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German Pages 20 [21] Year 1964
DEUTSCHE AKADEMIE D E R WISSENSCHAFTEN ZU B E R L I N VORTRÄGE UND SCHRIFTEN H E F T 87
LEO
STERN
DIE ROLLE DER GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTEN FÜR DEN FORTSCHRITT DER GESELLSCHAFT
AKADEMIE-VERLAG.BERLIN 1963
In der Festsitzung des Plenums der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin am 27. Juni 1963 aus Anlaß
des 70. Geburtstages des Ersten
zu
Sekretärs
des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrats der Deutschen Demokratischen WALTER
Republik,
ULBRICHT,
sprach Akademiemitglied
Prof. Dr. rer. pol. Dr.phil.h.
c.LEO
STERN,
Pro-
fessor mit Lehrstuhl für neuere Geschichte undGeschichte der Arbeiterbewegung und Direktor des Instituts für deutsche Geschichte der Martin-Luther- Universität HalleWittenberg, Leiter der Abteilung Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Institut für Geschichte der Akademie, Mitgliedern und geladenen Gästen über DIE ROLLE DER
GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTEN
F Ü R DEN FORTSCHRITT DER GESELLSCHAFT
Erschienen im Akademie-Verlag G m b H , Berlin W 8, Leipziger S t r a ß e 3-4 Copyright 1963 b y Akademie-Verlag G m b H Lizenz-Nr.: 202 • 100/277/63 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Werkdruck Gräfenhainichen • 2109 Bestellnummer: 2003/87 E S 5 C 1 Preis: D M 1 , 8 0
vor den
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner Rede auf der 2. Plenartagung des Forschungsrates der Deutschen Demokratischen Republik hob WALTER ULBRICHT hervor, daß eines der Wesensmerkmale der neuen Entwicklungsetappe in der Deutschen Demokratischen Republik der weitere Aufschwung der Produktivkräfte ist, der dadurch charakterisiert wird, „daß die moderne Wissenschaft und Technik immer mehr zu einer unmittelbaren Produktivkraft werden". 1 Und in dem vom VI.ParteitagderSozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossenen Programm heißt es: „Der umfassende Aufbau des Sozialismus erfordert die planmäßige Förderung und Entwicklung der Wissenschaften. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt die Naturwissenschaft und Technik eine größere Rolle als je zuvor in der Geschichte der Menschheit." 2 Die wissenschaftlich-technische Revolution unserer Zeit, deren Zeugen und Mitgestalter wir sind, die in der Hauptsache auf das Konto der Naturwissenschaften und Technik geht, vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, nicht jenseits oder losgelöst von der Gesellschaft, sondern sogar unter den Bedingungen der Existenz zweier entgegengesetzter Gesellschaftssysteme und des ökonomischen Wettbewerbs zwischen ihnen. Im Hinblick auf die Deutsche Demokratische Republik kommt noch der Umstand hinzu, daß die qualitativ neue Stufe der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens, die der umfassende Aufbau des Sozialismus bedeutet, sich unter den komplizierten Bedingungen eines in zwei Staaten mit verschiedener gesellschaftlicher Struktur gespaltenen Deutschlands vollzieht. Äußerlich betrachtet, bedeutet die zunehmende Verschmelzung von Wissenschaft, Technik und Produktion — das wesentlichste Merkmal der wissenschaftlich-technischen Revolution der Gegenwart — einen 1
2
Vgl. WALTEH ULBRICHT, Rede auf der 2. Plenartagung des Forschungsrates der DDR, in: „Dem VI. Parteitag entgegen", Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 97. , Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Einheit, Heft 1, 1963, S. 44.
