedeutsames hinweisen, das Sie gesagt haben, nämlich daß w i r den Dilettantismus zum Forschen brauchen. Dies erscheint m i r deswegen sehr wichtig, w e i l es i n der Tat gar nicht vorstellbar ist, wie eine z.B. interdisziplinäre, fakultative Zusammenarbeit vor sich gehen soll ohne diesen Dilettantismus, und darüber hinaus, wie eine, sagen w i r , Kooperation m i t der Praxis dazu noch erfolgen soll, also m i t irgendeiner Institution, z. B. des Sozialwesens oder des Arbeitslebens. Priv.-Doz. Dr. Heiner Flohr (Köln) Herr Prof. Fürstenberg hat m i t Recht darauf hingewiesen, daß w i r alle immer mehr i n funktionale Zusammenhänge eingeordnet, eingepreßt werden und daß Rationalität ein Denken i n Zwecken und M i t t e l n erfordert. Nun darf man aber, meine ich, die Dimensionen von Zweck und M i t t e l nicht zu eng sehen, sonst kommt es leicht zu einem ideologischen Mißbrauch. Nehmen w i r den Betrieb! Wenn jetzt etwa Unternehmer sagen: Der Zweck des Unternehmens ist die Gewinnerzielung, und da gibt es sog. Sachzwänge, die bedeuten, daß das gesamte Betriebsleben nur dann optimal verläuft, wenn man sich diesen Sachzwängen bestmöglich anpaßt, dann ist das eine Kanalisierung, eine Verengung des Aspekts, die sich nicht von selbst versteht. Rationales Handeln bedeutet natürlich, daß man immer die bestmöglichen M i t t e l i m Blick auf den gesetzten Zweck sucht und anwendet. Aber, meine Damen und Herren, bei der Zwecksetzimg werden die Weichen gestellt. Das bedeutet, daß bei einer Institution oder bei einem Betrieb auch oder ausschließlich andere Zwecke gesetzt werden können. Es macht z. B. dann i n p r a x i einen großen Unterschied, ob man als ausschließlichen Zweck eines Unternehmens die Erzielung des größtmöglichen Gewinns ansieht oder ob man die Zufriedenheit der i n diesem Betrieb Beschäftigten für ein mindestens gleichwertiges Ziel hält. Wenn man diesen zweiten Weg wählt, dann ist es irrational, die M i t t e l nur auf Gewinnerzielung anzusetzen. Man kann nun dagegen einwenden, daß ein Unternehmen, das sich nicht 100°/oig auf Gewinn konzentriert, i m Blick auf das gesamte W i r t 19 Tagung Dortmund 1968

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schaftssystem nicht funktionsfähig sei, daß es also auch hier Sachzwänge gesamtwirtschaftlicher A r t gebe, denen sich der einzelne Betrieb anzupassen habe. Dazu möchte ich sagen, daß man sich dann gefälligst überlegen soll, welches der Zweck des gesamten Wirtschaftssystems ist. Man soll hier nicht — etwa m i t dem üblichen Seitenhieb auf die Frankfurter Schule der Soziologie — von unangemessenen Ganzheitsvorstellungen der Wissenschaft reden. Bei aller Respektierung des zu beachtenden Zusammenhanges zwischen Zweck und M i t teln muß man die Weichen bei den Zwecken stellen. Man ist nicht unrational, wenn man ein größeres Zweckbündel hat, als es bestimmten Interessenten angenehm ist. Es besteht die Gefahr, daß aufgrund von Interessen, die i n unserer Gesellschaft mächtig sind, die Zwecksetzung zu eng gezogen wird. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Ich glaube, Sie haben hiermit einen ganz wesentlichen Punkt berührt. Leider drängt unsere Zeit jetzt, so daß ich Herrn Kollegen Fürstenberg nun bitten muß, zu den Beiträgen Stellung zu nehmen. Prof. Dr. Friedrich Fürstenberg (Linz/Österreich) Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, daß ich die Fragen i n einen Zusammenhang hineinstelle. Ich möchte zunächst die Frage von Herrn Lautmann aufgreifen. Wenn es keine Grenzen für die Forschung geben soll, dann w i r d sich die Forschung immer wieder m i t Dingen beschäftigen, die sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben können. Daraus leitet Herr Lautmann doch — wenn ich ihn recht verstanden habe — zumindest die Forderung ab, daß z. B. möglichst keine Vertilgungsmittel geschaffen werden sollten, m i t denen man auch Menschen töten kann. Anhand dieser radikalen Fragestellung kommen w i r vielleicht dem Problem am ehesten auf den Grund. W i r müssen notgedrungen, wenn w i r Schädlinge bekämpfen wollen, zu Giften greifen, die auch dem Menschen schaden können. W i r müssen, wenn w i r neue Energieträger finden und entwickeln, uns auch klar darüber sein, daß die Energie als solche auch zur Beförderung von Raketen genutzt werden kann, die nicht immer unbedingt auf dem Mond landen müssen. Auch ein Automobil kann jemanden sicher i n den Urlaub und wieder zurück bringen; es kann sich aber auch ein Betrunkener hineinsetzen und zwei kleine Kinder überfahren. Soll man deswegen auf das Automobil, soll man deswegen auf neue Energieformen, soll man deswegen auf Unkrautvertilgung verzichten?

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Ich glaube, w i r müssen das Problem etwas anders sehen. Ich b i n nämlich genau wie Herr Lautmann der Auffassimg, w i r würden ganz gewiß die Grundintentionen der Wissenschaft verraten, wenn w i r naiv und munter drauflos forschten und über jede Entdeckung glücklich wären, die neu ist, angewendet werden kann und womöglich jedem noch reichen Gewinn verspricht. Ich glaube, diese naive A r t des Drauflosforschens müßte uns i m 20. Jahrhundert vergangen sein, sonst sind die vielen Millionen Menschen umsonst gestorben, die praktisch den Ergebnissen dieser A r t von Wissenschaft ausgeliefert worden sind. Ich b i n aber nicht der Meinung, daß, wenn einmal ein Unkrautvertilgungsmittel praktisch entwickelt worden ist, der Wissenschaftler keine Einwirkungsmöglichkeit mehr hat; denn i n unserer wissenschaftlichen Zivilisation erfordert ja bekanntlich auch die Vernichtung von Menschen — wenn ich das einmal sagen darf — m i t Hilfe von Unkrautvertilgungsmitteln wissenschaftliche Planimg. Das ist ja das kaum Vorstellbare, daß es Menschen gab, die m i t wissenschaftlicher Akribie untersucht haben, wie man so etwas denn tun könne. Als Konsequenz aus diesen Erfahrungen muß eine neue Solidarität der Wissenschaftler untereinander gleichsam Platz greifen, so daß der eine nicht etwas Unangemessenes m i t dem Produkt des anderen tut. Es wäre also falsch, den Chemiker, der Vertilgungsmittel entwickelt, zu verurteilen, weil er dies tut. Der Kern des Problems liegt nicht so sehr bei ihm, sondern er liegt darin, daß der Erfinder sich vielleicht zu wenig darum gekümmert hat, daß i n der Gesellschaft seine M i t t e l falsch eingesetzt worden sind, daß er möglicherweise ein völlig unpolitischer Mensch war. Und das Problem liegt natürlich auch da, wo ein anderer Wissenschaftler diese Entdeckung zu einem völlig inhumanen Zweck benutzt hat. Das ist meiner Ansicht nach das Problem, vor dem w i r stehen: Ein Wissenschaftler allein kann die Verantwortung für seine Erkenntnis nicht übernehmen, aber die Gemeinschaft der Wissenschaftler könnte sehr wohl etwas tun. Sie müßte unbedingt weiter i n den gesellschaftlichen Raum hinein wirken, damit möglichst Mißbräuche unterbleiben. Das führt m. E. zu der unbedingten Forderung, daß sich zwar nicht jeder Wissenschaftler hauptamtlich m i t gesellschaftlichen Problemen beschäftigen muß, daß er aber etwas davon verstehen sollte und daß die Gemeinschaft der Wissenschaftler Sprecher haben muß, die i h r Vertrauen finden und die auch wirklich gegenüber den Mächtigen der Welt das Verantwortungsbewußtsein dieser Gemeinschaft m i t Nachdruck vertreten. Eine total von der Politik her funktionalisierte Wissenschaft ist eine fürchterliche Mißgeburt. Darauf hat meiner Ansicht nach Bert Brecht hingewiesen. 19*

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Die Frage, die damit zusammenhängt und auf die Herr L i p p hingewiesen hat, ist ja wirklich grundlegend: Ist denn eine derartige effiziente Solidarhaltung überhaupt noch möglich? Herr L i p p hat sich hierbei auf den Standpunkt von Arnold Gehlen gestellt, i m Grunde genommen würden Potenzen für freibleibende Zwecke zur Verfügung gestellt, niemand könne das noch kontrollieren, es sei ja praktisch schon alles da, w i r seien ja viel zu spät dran, und die Probleme w ü r den immer krasser. Zweifellos gibt es emanzipierte Macht. Die Emanzipation der Wissenschaft hat zu einer A r t emanzipierter Macht geführt, deren sich nun auch die Mächtigen bedienen können. Dies ist die ganz große Herausforderung. Aber wenn w i r einigermaßen menschenwürdig weiter existieren wollen, bleibt gar keine andere Möglichkeit, als sie zu bewältigen. Gerade angesichts dieser Gefährdung — das sind eben die Schlußsätze meines Referates gewesen — müssen w i r reagieren, und sogar sehr bald, indem w i r eine Bewußtseinslage schaffen — nicht nur bei den Wissenschaftlern, sondern i n breiten Kreisen der Bevölkerung —, die verhindert, daß diese Potenzen für freibleibende Zwecke benutzt werden. W i r müssen uns fragen: Was wollen w i r eigentlich? Wie wollen w i r leben? Welche Lebensformen müssen respektiert werden? Ich komme damit i m Grunde genommen auf das, was auch Herr Flohr gesagt hat: W i r müssen uns u m die Zwecke kümmern; die Zwecke dürfen nicht völlig freibleiben, sondern sie müssen i n irgendeiner Weise i n einen Kulturzusammenhang gebunden werden, sonst haben w i r eines Tages keine K u l t u r mehr, d . h . keine sinnvollen Lebensformen mehr für die Menschen. Das würde bedeuten, daß ein völlig anderes Zeitalter anbricht und diejenigen Völker, die sich noch eine sinnvolle Lebensform bewahrt haben, uns damit eines Tages kolonialisieren. Anders ist ja menschliche Existenz gar nicht möglich, als daß sie eingebettet ist i n sinnvolle Lebenszusammenhänge. Zusammenfassend möchte ich feststellen, daß die Wissenschaft außerordentlich viel bewirkt; sie schafft wirklich Grundlagen für ein modernes Leben. Aber die Wissenschaft selbst schafft nicht die Lösung für alle Probleme, die durch sie selbst hervorgerufen werden. Insbesondere schafft die Wissenschaft nicht von sich aus eine Lösung für das Problem, wie man sinnvoll lebt. U n d dies müssen w i r i n weiser Selbstbeschränkung als Wissenschaftler auch erkennen. Es gibt metawissenschaftliche Zwecke, denen auch der Wissenschaftler und der Politiker, überhaupt alle, die etwas zu sagen haben i n der Gesellschaft, verpflichtet sein müssen; sie transparent zu machen, das bedeutet, die Potenz des wissenschaftlichen Fortschritts zu bändigen. A u f der einen Seite w i r d also etwas freigesetzt, was die Welt voraiv

Diskussion zum Vortrag von Friedrich Fürstenberg treibt; auf der anderen Seite müssen w i r eine Ordnimg suchen, u m dieser neuen Freiheit wirklich teilhaftig werden zu können. W i r dürfen uns von Seiten der Wissenschaft wirklich nicht auf den Standpunkt stellen, als ob unsere Funktion lediglich nur die Freisetzung sei. Das scheint m i r wohl doch ein bißchen naiv zu sein. Damit habe ich auch schon zu den Ausführungen des Kollegen Flohr Stellung genommen. I n der Tat, bei den Zwecksetzungen werden die Weichen gestellt. Das Problem ist aber meiner Ansicht nach nicht nur eine Anreicherung der Zwecke durch neue, indem man etwa sagt, der Betrieb habe nicht nur technische Aufgaben, sondern auch wirtschaftliche, auch soziale Aufgaben zu erfüllen. Das Problem stellt sich nämlich bei der Hierarchisierung der Zwecke. Ein Wirtschaftler, ein Techniker, ein Sozial Wissenschaftler sind j a jeweils ihrer Sachlogik verpflichtet. Angesichts eines Problems geben sie gleichsam Voten ab, und nun muß entschieden werden, wie dieses Problem behandelt werden soll. Wer hat Vorrang, welches Argument hat Vorrang? Hierbei stellt sich das Problem der Koordinierung von Sachlogiken, von Entscheidungen i n solchen Fällen, wo verschiedene Sachlogiken zusammenwirken. Man kann hierfür eine Lösung auf gleicher Ebene nicht finden, sondern nur dann, wenn übergeordnete Gesichtspunkte bewußt werden. Dies w i r d i n der Regel auch heute noch irrational getan durch das Auftreten charismatischer Persönlichkeiten. Ich bin aber der Meinung, daß man so etwas auch i n gewisser Weise wissenschaftlich anpacken kann, indem man zu einer Sachlogik höherer Ordnung forschreitet und sich fragt: Gibt es nicht doch noch etwas Grundlegendes, was i n diesem einzelnen Falle übergreifende Bedeutung hat und respektiert werden muß? Nun zu der Frage, ob nicht, u m ein neues Bewußtsein der Situation zu schaffen, die Wissenschaftler mehr kooperieren müssen, was i m Grunde genommen auch den M u t zum Dilettantismus m i t bedeuten würde und was auch interfakultative Zusammenarbeit beinhaltet. I n der Tat sind wir, wenn w i r uns zu früh die Scheuklappen anlegen, zwar effiziente Funktionäre, aber auch nicht viel mehr als das. Ich bin auch der Auffassung, daß es sich sehr wohl miteinander verträgt, daß man an einem Detailproblem fleißig schafft und sich dennoch Gedanken macht, wie das Problem i n andere Bereiche einzuordnen ist. Der Mensch w i r d durch seine Arbeit nicht so vollständig i n seinen Denkkapazitäten belastet, daß er sich nicht i n der Freizeit auch mal Gedanken über seine Arbeit machen könnte. W i r brauchen das sogar dringend. Wenn w i r heute vom Bildungsurlaub sprechen, dann liegt hier doch die Idee zugrunde, daß man sich über die größeren Zusammenhänge seiner Arbeit klar werden soll. Aus dieser Sicht empfehle

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ich natürlich auch einen Bildungsurlaub für die Wissenschaftler. Dieser Gedanke ist gar nicht so abwegig. Schließlich möchte ich die Beobachtung des Kollegen Rie aufgreifen, daß i n Amerika das Publikum nicht nur gern technische Produkte kauft, die optimal oder maximal eine Funktion erfüllen, sondern sogar zu gewissen verschnörkelten Produkten des Kunsthandwerks zurückgreift, etwa zu den Seelennudeln des Jugendstils. Dies zeigt, daß der Mensch offensichtlich doch sehr vielseitig angelegt ist und die wissenschaftliche Weltsicht nur eine der möglichen Weltsichten ist. Auch hier ist uns eine weise Beschränkung angemessen. Die Wissenschaft spielt eine mitentscheidende Rolle, aber ihre versachlichende Sicht auf die Welt ist natürlich nur eine Möglichkeit der Weltsicht. W i r werden uns dieser Weltsicht unbedingt bedienen müssen, um vernünftig zu handeln. Aber sachlogisches Handeln ist noch nicht vernünftiges Handeln an sich. U m vernünftig zu handeln, muß man sachlogische Erwägungen verbinden m i t einem Verantwortungsbewußtsein für Lebensformen, die wünschbar sind. Und die Wünschbarkeit von Lebensformen ist letztlich nicht prädeterminiert durch wissenschaftliche Erwägungen, sondern prädeterminiert durch das, wozu sich die Menschen entschließen. Hier kommen auch ästhetische, religiöse, emotionale Erwägungen dazu, all das, was w i r tagtäglich i n uns selbst erfahren. So kann i m Grunde genommen die Behandlung der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft einerseits darauf hinweisen, wie fundamental die Rolle der Wissenschaft ist, zum anderen aber muß sie immer wieder darauf hinweisen, daß wohl eine Diktatur der Wissenschaft genauso inhuman wäre wie alle früheren Diktaturen, die sich auf einen Teilbereich menschlicher Existenz bezogen haben. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Schönen Dank, Herr Kollege Fürstenberg, auch für Ihre abschließende Stellungnahme zur Diskussion. Sie haben vom sinnvollen Leben gesprochen, das der Wissenschaftler zu berücksichtigen hat. Ich möchte das abwandeln und sagen, i n einer wissenschaftlichen Tagung muß man auf einen sinnvollen Ablauf Rücksicht nehmen. Ich möchte daher m i t Rücksicht auf die Hörer die Pause einhalten.

Diskussion zum Vortrag von Prof. Heinz Hartmann, Ph. D., Münster Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Da m i r am heutigen Tage die Leitung der Diskussion obliegt, darf ich jetzt Ihnen, Herr Kollege Hartmann, zunächst recht herzlich für Ihre Ausführungen danken. W i r haben i n den drei ersten Vorträgen die Stellungnahme der Wissenschaftler zur Wissenschaft kennengelernt. Sie haben nun den Versuch unternommen, die Vorstellungen der Öffentlichkeit zum Thema „Wissenschaft" hier vorzutragen. Das ist ein interessanter Kreis, der sich hiermit schließt. Sie haben uns einen guten Überblick gegeben, und die Reformvorschläge zum Schluß Ihres Referates werden uns sicher viel Stoff für unsere Diskussion liefern. Nun bitte i n die Diskussion! Egon Backes (Duisburg-Hamborn) Herr Prof. Hartmann, Sie erwähnten vorhin, daß Rudolf K ü h n zunächst so erfreut war, daß i h m so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dennoch aber sehr enttäuscht, w e i l so wenig von seinen Ausführungen behalten wurde. Ich glaube aber, wenn ein Maurer vor einem Kreis von Professoren über seine Arbeit sprechen und dann hinterher Fragen stellen würde, wäre er sicherlich ebenso enttäuscht und würde von Dilettanten sprechen — vielleicht würde er auch einen anderen Ausdruck wählen. Ich w i l l damit sagen, daß die Fehleinschätzung der Wissenschaft ganz einfache Gründe hat. Die Wissenschaft schätzt sich ja selber ein. Und sie nimmt diese Einschätzung als Maßstab dafür, wie andere sie einschätzen sollen, ja, sogar als den einzig gültigen Maßstab überhaupt. Prof. Dr. Robert Rie (Fredonia/New York) Es sind i n Ihren glänzenden Ausführungen, Herr Kollege Hartmann, einige Bemerkungen über die Stellung der amerikanischen Professoren an amerikanischen Hochschulen gefallen, die ich, obwohl ich nicht offizieller Botschafter der USA bin, doch kommentieren möchte. Sie haben vor allen Dingen vorausgesetzt, daß man bei uns unter Wissen-

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schaft die Naturwissenschaften versteht. Das ist natürlich, insofern man von science spricht, richtig. N u n werden aber gerade bei uns neuerdings wiederum die liberal arts-Studien sehr stark in den Vordergrund gestellt, die durchaus als Wissenschaften anzusprechen sind und sozusagen die philologisch-historische Gruppe bilden. Die Wissenschaftler, die hier arbeiten, genießen sogar politisches Ansehen; denn viele Juristen, Staatswissenschaftler, sind Berater der Präsidenten in den sog. „kitchen-cabinets", wo sie neuerdings einen etwas gefährlichen Einfluß ausüben. Denken Sie nur daran, daß ein bestimmter Herr, der den Vietnam-Krieg soz. von amerikanischer Sicht her entworfen hat, von Kennedy i n dieses Hinterkabinett berufen wurde und noch immer i m inoffiziellen Kabinett des Präsidenten Johnson tätig ist. Ferner haben Sie gesagt, daß die Forschung i n industrielle Forschungsgremien abgewandert sei, also weg von den Universitäten. Ich glaube, das verhält sich etwas anders. W i r haben Forschungsstellen an den Hochschulen, sie werden z.T. von der Industrie finanziert. Allerdings ist es ein ewiges Problem unserer Hochschulen, daß die Forscher m i t Lehraufträgen überlastet sind. Sie müssen sowohl lehren als ihrer Forschungstätigkeit nachkommen, aber das i n den Forschungsinstituten der Hochschulen selbst. Man darf hier nicht Colleges und Universitäten durcheinanderwerfen. Die Colleges sind Hochschulen eines etwas niedrigeren Grades. Die Universitäten als graduate-schools und z.T. als post-graduate-schools vermitteln eine höhere Bildung und verleihen höhere Grade. Allerdings hat fast jede Universität auch ein College. Ich bin selber an einem solchen College tätig. Dr. R. Lautmann (Dortmund) Herr Prof. Hartmann hat drei Vorschläge gemacht, wie man i n der Öffentlichkeit das B i l d von der Wissenschaft und das B i l d von der Universität wieder i n Ubereinstimmung bringen könnte. W i r sollten uns fragen, ob das überhaupt wünschenswert ist. Sollen Wissenschaft und Hochschule identisch sein i n unserem Bewußtsein? Prof. Hartmann hat hier Vorschläge gemacht, die innerhalb der Hochschule aktuell sind. Aber w i r haben heute viele Teilnehmer hier, die nicht an der Hochschule sind; und es wäre sicher interessant zu hören, ob sie auch der Meinung sind, daß Wissenschaft und Universität gleichbedeutend sein sollen. Wissenschaft könnte ja auch an Volkshochschulen betrieben werden. Und die Sozialakademie Dortmund hat ja auch keinen Universitätsstatus. Es ist vielleicht doch etwas zu eng gefaßt, wenn das Prestige der Wissenschaft — und vor allem auch das viele Geld, das i n die Wissenschaft gesteckt w i r d — nur den Hochschulen zugute kommt,

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Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Schönen Dank für Ihren Beitrag. Können Sie noch etwas verkraften, Herr Kollege? Oder wollen Sie jetzt eine Stellungnahme abgeben? Prof. Heinz Hartmann, Ph. D. (Münster) Vielleicht wäre es besser, wenn ich ein kleines Fazit ziehe, weil die Diskussionsbeiträge auf verschiedenen Ebenen liegen und ich separat Stellung nehmen muß. Der letzte Diskutant, Herr Dr. Lautmann, hatte mir eine sehr starke Identifizierung m i t der Universität und ein gewisses Standesinteresse vorgeworfen. Ich fühle mich m i t dieser Bezeichnung natürlich nicht sehr wohl, aber er hat etwas Richtiges dabei gesehen: daß ich meine Vorschläge formuliert habe aus der Identifizierung m i t der Universität. Das ist völlig richtig. Und ich habe das sogar bewußt so gemacht, u. a. w e i l ich Ihre Reaktion zu dem vielleicht doch i m einen oder anderen Aspekt für Sie provokanten Vorschlag hören wollte. Die Provokation steckt allerdings nicht da, wo Herr Dr. Lautmann sie gesehen hat, gesehen zu haben scheint. Ich habe mich nicht dafür einsetzen wollen, daß die Hochschule sozusagen ein Wissenschaftsmonopol errichtet, sondern lediglich dafür plädieren wollen, daß die Hochschule sich selbst als wissenschaftlich ausgibt, und zwar nun nicht nur i n der Deklaration, sondern auch de facto — das hatte ich m i t „funktionalem Raum" gemeint, als ich meinen Vortrag etwas kürzen und auf solche Kürzel zurückgreifen mußte. Dieser Vorschlag beläßt durchaus die Möglichkeit, daß auch andere Institutionen und Einrichtungen der Gesellschaft sich wissenschaftlich geben. Die Wissenschaft soll kein Vorrecht, Privileg, ausschließlicher Besitz der Hochschule sein. Insofern w a r hier also ein kleines Mißverständnis i m Spiel. Nun, Wissenschaftlichkeit der Hochschule würde ja bedeuten, daß die Hochschule ihre Forschungsaktivitäten i m alten Ausmaß wieder ausübt. U n d ich würde meinen, daß i m Gegensatz zu etwa der Situation i n den Vereinigten Staaten die deutsche Hochschule hier gegen ein sehr starkes Handicap anzukämpfen hat. I m übrigen ist ja die Situation der amerikanischen Hochschule auch erst seit fünf oder sechs Jahren so günstig. Ich entsinne mich sehr deutlich an meine Zeit i n den Vereinigten Staaten, als man ein Wochenpensum von immerhin 11, 12 Lehrstunden zu bewältigen hatte, und zwar nicht nur als der Assistant-Professor, der ich war, sondern alle anderen Ränge der Professorenhierarchie desgleichen. Und die fast wütenden Memoranden sind m i r noch sehr deutlich i m Gedächtnis, m i t denen meine Kollegen

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aus der Seniorenstufe sich an die Universitätsverwaltung wandten, u m darauf hinzuweisen, daß sie seit Jahren nicht zur Forschung gekommen seien und daß dieser Zustand beendet werden müsse. Die Vereinigten Staaten haben vor kurzer Zeit — relativ kurzer Zeit — das Steuer hier herumgerissen, haben die Lehrverpflichtungen praktisch halbiert und damit dem Universitätsstab möglich gemacht, wieder Forschung zu treiben. I n der Bundesrepublik läuft die Tendenz j a i n anderer Richtung. W i r werden z. Z. ganz besonders hart von den Kultusministerien daran erinnert, daß w i r unseren Lehrverpflichtungen i n „vollstem" Umfange nachzukommen haben. Und w i r stehen i n einem dauernden Konflikt zwischen den Ansprüchen, die i m Lehrbetrieb auf uns zukommen, und den Verpflichtungen, denen w i r i m Forschungsbetrieb nachkommen zu müssen glauben. Ich stimme also teilweise m i t Ihnen überein, Herr Kollege Rie; aber ich bin doch der Meinung, daß w i r hier zwischen deutschen bundesrepublikanischen und amerikanischen Verhältnissen deutlich unterscheiden müssen. Nun, die Anmerkung, die Sie hier zum Prestige des amerikanischen Wissenschaftlers machten, die muß man doch, glaube ich, i n Perspektive setzen. Der amerikanische Professor hat ja an Prestige nicht absolut verloren; er steht seit Jahrzehnten unverändert — man kann es spezifizieren — auf Platz 8 der Prestigeliste. Er ist aber überflügelt worden von Kollegen, denen man neuerdings ein sehr viel höheres Prestige zuspricht und die man teilweise über mehrere Stufen hinweg befördert hat. Und dieses relative Zurückbleiben, dieser neue lag, schien mir des Kommentars besonders wert. Nun, dem ersten Diskutanten kann ich nur danken für den Trost, den er m i r zugereicht hat. Ich habe hier an die eigene Brust klopfen wollen, und ich b i n Ihnen sehr dankbar, daß Sie zur Sprache gebracht haben, daß die Arroganz des Wissenden (nicht des Wissenschaftlers, aber des Wissenden) allgemein verbreitet ist — und sogar bei Maurern auftritt. Prof. Dr. Robert Rie (Fredonia/New York) Ich bin selbst i n einem Komitee, das sich mit der Stundenanzahl beschäftigt, die gerade Herr Kollege Hartmann erwähnt hat. Durch die Überflutung der Universität mit Studenten ist das Problem der Lehrstunden der einzelnen Professoren wieder ganz groß geworden. Nur die Glücklichen unterrichten 12 Stunden. Es gibt bereits Hochschulen, wo 15 Wochenstunden verlangt werden. Also, die Bewegung ist wieder rückläufig, Herr Kollege, und ganz sicherlich i m Staat New York.

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G. Mackrodt (Goslar) Herr Professor Hartmann, wenn ich die Diskussionsbeiträge, die w i r bisher gehört haben, vergleiche, dann scheint m i r doch ein klärendes Wort darüber unerläßlich, welche Disziplinen nun wirklich als Wissenschaften anzusehen sind und welche nicht. Herr Staatssekretär Prof. Lübbe hat, polemisch zugespitzt, hier von den geschichtenerzählenden Wissenschaften gesprochen. Wenn ich ihn recht verstanden habe, dann meint er die Geisteswissenschaften, die man früher i m Gegensatz zu den exakten Naturwissenschaften verstand. A u f der Universität Konstanz gibt es ein neues Universitätsmodell, das als unwissenschaftliche Wissenschaft sogar die Medizin verbannt. Es war beabsichtigt, auch die Philosophie völlig zu eliminieren; sie ist m i t einem Restbestand, und zwar von Soziologie Dahrendorfscher Provenienz, übriggeblieben. Das alles läßt die Frage aufkommen, ob das, was w i r Psychologie, Pädagogik, Soziologie usw. nennen, nicht nur m i t ganz schmalen Teil- und Randbereichen als Wissenschaft i n dem Sinne zu verstehen ist, wie Sie sie z.B. i n Ihren Ausführungen als zu wertenden Gegenstand i m Wege der Umfragen usw. bezeichnet haben? W i r erleben doch ganz allgemein, daß der Laie so konträre wissenschaftliche Meinungen über bestimmte Fragen unserer Gegenwart vorgesetzt erhält, daß er, der die Zusammenhänge nicht kennt und die Differenzierung nicht vornehmen kann, zu der vordergründigen Feststellung kommen muß: Die Wissenschaft weiß ja überhaupt nicht, was sie w i l l ! Herr Prof. Lübbe hat gesagt: Unwissenschaftlich ist jeder Versuch, den Gesamtablauf unserer Geschichte, unseres Lebens usw. wissenschaftlich terminieren zu wollen. Und seine Begrenzung auf spezielle Teilbereiche ist nicht der Versuch einer künstlichen Verengung der Fragestellung, sondern eben die Konsequenz aus einer solchen Einsicht. Darüber muß man sich klar sein. Und erst wenn man diese Vorfrage bereinigt hat, glaube ich, ist es überhaupt sinnvoll, von einem Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft, von Umfragen und deren Ergebnissen zu sprechen, weil man sonst Dinge miteinander vermengt, die nur durch eine falsche Wortwahl miteinander zu t u n haben. Dr. Wolfgang Lipp (Bochum) Sie haben, Herr Prof. Hartmann, dazu beigetragen, die Wissenschaft, deren Position i n der jüngsten Zeit ja fraglich geworden ist, i n der Gesellschaft neu zu orten. Sie gingen von der Wissenschaft auf der einen Seite und der Gesellschaft oder Öffentlichkeit auf der anderen Seite aus. Sie sagten, die Wissenschaft müsse in dieser Gesellschaft ihre

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Funktion z. T. selbst bestimmen, sie müsse ein politisches Mandat ergreifen, w e i l sie i n der heutigen Situation Kräften, die aus der Gesellschaft und aus der öffentlichen Meinung kommen, ausgesetzt ist, die ihrerseits einen Druck auf die Wissenschaft auszuüben versuchen. Ich meine, daß Sie noch einen dritten Faktor stärker berücksichtigen sollten: den Faktor Staat, der ja von der Gesellschaft und der öffentlichen Meinung einerseits und der Wissenschaft andererseits zu unterscheiden ist. Die Öffentlichkeit, zu der ich — vielleicht ist das fragw ü r d i g — jetzt die organisierte Studentenschaft rechne, ist gegenüber dem Staat i n der Vorderhand. Die öffentliche Meinung w i r k t viel mehr auf die Machtgruppe Staat ein als die Wissenschaft selbst. Die Wissenschaft und die Vertreter der Wissenschaft, Professoren, Assistenten, sind vom Staate ja abhängig; sie haben keine große Macht, sich einen neuen Standort zu suchen oder i h n vom Staat zu fordern. Das kann aber öffentliche Meinung, das kann vor allen Dingen die organisierte Studentenschaft, die der Wissenschaft gegenüber ja keine Verantwortung hat, die sich aber i m Staat und vor staatlichen Organen Gehör zu schaffen versteht. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Herr Prof. Hartmann w i r d sicher dies Problem besonders aufgreifen. Darf ich sie bitten, Herr Kollege, jetzt abschließend Stellung zu nehmen. Prof. Heinz Hartmann, Ph. D. (Münster) Vielleicht darf ich zunächst auf den Diskussionsbeitrag eingehen, der das Wissenschaftsverständnis der Öffentlichkeit m i t einem, sagen w i r einmal, objektiven Befund über Wissenschaft zu konfrontieren versuchte und der dabei i n die Nähe eines doch recht paradoxen Faktums kam: zu der Tatsache nämlich, daß die Öffentlichkeit einen strengeren, rigideren Wissenschaftsbegriff unterhält als die Wissenschaft selbst. Es ist sicher m i t einem gewissen Schock, m i t einer gewissen Überraschung, m i t dem Gefühl der Enttäuschimg, glaube ich, daß die Öffentlichkeit die Berichte zur Kenntnis nimmt, die etwa über den Contergan-Prozeß an die Öffentlichkeit kamen. Hier w i r d sehr deutlich, daß eine Tatsache, die für die Öffentlichkeit relativ klar und durchsichtig scheint, den Wissenschaftlern m i t der letzten Konsequenz doch nicht zugänglich wird, daß die Gutachter sich widersprechen i m besten Wissen u n d Gewissen. Hier w i r d genau deutlich, daß die Öffentlichkeit sich idealerweise von Wissenschaft ein bestimmtes Urteil zu einer Sache, ein festes Urteil, erarbeitet nach strengen Methoden, verspricht; daß ein solches Urteil dann aber ausbleibt und anscheinend gar nicht erarbeitet werden kann.

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Dieser Anspruch an die Wissenschaft scheint ja auch immer dort durch, wo Wissenschaft m i t Forschung gleichgesetzt wird. Forschung w i r d dabei, wenn man nachfaßt, verstanden i m Sinne der experimentellen Forschimg, also einer Forschimg, die sich der verbindlichsten Methode bedient, die man i n der Suche nach neuen Erkenntnissen überhaupt verwenden kann. Nun, dieser kompromißlose und unbedingte Anspruch an die Wissenschaft t r i f f t zusammen m i t einem sich immer mehr aufweichenden Verständnis von Wissenschaft an den Hochschulen und den Universitäten. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, daß man Wissenschaft i n der Öffentlichkeit nicht mehr gleichsetzt m i t Universität. A n den Universitäten macht sich z. Z. eine Tendenz breit, die vielleicht nicht durch die Verhältnisse i n Konstanz getroffen wird, sondern — ich würde sagen — eher durch den Durchschnitt der Universitäten; ich meine die Tendenz, als Wissenschaft jedes methodische Suchen nach neuen Erkenntnissen anzuerkennen, auch wenn es sich nicht experimenteller Methoden bedient und selbst wenn es lediglich m i t Argumenten arbeitet, die nur den Rang der Plausibilität haben. I n meinem Fach beispielsweise hat man sich i n letzter Zeit ausdrücklich zur Anerkennung des Plausibilitätskriteriums verstanden, nachdem man lange Jahre i n umgekehrter Richtung vorzugehen versucht hat i m Zeichen des Neopositivismus, der nur quasinaturwissenschaftliche Ergebnisse i n den Sozialwissenschaften gelten lassen wollte. Diese Konfrontation zwischen einer unvermuteten Rigidität auf der Seite der Öffentlichkeit und einer unvermuteten Großzügigkeit auf der Seite der institutionierten Wissenschaft hat eine ganz aktuelle Komponente da, wo Vertreter der Universität m i t Studenten über Wissenschaft argumentieren. I n der Regel w i r d bei solchen Diskussionen, wenn Wissenschaft dann zur Debatte steht, von den Studenten gefragt: Ja, was verstehen Sie denn unter Wissenschaft? Dann möchte man seinen Lehrern auf den Zahn fühlen, u m zu sehen, ob hier etwa ein Wissenschaftsverständnis auftaucht, das keine Öffnung zur „politischen" Praxis h i n hat, das sich streng positiv gibt, i m Sinne des empirisch-wertfreien Forschens. Und die A n t w o r t auf diese Frage lautet dann häufig so: W i r kennen keine Wissenschaft, w i r kennen nur Wissenschaften; w i r haben einen pluralistischen Wissenschaftsbegriff, i n dem eben nicht mehr die Wissenschaft anerkannt wird, sondern verschieden geartete und verschieden formulierte Vorstöße i n Richtung offener Erkenntnisse. Nun, das ist ein Paradoxon, das man — glaube ich — jetzt nicht irgendwie verbindlich auflösen kann. Ich kann von meiner Position her nicht apodiktisch sagen, das eine ist richtig, oder das andere ist richtig, w e i l m i r scheint, daß die absolute Basis nicht gegeben ist, von der aus man ein solches Urteil fällen könnte, daß diese Basis weder für mich besteht

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noch für diejenigen, die da glauben, daß es eine bestimmte Wissenschaft geben müßte. Die andere Frage, die hier angeschnitten ist, scheint m i r ebenso offenbleiben zu müssen. Herr Dr. L i p p hat, wie das richtig, verständlich und wahrscheinlich war, die Rolle des Staates i n diesem Zusammenhang herauszustellen versucht. Natürlich gibt es i n diesem Verhältnis: Wissenschaft zur Öffentlichkeit den Staat als dritte Partei. Und ich würde sagen, daß die Auseinandersetzung zwischen Öffentlichkeit und Universität i n der Tat durch den Staat beeinflußt werden dürfte. Nur, w i r wissen i m Augenblick nicht, i n welcher Rolle der Staat i n Zukunft wo tätig werden wird. I m Augenblick beobachtet man viel mehr eine Auseinandersetzung um die Frage, wer wohl hier mehr Macht und mehr Entscheidungsbefugnis ausüben soll. So hat beispielsweise Prof. Butenandt, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, ja eben erst, gestern, dem Staat klarzumachen versucht, daß er die Verantwortimg für bestimmte Mißstände trage und daß — das ist wohl die Implikation aus dieser Beanstandung — er für die Abhilfe solcher Zustände zu sorgen habe. Wenn dieser Vorschlag Eindruck macht, wenn dieser Vorschlag umgesetzt w i r d i n eine staatliche Wissenschaftspolitik, dann w i r d man erleben können, daß i n der Tat die politische Konfrontation zwischen Universität und Öffentlichkeit vom Staat her sehr stark mitbestimmt wird, wie das i m Augenblick übrigens der Fall ist. A u f der anderen Seite aber sind doch deutliche Tendenzen beobachtbar, durch die der Staat die Universitäten, die Hochschulen i n die Lage zu setzen versucht, Entscheidungen selbst treffen zu können, die früher der Staat getroffen hat. Das gilt etwa i m Bereich des Personals, das gilt i m Bereich des Haushalts. Hier w i r d offensichtlich eine gewisse Verselbständigung der Hochschulen angestrebt; m i t welchem Ziel, ist m i r nicht ganz durchsichtig, aber es scheint, daß hier doch i n der Tat der Staat bis zu einem gewissen Grad mit einem Subsidiaritätsprinzip zu arbeiten versucht: I h r könnt für Euch selbst sorgen, also bitte, nehmt Euer Schicksal i n die Hand! Wie sich die nahe Zukunft gestalten wird, das vermag ich nicht zu sagen. Und ich habe darum m i t einem gewissen Aufatmen dieses Thema ausgeklammert und mich konzentriert auf diese beiden Gruppen, die ich i n meinem Vortrag nun angesprochen hatte. Abschließend noch etwas: Mich wundert, daß aus Ihren Reihen die Frage nicht aufgegriffen wurde, ob denn nun hier eine Öffentlichkeitspolitik betrieben werden solle, durch die das B i l d der Universität verbessert werden könne, durch die aber die Zustände an den Universitäten u. U. unberührt bleiben. Es ist ebenfalls nicht zur Debatte gestellt worden — und ich hätte an sich sehr gerne diese Frage gehört —, ob denn die öffentlichkeits-

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politik der Universitäten nicht vielleicht die Universität i n Richtungen führe, i n die man sie nicht gehen lassen sollte. Es steht ja doch beispielsweise das Problem völlig ungelöst vor uns, ob denn die Universitäten überhaupt i n der Lage sind, gleichzeitig zwei hochspezialisierten Funktionen gerecht zu werden? Nämlich einmal der Ausbildung und Bildung, wenn Sie wollen, und zweitens der Forschimg. Es steht ja doch das Problem ungelöst vor uns, ob w i r nicht etwa das System übernehmen sollten, das i n den sozialistisch-kommunistischen Ländern praktiziert wird, nämlich eine Arbeitsteilung zwischen den Universitäten einerseits und den Akademien der Wissenschaft andererseits. Dort w i r d i n den Universitäten Ausbildung betrieben, während die Akademien der Wissenschaft sich — arbeitsteilig — auf Forschung spezialisieren. Dadurch, daß ich diese kritischen Anmerkungen, die ich so aus Ihrem Kreis vermißt habe, nun selbst anspreche, möchte ich betonen, daß in meinen Vorschlägen, in meinen Empfehlungen zur Öffentlichkeitspolitik der Universitäten, auch von mir aus gesehen, noch einiges offen ist; daß m. E., wenn man das Thema ausweitet und sich die Zeit nähme, man sehr w o h l nun noch Alternativen besprechen könnte zu den Vorschlägen, die ich gemacht habe, Alternativen, die dann weiterführen, die komplexere Auswirkungen haben. M i r scheint aber, daß, solange solche Alternativen undiskutiert bleiben, meine Damen und Herren — nicht nur hier, sondern i n der Bundesrepublik überhaupt —, solange solche Alternativen undiskutiert bleiben und wenig reale Chancen der Durchsetzung haben, die von m i r empfohlenen Schritte vielleicht gute erste drei Schritte sein könnten. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) W i r danken Ihnen, sehr verehrter Herr Kollege, für die ausgezeichnete Stellungnahme zu den Diskussionsbeiträgen. Ich möchte noch einmal betonen, daß w i r der Diskussion stets freien Lauf lassen, damit man ein wirkliches B i l d der Resonanz bekommt, d. h. feststellen kann, wie die Ausführungen bei den Zuhörern ankommen und was die Zuhörer für wichtig halten. Ich danke allen Diskussionsteilnehmern für ihre Beiträge, und ich danke Ihnen allen für I h r aufmerksames Zuhören.