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Prozeß, der — wenn auch unter verschiedenen Voraussetzungen und Wirkungen — sich sowohl im Kapitalismus als auch im Sozialismus vollzieht. Der kardinale Unterschied besteht jedoch darin, daß die wissenschaftlich-technische Revolution im sozialistischen Gesellschaftssystem sich organisch in den Gesamtprozeß der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft einordnet, als ein immanentes Element dieser Umgestaltung. Im Sozialismus findet die Wissenschaft die ihr adäquaten Produktionsverhältnisse vor. Nur so kann sie zur vollen Wirksamkeit als unmittelbare Produktivkraft gelangen.3 Unter den Bedingungen der kapitalistischen Monopolherrschaft, der Konkurrenz, der Produktionsanarchie und der fortschreitenden Militarisierung der Wissenschaft, die nach der Feststellung von JOHN D. BERNAL dazu führt, daß in den USA und in Großbritannien etwa zwei Drittel der naturwissenschaftlich-technischen Entdeckungen und Erfindungen überhaupt nicht veröffentlicht werden 4 , kann die Wissenschaft als unmittelbare Produktivkraft niemals voll wirksam werden. Die wissenschaftlich-technische Weiterentwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus geht im Widerspruch zu den bestehenden Produktions- und Eigentumsverhältnissen vor sich 5 — eine Tatsache, die unweigerlich mit Friktionen und schweren sozialen Folgen für die breiten Massen verbunden ist. Wir sehen: Bei der wissenschaftlich-technischen Revolution, auch wenn sie, rein äußerlich gesehen, in beiden Gesellschaftssystemen vor sich geht, kommt es auf den politisch-ideologischen Standort an, auf die Frage, in welchen Formen, mit welchen Zielsetzungen und in wessen Interesse sich die wissenschaftlich-technische Revolution vollzieht. Daraus folgt, daß auch der Naturwissenschaftler, geschweige denn der Gesellschaftswissenschaftler, nicht sozusagen, „über den Parteien" stehen und eine gegenüber den beiden Gesellschaftssystemen neutrale, objektivistische, wissenschaftlich und weltanschaulich wertfreie Position einnehmen kann. Er muß, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht, implicite für das eine oder andere System 3
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Vgl. ALEXANDER GRÜTTNER, ZU Fragen des Verhältnisses zwischen der Weltanschauung unserer Epoche und der modernen Naturwissenschaft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 2, 1963, S. 133. Vgl. JOHN D. BERNAL, Welt ohne Krieg, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1960, S. 155. Vgl. HANS KLOTZ/KLAUS RUM, Über die Produktivkraft Wissenschaft, in: Einheit, Heft 2, 1963, S.27.
Die Rolle der Gesellschaftswissenschaften
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optieren, denn auch in den Naturwissenschaften gibt es keine Wanderungen zwischen den Welten. Angesichts der einzigartigen Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft und Technik, die für die Menschheit je nach dem Charakter der Gesellschaftsordnung unwahrscheinlichen Segen oder furchtbares Unheil bedeuten können, kam der Physiker MAX BORN ZU dem bekannten Ausspruch: „Wir haben nur die Wahl zwischen Koexistenz und Nicht-Existenz." & FRÉDÉRIC JOLIOT-CURIE, JOHN D . BERNAL, LINUS PAULING,
WERNER
HEISENBERG,
ERWIN
SCHRÖDINGER,
CARL
und viele Hunderte führender Naturwissenschaftler in den USA, England, Frankreich und Westdeutschland haben sich direkt oder indirekt für eine Gesellschaftsordnung ausgesprochen, die die Rolle der Wissenschaft anerkennt und in der ein alles zerstörender atomarer Krieg nicht nur unmöglich, sondern auch undenkbar ist. Nur der Sozialismus gewährleistet die umfassende produktive und friedliche Anwendung der Atomenergie und insgesamt die volle Wirksamkeit der Wissenschaft als unmittelbarer Produktivkraft. Daher ist nicht, wie es verschiedene bürgerliche Ökonomen, Soziologen, Philosophen, Historiker und Publizisten und auch die von der Naturwissenschaft und Technik herkommenden Technokraten behaupten, die wissenschaftlich-technische Revolution das Grundmerkmal unserer Epoche, sondern die sozialökonomische und politische Tatsache des Übergangs der Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus. In der Moskauer Erklärung der Vertreter der 81 kommunistischen und Arbeiterparteien vom November 1960 heißt es mit vollem Recht: „Unsere Epoche, deren Hauptinhalt der durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution eingeleitete Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ist, ist die Epoche des Kampfes der beiden entgegengesetzten Gesellschaftssysteme, die Epoche der sozialistischen Revolutionen und der nationalen Befreiungsrevolutionen, die Epoche des Zusammenbruchs des: Imperialismus und der Liquidierung des Kolonialsystems, die Epoche des Übergangs immer neuer Völker auf den Weg des Sozialismus, die Epoche des Triumphes des Sozialismus und Kommunismus im Weltmaßstab." 7 In genialer wissenschaftlicher Voraussicht FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER
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MAX BORN, Physik im Wandel meiner Zeit, Berlin 1957, S. 214. Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien vom November 1960, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 10.