Diskussion zum Vortrag von Priv.-Doz. Dr. Heiner Flohr, Köln Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Herr Dr. Flohr, w i r danken Ihnen besonders für die Weite, m i t der Sie ausgeholt haben, die Fülle des Stoffes und das Engagement, m i t dem Sie vorgetragen haben. W i r wissen das zu schätzen, gerade hier an der Sozialakademie. Ich glaube, es ist jedem der hier Anwesenden deutlich geworden, daß i m Grunde eine völlig wertfreie Wissenschaft nicht mehr bestehen kann. Die Gründe dafür haben Sie i n Ihrer Betrachtung über politisches oder apolitisches Selbstverständnis überzeugend vorgetragen. Die Darbietung der Thesen am Schluß macht es uns leicht, i n die Diskussion einzutreten. Dr. Otto Kunze (Düsseldorf) Soweit das nach einmaligem Hören eines Vortrages möglich ist, möchte ich mich m i t den Ausführungen von Herrn Dr. Flohr v o l l identifizieren. Wenn ich jetzt etwas zur Sache sage, so ist das also kein kritischer Beitrag, sondern eine Bemerkung zu Ihrer letzten These, nämlich zu der Frage: Wie sieht die Gesellschaft den Wissenschaftler, und wie sollte ein Wissenschaftler nach meiner gesellschaftspolitischen Auffassung aussehen? Erlauben Sie mir, daß ich als ein Beispiel des Wissenschaftlers — es gibt ja mehrere Typen von Wissenschaftlern —, den Universitätsdozenten nehme. Wenn ich den Universitätsdozenten als Wissenschaftler charakterisiere, dann hebe ich damit eine von seinen vielen gesellschaftspolitisch relevanten Eigenschaften, also seine wesentliche Funktion, hervor, eben die, Wissenschaftler zu sein. N u n muß aber diese Tätigkeit aufgespalten werden i n mindestens drei Funktionen. Die erste Teilfunktion ist die des Wissenschaftlers i m engeren Sinne, des Forschers, der Wissen sammelt, Wissen i m Sinne von Aussagen, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Die zweite Teilfunktion ist die des Lehrers, der die Aufgabe hat, dieses Wissen seinen Hörern zu vermitteln, und der seine fortgeschrittenen Hörer dazu anleitet, selbst zu forschen. Das scheint m i r noch eine sehr neutrale Funktion zu sein, die aber natürlich i n gesellschaftspolitischer Hinsicht sehr unzulänglich wahrgenommen wird, wenn der Lehrer nicht zugleich auch — und das ist die dritte Teilfunktion — i n

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einem sehr qualifizierten Sinne Erzieher ist. Das bedeutet, er muß eine Persönlichkeit sein; und eine Persönlichkeit kann er nur sein, wenn er auf bestimmte ethische Grundwerte ausgerichtet ist. Bei der Höhe seines Intellekts muß man von i h m verlangen, daß er bewußt auf solche Grundwerte ausgerichtet ist. Wenn der Universitätsdozent über seine sittliche Position nachdenkt, w i r d er jedoch sofort i n den gesellschaftlichen Raum vorstoßen, i n dem er sich als Dozent und Mensch bewegt. Er kann nicht umhin, darüber nachzudenken, wie er zu seinen Mitmenschen, wie er zur Gesellschaft steht. Also muß m. E. ein gesellschaftlich bewußter Dozent zugleich auch ein bewußter Bürger sein. I n dieser Eigenschaft — dies möge niemand falsch verstehen — erwarte ich vom Dozenten nun allerdings auch Parteilichkeit. Es gibt ja keine einheitliche Meinung über Gesellschaft, es gibt mehrere Meinungen, Gott sei Dank; die Pluralität begründet unsere Freiheit. Ich erwarte daher von Universitätsdozenten als Bürger, daß er eine Meinung hat. Wer keinen politischen Ehrgeiz hat, braucht sie nicht auf dem M a r k t auszuschreien, aber ich verlange von ihm, daß er sich ihrer bewußt ist. Was nun den Juristen betrifft, so b i n ich Ihrer Meinung, ich fand sie gar nicht provokatorisch, sondern erfreulich offen. Aber Sie sind nicht Jurist, deshalb können Sie sich diese Offenheit leisten. Der Erkenntnisgehalt der Jurisprudenz ist i n der Tat erschreckend gering. Er steht i n genau umgekehrtem Verhältnis zu dem gesellschaftspolitischen Anspruch, den die Juristen erheben. Was kann der Jurist erkenntnismäßig tun? Er kann Normen beschreiben, Normen entweder i m präzisen Sinne des Befehls, den irgendjemand irgend jemandem erteilt — z. B. der Gesetzgeber dem Volk —, oder vielleicht auch nach ähnlichen Verhaltensweisen suchen, u m aus diesen Regeln zu destillieren, die er dann als Normen bezeichnet. Aber da kommt er schon sehr i n die Irre. Also lassen w i r es lieber bei der Beschreibung von Befehlen. Die Jurisprudenz ist Wissenschaft i m Sinne von Wissenssammlung m i t Anspruch auf Gemeingültigkeit nur, soweit sie Normen beschreibt. Alles andere unterliegt dem Streit. Jeder Kommentator beschreibt natürlich zunächst die Norm, die er kommentiert. Aber dann sieht er, daß es keine Möglichkeit gibt, die Totalität der Wirklichkeit i n einer Norm einzufangen, und gelangt blitzschnell zu der Erkenntnis, daß die Norm, und sei sie noch so präzise formuliert, mehrere Deutungen zuläßt. Der gute Kommentator trägt diese verschiedenen Bedeutungen i n seinem Kommentar vor, das ist auch noch Wissenschaft. Wenn er aber sagt: Diese ist die richtige!, verläßt er den Hof der Wissenschaft und schreitet hinüber i n die Entscheidung, die i n diesem Falle wegen 20 Tagung Dortmund 1968

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der Allgemeinbedeutung der juristischen Norm immer eine politische Entscheidung ist. Ich bedauere sehr, daß i n Deutschland dieser Schritt nicht offen vollzogen wird. Das führt zu einer sehr häßlichen Scheindiskussion. Wer eine andere Meinung vertritt, w i r d nicht erkannt und anerkannt als ein Mann m i t einer achtenswerten, logisch möglichen anderen Meinimg, sondern er w i r d verdammt als ein schlechter Jurist, d. h. als ein wissenschaftlich unzulänglicher Mensch, ja, vielleicht findet man, daß er eigentlich auch gesellschaftlich unmöglich ist. Die Analyse der verschiedenen Deutungen läßt sich immer zurückführen auf verschiedene gesellschaftspolitische Standpunkte. Diese Standpunkte sollten präzisiert, sollten offen ausgesprochen werden, und man sollte sich, auch vor Gericht, u m die Richtigkeit dieser gesellschaftspolitischen Standpunkte streiten. Das kann unter geschulten Menschen, wie es Juristen j a unzweifelhaft sind, m i t aller Vornehmheit, m i t aller Präzision geschehen. Und dann soll das Gericht sagen: W i r Richter entscheiden uns aus den und den Gründen für die und die Deutung, d. h. für die und die gesellschaftspolitische Lösung, die uns eine der streitenden Beteiligten hier angeboten hat. Wenn das so säuberlich getrennt würde, wäre erstens der Bereich der Wissenschaftlichkeit umgrenzt und gewahrt und würde sich zweitens die Qualität der deutschen Rechtsposition wesentlich verbessern. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Herzlichen Dank, Herr Dr. Kunze, für Ihren außerordentlich wertvollen Beitrag. Ich könnte i n gleicher Weise zu meiner Disziplin etwas sagen — es ist da ganz ähnlich. Jeder Arbeitswissenschaftler bei uns i n der Bundesrepublik kann nicht anders, als i m letzten ebenfalls gesellschaftspolitisch ausgerichtet sein. Es ist die Auffassung einiger Arbeitswissenschaftler, daß hier ein Mißbrauch erfolgt. Der größere Teil, das kann ich aus Erfahrung sagen, ist jedoch der Meinung, daß es ein guter Gebrauch ist, den die Öffentlichkeit, die Arbeitsgerichte, oder wer es sein mag, von unserer Tätigkeit machten. Möchten Sie, Herr Dr. Flohr, nun unmittelbar auf die Stellungnahme von Herrn Dr. Kunze antworten? Ja? Also bitte sehr! Priv.-Doz. Dr. Heiner Flohr (Köln) Herr Dr. Kunze hat auf die bedauerliche Vermengung von Normfragen m i t Sachfragen hingewiesen. Ich kann i h m nur voll zustimmen. Dann kommt ein weiteres Problem hinzu. Man ist nämlich auch dann, wenn man sich auf Sachfragen beschränkt, noch nicht politisch

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neutral. Auch sachlich richtige Aussagen können durch die A r t ihrer Anordnung und ihrer Formulierung einen falschen Eindruck erzeugen, ohne daß Wertungen geäußert werden und unabhängig davon, ob der Sprecher einen falschen Eindruck erzeugen w i l l . Lassen Sie mich den Fall, daß durch richtige Aussagen bewußt ein falscher Eindruck erweckt wird, i n Form eines Witzes zeigen. A n einem Autorennen haben nur ein amerikanischer und ein sowjetischer Wagen teilgenommen. Der Amerikaner gewann m i t gewaltigem Vorsprung. A m nächsten Tage berichtet die „Prawda", ohne die geringe Beteiligung an diesem Rennen zu erwähnen: „Das gestrige Autorennen bewies die Qualität unserer Automobilindustrie. Es gelang dem sowjetischen Wagen, als zweiter die Ziellinie zu passieren. Der amerikanische Wagen wurde vorletzter." Natürlich kann man die Geschichte auch so erzählen, daß nachher auf Kosten der Amerikaner gelacht wird; darauf kommt es hier ja nicht an. Das Beispiel soll nur zeigen, wie durch Weglassen wichtiger Informationen bewußt ein falscher Eindruck geschaffen werden kann, ohne daß man Wertungen äußert. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Zufrieden, Herr Dr. Kunze? Dann Herr Kollege Prof. Jahn. Bitte sehr! Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Herr Flohr, lassen Sie mich zu einigen Punkten etwas Kritisches vermerken. Zunächst zu Ihrer Aussage, Lehre diene immer nur der Wahrheitsverbreitung. Man kann doch sicherlich i n einem weiteren Sinne auch sagen — jetzt aus der Sicht der Hörer und der Diskussion: Lehre dient nicht nur der Wahrheitsverbreitung, sondern auch der Wahrheitsfindung. Dann haben Sie mich als Soziologen ganz persönlich angesprochen, als Sie sagten: Der Soziologe verstehe sich als ausgelernt. Da möchte ich allerdings doch annehmen — selbst wenn Sie gesagt haben: einige Soziologen —, es ist noch immer hart genug. Vielleicht meinten Sie, einige Soziologiestudenten verstehen sich als ausgelernt. Möglicherweise fahren heute einige Soziologen unter falscher Flagge — das ist etwas anderes, z. B. unter der Flagge der Sozialphilosophie, ohne das klar genug erkenntlich zu machen. I n diesem Zusammenhang möchte ich an Sie doch die Frage richten: Glauben Sie nicht, daß das Postulat Max Webers über die Wertfreiheit nach wie vor noch seine Gültigkeit hat und daß man diesem Postulat der Wertfreiheit entsprechen kann, ohne sein politisches 20*

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Engagement aufzugeben? Falls Sie hierzu noch einiges sagen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar, und das nicht zuletzt auch i m Interesse der Studierenden an der Sozialakademie. Priv.-Doz. Dr. Heiner Flohr (Köln) Zunächst zum ersten Punkt. Ich sagte, daß die Lehre der Vermittlung von Wahrheit dient, nicht der Vermehrung von Wahrheit. Dabei meinte ich m i t „Vermehrung von Wahrheit" den Zuwachs an Erkenntnis, die vorher nirgendwo bestand, nicht hingegen die Vermittlung bereits vorhandener Erkenntnisse an andere Menschen. Ich gebe aber zu, daß es vielleicht zweckmäßig ist, auch die Vermittlung bereits vorhandener Wahrheit als Wahrheitsfindung anzusehen. I m Referat habe ich offenbar mißverständlich formuliert; i n der Sache stimmen w i r , glaube ich, ganz überein. Daß auch bei Gelegenheit der Lehre völlig neue Erkenntnisse gewonnen werden können, hatte ich erwähnt. Ihrem zweiten Einwand möchte ich mich zu entziehen versuchen, indem ich jetzt von manchen sich ausgelernt fühlenden Sozialpolitikern spreche. Es kommt m i r nicht auf das Fach an, und so ist es natürlich fairer, wenn man sein eigenes Fach belastet. Vielleicht stand ich zu sehr unter dem Eindruck bestimmter jüngster Ereignisse, aber ich möchte nicht so verstanden werden, als sähe ich den von m i r kritisierten Typ häufiger i n der Soziologie als i n anderen Disziplinen vertreten. Allerdings habe ich keineswegs nur Studenten i m Auge! Jetzt zu M a x Webers Postulat der Wertfreiheit. Die moderne Wissenschaftslehre, die Webers Forderung der Wertfreiheit übernommen hat, verneint gewiß nicht die politische Verantwortimg des Wissenschaftlers. Sie betont den Unterschied zwischen wertenden und nichtwertenden Aussagen. Das ist völlig korrekt, nur w i r d diese Unterscheidung von Leuten, die politische Verantwortung ablehnen, oft zur „Begründung" dieser ihrer Position mißbraucht. Es kommt somit auf das richtige Verständnis des Prinzips der Wertfreiheit an. Ich selbst bin i n weiten Bereichen meiner Arbeit Anhänger dieses Postulats. Was soll beim eigentlichen Forschungsprozeß auch ein Werturteil? Die Gefahr ist aber, daß unter Berufung auf Max Weber alle Wertentscheidungen aus der Wissenschaft ausgeklammert werden, als hätten sie m i t wissenschaftlicher Arbeit nichts zu tun. Für verantwortungsscheue Wissenschaftler ist das eine große Versuchung. Vielleicht sollte auch i n der Lehre dieser Versuchung ebenso energisch entgegengewirkt werden wie der Vermengung von wertenden und wertungsfreien Aussagen; zumindest wäre das kein Widerspruch.

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G. Maderodt (Goslar) Herr Dr. Flohr, ich möchte mich herzlich bedanken für I h r Heferat. Für mich war es die Antwort auf meinen Diskussionsbeitrag i m A n schluß an den Vortrag von Prof. Hartmann. Ihren röntgenologischen Befund der Sozialwissenschaften, soweit er das Selbstverständnis der hier tätigen Wissenschaftler betrifft, unterschreibe ich vollständig. N u r hätte ich die Frage: Wie grenzt sich der homo politicus von dem i n diesen Sozialwissenschaften tätigen Wissenschaftlern noch ab? Wenn ich Ihre These 6 über die mögliche Verfehlung des Selbstverständnisses ansehe, dann scheint mir, daß man das auch auf Politiker anwenden kann. Sie finden hier genau die gleichen Verfehlungen, und je nach dem politischen Standort des einzelnen, kann er diese Kategorien Meier, Schulze, Lehmann zuordnen, und er w i r d beliebig viele Beispiele i n unserer politischen Wirklichkeit dafür finden: Selbstüberschätzung und Diskrepanz zwischen artikuliertem Selbstverständnis und tatsächlicher Interessenlage usw. Könnte man die Differenzierung zwischen dem Politiker und dem i n den Sozialwissenschaften tätigen Wissenschaftler etwa so vornehmen, daß man sagt: Der Wissenschaftler ist der politische Techniken Darbietende — denken w i r z. B. daran, daß man die Entscheidungstheorie auf w i r t schaftliche Probleme, genausogut aber auf die Partnerwahl oder auf Wahlkampftaktiken anwenden kann —, während das Geschäft des Politikers darin besteht, unter Selektion bestimmter Argumente, die seinem Temperament und seiner spezifischen politischen Lage entsprechen, für seine politischen Thesen Mehrheiten zu mobilisieren. Eine zweite Frage. Sie haben davon gesprochen, daß immer nur partielle Ziele bekanntgegeben werden, die i n Wirklichkeit Zielen höherer Größenordnung dienen. Ist das so etwas wie eine Verschwörungstheorie? Sie verstehen, was ich damit meine. Und eine dritte Frage. I n Ihrer These 12 sagen Sie zum Schluß: Verstümmelte Vernunft — den Ausdruck fand ich wunderbar — führe zum Verwechseln von organisatorisch (einschl. rechtlich) geregelter Verantwortlichkeit m i t moralischer Verantwortung. Hierüber nachzudenken möchte ich den Gewerkschaften i n bezug auf die M i t bestimmungsdiskussion empfehlen. Die Praxis beweist nach meinem Dafürhalten — und ich glaube ein bißchen davon zu wissen —, daß manche Arbeitsdirektoren sich gerade m i t dieser verstümmelten Vernunft ein A l i b i schaffen. Sie sagen etwa: Ich bin nur für einen bestimmten Bereich verantwortlich — und das auch nur partiell, das Ganze kann ich gar nicht ändern; folglich ist die übergreifende Vernunft, nämlich die Rationalität bestimmter Unternehmenszwecke, in der Rationalisierung usw., unausweichbar, und insoweit bin ich eben

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hier exkulpiert. Hier stellt sich die Frage: Ist es überhaupt möglich, sich so partiell zu bescheiden? Sagen Sie uns wenigstens andeutungsweise, was Sie unter gesellschaftlicher Moral verstehen. Priv.-Doz. Dr. Heiner Flohr (Köln) Ihre erste Frage, Herr Mackrodt, haben Sie, so meine ich, zu einem wesentlichen Teil selbst schon beantwortet, indem Sie nämlich daran erinnerten, daß der Politiker Mehrheiten gewinnen muß, um seine Ziele realisieren zu können. Diese Schwierigkeit hat ja der Wissenschaftler nicht; seine politische Verantwortung kann und muß sich anders ausdrücken. Vielleicht darf ich das an einem Beispiel erläutern und dabei zugleich eine Teilantwort auf Ihre dritte Frage zu geben versuchen. Die Wirtschaftstheorie von Lord Keynes war vor einiger Zeit hierzulande politisch suspekt. Seine Vorstellungen waren vielen Leuten zu „planerisch", und das hieß: zu „links". Heute gehört die Keynessche Konzeption zum zentralen Gedankengut unserer Wirtschaftstheorie, und auch die Wirtschaftspolitik geht nicht an ihr vorbei. Nun kann man sich m i t der Keynesschen Konzeption befassen, indem man nur fragt, ob sie sachlich stimmt. Natürlich liegt einem Wissenschaftler diese Fragestellung am nächsten. Vielleicht genügt i h m dieser Aspekt. Er könnte aber außerdem fragen — und zwar nicht nur aus Erkenntnisdrang, sondern auch aus politischem Interesse —, wem denn das Keynessche Instrumentarium i n der Praxis dient. Es gibt ja die These, die Keynessche Konzeption diene der Stabilhaltung der „spätkapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft". Wenn diese These präzisiert wird, kann sie auf ihre Richtigkeit h i n geprüft werden. Man kann sich völlig wertungsfrei m i t ihr befassen, nur ob man sich dieser These überhaupt stellt, ob man sich m i t ihr befaßt, hängt ab von Wertungen. Hier bedarf es der Entscheidung, mag diese nun offen ausgesprochen werden oder nicht, mag sie als wissenschaftlich gelten oder nicht. Hier steht auch der Wissenschaftler in politischer Verantwortung, nur eben i n anderer Weise als der Politiker. Der Politiker ist Großproduzent wertender Äußerungen und suggestiver Formulierungen. Nicht in dieser Weise braucht der Wissenschaftler seine politische Verantwortung zu demonstrieren, und er sollte es, meine ich, so auch nicht tun. Er kann ihr aber gerecht zu werden versuchen bei der Auswahl seiner Forschungsobjekte und bei der Bestimmung der Weite des Aspekts, unter dem er an die Gegenstände seiner Arbeit herangeht. Sie sagten dann, Herr Mackrodt, der Wissenschaftler biete Techniken an. Man gewinnt ja technologische Aussagen aus theoretischen Aussagen.

Diskussion zum Vortrag von H i n Hier kann ich m i r — jetzt gehe ich auch auf Ihre dritte Frage ein — die Wahrnehmung politischer Verantwortung durch den Wissenschaftler so vorstellen, daß er nicht bereit ist, für beliebige Auftraggeber und i m Blick auf beliebige Ziele Technologien zu entwickeln. Das Bewußtsein politischer Verantwortung bewirkt hier nicht, daß man Wertungen äußert, sondern daß man i n bestimmten Fällen die Mitarbeit verweigert. Der Einwand, der Wissenschaftler müsse doch schon seiner Karriere wegen veröffentlichen und publiziertes Wissen könne ja nicht mehr verheimlicht werden, ist nicht allzu stark; die meisten etwa i n Fachbüchern und Fachzeitschriften veröffentlichten Arbeitsergebnisse sind für die Praxis nicht unmittelbar brauchbar, sondern müßten zu diesem Zweck erst in „handliche" Technologien umformuliert werden. Diese Ubersetzung ist oft recht schwierig, und spätestens hier kann der Wissenschaftler sagen: Ohne mich! Er kann das aus politischer Verantwortung heraus sagen. Jetzt zu Ihrer zweiten Frage, Herr Mackrodt, nämlich ob ich eine A r t Verschwörungstheorie verträte. Daß der „letzte Sinn" manchen Verhaltens oft nicht ohne weiteres einsichtig ist, liegt zum Teil einfach an der Kompliziertheit einer hochentwickelten Industriegesellschaft m i t sehr fortgeschrittener Arbeitsteilung. Zumindest insoweit kann von einer Verschwörung keine Rede sein. Allerdings wies ich darauf hin, daß manche M i t t e l nicht unbedingt tatsächlich den Zwecken dienen, denen sie offiziell zugeordnet sind; da haben Sie mit Ihrer Frage nachgestoßen, und ich bin eine Konkretisierung schuldig. Betrachten w i r einmal folgende beliebte Argumentationskette: Die Leistung i n einem Betrieb bewirkt den Umsatz; dieser trägt zur Größe des Sozialproduktes bei, welches angibt, was i n einem Zeitabschnitt, etwa einem Jahr, an wirtschaftlichen Leistungen für die Gesamtheit des Volkes erbracht worden ist. Das Sozialprodukt ist der gemeinsam gebackene Kuchen, der dann noch gerecht zu verteilen ist. Solche Argumentationsketten, von denen ich hier eine nur sehr knapp skizzieren konnte, sind noch heute sehr oft anzutreffen, obwohl sie empirisch und ideologiekritisch längst widerlegt sind 1 . Bei genauerer Prüfung erweist sich ja, daß weder der Gewinn noch der Umsatz angibt, welchen gesellschaftspolitischen Wert die Tätigkeit eines Unternehmens hatte. Ebenfalls w i r d dann einsichtig, daß die Größe des Sozialproduktes keineswegs ein brauchbarer Maßstab ist, wenn man wissen w i l l , i n welchem Umfang die Bedürfnisse der in einer Gesellschaft lebenden Menschen befriedigt worden sind oder noch werden können. Es kommt ja sehr darauf an, a) aus welchen Gütern und Diensten sich das Sozialprodukt real zusammensetzt, b) wie es 1 Zur genaueren Darstellung und Kritik siehe Flohr , H., Probleme der Ermittlung volkswirtschaftlicher Erfolge, Göttingen 1964.

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verteilt ist und c) m i t welchem Aufwand und unter welchen Bedingungen es erwirtschaftet worden ist. Alles das mag fast selbstverständlich erscheinen, aber ich darf darauf aufmerksam machen, daß solche naheliegenden Überlegungen lange Zeit i n der offiziellen Wirtschaftsideologie — ich spreche bewußt nicht von Theorie — „verdrängt" worden sind. Solche Beispiele können vielleicht klarmachen, daß die offiziellen Ziele, die nach verbreiteter Ideologie verfolgt bzw. erfüllt werden, nicht unbedingt die tatsächlichen Ziele sind und nicht unbedingt tatsächlich erfüllt werden. Das ist Anlaß genug, auch für den Wissenschaftler — aber gewiß nicht nur für i h n —, sorgsam zu prüfen, ob denn das eigene Verhalten wie auch das Verhalten anderer Menschen oder die Tätigkeit ganzer sozialer Institutionen wirklich letztlich den Zielen zugute kommen, die als offizielle Legitimationsbasis dienen. Oft verschleiert die Berufung auf diese Ziele, welche (und wessen!) Interessen tatsächlich m i t Vorzug befriedigt werden. Wer hier Klärung für geboten hält, darf ich allerdings nicht m i t wissenschaftlicher K r i t i k an Verschleierung zufriedengeben, sondern der sollte darüber hinaus nach organisatorischen Regelungen fragen, die solche Verschleierungen erschweren. Natürlich hieße das, den Blick auch auf Prozeß und Struktur der Politik zu richten 8 . Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Vielen Dank, Herr Dr. Flohr. Die Zeit ist schon sehr weit fortgeschritten. Ich kann aber noch einen Beitrag zulassen. Dr. Karl Zimmermann (Düsseldorf) W i r haben die Teilung von normativen Entscheidungen und von nicht normativen Vorgängen i n der Wirtschaft heute auch i n der Theorie bereits, und ich wollte darauf hinweisen i m Zusammenhang m i t dem Beispiel, das Herr Dr. Flohr gebracht hat. W i r Können heute die Vorgänge der Wirtschaft, ob sie i n der Einzelwirtschaft ablaufen oder i n der Gesamtwirtschaft, teilen i n systemindifferente Abläufe, die unabhängig vom Entscheidungsprozeß sind, z.B. wie man dies i n der modernen volkswirtschaftlichen Wachstumstheorie oder i n der Theorie des Betriebes unter dem Aspekt des Kapitalflusses vorfindet. Wenn dazu nun die Entscheidungsvorgänge, die systembezogen sind, hinzutreten, dann richten die sich jedenfalls nach den Ordnungsvorstellungen « Zur Frage, unter welchen Bedingungen eine „durchsichtigere" Politik möglich ist, siehe Flohr, H., Parteiprogramme in der Demokratie. Ein Beitrag zur Theorie der rationalen Politik, Göttingen 1968.

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der Gesellschaft. Das sind z. B. Normen der Gleichheit und Gerechtigkeit, Normen der Freiheit und der Verantwortung. Diese Normen sind immer jeweils abhängig von der Gesellschaftsordnung, i n der man lebt. Und ich glaube, so war wohl auch der Hinweis gemeint, den Herr Dr. Flohr an verschiedenen Stellen gab, wenn er sagte, es hänge von dem Grundmuster der Gesellschaft ab oder von der Gesellschaftsordnung, wenn man das Selbstverständnis der Wissenschaft normativ auffassen w i l l und sich von der Wertfreiheit wendet. I n bezug auf den Arbeitsdirektor noch eine Bemerkung, die vielleicht gut als Beispiel geeignet ist. Der Arbeitsdirektor kann gar nicht partiell entscheiden. Er ist die Figur innerhalb der Unternehmensverfassimg, die geradezu gezwungen ist, überpartiell zu entscheiden; von den unmittelbaren Interessen, die Herr Dr. Flohr meinte, ist der Arbeitsdirektor i m Entscheidungsprozeß gehalten, hinüberzugehen i n die nächste Etage und dann noch i n weitere Etagen bis zu den mittelbaren übergreifenden Interessen, die normativ aufzufassen sind. So habe ich Herrn Dr. Flohr verstanden. Das wäre also gerade ein typisches Beispiel dafür, wie heute die Normbezogenheit eine Rolle spielt. Auch hier i n der Wissenschaft von der Unternehmensleitung liegt also ein Teil dieses Selbstverständnisses der Wissenschaft. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Vielen Dank für die letzte Stellungnahme, der ich m i d i anschließen möchte. Herr Dr. Flohr, Sie haben gemerkt, wie rege die Diskussion war. Ihre Anregungen wurden aufgegriffen, w i r sind Ihnen sehr, sehr dankbar.

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Friedrich H. Tenbruck, Tübingen Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Sehr verehrter Herr Kollege Tenbruck! Sie haben i n anschaulicher Weise, das darf ich vielleicht hervorheben, die Rolle der Wissenschaft aus soziologischer Sicht und in ganz besonderer Übereinstimmung m i t dem Thema unserer Tagung dargelegt. Dafür danke ich Ihnen herzlich. W i r haben nur noch kurze Zeit für eine Diskussion, und ich möchte deshalb umgehend die Aussprache eröffnen. Horst Meyer (Stade) Herr Prof. Tenbruck, ich würde sehr gerne an die Objektivität der Wissenschaft glauben und ihr dann aus diesem Grunde auch eine Schiedsrichterrolle zubilligen. Aber nicht allein, daß Wissenschaftler irren können — w i r müssen das ja ab und zu bei unterschiedlichen Gutachterergebnissen feststellen —, sondern sie sind ja Menschen, die i n ihrem Leben verschiedene Rollen wahrnehmen. Ein Wissenschaftler ist eben nicht nur Wissenschaftler; er ist nebenbei vielleicht Angehöriger eines bestimmten Klubs, oder er hat einen Schwiegervater, der Minister ist, usw. Die Einstellung zu der Frage, die die wissenschaftliche Arbeit jeweils begründet, kann also sehr verschieden sein. Ich glaube, es ist ein großer Unterschied, ob ein Wissenschaftler, der die Frage der Eigentumsbildung angeht, aus einer kapitalistischen Umgebung oder beispielsweise aus einem wissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften kommt. Schon von der Fragestellung her müssen sich da unterschiedliche Resultate ergeben, und daher kann, meiner Meinung nach, absolute Sachautorität der Wissenschaft nicht zugebilligt werden. Prof. Dr. Friedrich H. Tenbruck (Tübingen) Ich bin froh, daß dieser Punkt gekommen ist. Er betrifft — entschuldigen Sie, daß ich so direkt spreche — ein ganz wesentliches Mißverständnis der Wissenschaft und ihres Funktionierens, von dem ich m i t Erschrecken sehe, wie es sich innerhalb der Öffentlichkeit ausbreitet — leider auch unter Kollegen und in der studentischen Jugend.