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haben KARL MARX und F R I E D R I C H E N G E L S bereits am Vorabend der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 die geschichtliche Notwendigkeit des Untergangs der kapitalistischen Welt und des Sieges des Sozialismus begründet. Von W. I . L E N I N unter den Bedingungen des Imperialismus schöpferisch weitergeführt und durch die Kommunistische Partei der Sowjetunion 1917 in Rußland in die Tat umgesetzt, wurde die Lehre von MARX, ENGELS und L E N I N seither vielfältig bestätigt. Immer mehr bestimmt der Sozialismus die Richtung der Entwicklung der gesellschaftlichen Prozesse und das Kräfteverhältnis in der Welt. Mehr und mehr wird das sozialistische Weltsystem zum geschichtsbestimmenden Faktor. Zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit ist somit die reale Möglichkeit gegeben, die Völker von der Geißel des Krieges zu befreien. 8 Die Antwort auf die Frage nach den Ursachen, dem Verlauf, den Peripetien und dein Ergebnis der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung der beiden entgegengesetzten Gesellschaftssysteme kann nur von den Gesellschaftswissenschaften her erfolgen, jedoch nicht von den Gesellschaftswissenschaften schlechthin, sondern von der marxistischleninistischen Gesellschaftswissenschaft. Von allen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen, die uns die Geschichte der sozialen und politischen Ideen seit der Antike, insbesondere seit dem 17. und 18. Jahrhundert übermitteln, läßt sich einzig die marxistisch-leninistische Wissenschaft von der Gesellschaft nicht von subjektivistischen, irrationalen oder metaphysischen Vorstellungen leiten, sondern sie stützt sich stets auf die wissenschaftliche Erkenntnis der objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist ein vergebliches Bemühen gewisser antimarxistischer Philosophen und Soziologen, zwischen der wissenschaftlichen und weltanschaulichen Seite des Marxismus-Leninismus einen Trennungsstrich zu ziehen mit dem Ziel, ihn als Wissenschaft zu diskreditieren und in den Bereich der sozialen Eschatologie, des Messianismus oder der säkularisierten Theologie zu transponieren. Der triumphale Sieg der gesellschaftswissenschaftlichen Ideen von MARX, E N G E L S und L E N I N , die seit 1 9 1 7 die Welt von Grund auf verändert haben, während die Diagnosen und Prognosen der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft allesamt Schiffbruch erlitten haben, ist auch von den enragiertesten Antimarxisten weder wegzudisputieren noch 8
Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutsehlands, a. a. 0., S. 4.
Die Rolle der Gesellschaftswissenschaften
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wegzudekretieren. Daß ein so rückständiges Land wie das zaristische Rußland durch den Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in 46 Jahren — sozusagen in einem Ansprung — zur zweitstärksten Industriemacht der Welt und auf vielen Gebieten zu einer wissenschaftlich führenden Weltmacht werden konnte, das war und bleibt die Leistung der gesellschaftswissenschaftlichen Ideen des Marxismus-Leninismus. Die „Marx-Überwinder" und „Sowjetologen" sind genötigt, sich mit dem Marxismus-Leninismus in Theorie und Praxis auseinanderzusetzen, nicht von den Positionen der Offensive, sondern von denen der Defensive. Dies beweist u. a. eine unter dem vielsagenden Titel „Wo stehen wir heute?" veröffentlichte Sammlung von Aufsätzen der Philosophen EDUARD SPRANGER und KLARL JASPERS, der Soziologen H A N S FREYER und HELMUT SCHELSKY, der Historiker ARNOLD TOYNBEE und HERMANN HEIMPEL und verschiedener anderer Vertreter der bürgerlichen Sozialwissenschaften. 9 Bei dem Versuch einer geistigen Standortbestimmung der Gegenwart flüchten sie in der Regel in subjektiven Idealismus, Irrationalismus, Existentialismus, Agnostizismus, Mystik und Metaphysik oder in eine von Daseinsangst und Kulturpessimismus durchtränkte nihilistische Kritik des „industriellen Zeitalters" und der „sozialen Vermassung". „Krise der Gesellschaft", „Krise des Staates", „Krise des Rechts", „Krise der Philosophie", „Krise der Kunst", „Krise der Kultur", „Krise der Religion" — das ist der ständige Refrain der an sich und der Welt irregewordenen bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft der Gegenwart. Dies rührt daher, daß der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft das Problem unseres Zeitalters als ein primär ideologisches Problem erscheint. Indem sie den Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Reaktion und Fortschritt, zwischen Krieg und Frieden auf den Widerspruch zwischen Gott und Satan, zwischen Christ und Antichrist, zwischen Michael und Luzifer 1 0 reduziert, wie dies z. B. THEODOR LITT tat und andere tun, wird der reale Inhalt unseres gesellschaftlichen Lebens und seiner immanenten Bewegungsgesetze direkt auf den Kopf gestellt. Wegen dieses ihres falschen Bewußtseins 9 10
H. WALTER BAHR, WO stehen wir heute?, C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1960. Vgl. THEODOR LilTT, Wissenschaft und Menschenbildung im Lichte des West-OstGegensatzes, Heidelberg 1959, S. 32, und derselbe, Freiheit und Lebensordnung, Heidelberg 1962, S. 9 f.
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der Epoche ist die bürgerliche Gesellschaftswissenschaft nicht in der Lage, eine richtige Standortbestimmung zu finden und auf die brennenden Fragen der Gegenwart eine zureichende Antwort zu geben.
Das menschliche Bedürfnis nach Bestimmung des eigenen Standorts in der Gesellschaft ist aber genauso elementar wie das Bedürfnis einer Gesellschaft nach Bestimmung ihres Standorts in der Geschichte, das Bedürfnis nach Klarheit über das Woher und Wohin der weltgeschichtlichen Gesamtentwicklung, weil davon sowohl das individuelle wie das soziale Handeln seine entscheidenden Impulse erhält. Es geht somit um den Charakter, um die Hauptmerkmale, den Hauptinhalt, die Hauptrichtung, mit einem Wort: um das Entwicklungsgesetz unserer Epoche. Besteht doch die besondere Dialektik unserer Epoche gerade darin, daß wir nicht nur Zeugen und Mitgestalter der größten wissenschaftlich-technischen Revolution sind, sondern zugleich der größten sozialen Revolution in der Geschichte, einer Revolution, die zur Umwälzung aller sozialen und politischen Existenzformen bis in die Region der Kultur und Ideologie führt. Bei dieser sowohl im wissenschaftlich-technischen als auch im sozialen, politischen und ideologischen Bereich sich vollziehenden Umwälzung der modernen Gesellschaft den richtigen philosophischen Standort und ein reales Bewußtsein der Epoche zu finden, ist namentlich für den gesellschaftswissenschaftlich nicht geschulten Naturforscher besonders schwer. Mehr denn je gilt heute das bekannte Wort aus FRIEDRICH ENGELS' „Dialektik; der Natur": „Die Naturforscher mögen sich stellen wie sie wollen, sie werden von der Philosophie beherrscht. Es fragt sich nur, ob sie von einer schlechten Modephilosophie beherrscht werden wollen oder von einer Form des theoretischen Denkens, die auf der Bekanntschaft mit der Geschichte des Denkens und deren Errungenschaft beruht." 11 Diese Form des theoretischen, Denkens ist der dialektische Materialismus, die einzige Philosophie, die den Erfordernissen der modernen Naturwissenschaft entspricht. Als konsequent wissenschaftliche Philosophie steht sie in unversöhnlichem Gegensatz zu allen unwissenschaftlichen, idealistischen und metaphysischen Deutungen des Charakters 11
FRIEDRICH ENGELS, Dialektik der Natur, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 223.