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Ich darf Ihnen zuerst einen Passus, den ich ausgelassen habe, vorlesen und ein paar Bemerkungen anknüpfen: „ W i r hören heute die Frage, was die Gesellschaft denn der Objektivität des Wissenschaftlers versichert" (das ist ja eigentlich Ihre Frage: Wieso sind w i r denn sicher, daß der Wissenschaftler objektiv ist?), „gefolgt von diesem oder jenem mehr oder weniger treffenden oder auch schiefen Beispiel eingeschränkter Objektivität eines Wissenschaftlers i n diesem oder jenem Falle. Es fehlt dabei gänzlich an Verständnis dafür, daß die Objektivität der Wissenschaft nicht unmittelbar am einzelnen Wissenschaftler hängt, sondern sich aus dem ungehinderten Zusammenwirken einer Vielzahl von Wissenschaftlern, i m Grundsatz sogar von allen Wissenschaftlern, ergibt. Der einzelne Wissenschaftler mag i n der Tat irren. Das, was der einzelne Wissenschaftler leistet, mag einseitig bleiben. Er mag seine persönlichen Präferenzen i m Einzelfalle nicht hinreichend ausschalten, er mag seine gesellschaftlichen Bedingtheiten i m Einzelfalle nicht genügend reflektieren können. Aber was immer er sagt, ist der K r i t i k und der Korrektur der Fachgenossen ausgesetzt. Objektivität der Wissenschaft summiert sich aus diesem selektiven Pro-; zeß, und die Objektivität des einzelnen Wissenschaftlers w i r d vor allem dadurch gesichert, daß er alle seine Äußerungen und Produktionen diesem Prozeß der sachlichen K r i t i k ausgesetzt weiß, und sein Status und sein Ansehen unter Fachgenossen in der Wissenschaft genau davon abhängt, daß der Fachverstand ihm möglichste Objektivität bescheinigt. Der einzelne Wissenschaftler i r r t ; der einzelne Wissenschaftler verkörpert nicht die Objektivität. Die Wissenschaft i r r t nicht. Denn nur die Wissenschaft selbst vermag ja festzustellen, ob und wo sie bisher geirrt hat. Sie ist das einzige System, das w i r kennen, welches optimal zur Korrektur der eigenen Irrtümer und Einseitigkeiten befähigt, ja, daraufhin i n ihrem Betrieb und ihren internen Normen angelegt ist. Sie ist das einzige System, i n dem der sachlichen K r i t i k am Ende notwendig der Preis zufällt." Wenn ich das grundsätzlich dazu sagen darf und wenn Sie m i r erlauben, noch einige Bemerkungen hinzuzufügen. Ich verstehe durchaus, was Sie meinen. Die Objektivität der Wissenschaftler, einzeln genommen, ist keine absolute Größe. Sie kann übrigens aus recht verschiedenen Gründen beeinträchtigt sein. Neben sozialen Bedingtheiten stehen individuelle. Überdies sind die gesellschaftlich erheblichen Fragen, über die er urteilen soll, selten eindeutig zu entscheiden, so daß er oft Wahrscheinlichkeitsurteile i n einem Problemfeld abgeben muß. Ich bezweifele nun nicht die wohlmeinenden Absichten, die hinter Ihrer Äußerung stecken. Die Sicherung wissenschaftlicher Objektivität ist uns allen Pflicht. Ich halte es aber für ausgesprochen verhängnisvoll, zu meinen, diese Objektivität ließe sich durch soziale Reprä-

Diskussion zum Vortrag von Friedri

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sentativität gewinnen. Wenn w i r etwa beginnen wollten, Wissenschaftler, sagen wir, nach ihrer sozialen Herkunft repräsentativ zu rekrutieren, dann wäre das schon eine Bevormundung der Wissenschaft, die gefährlichste Folgen haben, müßte. Es zeigt sich i m übrigen auch, wenn man etwas von Wissenschaftsgeschichte weiß, daß die soziale Herkunft der Wissenschaftler i n ganz ephemerer Weise m i t den Sachmeinungen, die sie vertreten, zusammenhängt. Die Wissenschaft ist gerade dasjenige Lebensverhältnis, dasjenige Teilsystem, das am ehesten und am vollständigsten fähig ist, irgendwelche sozialen Bedingtheiten — wie immer die Herkunft ist — auszuschalten. Eine sozial gesteuerte Auswahl der Wissenschaftler vorzunehmen würde zwangsläufig zur Bevormundung der Wissenschaft, zur Verbreitung der Unsachlichkeit führen. Ich kann eine solche Auswahl nur für einen gefährlichen I r r t u m halten und sehe m i t Schrecken, daß er sich immer weiter ausbreitet. Objektivität kann es nur geben, wenn die Wissenschaftler sich den Normen der Wissenschaft verantwortlich fühlen. Die Objektivität wäre verloren, sobald sie sich äls Repräsentanten sozialer Gruppen fühlten. Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Vielen Dank, Herr Kollege Tenbruck. Vielleicht darf ich persönlich ganz kurz hierzu vermerken, daß sicherlich die Meinung, die ich jetzt sage, der Ihren nicht widerspricht, nämlich: Voraussetzungen zu schaffen, daß eben Wissenschaftler zunehmend aus Kreisen kommen, aus denen sie bis jetzt nicht kommen konnten. Prof. Dr. Friedrich H. Tenbruck (Tübingen) Wenn ich noch einmal anders formulieren darf. Die Wissenschaft kennt kein Ansehen des Standes, kennt keinen Unterschied der Religion. Woher jemand kommt, das ist für sie gleichgültig. Sondern die Frage ist, ob das, was er sagt, nach sachlichen Kriterien, nach Prüfung durch Wissenschaftler richtig und wichtig ist. Darauf erst erfolgt der Zuschlag: „das ist richtig." Wenn w i r anfangen wollten, Wissenschaftler nach sozialen Gesichtspunkten zu rekrutieren, welche Gruppen kämen da nicht, u m zu fordern, daß sie aber auch einen repräsentativen Anteil von Wissenschaftlern liefern müßten? Das müßte ihnen dann gesetzlich zugebilligt werden. Und der nächste Schritt ist, daß diese Gruppen nun auch von den Wissenschaftlern, die herkunftsmäßig von ihnen stammen, bestimmte Ergebnisse verlangten. Und dann kann es i n der Wissenschaft kein Sachurteil mehr geben! Dann sind w i r i n absoluten Freund-FeindVerhältnissen und i n jenem Dezisionismus drin, der uns i n der Weimarer Republik den Hals gebrochen hat. Also möglichst freier Zugang

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zur Wissenschaft für alle, die Neigung und Fähigkeit dazu haben. Aber keine Forderung nach sozialer Repräsentativität, und zwar gleichviel, wie die tatsächliche Zusammensetzung ist. (Also auch nicht, wenn z. B. Wissenschaftler überwiegend aus Arbeiterfamilien stammten.) Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Ich danke Ihnen für diese Darstellung. Peter Rath (Dortmund) Herr Prof. Tenbruck, die Entwicklung, die Sie als bedrohlich bezeichnet haben, begrüße ich sehr. Sie sprachen davon, daß die Wissenschaft m i t Kriterien vorgehen könnte, die einer objektiven Überprüfung standhalten. Ich glaube allerdings, daß — zumindest hier i n der Bundesrepublik — die Wissenschaft zunehmend ein Spielball bestimmter wirtschaftlicher Interessengruppen ist. M i r erscheint das hier von Ihnen skizzierte B i l d einer regulativen Wissenschaft mehr als das B i l d einer regulativen Ideologie. I m Endeffekt läuft alles nur darauf hinaus, das Bestehende zu festigen und zu sichern, aber nicht das Bestehende i n Frage zu stellen, was ja eine wirkliche Aufgabe der Wissenschaft wäre. Niemand kann behaupten, das geschichtlich Zweckmäßigste optimal erkannt zu haben. Aber Wissenschaft, so wie sie z. Z. praktiziert wird, t r i t t m i t diesem Anspruch auf. Prof. Dr. Friedrich H. Tenbruck (Tübingen) Ich halte auch das für eine ganz gefährliche Verkennung. Darf ich zuerst bemerken, daß die Wissenschaftsgeschichte ein anderes B i l d liefert. Sie ist nämlich dadurch gezeichnet, daß sie immer und stets wieder an dem, was ist, K r i t i k geübt hat. I n der Wissenschaft w i r d eben auf Neues und Kritisches ein Preis ausgesetzt. Wenn Sie i n der Wissenschaft vorankommen wollen, dann müssen Sie etwas Neues bringen. Das liegt i m Wesen der Wissenschaft; und wenn Sie die Jahrhunderte der Wissenschaft überschauen, dann ist sie es gewesen, die stets und immer wieder am Bestehenden K r i t i k geübt hat, die Unzulänglichkeit, die Unrichtigkeit bestehender Meinungen gezeigt hat. Wenn Sie eine Gesellschaft wollen, die nicht auf das bestehende Wissen, auf das Bestehende, festgelegt ist, dann besteht die größte Chance dafür, daß Sie der Wissenschaft alle mögliche Freiheit — und zwar reale Freiheit geben. (Also nicht nur das — wenn ich das so ausdrücken darf —, was M a r x für die Arbeiter als die formale Freiheit bezeichnet hätte, sondern die reale, z. B. der Zeit nach, überhaupt der Möglichkeit nach, sich i n der Öffentlichkeit zu äußern, die der Wissen-

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schaft heutzutage weitgehend bereits abgeschnitten ist. Es gibt bereits Meinungsmonopole, die unabhängig von der Wissenschaft aufrechterhalten werden können.) Sie können das gerade auch an der Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft sehen. Wer hat denn das liberalistische Denken des vorigen Jahrhunderts des Irrtums überführt? Doch die Wissenschaft selbst! Peter Rath (Dortmund) Die Wirtschaftswissenschaft ist so furchtbar systemimmanent, z.B. die Lehre von Keynes, die als Revolution der Wirtschaftswissenschaft gepriesen wird. Prof. Dr. Friedrich H. Tenbruck (Tübingen) Es heißt heute häufig, w i r brauchten keine sachliche Wissenschaft, sondern w i r brauchten eine Wissenschaft, die sich für diese und jene Menschheitsziele engagieren würde; nur dann könnten w i r von der Wissenschaft den wahren gesellschaftlichen Ertrag erhalten. Auch das ist ein fundamentales und gefährliches Mißverständnis. Ich w i l l es Ihnen an einem kleinen Beispiel einmal erläutern. Es heißt also heute, der Wissenschaftler müsse sich z.B. einer Tätigkeit enthalten, die i n ihren Folgen gesellschaftsschädigend sein könnte. Er solle etwa nicht an Erfindungen mitwirken, die furchtbare Folgen für die Menschheit haben könnten. Eine engagierte Wissenschaft w i r d gefordert. Nun beruht diese Forderung auf einer völligen Verkennung der Art, wie Wissenschaft arbeitet und wie sie w i r k t . Darf ich Ihnen das an einem Beispiel darstellen, das ich kürzlich in einer Diskussion von einem Kollegen m i t dem SDS erlebt habe. Da war nun so eine Gruppe, die solche Forderungen i n die Gegend schrie. Der Kollege sagte dann, indem er einem Herrn auf die Schulter tippte: „Ach wissen Sie, da hat doch einer der Herren, auf die Sie so schwören, der Herr Adorno, mal ein Buch herausgebracht, das ,The Authoritarian Personality' heißt — Sie haben vielleicht davon gehört? Das ist eine Analyse der sog. autoritären Persönlichkeitsstruktur. Damit wollte Adorno damals aufdecken, welche Mechanismen u. a. zu totalitären Systemen beitragen." Und mein Kollege sagte nun zu diesem jungen SDS-Studenten weiter: „Stellen Sie sich doch einmal vor, welchen Nutzen davon jemand, der eine Diktatur errichten wollte, haben könnte! Denn da findet er ja nun alle die Rezepte drin, wie man das machen könnte. Hat sich denn Herr Adorno das damals nicht überlegt?" Was w i r an dem Beispiel sehen — das Mißverständnis, das darin steckt —, das ist der Glaube, daß eine wissenschaftliche Erkenntnis als

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solche schlimme Folgen habe. Das stimmt nicht. Eine wissenschaftliche Erkenntnis hat multiple Anwendungsarten. Sie kann zu Beliebigem benutzt werden, sie steht jedem zur Verfügung. Keine wissenschaftliche Erkenntnis ist notwendig zu einer bestimmten Anwendungsart, zu einer bestimmten Folge prädestiniert, sondern das sind Fragen des Gebrauchs, den die Gesellschaft von der wissenschaftlichen Erkenntnis macht. Die Frage der Kontrolle der Wissenschaft und ihres gesellschaftlichen Beitrags ist nicht eine Frage des Engagements der Wissenschaft. Es ist eine Frage der gesellschaftlichen Kontrolle in der Anwendung der Wissenschaft. Und ich meine, diese einfachen Dinge sollten doch bekannt sein. Eine Erkenntnis sagt noch nichts aus über ihren Gebrauch. Jede Erkenntnis kann zu Verschiedenem benutzt werden. Was w i r brauchen, ist nicht engagierte, sondern richtige Erkenntnis; denn nur die kann gebraucht werden. Und was w i r darüber hinaus benötigen, sind Ziele. Uber die Ziele und damit über die Verwendung der Wissenschaften befindet unmittelbar nicht die Wissenschaft, sondern die Gesellschaft. Sobald Sie anfangen zu sagen: Die Wissenschaft muß engagiert sein; und vom Wissenschaftler zu verlangen, daß er bestimmte Sachen nicht bearbeiten dürfe, damit schneiden Sie gerade die mögliche K r i t i k , die möglichen Wandlungsformen ab. Sie nehmen uns die Möglichkeit, mit den Problemen der Gesellschaft fertig zu werden. Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Die Zeit ist leider so fortgeschritten, daß keine weiteren Diskussionsbeiträge mehr möglich sind. Es wäre jetzt unbedingt einiges mehr zur Klärung zu sagen. Vielleicht können Sie das, verehrter Herr Kollege, i n einem persönlichen Gespräch mit dem jungen Freund noch tun; denn diese Brücken müssen geschlagen werden. Und i m übrigen, was wurde hier i n Frage gestellt? Ist es nicht das Bild, das Sie entworfen haben von der Wissenschaft? Ob das tatsächlich die Realität ist oder ob nicht doch — ich möchte es einmal so ausdrücken — viele Kräfte auf die Wissenschaft selbst, auf den Wissenschaftler einwirken und i h n steuern i n einem ganz anderen Sinne, als Sie es vielleicht hier in fast idealtypischer Weise dargestellt haben? Das sei gesagt, obwohl ich selbstverständlich Ihrer Meinung bin, die Wissenschaft müsse so sein. Ich darf damit die Diskussion schließen und Ihnen, sehr verehrter Herr Kollege Tenbruck, sowie den Diskussionsteilnehmern und Ihnen allen herzlich danken.

Diskussion zum Vortrag von Jaroslav Tejmar, M.D., S. Sc., Prag Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Ich glaube, nicht zuviel zu sagen, wenn ich hervorhebe, daß, wenn auf dieser Tagung die Rolle der Wissenschaft i n einem umgreifenden, i n die Tiefe gehenden Sinn dargestellt wurde, daß dies dann vor allem i n Ihrem Vortrag der Fall war. Ihre Ausführungen haben dazu noch ganz besonderes Gewicht für uns, weil Sie es nämlich gesagt haben, der Sie j a nun doch aus einem Land kommen, das i n unser aller Blickpunkt steht; und, wie gesagt, auch deshalb ist es für uns besonders wertvoll, daß w i r Sie hören dürfen. Haben Sie unseren allerherzlichsten Dank. Nun, es ist eine beträchtliche Anzahl von neuen Aspekten, die Sie aufgerissen haben. Ich möchte nur herausgreifen, was Sie zuletzt sagten, u m dann gleich der Diskussion freien Raum zu geben. Sie sagten: Das Buch hat sich überlebt. Und das hat mich nun sofort sehr nachdenklich gestimmt, nicht kritisch zunächst; es ist einfach der Gedanke, daß möglicherweise die Macht des Wortes unter völlig neuen Vorzeichen eine ganz andere Rolle bekommt. Ich darf nun die Diskussion eröffnen. Prof. Dr. Robert Rie (Fredonia/New York) Herr Dr. Tejmar arbeitet ja vermutlich i n zwei Sprachen, Tschechisch und Deutsch. Ich selber vertrete auch zwei Sprachen, Deutsch und Englisch; deshalb möchte ich hier auf eine kleine Unebenheit i m Referat aufmerksam machen. I m englischen Sprachbereich gebrauchen w i r research für jede Forschungsarbeit, also auch i n klassischer Philologie. Originalforschung heißt original research. Dann gebraudien w i r den Ausdruck primär resources, besonders i n Geschichte für die Original-Dokumente, und secondar resources für die Sekundarquellen. Sekundarforscher sind w i r also, wenn w i r , jetzt drücke ich mich etwas ironisch aus, von den Büchern anderer Leute abschreiben. U m an eine merkwürdige Situation i n der Nuklearforschung zu erinnern: die ursprüngliche Idee der Schaffung der Atombombe ging von Einstein aus, welcher Präsident Roosevelt auf die Gefahr des Vorhandenseins einer deutschen Nuklearbombe aufmerksam machte. Der Präsident fragte Einstein nach den möglichen Kosten der nötigen Expe-

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rimente, die Einstein, glaube ich, mit unter 50 000 Dollar bezifferte. Bis zu dem berühmten Experiment i n Los Alamos kostete das Projekt aber 2 Milliarden Dollar. Immerhin ist es vielleicht ein kleiner Trost, daß ja bald danach der Entschluß gefaßt wurde, die Nukleartechnik auch friedlich anzuwenden. Und w i r haben jetzt schon sehr viele atomare Elektrizitätswerke. Das ewige Problem ist natürlich die Entfernung des sog. Atommülls, der tief unten begraben werden muß. Horst Meyer (Stade) Herr Dr. Tejmar, Sie sagten zu Anfang Ihres Vortrages: Ein Wissenschaftler soll kein Angestellter werden. I m weiteren Verlauf erklärten Sie aber, daß die Wissenschaft einer Organisation bedarf und daß gerade diese Organisation bei der Erfindung der Atombombe den Erfolg gewährleistet hat. Widerspricht sich das nicht? E i n Wissenschaftler, der i n einer Organisation steht, w i r d zu einem Angestellten. Er ist vielleicht ein Angestellter besonderer A r t , aber er muß sich doch irgendwie einfügen und ganz spezielle Aufgaben erledigen. Egon Backes (Duisburg-Hamborn) Sie sprachen von der Schwierigkeit der Verständigung; von der Suche nach Definitionen für Begriffe, die uns scheinbar sorgar geläufig sind. Ich glaube, w i r alle haben schon mal erlebt, daß Leute heftig m i t einander diskutierten, zum Schluß aber feststellen mußten, daß sie das gleiche meinten. Wenn schon zwischen Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, so große Mißverständnisse auftreten können, wie groß können dann erst die Mißverständnisse zwischen Menschen sein, die eine vollkommen andere Sprache sprechen! Was könnte man tun, um diesem Übel abzuhelfen? G. Mackrodt (Goslar) Sie haben die These aufgestellt, daß die Parteien sich wahrscheinlich überleben werden, und zwar, w e i l ihre Organisation ungeeignet sei, i n der Zukunft die ad hoc zu fälenden Entscheidungen zu realisieren. Sie hielten es deshalb für unangemessen, ihnen einen Blankoscheck auf Zeit zu erteilen, da ihre Schwerfälligkeit sie daran hindere, den ständig wechselnden politischen oder gesellschaftlichen Erfordernissen zu entsprechen. Glauben Sie nicht, daß die Neigimg, sich i n Gruppen zusammenzuschließen, die eigene Identität durch andere bestätigt zu bekommen, ein natürliches menschliches Anliegen ist, das einer solchen rationalen Zielprojektion i m Wege stehen wird? 21 Tagung Dortmund 1968

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Werner Nüßler (Gelsenkirchen-Horst) Ich möchte an diese Frage eine weitere anhängen. Besteht nicht die Gefahr, daß diese Gruppen, die sich ad hoc bilden, um zu entscheiden, wieder ein Etikett tragen, genauso wie vorher jede Partei ein Etikett gesucht hat bei ihren Entscheidungen? Dr. Karl Zimmermann (Düsseldorf) Es war für mich eine große Überraschung, daß Sie eine hier bei uns sprechen, die von der unsrigen kaum abweicht. stern das Fernsehen eingeschaltet hatte, der weiß, daß das Fernsehen gerade zu den Problemen Ihres Landes gestern genommen und auf eine dunkle Zukunft hingewiesen hat, Zukunft, die außerordentlich schwierig sein wird.

Sprache Wer gedeutsche Stellung auf eine

Wenn w i r aber eine so gemeinsame Sprache sprechen, dürfte eigentlich die Zukunft nicht so schwierig sein, meine ich. Sehr interessant war für mich die Definition, die Sie für die Wissenschaft gegeben haben. Sie gingen aus von der klassischen Formulierung: System m i t hoher Objektivität. Sie gaben nachher hinzu Schwerpunkte bezüglich der Ungewißheit. Besonders interessiert mich der Schwerpunkt, den Sie gegeben haben: die Voraussage i n bezug auf gesellschaftliche Entscheidungen. Hinzu fügten Sie später auch die Kontrolle, die hier von der Gesellschaft her einsetzen muß. Und ich nehme an, daß es sich u m die Kontrolle gerade dieser Entscheidungsbezogenheit handelt. Das spielt für uns genauso eine ganz entscheidende Rolle, da heute mehr und mehr Wissenschaft und Politik zusammenwachsen und die Ergebnisse der Wissenschaft für die Politik nutzbar gemacht werden sollen. Sie sprachen an einer Stelle von einer gesellschaftlichen Nutzbarmachung. Und hier taucht das große Problem der Kontrolle auf: Wer soll diese Zusammenarbeit kontrollieren? Sollen es die Politiker, sollen es die Wissenschaftler sein? Wer ist eigentlich Kontrolleur dieser sehr komplizierten Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft und Wissenschaft? Sie haben ferner ein Thema angesprochen, das für uns heutzutage ganz hautnahe ist. Sie haben es nicht so bezeichnet, wie w i r es z. Z. bezeichnen. Sie haben nicht gesprochen von dem Establishment unserer Parteien, sondern Sie haben schlechthin gesprochen von der historischen Rolle und von der historischen Entwicklung, die die Partei i n Zukunft nehmen wird. Sie sprachen nämlich von der zukünftigen Rolle der Partei i n der Gesellschaft. Und Sie wissen, daß w i r hier i n Deutschland genauso wie auch i n Frankreich eine Situation z. Z. erleben, die eben die Situation der Auseinandersetzung mit dem Establishment der Par-

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teien, mit dem Parteiapparat ist. Und Sie forderten eine Auflockerung dieser Apparaturen schlechthin, wobei natürlich i n unserem demokratischen System das sehr enge Verhältnis zwischen Parteien und Parlamentarismus zu sehen ist und die Parteien die Grundlage unserer Verfassung schlechthin sind. Sie sagten, die außerparlamentarischen Kräfte müßten viel stärker herangezogen werden. Sie sprachen von den Vorlagen der außerparlamentarischen Gruppen. Diese Vorlagen sind i n unserem Gesellschaftssystem leichter möglich als i n einem System, i n dem sich Ihr Land befindet. Aber immerhin bleibt die Problematik für uns auch bestehen. Ich möchte das Problem keineswegs abschwächen, daß i m parlamentarischen System außerparlamentarische oppositionelle Gruppen ständig neue Vorlagen machen müssen, um die Verfilzung, die i m Laufe der Zeit i n den Apparaturen eingetreten ist, aufzulockern. Ich spreche besonders auch i m Hinblick auf die große Gruppe der Gewerkschaften i n diesem Zusammenhang, die eine besondere oppositionelle Rolle spielt, wenn auch nicht als außerparlamentarische Opposition, aber man steht i n einer Zwischenschicht. Besonders interessant war für mich ebenfalls — und das möchte ich besonders unterstreichen —, daß Sie die Zukunft der wissenschaftlichen Arbeit i n einer Synthesearbeit sehen. W i r befassen uns i n Westdeutschland mit dem Problem der interfakultativen Zusammenarbeit, der Zusammenführung des Wissens und der Kenntnisse der verschiedenen Disziplinen; man hat sich i n der Nachkriegszeit auf den Hochschulen immer wieder bemüht, diese Synthese nutzbar zu machen für die Erklärung bestimmter Vorgänge und für die Schlußfolgerungen, die daraus zu ziehen sind. Unter dieser Zielsetzung ist auch das w i r t schaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften, i n dem diese Synthesearbeit immer wieder neu versucht wird, zu sehen. Und w i r wissen, wie schwierig sie ist. Dieses gewerkschaftliche Institut braucht natürlich auch ein entsprechendes Vorfeld der Hochschulen dazu; man kann dort nicht isoliert diese Synthesearbeit vollziehen. Vielfach fehlt dieses Vorfeld der Hochschule noch, und so scheitert man oft an bestimmten Fragen, wo der Jurist sich zusammensetzen muß mit dem Volkswirt und zusammensetzen muß m i t dem Betriebswirt, dem Soziologen und dem Arbeitswissenschaftler. Schließlich möchte ich noch sagen, es war für mich ebenfalls interessant, daß Sie nach einem neuen Comenius riefen. Nun, von Ihrem Land her gesehen, ist das eine sehr naheliegende Verbindung. I n Düsseldorf, woher ich komme, haben w i r ein Comenius-Gymnasium, und dort w i r d diese Tradition des Comenius besonders gepflegt. I n dem Zusammenhang mit Comenius sprachen Sie von der Zukunft der Erziehungswissenschaft. Diese Wissenschaft soll sich mehr als bisher m i t der Leistungsautorität auseinandersetzen und soll das Ziel verfolgen, 21*

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immer mehr das kreative Denken zu fördern, was angesichts der Perspektive, die Sie aufgezeigt haben, i n bezug auf den Einsatz unserer Computersysteme eine wichtige, vielleicht sogar die wichtigste Funktion der Erziehungswissenschaft sein wird. Damit stimme ich mit Ihnen überein, das kreative Denken kann m i t Hilfe der Computersysteme auf diese Weise unterbaut bzw. kann es auch erst so gesellschaftlich wirksam werden. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Es ist natürlich schwierig, wenn man sich zu Anfang gemeldet hat und einem dann i n der Diskussion sozusagen die Fische wegschwimmen; aber ich glaube, trotzdem noch etwas hinzufügen zu müssen. Sie haben m i t den Parteien ein sehr interessantes Problem angesprochen, das zeigen schon die Diskussionsbeiträge. Ich bin auch der Auffassung, daß i n Zukunft die Parteien alter Prägung aussterben werden. Die Frage ist nur: Was soll an ihre Stelle treten? Denn w i r befinden uns i n einer pluralistischen Massengesellschaft; i n dieser vollzieht sich der Kontakt zwischen der Gesellschaft und der Exekutive jedoch nicht ohne Zwischengebilde. Sie haben von freiwilligen Gruppierungen gesprochen, aber da habe ich einige Bedenken. Wenn man von der Wortbildung ausgeht, würde das bedeuten: Je nach dem I n teresse, u m das es sich gerade handelt, bildet sich eine Gruppe. Sie gibt dieses Interesse weiter an die Exekutive. I n der Demokratie besteht aber eine Wechselwirkung, nämlich nicht nur die Wirkung von unten nach oben, sondern genausogut die W i r k u n g von oben nach unten. Und deshalb möchte ich an Sie die Frage richten: Sollen nun nur diese ad-hoc-Gruppierungen oder soll ein Parteisystem die M i t t lerfunktion i n der Wechselwirkung von unten nach oben wie auch von oben nach unten übernehmen? Jaroslav Tejmar, M. D., C. Sc. (Prag) Ich danke recht herzlich für die vielen Anregungen und z. T. auch Ergänzungen. Besonders dankbar bin ich Prof. Rie, daß er noch den Begriff „research" abgerundet hat. Es ist bekanntlich so, daß verschiedene Begriffe i n verschiedenen Ländern oder Kulturen — möchte man eher sagen — doch etwas verschiedene Bedeutungen annehmen. Was z. B. i n Deutschland unter Ergonomie verstanden wird, ist nicht das gleiche wie i n England. I n England ist das eigentlich mehr oder weniger die sog. Ingenieurpsychologie nach dem amerikanischen Begriff; und i n Deutschland w i r d es heute eher der Arbeitswissenschaft gleichgesetzt. Die Russen haben wieder die amerikanische Terminolo-

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gie übernommen, wie sie überhaupt mehr Vorbilder von Amerika beziehen als von Europa. Sie betreiben jetzt keine Arbeitswissenschaft, sie betreiben Ingenieurpsychologie — und dann separat die klassische Arbeitsphysiologie. Wenn man i n Deutschland über Psychologie spricht, dann versteht man wieder etwas anderes darunter — bitte, nehmen Sie das nicht als eine Höflichkeitsform von einem Gast —, etwas, was ich richtiger finde; denn Psychologie bleibt die Wissenschaft von der Psyche, also vom Bezug des Biologischen zum gesellschaftlichen Milieu, ganz kurz gesagt. Damit w i l l ich hier keine neue Definition aufstellen, aber ich finde eben den sozialen Kontext wesentlich für die Psychologie und nicht etwa das bloße biologische Verhalten. Mein Versuch, den Begriff „Wissenschaft" zu definieren, war nur deswegen möglich, w e i l eben noch keine gut begründete Definition feststeht und auch berühmte Wissenschaftler sich darüber ausschweigen. Dann war hier der Hinweis von Herrn Meyer auf den Status der Angestellten. Ich habe das so gemeint, daß der Wissenschaftler nicht nur ein Angestellte sein kann i n dem Sinne, wie, sagen w i r , es ein Steuerbeamter ist, der seinen Laden schließt, wenn es halb fünf ist (oder wann ist es hier? Bei uns fängt alles am liebsten um 6 Uhr früh an und endet womöglich u m 2 U h r nachmittags, damit man dann scheinbar mehr Freizeit hat; und dann ist man unausgeschlafen, und deswegen ist dann auch die Leistungskurve etwas niedriger). Ich habe dann weiter begründet, daß heute ein Wissenschaftler wirklich ein Professioneller ist. Eben i n der Wissenschaft w i r d auch i n der Zukunft, wo es viel Freizeit geben soll, doch der Professionelle — also der professionelle Wissenschaftler — nach meiner Meinimg viel länger als der professionelle Künstler vorherrschen. Denn Künstler sollten w i r einmal alle werden i n unserer Freizeit; w i r sollten schaffen und nicht fortwährend etwas konsumieren, was man uns da vorhält. Dann müßte man da auch nicht fragen, ob eine Statue wirklich 30 000 Mark wert ist oder nicht. Wenn man sie selbst geschaffen hat und sie nicht als Ware behandeln muß, dann ist die Frage eben aus. Aber in der Wissenschaft, da werden w i r wahrscheinlich sehr lange noch als Professionelle tätig sein, obwohl wahrscheinlich viele Mithelfer i n ihrer freien Zeit als hobby sich m i t uns i n der Wissenschaft betätigen werden. Vielleicht nur auf begrenzten Gebieten und unter fachlicher Anleitung. Zur Frage von Herrn Backes über die Sprache. Natürlich stelle ich m i r gar nicht vor, daß nur durch die genaue, präzise Anwendung der Sprache von sich allein die Probleme gelöst werden können. Also, es ist nur ein Ansatz, so habe ich das auch gemeint, obwohl viele Probleme zusätzlich nur deswegen entstehen, w e i l w i r uns nicht verständigen können, auch wenn w i r die gleiche Nationalsprache sprechen. Umso

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schlimmer, nicht wahr? — Schließlich sehen Sie, daß sich manchmal zwei Leute i n einem Haushalt nicht verständigen können. Wie könnte man da erwarten, daß sich die Völker so rasch verständigen werden? Deswegen habe ich auch darüber gesprochen, daß man viel Mäßigung, viel Vernunft und, ich würde sagen, auch viel Pragmatik aufwenden muß, u m nicht Probleme übers Knie brechen zu wollen, was leider sehr oft geschieht. Herr Mackrodt griff die Frage der Parteien auf. Erstens muß ich mich für diesen Exkurs entschuldigen; ich bin kein Politologe. Und deswegen habe ich das auch gar nicht so scharf gemeint. Ich habe nicht etwa gemeint, daß die Parteien durch ein Dekret, sagen wir, vom 1. Januar 1970 aufgelöst werden sollen — sie sollen eben absterben mit der Zeit. Nun ist die Frage, was darauf folgen sollte? Darf ich vielleicht gleich auf die Anregung von Herrn Prof. Duvernell eingehen. Stellen Sie sich z. B. vor, es entsteht eine ad hoc Gruppe von Bürgern, die sich eine Lärm-Partei nennen wollen. Nicht daß sie L ä r m machen, sondern daß sie L ä r m bekämpfen möchten. Sie kann als eine Initiativgruppe hervortreten. Eine Partei, die Partei A, sagt: Ja, das ist sehr gut, w i r greifen das auf. Nun muß man damit rechnen, daß eine andere Partei B , nicht w e i l etwa der L ä r m unschädlich ist, also aus sachlichen Gründen, sondern deswegen, w e i l die Partei A das vorgeschlagen hat, dagegen stimmen wird. Es entwickelt sich ein regelrechter Machtkampf, ein politischer Kampf, der m i t der sachlichen Frage gar nichts mehr zu tun hat. Ich sage das natürlich überspitzt; i n der Praxis ist das nicht ganz so, aber beinahe so. Für länger wirkende und geltende Interessen sind die Parteien natürlich ganz gut, sagen w i r für die ständige Lohnerhöhung der Arbeitnehmer, damit diese Forderung einen politischen Nachdruck bekommt. Das ist ein Phänomen, das immer wieder vorkommt und noch lange vorkommen wird. Aber es gibt gewiß Fragen, die ad hoc Gruppen viel objektiver lösen könnten. Natürlich müßten das nicht irgendwelche außerparlamentarischen Gruppen sein, sondern eben ins Parlament oder i n ein Vertretungsgremium schlechthin eingebaute Gruppen, die sich allerdings nach Erledigung des Sachproblems wieder auflösen. Also nehmen Sie das nur als einen Exkurs, als eine Anregung, nicht als ein Rezept. Es ist auch keine offizielle Stellungnahme; ich muß darauf hindeuten, daß ich hier rein privat für mich spreche und für keine Strömungen, die jetzt in unserem Land zu bemerken oder nicht zu bemerken sind. Das betrifft auch die Frage nach dem Gruppenzusammenschluß, wie sie Herr Nüssler stellt. Da möchte ich allerdings auf eine sehr interessante und schwerwiegende Studie von Prof. Eysenck, einem Deutschen, der

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seit Jahren in London lebt, hinweisen. Der hat nun gefunden, daß eine hochgesicherte statistische Korrelation i n einer Männergruppe zwischen Ablehnung der Emanzipation der Frauen und Antisemitismus bestand. Man kann also ungefähr sagen: Die Leute, die mehr Antisemitismus zeigten, waren als Gruppe auch gleichzeitig mehr gegen die Emanzipation, haben die Frauen unterschätzt. Diese sog. inner groups, also die i n sich geschlossenen Gruppen, verschließen sich i n ungesunder Weise fremden Argumenten und fremden Gefühlen, ja sogar eigenen abweichenden Erfahrungen und bleiben allgemein voreingenommen. Also, den Gruppenzusammenschluß muß man zwar als irgendwie biologisch bedingt sehen durch einen Herdentrieb m i t dem Zweck, sich zu schützen. Sie wissen, daß Antilopen oder Gazellen auch einem Löwen standhalten können, indem sie eine geschlossene Gruppe — eine A r t Kreisverteidigung — bilden. Aber w i r wachsen doch aus diesen Verhältnissen heraus. Der Mensch ist dadurch gekennzeichnet, daß bei ihm immer mehr das Gesellschaftliche überwiegt, daß das rudimentär Biologische dadurch überschattet wird. Offenheit gegenüber Anregungen w i r d immer lebenswichtiger als Abwehr und Beharren i n Unbeweglichkeit. Das betrifft auch die andere Frage von Herrn Nüssler, ob da nicht neue Etikette entstehen würden. Ja natürlich, ich vermute, daß eben immer ein Sachverhalt geprüft werden muß, daß es da also gar nicht zu einer Etikettbildung kommen sollte. Wenn ich u m den L ä r m streite, dann natürlich — wenn ich Inhaber einer Lärmfabrik b i n — muß ich dagegen stimmen. Aber man muß doch voraussetzen, daß wissenschaftliche Kriterien schließlich überwiegen müssen gegenüber bloßem Machtdenken. Das ist auch das Wesentliche, weshalb w i r überhaupt bei dieser Tagung diese Probleme angesprochen haben! Allerdings ist es merkwürdig, sogar wenn das jetzige ökonomische Gefüge aufgelöst wird, bilden sich Machtgruppen auf irgendwelcher anderen Basis, w i r sehen wieder ein Zustandekommen von Cliquen. Und das ist bisher ein geschichtlicher Zug jeder Gesellschaft gewesen, auch einer solchen, von welcher man sich die Überwindung antagonistischer Gegensätze versprochen hat. Z u den freundlichen und sympathischen Ausführungen von Herrn Zimmermann möchte ich nur folgendes sagen: Das Rad der Geschichte kann nicht rückwärts laufen. Und ich würde da niemanden anderen als J. W. Stalin zitieren, der gesagt hat: Hitlers kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt bestehen. Das kann man wohl auch auf andere Völker übertragen. Nun, wer wen kontrollieren soll. W i r haben da hinsichtlich der Wissenschaft eine doppelte Kontrolle: Innerhalb der wissenschaftlichen

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Gemeinde w i r d kontrolliert, ob richtige Methoden angewandt, ob alle Autoren zitiert wurden, die es verdienen, ob die Aussagen statistisch gesichert sind. Das sind innere standesmäßige Kontrollen. Aber die Hauptkontrolle über die gesamte Wirkimg, die muß natürlich die Gesellschaft leisten. Ich betone das Recht der Gesellschaft, also aller Menschen, die Ergebnisse der Wissenschaft i n ihrer Gesamtwirkung zu beurteilen. Also die haben durchaus das Recht hierzu; die Wissenschaft hat es noch nicht vermocht, sagen wir, uns von der Luftverunreinigung zu befreien. Und es ist dann an uns Wissenschaftlern, daß w i r dazu sagen: Ja, schön! W i r haben die und die Methoden entworfen, aber die Fabrikleiter — das müssen nicht immer Inhaber sein — haben versagt; oder die Gesetzgeber haben nicht das Ihre getan, und i n diesem Sinne hat die Kontrolle weiter zu erfolgen. Aus Anlaß des letzten Beitrags von Prof. Duvernell möchte ich noch einmal zu der Idee der ad hoc Gruppen zurückkehren, die sich u m den Gegenstand und nicht u m den politischen Standort kümmern, den sie als vorgegeben hinnehmen. I n meinem Land hat man i n letzter Zeit den Terminus „Opponenturdemokratie" geprägt; aus verschiedenen Gründen ist man nicht gewillt, einfach einer neuen Parteibildung den Weg zu öffnen. Das würde wahrscheinlich zu gewissen Schwierigkeiten führen. Aber man sucht, alles Vernünftige, was andere Beurteiler oder Meinungsgruppen bringen könnten, in konkrete Entscheidungen einzufügen, und das innerhalb der bestehenden Parteien und nicht gegen sie i n Form einer Opposition (wir haben immerhin bei uns vier Parteien, nicht nur die eine). Das ist der Sinn der Opponenturdemokratie, was also ganz neu und bisher gar nicht theoretisch begründet ist. Aber die Technik einer Opponentur ist i n der Wissenschaft üblich, w e i l dort der Streit u m Tatsachen, u m den Gegenstand geht und nicht u m einen allgemeinen Standort. W i r können prinzipiell das Wohl der Arbeiterklasse wollen, aber es geht dann konkret darum, ob sie mehr Freizeit hat, ob sie nicht i n überfüllten Verkehrsmitteln ihren Anreiseweg zum Arbeitsplatz nehmen muß, ob sie nicht verkümmert an dem Arbeitsplatz usw. U n d das sind Probleme, die also für beide politischen Systeme — wenn ich nur die zwei politischen Systeme hernehme — bisher ungefähr die gleichen waren, w e i l sie viel mehr technischer als politischer Natur sind. Dann ist auch klar, daß an sich eine Änderung des gesellschaftlichen Systems noch nicht alle die Ziele nahebringt, die da festgesetzt wurden; daß nach einer Änderung des politischen Systems erst wieder eine Ameisenarbeit beginnt. Eine solche Änderung kann also nur eine Voraussetzung schaffen, aber noch keine Lösung bedeuten.

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Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) M i r bleibt nur übrig, diese Diskussion abzuschließen. Nur ein ganz kleiner Vermerk noch, Herr Dr. Tejmar, Ihrer Anti-Lärm-Partei kann ich nicht zustimmen; fürchten Sie nicht, daß das, u m das einmal so herum auszudrücken, auch nur wieder eine Leisetreterpartei wäre? Ich danke Ihnen nochmals recht herzlich für Ihre Ausführungen.

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Hans Joachim Jahn Dortmund Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Herr Kollege Jahn, meine Damen und Herren! Ich glaube, Herr Kollege Jahn, Sie dürfen des Dankes aller A n wesenden gewiß sein. Sie haben i n Ihrem exzellenten Ausflug i n die Gefilde der Medizin-Soziologie etwas Neues anklingen lassen. Und ich als Arbeitswissenschaftler begrüße Ihre Bestrebungen ganz besonders. Ich freue mich, daß w i r auch Herrn Dr. Kellner unter uns haben, der Mitglied der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft i n der Bundesrepublik ist. Der Vorstand dieser Gesellschaft, dessen Geschäftsführung ich inne habe, ist sich bewußt, daß sich das Feld unserer Bemühungen i n der jüngsten Zeit sehr erweitert hat. Die Soziologie stand i n den letzten 10, 15 Jahren i n unserer Gesellschaft nicht so i m Vordergrund; aber das hat sich jetzt grundlegend gewandelt. Ein Beispiel dafür war unser Berliner Kongreß i m Frühjahr, der die Bedeutung der Soziologie i m Hinblick auf die Gesunderhaltung des arbeitenden Menschen gezeigt hat. Über diese glückliche Koppelung, die jetzt exemplarischer wird, freue ich mich außerordentlich, zumal ich während meiner über 20jährigen Tätigkeit am MaxPlanck-Institut für Arbeitsphysiologie i n diesem Gebiete gearbeitet habe. Was Sie, Herr Kollege Jahn, gesagt haben, kann ich nur bestätigen. Sie haben angeführt, daß 20 vH. unserer Bevölkerung an vegetativen Dystönien leiden. Ich kann Ihnen aus detaillierten Untersuchungen noch viel erschreckendere Zahlen nennen. Ich habe mit meinen Mitarbeitern Untersuchungen i n bankähnlichen Betrieben durchgeführt. Durch die Hektik der Arbeit bedingt, waren unter den dort Schaffenden — es waren hauptsächlich junge Mädchen und Frauen — bei über 60 vH. vegetative Dystönien aufgetreten. Und wenn man weiß — wie die Arbeitsphysiologie das ja ohne weiteres zeigen kann —, daß Buchungsvorgänge m i t modernen Buchungsautomaten bei forciertem Tempo Pulserhöhungen zwischen 20 und 30 Schlägen über dem Ruhepuls zur Folge haben, dann kann man nur das bekräftigen, was Sie gesagt haben.

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Das Dozentenkollegium hat die Absicht, diese Fragen in Zukunft interdisziplinär, interfakultativ anzugehen. Ich glaube, daß w i r hier auch günstige Voraussetzungen haben, sofern uns von den zuständigen Stellen die nötigen M i t t e l und Hilfen geboten werden. Aber jetzt gebe ich das Pult frei für die Diskussion. Dr. Dr. Wolfgang Kellner (Gießen) Ich bin Privatgelehrter und habe einen Lehrauftrag an der Universität Marburg über Betriebssoziologie. Ich befasse mich seit vielen Jahren auch m i t medizin-soziologischen Themen. Es gibt Medizin-Soziologen, und es gibt Sozialmediziner. MedizinSoziologen sind Soziologen, die sich m i t den Zusammenhängen von Gesellschaft und Krankheit, und Sozialmediziner sind Mediziner, die sich m i t den Zusammenhängen von Krankheit und Gesellschaft beschäftigen. Sie beschäftigen sich praktisch m i t dem gleichen Gegenstand, nur der eine von der soziologischen, der andere von der medizinischen Seite her. Und deshalb müssen sie eben zusammenarbeiten. Ich selber bin Soziologe und muß mich bei meinen Untersuchungen ständig des Rates von Medizinern bedienen. Das vorweg. Es ist klar, daß ein Mediziner bei seinen Untersuchungen von medizinischen Theorien, vom medizinischen Bezugssystem, von medizinischen Erwägungen ausgeht, die ja bereits sehr weitgehend spezialisiert sind. Und es ist ebenso klar, daß der Soziologe von soziologischen Theorien, Bezugssystemen ausgehen muß, die aber bei weitem noch nicht so stark spezialisiert sind, wie das i n der Medizin der Fall ist. W i r haben eben die Theorie von Herrn Prof. Jahn gehört, der von der autoritären Leistungsgesellschaft ausgegangen ist. Vor sechs Wochen habe ich i n Hannover einen Vortrag von Herrn Prof. v. Ferber gehört, der als Soziologe an der Technischen Hochschule von Hannover tätig ist. Er ging von der Theorie aus, daß die Krankheitserscheinungen unserer Zeit i n der sozialen Schichtung begründet sind. Meine Damen und Herren, solche Theorien sind m. E. noch viel zu grob, um die sehr verschiedenartigen Krankheitserscheinungen zu erfassen. Ich b i n deshalb einen ganz anderen Weg gegangen. Ich habe nach einem Modell, das ich gemeinsam m i t Prof. Pflanz ausgearbeitet habe, zunächst i n Betrieben Arbeiter soziologisch interviewt, d. h. nach ungefähr 120 soziologischen Situationsmerkmalen gefragt. Die von m i r Befragten wurden dann ein Jahr lang vom Werksarzt medizinisch überwacht. Der Werksarzt bekam von der Personalabteilung also die Meldung: der von Dr. Kellner befragte Soundso ist erkrankt. Der Arzt ließ sich von der Betriebskrankenkasse die Diagnose des Hausarztes

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sagen, evtl. auch die des Vertrauensarztes, prüfte diese nach und machte m i r dann (Namen spielen dabei keine Rolle, die ärztliche Schweigepflicht kann gewahrt werden) mit Hilfe der Personalnummer, die ja i n die Hollerithkarte gelocht wird, die entsprechenden Angaben über die Krankheit des von m i r Befragten. A u f diese Weise kann ich statt von globalen Hypothesen von ganz spezifischen soziologischen Situationsmerkmalen ausgehen und Zusammenhänge m i t einzelnen Krankheiten herausfinden. Sie wissen, was statistische Sicherung heißt: statistisch gesichert ist ein Zusammenhang, bei dem die Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner ist als 5vH.; statistisch hoch gesichert ist ein Zusammenhang, bei dem die Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner ist als 1 vH. Nun zwei Beispiele: Leute, die viel Spätschichten leisten, haben, statistisch hoch gesichert, mehr Erkältungskrankheiten als andere. Spätschichten kann man leider nicht abschaffen! Denken Sie an die kontinuierliche Produktion eines Hochofenwerkes u. dergl. Es ist unmöglich, das abzuschaffen. Aber man kann medizinisch etwas tun. Man kann diesen Zusammenhang medizinisch erklären. Er liegt darin, daß gegen Abend die Widerstandskraft gegen Erkältungskrankheiten abnimmt. Also muß man bei Spätschichtarbeitern etwas unternehmen, u m die Widerstandskraft gegen Erkältungskrankheiten zu steigern. Dafür gibt es Medikamente. Das ist gar kein Problem. Ein zweites Beispiel m i t einem anderen sehr interessanten Zusammenhang: Wer Klagen über seinen Meister hat — sei es, daß der Meister m i t der technischen Entwicklung nicht mitgekommen ist und der junge Facharbeiter mehr von der Sache versteht als der alte Meister, sei es, daß der Meister antreibt oder anschnarrt —, wer solche Klagen über seinen Meister hat, bekommt — statistisch hoch gesichert — häufiger Grippe als andere. Hier besteht eine Verbindung m i t dem, was Sie Herr Prof. Jahn, über die autoritäre Leistungsgesellschaft gesagt haben. Leute, die solche Klagen haben, fühlen sich nämlich durch das Versagen ihres unmittelbaren Vorgesetzten irgendwie bedrückt. Daraufhin werden sie krank. Sie haben nicht die Grippe, die man sich „nimmt", sondern eine Grippe, die vom Hausarzt diagnostiziert und vom Vertrauensarzt und vom Werksarzt nachgeprüft worden ist. Solche Zusammenhänge gibt es viele. Ich habe bisher nur Untersuchungen anstellen können über Zusammenhänge m i t Grippe, Erkältungskrankheiten, Skeletterkrankungen, Wirbelsäulenerkrankungen, Gastritis und Kreislaufstörungen. Zu mehr reichte mein Material nicht aus. Aber da gibt es sehr viele Zusammenhänge, weit über 100 Zusammenhänge dieser A r t für jede einzelne dieser Krankheiten mit soziologischen Situationsmerkmalen. Man kann aufgrund dieser Untersuchungen sehr

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wohl das bestätigen, was Herr Prof. Jahn von der autoritären Leistungsgesellschaft gesagt hat, das heißt, die Hypothese, von der Herr Prof. Jahn ausgegangen ist, ist von allen soziologischen Hypothesen, die ich bisher auf dem Gebiet gehört habe, die relativ am besten gesicherte. Woher kommt überhaupt der Zusammenhang zwischen soziologischen Situationsmerkmalen und Krankheiten? Der Zusammenhang ist eigentlich begründet worden durch einen österreichischen Mediziner namens Braun, der ein Schema aufgestellt hat, nach dem auf einen Todesfall 1200 mehr oder weniger belanglose Gesundheitsbeeinträchtigungen kommen. Von den betroffenen 1200 Leuten gehen 100 zum Hausarzt, 1100 nicht. Und von diesen 100 Leuten gehen 9 zum Facharzt. Das heißt also, es gibt ein Reservoir von Menschen m i t Gesundheitsbeeinträchtigungen, das 11 M a l so groß ist wie das Reservoir derjenigen, die zum Hausarzt gehen. Wann gehen die Leute nun zum Arzt? Dann, wenn zu der Gesundheitsbeeinträchtigung, die allein noch gar keinen Besuch beim Arzt veranlaßt hätte, noch irgendeine psychologische oder soziologische Belastung hinzukommt. Dann erst gehen sie zum Arzt. Welches sind solche soziologischen oder psychologischen Belastungen, die den Menschen seine Gesundheitsbeeinträchtigung als so bedrückend empfinden lassen, daß er zum Arzt geht? Hier spielen tatsächlich solche Dinge wie die Einschränkung der Selbstverantwortlichkeit, die ja ein wesentliches Kennzeichen der autoritären Leistungsgesellschaft ist, eine große Rolle. Herr Prof. Jores, der Internist der Medizinischen K l i n i k i n Hamburg, hat schon vor 12 Jahren gesagt, daß Krankheit immer dann entsteht, wenn der Mensch entscheidend an seiner Selbstentfaltung gehindert ist. Aber gegen alle diese Dinge kann man etwas tun. Man muß nur erst mal die Zusammenhänge ganz genau wissen, und dann kann man etwas tun. I m Falle der Spätschichten gibt es Dragees. Wenn jemand Klagen über seinen Meister hat, so ist Meisterschulung nötig. Es darf nicht passieren, daß ein Meister auf irgendeinem Stand der technischen Entwicklung stehenbleibt und hinterher die jungen Facharbeiter mehr von der Sache wissen als der Meister selbst. Es darf nicht passieren, daß der Meister von Menschenführung so wenig versteht, daß er seine Leute antreibt oder anschnarrt. Jetzt noch etwas zum Herzinfarkt. I m Jahre 1953, glaube ich, hat Herr Prof. Graf den Herzinfarkt als Managerkrankheit bezeichnet. Damals war der Herzinfarkt also eine Krankheit der Spitzenleute, der Top-Manager, i n unseren Industrieunternehmen. Heute ist es ganz anders. Wie Herr Prof. Jahn vorhin richtig gesagt hat, kommt der Herzinfarkt heutzutage häufig vor bei Betriebsleitern, Meistern u. dergl. Woher kommt das? Sie müssen bedenken, daß einer

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der Risikofaktoren der psychosoziale Stress ist, also die Erschöpfung durch übermäßige Inanspruchnahme. Noch 1948/49 mußte einer der größten deutschen Konzerne jede Handwerkerrechnung über 1000,— D M mit einem Akzept begleichen, w e i l kein Geld vorhanden war, um diese Rechnung zu bezahlen. Sie können sich vorstellen, i n welcher Belastungssituation sich damals die Spitzenmanager befunden haben. Inzwischen haben sie einiges gelernt, und zwar mit durch die Theorie von Graf. Sie haben gelernt, daß man das Rauchen einschränken muß — das ist ja einer der Risikofaktoren des Herzinfarkts —; und sie haben außerdem gelernt, daß man sich entlasten, d. h. Kompetenzen und Verantwortungen delegieren muß. Ich bemühe mich seit 1950 darum, daß i n unseren Betrieben immer mehr Kompetenzen und Verantwortungen weiter nach unten delegiert werden. Die Spitzenmanager haben inzwischen eingesehen, daß das notwendig ist, das Mittelmanagement noch nicht. Sobald diese Einsicht sich auch hier durchsetzt, werden w i r wahrscheinlich den Herzinfarkt auch i m Mittelmanagement stark vermindert haben. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Darf ich kurz unterbrechen. W i r werden jetzt gleich zum Mittagessen gebeten — es ist fast 12 Uhr. Da aber die Diskussion so interessant für uns alle ist, möchte ich vorschlagen, daß w i r uns hier um 13 Uhr zwanglos zusammensetzen, um sie fortzusetzen. Dann können alle, die sich gemeldet haben, ihre Bemerkungen anbringen. Dr. Dr. Wolfgang Kellner (Gießen) Ich habe nur noch einen Punkt! Das, wogegen unsere junge Generation revoltiert, ist diese verwaltete, diese übertechnisierte und überbürokratisierte Welt. Und genau das übt auch auf unser Krankheitsgeschehen einen so starken Einfluß aus. Ich glaube deshalb, daß der von Herrn Prof. Jahn gesehene Zusammenhang durchaus vorhanden ist. Wenn w i r aber diesen Zusammenhang einmal erkannt haben, haben w i r alle die Pflicht, etwas gegen die Überbürokratisierung zu t u n und dem einzelnen Menschen an seinem Platz wieder mehr eigene Entscheidung und eigene Verantwortung zu geben. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Vielen herzlichen Dank, Herr Dr. Kellner. Ich sehe, w i r haben noch fünf Minuten, so können w i r noch einen Diskussionsbeitrag anhören.

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Dr. R. Lautmann (Dortmund) Leider habe ich keine Ahnung von Medizin-Soziologie, aber als Staatsbürger und als Soziologe darf man sicher gewisse Erwartungen daran knüpfen. Ich möchte zu dem farbenreichen Gemälde dieser neuen Wissenschaft, das Prof. Jahn hier entworfen hat, noch drei oder vier Bemerkungen machen. Die erste zur Koalition zwischen Medizin und Soziologie. Koalition— jawohl! Aber mit welcher Medizin? W i r haben in Deutschland hauptsächlich eine Medizin, die sich nur m i t den körperlichen Symptomen von Erkrankungen befaßt. Ich möchte jedoch eine Koalition zwischen psychosomatischer Medizin und Soziologie vorschlagen. Krankheit ist nämlich ein persönliches Ereignis, das den Menschen sehr tief berührt; hier sind seelische Faktoren, vor allem unbewußte Faktoren, überaus stark beteiligt. I n Deutschland gibt es inzwischen auch einige Leute, z. B. Hans Kilian, die sich damit befassen und deren Beiträge vielleicht noch wichtiger sind als die jahrzehntelangen Bemühungen anderer Medizin-Soziologen. Der zweite Punkt betrifft die Ausbildung der Mediziner. Ich weiß nicht, ob die deutschen Mediziner so gut ausgebildet werden, wie sie ausgebildet werden könnten. Ich habe i n München Gelegenheit gehabt, in einem medizinischen Ausbildungsinstitut die Leistungen der Medizinstudenten zu beobachten. Da geschieht sehr viel weniger als i n den Vereinigten Staaten und auch weniger als i n gewissen nordischen Ländern. Es ist — scheint m i r — kein Zufall, daß z. B. die Säuglingssterblichkeit i n Westdeutschland doppelt so hoch ist wie in fast sämtlichen europäischen Ländern. Hier wäre eine Erforschung der medizinischen Ausbildung durch die Soziologie geboten. Drittens: Warum muß die Diagnoseklinik, die jetzt für Wiesbaden geplant ist, also das deutsche Gegenstück zur Mayo-Klinik, bei uns auf kapitalistischer Basis gegründet werden? Sie werden vielleicht wissen, daß vor einiger Zeit eine Aktiengesellschaft ins Leben gerufen werden mußte, damit eine solche K l i n i k überhaupt entstehen kann. Ich halte es für ein überaus großes Versäumnis des Staates, daß nicht alles getan wird, um Krankheit so zu behandeln, wie es möglich wäre. Herr Prof. Jahn und Herr Dr. Kellner haben erwähnt, daß ein Zusammenhang zwischen den vegetativen Erkrankungen des Menschen und der Aggression unserer jungen Generation besteht. Ich würde aber nicht fragen: Kommt die Aggression von den vegetativen Erkrankungen dieser jungen Leute?, sondern: Woher kommen diese Krankheiten der jungen Leute? Sind diese Krankheiten nicht durch den Zustand der Gesellschaft verursacht? Auch das ist eine soziologische Fragestellung.

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Diskussion zum Vortrag von Hans Joachim Jahn Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund)

Schönen Dank für Ihren Beitrag. U m 13 U h r treffen w i r uns hier wieder. (Fortsetzung nach der Pause) W i r wollen jetzt die Diskussion fortsetzen. Darf ich gleich um Wortmeldungen bitten. Egon Backes (Duisburg-Hamborn) Ich möchte zunächst an die Kosten anknüpfen, die durch Krankenbehandlung und Rehabilitation entstehen. Diese Kosten fallen volkswirtschaftlich vielleicht gar nicht so sehr i n die Waagschale, wenn man berücksichtigt, daß durch die Behandlung ja Menschen beschäftigt werden, Ärzte, Pflegepersonal usw., wobei dann ja der Multiplikator- und der Akzelerationseffekt eintreten. Zweitens: Es hat vor etwa vier Wochen — ich weiß nicht genau, ob i n Heidelberg oder i n Darmstadt — ein Kongreß von Medizinern stattgefunden, die sich vorwiegend mit der Frage der Tuberkulose beschäftigten. Da wurde einmal mehr festgestellt, daß die Tuberkulose wieder i m Zunehmen begriffen ist; ansonsten blieb man ziemlich ratlos. Ich glaube, die Tuberkulose ist ein typisches Gebiet für die Anwendung der Medizin-Soziologie, und ich möchte Sie deshalb fragen: I n welchem Umfange sind hier schon Kontakte aufgenommen worden? Oder welche Möglichkeiten sehen Sie da? Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Herr Backes, Sie haben zwei sehr interessante Dinge aufgegriffen. Zunächst zu der Kostenfrage: Wenn ich hier die These i n den Raum stelle, daß etwa ein Viertel bis ein Drittel des gesamten möglicherweise erreichbaren Volkseinkommens beansprucht w i r d von dem Gesundheitswesen — i n einem ganz weiten Sinne —, dann soll das natürlich nicht heißen, daß hier nur volkswirtschaftliche Verluste vorliegen und demzufolge eine Summe von jährlich über 100 Milliarden eingespart werden könne. Was dagegen möglich erscheint, das ist allerdings ein größerer Nutzeffekt der eingesetzten M i t t e l und somit indirekte Einsparungen von vielleicht einigen Milliarden durch irgendwelche Maßnahmen und Umdispositionen. Grundsätzlich ging es m i r jedoch darum, zum Ausdruck zu bringen, daß es sich bei diesem Problem nicht nur um ein medizinisches, sondern auch u m ein volkswirtschaftliches Superphänomen handelt. Nun zur Tuberkulosefrage. Es ist nach den statistischen Angaben zu vermuten, daß die Tuberkulose nicht mehr so abnimmt, wie dies wün-

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sehenswert wäre, und sogar — soweit m i r das bekannt ist — i n gewissen Bereichen mindestens stagniert. Immerhin sind auch die Spezialsanatorien und -kliniken nach wie vor entsprechend belegt, wobei allerdings berücksichtigt werden muß, daß die durchschnittliche Belegungsdauer länger geworden ist. Aber es kommt noch hinzu, daß viele Tuberkulöse ambulant behandelt werden und ein Teil davon sich dem Zugriff der Gesundheitsämter sicherlich zu entziehen versteht. Es gibt dort heute ein besonderes Problem der sog. „entwichenen" Fälle. Also, die Tuberkulose ist noch nicht besiegt trotz aller Erfolge, z. B. der Chemotherapie und der Lungenchirurgie. Damit zusammenhängend nun Ihre weitere Frage, ob nicht hier ein besonderes Anwendungsgebiet für die Medizin-Soziologie gegeben sei. Selbstverständlich! Es ist sogar das Gebiet, auf dem bis jetzt w o h l am meisten medizin-soziologisch gearbeitet wurde. Ich darf vor allem auch auf meine eigenen Untersuchungen verweisen. Interdisziplinäre, interfakultative Zusammenarbeit ist eine Notwendigkeit, die i n ganz besonderer Weise durch die Tuberkuloseforschung bestätigt wird. Peter Rath (Dortmund) Herr Prof. Jahn, Ihre Forderung nach einer Medizin-Soziologie unterstreiche ich, nur glaube ich, w i r d ihre Verwirklichung sehr schwierig sein. W i r haben zwar eine industrielle Gesellschaft, aber doch ein vergleichsweise vorindustrielles Bewußtsein. Vielfältige politische Erscheinungen, beispielsweise NDP-wählende Bauern, Professoren, die sich gegen Hochschulreformen wehren, usw., haben m. E. zumindest eine gemeinsame Ursache. Man hat m i t der Entwicklung nicht Schritt gehalten, und man hat Angst, diesen Wandel mitzuvollziehen, weil man glaubt, nicht standhalten zu können. Man fürchtet — nicht nur gesellschaftlich, sondern damit gleichzeitig auch politisch —, anders bewertet zu werden. Deshalb kommt es, glaube ich, zu einer Mobilisierung des Berufsethos, das sich gerade bei den Ärzten i n einer besonders deutlichen Weise darstellt. Ich verweise da auf Nascholz's Ausführungen zur Theorie einer Standespolitik i n seiner Untersuchung über Kassenärzte und Krankenkassenreform. M i t dem gesellschaftlichen Wandel haben sich Position und Rolle der Ärzte verändert. Während früher die Ärzte i n einer unmittelbaren autoritär-patriarchalischen Beziehung zum Patienten standen, sind sie jetzt mehr medizinische Spezialisten geworden. Die Ärzte sind allerdings nicht die einzige Gruppe m i t einem der modernen Entwicklung nicht adäquaten Bewußtsein; es gibt noch mehr Institutionen, die immer noch feudalistische Strukturmerkmale aufweisen. 22 Tagung Dortmund 1968

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Glauben Sie, Herr Prof. Jahn, daß sich die Vorstellung von MedizinSoziologie i m Rahmen des bestehenden Systems i n Wirklichkeit umsetzen läßt? Oder ist es auch hier notwendig, die Frage nach dem System zu stellen? Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Herr Rath, Sie haben die Frage gestellt nach der Rolle des Arztes i n der modernen Gesellschaft. Das ist eine sehr wichtige Fragestellung der Medizin-Soziologie. Sie haben das Verhalten des Arztes als feudalistisch bezeichnet und dann weiter gefragt, ob angesichts dieses Selbstverständnisses des Arztes überhaupt die Chance besteht, daß eine Medizin-Soziologie i n der Form, wie ich sie hier dargestellt habe, sich verwirklichen läßt. Da muß ich zunächst sagen, daß man so pauschal die Ärzteschaft nicht charakterisieren kann. Bedenken Sie bitte, daß das Arzt-PatientVerhältnis immer getragen sein w i r d von dem besonderen Umstand, daß der A r z t i n der Regel als Gesunder und Heilenwollender zugleich einem Kranken gegenübertritt. Der Kranke w i r d immer aus seiner Position — und das zumeist nicht nur bildlich — zu dem Arzt aufblicken. Er ist oft die letzte Hoffnung. Das schafft von vornherein eine unvergleichbare zwischenmenschliche Beziehung, der stets etwas Patriarchalisches anhaften kann. Aber mit dem, was w i r unter Feudalismus verstehen, hat das wohl kaum etwas zu tun. Allerdings scheinen manche Ärzte heute offensichtlich geneigt zu sein, ihren Beruf allzusehr unter dem materiellen Aspekt zu sehen — dem allgemeinen Zug der Zeit folgend. Das muß natürlich gesehen werden. Aber man sollte trotzdem nicht pauschal urteilen. I m übrigen sei hervorgehoben, daß die Initiative für eine Medizin-Soziologie nicht so sehr von Soziologen ausging und ausgeht, sondern von Medizinern. Gerade auf medizinischer Seite sind auch die Kräfte sehr aktiv, die versuchen, das Selbstverständnis des Arztes von antiquierten Elementen zu befreien. Ich bin davon überzeugt, daß der Medizin dies aus sich heraus gelingt. Das beantwortet auch zugleich die Frage, die Sie am Schluß indirekt stellten, ob denn nicht grundsätzlich bezweifelt werden muß, daß das System — wie Sie unsere derzeitige Sozialform nennen — überhaupt noch i n der Lage sei, einem modernen Erfordernis wie dem der Medizin-Soziologie zu entsprechen; eine Fragestellung, die ich als verstecktes Bekenntnis zu einer Sozialrevolution in unserem Staate verstehe. Wenn diese Tagung uns i n irgendeiner Beziehung die Augen geöffnet haben sollte, dann doch vor allem dahingehend, daß die anstehenden,

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von der Wissenschaft erhellten lebensweltlichen Probleme der Industriegesellschaft nur noch evolutionär zu lösen sind, Peter Rath (Dortmund) Ich glaube, Herr Prof. Jahn, daß Sie mich zumindest i m letzten Punkt mißverstanden haben; denn, wenn Revolutionsvorstellungen heute noch gefrönt werden sollte, so glaube ich, nicht nach den Vorstellungen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, i n Form von ein paar Tagen Pulverdampf, die die Welt erschüttern. Angesichts der Tatsache, daß w i r i n einer industriellen Gesellschaft m i t stark verästelten Machtstrukturen leben, ist es unsinnig, solchen Vorstellungen nachzugehen. Die Bundesrepublik ist nicht Bolivien. Wen ich die Frage des Systems gestellt habe, so meinte ich eben: systemimmanente oder systemüberwindende Reform? Es ist bezeichnend, daß man sich der Vorschläge, die es ja seit Jahren gibt, i n der praktischen Politik nicht angenommen hat. Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Ich möchte nur ganz kurz feststellen, daß Sie, Herr Rath, i n bezug auf das erforderliche Handeln von Reform sprechen, woraus dann wohl zu schließen ist, daß Sie selbst nicht Revolutionsvorstellungen frönen. Für diese Klarstellung bin ich Ihnen dankbar. Hans Müsgen (Essen-Katernberg) Ich möchte zunächst die Frage der Infarktkranken nochmals anschneiden. Herr Prof. Jahn, Sie sagten, die Relation der Gewährung von Kuren bei Angestellten und Arbeitern sei 3 : 1 . Als Ursache der stärkeren Infarktgefährdung der Angestellten, auf die Sie daraus schließen, führen Sie an: autoritäre, vertikale Strukturen i n den bürokratischen Verwaltungen. Das ist sicher nicht zu widerlegen. Nun möchte ich einmal auf das Problem Arbeiter und Infarktkrankheiten eingehen. I n den Produktionsbetrieben haben w i r genau die gleichen autoritären, vertikalen Strukturen wie i n den Verwaltungen. Die Soziologen sind sich zwar längst darüber einig, daß aufgrund des Sachzwanges i m Produktionsablauf die Möglichkeit besteht, diese Machtstrukturen, d. h. die Anweisungs- und Uberwachungsfunktionen, abzubauen; in W i r k lichkeit aber bestehen diese Strukturen weiter. Daraus ergibt sich, daß der Arbeiter einem doppelten Zwang unterworfen ist: dem Zwang des Produktionsablaufes und dem der vertikalen Machtstruktur. Hieraus könnte man schließen, daß bei Arbeitern die Infarktanfälligkeit möglicherweise noch bedeutend höher ist als bei den Angestellten. 2*

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Die Gewährung von Kursen sagt ja noch nichts über die tatsächliche Infarktanfälligkeit aus. Ich komme aus dem Bergbau. Leider kann ich keine genauen Zahlen über die Herztoten des Bergbaues nennen. Die Knappschaft ist mit der Bekanntgabe von Zahlen äußerst vorsichtig, was m i r schon als ein bedenkliches Zeichen erscheint. Aber w i r sehen ja, daß von den Arbeitern zwischen 50 und 55 Jahren hier einer umkippt und da einer beerdigt wird. Vielleicht werden den Arbeitern nur deshalb weniger Kuren gewährt, weil sie schon vorher den Herztod sterben. Jetzt möchte ich noch auf das Problem Zweck- und Grundlagenforschung zu sprechen kommen, das bisher hier noch nicht behandelt wurde. Meiner Ansicht nach kann die Medizin-Soziologie sinnvoll Zweckforschung betreiben. Ich interpretiere das so, daß sie beispielsweise alle m i t vorbeugenden Maßnahmen zusammenhängenden Fragen erforschen kann. Darin sehe ich eine sehr sinnvolle Aufgabe der Medizin-Soziologie. Unter Grundlagenforschung verstehe ich das Fragen nach den gesamtgesellschaftlichen Kausalzusammenhängen. Meiner Meinung nach ist auf diesem Gebiet die Medizin-Soziologie überfordert. Wenn man z.B. weiß, wie schwierig es schon i m Einzelfalle ist, bei Ansprüchen eines Unfallgeschädigten gegenüber der Unfallversicherung den doppelten Kausalzusammenhang festzustellen, dann kann man sich die Schwierigkeiten vorstellen, die sich ergeben, wenn man gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge klarstellen w i l l . Die Frage stellt sich: Kann das die Soziologie — nicht nur die Medizin-Soziologie — überhaupt? Es bestehen beispielsweise gewisse Zusammenhänge zwischen Schichtarbeit und Ehekrisen. Diese wirken sich dann wieder auf die Krankheitsanfälligkeit aus. Kann die Medizin-Soziologie oder die Soziologie überhaupt die wirklichen Ursachen solcher Krisen erforschen? Oder gehören nicht noch andere Disziplinen dazu? Hier fiel heute morgen der Ausdruck „verwaltete Welt". Unsere Welt ist nicht mehr i m Naturzustand, und zwar sowohl, was die Umwelt als auch, was die Gesellschaft betrifft. Wenn w i r unsere materiellen Grundlagen erhalten wollen, d. h. wenn w i r das Leben innerhalb der modernen Industriegesellschaft überhaupt sicherstellen wollen, dann müssen w i r diese Grundlagen erforschen. Meiner Ansicht nach kann das die Soziologie allein überhaupt nicht schaffen. Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Lassen Sie mich, Herr Müsgen, erwidern, daß es m i r vor allem darum ging, am Beispiel des Herzinfarkt-Geschehens zu demonstrieren, warum es erforderlich ist, medizin-soziologisch zu forschen. Es ist m i r klar,

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daß die Zahlenangaben, die ich den roten Heften des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger entnommen habe, möglicherweise zu Trugschlüssen verleiten. U m das zu verhindern, ist es eben erforderlich, solche außerordentlich wichtigen statistischen Urmaterialien eingehend medizin-soziologisch zu prüfen und zu interpretieren. Sie kritisieren ferner, daß auf unserer Tagung noch nicht die Rede gewesen sei von Zweck- und Grundlagenforschung. Das hat sicher seinen berechtigten Grund; denn: Was ist Zweckforschung? Und was ist Grundlagenforschung? Und wie w i l l man beides voneinander abgrenzen? Und dazu noch unter dem ebenfalls nicht klar abgrenzbaren geistesund naturwissenschaftlichen Aspekt. Eine thematische Behandlung dieser verwirrenden Fragestellung ist aber auch aus Zeitgründen nicht möglich. Etwas unverständlich erscheint m i r Ihre Auffassung, die Soziologie oder die Medizin-Soziologie sei nicht i n der Lage, die Zusammenhänge i m Betrieb zu erforschen. Wer aber soll denn sonst versuchen, irgendwelche gesellschaftlichen Zusammenhänge dieser „verwalteten Welt", von der Sie m i t Recht sprachen, noch i n den wissenschaftlichen Griff zu bekommen, wenn nicht die Soziologie? Selbstverständlich i n Verbindung m i t allen anderen möglichen Sozialwissenschaften und m i t unterschiedlichen Gewichtigkeiten. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Vielen Dank! Wegen der fortgeschrittenen Zeit kann ich jetzt nur noch drei Wortmeldungen zulassen. Horst Meyer (Stade) W i r wünschen eine Forcierung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, i n diesem Falle die der Medizin-Soziologie. M i t Bewunderung sehen w i r auf die wissenschaftlichen Erfolge i n den USA oder i n der Sowjetunion. Wenn w i r uns aber fragen, unter welchen Bedingungen diese Erfolge zustande kommen, dann müssen w i r feststellen, daß hinter den Erfolgen verschiedener Disziplinen Auftraggeber stehen. A u f der einen Seite sind es politische, auf der anderen Seite private Auftraggeber. Bei uns i n der Bundesrepublik — das haben w i r gestern von Herrn Staatssekretär v. Heppe gehört — fördert der Bund nur bestimmte Großforschungsprojekte. Alles übrige obliegt den Ländern und der privaten Seite. Möglicherweise liegen hier die Mängel; die notwendigen M i t t e l werden vielleicht nach einem Kollegialprinzip verteilt, so daß neue Disziplinen am Ende zu kurz kommen. Ich b i n der Meinung, daß w i r

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von Kongressen — Kongressen der Mediziner oder der Soziologen — keinen großen Fortschritt erwarten können. Man müßte mit solchen neuen Dingen direkt an die Betroffenen herantreten; i n diesem Falle also m. E. an die großen Rentenversicherungsträger, die Krankenkassen und vielleicht auch an die Verbände der Arbeitnehmer. Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Sie haben sehr recht, es läge jetzt an den Trägern unseres gesamten Rehabilitationswesens, ein zentrales sozialwissenschaftliches Institut für Rehabilitationsforschung zu entwickeln. Man hat inzwischen mehrere große praktische Rehabilitationszentren errichtet, aber es fehlt dazu das adäquate Rehabilitations-Forschungszentrum. Ihre Forderung, Herr Meyer, ist also sehr berechtigt und kann nur unterstrichen werden. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) W i r sind Ihnen, Herr Kollege Jahn, sehr dankbar, daß Sie sich bemühen, das Interdisziplinäre zwischen Medizin und Soziologie voranzutreiben. W i r stehen hier nämlich an einer Geburtsstätte der interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeit. Die Sozialakademie ist entstanden aus der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster; und sie ist entstanden i n einer Zeit, i n der das Wort „team-work" groß geschrieben wurde. I n der Sozialforschungsstelle haben w i r immer hervorgehoben, daß w i r an einem Problem arbeiten wollen, jeder von seiner Fachseite her — der Soziologe, der Psychologe, der Volkswirt, der Arbeitswissenschaftler, alle u m ein Problem geschart. Für mich war deshalb auf dieser Tagung die Problemstellung interessant: Ist Wissenschaft auf das Ganze bezogen oder auf Teilbereiche? Wenn man forschen w i l l , meine Damen und Herren, w i r d man immer nur i n Teilbereichen forschen können; man sollte bloß das Ganze dabei nicht aus den Augen verlieren. W i r haben damals so gedacht. Ich bedaure es, daß w i r uns i n der Zeit danach wieder i n die Isolierung zurückgezogen haben, jeder i n seinen Bereich. Die Verbindung m i t den anderen Wissenschaftszweigen ging verloren. Heute gibt es i n der Sozialforschungsstelle — ich war dort stellvertretender Abteilungsleiter der sozialrechtlichen Abteilung — keine sozialrechtliche Abteilung mehr; es gibt keine volkswirtschaftliche Abteilung, es gibt keine arbeitswissenschaftliche Abteilung. Übrig geblieben ist rein empirische Soziologie. Die Sozialakademie entstand, u m den modernen Sozialwissenschaftler einmal zu demonstrieren. Daher sind w i r auf die Gebiete Volks-

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wirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft, Soziologie, Arbeitswissenschaft und Sozialpolitik gekommen. W i r wollten uns alle zusammenfinden und versuchen, nicht nur Lehre zu betreiben, sondern auch die Forschung weiterzufördern. Hierzu hatten w i r leider nicht genügend staatliche Mittel. Aber Herr Kollege Scholz hat j a schon darauf hingewiesen, daß w i r versuchen werden, künftig wieder zu einem solchen Forschungsteam zu werden. Ich glaube, diese Tagung hat uns Antrieb und Anregungen gegeben. I n diesem Sinne meinen Dank. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Schönen Dank auch Ihnen, Herr Duvernell, für den historischen Rückblick und für die ermutigenden Worte, die w i r alle nötig haben, die w i r hier an Ort und Stelle arbeiten. W i r hoffen, daß w i r auf diese Weise vorwärtskommen werden. Jaroslav Tejmar, M. D., C. Sc. (Prag) Als Mediziner fühle ich mich verpflichtet, eine Erklärung zu den Infarkten abzugeben. Infarkt ist ein Ergebnis gefäßverengender Prozesse. Die körperliche Arbeit dagegen w i r k t i n der entgegengesetzten Richtung. W i r besitzen eine bereits klassische englische Arbeit, nach der die Briefträger viel weniger von Infarkten betroffen werden als die Postbeamten, die auf dem Postamt arbeiten. Beim Herztod gibt es n u n aber nicht nur den Infarkt, es gibt ja auch Herzschwäche. Bergleute z.B. sterben oft an cor pulmonale, also an der Folge des erhöhten Lungenwiderstandes, oder auch — wie Sportler — infolge ihres vergrößerten Herzmuskels an einer sich später einstellenden schleichenden Insuffizienz. Der Infarkt dagegen ist immer etwas Plötzliches. Man könnte vielleicht sogar behaupten, daß die Arbeiter i n einem höheren Prozentsatz am Infarkt sterben, als es ihnen eigentlich zukäme. Das kann ich natürlich nicht voll beweisen. Ich stimme dem zu, was Herr Prof. Jahn hier gesagt hat, besonders der Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung. Trotzdem, meine ich, müssen zuletzt neue Disziplinen, i n denen Wissen vereinheitlicht wird, entstehen. Es ist sehr nützlich, sich i n einem Kollektiv zu unterhalten. Es gibt viele amerikanische Arbeiten darüber, wie fördernd das Milieu w i r k t . Aber schließlich müssen m i t der Zeit ganz neue Wissenschaften entstehen, die entweder von der Soziologie oder von der Medizin her mehr gespeist werden. W i r wissen, was für Schwierigkeiten w i r i n den Arbeitswissenschaften haben, nur deswegen, w e i l alle getrennt arbeiten, die Psychologen für sich, die Physiologen für sich usw. W i r

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brauchen schließlich Ergonomen, die wirklich umfassend unterrichtet werden, obwohl spezielle Untersuchungen dann wieder an den Psychologen, den Physiologen vergeben werden. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Vielen Dank, Herr Dr. Tejmar, für I h r ergonomisches Bekenntnis, dem ich mich nur anschließen kann. Herr Kollege Jahn, wollen Sie darauf antworten? Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Herr Kollege Tejmar, daß ich so nachdrücklich die Forderung nach einer Wissenschaftskoalition Medizin—Soziologie erhebe, hängt nicht zuletzt m i t einer gewissen persönlichen Erfahrung i n der team-Arbeit m i t Medizinern zusammen. Aus dieser Erfahrung heraus vertrete ich auch den Standpunkt, daß w i r medizin-soziologisch arbeitende Institute brauchen, i n denen es durchaus möglich ist, daß auch einmal Nicht-Mediziner zwischen einer Mehrheit von Medizinern als Leiter fungieren; oder umgekehrt, ein Mediziner als Leiter zwischen einer Mehrheit von Soziologen bzw. Nicht-Medizinern. Dementgegen steht nun allerdings die Auffassung von medizinischer Seite: Ja, Mediziner gibt es bestimmt einige, die einen solchen A n spruch zu erfüllen vermögen; aber Soziologen? Und das Eigenartige ist wohl dies, daß es Soziologen selbst sind, die diese Zweifel hegen. Eine Haltung, die sicherlich mit dem spezifischen Selbstverständnis des Soziologen zusammenhängt, das nicht zuletzt auch von einer großen Bereitschaft zur Selbstkritik getragen sein muß. Dessenungeachtet — oder vielleicht richtiger, gerade deshalb halte ich an dem Koalitionsgedanken fest. Der Gegenstand, u m den es hier geht, ist doch zu übergreifend und zu umgreifend, als daß er mit einer speziellen Zweigdisziplin der Soziologie oder der Medizin optimal zu erfassen wäre. Dr. H. P. Johann (Düsseldorf) Ich bin ganz anderer Auffassung als Sie, Herr Prof. Jahn, und erschüttert, daß Sie nahezu resigniert haben nach diesem großartigen Anlauf. Es ist ja das Entscheidende, daß irgendwo ein Funke entsteht; und dieser Funke entsteht nicht i m team, es sei denn, es sitzt dort irgendeine Persönlichkeit, die den Funken hervorbringen kann.