Die Rolle der Gesellschaftswissenschaften
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unserer Epoche und des philosophischen Kernproblems, auf das die Naturwissenschaft immer wieder stößt, nämlich der Frage nach der Erfaßbarkeit der objektiven Wirklichkeit durch das Denken. Das ist aber auch zugleich das Kernproblem der Philosophie des dialektischen Materialismus. Die logische Schlußfolgerung daraus ist, daß nur das echte Bündnis von Naturwissenschaft und dialektischem Materialismus die Klärung vieler noch strittiger Fragen bringen kann. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, sei hier nur darauf verwiesen, daß MAX PLANCK12, ERWIN SCHRÖDINGER13, WERNER HEISENBERG1'4, MAX
und W O L F G A N G P A U L I 1 6 von ihrem Fache her sowohl zu den Positionen des philosophischen Materialismus vorgestoßen sind als auch klar erkannt und ausgesprochen haben, daß die Grundlage aller Physik nicht eine physikalische, sondern eine philosophische Kategorie ist. Die unvergängliche Leistung von M A R X und E N G E L S besteht gerade darin, aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Gesellschaft hinübergerettet zu haben, eine Tatsache, die nach einem Ausspruch von F R I E D R I C H E N G E L S nur durch „eine vollständige mathematische und naturwissenschaftliche ,Mauserung'" möglich war. 17 F R I E D RICH E N G E L S ' Arbeiten wie „Anti-Dühring", „Dialektik der Natur", „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie" sind neben L E N I N S „Materialismus und Empiriokritizismus" und dessen „Philosophischen Heften" in ihren prinzipiellen Darlegungen auch heute noch die umfassendsten philosophischen Grundlagen der modernen Naturwissenschaften, unbeschadet der Tatsache, daß sich diese seit M A R X , E N G E L S und L E N I N stürmisch weiterentwickelt haben. Darin liegt ja gerade eine der wesentlichsten Stärken des MarxismusLeninismus, daß er, frei von idealistischen Verzerrungen, frei von Dogmatismus und Sektierertum, alle neuen naturwissenschaftlichen und sozialen Erkenntnisse in sein Weltbild einbezieht. Unter BerückB O R N 15
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MAX PLANCK, Wege zur physikalischen Erkenntnis, Leipzig 1944, S. 178 f. ERWIN SCHRÖDINGER, Die Natur und die Griechen, Hamburg 1 9 5 6 . WERNER HEISENBERG, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, Leipzig 1945, S. 22. MAX BORN, Physik und Politik, Göttingen 1 9 6 0 , S. 51 f. WOLFGANG PAULI, Aufsätze und Vorträge über Physik und Erkenntnistheorie, Braunschweig 1961, S. 9 ff. FRIEDRICH ENGELS, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 10.