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Worauf das Ganze hinausläuft — und das ist meine Frage an Sie, Herr Prof. Jahn: Ist es nicht so, daß w i r die medizinische Wissenschaft heute — bitte verzeihen Sie, daß ich das etwas extrem sage — als eine Wissenschaft der Krankheit ansehen müssen? Es geht ja immer nur u m den kranken Menschen. Und da ist ein Riesenvakuum neben dieser medizinischen Wissenschaft, die ja großartig ist; aber es fehlt eben eine Wissenschaft der Gesundheit. Schlummerte nicht das hinter Ihren Worten heute morgen? Und ist nicht das der Schritt, der eines Tages durch irgendwelche Persönlichkeiten getan werden muß, damit sie sich neben den Mediziner stellen können, u m i h m zu sagen: D u kümmerst Dich nur um die Krankheit, die Gesundheit hast Du vernachlässigt. Aber darum kümmere ich mich jetzt. Dann ist der Funke da, und dann muß er respektiert werden. Können Sie nicht den Schritt t u n und sagen: W i r schaffen, angenähert oder voll, die Wissenschaft der Gesundheit, die uns fehlt. Das ist meine Frage. Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Hinter Ihrer Forderung, Herr Kollege Johann, nach einer Wissenschaft der Gesundheit vermute ich den Wunschtraum einer Wissenschaft vom Menschen. Denn was umfaßt der Ausdruck Gesundheit nicht alles? Und wie wollen Sie ihn begrifflich von dem Ausdruck Krankheit abgrenzen? Ich b i n Ihnen aber wirklich sehr dankbar für Ihren Hinweis; denn er hat angedeutet, daß man — besonders auf medizinischer Seite — sogar den Gedanken einer neuen Wissenschaft, also hier einer Wissenschaft von der Gesundheit, hegt. Wie gesagt, ich selbst b i n aus den angegebenen Gründen zu der Einsicht gelangt, daß die neue wissenschaftliche Dimension Medizin-Soziologie nur vorstellbar sei als eine Wissenschaftskoalition auf der Basis personaler interdisziplinärer und interfakultativer Zusammenarbeit. Dr. Dr. Wolfgang Kellner (Gießen) Seien Sie m i r bitte nicht böse, wenn ich Ihre Geduld nochmal i n A n spruch nehme. Sie haben i n einem Punkt sehr recht. Sowohl die medizinische Fakultät i n Gießen als auch die medizinische Fakultät i n Marburg haben meinen Antrag abgelehnt, eine Vorlesung über MedizinSoziologie zu halten. Das paßt einfach i n die medizinischen Fakultäten nicht hinein. Aber etwas anderes ist m i r wichtiger. Ich habe nie Schwierigkeiten gehabt, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für meine Untersuchungen Geld zu bekommen. Die eigentliche Schwierig-

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keit liegt ganz woanders, nämlich bei den Gutachtern. Die Geld verteilenden Institutionen sind ja nicht selber sachverständig, sie sind auf Gutachten angewiesen. M i r z. B. haben zwar die Mediziner als Gutachter nie Schwierigkeiten gemacht, aber die Soziologen. Es gibt Leute, die wollen Papst auf ihrem Gebiet sein und erlauben nicht, daß auch andere sich m i t diesem Gebiet befassen. Deshalb gibt es da Schwierigkeiten; man kann sie natürlich überwinden, aber das kostet doch ziemlich viel K r a f t und Zeit. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund) Nochmals vielen Dank, Herr Dr. Kellner! W i r haben kaum gemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Jetzt müssen w i r leider ein Ende setzen. Ich danke Ihnen allen recht herzlich, ganz besonders natürlich Ihnen, Herr Kollege Jahn. Sie haben es wirklich ausgezeichnet verstanden, uns das Thema nahezubringen.

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Joseph H . Kaiser, Freiburg/Br. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Sehr verehrter Herr Kollege! Als Diskussionsleiter gestatten Sie mir, Ihnen auch meinen herzlichsten Dank auszusprechen für I h r ausgezeichnetes Referat. Sie haben außerordentlich viele Anregungen zur Diskussion gegeben, die ich nun nicht steuern, sondern sich frei entfalten lassen möchte. Darf ich um Beiträge bitten. Dr. R. Lautmann (Dortmund) Ich glaube, w i r müssen der Tagungsleitung dankbar sein. Es ist wohl kein Zufall, daß w i r während dieser Tagung die drei bekanntesten Planungswissenschaftler Deutschlands hier haben: Prof. Kaiser, Prof. Steinbuch und Dr. Jungk. Jeder dieser Wissenschaftler nennt seine Disziplin anders. Prof. Kaiser spricht von Planungswissenschaft, Prof. Steinbuch von Zukunftsforschung, während Dr. Jungk den Ausdruck Futurologie bei uns populär macht. Sie, Herr Prof. Kaiser, möchte ich nun fragen, ob Sie das Gefühl haben, gemeinsam m i t diesen anderen Wissenschaftlern an einem Ziel zu arbeiten? Ferner habe ich zwei Fragen zu Ihrem Aktionsmodell. Das Modell besteht aus vier Dimensionen, die hier an der Tafel stehen, und aus der Zielprojektion. Diese ist eine sehr schwierige Sache und wahrscheinlich das Wichtigste hierbei. Sie haben uns aber nicht gesagt, welche Ziele hier i n Frage kommen. Natur und Mensch, das sind überaus vage Begriffe, m i t denen man nahezu alles an Planimg rechtfertigen könnte. Ich finde es außerordentlich wichtig zu präzisieren, was eine Planungswissenschaft an Zielen der Politik akzeptiert und vor allem, was nicht. Die Frage: Wer plant? hatten Sie offengelassen. Wer plant — die Wissenschaftler, die Politiker oder wer sonst? Die öffentliche Meinung haben Sie ausdrücklich ausgeschlossen. Wenn man aber die öffentliche Meinung zu Wort kommen läßt, sie kritisch abwägt und überlegt, was man als berechtigt anerkennen kann, dann hätte sie durchaus etwas

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mitzusprechen bei der Bestimmung der Ziele i n der Planung. Eine Demokratisierung des Planungsprozesses scheint m i r nur dann gewährleistet, wenn nicht allein die Wissenschaft und nicht allein Politiker bei der Zielbestimmung mitwirken. H. Jorzig (Freiburg) Sie haben das Wachstum als eines der wichtigsten Kriterien für die wissenschaftliche Planung herausgestellt. Ich könnte m i r vorstellen, daß es i m ökonomischen Bereich z. B. Zustände gibt, bei denen absolut kein Wachstumsgrad erzielbar ist. Halten Sie auch in einem solchen Fall noch die Planung für sinnvoll? Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Herr Prof. Kaiser, ich hätte Ihren Vortrag u m zwei Fragen ergänzt. Die eine Frage bezieht sich auf die Koordination der Planung. Es w i r d ja, wie Sie selbst am Anfang gesagt haben, i n vielen Bereichen und z. T. an vielen Stellen und i m Hinblick auf zahlreiche, recht unterschiedliche Zielsetzungen geplant. Und m i r scheint — worauf i m Bereich der Unternehmensplanung insbesondere Albach hingewiesen hat —, daß gar nicht so sehr die Planung an sich, sondern die Koordination der Planimg heute unser großes Problem ist. W i r stellen immer wieder fest — wenn ich das z. B. aus der Praxis der Planung eines Großunternehmens sagen kann —, daß es zahlreiche kurzfristige, mittelfristige und langfristige Pläne gibt, die z.T. globaler, z.T. auch spezieller Natur sind, etwa Einzelbereiche, die die Finanzen, das Personal, die Technik, die Entwicklung usw. betreffen; daß es aber fehlt an einer Koordination dieser Planung. Und m i r scheint, daß es gar nicht so wichtig ist, Planung an sich zu forcieren, als vielmehr, vorhandene Planung i m H i n blick auf die notwendige Koordination dieser Planung fortzuentwickeln. Gerade darin sehe ich auch die Möglichkeiten der Kybernetik i m Sinne einer Verbesserung der Planungstechniken; wobei ich meine, Planungstechniken sind i m wesentlichen Informationstechniken. Und das zweite Stichwort. Sie sagten — ein wenig überspitzt, wie ich annehmen möchte —, daß sich Institutionen, die die Forschung fördern (Sie nannten als Beispiel Stiftungen), doch stärker der Zukunftsforschung als etwa der Erforschung der Vergangenheit widmen sollten. Nun haben Sie selbst den besten Beweis dafür geliefert, daß Planung und Gespräche über Planung ohne Bezugnahme auf die Vergangenheit doch etwas blutleer sind. Wenn ich sage, daß die Information eine Voraussetzung jeder Planung ist, dann meine ich, daß Information auch Analyse der Vergangenheit ist. Analyse der Vergangenheit, aber selbstverständlich auch Analyse der Gegenwart und Analyse der Zukunft,

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soweit sie sich überhaupt einer Quantifizierung erschließt, wobei das große Problem ist — worauf auf der letzten Tagung des Stifterverbandes in Wiesbaden hingewiesen worden ist, und zwar von keinem Geringeren als von K a r l Friedrich v. Weizsäcker —, daß die Undurchsichtigkeit, die ungenügende Transparenz der Zukunft es eben doch sehr schwer macht, Prognosen zu geben, die uns m i t an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit quantitative Maßstäbe liefern für das, was w i r an qualitativer Planung wollen. Ich meine, das zweite, was uns also fehlt, ist eine ausreichende Information und — vielleicht sogar noch wichtiger — ein Sortieren, ein Aussondern, eine richtige Auswahl der zweifellos ja vorhandenen Informationen. Und auch hier möchte ich, sowohl aufgrund meiner fachlichen Arbeiten — insbesondere natürlich der Unternehmensplanung — als auch aufgrund eigener praktischer Erfahrungen, doch sagen, daß w i r uns i n unserer Planung i n der Vergangenheit so oft geirrt haben und unsere Planung so oft haben korrigieren müssen, w e i l es uns an der rechtzeitigen und ausreichenden Information der für die Planung notwendigen Ausgangsdaten gefehlt hat. Hier liegt ganz sicherlich noch eine ganze Menge i m argen, insbesondere, soweit es die Wirtschaftsplanung betrifft. Die Information, vor allem über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen, ist doch noch sehr mangelhaft. Sie haben die Prognoseberichte und -analysen genannt. Diese beruhen auf einem sehr unsicheren Ausgangsmaterial. Sie sind zwar weitgehend aufgeschlüsselt und dadurch etwas griffiger geworden, aber man kann aus einem Planungskonzept oder aus einem Informationskonzept nicht mehr herausholen, durch noch so gute Aufschlüsselung, als vorher hineingesteckt worden ist. Insofern fehlt es in der Tat an einer besseren Planung. Ich frage mich — und hierüber bin ich m i r noch nicht klar —, inwieweit diese Aufgabe zu lösen ist durch eine bessere Koordination der Planung. Ob eine solche Koordination der Planung überhaupt möglich ist i m Hinblick auf die Planung der Gesellschaft i m ganzen. W i r planen für große oder auch für kleinere Teilbereiche. Diese Planungen sind einerseits interdependent, zum anderen aber stehen sie i n Konkurrenz miteinander. Und wenn Sie etwa auf die zu Recht positiv beurteilten Planungen i m einzelnen, wie den Hamburg- und den Hessenplan — zu ihnen kommt jetzt in Nordrhein-Westfalen der Ruhrgebietsplan —, hinweisen, so bedeutet das aber doch, daß allein die gesamtwirtschaftliche Planung schon mit diesen Planungen der Regionen i n Einklang gebracht werden muß. Und wenn Sie unsere Wirtschaftsplanung, die der Bundeswirtschaftsminister, oder die Finanzplanung, die der Finanzminister aufstellt, sehen, dann stellen Sie fest, daß diese die regionalen Planungen entweder nicht oder nur ungenügend

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i n ihrer Planung berücksichtigt haben und insofern regionale Planungen wieder zwar i m Rahmen der Bundesplanung wirksam werden, aber doch bei der Aufstellung dieser Planung nicht oder nur ungenügend berücksichtigt worden sind. Ich meine einfach, w i r müßten eine Planimgsmethodik und eine Planungstechnik entwickeln, die das, was geplant wird, in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen, zunächst einmal informativ erfaßt; welche die Daten dieser Planungsabsichten sammelt und versucht, sie i n ein Gesamtkonzept zu bringen, um sie dann wieder zurückzuführen auf die Teilbereiche. Wie das geschieht, ob das überhaupt aus rechtlichen Gründen i n einem föderativen System wie der Bundesrepublik möglich ist, dazu kann ich mich nicht äußern, w e i l ich kein Jurist bin. Ob es auch tatsächlich möglich ist, ist m i r ebenfalls nicht völlig klar. Nur meine ich, w i r sind heute von der Technik her i n der Lage, eine Unmasse von Daten informativer und planungsmäßiger A r t zu sammeln, auszuwerten, aufzubereiten und für eine zentrale Planung i. S. einer Planung für die Freiheit zu nutzen; es fehlt jedoch immer noch an der ausreichenden Koordination. Planung, i. S. auch Ihrer Definition, als rationale Gestaltung einer Zukunftsordnung, müßte zwangsläufig eine Koordination von Detailplänen voraussetzen. Sonst wäre Planung letztlich nichts anderes als das, was w i r ohne Planung i m Wettbewerb auch machen. Dann konkurrieren nämlich verschiedene Planungsvorstellungen regionaler und spezieller Art, und Sie haben ein Chaos der Planung, das i m Grunde genommen schlechter ist als monopolistischer oder oligopolistischer Wettbewerb. Dieses System hat nur einen anderen Titel. M i t Planung, wie w i r es meinen, nämlich Planung der gesellschaftlichen Zukunft, hat das aber kaum noch etwas gemein. H. Brandes (Dortmund) Herr Prof. Kaiser, wenn ich Sie richtig verstanden habe, so stehen am Anfang eines jeden Planes die sog. Zielvorstellungen. I n unserer Demokratie w i r d es sich nun immer wieder ergeben, daß man mit verschiedenen Zielvorstellungen vor die Wähler t r i t t und um ihre Zustimmung kämpft. Wie sieht die Planungswissenschaft einen Ausweg aus dem daraus vielleicht entstehenden Dilemma, daß die aus der Sicht des Wissenschaftlers falsche Zielvorstellung die Mehrheit der Wähler gewinnt? Dann hätte ich noch eine zweite Frage. Die Erfahrung m i t dem Liberalismus hat uns gelehrt, daß w i r ohne ein gewisses Maß an Planung nicht mehr auskommen, wenn w i r die Zukunft richtig gestalten wollen. Aber besteht nicht zugleich die Gefahr, daß w i r in das andere Extrem fallen und das gesamte gesellschaftliche Leben verplanen,

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so daß das persönliche Handeln eines jeden Menschen sich nur noch ausrichtet an vorgegebenen Plandaten und kein Raum mehr bleibt für die persönliche Entscheidung des einzelnen? Hans Müsgen (Essen-Katernberg) Nachdem Sie uns hier ein Planungsmodell erläutert haben, bewegt mich die Frage, ob die Wissenschaft i n der Lage ist, auch ihre eigenen Probleme mit Hilfe einer wissenschaftlichen Planung zu lösen, beispielsweise das Problem von Lehre und Forschung an der Unversität? Wer würde diese Planung durchführen? Wer entscheidet über die Zielprojektion? Und wie w i r d diese Planung für die Bundesrepublik verbindlich? Peter Rath (Dortmund) Herr Prof. Kaiser, m i r scheint das hier von Ihnen entwickelte Planungsmodell ein wenig zu formalistisch zu sein. Man sollte mehr von der Wissenschaft ausgehen, die sich als eine kritische Rationalität i m Dienste der Menschheit versteht. I h r Planungsmodell ist m i r zu sehr an den augenblicklichen rechtlichen Vorschriften ausgerichtet. Da aber m. E. Recht und Ordnung immer noch Gesetz und Ordnung derjenigen sind, die die etablierte Hierarchie schützen und stützen, oder — um Bloch zu zitieren —, da „das Auge des Gesetzes i m Gesicht der herrschenden Klasse sitzt", meine ich, Planung muß systemüberwindend sein, sonst ist sie nicht mehr wertfrei. Horst Meyer (Stade) M i r scheint eine Planung schwierig bei einer Wissenschaft, die etwas außerhalb der Öffentlichkeit steht, für die sie plant. Es ist kaum anzunehmen, daß der richtige Fluß der Information von der Öffentlichkeit zur Wissenschaft oder umgekehrt von den Planungsgremien zur Öffentlichkeit gewährleistet ist. Dr. Wolfgang Lipp (Bochum) Einer meiner Vorredner hat Bloch zitiert und darauf hingewiesen, daß die Planung sehr wohl geschichtsphilosophisch und sozialhistorisch zu orten ist. Obwohl eine Zukunftswissenschaft, müssen w i r sie doch i n ihrer geschichtlichen Bedingung sehen. Sie entspringt, meine ich, der Fortschrittsgläubigkeit des 18. und 19. Jahrhunderts und den damit gegebenen Geschichtsphilosophien; darauf bezieht sich Bloch, darauf beziehen sich Dialektiker heute bestehender Schulen.

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Das bedeutet, daß von der Planung letztlich die Geschichte selbst in Angriff genommen w i r d und daß dadurch die Geschichte und damit die Zukunft, das Glück der Menschen und der Gesellschaft als machbar empfunden wird. Dies sagt u. a. Hans Freyer i n der „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters"; er nennt Planung eine Kategorie i n einer Gesellschaft, die die Machbarkeit der Sachen, die Zivilisierbarkeit des Menschen und die Vollendlichkeit der Geschichte i n den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns gestellt hat. Hier muß man jetzt die politische Frage stellen — darin stimme ich m i t Ihnen, Herr Prof. Kaiser, überein —: Wer plant eigentlich? Wer hat die Macht, die Geschichte und die Gesellschaft teleologisch auf ein Ziel h i n zu bestimmen? Das kann nur eine Staatsmacht vollführen, die die Planung zu dem macht, was sie zu sein prätendiert, nämlich eine Bestimmung der Gesellschaft. Die ersten Planungsmodelle i n diesem Sinne sind doch die Verfassung der Französischen Revolution und die amerikanische Verfassung, die sich i n diesem geschichtsphilosophischen Rahmen bewegen. Das Dilemma ist nun aber, wer plant die Planenden einer solchen Verfassung? Das ist die Frage, die sich K a r l Mannheim gestellt hat, die Frage: Freiheit — Planung. Wer plant die Planenden einer zukünftigen Gesellschaft, die wie am Schnürchen läuft? Diese Frage muß man an die Planungswissenschaftler und Planungsideologen richten, die sich noch i m geschichtsphilosophischen Raum des Planungsdenkens bewegen. I n demokratischen Gesellschaften sind die Mächte, die planen, pluralistisch verteilt; das heißt aber, es ergibt sich hier für die Planung ein besonderes Problem. Nach meiner Auffassung kann i n demokratisch organisierten Gesellschaften die Intention einer sich geschichtsphilosophisch verstehenden Planung, das Heil der Gesellschaft, der Menschheit zu fördern, überhaupt nicht mehr eingelöst werden. Die Planung w i r d pluralistisch; es gibt Teilziele, Teilperspektiven, die sich gegenseitig ins Gehege kommen können, so daß w i r hier für demokratische Gesellschaften das Dilemma einer letztlich planlosen Planimg haben, dem das Dilemma der Planung der Planenden i n totalitären Gesellschaften gegenübersteht. K a r l Misamer (Duisburg-Hamborn) Meine Frage ist nicht so tiefschürfend philosophisch. Wer bei m i r plant, ist klar. Ich bin verheiratet, also plant meine Frau. Ich möchte nun fragen: Welche Möglichkeiten gibt es, Planung — und das scheint m i r entscheidend zu sein — flexibel zu gestalten, d. h. beweglich i n allen Dimensionen, ihr dabei aber doch eine Verbindlichkeit zu geben?

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Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Es ist die Frage hier aufgetaucht nach der Letztinstanzlichkeit: Welcher Instanz kommt es i m letzten zu, zu entscheiden? U n d da kann ich nur sagen: Das ist eigentlich die Philosophie. Damit ist nun allerdings alles offen; denn Philosophie heißt ein dauerndes Ringen um die Wahrheit, und das w i r d eben immer ein sehr schwieriger und unaufhörlicher Prozeß sein. Es wurde die Frage gestellt: Wie soll entschieden werden i n diesen ganz großen Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung? Wahrscheinlich w i r d es nie eine derart verbindliche A n t w o r t geben können, wie sie hier vielleicht wünschenswert erscheint. Man kann die Frage also nur allgemein beantworten: Es ist die Philosophie, und sie w i r d es hoffentlich immer bleiben, die i n letzter Instanz zu entscheiden hat, sei es i m individuellen Bereich oder i m gesellschaftlichen. Sie ist, so gesehen, auch der Richter über die Politik —, nicht aber die Politik selbst. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Damit schließen w i r die Diskussion ab. Aus den Diskussionsbeiträgen haben Sie, Herr Kollege Kaiser, w o h l entnommen, wie sehr I h r Referat hier die Zuhörer beeindruckt hat. Darf ich Sie nun bitten, dazu Stellung zu nehmen. Prof. Dr. Joseph H.Kaiser (Freiburg/Br.) Ich danke sehr herzlich für die Beiträge, sie haben viele Teile meines Vortrages weitergeführt. Wenn Sie erlauben, werde ich nicht i n chronologischer Reihenfolge der Beiträge, sondern — soweit das möglich ist — systematisch erwidern. Wenn der Diskussionsleiter einverstanden ist, möchte ich daru m bitten, daß immer dann, wenn Sie den Eindruck haben, ich sei doch nicht richtig auf eine Frage eingegangen, der Finger gehoben wird. Zunächst zur Frage, wie ich mich zu der Wissenschaft von Herrn Steinbuch und Herrn Jungk verhalte: Kybernetik und Futurologie. Das ist ein wenig auch die Frage nach dem Standort meiner eigenen Wissenschaft von der Planung. Ich antworte sehr gerne auf diese Frage. Meine Meinung von der Kybernetik ist die, daß sie vor allem instrumental ist. Ich habe natürlich viele Anregungen aus den Arbeiten von Herrn Jungk und Herrn Steinbuch entnommen. Herr Steinbuch stand mit dem leider verstorbenen Verwaltungsrechtler Prof. Zeidler i n engem Kontakt, ihm sind daher auch vom öffentlichen Recht her Anregungen zugeflossen. M i t Herrn Jungk habe ich mich 23 Tagung Dortmund 1968

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mündlich und schriftlich ausgetauscht, ich habe ja auch den Zukunftscharakter jeder Planungswissenschaft deutlich umrissen. Es gibt also zwischen diesen drei Richtungen einen lebhaften Gedankenaustausch, der für die Entwicklung meines Forschungsprojekts, Planung, von der allergrößten Bedeutung ist. N u n ein Wort über dieses Forschungsprojekt selber. Ich habe zunächst nicht i n dieser Richtung gearbeitet. Ich k a m dazu i m Winter 1964/65, als ich erkannte, daß die K o n j u n k t u r i n der Bundesrepublik Deutschland nachläßt. Bevor die meisten großen Unternehmen aus den Konjunktursymptomen Konsequenzen für den Abbau der Läger gezogen haben, hatte ich bereits i n Freiburg ein Kolloquium, eine Klausurtagung, einberufen. Eine Anzahl bedeutender Staatsrechtler und Nationalökonomen — auch aus dem Ausland — tagte anderthalb Tage lang während des Freiburger Karnevals, als die Universität sehr ruhig war. Einer meiner Kollegen, Prof. Ipsen aus Hamburg, hat Protokoll geführt. Dieses Protokoll hat er später — m i t sehr viel eigenen Gedanken durchwoben — i n dem Band „Planung I " veröffentlicht. Das war der Anfang. Es schloß sich daran eine zweiwöchige Planungstagung i m Rahmen einer internationalen Fakultät für Rechtsvergleichung an, die vor allem von der französischen Regierung gefördert wird. Wenn Sie die Zahl der Autoren überblicken, die inzwischen an diesem Forschungsprojekt m i t w i r k e n — am Schwarzen Brett hängt eine Liste der Inhalte der drei Bände —, dann erkennen Sie daran, daß man ein solches Forschungsprojekt nicht mehr wie einen Ein-Mann-Betrieb durchführen kann. Eucken i n Freiburg war noch i n der Lage, die neoliberale Freiburger Schule wie m i t einem Griff systematisch darzustellen. Das ist heute völlig ausgeschlossen. Dieses Forschungsprojekt, für das ich die Verantwortung trage, ist sehr breit abgestützt, sowohl interdisziplinär wie international. Die Zusammenarbeit m i t der Freiburger neoliberalen Schule ist sehr eng, w i r versuchen, die neoliberale Auffassung fortzubilden i n einer Weise, wie sie den Bedürfnissen der heutigen Zeit entspricht. Ich möchte damit die Kontinuität der Freiburger Tradition aufzeigen, die i n bezug auf meine Wissenschaft bedeutet, daß die Zusammenarbeit zwischen Volkswirten und Juristen besonders eng ist. Dadurch unterscheidet sie sich von dem, was Herr Jungk und Herr Steinbuch unternehmen. Eine ganze Reihe von Diskussionsrednern hat gefragt: Wer entscheidet? Ich habe i n meinem Vortrag gesagt, daß die Zielbestimmung natürlich eine Entscheidung ist. Die Amerikaner nennen das: the decision making process und verstehen darunter einen guten Teil des

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Planungsverfahrens. A n dieser Frage kommen w i r tatsächlich nicht vorbei. Die Holle der Öffentlichkeit und der öffentlichen Gewalt und die Philosophie gehören i n diesen Zusammenhang hinein. Vielleicht, Herr Kollege, könnte i n der Tat die Philosophie das Geschäft besorgen, das wäre dann die alte platonische Vorstellung von den Philosophen, die Könige sein sollen. Aber das ist nicht die Antwort, die ich als Jurist zu der Frage geben muß. Planen kann nicht die Wissenschaft, weder die Philosophie noch die Jurisprudenz noch die Kybernetik. Planen ist eine Aufgabe der Politik, d. h. i m demokratischen Staat eine Aufgabe der demokratisch zur Entscheidung berufenen Organe, und zwar zunächst eine Sache der Exekutive. Sie können Rechtsvergleichung treiben, soviel Sie wollen, und jeden Staat nehmen, den Sie wollen: Planung ist der Natur der Sache nach zunächst einmal eine Aufgabe der Administration, letzten Endes der Regierung. Beispiel: unsere mittelfristige Finanzplanung. Das Kabinett hat sie i m Bundestag vorgetragen, der Bundestag hat sie angehört, er hat nicht einmal darüber Beschluß gefaßt. Das heißt nicht, daß an der Planimg Parlamentsausschüsse nicht beteiligt sind. Die Planung ist nicht zu lokalisieren i n einer einzigen Institution. Ihre Träger sind i m demokratischen System noch viele andere als nur die Regierung. I n den Planungsprozeß sind die verschiedensten Instanzen, Willensträger, Repräsentationsorgane eingeschaltet. Letzten Endes ist es aber die Exekutive, die alles zusammenfaßt. Die Koordinationsfunktion, würde ich sagen, ist eine gouvernementale Aufgabe. Es gibt in der Bundesrepublik ein hervorragendes Beispiel für eine institutionalisierte Planung, das ist die Konzertierte Aktion. Es hat, glaube ich, inzwischen acht Sitzungen der Konzertierten A k t i o n unter dem Vorsitz des Bundeswirtschaftsministers gegeben. Die Sozialpartner haben von der Regierung Orientierungsdaten erhalten. Die I n stitute der Gewerkschaften, der Industrie, die Konjunkturforschungsinstitute, sie alle liefern Prognosen. Diese werden dann von den Beteiligten verglichen. Dadurch, daß die demokratischen Organe selber über Planungsorgane, über Planungsmechanismen verfügen, verteilt sich die Kontrolle, die sonst i m politischen Bereich beim Parlament liegt, i m Planungsverfahren Gott sei Dank über die verschiedensten Instanzen. Dieses Verfahren ist so unendlich kompliziert, daß das Parlament hoffnungslos überfordert wäre, wollte es das kontrollieren. I n das Planungsverfahren müssen die politischen Gruppen, ja, die Betroffenen überhaupt natürlich eingebaut werden. Bei der Bauplanung hat das Bundesbaugesetz das schon verfahrensmäßig geordnet; statt eines gerichtlichen Rechtsschutzes am Ende des Planungsentscheides, der j a Planungen i n manchen Städten schon jahrelang aufgehalten hat — statt eines solchen Rechtsschutzes also, ist jetzt die Beteiligung 2*

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der Betroffenen i m Planungsverfahren vorgesehen, Anhörungsrechte usw. N u n zu der Meinung, das Recht sei doch konservativ, es schütze die bestehende Ordnung. Ja, genau das habe ich doch eigentlich gemeint, wenn ich gesagt habe: die Natur des Rechts ist nun mal konservativ. Es schützt, es konserviert vielleicht sogar bestehende Strukturen, gegebene Rechte. Aber ich habe auch erklärt, daß die Fortbildung des Rechts eine Aufgabe ist. Das ist Sache des demokratischen Gesetzgebers und der Kräfte, die dem Gesetzgeber Impulse vermitteln. Die Orientierung am Recht ist nichtsdestoweniger ein Gebot, die Orientierung am Rechtsstaat nämlich. Sie hat letzten Endes als Ziel die Gerechtigkeit der Planung. Das ist eine Frage nach dem Maß. Dam i t diese Frage nach dem Maß, das letzten Endes das Maß des Menschen sein muß, aber doch nicht so vage bleibt, kann es doch nur, i m demokratischen Verfahren konkretisiert, das Recht sein, das die maßgeblichen Gerechtigkeitsvorstellungen vermittelt und dem Planer gegenüber als wirksame Grenzen der Planung aufrichtet. Aber ich gebe zu, daß die Fortbildung des Rechts durch die repräsentativen Organe nicht gut funktioniert. Und ich gebe zu, daß die Repräsentationsmechanismen unserer Demokratie — das sind nicht nur die parlamentarischen, sondern auch die i n den Gruppen — nicht gut funktionieren. Sie funktionieren i n vielen Staaten nicht gut, darum bringt sich politischer und sozialer Wille mit anderen Mitteln zur Geltung, nicht nur durch Repräsentation, sondern auch durch Demonstration. Ich komme wieder zurück zur Planung. Die Zielbestimmung obliegt also politischen Instanzen, die demokratisch berufen und demokratisch kontrolliert werden. Zu den demokratischen Kontrollen rechne ich keineswegs nur die parlamentarischen Kontrollen, die gar nicht ausreichen, sondern Kontrollen durch alle Gruppen. W i r sind eine pluralistische Gesellschaft, und wenn i n einem Beitrag gesagt wurde: Der Pluralismus zerstört die Planung —, so würde ich sagen, nein, Gott sei Dank ist die Planung pluralistisch. Und w e i l sie pluralistisch ist, ist sie nicht totalitär. N u r eine pluralistische Planung kann demokratische Planung sein, nur sie läßt Raum für die Magie des Vierecks der Planziele und damit eben Raum für die Freiheit. N u n zu der Bemerkung von Dr. Lipp, der das ganze Planungskonzept geschichtsphilosophisch lokalisieren wollte, und zwar i m 18. und 19. Jahrhundert. Wenn das stimmen würde, dann würde die ganze Planung nicht funktionieren. Das 18. und 19. Jahrhundert haben m. E. ihre Fortschrittsphilosophie antiplanerisch entwickelt. Planung ist nämlich nicht ein Produkt liberaler Fortschrittphilosophie, sondern eine Tochter der Krise. Sie stellte sich ein, weil man anders der Krise nicht

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Herr werden konnte. Und Planung i m internationalen Bereich gibt es erst, seitdem man mit der Atomkrise konfrontiert ist. Sie war es, die die Anarchie i n den internationalen Beziehungen der Staaten beseitigte. Ich meine, die Planung steht i n einem ganz anderen geschichtsphilosophischen Raum. Ich meine auch, die Verfassungen der Französischen Revolution und der Vereinigten Staaten enthalten keine Planung. Die erste Planungsverfassung, die ich kenne, ist die Verfassung des Gemeinsamen Marktes, der Vertrag von Rom aus 1957. Mein früherer Chef i m Auswärtigen Amt, der Botschafter Ophüls, hat i n einem der Planungsbände einen Aufsatz geschrieben über die Verfassung des Gemeinsamen Marktes als Planungsverfassimg. Da ist die w i r t schaftliche Integration geplant, zeitlich, räumlich; die M i t t e l sind da aufgeführt, die Methoden — das ist eine Planimgsverfassung. I n einem haben Sie natürlich recht, Planung kann Verfassungscharakter haben. Ich glaube, durch die Änderung des Artikels 109 des Grundgesetzes, 2./3. Absatz, ist Planung zum Verfassungsrang gelangt. Das Stabilisierungsgesetz dagegen hat meiner Meinung nach juristisch seinen Rang zwischen der Verfassung und den normalen Gesetzen. Und die Finanzplanung, obwohl nicht vom Gesetzgeber beschlossen, ist trotzdem ein Gebilde, das den Gesetzgeber weitgehend determinieren wird, einfach durch die Evidenz der dort aufgewiesenen Zusammenhänge. Es gibt eine Gesetzmäßigkeit nicht nur m i t dem Rang eines Gesetzesbeschlusses, sondern durchaus auch m i t dem Rang logischer Evidenz. Von daher entströmt der Planung eine Bindungswirkung, für die es keinerlei juristische Kategorie gibt, u m sie i n Begriffe zu fassen; nichtsdestoweniger ist diese Bindungswirkung effektiv. Die Tatsache, das procedere und die Resultate der Planung verändern die Zuständigkeiten der Exekutive, des Bundestages, der Gruppen, vermehren oder vermindern sie, sie vermindern, glaube ich, die Zuständigkeiten des Parlaments. Ich glaube aber, dafür wachsen andere Zuständigkeiten nach. M i r scheint also, das Ganze ist eine neue Ordnung, und das Recht sollte hier die Entwicklung einer neuen Ordnung nicht über die Maßen hindern. Ich erwähnte schon die Koordination als eine der Hauptaufgaben der Planung, sowohl — Herr Prof. Sohn hat diese Frage aufgeworfen — i m Unternehmensbereich als auch i m politischen Bereich. Die Koordination funktioniert auf Bundesebene nicht gut. Es gibt neuerdings Planungsstäbe i n einer Reihe von Ministerien, aber wer soll koordinieren? Die einen sagen, der Finanzminister, die anderen, der Bundeswirtschaftsminister, und wieder andere, das Kanzleramt. Bonn ist ein Schulbeispiel für den Mangel an Informationsfluß. Möglicherweise igeln

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sich die Ministerien zu sehr ein — i m Sinne der Strategie des begrenzten Konflikts. Tatsache ist, es fehlt an Informationsfluß. Und der ist i n der Planung eines der wichtigsten Dinge. Man kann am Beispiel des Informationsflusses i m Unternehmen, also am Beispiel der Unternehmensplanung, aufzeigen, daß das Planen gar nicht nur i n der Spitze des Unternehmens geschieht, sondern tief i n die Abteilungen des Unternehmens hineinreicht. Das stellt z.B. Galbraith i n seinem Buch „The Industrial State" dar, das es seit ein paar Monaten auch i n deutscher Ausgabe gibt. Er spricht dort von Technostruktur. Als eine A n t w o r t auf die Frage: Wer plant?, könnte man also sagen: die Technostruktur. Ich würde das allerdings weniger eng fassen als Galbraith. Schon der Autor eines anderen bemerkenswerten Buches zu unserem Thema, der Franzose Servant Schreiber, hat diesen Begriff Technostruktur leicht modifiziert. Ich würde ihn noch stärker modifizieren und sagen: Planung geschieht durch den gesamten Komplex der Politik, der Wirtschaft bis h i n zur Unternehmensführung, bis h i n zu den Sozialpartnern; alle diese sind Willensträger i m Prozeß der Planung der Gesamtwirtschaft. Für diesen ganzen Komplex gibt es keinen juristischen Begriff. Es gibt aber einen anderen Begriff: Establishment. M i t diesem Begriff umfaßt man das Ganze. Ich hatte einmal Bloch — er war gerade aus dem östlichen Teil Deutschlands i n den westlichen gelangt — zu einem Vortrag nach Freiburg eingeladen. Er interpretierte eine Stelle aus seinem Buch „Das Prinzip Hoffnung" und sagte, daß der Staat, überhaupt alles, was herrscht, i m Laufe der Entwicklung absinken würde zu einer Administration dessen, was immer weniger wichtig wird, was aber nichtsdestoweniger wie ein großer Rahmen für den Raum unserer Freiheit w i r k t und i n diesem Raum den Lebensstandard und auch die Lebensfreude zu steigern imstande ist, eben durch diese Administration — man kann auch sagen: Daseinsvorsorge. Ich meine, das ist eine wesentliche Aufgabe der Planung. Wenn ich nun dieses Ganze m i t Technokratie zu umschreiben versucht habe, so meine ich, daß diese außerordentliche Differenziertheit, diese Vielgliedrigkeit i n dem System eine Gewähr bietet dafür, daß die Konkurrenz der Zielvorstellungen ausgetragen werden kann. Irgendwo w i r k t natürlich hier auch die Wissenschaft; ihre eigentlichen Aufgaben sind aber nur Forschung und Lehre. Die Verbindlichkeit entsteht letzten Endes aus einer politischen Entscheidung, allenfalls der Evidenz eines logischen Zusammenhangs. Insofern ist also die Planung ein überaus komplexes System; ich gebe zu, daß es einem Furcht einflößen kann, w e i l es durchaus noch nicht ausgelotete Tiefen hat. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit als eine Anstrengung,

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dieses System fortzuentwickeln. Möge diese Fortentwicklung Systems es auch humaner machen.

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Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Sehr verehrter Herr Kollege! Ich habe den Finger nicht gehoben, und ich hatte auch keinen Anlaß dazu. Sie haben uns m i t Ihrer Stellungnahme zu den Diskussionsbeiträgen i n die Tiefe der Thematik hineingeführt. Wenn Sie beanstanden, daß der Informationsfluß i n der Bundesrepublik nicht klappt — hier i n Ihrer Übermittlung, Ihrer Vorstellung von der Planung hat er ausgezeichnet funktioniert. W i r sind Ihnen dafür w i r k l i c h dankbar. Sie waren erstaunt, am Wochenende ein so zahlreiches P u b l i k u m anzutreffen. Ich glaube, es ist w o h l niemand hier i m Raum, der es bedauert hat, den freien Samstag dafür geopfert zu haben. Nochmals herzlichen Dank!