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sichtigung aller Phänomene der unablässig fortschreitenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Praxis ist er eine stets sich erneuernde und lebendige Weltanschauung, die die untrennbare Einheit ihrer naturwissenschaftlichen,
sozialökonomischen
und
politischen
Auffassungen verkörpert. 18 W i r sehen: Nur das schöpferische Bündnis zwischen Naturwissenschaft und marxistischer Philosophie, ein Bündnis, das in der Sowjetunion. zum Vorteil f ü r beide Fachgebiete vollzogen ist, kann hier ernsthaft weiterführen. Das ist es auch, worauf die bedeutendsten sowjetischen Naturwissenschaftler wie S. I. WAWILOW, A . N. NESMEJANOW, M . W . KELDYSCH, N . N . SEMJONOW, A . I . BERG, S. L . SOBOLEW u n d d i e P h i l o s o p h e n M . B . M I T I N , P . F . JUDIN, B . M . KEDROW, P . N . FEDOS-
SEJEW, F. W . KONSTANTINOW u. a. hinweisen. Auf dieses Thema ist auch mit sehr bemerkenswerten Ausführungen Prof. KURT HAGER auf dem V I . Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands
ein-
gegangen. E r sagte: „Während die bürgerliche Ideologie eine bewußte Trennung der Naturwissenschaften und der Gesellschaftswissenschaften anstrebt und die Möglichkeit der Erkenntnis der objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung bestreitet, gehen wir aus von der Einheit aller Bereiche des menschlichen Denkens, aller Gebiete der Wissenschaft."
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In der kapitalistischen W e l t vermögen auch die bedeutendsten und in ihrem philosophischen Denken fortschrittlichsten Repräsentanten der Naturwissenschaft infolge ihrer sozialen Herkunft, ihrer
Er-
ziehung, ihrer Lebensgewohnheiten und ihres geistigen Milieus sich zu diesem offenen Bündnis zwischen Naturwissenschaft und dialektischem Materialismus nicht oder nur schwer durchzuringen. Sie sind daher den verschiedensten weltanschaulichen Strömungen und Schwankungen ausgesetzt und unterliegen sogar dem Einfluß anachronistisch gewordener philosophischer Systeme. Einem W o r t von John D. B e m a l zufolge neigen sie beschämenderweise heute vielfach stärker zum Obskurantismus und Mystizismus hin als vor fünfzig Jahren, oder sie 18
Vgl. hierzu ALEXANDER GRÜTTNER, ZU Fragen des Verhältnisses zwischen der Weltanschauung unserer Epoche und der modernen Naturwissenschaft, a. a. 0., S. 136 f.
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KURT HAGER, Diskussionsbeitrag, in: Der VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bulletin Nr. 4, S. 4.
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Die Rolle der Gesellschaftswissenschaften
gehen vermittels der Philosophie des Neopositivismus eine „unheilige Allianz von Wissen und Glauben" ein. Ist diese Verwirrung schon in der Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Erkenntnistheorie der Fall, so erst recht in bezug auf den politisch-ideologischen Standort der Naturwissenschaftler in unserer Zeit. Und hier gerade wird die enge Zusammenarbeit, ja das Bündnis zwischen Naturwissenschaft und marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaft zur gebieterischen Notwendigkeit, einer Gesellschaftswissenschaft, die sowohl dem Charakter unserer Epoche als auch wegen der ihr eigenen wissenschaftlichen Grundlagen den Erfordernissen der Naturwissenschaften allseitig entspricht. Unsere Epoche hat, wie wir wissen, nicht nur naturwissenschaftlich-technische, sondern auch soziale und philosophische Probleme auf die Tagesordnung gesetzt, deren Lösung nur mit vereinten Kräften der Wissenschaftler beider Sparten möglich ist. In seiner bekannten Arbeit „Die Wissenschaft in der Geschichte" betont J O H N D. B E R N A L , daß der Grad der Beherrschung der materiellen Umwelt des Menschen durch die Wissenschaft von seiner Fähigkeit abhängt, „seine Gesellschaftsordnung so umzugestalten, daß sie die zur Sicherung dieser Ziele notwendige Zusammenarbeit möglich macht, sowie davon, daß die Interessen ausgeschaltet werden, die dem im Wege stehen. Damit rückt die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft und ihren Entwicklungsgesetzen bei der Gestaltung der Zukunftin den Mittelpunkt." 20 Ähnliche Gedankengänge haben im Bereich unserer Akademie bei verschiedenen Anlässen auch die H H . P. A. THIESSEN 2 1 , M. S T E E N B E C K 22 , H. S T U B B E 23 , R. R O M P E 24 u. a. geäußert. 20
JOHN D. BERNAL, Die Wissenschaft in der Geschichte, V E B Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1 9 6 1 , S. 4 9 7 / 4 9 8 .