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Wilhelm Krelle, Bonn Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Recht herzlichen Dank, Herr Kollege Krelle, für Ihren sehr instruktiven Vortrag. Sie haben uns gezeigt, wie sich der praktische W i r kungsbereich der Wissenschaft entfalten kann. Ich kann m i r vorstellen, daß dem einen oder anderen i m Moment aufgrund der vielen Tabellen der Kopf etwas schwirrt. Er muß sich wahrscheinlich damit erst einmal i n Ruhe befassen. Insofern w i r d eine Diskussion jetzt schwierig werden, zumal uns die Zeit drängt. Aber ich darf Ihnen doch sagen, daß nach den Vorträgen über die Wirklichkeit der Wissenschaft und ihre gesellschaftliche Bezogenheit I h r Referat über die Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis sehr wesentlich war. Sie haben uns gezeigt, wie man i m Detail zu optimalen Lösungen kommen kann. Dafür nochmals recht herzlichen Dank! Ich kann jetzt leider nur eine Frage zulassen, ich bekomme sonst Schwierigkeiten m i t unserer Wirtschaftsleiterin. Diskussionsteilnehmer Das hier vorgetragene Schema ist m. E. eine A n t w o r t auf die gesamte Thematik der Tagung, nämlich die Rolle der Wissenschaft i n der modernen Gesellschaft. Meine Frage lautet: Ist die Wissenschaft nicht i n der Lage, den Schritt zu t u n von rechts unten, nämlich dem normalen Emotionalwert, dahin, daß die Menschheit nach links oben geht? Die Wissenschaft ist i n Ost und West anerkannt, da gibt es keinen Streit. Bietet sie nicht einen Weg, eine Lösung, indem man sich sagt: W i r sind i n der Lage, alle Probleme, alle Fragen wissenschaftlich zu lösen, und dadurch sind w i r i n der Lage, besser zu entscheiden? Prof. Dr. Wilhelm Krelle (Bonn) Ich stimme Ihnen zu. Die hier dargestellte Situation, das sogenannte Gefangenen-Dilemma, ist m. E. für viele politische Schwierigkeiten verantwortlich. Wenn man das erst mal erkannt hat, dann versteht man, welcher Mechanismus dahintersteht und wieso es sehr schwie-

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rig ist, aus dem „Loch", in dem man gefangen sitzt, herauszukommen. Es gibt viele Überlegungen, wie man das machen kann. Es ist aber nicht einfach, denn man w i l l sich ja nicht hereinlegen lassen, und es ist unvermeidlich, daß man bei dem Versuch, aus dem Loch zu entkommen, hereingelegt werden kann. Eine gewisse Sicherung dagegen besteht i n der Herstellung eines Vertrauensverhältnisses persönlicher A r t , was aber i m politischen Bereich schwierig ist. Eine zweite Sicherung besteht darin, daß die Beteiligten dazu erzogen werden, längerfristig zu denken, d. h. daß sie sich die ganzen Konsequenzen eines gegenseitigen „Hereinlegens" überlegen; legt nämlich der andere mich herein, so habe ich jederzeit die Möglichkeit, i h n i n eine schlechtere Position zu versetzen als diejenige, die er ohne „Hereinlegen" gehabt hätte; und ebenso umgekehrt. Bei häufigen Wiederholungen des gleichen Spiels kann man die sog. Straf-Strategien anwenden, um den Gegenspieler für unkooperatives Verhalten zu bestrafen und zu „anständigem" Verhalten zu veranlassen, das langfristig zum Vorteil beider ist. So ergibt sich ein Lern- und Erziehungsprozeß. Darüber haben z. B. Rapoport und Boulding gearbeitet und damit die Grundlage zu dem gelegt, was man Friedensforschung (Peace Research) nennt. Diese Friedensforschung beruht also auf wissenschaftlicher Basis, nicht auf schönen Uberzeugungen und Gefühlen. Ich persönlich halte vom gefühlsmäßigen Pazifismus nichts. Ich glaube, man kommt hier nur weiter, wenn man die politischen Probleme vernünftig analysiert und versucht, aus ungünstigen, schlimmen Situationen wie denen des Gefangenen-Dilemmas herauszukommen. Dazu muß man sie verstehen und die Voraussetzungen für ihre Überwindung (gegenseitiges Vertrauen und längerfristige Kalkulation) Schritt für Schritt schaffen. Wenn man denkt, man könnte die Situation sozusagen mit einigem guten Willen überspringen, kommt man nie heraus. Ein Zentrum der Friedensforschung ist i n A n n Arbor i n Michigan. Dort erscheint die Schriftenreihe „General Systems". Hier finden Sie Einzelheiten zu diesem ganzen Fragenkomplex, ebenso auch i n Büchern von Rapoport. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund) Recht schönen Dank, auch für den literarischen Hinweis!

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Prof. Dr. Franz Deus (Essen) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, w i r dürfen Herrn Kollegen Sohn recht herzlichen Dank sagen — ich w i l l mich jeder Zensurierung enthalten, so nahe das liegen würde — für seinen ebenso lehrreichen wie instruktiven Vortrag, obwohl er einen ganz wesentlichen Teil seiner Ausführungen m i t Blick auf die Unerbittlichkeit der Uhr hat streichen müssen. Aber w i r werden ja i n die Lage versetzt, demnächst, wenn der gedruckte Bericht da ist, auch diese Passagen zu lesen. Ich habe i n der Zeit, i n der Kollege Sohn seinen Vortrag hielt, immer wieder daran denken müssen, daß w i r ja hier i n einer Stadt leben, i n der eine neue — und ich hoffe auch: neuartige Universität entsteht, eine Universität, die sich zum Ziel gesetzt hat, eine möglichst enge Verbindung zwischen Naturwissenschaft, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften herzustellen. Ich betrachte es als ein gutes Omen, daß gerade dieser Vortrag wenige Monate vor der Eröffnung des Aufbau- und Verfügungszentrums dieser Universität gehalten wird, zumal für die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung auch ein Lehrstuhl vorgesehen ist, der sich m i t den Fragen der wissenschaftlichen Unternehmensführung befassen soll. N i m darf ich fragen, wer sich zu den Ausführungen von Kollegen Sohn zu Wort melden möchte. Egon Backes (Duisburg-Hamborn) Ich möchte gerne eine Frage stellen zu der Simulation von Unternehmensentscheidungen. Ich glaube nicht, daß es der Leistungsantrieb eines Unternehmens ist, Bedarfslücken zu schließen, sondern vielmehr von der Schließung dieser Lücken zu profitieren. Es ist die Aufgabe der Unternehmensleitung, sich einen möglichst großen Marktanteil zu erschließen, d. h. die Konkurrenz auszuschalten, zumindest einen großen Vorsprung vor der Konkurrenz zu erreichen. Die Simulation bietet sicher die Möglichkeit, da schneller vorwärtszukommen. Meine Frage wäre: Wenn nun alle Großunternehmen von der gleichen Möglichkeit Gebrauch machen, w i r d dann nicht die Folge sein, daß

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alle etwas schneller laufen, zum guten Schluß aber doch ausschlaggebend sein wird, was eh und je ausschlaggebend war: die wirkliche Stärke eines Unternehmens oder vielleicht sogar das, was der alte Kaufmann den „guten Riecher" nannte? K a r l Misamer (Duisburg-Hamborn) Wo bleibt bei der Anwendimg der Wissenschaft die unternehmerische Intention? Das w i r d w o h l die Hauptfrage der Unternehmer sein. Jede Delegation bedeutet eine Machteinschränkung und leitet einen Demokratisierungsprozeß ein, der letzten Endes das Machtsystem, die Hierarchie zerbricht. Lassen sich daraus vielleicht die Schwierigkeiten zwischen Wissenschaft und Praxis herleiten, die Sie erwähnten? G. Mackrodt (Goslar) Ich wollte eigentlich nicht als Diskussionsschreck auftreten. Aber der letzte Beitrag ermuntert mich doch, auf eine Frage einzugehen, die m i t diesem Komplex zusammenhängt. Herr Prof. Sohn, Sie haben festgestellt, daß die Wissenschaft z. Z. zu wenig Techniken der integrierten Unternehmensführung anbietet. Nun gibt es aber i n Deutschland amerikanische Beraterfirmen, McKinsey z. B., die, m i t den nötigen Erfahrungen ausgestattet, Großfirmen, die sich so etwas leisten können, i n diesem Sinne i n einem erheblichen Umfange beraten. Ich glaube, es werden keine 10 Jahre vergehen, bis manch einer aufwachen wird, sowohl auf der Arbeitgeber- als auch auf der Arbeitnehmerseite. Es gibt jedoch hier ein Problem hinsichtlich der von solchen amerikanischen Unternehmensberatungsfirmen angebotenen Organisationsstruktur. Nach dem deutschen Aktiengesetz gibt es ja nicht den chairman der amerikanischen Gesellschaften — unseren früheren Generaldirektor. W i r haben die kooperative Unternehmensführung. Die Amerikaner behaupten aber, daß ein Unternehmen nur richtig geleitet werden könne, wenn es einen Mann an der Spitze m i t einem daruntergelagerten top-management und m i t dem entsprechend differenzierten hierarchischen Unterbau dazu gebe. I n Anpassung an das deutsche Recht (Handelsrecht und Aktiengesetz) propagieren sie nun die Aufspaltung von Bereichen innerhalb eines heterogenen Konzerns. (Sie wissen, so homogene Unternehmen wie etwa das Volkswagenwerk sind ja durchaus nicht die Regel i n unserer deutschen industriellen Wirklichkeit.) Es w i r d eine spezifische Verantwortlichkeit m i t einem Mann an der Spitze für die einzelnen Bereiche konstituiert, die dann theoretisch i n der obersten Spitze kooperativ wieder zusammenarbeiten sollen. Die Praxis beweist aber, daß das sehr schwierig ist. Eine sehr wichtige Neueinführung der Amerikaner ist nämlich die klare Unterscheidung zwischen Stab und Linie. Linienstellen sind die

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der Leute, die die Produktionsbetriebe leiten; danebengelagert gibt es Stabsstellen, für Personalwesen z. B. oder Planung oder Unternehmensverbesserung, Gewinnverbesserung oder Information und Kontrolle. Die klare Linie von oben nach unten, die sog. Befehlsstruktur, ist eindeutig. Die Verwendung der Begriffe Stab, Linie und Strategie deutet ja schon darauf hin, daß hier eine Übernahme militärischer Führungsprinzipien auf wirtschaftliche Tatbestände erfolgt ist. Bei all diesen neuen Führungsprinzipien w i r d nun aber sehr viel über Führung und fast nichts über die Geführten gesagt. Und das, meine Damen und Herren, scheint m i r ein viel größeres „gab" zu sein als das vielberufene Management-gab hier i n Deutschland. Ich habe anläßlich einer Tagung i n einer Akademie für Führungskräfte schon darauf hingewiesen, daß sehr viele der neuen Halb- Dreiviertel- und Top-Manager diesen Zuwachs an Verantwortung, an Macht, an Ruhm begrüßen, den die Delegation von Verantwortung m i t sich bringt. Sie begrüßen das i n der gleichen Weise, wie z.B. ein m i t der Friedensausbildung von Rekruten beauftragter Offizier irgendwelche Ausbildungsvorschriften begrüßt. Man erzielt damit hervorragende Ausbildungsergebnisse i n Friedenszeiten, aber die Führung von Industrieunternehmen erfolgt, wenn schon nach militärischem Vorbild gedacht werden soll, dauernd i m Kriegszustand, d.h. daß die Leute, die aus dem Graben heraus sollen, m i t i n die Betrachtung hineingehören. Ich meine, es w i r d zu wenig von denen gesprochen, die geführt werden sollen. Mängel der Mitbestimmung werden oft auf einen tatsächlichen Mangel an Information i n den Betrieben zurückgeführt. Dieser Mangel ist da. Aber ich glaube, es w i r d i n keinem Großbetrieb je soweit kommen, daß eine Information über eine gravierende Entscheidung bei denen, die es angeht, vorher ankommen wird. Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Wenn ich m i t dem letzten anfangen darf: Ich habe nicht gesagt, daß die Information identisch ist m i t dem, was etwa das Anliegen der Mitbestimmung verlangt, sondern ich habe nur gesagt, daß die M i t bestimmung auch aus der bislang ungenügenden Information heraus zu verstehen ist. Selbstverständlich gibt es auch für die Anwendimg der Information und ihr Ausmaß immer Grenzen. Deswegen habe ich das i n meinem Vortrag zu relativieren versucht, i n dem ausgearbeiteten Manuskript sogar noch starker. Ich b i n der Meinung, daß i n der Bundesrepublik, und zwar völlig unabhängig von der Mitbestimmungserörterung und unserer Praxis mit der Betriebs- und Unternehmensverfassung, die systematische Analyse von Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen, von industrial relations und von Labor-Management

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Relations bisher völlig oder nahezu völlig fehlt. W i r haben einzelne Untersuchungen, die aber immer nur Einzelbereiche, sowohl sektoral als auch von der Problemstellung her, angehen. Wir besitzen noch nicht ein einziges Institut auf breiter Grundlage. Dieses könnte i m übrigen überhaupt nur interdisziplinär und unter Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden betrieben werden. Bisher jedenfalls gibt es an keiner deutschen Hochschule ein solches Institut. Zwar bestehen einige Lehrstühle für Sozialpolitik, ja sogar Lehrstühle für Fürsorgewesen; indessen bestehen schon keine Lehrstühle, die sich ausschließlich m i t der systematischen Erforschung der ArbeitgeberArbeitnehmerbeziehungen beschäftigen, und zwar sowohl i m Sinne einer umfassenden Bestandsaufnahme der vielfältigen Formen dieser Beziehungen — der rechtlich geregelten und der nichtgeordneten — als auch i m Hinblick auf die Erarbeitung einer A r t Leitbild, eines Modells, wie diese Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen i n Zukunft aussehen sollten. M. E. ist das, was ich über Unternehmensplanung vorgetragen und was ich zusätzlich i m Manuskript vorliegen habe, nicht eher zu verwirklichen, bis nicht parallel dazu auch die Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen wissenschaftlich untersucht worden sind und solange keine theoretische Grundlage für die politischen Überlegungen und Handlungen der Sozialpartner angeboten werden kann. Z. Z. wuchert alles unkontrolliert und ungeordnet. Es w i r d dieses und jenes gemacht; wie aber die Gesamtkonzeption dieser Beziehungen aussehen sollte und auch unter Bezugnahme und i n Kenntnis dessen, was die Wissenschaft dafür zu erarbeiten vermag, w i r d sicher nicht untersucht. Man sollte deshalb versuchen, ein solches Institut zu gründen, i h m ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen und es frei von öffentlichen oder staatlichen Bindungen durch Wissenschaftler und durch die Sozialpartner zu betreiben. Ich hoffe, daß w i r i n einiger Zeit dazu kommen werden, ein solches Institut i m Sinne eines interdisziplinären Instituts zu entwickeln und es mit diesen notwendigen Aufgaben zu beauftragen, von denen hier die Rede war. Nun zu einer weiteren Frage, nämlich der des Verhältnisses von Stab und Linie. Ich glaube, daß die Trennung zwischen Stab und Linie, die sicher wichtig ist i m Verhältnis zwischen Konzernleitung und Konzernunternehmen, sich in der Zukunft stark verwischen wird. Dies deswegen, w e i l es zu einem permanenten Austausch der Stabs- und Linienführungskräfte kommen w i r d ; niemand w i r d auf die Dauer i n einem Stab tätig sein können, der nicht auch die Linie kennt. Umgekehrt kann niemand i n einer Linie arbeiten, der nicht auch Stabsfunktionen ausgeübt hat. Und wenn Sie den Einfluß der Persönlichkeiten auf die Entscheidungen betrachten, so werden Sie feststellen, daß nicht selten Stabsleute die Entscheidungen der Linie stärker beeinflussen

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als die Linienleute selbst. Dies geschieht i m übrigen auch umgekehrt. Wenn Sie die Wirklichkeit i n einem Unternehmen sehen, so w i r d der Mann der Linie, etwa der Geschäftsleiter eines Konsum-Unternehmens, vor einer Investition den Stabsmann nach seiner Meinung fragen. Es gibt somit interdependente Einflüsse von Stab und Linie, die so stark sind, daß man die klassische Trennung nicht immer durchhalten kann, obgleich sie selbstverständlich formal noch besteht und auch ihre Vorteile hat. Z u einer weiteren Frage: Ich weiß nicht, ob es so schlecht ist, daß es i n der Bundesrepublik keinen Generaldirektor amerikanischen Typs — den „Präsidenten" — gibt. Ich war eigentlich froh, als das neue Aktiengesetz diese Funktion des früheren Generaldirektors, die w i r bis zum Jahre 1965 auch i m deutschen Aktiengesetz kannten, aufgegeben hat. Letztlich gibt es immer die Möglichkeit, jemanden zum Vorstandsvorsitzenden oder zu seinem Sprecher zu machen. Ich weiß nur nicht, ob ein solcher Mann es unbedingt nötig hätte, sich gegen alle, d. h. auch gegen vernünftige Einwände anderer Vorstandskollegen durchsetzen zu können. I m Gegenteil! Ich würde meinen, wenn jemand Generaldirektor dieser klassischen Form wäre und er fünf übrige Vorstandskollegen gegen sich hätte, die i h m übereinstimmend von einer Entscheidung abraten, so ist etwas faul daran. So sehr kann w o h l niemand m i t Eingebungen versehen sein, daß er sich über den einheitlichen und geschlossenen Widerstand und gegen die Sachargumente aller anderen würde hinwegsetzen können. Insofern brauchten w i r m. E. nicht erneut den Typ des früheren „Generals". G. Mackrodt (Goslar) Ich habe nicht gesagt: W i r brauchten ihn, ich habe nur gesagt, daß w i r i h n nicht haben; die Amerikaner gleichen das aus durch Hilfskonstruktionen, indem sie Teilbereiche schaffen. Und nun kommt die Schwierigkeit, z. B. bei den Investitionen. Der Vorstandssprecher, der koordinieren soll, ist meist innerhalb des Vorstandes bei einer AG. ein Stabsmann, i h m untersteht die Finanzabteilung; die anderen sind Linienleute, d. h. verantwortlich für Sparten. Jeder Spartenmann braucht Geld. Wie koordiniert nun dieser Stabsmann als Vorstandssprecher die gegeneinanderlaufenden Interessen? Das führt i n der Praxis zur Herbeiführung von Abstimmungsmehrheiten. Ich wage zu bezweifeln, daß das noch wissenschaftliche Unternehmensleitung ist. Es ist Unternehmenspolitik, und die unterscheidet sich viel weniger von der normalen Politik, als der normale Sterbliche glaubt.

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Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Ich b i n i m Unterschied zu dieser Ansicht nicht der Meinung, daß der Finanzmann eines Vorstandes, wenn er Vorstandsvorsitzender ist, deswegen Stabsmann sei. Sondern er ist Linienmann. Als Vorstandsvorsitzender führt er das Unternehmen, wenn auch auf höchster Ebene und unter Beachtung des Organisationsplans. Das gleiche gilt für alle übrigen Vorstandsmitglieder, sie bilden die Unternehmensleitung. Das bedeutet nicht, daß sie i n die Einzelheiten eingreifen sollten. W i r haben da verschiedene Möglichkeiten, die Ressorts der Vorstandsmitglieder aufzuteilen. Ich bin aber der Meinung, daß es sich immer bei einem Vorstandsmitglied um einen Linienmann handelt. Wichtiger scheint m i r der Hinweis, daß w i r i m Zuge der Entwicklung stärker durch amerikanische Beraterfirmen von unseren eigenen Planungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten bestimmt werden könnten. Es ist i n der Tat richtig, daß amerikanische Beraterfirmen i n die Lücken der bei uns nicht i n dieser Weise arbeitenden Beraterfirmen und Planimgsfirmen getreten sind. N u n kochen aber auch die Amerikaner nur mit Wasser, und wenn Sie sich die Ergebnisse der amerikanischen Beratungen mal ansehen, dann sind Sie überrascht von dem Riesenaufwand, der für ein oft selbstverständliches Ergebnis betrieben worden ist. Ich meine, daß sich inzwischen die amerikanischen Beraterfirmen eine oftmals schmale Visitenkarte zugelegt haben und daß es nicht mehr unbedingt von Vorteil für ein deutsches Unternehmen ist, sich ihrer zu bedienen. A u f der anderen Seite haben die deutsche Betriebswirtschaftslehre und die deutsche Unternehmensforschung inzwischen einige Erkenntnisse entwickelt. Ich könnte m i r vorstellen, daß w i r bald den noch bestehenden Vorsprung amerikanischer Unternehmensforschung — was nicht dasselbe ist wie die amerikanischen Beraterfirmen — eingeholt haben. Z u einer weiteren Frage: Ich bin der Meinung, daß die Frage der Aufhebung von Einzelplanungen dadurch, daß plötzlich alle planen und möglicherweise sogar von ähnlichen Voraussetzungen ausgehen, durchaus auch ein Problem ist. Nach dem Gesetz der großen Zahl gleichen sich Vorteile und Nachteile dann i m Laufe der Zeit aus. Allerdings meine ich andererseits, daß diese W i r k u n g keine Unternehmensleitung von der Verantwortung enthebt, sich für ihre eigene Entscheidung möglichst gut und umfangreich zu informieren. Information als Voraussetzung der Planung w i r d gerade dann notwendig sein, wenn alle anderen sich u m sie bemühen, sonst w i r d der nicht Informierte u. U. erhebliche Nachteile erleiden, und Planung i m Sinne der Vorausschau der eigenen Entwicklung bleibt somit eine der künftigen Aufgaben, selbst wenn die Vorteile desjenigen, der dabei vor-

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anging, i m Laufe der Zeit verlorengehen sollten. Auch Schumpeter hat darauf hingewiesen, daß der Pioniergewinn immer nur ein vorübergehender Gewinn ist, der allmählich durch die Konkurrenz aufgehoben wird. Es ist ferner gefragt worden, was an eigentlicher Verantwortung für den Unternehmer übrigbleibe. Immer w i r d er zwischen den Alternativen, die ihm vorgelegt werden und die er überhaupt erst zur Untersuchung i n Auftrag gegeben hat, zu entscheiden haben. Wenn dabei etwa drei, vier oder mehr mögliche Lösungen mit unterschiedlichen Konsequenzen angeboten werden, kann keiner dem Unternehmer die Verantwortimg für die Entscheidung zugunsten einer dieser Lösungen abnehmen. Da sehr unterschiedliche Wirkungen durch diese Entscheidung impliziert werden, handelt es sich wohl um eine echte Unternehmerentscheidung. Er muß zwar nicht mehr zwischen beliebig vielen Möglichkeiten wählen, aber letztlich doch eine nicht gerade leichte Entscheidung treffen, deren Risiko er zu tragen hat. Das aber ist m. E., was den Unternehmer charakterisiert. Der Unterschied zu früher besteht nur darin, daß er nicht mehr völlig ohne Kompaß entscheiden muß. Noch ein letztes! Sicherlich w i r d die Einschaltung der Wissenschaft, die Entstehung einer Technokratie zu Machtverschiebungen führen, m. E. zu einer Macht Verschiebung zugunsten der Technokratie; denn je mehr ein Unternehmen sich formalen Planungssystemen ausliefert, je mehr es i n der Anpassung seiner Entscheidungen auf die Informationen innerhalb des gewählten Systems angewiesen ist, u m so schwieriger hat es eine Unternehmensleitung, davon abzugehen. Sie muß dann nämlich begründen, weshalb sie eine Entscheidung trifft, ohne auf dieses formale Planungs- und Informationssystem zurückgegriffen zu haben. Sie muß die Verantwortung für ein Verhalten übernehmen, dem der Verzicht auf optimale Information zugrunde lag. Wenn diese Entscheidung dann negativ verlief, w i r d man zu Recht den V o r w u r f unrationalen Verhaltens machen. Insofern ist das ein Risiko, dem sich eine Unternehmensleitung dann nicht mehr so leicht aussetzen wird, wenn sie sich für die Einführung solcher Systeme, d. h. für die Verwissenschaftlichung ihrer Politik, entschieden hat. Das führt aber nicht so weit, daß nachher die Wissenschaft selbst zu einer Entscheidungsmacht wird. Ich glaube kaum, daß ein Unternehmen ohne den letztlich Verantwortlichen an der Spitze, ohne eine verantwortliche Unternehmensleitung — wie auch immer sie verfassungsmäßig konstruiert sein mag — bestehen kann. Die Wissenschaft kann die Unternehmenspolitik erleichtern, sie kann sie jedoch nicht ersetzen.

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Soviel möchte ich zur Diskussion sagen. I m übrigen danke ich Ihnen für Ihre Fragen. Prof. Dr. Franz Deus (Essen) Sind noch weitere Fragen an den Referenten zu stellen? H. Brandes (Dortmund) Herr Prof. Sohn, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen gesagt, daß es Sinn der Unternehmensführung ist, den optimalen Einsatz aller Produktionsfaktoren zu erreichen. So weit — so gut, wenn es sich darum handelt, sachliche Betriebsmittel einzusetzen. Aber unter den Produktionsfaktoren haben m i t nicht nur Boden und Kapital, sondern auch den Produktionsfaktor Arbeit. Und bei diesem Produktionsfaktor Arbeit handelt es sich u m lebendige Menschen. Wer soll den optimalen Einsatz dieses Produktionsfaktors Mensch bestimmen? Wenn man sich danach richtet, was ein Computer auf diese Frage antwortet, würde das nicht zu wenig menschlichen Verhältnissen i m Betrieb führen? Da könnten sich doch optimaler Einsatz und Menschlichkeit widersprechen. Des weiteren sagten Sie, daß die Unternehmensführung immer mehr einem Team von Führungskräften übertragen werden muß. Wer gehört dazu? Gehört nur der dazu, der darauf zu achten hat, daß die Finanzmittel des Betriebes optimal eingesetzt werden? Gehört nur der dazu, der darauf zu achten hat, daß die maschinellen Einrichtungen optimal eingesetzt werden? Ich meine, es gehört zu diesem Team genauso ein Mann, der darauf achtet, daß der Produktionsfaktor Arbeit, d. h. der Mensch, mit geringstmöglichem Schaden eingesetzt wird. Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Ich habe leider auch auf den Teil meines Manuskriptes verzichten müssen, der sich m i t der K r i t i k an der Zielsetzung eines Unternehmens beschäftigt. Der Gewinn als Ziel und K r i t e r i u m erfolgreicher Unternehmenspolitik ist sicherlich ein sehr formaler Begriff. Er ist aus statistischen und sonstigen Gründen, natürlich auch aus Gründen, die mit dem Charakter unserer Wirtschaftsordnung zu t u n haben, vorläufig nicht zu ersetzen. Die Fragwürdigkeit des Gewinnbegriffes als Erfolgskriterium könnte dazu verleiten, darüber ein Kolloquium zu führen. Gerhard Weisser hat i n einem Aufsatz i n der Festschrift für Leonard Nelson die Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit der Maximierung des Sozialproduktes untersucht und nachgewiesen. Er weist nach, 24 Tagung Dortmund 1968

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daß der Begriff der Maximierimg des Sozialproduktes i m Sinne einer wirtschaftspolitischen These oder Norm wissenschaftlich wie politisch inhaltsleer ist. Vielmehr müßte man zunächst einiges sagen über die Zusammensetzung des Sozialproduktes, über sein Zustandekommen, seine Verwendung und seine Verteilung. Solange darüber nichts gesagt ist, bleibt die Maximumthese eine Leerformel. I m Grunde genommen geht es m i t dem Gewinnbegriff ähnlich. Wenn man überlegt, welche Zielsetzung ein Unternehmen haben sollte, so kann man diese Zielsetzung immer nur langfristig sehen; und langfristig ist die Gewinnmaximierung u. U. ein Ziel, das nicht an der Spitze der Unternehmenspolitik stehen kann. Aber darüber muß man intensiver nachdenken, als dies hier möglich ist. I n den Zusammenhang gehört natürlich auch die soziologische Struktur eines Unternehmens, das Zustandekommen des Gewinns, die Zusammenfassung des Umsatzes, Folgen der Bestimmung des Lohnes, der Beschäftigung, des Betriebsklimas, der Arbeitsplatzsicherung u. a. m. Auch solche Gedankengänge wie die der Vermögensbeteiligung und der Mitbestimmung der A r beitnehmer müßten i n solche Überlegungen der langfristigen Zielsetzung eines Unternehmens eingehen. Letztlich kann man, wenn Sie es gesellschaftspolitisch sehen, die Zielsetzung eines Unternehmens nur unter Beachtung seiner Struktur und seiner gesellschaftlichen Stellung fixieren. Daß der Gewinn, von dem ich ausgegangen bin, als Objekt und als Ziel der unternehmerischen Planung ein formaler Begriff ist, bestreite ich nicht. Nur gibt es i m Augenblick i m Rahmen unserer bestehenden Wirtschaftsordnung kein anderes K r i t e r i u m für Erfolg oder Mißerfolg eines Unternehmens, das den Gewinnbegriff ersetzen könnte. Man muß deshalb m i t i h m auskommen. W i r sind, solange w i r kein anderes brauchbares K r i t e r i u m für die Zielsetzung eines Unternehmens haben, gezwungen, Gewinn als K r i t e r i u m zu verwenden. Das Ziel, von i h m als bestimmendem K r i t e r i u m auf die Dauer abzukommen und andere Maßstäbe mit einzubringen, setzt gesellschaftspolitische Entscheidungen voraus, die zu behandeln nicht meine Aufgabe war. Prof. Dr. Franz Deus (Essen) Meine Damen und Herren, ich darf i n Ihrem Namen Herrn Kollegen Sohn auch f ü r die Ausführungen auf die Diskussionsbeiträge recht herzlich danken. Und w i r wollen hoffen, daß diese Fragen, die er heute vor uns ausgebreitet hat, uns auch noch i n der Nacharbeit weiter beschäftigen werden, vor allem, da w i r ja hier i n dieser Stadt vor der von m i r erwähnten Aufgabe der Schaffung einer neuen Universität stehen, einer Universität, die hoffentlich auch für die Probleme

Diskussion zum Vortrag von moderner Wirtschaftsführung, geschlossen bleiben wird. Ich danke Ihnen.

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moderner Unternehmenspolitik

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Diskussion zum Vortrag von Staatssekretär Dr. Hans v. Heppe, Bonn Prof. Dr. Franz Deus (Essen) Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär v. Heppe hat — wenn ich es kurz gliedern darf — gesprochen über die finanzielle Problematik, über die Frage der Personalkapazität i m Forschungsbereich, über die vielfältigen strukturellen Faktoren und in den letzten Ausführungen über die Großforschimg, die wohl nun — unbestritten — zur Zuständigkeit des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung gehört, und auch über die Grenzen, die dieser Tätigkeit gesetzt sind. Es ist ja immer sehr viel leichter, Forderungen zu erheben, und es ist sehr viel schwerer zu versuchen, diesen Forderungen zu entsprechen. Darf ich n u n fragen, wer von Ihnen zu den Ausführungen von Herrn Staatssekretär v. Heppe das Wort ergreifen möchte, sei es, um Fragen zu stellen, sei es, u m einen eigenen Diskussionsbeitrag zu geben. Prof. Dr. Robert Rie (Fredonia/New York) Herr Staatssekretär, ich habe eine Frage an Sie i m m i t den Einschränkungen des Budgets, von denen ich, aus den Vereinigten Staaten hier eingetroffen bin, gelesen habe, den Einschränkungen, die der Kongreß schen Präsidenten auferlegt hat.

Zusammenhang der ich kürzlich mit Bestürzung dem amerikani-

Der Präsident wollte, wie Sie wissen, eine 10 °/oige Zulage zur Bundeseinkommensteuer, aber es war davon die Rede, daß 4 M i l l i a r den Dollar vom Budget abgestrichen werden würden, u m den Dollar wieder auf eine respektable Höhe zu bringen. N u n sind anstatt 4 M i l l i arden 6 Milliarden Dollar abgestrichen worden. W i r d das einen sehr wesentlichen Einfluß besonders auf die Raumforschung haben und w i r d davon Europa betroffen werden? Oder w i r d Europa hier irgendwie einspringen? Meine zweite Frage betrifft die Statistik. Sie haben gesagt, daß i n den Vereinigten Staaten 28 Naturwissenschaftler auf 10 000 Einwohner kommen — gegenüber Deutschland m i t 25 je 10 000. Nun darf ich hier aus eigener Universitätserfahrung bemerken, daß w i r äußerst unglück-

Diskussion zum Vortrag von Hans lieh sind über den tatsächlich geringen Andrang unserer studierenden Jugend zu den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern. Ich möchte fragen, ob hier vielleicht eine Fehlstatistik vorliegt, i n die man vielleicht eine niedrigere Graduierungsgruppe einbezogen hat, nicht nur die Doktoren? Staatssekretär Dr. Hans v. Heppe (Bonn) Die Zahlen stammen von der OECD, und zwar aus den Jahren 1963/64. Prof. Dr. Robert Rie (Fredonia/New York) Drittens möchte ich fragen, ob Sie irgend etwas zum sog. „braintrain" sagen wollen? Staatssekretär Dr. Hans v. Heppe (Bonn) Zuerst die erste Frage nach der zu befürchtenden Einschränkung der Raumfahrtforschungspläne der Vereinigten Staaten und etwaigen Rückwirkungen auf uns. Ich kann Sie da beruhigen, Herr Rie. Unmittelbare Auswirkungen auf unsere europäischen Pläne sind bisher nicht spürbar geworden, und das große Mondforschungsprogramm w i r d ja auch durchgeführt. Aber wir haben gewisserweise eine wohltätige Auswirkung zu spüren bekommen. Es haben einige der amerikanischen großen Luftfahrt- und Raumfahrtindustrien deutsche Wissenschaftler freigegeben, oder jedenfalls werben sie diese nicht mehr i n dem gleichen Maße wie bisher ab. Nun ist es ja so, daß bei den Raumfahrtforschungsvorhaben eine unmittelbare Zusammenarbeit m i t Amerika nur i n der Weise stattfindet, daß w i r auf amerikanische Raketen angewiesen sind, w e i l w i r noch keine eigene Raketenentwicklung haben und vorläufig auch noch nicht ausbauen werden. Und das ist durch die Einschränkungen nicht gefährdet. Hinsichtlich der Vergleichszahl nur soviel, daß diese Vergleiche immer sehr fragwürdig sind. Denken Sie nur an die z. Z. sehr i m Gespräch befindliche Stellung der Ingenieurakademien i n Deutschland, die ja einmalig i n der ganzen Welt sind und die sich eben in einen internationalen Vergleich nie recht einordnen lassen. Man kommt hier sehr oft i n die Gefahr, Äpfel mit Birnen zu vergleichen und zusammenzuzählen. Ich bin auch Ihrer Meinung, daß wahrscheinlich i n dieser Zahl i n bezug auf die Graduierung oder die Vorbildung hier i n die amerikanische und auch i n die russische Zahl Dinge eingerückt sind, die bei uns nicht sind. Aber eins ist ganz zweifellos richtig, daß sowohl

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i n Amerika — Sie haben es erwähnt — wie bei uns der Trend der jungen Leute leider nicht i n die Richtung geht, wo er eigentlich hingehen müßte. W i r gehen einem ungeheuren Engpaß naturwissenschaftlicher Lehrer entgegen. Das ist Ihnen allen bekannt. Und i n der Naturwissenschaft — das ist das einzige, was w i r m i t einigermaßen Sicherheit sagen können — brauchen w i r i n den nächsten Jahren wesentlich mehr Lehrer und Wissenschaftler. Aber die Technischen Hochschulen haben — soweit ich unterrichtet bin — keine steigenden Zahlen. W i r haben steigende Zahlen i n Ausbaukapazitäten auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, der Politologie, der Jurisprudenz, der Theologie und auf zahlreichen anderen Gebieten, aber hier nicht. Hier wird, meine Damen und Herren, die vorhin erwähnte Rahmenplanung, der sich der Bund auch bei der Ausbildung, auch bei dem Ausbau neuer Hochschulen und neuer Arbeitsplätze annehmen muß, einsetzen, und hier muß auch sehr viel Forschungsarbeit m. E. noch geleistet werden. Das ist ein weitgehend unerforschtes Gebiet. Ja, zum brain-train, das ist eine sehr schwierige Frage, die Sie stellen. Hier bewege ich mich auf unsicherem Boden, da w i r keine festen Ausgangszahlen i n Deutschland haben. Die Zahlen, auf die w i r uns i n Deutschland stützen — und auch die i n der Studie von Herrn Müller-Dehn zu diesem Punkte (das ist ein Mitarbeiter der Forschungsgemeinschaft, der i m vorigen Jähre eine Studie darüber gemacht hat) — beruhen auf amerikanischen Zahlen. Das sind die einzigen einigermaßen verläßlichen Zahlen. Nach unseren Beobachtungen ist der brain-train i n den letzten Jahren rückläufig. Er ist für die Engländer und für andere deutschsprachige Nationen, wie Österreich und Schweiz, auch bedrohlicher als für uns. Ich b i n nach wie vor der Meinung — ich deutete das schon an —, daß für einen jungen begabten deutschen Wissenschaftler so viel Chancen i n Deutschland seien, grade heute i n der neuen Struktur der neuen Hochschulen, bei dem neuen Geist, der doch endlich angebrochen ist an unseren Hochschulen, daß kein Anlaß besteht, wegzugehen — von einigen Ausnahmen abgesehen. Ich meine, Schranken wollen w i r nicht errichten, aber ich glaube doch, daß sich da die Verhältnisse allmählich bessern werden. Aber, wie gesagt, feste, sichere Zahlenunterlagen haben w i r nicht. Ich habe mich auch bei den Engländern erkundigt, wie sie zu ihren Zahlen kommen; es sind auch dort nur Schätzungen. Egon Backes (Duisburg-Hamborn) Herr Staatssekretär, Sie sagten vorhin, daß man den Naturwissenschaften aus praktischen Erwägungen den Vorrang geben müßte, einfach w e i l sich der praktische Nutzen ihrer Forschungsergebnisse schneller einstellt.

Diskussion zum Vortrag von Hans Ich vermag diesem Gedanken nicht ganz zu folgen. Ich denke daran, welcher Schaden uns entstehen kann, wenn w i r z. B. die Bildungsoder die Strukturforschung vernachlässigen. W i r haben Trabantenstädte errichtet, aber das Leben darin ist fast unmöglich. Wenn genügend anderer Wohnraum vorhanden wäre, dann würden diese Städte wahrscheinlich leer stehen. Also möchte ich meinen, daß auch ein finanzieller Erfolg bei den Geisteswissenschaften sich ziemlich schnell einstellen kann. Ich möchte aber sogar noch einen Schritt weitergehen. I n der Regel basieren die ethischen und auch die gesetzlichen Normen auf Erkenntnissen der Geisteswissenschaften. N u n frage ich Sie: Können Sie sich vorstellen, daß ein Volk auf die Dauer die Geisteswissenschaften ungestraft vernachlässigen kann? Staatssekretär Dr. Hans v. Heppe (Bonn) Ich glaube, ich bin da weitgehend mißverstanden worden. Ich habe keiner Vernachlässigung der Geisteswissenschaften das Wort geredet; ich habe i m Gegenteil davor gewarnt, hier die typisch deutsche Philosophie einzuführen und das Abwägen der beiden Dinge, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, so auszuspielen, wie Sie es jetzt — dialektisch geschickt — gemacht haben. Dieser Meinung b i n ich nicht. Ich b i n auch nicht der Meinimg, daß w i r die Naturwissenschaften deswegen fördern müssen, weil aus ihnen schneller und sichtbarer etwas herauskommt, und dann dürfen Sie auch nicht vergessen, daß ebenfalls bei naturwissenschaftlicher Forschung ein Großteil geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung drinsteckt. Die ganzen physikalischen Kenntnisse wären ohne die theoretische Physik nicht denkbar, und die ist i m Grunde — i n dem Sinne, i n dem Sie es meinen — Geisteswissenschaft. Und was ist denn Mathematik anderes? Mathematik, die reine Mathematik, abstrakte Mathematik, ist eigentlich eine Geisteswissenschaft. Aber die Dinge lassen sich nur schwer so, wie Sie es jetzt hier gemacht haben, gegenüberstellen. Ich gebe Ihnen völlig recht; was Sie z. B. über Umwelthygiene und Städtesanierung anführen, das sind außerordentlich wichtige Forschungsgebiete, die auch für mich an Priorität gleichrangig neben der Förderung von Atomforschung und Datenverarbeitung stehen. Aber worin w i r i n Deutschland nicht stehen bleiben dürfen, das ist ein Bildungsideal, das noch aus dem vorigen Jahrhundert stammt, die absolute Überlegenheit der geisteswissenschaftlichen Grundhaltung an sich.

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Gut, Sie können sagen, die hat Deutschland groß gemacht; die Humboldtsche Universität beruht darauf. Die Zeit ist aber weitergegangen, und die Saarbrüeker Rahmenvereinbarung der Kultusminister hat doch gezeigt, wohin es führt, wenn man an den Schulen die Naturwissenschaften vernachlässigt. Es gehört heute einfach zum B i l d eines gebildeten Menschen, daß er sich m i t den Naturwissenschaften und m i t den Grundstrukturen der Naturwissenschaft genauso auseinandersetzt wie früher mit vielen geisteswissenschaftlichen Problemen und Phänomenen. W i r müssen gerade auch — das ist eine Frage, die sehr stark i n das Bildungswesen hineingeht — dieses Bildungswesen sehr durchdenken i m Hinblick auf die Lösung von überkommenen Vorstellungen und den Naturwissenschaften — das ist notwendig, sonst können w i r i m Jahre 2000 nicht existieren — einen ihnen gemäßen Platz zuordnen. Da müssen w i r umdenken. Peter Rath (Dortmund) Herr Staatssekretär v. Heppe, Sie bezeichnen die Forschungspolitik als unzulänglich. Ich meine, die Forschungspolitik i n diesem Staate ist die einer rüstungskapitalistischen Massen- und Klassendemokratie adäquate. Mich wundert nicht, daß i n diesem Lande für Verteidigungsausgaben ein Mehrfaches ausgegeben w i r d als für Wissenschaft, daß primär Projekte finanziert werden, von denen die Industrie profitiert. Der Geldbeutel w i r d für Naturwissenschaftler eher geöffnet als für Geisteswissenschaftler, w e i l Naturwissenschaftler eher die Gewähr bieten, sich i n das bestehende System integrieren zu lassen. Geisteswissenschaftler stellen allzu leicht Bestehendes i n Frage. Damit rütteln sie aber auch gleichzeitig am Herrschaftssystem hier i n diesem Staate, das sich nur deshalb aufrechterhalten kann, w e i l die Bevölkerung entpolitisiert, das demokratische Bewußtsein transformiert ist. Das w i r d so lange so bleiben, wie i n der Bundesrepublik eine kleine Minderheit von 0,3 vH. der Bevölkerung über mehr Vermögen verfügt als die anderen 99,7 vH. Politik ist in diesem Lande, wo wirtschaftliche Macht auch politische Macht bedeutet, nichts anderes als Fortsetzung des Privatgeschäftes m i t anderen Mitteln, so auch i n der Forschungspolitik. Staatssekretär Dr. Hans v. Heppe (Bonn) Darauf kann ich beim besten Willen i m Grunde nichts antworten. Entschuldigen Sie, aber diese Ausführungen gehen wirklich total daneben. Ich habe nichts angedeutet oder ausgeführt, was zu solchen Rückschlüssen, wie Sie sie hier recht flott gezogen haben, hätte führen können.

Diskussion zum Vortrag von Hans Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Ich möchte nur eine kurze Frage stellen, Herr Staatssekretär v. Heppe, nämlich: Sieht die Förderung des Wissenschaftsministeriums i n den nächsten Jahren verstärkt auch eine Unterstützung der interdisziplinären Forschung vor? Staatssekretär Dr. Hans v. Heppe (Bonn) Die Frage ist nicht ganz eindeutig m i t Ja oder Nein zu beantworten, und zwar deswegen, w e i l sie überleitet oder i m Grunde eine andere Frage voraussetzt, nämlich die, wieweit w i r i n den nächsten Jahren überhaupt in der Lage sein werden, von Seiten des Bundes laufende Ausgaben der Hochschulen mitzufinanzieren. Diese interdisziplinäre Forschung, wie Sie sie sich vorstellen, w i r d ja i n erster Linie an den Hochschulen betrieben werden. Und ich deutete in meinen Ausführungen ja an, daß nach der augenblicklichen Abgrenzung ein unmittelbares Einsteigen des Bundes i n die laufenden Kosten nicht möglich ist. W i r haben das ja bei Bremen erlebt; Sie wissen, daß die Bundesländer nach 10 Jahren des Ab Wartens sich entschlossen haben, dem Staate Bremen gemeinschaftlich, durch Gemeinschaftsfinanzierung, eine gewisse Garantie für die Tragung der laufenden Kosten zu geben; eine völlig offene Frage, ob das nun verfassungskonform ist oder ob als Gesamtstaat nicht der Bund eintreten müsse. Aber ich lasse diese Frage hier offen. Es ist ja i m Grunde auch egal, wenn es überhaupt nur jemand macht. Aber die Frage von Ihnen ist insofern interessant, als sie darauf hinweist, daß viele wichtige Gebiete heute, die interessanten Entdekkungen der nächsten Jahre, wahrscheinlich auf den Grenzen liegen und es daher gefährlich ist, wenn sich die einzelnen Bereiche zu sehr abkapseln. Ich bin der Meinung, daß die Forschungsförderung — auch die unmittelbare — durch unser Haus diesem Gedanken Rechnung tragen w i r d und Rechnung tragen muß. Prof. Dr. Hans Joachim Jahn (Dortmund) Herr Staatssekretär, ich darf vielleicht doch nochmals die Frage aufwerfen. Meinen Sie, daß die Naturwissenschaften auf Kosten der Geisteswissenschaften entwickelt werden sollen? Oder meinen Sie es so — und so nehme ich es an —, daß beide gleichrangig nebeneinander stehen sollen? Ja, gut! Dann bin ich einigermaßen beruhigt. Sie müssen bitte verstehen, daß i m Räume ja doch die Aussagen von Herrn Minister Stoltenberg stehen, die nicht so ohne weiteres i n diesem Sinne aufzufassen sind.

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Diskussion zum Vortrag von Hans Staatssekretär Dr. Hans v. Heppe (Bonn)

Herr Minister Stoltenberg — ich kenne seine Äußerungen i n diesem Zusammenhang nicht — hat sicher nur die Förderungstätigkeit seines Hauses angesprochen, die — wie ich ja schon sagte — sich nicht unmittelbar an den Hochschulen entfalten und auswirken kann, nur bei den Investitionen. Die geisteswissenschaftliche Forschung, die Grundlagenforschung, w i r d auch künftig überwiegend an den Hochschulen erfolgen müssen. Ich habe an einer Stelle meiner Ausführungen dargetan, daß ich das für richtig und gut halte. Ich bin nicht für eine Trennung dieser Forschung von den Hochschulen; solange aber die Finanzierung der Hochschulen von den Ländern kommt, w i r d das Schwergewicht des Forschungsministeriums auf der naturwissenschaftlichen Seite liegen, w e i l hier — denken Sie bei der Großforschung m i t riesigen Millionenbeträgen — die Länder auf der anderen Seite entlastet werden. Damit erfolgt indirekt auch eine Förderung der Geisteswissenschaften. I n der Wertung, der Priorität, möchte ich beide gleichstellen. Werner Nüßler (Gelsenkirchen-Horst) Herr Staatssekretär, ist i n der heutigen Zeit der Massenuniversität wirklich die Einheit von Forschung und Lehre noch das Sinnvollste an der Universität, oder sollte man nicht versuchen — gerade über I h r Ministerium —, neue Wege i n dieser Frage zu gehen? Staatssekretär Dr. Hans v. Heppe (Bonn) Das ist eine wichtige und mir sympathische Frage. Ich habe die Einheit von Forschung und Lehre an einer Stelle erwähnt, w e i l ich der Meinung bin, daß man die Forschung nicht von den Hochschulen und den Ausbildungseinrichtungen trennen kann. Wenn w i r das machen, ahmen w i r das russische Beispiel nach; und die Russen haben schlechte Erfahrungen damit gemacht. Ich bin aber auf der anderen Seite Ihrer Meinung, daß w i r diese Einheit von Forschung und Lehre nicht bis zum letzten I-Tüpfelchen an jeder Hochschule und i n jedem Ausbildungsgang exerzieren müssen. Daran haben die ersten Empfehlungen des Wissenschaftsrates zweifellos ein gerüttelt Maß an Schuld, die das noch nicht erkannt hatten. Unsere künftigen wissenschaftlichen Hochschulen müssen sich als eine ihrer wichtigen Aufgaben der Ausbildungsfunktion annehmen und diese zum Teil auch m i t Kräften wahrnehmen, die nicht diesem Dogma der Einheit der Forschung und Lehre unterliegen. Das ist eine

Diskussion zum Vortrag von Hans Forderung, die schon i n dem Hamburger Hochschulreformgutachten von 1948 enthalten war, wie, nebenbei bemerkt, in diesem Gutachten außerordentlich viel steht, was noch heute lesenswert und wichtig ist. Und nur dann werden w i r die Riesenlawine, die auf uns zukommt i n den 70er Jahren, einigermaßen bewältigen können, wenn w i r von dieser Utopie loskommen, daß jeder Hochschullehrer praktisch ein Nobelpreisträger an Forschungskapazität sein muß. Das ist unmöglich, so viele Nobelpreisträger gibt es gar nicht. Und das könnten w i r auch nie bezahlen. Aber ich würde umgekehrt nicht dafür sein, die Forschung aus den Hochschulen herauszutreiben. Das bekommt den Hochschulen nicht, das bekommt der Ausbildung des qualifizierten Nachwuchses nicht. Das würde dazu führen, daß w i r dann qualifizierte Einrichtungen schaffen müssen, die ja Amerika z.T. hat, für advanced studies usw., für den Hochschullehrernachwuchs. Und das, finde ich, ist besser zu machen mit einem Aufbaustudium, wie es der Wissenschaftsrat nennt. Das sollte die Richtimg sein, die auch das Wissenschaftsministerium unterstützt. Prof. Dr. Franz Deus (Essen) Es bleibt m i r übrig, Ihnen, verehrter Herr Staatssekretär, auch für Ihre Antworten auf die Diskussionsfragen i m Namen der Versammlung recht herzlich zu danken, auch den Herren, die sich in der Diskussion zu Wort gemeldet haben.

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Karl Steinbuch, Karlsruhe Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) W i r danken Ihnen für diesen Vortrag. Ich glaube, daß ich die Meinung aller unter uns wiedergebe, wenn ich betone, daß w i r i n dieser umfassenden Form die Zukunfts- und auch die Gegenwartsprobleme unserer Gesellschaft noch nicht haben dargestellt bekommen. Wenn ich Sie erinnere an das, was w i r gestern abend von Staatssekretär Dr. v. Heppe gehört haben, dann steht das, was Sie gesagt haben, in einem gewissen Gegensatz zu der etwas beruhigenden These, die uns über den Stand der deutschen Wissenschaftspolitik und der deutschen Forschung mitgeteilt wurde. Sie haben nicht nur kritisiert, nicht nur Visionen aufgezeigt, sondern auch einige Lösungen angeboten, und zwar i n Ihren Büchern noch mehr als hier i n dem kurzen Vortrag. Es ist m. E. völlig richtig, wenn Sie sagen, es sei nicht so sehr ein organisatorisches als vielmehr ein geistiges Problem, ob w i r die Aufgaben der Zukunft zu lösen imstande sind. Ich würde vorschlagen, daß w i r auf einige wichtige Perspektiven des Vortrages nunmehr i n der Diskussion eingehen. Wilhelm Kuhn (Köln) Herr Prof. Steinbuch, während sich die bisherigen Vorträge m i t den Wechselbeziehungen von Wissenschaft und Gesellschaft und mit einigen Theorien und Aufgaben beschäftigten, enthält I h r Vortrag eine Zukunftsprojektion, grandios, aber auch i n mancher Hinsicht erschreckend. A n einer Stelle heißt es da: Die Erfahrung, daß Menschen beinahe grenzenlos manipulierbar sind und daß die Möglichkeiten der Manipulation noch zunehmen, vergrößert unsere Unruhe. Gestern vormittag sprach hier Herr Dr. Flohr von der Universität K ö l n über das Selbstverständnis der Wissenschaft und seine gesellschaftspolitische Bedeutung. Er hatte zu diesem Thema 16 Thesen entwickelt; i n der 11. These heißt es u. a. sinngemäß: Verantwortung erfordert Bewertung i m Licht der vermutlichen Konsequenzen. Das verlangt die Kenntnis relevanter Ursache-Wirkung-Beziehungen und somit potentieller Zweck-Mittel-Beziehungen. Ich vermisse in Ihren Ausführungen ein Wort zur Verantwortlichkeit der Wissenschaftler für die Auswirkungen, die die von ihnen ent-

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wickelten Techniken m i t sich bringen. Dazu möchte ich Sie u m eine Stellungnahme ersuchen. Prof. Dr. K a r l Steinbuch (Karlsruhe) Ein anständiger deutscher Universitätsprofessor sagt nie: das weiß ich nicht (Heiterkeit), i n diesem Sinne bin ich ein unanständiger deutscher Universitätsprofessor, der zugibt, daß er manches nicht weiß. W i r können möglicherweise, wenn w i r die intellektuellen Methoden dazu entwickeln, sagen, diese und jene Prinzipien führen beispielsweise zu einem enormen Wachstum der Wirtschaft oder zu einem enormen militärischen Kräftepotential usw. Aber damit ist die Frage unerledigt: Wollen w i r das eine oder das andere? Und damit kommen w i r i n einen Bereich des subjektiven Wertsystems, welches i n einem solchen Vortrag zu definieren eigentlich unmöglich ist. Ich sagte schon, ich bin der A n sicht, daß unsere tradierte Moral i n mancher Hinsicht nicht den zukünftigen Notwendigkeiten gerecht wird. Die Probleme, denen sich der zukünftige Mensch konfrontiert sieht, sind komplizierter, als unsere tradierte Moral voraussah. Ich glaube deshalb, w i r müssen gewisse Veränderungen moralischer Vorstellungen herbeiführen. Aber welcher A r t sind die? Das ist der Kernpunkt aller Gespräche dieser A r t . Ich habe in meinem Buch folgendes gesagt — Sie können das akzeptieren oder nicht akzeptieren, es ist eben meine Vorstellung: Ich glaube, zukünftige Wertvorstellungen müssen drei Forderungen genügen: Erstens müssen sie dem menschlichen Leben dienen, sie müssen human sein. Das zweite ist, sie müssen den zukünftigen Lebensformen semantisch gerecht werden, d. h. sie dürfen nicht Aussagen machen über Lebenssituationen, die i n Zukunft nicht mehr bestehen, sondern müssen sich m i t den zukünftigen Lebensrealitäten auseinandersetzen. Und das dritte ist, sie müssen i n einem historischen Prozeß praktikabel gemacht werden können. Diese dritte Forderung heißt: Es hat gar keinen Wert, mit dem Bleistift auf dem Papier ein Wertsystem zu entwerfen. W i r müssen überlegen: welche Möglichkeiten existieren tatsächlich hier i n dieser Welt? M i t diesen drei Forderungen werde ich kaum auf Widerspruch stoßen; denn sie sind genügend abstrakt, um nirgends anzuecken. W i r müssen aber konkretisieren. Und dieses Konkretisieren ist die weltanschauliche Auseinandersetzung, die w i r — glaube ich — durchmachen müssen. Vor allem müssen w i r zu Formen kommen, die es dem Mann auf der Straße ermöglichen, i n dieser schnell veränderlichen Welt vernünftig zu handeln. Wenn Sie mich fragen: Was halten Sie für die vernünftigste kommende Lösung? Das ist nun keine Aussage, die ich m i t irgendeiner Autorität vertrete, sondern es ist meine persönliche Überzeugung. So glaube ich, am nächsten kommt dem, was w i r i n Zukunft brauchen, eine etwas liberalisierte und entdogmatisierte Form des Christentums. Wenn

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die Kirchen versuchen würden, den Geist ihres Stifters, den Christi, i n dieser Zeit zu manifestieren, dann hätten w i r m. E. eine für die Zukunft. Die sollten sich fragen: Was würde Christus sagen? Und wenn sie die Antworten geben, die Christus heute würde, dann hätten w i r sehr vieles gewonnen.

Geist Moral heute geben

Dr. W. Lottmann (Duisburg) Ich glaube, w i r sollten i n der Form des Gesprächs an dem Faden weiterknüpfen. Ich b i n der Meinung, die Akzente sind etwas einseitig verlagert, wenn die Appelle lediglich an die Kirche gerichtet werden oder an irgendeine Gruppe. Es sind ja gemeinsame Probleme. Es ist leider i n der heutigen Zeit bei der Interpretation alter Grundgesetze, etwa der der Verantwortung für den nächsten, so, sobald die Dinge konkret werden, erklären die Interessierten i m ökonomischen Bereich: Hier haben die Ethiker, insbesondere die Männer der Kirche, keine Befugnis; sie sollen sich u m das individuelle Seelenheil kümmern, aber nicht um Fragen der Sozialethik. Es geht gar nicht darum, daß w i r eine Reihe von neuen Moralen finden, sondern daß w i r alle die Grundmoral — das ist eine i m Grundsatz einfache, i n der Konkretisation natürlich schwierige Angelegenheit —, die Verantwortimg für die nächsten also, beachten. Und hier habe ich eine Frage, auf die Sie sicher, da Sie ja kein Prophet sind, Herr Professor, auch keine endgültige Antwort, vielleicht aber doch einen kleinen Hinweis geben können. I n dem Maße, i n dem die Automation fortschreitet und die lernfähigen Computer eingesetzt werden, auf die Sie sich sehr häufig i n Ihrem Schrifttum beziehen — lernfähig i n dem Sinne, daß sie neue Problemlösungen ermöglichen —, i n dem Maße also w i r d eine große Zahl von Menschen dieser Entwicklung nicht mehr folgen können. Da aber von dieser Kybernetik her sämtliches industrielle Geschehen bestimmt sein w i r d und damit auch ein großer Teil der gesellschaftlichen Situation, stehen w i r doch vor dem Problem, daß nicht nur eine Reihe von Arbeitsplätzen verlorengeht, sondern daß u. U. Millionen Menschen, die diesen neuen Gedankengängen nicht folgen können, außer Gefecht gesetzt werden. Wovon werden sie leben? Was w i r d unsere Gesellschaft tun, daß sie dabei nicht havarieren? Prof. Dr. K a r l Steinbuch (Karlsruhe) Ich möchte einen Satz von Herrn Dr. Lottmann, den er vermutlich gar nicht so gemeint hat, zurechtrücken, nämlich: die Gesellschaft w i r d durch die Kybernetik bestimmt sein. Nein, sie darf nicht durch die

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Kybernetik bestimmt sein. Ich bin zwar Kybernetiker, aber wenn es zu dieser Entwicklung käme, dann wäre ich ein Antikybernetiker. Die Gesellschaft muß durch moralische Prinzipien bestimmt sein. Und nun kommt die Frage: Wie w i r d sich das Christentum zu diesen Problemen stellen? Bereits das Substantiv „das Christentum" scheint m i r etwas illusionär zu sein; das Christentum ist angesichts dieser Probleme so zerrissen wie die ganze übrige Menschheit, und das aufregendste Phänomen i n meinen Augen ist das Entstehen einer revolutionären Theologie, vor allem getragen von dem amerikanischen Theologen Shaull, aber auch von anderen. Und auch die Auseinandersetzung u m den niederländischen Katechismus scheint m i r hochinteressant zu sein. So allmählich kommen die Anfechtungen auch i n unsere kirchlichen Kreise herein. Die gegenwärtigen Probleme zwischen den existierenden Kirchen und den existierenden staatlichen Instanzen scheinen m i r i m Vorfeld der Problematik zu liegen. Die Exponenten der Kirchen sind nicht identisch mit dem Christentum. Und die Tendenz der revolutionären Theologie, zu einem ursprünglichen Christentum zurückzukommen, ist eine Abkehr von diesen sich m i t den staatlichen Instanzen vielfach identifiziert habenden Exponenten. Was ich sagen wollte, ist einfach das: Ich glaube, w i r stehen vor grundsätzlichen Fragen, die nicht lösbar sind, ohne die Frage zu beantworten: Was ist der Mensch? Was soll aus dem zukünftigen Menschen werden? Was ist die Rechtfertigung staatlicher Gesellschaften und staatlicher Organisationsformen usw.? Ich b i n vor allem der Uberzeugung, daß ökonomische Tatbestände keine letzte Rechtfertigung für gesellschaftliche Organisationen sein können. Und wenn ich höre, wie Politiker sich brüsten, daß die Währung i n Ordnung gehalten wurde, während beinahe alles andere vernachlässigt wurde, dann kann ich nur fragen: Wie können solche Leute politische Verantwortung tragen? Das verstehe ich nicht! Die Probleme, welche über die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaften entscheiden, sind viel, viel tiefer als solche währungstechnischen Fragen. Technik ist nicht Selbstzweck, aber auch Währung ist nicht Selbstzweck, und Profit ist nicht Selbstzweck; und wo gesellschaftliche Organisationsformen außerstande sind, gesellschaftliche Probleme zu lösen, sind sie illegitim. Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Ich glaube, Herr Prof. Steinbuch, Sie sind jetzt sicherlich nicht mehr mißverstanden worden. Ich möchte diejenigen, die dennoch glauben, daß nicht alle Zweifel geklärt wären, doch noch an das erinnern, was

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Sie selbst i n Ihrem Vortrag gesagt haben. Nämlich: Unsere Industriegesellschaft besitzt keinen praktikablen Moralbegriff. Sie haben daraus gefolgert, daß ein solcher Moralbegriff zu entwickeln sei, und haben letztlich gemeint, daß dieser Moralbegriff ganz sicherlich nicht aus irgendwelchen pragmatischen oder gar utilitaristischen oder aus Sachzwängen begründeten Entwicklungen zu folgern sei, sondern daß er ganz sicherlich ein Leitbild sein muß, das über den sog. Sachzwängen steht. Und ich glaube, wenn das ein Kybernetiker sagt, ein Mann, der sich m i t der Fortentwicklung von Informationstechniken und anderen beschäftigt, dann sollte das doch nun wirklich als ein Bekenntnis empfunden werden. Dr. H. P. Johann (Düsseldorf) Herr Professor, ich möchte einen Punkt aus Ihren Ausführungen herausgreifen, nämlich die Ausbildung, die Sie als einen kollektiven Dressurakt bezeichnet haben. Sie haben am Ende des Vortrages der Ausbildung eine höhere Zeit zugemessen, insbesondere i m Rahmen der vermehrten Freizeit. Wie aber, so möchte ich fragen, werden Sie gerade für die Ausbildung die Leute begeistern können, wo doch schon heute der Drang, sich weiterzubilden, i n weiten Kreisen recht früh beendet ist? Ich meine: Wie kann man Anreizsysteme schaffen, damit man ein möglichst großes geistiges Potential für die Volkswirtschaft erhält? Prof. Dr. K a r l Steinbuch (Karlsruhe) Ich glaube, dieser Anreiz muß aus zwei Richtungen kommen. Der eine Anreiz muß aus der gesellschaftlichen Sphäre kommen; wer mehr kann, muß irgendwelche Vorteile haben. Von diesem Prinzip w i r d man auch i n Zukunft nicht grundsätzlich abgehen können. Es muß vor allem die folgende Vorstellung aufgegeben werden: früher war es doch so, daß wenn einer bis zum Alter von 20, 25 Jahren gelernt hatte, dann war er Meister oder er w a r Diplom-Ingenieur oder irgend etwas; er hatte ein Diplom in der Tasche, auf dem i h m bescheinigt wurde, daß er nun etwas kann. Und von diesem Vermögen hat er ein Leben lang gezehrt. Diese Situation w i r d m i t Sicherheit i n Zukunft anders sein. W i r gehen dem Stadium eines lebenslangen Lernens entgegen. Ich w i l l das noch ein bißchen anders begründen. Vor 100 Jahren konnte der Vater seines Sohnes Lebensumstände mit hoher Präzision vorausbeschreiben. Wenn z. B. der Vater Schneider war, dann konnte er seinem Sohn sagen: ein Schneider tut dies und jenes, und jenes tut er nicht, und das macht er so usw. Er beschrieb i h m das Verhaltensmuster „Schneider". Und genauso waren alle anderen über Genera-

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tionen hinweg fixiert. Der andere Anreiz muß aus der Didaktik kommen. W i r brauchen Lehrmethoden, m i t deren Hilfe der Schüler an jedem Ort, zu jeder Zeit jedes Sachgebiet erlernen kann. Und es muß so dargeboten werden, daß er mit Lust und Liebe lernt. Ich mache m i r keine Illusionen darüber, daß eine Mehrzahl von Menschen nicht willens ist, sich geistig anzustrengen. Es gibt aber eine nicht unerhebliche Minderzahl von Menschen, die kann man dazu bringen, daß sie aus Lust lernen. Wenn w i r nun die technischen Möglichkeiten nützen — ich habe die drei Prinzipien genannt: Die zukünftige Technik muß bewirken, daß w i r an jedem Ort und zu jeder Zeit Zugang zu jedem Bereich des Wissens haben, didaktisch gut aufbereitet. Wenn w i r also am Sonntagnachmittag plötzlich die Lust verspüren, Boolesche Algebra zu betreiben, dann machen w i r zweimal tip tip, und dann haben w i r einen Lehrgang Boolesche Algebra i n B i l d und Ton vor uns. Es kommt darauf an, nicht nur die drei funktionalen Bedingungen zu erfüllen, sondern die zusätzliche Bedingung; man muß Lernmethoden entwickeln, die dem Schüler Spaß machen. Warum soll nicht zwischen Boolescher Algebra mal ein netter Spaß kommen? Dies sind zwei Bedingungen: erstens der gesellschaftliche Einfluß für lebenslanges Lernen; zweitens: Lernen w i r d leichter und angenehmer werden. Vermutlich werden die Lehrbemühungen i n Zukunft einen beträchtlichen Umfang annehmen. H. Schwerdtfeger (Dortmund) Sie haben i n Ihrem Vortrag darauf hingewiesen, Herr Professor, daß die Entwicklung durch bestehende, teilweise manipulierte Vorurteile gehemmt ist und daß die Gefahr der Manipulation von Vorurteilen wächst. Diese Gefahr soll nun beseitigt werden durch das Installieren konkurrierender Informationssysteme. Ich frage Sie jedoch, ob das Rekurrieren auf ein Konkurrenzprinzip die gegenwärtige gesellschaftliche Realität nicht auf eine Zukunft h i n fixiert und gerade das aufnimmt, was die Manipulation zu einem dauerhaften Zustand machen würde. Prof. Dr. K a r l Steinbuch (Karlsruhe) Ihre Prämisse scheint m i r nicht zu stimmen. Ich bin nicht der A n sicht, daß man durch konkurrierende Informationssysteme die Gefahren beseitigen kann: Ich weiß keinen besseren Weg. Ich b i n nicht des Erfolges sicher, sondern ich sage nur, ich sehe keinen besseren Weg, 25 Tagung Dortmund 1968

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dieses zu erzielen. Das, was w i r gegenwärtig unter „demokratischen Prinzipien" verstehen, daß jeder Information der allgemeinen Zustimmung oder Ablehnung anbieten kann, diese Möglichkeit müssen w i r auch bei zukünftigen technischen Methoden sicherstellen. Dann scheint m i r von der Technik her die Möglichkeit einer Entwicklung gegeben, die eine gewisse Liberalität hat. Aber die Gefahr ist ungeheuer, daß w i r durch gewisse Implikationen der Organisation gewisse Vorurteile endgültig fixieren. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. A u f jeden Fall muß die zukünftige Entwicklung eine gewisse dialektische Komponente haben. Es kann nicht durch irgendwelche Setzungen, die durch Tradition vorgegeben sind, die Entwicklung langfristig und endgültig fixiert sein. W i r müssen die Chance haben — das Wort „Demokratie" wagt man ja kaum mehr in den M u n d zu nehmen —, einfach i m dialektischen Prozeß alle diese Prinzipien unseres Zusammenlebens fortwährend zu entwickeln. Aber ich habe nicht gesagt und w i l l das auch keinesfalls so verstanden wissen, daß ich behaupte, durch diese konkurrierenden Informationssysteme seien die Gefahren behoben. Ich sage nur, ich sehe keinen besseren Weg. Dr. Robert Jungk (Wien) Ich weiß auch keinen besseren Weg, aber ich stelle gerade eine Überlegung an. Ich frage mich — und das fiel m i r bei dem Vortrag ein —. ob w i r Informationen nur als etwas passiv Hinzunehmendes ansehen sollen oder als Anregung zu eigenem Schöpfen, zu eigenem Weitertun. W i r könnten vielleicht das Lernen amüsanter machen; es ist jetzt so wenig amüsant, weil der Lernende sich ständig als Empfänger betrachtet, weil immerzu auf ihn hinuntergeregnet und -geredet w i r d und i h m nicht genügend Gelegenheit gegeben wird, das eigene Potential an Neuem und noch nicht Entwickeltem auch anzubringen. Neben den durchaus notwendigen konkurrierenden Informationen und Informationsnetzen müßte der Spielraum für eigenes Erfinden und eigenes Weiterdenken erweitert werden. Prof. Dr. K a r l Steinbuch (Karlsruhe) Das wesentliche Kennzeichen zukünftiger automatischer Belehrung ist, daß der Schüler nicht passiv ist. Eine moderne Didaktik teilt den Lehrstoff i n kleine Einheiten auf — die bezeichnet man häufig als „f rames" — und präsentiert diese frames dem Schüler, eins nach dem anderen. I m Gegensatz zum normalen Klassenunterricht nimmt der Schüler das nicht passiv auf, sondern nach jedem frame w i r d von ihm

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eine Erfolgskontrolle verlangt. Er muß rückmeiden, ob er es begriffen hat. Das ist der Punkt. Dr. Robert Jungk (Wien) Ich meine es so, daß der Lernende zu dem frame beispielsweise nicht nur sagt: Diese Maschinerie läuft soundso, sondern daß er sagt: Sie könnte auch anders laufen. Also nicht nur, daß er den Stoff aktiv aufnimmt und ihn versteht, sondern daß er das Gelernte als Herausforderung zu eigener Produktion von Neuem auffaßt. Das w i r d heute noch viel zu wenig gepflegt, und ich fürchte sehr, daß die Lehrautomaten hier keinen Fortschritt bringen, wenn da nicht ausdrücklich gesagt w i r d : W i r wollen nicht nur kontrollieren, ob D u es begriffen hast, sondern auch ob Du noch etwas Eigenes hinzufügen kannst. Dieser Appell an die eigene Schöpferkraft w i r d meiner Ansicht nach heute bei der Information vernachlässigt, und zwar sowohl bei der Information des Schülers als auch bei der Information des Publikums, das man ebenfalls immer nur als Objekt ansieht und nicht als reagierendes Subjekt. Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Ich würde allerdings, Herr Dr. Jungk, sagen, die A r t , i n der w i r hier den Vortrag von Prof. Steinbuch diskutieren, zeigt doch, daß w i r nicht nur aufnehmen, sondern daß w i r gleich schon versuchen, eigene Vorschläge zu machen, kritisch zu sein und das, was uns gesagt worden ist, unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Ich meine einfach, w i r müßten Methoden entwickeln, auch m i t Hilfe des programmierten Lernens, die uns das nicht nehmen, sondern i m Gegenteil die Möglichkeiten noch steigern. Und ich könnte m i r vorstellen, daß auch das zu bewältigen dem Kybernetiker nicht völlig unmöglich erscheint. Dr. R. Lautmann (Dortmund) Ich habe zwei Fragen zum Heferat von Prof. Steinbuch. Die Prognosen, die Sie uns hier an die Wand geworfen haben, sind das Prognosen über das, was demnächst möglich sein wird? Oder sind es Prognosen über das, was gemacht werden wird? Eine Illustration dazu. Ich könnte m i r vorstellen, daß w i r Politiker haben werden, die nicht daran interessiert sind, daß alle Informationen durch jedermann abgefragt werden können. Ich könnte m i r vorstellen, daß ein Kultusminister der NPD nicht zulassen wird, daß die Geschichte der letzten 30, 50 oder auch 100 Jahre unvoreingenommen 25*

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i n eine Informationsbank hineingegeben und dann von uns abgefragt werden kann. Wenn z. B. Herr Gutmann i n Stuttgart eines Tages K u l tusminister würde, dann werden w i r sicherlich nicht erfahren können, was er i m Dritten Reich getan hat. Solche Beispiele lassen sich wohl erweitern. Deswegen scheint es m i r möglich, daß Ihre Prognosen nur das Machbare betreffen, aber nicht das, was i n Deutschland i n 30 oder 40 Jahren w i r k l i c h sein wird. W i r haben es innerhalb weniger Jahrzehnte i n diesem Land fertiggebracht, unsere wissenschaftliche und technische Spitzenstellung so ziemlich einzubüßen. Hoffentlich geht es i n Zukunft nicht ebenso schnell weiter bergab. Meine zweite Frage ist: Können Sie als Kybernetiker der Sozialwissenschaft — hier i m Räume sind viele Sozialwissenschaftler oder solche, die sozialwissenschaftlich ausgebildet werden —, einen Rat geben, wie sie dazu beitragen kann, daß die Motivation zu einem sachgerechten, politisch angemessenen Verhalten der Bevölkerung eintritt? Sie sagten ja am Anfang Ihres Vortrages, daß die materiellen M i t t e l allein nicht genügen, sondern daß man auch Motivation dazu gebraucht. Sie selbst sind sehr fasziniert vom technischen Fortschritt und haben davon auch einiges auf uns übertragen; aber wie die Motivation herzustellen sein wird, das haben Sie nur angedeutet. Sie haben z. B. die Frage nach dem Wertsystem aufgeworfen, und Sie haben die Frage nach dem Menschen gestellt, aber das ist natürlich noch eine sehr offene Angelegenheit. Auch hierzu eine Illustration. Die Sozialwissenschaft ist aufgerufen, zur besseren Motivation der Bevölkerung beizutragen. Zugleich ist aber diese Wissenschaft i n einem nicht sehr vielversprechenden Zustand. Soweit ich das übersehe — ich bin darin tätig —, befassen sich höchstens 10 bis 20 vH. der Wissenschaftler m i t dieser Thematik, während die anderen 80 vH. konservierende Forschimg betreiben. Deswegen glaube ich nicht, daß es mit den Appellen getan ist, die Sie uns gegeben haben. Vielleicht können Sie diesem Auditorium einen konkreten Hinweis geben, was i n der Sozialwissenschaft gemacht werden kann. Prof. Dr. K a r l Steinbuch (Karlsruhe) Zunächst zu Ihrer ersten Frage: Sind das nun Prognosen des Möglichen oder des Realisierten? Ich verstehe es als Prognosen, was i n hochtechnisierten Staaten realisiert wird. Beispielsweise sagte ich, i m Jahre 1975 werden Lehrautomaten i n großem Umfange kommen. Nun, man kann heutzutage, wenn man genügend dafür bezahlt, Lehr-

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automaten aufbauen — es geschieht nicht, aber ich glaube, daß i n etwa 8, 9 Jahren die Situation sich geändert haben wird, vor allem i m Hinblick auf den großen Lehrermangel. I m Jahre 1980, glaube ich, werden i n den USA und i n Rußland Informationsbanken bestehen; das, was ich Ihnen nannte, das EDUNET, zeigt, daß das i n kleinen Stücken ja schon anfängt. Nun der andere Punkt: Was muß man tun, um die Motivation der Gesellschaft i n Ordnung zu bringen? Da kann ich nur zurücktragen: Was bin ich für ein armer Ingenieur, der hier i n diesem Kreis von Sozialwissenschaftlern aufgerufen wird, die Motivation der Gesellschaft i n Ordnung zu bringen! Ist das nicht ein bißchen arg viel, was Sie hier von m i r verlangen? Ich kann für mich — nicht als Hochschullehrer, sondern als Mensch — die A n t w o r t geben: Man muß erstens mal mit einer gewissen Unvoreingenommenheit über die kommenden Probleme nachdenken, und man muß zweitens versuchen, eine anständige Haltung zu vertreten. Ich glaube, mehr als eine punktuelle Veränderung des Bewußtseins kann der einzelne nicht leisten. Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Ich möchte dazu allerdings ein Wort zur Ehrenrettung der Sozialwissenschaften sagen. Diese selbst sind schon i n nicht geringem Ausmaß m i t Versuchen i n dieser Richtung beschäftigt. Sie wissen selbst — und das Referat von Herrn Flohr galt ebenfalls dem Ziel —, wie die Rolle der Sozialwissenschaften i n der Beratung der Politik gesehen wird. Es ist die beratende Rolle der Sozialwissenschaftler auch i m Sinne der Motivation klargestellt worden, einschließlich der Grenzen, die dem Sozialwissenschaftler gestellt sind. Aber ich meine, es läuft doch darauf hinaus, daß man prüft, ob es nicht so etwas wie eine normative Sozialwissenschaft gibt, die ihre Axiome bekenntnismäßig einführt und ihre Aussagen i m übrigen widerspruchsfrei daraus ableitet. Gerade auf diesem Feld arbeiten einige der angesehenen Sozialwissenschaftler i n Deutschland. Insofern kann vielleicht der I n genieur demnächst auch Antworten auf diese Frage bekommen. Egon Backes (Duisburg-Hamborn) Sie sprachen bei der Aufzählung der künftigen Erfordernisse u. a. auch von einer dynamischen Stabilität. Nun scheint m i r eine dynamische Stabilität etwas paradox zu sein. Würden Sie vielleicht etwas näher erklären, was Sie unter diesem Begriff verstehen? Prof. Dr. Karl Steinbuch (Karlsruhe) Erneut muß ich zu bedenken geben, ich b i n kein Sozialwissenschaftler, ich interessiere mich nur — gewissermaßen als Hobby — für diese

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Probleme. Und wenn Sie als Experten der Sozialwissenschaft es für allzu naiv halten, was ich sage, dann wollen Sie es bitte durch lautes Scharren kundtun. Also, meine Ansicht ist: W i r haben Sozialstrukturen, die größtenteils gewachsen sind zur Zeit, als Landwirtschaft, Handwerk, M i l i t ä r wesen und z. T. Handel die Lebensformen bestimmten. I n diesen Zeiten war das Verhalten des einzelnen überwiegend dadurch bestimmt, daß er durch irgendeine Obrigkeit Befehle empfing; er mußte tradierte Verhaltensmuster befolgen. Das ging zu Zeiten von Landwirtschaft, Handwerk, Militärwesen und z. T. auch Handel. Nun aber i n Zukunft w i r d es anders sein. W i r können uns nicht mehr darauf verlassen, daß w i r unsere Verhaltensmuster durch die Tradition geliefert bekommen, sondern w i r müssen neue Verhaltensmuster suchen. Und die Verhaltensmuster müssen sich vor allem an folgendem orientieren: I n Zukunft w i r d das wichtigste Vermögen einer Gesellschaft nicht mehr darin bestehen, daß sie große Heere von Arbeitern und Soldaten aufstellen kann, sondern daß sie originale Ideen erzeugen kann. Und aus diesem Grunde braucht man Organisationsformen, die nicht mehr auf das Befolgen tradierter Verhaltensnormen abgestellt sind, sondern man braucht andere Organisationsformen, welche die Erzeugung originaler Verhaltensmuster gestatten. U m das ganz deutlich zu machen: War die Vergangenheit mit ihrer obrigkeitsstaatlichen Struktur vorwiegend durch den Denkverzicht bestimmt, muß die Zukunft durch die rasche Veränderung zum Denkappell hin angelegt sein. Dieser Denkappell darf aber nicht ins Chaotische führen. Das ist die Problematik, vor der die Gesellschaft der Zukunft wohl steht. Der einzelne muß eine weite Bewegungsmöglichkeit i m geistigen Räume haben, auf der anderen Seite müssen gewisse gesellschaftliche Funktionen erhalten bleiben, von der Müllabfuhr bis zur Polizei. Aber das geht alles nur, wenn gewisse gleichbleibende Zuordnungen bestehen. Und durch diese beiden Überlegungen: einerseits den Wunsch, maximale intellektuelle Freizügigkeit zu ermöglichen, andererseits gewisse Residuen gesellschaftlicher Funktionen stabil zu halten, muß die zukünftige dynamische Stabilität bestimmt sein. Wie man das erreichen kann, weiß ich nicht; hierzu müssen noch gesellschaftliche Erfindungen gemacht werden. Aber daß es geschehen muß, scheint m i r ziemlich sicher zu sein. Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Ich glaube aber, daß auch die Formel Wachstumspolitik als Strukturpolitik ein solches Konzept beinhaltet; denn letztlich ist ein Wachstum immer davon abhängig, daß es nicht instabil, sondern

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möglichst stabil, d. h. i n seinen Strukturen ausgewogen ist. Insofern gehört auch die Strukturpolitik, die ja jetzt Bestandteil unserer W i r t schaftspolitik ist, m i t i n ein solches, von Ihnen skizziertes Modell. Darf ich nun u m weitere Wortmeldungen bitten? Frau A n t j e Huber (Essen) Ich möchte mich auf die gezeigte Tabelle beziehen. Sie haben vorh i n so tröstlich gesagt, daß auch Sie nicht so ganz an die Herrschaft der Sachzwänge glauben. N u n habe ich aber i n der Tabelle den Begriff „automatisierte Gesetzgebung" gesehen. Die Gesetzgebung ist i n meinen Augen eins der wichtigsten Instrumente, m i t denen sich die Gesellschaft über ihre gewählten Politiker selbst steuert; automatisierte Gesetzgebung darf es m. E. nicht geben. Deswegen möchte ich gerne wissen, was gemeint ist und i n welchem Umfange die Automatisierung hier Platz greifen soll. Prof. Dr. K a r l Steinbuch (Karlsruhe) Wenn es jemand so verstanden hat, daß nun ein Computer eingeschaltet w i r d und er dann die nächsten Notstandsgesetze produziert, so i r r t der. So ist das wirklich nicht gemeint. Vielmehr so: Wenn w i r die Möglichkeiten der Kommunikationstechnik ausnützen, kann über bestimmte wichtige Fragen i n kurzer Frist abgestimmt werden. Die Automatisierung betrifft also nicht die Entscheidung als solche, sondern die Feststellung, welches die Meinung des Wahlvolkes ist. Sie besteht keinesfalls darin, daß einem Automaten aufgetragen wird, politische Prinzipien zu bestimmen. Frau A n t j e Huber (Essen) Dann finde ich, daß der Ausdruck „Gesetzgebung" hier falsch ist. Es handelt sich j a nur u m Information. Prof. Dr. K a r l Steinbuch (Karlsruhe) Sie haben recht. Ich nehme es auf mich, daß ich den Gedanken falsch formuliert habe. Prof. Dr. Karl-Heinz Sohn (Essen) Ich habe den Eindruck, daß w i r damit am Ende unserer Diskussion angekommen sind. M i r bleibt nur noch übrig, Herrn Prof. Steinbuch

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für seinen Vortrag und auch dafür zu danken, daß er i n dieser offenen, freimütigen und nicht bekenntnisfreien Weise die Fragen i n der Diskussion beantwortet hat. Ich nehme an, daß sicherlich ein Teil von Ihnen hierhergekommen ist, u m den Autor jener Bücher zu sehen, die i n der letzten Zeit eine so hohe Auflage, eine so große Verbreitimg und ein so großes Interesse gefunden haben. Ich glaube, daß es gut war, dies zu tun; Sie haben nicht nur den Autor jener Bücher gehört, sondern Sie haben auch einen Wissenschaftler erlebt, der freimütig auf alles das, was von uns auf i h n zukam, geantwortet hat. Und ich meine, gerade dafür, Herr Prof. Steinbuch, können w i r Ihnen herzlich danken. Ich danke Ihnen allen und schließe die Diskussion.

I I I . Zusammenfassung der Tagungsergebnisse

Zusammenfassung der Tagungsergebnisse Meine Damen und Herren! M i t der Zusammenfassung der Vorträge, die auf unserer diesjährigen Internationalen Tagimg gehalten worden sind, möchte ich den Versuch unternehmen, die wesentlichen Aussagen unserer Referenten noch einmal i n I h r Gedächtnis zurückzurufen und Ihnen einen durch die Kürze sehr erleichterten Überblick zu geben. Dabei schien m i r eine Zusammenfassung nicht i n chronologischer Reihenfolge, sondern nach thematisch zusammengehörenden Komplexen am zweckmäßigsten. A m Schluß dieser kurzen Inhaltsübersicht werde ich dann i n Form von 18 Thesen noch einmal herausheben, was diese Tagung über „die Rolle der Wissenschaft i n der modernen Gesellschaft" uns an Erkenntnissen vermittelt hat. Ich beginne nun m i t der Zusammenfassung der Vorträge und möchte zunächst vier herausgreifen, die das Verhältnis von Gesellschaft bzw. Staat und Wissenschaft beleuchtet haben. Die Wissenschaft, so sagte uns Prof. Tenbruck, hat erstens Erkenntnis-, zweitens Gebrauchswert und drittens Funktionen und Folgen. Während der Erkenntniswert nur i n Fachkreisen interessiert, ist der Gebrauchswert allgemein interessant; das w i r d deutlich i n den Berufen, auf die die Wissenschaft vorbereitet, und i n den Veränderungen der Lebensbereiche, die sie beeinflußt. Daneben hat die Wissenschaft jedoch regulative Funktionen, die keine absichtsvolle Anwendung darstellen und i n der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Das sind die Koordinations- und die Integrationsfunktion, welche einer modernen differenzierten Gesellschaft allein die Möglichkeit geben, i n einem freiheitlichen Gemeinwesen zu leben. Hier, wo die traditionalen Gewohnheiten für die Koordination der Gruppen nicht mehr ausreichen, kann die Wissenschaft allein Einsicht i n die Gesamtzusammenhänge geben, konfligierende Gruppeninteressen vergleichbar und relevante Ausschnitte der Gesellschaft deutlich machen. A u f diese Weise schafft sie die Voraussetzungen für soziale Setzung und vermittelt darüber hinaus den Gruppen Kenntnis von den wechselseitigen Lebensumständen, Motivationen und Erwartungen und damit einen Überblick über die Gesellschaft als Ganzes. Aus der Erkenntnis dieser Schiedsfunktion der Wissenschaft, die die Forderungen der Gruppen unter dem Aspekt des Beitrags der Gruppe

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zum gesellschaftlichen Ganzen untersucht, ist i n vielen Bereichen wissenschaftliches Personal i n Betrieben und Organisationen nicht nur m i t unmittelbaren Betriebsaufgaben, sondern auch m i t gesellschaftlichen Zusammenhängen befaßt, die für das Gruppenprogramm wicht i g sind. So verhindert die Wissenschaft die totale Verselbständigung irrealer Forderungen, die für alle ruinös wären, sowie ideologische Machtkämpfe, die aus falschen Einschätzungen isolierter Gruppen entstehen könnten. Die pluralistische Gesellschaft entgeht der Gefahr, aus Mangel an Solidarität eine instabile Gesellschaft zu werden. Prof. Fürstenberg hob hervor, daß die Existenzgrundlage des Menschen durch die Wissenschaft immer stärker verändert wird. Die Objekte der Wissenschaft sind der Sache nach unbegrenzt, was aber von i h r aufgegriffen wird, w i r d auch verändert. So ist die Wissenschaft ein Produktionsfaktor ersten Ranges, der Mensch produziert durch sie eine lenkbare Welt. Die Wissenschaft kann diese Funktion jedoch nur unter bestimmten Wertvorstellungen erfüllen, dazu gehören Objektivität, Universalität und eine enge Wechselwirkung von Theorie und Praxis. Objektivität als völlige Sachbezogenheit muß der K r i t i k zugänglich sein, sie basiert auf nachprüfbaren Begriffssystemen und einem autonomen Erkenntnisprozeß. Sie ist überdies kein reines Methodenproblem, sondern besitzt eine ethische Seite. I m Zeitalter der organisierten Forschung, die von vielen Instanzen i n Anspruch genommen wird, besteht die Gefahr der Beeinflußbarkeit. Wissenschaft w i r d zu Rechtfertigung und Widerlegung herangezogen. N u r die objektive Forschimg kann jedoch das richtige B i l d dieser Welt vermitteln, Interesse kann zwar Motor, aber nicht Grundlage der Wissenschaft sein. Universalität bedeutet, daß das Erforschliche erforschbar gemacht werden muß. Wissenschaft dient ihrer Intention nach allen Menschen. Die Verwirklichung der Forderung nach Universalität hängt allerdings von den sozialen Gegebenheiten ab. Wissenschaft vollzieht sich heute nicht mehr unter einer Glasglocke. Sie kann nicht mehr privat und exklusiv sein. Deshalb muß die Wissenschaft auch auf die Bedürfnisse der Praxis Rücksicht nehmen, d. h. etwas Nützliches leisten. Darüber hinaus ist Wissenschaft heute i n vielen Bereichen ohne Z u t r i t t zur Praxis überhaupt nicht vollziehbar. Diese Entwicklung war für manche Wissenschaftler eine kopernikanische Wende. Trotz des durch eine jahrhundertealte Tradition gefestigten Autonomieanspruchs werden immer mehr und mehr Sachgebiete von traditionsverhaftetem Vorverständnis emanzipiert. Die Wissenschaft gibt dem Menschen Handlungsfreiheit gegenüber der Natur, aber auch Distanz von historischer Überlieferung. So hat sie die Rolle eines

Zusammenfassung Gesetzgebers für Richtung und Auswirkungen rationalen Handelns übernommen, andererseits ist sie selbst i n bestimmte Zwänge geraten, und zwar durch das Bestehen bestimmter Zusammenhänge und die Sachlogik der Umweltbedingungen. Diese Erkenntnis hat bestimmte Folgen für den Beruf des Wissenschaftlers. Kein Wissen ist heute mehr umweltneutral, wenngleich sekundäre "Wirkungen oft erst viel später sichtbar werden. Weder der sozial angepaßte, noch der zurückgezogene Wissenschaftler kann die umfassende Geltung der Wissenschaft bewahren. Total angepaßt, verliert sie ihre richtungweisende Wirkung; total isoliert, verliert sie ihre soziale Wirkung überhaupt. Nur der Wissenschaftler, der — zu Objektivität und Universalität sich verpflichtend — sich ihren sozialen Auswirkungen kritisch stellt, w i r d i h r gerecht. Seine Orientierung kann nur an einem übergreifenden Menschen- und Gesellschaftsbild erfolgen. I n diesem Sinne aber bedeutet Wissenschaft, daß der Mensch an seinen Aufgaben wächst. Staatssekretär Prof. Lübbe betonte, daß ohne wissenschaftlichen Beistand politische Entscheidungen tatsächlich nicht mehr möglich sind. Der Fortschritt der Wissenschaft, so sagte er, macht sie aber noch nicht zu einer gesellschaftlichen Führungsmacht. Vorstellungen, daß Wissenschaft die Politik beherrscht, daß Technokratie politische Macht ersetzen könne, sind utopisch. Wissenschaft ist nur ein Führungsinstrument. Auch unabhängig von subjektiven Momenten sind der wissenschaftliche und der politische Entscheidungsprozeß ihrem Wesen nach unterschiedlich und nicht austauschbar. Wissenschaft ist nur möglich, wenn sie von der Verantwortung für das Ganze entlastet ist. Die Politik aber ist bezogen auf komplexe Tatbestände. Auch wenn diese i m einzelnen wissenschaftlich artikuliert werden können, lassen sich doch auf komplexe Tatbestände bezogene Entscheidungen nicht vollkommen rational vollziehen. Dr. Koch stellte uns dann i m einzelnen drei Modelle vor, die sich heute für das Verhältnis von Staat und Wissenschaft herauskristallisiert haben, und zwar 1. das dezisionistische Modell Max Webers, bei dem die Politik sich des Sachverstandes wie eines Dienstleistungsgewerbes bedient, 2. das technokratische Modell, i n dem an die Stelle der politischen Entscheidung die „Logik der Tatsachen" tritt, und 3. das pragmatistische Modell, das an die Stelle der scharfen Trennung zwischen den Funktionen des Sachverständigen und denen des Politikers ein kritisches Wechselverhältnis setzt. Es liegt auf der Hand, daß i m dezisionistischen Modell die Rolle des Sachverstandes unberührt davon bleibt, ob dieser i n einer Diktatur oder in einer Demokratie die

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Politiker berät. Die Schwächen des technokratischen Modells liegen darin, daß hier ein i n weiten Bereichen nicht erreichter Wissensstand vorausgesetzt werden muß und daß die beständige und gleichmäßige Vernunft i n der Behandlung technischer und praktischer Fragen bei Forschern und Politikern gar nicht erwartet werden kann. Beide vollziehen dauernd Wahlakte, die logisch nicht begründet werden können. N u r das pragmatistische Modell als rückgekoppelter Kommunikationsprozeß zwischen Fachverstand und Politik ist i n letzter Instanz ganz auf die öffentliche Meinung und damit auf die Demokratie bezogen. Als Beispiele für diese Modelle nannte Dr. Koch Amerika, das m i t den Wechselbeziehungen zwischen dem Präsidenten und seinen Beratern den pragmatistischen Typ verkörpert, sowie England und die Sowjetunion, die sich des Sachverstandes i m dezisionistischen Sinne bedienen. Auch die Bundesrepublik kennt — wenn auch noch nicht lange — eine wissenschaftliche Politikberatung i m Sinne des dezisionistischen Modells; diese wurde uns von Dr. Koch sehr eindrucksvoll am Beispiel des Sachverständigenrates demonstriert. Die Bedeutung, die dem Wissenschaftler von allen Referenten zugemessen wurde, ließ natürlich die Frage aufkommen, wer denn überhaupt als Wissenschaftler zu bezeichnen ist. Dr. Flohr verstand darunter die akademisch Ausgebildeten und auch die Studenten i m Endstadium ihrer Ausbildung. Bei der Untersuchung des Selbstverständnisses der Wissenschaft kam Dr. Flohr zu der Auffassimg, daß von den Wissenschaftlern nicht immer die wahren Motive genannt werden, die für ihre Arbeit maßgebend sind. Vielfach sind hohes Ansehen, aber auch materielle Vorteile i m Spiel, so daß die weitverbreitete Auffassung, die Wissenschaft sei nur auf die Erkenntnis von Wahrheit ausgerichtet, einer näheren Prüfung nur bedingt standhält. Die praktische Bedeutung des Selbstverständnisses des Wissenschaftlers w i r d oft überschätzt, sie t r i t t überhaupt nur dann ein, wenn das Selbstverständnis seine Arbeit bestimmt. Neben materiellen Anreizen macht sich bei der Wahl des Forschungsthemas oft auch der Einfluß der Umwelt bemerkbar, so daß der Wissenschaftler an der Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis der Wissenschaft und der praktischen Realität scheitert. Trotzdem ist der Wissenschaftler mitverantwortlich für sein Handeln und dessen Auswirkungen. Er ist verantwortlich für das, was er tut, und für das, was er nicht verhindert. M. D. Tejmar befaßte sich m i t der Frage, was denn nun Wissenschaft überhaupt ist. Wissenschaft, so meinte er, w i l l und soll heute nicht mehr nur analysieren, sie soll die Zukunft gestalten. Erkenntnis der Wahrheit ist nicht Ziel, sondern Instrument der Wissenschaft; sie hat die systematisch und methodisch geordneten Erkenntnisse zur Voraussage konkreter Wirklichkeit zu nutzen. Jedoch soll sie

Zusammenfassung nicht Erbauer einer neuen Welt sein, sondern nur ihr Architekt. Hat die Wissenschaft sich früher auf Teilbereiche unserer Umwelt beschränkt, so ist es jetzt an der Zeit, daß sie eine Synthese ihrer Teilerkenntnisse anstrebt. Die Möglichkeit dazu ist zum erstenmal i n der Geschichte durch die Technik der Datenverarbeitung gegeben. Was fehlt, ist die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Fakten, den einzelnen Disziplinen. Hierzu muß eine Methodologie der Synthese entwickelt werden. Grundlagenforschung darf nicht von der Praxis getrennt werden. Angesichts der Tatsache, daß Wissenschaft heute großen finanziellen Aufwand, Arbeitskollektive und I n stitute erfordert, ist auch zu fragen, ob die Leitung, d. h. die Betriebsführung eines solchen Kollektivs oder Instituts, immer i n den Händen eines Wissenschaftlers liegen muß. Wichtig ist, daß die Gesellschaft diese Institute kontrolliert, wenngleich sie die Forschungsziele nur i m gröbsten Rahmen formulieren kann. Die Frage, wie die Wissenschaft von der Öffentlichkeit gesehen wird, beschäftigte Prof. Hartmann, öffentliche Meinung, so führte er aus, versteht sich heute i n weitem Maße als Kontrollinstanz, die dazu tendiert, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Indessen darf sie i n der pluralistischen Gesellschaft nur als partikulare Öffentlichkeit gelten. Universitäten und Hochschulen, heute stärker als früher bestrebt, Einfluß auf den gesellschaftlichen Entscheidungsprozeß zu nehmen, nehmen die Öffentlichkeit zum Adressaten für Anregungen und Erkenntnisse. Es ist jedoch wichtig, zu wissen, daß das Wissenschaftsbild der öffentlichen Meinung anders ist als das, was sich die Hochschulen selbst machen. Sie versteht unter Wissenschaft fast ausschließlich die Naturwissenschaften, und zwar als Forschung und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Umfragen zeigen, daß der Hochschullehrer i n verschiedenen Ländern hinter anderen Wissenschaftlern zurücktritt. Darüber hinaus ist die öffentliche Meinung bei der Bewertung wissenschaftlicher Leistungen ambivalent. Neben der Wertschätzung dieser Leistungen für den zivilisatorischen Fortschritt steht die Furcht vor ihren negativen Folgen i m Hinblick auf Atomrüstung und möglichen Abbau moralischer Werte. Aufgabe einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit der Hochschulen wäre es, diese Befürchtungen zu zerstreuen, den wissenschaftlichen Charakter der Universitäten und Hochschulen sichtbarer zu machen und die politische Auseinandersetzung i n und u m Hochschulen zu versachlichen. Die ambivalente Haltung der Bevölkerung — Bewunderung und Furcht — hob auch Prof. Rie aus Amerika hervor. Amerika als ein Land ohne historische Mystik hat schon früh die Bedeutung der Wissenschaft für den Staat erkannt. Soziologie und Politologie standen hier schon

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i n Blüte, ehe Europa sie als Wissenschaften recht anerkennen wollte. Nach dem Auftauchen des Sputnik 1957 verschwand auch die Wissenschaftsfeindlichkeit, die sich bis dahin gegen die sog. „unpraktischen Fächer" gerichtet hatte. Amerika hofft, seine großen Probleme: Umschichtungen innerhalb der immer mehr anwachsenden Bevölkerung, stärkere Industrialisierung des Südens, Mechanisierung der Landwirtschaft usw., m i t Hilfe der Wissenschaft zu lösen, und zwar durch bessere Erkenntnisse, bessere Methoden und besser ausgebildete Arbeitskräfte. Während die Wissenschaftler jedoch eifrig an Erfindungen für das nächste Jahrhundert arbeiten, greift eine große soziale Krise als Folge der Verwissenschaftlichimg des Lebens Platz, weil die bildungsmäßig nicht vorbereiteten Bevölkerungsschichten ihre Ausschaltung und Verarmung fürchten, denen auf gesetzlichem Wege kaum zu begegnen ist. Der fast fanatische Glaube an die allein selig machende Wissenschaft hat Furcht erweckt, aber eine gewisse Sicherheit w i r d i m Lande der Computer noch darin erblickt, daß es i n diesem undogmatischen Lande immer noch einen gewissen Spielraum für Selbstkontrolle und Selbstkritik gibt. Die Amerikaner haben, so hat Prof. Kaiser uns berichtet, als erste herausgefunden, daß man Prinzipien und Methoden der Planung von einem Bereich auf den anderen übertragen kann. Sie studierten die Planungen des preußischen Generalstabs i m Kriege von 1870/71 und übertrugen seine Planungsgrundsätze auf den Unternehmensbereich; von dort ergab sich wieder eine Übertragungsmöglichkeit auf die Politik und von dort wiederum — nunmehr auch bei uns — i n den Bereich der Wirtschaft. Planung als eine praktische, auf die Zukunft gerichtete Wissenschaft gibt es inzwischen auf der ganzen Welt. I h r Hauptinhalt ist die Steigerung, das Wachstum auf dem Gebiete der Wirtschaft, der Bildung, der Gesundheitsförderung usw. Maß dieses Wachstums ist der Mensch. Die Planung hat vier Dimensionen: Raum, Zeit, Volumen ( = sachlicher und persönlicher Aufwand) und Verfahren (technische und rechtliche). Planung setzt eine Zielbestimmung voraus, die nicht durch die Wissenschaft, sondern durch die Politiker, die Exekutive und auch durch die Sozialpartner erfolgt. Alle Planungsziele müssen global aufgefaßt werden, daher muß Planung interdisziplinär sein. Es mangelt jedoch noch an der notwendigen Koordination sowie an dem Informationsfluß, der ein überaus wichtiges Moment der Planung ist. Ein anschauliches Beispiel von Planung i n einem konkreten Bereich vermittelte uns sodann Prof. Sohn m i t seinem Vortrag über wissenschaftliche Unternehmensführung. Die Fülle komplizierter Entscheidungen, vor welche ein Management gestellt ist, so sagte er, verlangt wissenschaftliche Vorarbeiten i m Hinblick auf Information, Kommuni-

Zusammenfassung kation, Erarbeitung von Alternativrechnungen, Programmierung der Unternehmensplanung, Aufbereitung gesamtwirtschaftlicher Ausgangsdaten, Erarbeitung von Simulationsmodellen und Lösung von Spezialproblemen. Die Führung eines Unternehmens ist heute weder nur intuitiv, noch m i t ausschließlich wissenschaftlichen Methoden möglich. Die für die Unternehmensplanung unerläßliche Transparenz ist i m Sinne vollkommener Voraussicht nicht zu verwirklichen, aber die Wissenschaft gibt dem Management die Möglichkeit, zwischen quantitativ meßbaren Konsequenzen alternativer Entscheidungen zu wählen. A u f diese Weise macht die neue Managementkonzeption die Unternehmenspolitik flexibler, sie engt den Risikobereich ein und ermöglicht langfristige Planung, wirksame Kontrolle und Delegierung von Verantwortung. Die informativen Voraussetzungen der Unternehmensplanung müßten unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten aber noch erheblich verbessert werden, und zwar durch koordinierte Zusammenarbeit der Wirtschaftsverbände, der repräsentativen Unternehmen, der Sozialpartner, der Konjunkturforschungsinstitute, der einschlägigen Bundesministerien, des Sachverständigenrates und des Statistischen Bundesamtes. Die Frage, wieweit Entscheidungen wissenschaftlich vorbereitet und gesteuert werden können, behandelte auch Prof. Krelle, allerdings i m Blick auf soziale Probleme. Er erläuterte die Entscheidungstheorie als eine Theorie von Planspielen, die einer Person oder Gruppe zu einer optimalen Entscheidung auf den verschiedensten Gebieten verhelfen kann. Der Grad, i n dem das möglich ist, hängt von den Wahrscheinlichkeiten ab, die man den möglicherweise eintretenden Ereignissen zuordnen kann. Bei wesentlicher Unsicherheit kann man keinen Entscheid finden, der sich i n jedem Falle nachträglich als richtig herausstellt; hat man es jedoch m i t rationalen Gegenspielern zu tun, so kann man deren mögliche Maßnahmen i n Wettbewerbssituationen i n Rechnimg stellen. A u f die Dauer und i m Durchschnitt gelangt man mit Hilfe der Entscheidungstheorie zu besseren Ergebnissen als ohne ihre Anwendung. Außer wirtschaftlichen lassen sich mit dieser Theorie auch soziale und politische Konfliktsituationen besser lösen. M i t einem sozialen Problem besonderer A r t wurden w i r dann konfrontiert durch den Vortrag von Prof. Jahn über die Medizin-Soziologie Als einen bedeutsamen Sachverhalt, der sowohl von medizinischen wie soziologischen Faktoren bestimmt wird, nannte Prof. Jahn die existentielle Bedrängnis des Menschen, die von der auseinanderklaffenden Schere zwischen dem Wollen und dem Können des Menschen verursacht wird, d . h . zwischen der Leistungsfähigkeit, die er sich abverlangt, und seinen biologisch bedingten Grenzen. Sichtbar w i r d dieses Problem i n den vorzeitigen Aufbraucherscheinungen, den Zivilisationskrank26 Tagung Dortmund 1968

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heiten und der Invalidität, die eine Zusammenarbeit von Medizin und Soziologie i n Form einer Wissenschaftskoalition notwendig machen. Die Betrachtung der vegetativen Erkrankungen auf dem Hintergrund der soziokulturellen Konfliktsituation, der Zusammenhang zwischen Bürokratie und Herzinfarkt machen deutlich, daß nur eine interdisziplinäre, interfakultative Zusammenarbeit der Wissenschaft die Erhaltung des menschlichen Lebens und eine fortschreitende Weiterentwicklung eines menschenwürdigen Daseins für alle garantieren kann. Nach der Vielzahl der Aufgaben, die der Wissenschaft heute gestellt sind, erfuhren w i r jedoch auch einiges von ihren Grenzen und Schwierigkeiten. Staatssekretär Dr. v. Heppe zeigte die Grenzen der Forschungsförderung durch den Staat auf. Staat und Wirtschaft geben zur Zeit 2,4 vH. des Bruttosozialproduktes für die Förderung der Wissenschaft aus. Es müßten mindestens 3 vH. sein, aber die Erhöhung der jetzigen staatlichen Aufwendungen erscheint unter dem Aspekt der zahlreichen sonstigen Anforderungen an den Staat recht schwierig. Einzelne Forschungsgebiete, Weltraum- und Atomforschung, Datenverarbeitung und Meeresforschung z. B., gehen überhaupt über die finanzielle Kapazität eines einzelnen Landes hinaus. Weitere Beschränkungen der Forschungsförderung liegen i n der Personalkapazität und i n strukturellen Faktoren. I n der Bundesrepublik sind zwar nach eine OECD-Untersuchung auf je 10 000 Einwohner 32 Wissenschaftler tätig, davon aber nur 6 auf dem Gebiete der Naturwissenschaften — i n den USA vergleichsweise 25 und i n Japan 12. Aufgrund der Bedeutung, die die Wissenschaft für die Entwicklung der ganzen Gesellschaft hat, kann der Staat den wissenschaftlichen Fortschritt nicht mehr dem Zufall frei gewählter Forschung überlassen. Ohne die Freiheit und die Selbstverwaltung auf dem Gebiete der Wissenschaft zu verdrängen, muß er doch ergänzend eingreifen. Förderungsprogramme i n der Verkehrs- und Transporttechnik sowie i m Bereich von Biologie und Technik sind für die Zukunft besonders wichtig. Große und wichtige Bereiche sind dem Bund allerdings verschlossen, da er nur die konkurrierende Gesetzgebung für die wissenschaftliche Forschung besitzt und die Verwaltungsaufgaben auf diesem Gebiete nicht selbst durchführen kann. Eine ganze Reihe ernst zu nehmender Schwierigkeiten wurden i n dem Referat von Ulrich Lohmar deutlich. Es kam i h m vor allem darauf an, daß der gegenläufige Kreislauf von Wissenschaft und Politik geordnet wird, und zwar durch eine Planung als sachgerechte Fixierung eines begrenzten Zeitraums aufgrund gegebener gesellschaftlicher Tatbestände und Trends, politischer Ziele und verfügbarer Mittel. Systemforschung, Entscheidungsforschung und Informationsforschimg, die unter

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dem Oberbegriff Kybernetik zusammengefaßt sind, fordern von Wissenschaft und Politik das Begreifen neuer technologischer, sprachlicher und methodischer Kategorien. Angesichts der vielen locker kooperierenden politischen Institutionen und der Vielzahl wissenschaftlicher Spezialgebiete muß die wissenschaftspolitische Planung zu einer Arbeitsteilung und Schwerpunktbildung kommen. Die Politikberatung muß koordiniert, registriert und durch Dauerberater und Dolmetscher verbessert werden. Die Wissenschaftspublizistik aber muß sowohl zwischen Wissenschaft und Politik als auch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit als M i t t l e r fungieren, indem sie die Vorgänge durchschaubar und eine Diskussion möglich macht. Ohne eine planmäßige und w i r kungsvolle Selbstdarstellung der Wissenschaft können die erforderlichen Zuwachsraten für die Wissenschaftsfinanzierung und die Politikberatung nicht gesichert werden. Es ist eine innerstaatliche und internationale Kooperation erforderlich. Die weitragende Bedeutung unseres Tagungsthemas unterstrich schließlich Prof. Steinbuch, der einen Ausblick auf Technik und Gesellschaft i m Jahre 2000 gab. Die letzten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts, so führte er aus, werden uns vor allem die Aufgabe stellen, die explosionsartig wachsende Erdbevölkerung zu ernähren und einzuschränken. Gelingt das nicht, werden bis zum Jahre 2000 mehrere hundert Millionen Menschen verhungern. Ein vielfaches Mehr an Information und an Wissen w i r d den Menschen künftig zur Verfügung stehen, vermittelt durch eine neue Informationstechnik, gespeichert i n Informationsbanken, die zu Verbundnetzen zusammengefaßt werden könnten. Programmierte Instruktion w i r d eine große Bedeutung bekommen. Voraussetzung hierfür sind allerdings hohe finanzielle M i t t e l und vorausschauende Planung von Technikern, Pädagogen, Psychologen und Politikern. Dabei w i r d die hochtechnisierte Welt von morgen ganz neue Anforderungen an die Erziehung der Menschen stellen. Und schließlich taucht die Frage auf, ob einige unserer traditionellen Moralvorstellungen für die Zukunft brauchbare Anweisungen für praktisches Verhalten ermöglichen. Wie das K i n d vor dem Riesenbaukasten, so w i r d der Mensch vor der hochtechnisierten Welt stehen, die i h m die Suche nach neuen Mustern und ein kritisches Bewußtsein abverlangt. W i l l man die Gefahren zukünftiger Techniken kennenlernen und abwehren, so muß man diese Techniken verstehen und die Zukunft m i t rationalen M i t t e l n analysieren. Dieser letzte Satz, meine Damen und Herren, zeigt uns noch einmal den Sinn all der Erörterungen auf, die w i r während dieser Tagung hier miteinander gepflogen haben. Es w i r d auch dem aufmerksamen Beobachter nicht möglich sein, alle die vielen und interessanten Ein261*

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zelheiten zu behalten, die uns hier vorgetragen worden sind, aber jeder von uns nimmt ganz sicherlich eine Reihe von Erkenntnissen mit, Lichtpunkte, die diese Tagung ausgestrahlt hat und die es uns ermöglicht haben, hinter den vielen Referaten u n d Diskussionen das Thema als Ganzes zu sehen. Diese Erkenntnisse sollen nun — wie bereits angekündigt — i n Form von 18 Thesen hier noch einmal zusammengefaßt werden: Die Wissenschaft hat 1. Erkenntniswert, 2. Gebrauchswert und 3. Funktionen und Folgen. Erkenntniswert ist nur i n Fachkreisen, Gebrauchswert dagegen allgemein interessant. Die regulativen Funktionen, nämlich die Integrations- und die Koordinationsfunktion, sind weitgehend unbekannt, jedoch können durch sie allein i n modernen Massengesellschaften noch Gesamtzusammenhänge verdeutlicht, konfligierende Gruppeninteressen vergleichbar gemacht und die für die Zukunft wichtigen Relevanzstrukturen aufgezeigt werden. Die Existenzgrundlage des Menschen w i r d durch die Wissenschaft immer stärker verändert, der Mensch produziert durch sie eine lenkbare Welt. Die Wissenschaft kann diese Aufgabe aber nur bewältigen, wenn Objektivität, Universalität und eine enge Wechselwirkung von Theorie und Praxis gegeben sind. Es gibt nichts, was nicht Gegenstand der Wissenschaft sein kann. Die Wissenschaft gibt Handlungsfreiheit gegenüber der Natur, aber auch Distanz von historischer Überlieferung. Wissenschaftliche Sachgesetze verhindern manipulierte Kontrollen und zwingen zu funktionalem Handeln. Kein Wissen ist heute mehr umweltneutral. Die Wissenschaft muß sich daher ihren sozialen Auswirkungen kritisch stellen und sich an einem übergreifenden Menschenbild orientieren. Politische Entscheidungen sind heute ohne wissenschaftlichen Beistand nicht mehr möglich. Die Wissenschaft ist jedoch nur Führungsinstrument, nicht Führungsmacht. Der wissenschaftliche und der politische Entscheidungsprozeß sind ihrem Wesen nach unterschiedlich und nicht austauschbar. Wissenschaft muß von der Verantwortimg für das Ganze entlastet sein, Polit i k dagegen ist auf komplexe Tatbestände bezogen. Ihre Entscheidungen sind nie vollkommen rational. Die Lösung großer gesellschaftlicher Probleme hängt heute von der Wissenschaft ab. Die letzten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts werden geprägt sein durch das Problem der Ernährung und Eindämmung der explosionsartig wachsenden Weltbevölkerung, durch eine neue Informationstechnik, programmierte Instruktion und durch die Frage nach der Brauchbarkeit traditioneller Moralvorstellungen für das praktische Verhalten.

Zusammenfassung Für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik haben sich heute drei Modelle herauskristallisiert: das dezisionistische Modell Max Webers (die Politik bedient sich des Sachverstandes), das technokratische (die „Logik der Tatsachen" entscheidet) und das pragmatistische Modell (es herrscht ein kritisches Wechselverhältnis). Die Wissenschaft soll nicht Erbauer einer besseren Welt sein, aber ihr Architekt. Dazu muß sie zu einer Synthese ihrer Teilergebnisse kommen. Die Technik der Datenverarbeitung macht dies zum erstenmal i n der Geschichte möglich. Die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit w i r d besonders deutlich am Beispiel der Medizin-Soziologie. N u r wenn solche Wissenschaftskoalitionen wirksam werden, kann auf die Dauer ein menschenwürdiges Leben i n der Industriegesellschaft erhalten bleiben. Die Planung als eine auf die Zukunft gerichtete, praktische Wissenschaft hat i n den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Ihr Sinn ist eine Steigerung i n Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen usw. Die Zielvorstellungen setzen die Politiker, die Exekutive, aber auch die Sozialpartner. Information und Koordination sind noch mangelhaft. Innerhalb ihrer Anwendungsgrenzen ermöglicht die Entscheidungstheorie eine rationale Vorbereitung von Entscheidungen, mit denen soziale, wirtschaftliche und politische Probleme gelöst werden können. Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse i n der Wirtschaft hat eine neue Management-Konzeption ermöglicht, die die Unternehmenspolitik flexibler und das Risiko kleiner macht sowie eine langfristige Zukunftsplanung i n den Grenzen einer aus sachlichen wie logischen Gründen unvollkommenen Voraussicht gestattet. Staat und Wirtschaft geben zur Zeit 2,4 vH. des Bruttosozialproduktes für die Förderung der Wissenschaft aus, es sollten mindestens 3 vH. sein. Trotz der Begrenzung seiner Förderungsmöglichkeiten aus finanziellen und anderen Gründen darf der Staat i n lebenswichtigen Fragen den wissenschaftlichen Fortschritt nicht dem Zufall frei gewählter Forschung überlassen. Atom-, Weltraumforschung, Datenverarbeitung und Meeresforschung sind internationale Forschungsaufgaben. Die Förderung der Wissenschaft durch den Staat und die Beratung des Staates durch die Wissenschaft sind beide unzureichend. Sollen die Fülle locker kooperierender Institutionen auf politischer und die Vielzahl der Spezialgebiete auf wissenschaftlicher Seite sinnvoll m i t einander koordiniert werden, so muß eine sachliche Planung einset-

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zen, die eine gute Organisation des Informationsgefüges, die Übersetzung der wissenschaftlichen Fachsprachen i n die Politik, das Festhalten aller relevanten Forschungsvorhaben i n einer Kartei und die Installierung von Wissenschaftsmanagern, Dolmetschern und Dauerberatern einbezieht Die öffentliche Meinung versteht sich heute weitgehend als Kontrollinstrument. I n ihrem Bestreben, Einfluß auf die gesellschaftlichen Entscheidungen zu nehmen, wählen die Hochschulen sie zum Adressaten für wissenschaftliche Anregungen und Erkenntnisse. Aus diesem Grunde ist das Wissenschaftsbild der Öffentlichkeit wichtig, es bedarf der Verbesserung. Die Öffentlichkeit weiß nicht, was i n den vielen Teilgebieten der schnell fortschreitenden Wissenschaft geschieht und welche Folgen daraus entstehen. Es bestehen aber auch Verständigungsschwierigkeiten zwischen Gutachtern und Entscheidungsträgern. Generalisten sollten daher zwischen Experten und Politikern sowie zwischen den technischen Eliten und dem Publikum vermitteln. Dabei müssen die Fakten als vorübergehend feststehende Daten eines i n Fluß befindlichen Prozesses dargestellt werden. I m Wandel des Weltbildes erlebt die Wissenschaft eine Abkehr von der nationalen Phase und eine Orientierung zu einer selbstkritischen Epoche. Die Wissenschaft verhindert eine Ideologisierung, die i m Freund-Feind-Verhältnis mündet und ruinöse Machtkämpfe auslöst. Die langfristigen Entwicklungstendenzen, welche die Zukunftsforschung aufspürt, zeigen, ob die Gesellschaft noch human ist. Forschung, die keinen Gewinn verspricht, darf nicht vernachlässigt werden.