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PETER ADOLF THIESSEN, Objektiver Vergleich nach Maß und Zahl, in: Presse der Sowjetunion, Nr. 1 2 9 , 1 9 6 2 , S. 2 7 9 7 .
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MAX STEENBECK, Wissenschaft im Auftrag der Gesellschaft, in: Neues Deutschland, Nr. 3 1 8 , 1 9 6 2 , und ders., Hilfe für die Produktion durch wissenschaftliche Institute. W a s heißt das, und wie erfolgt sie?, in: Neues Deutschland, Nr.
355,
1962. 23
HANS STUBBE, E i n begeisterndes
Programm,
in:
Neues Deutschland,
Nr.
324,
1962. 24
ROBERT ROMPE, Moderne Wirtschaft verlangt beste Elektronik, in: Neues Deutschland, Nr. 2 8 6 , 1 9 6 2 , und ders., Entwickeln setzt Kenntnisse des Weltstandes voraus, in: Neues Deutschland, Nr. 3 1 8 , 1 9 6 2 .
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Zum Unterschied von den vorangegangenen Gesellschaftsformationen, deren sozialökonomischer Gesamtprozeß sich urwüchsig, spontan oder anarchisch vollzog und vollzieht, ist es in der sozialistischen Gesellschaft zum ersten Male in der Geschichte möglich und notwendig, die gesellschaftliche Entwicklung zu planen und bewußt zu lenken. Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln erfordert grundsätzlich eine planmäßige Entwicklung der Volkswirtschaft und darüber hinaus der gesamten Gesellschaft. Deshalb ist unter den Bedingungen des Übergangs zum umfassenden Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik die Rolle nicht nur der Naturwissenschaften und der Technik, sondern auch und gerade der Gesellschaftswissenschaften als der entscheidenden Faktoren für die Entwicklung der Wirtschaft, der Kultur und des gesellschaftlichen Fortschritts außerordentlich gewachsen. Neben den ökonomischen Wissenschaften, deren Rolle als Produktivkraft unbestritten ist, können auch die anderen Gesellschaftswissenschaften wie Geschichte, Philosophie, Rechtswissenschaft, Ethik, Ästhetik, Kunst und Literatur unmittelbar wirksam und so zur Produktivkraft werden. 25 In seiner Rede auf der 12. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im März 1 9 6 1 führte W A L T E R ULBRICHT a u s :
„In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die Wissenschaft— genauer gesagt, die naturwissenschaftlich-technischen Zweige — zum Bereich der materiellen Produktion gehören. Das ist eine Frage, die gegenwärtig nicht nur von theoretischer, sondern von großer praktischer Bedeutung ist. Ich persönlich bin der Meinung, daß die Frage bejaht werden sollte. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Feststellung von Karl Marx, daß die kapitalistische Großindustrie die Wissenschaft als ständige Produktionspotenz von der Arbeit getrennt und in den Dienst des Kapitals gepreßt hat. An anderer Stelle behandelt er die Frage, bis zu welchem Grade die Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft geworden sei." 2 3 a 25
HANS KLOTZ/KLAUS RUM, Über die Produktivkraft Wissenschaft, in: Einheit, Heft 3, 1963, S. 45/46. 25a Vgl. 12. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 16. bis 19. März 1961, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 96/97.
Die Rolle der Gesellschaftswissenschaften
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Die Besonderheit der Gesellschaftswissenschaften besteht darin, daß sie als die wichtigsten Elemente der Bewußtseinsbildung und der Erziehung auf den subjektiven Faktor der Produktion, den Menschen, also die Hauptproduktivkraft der Gesellschaft, einwirken. Unter diesem Aspekt der Einwirkung auf die Bewußtseinsbildung und Erziehung ergibt sich ein neues Moment in dem Bündnis von Natur- und Gesellschaftswissenschaften, und zwar von der gemeinsamen Zielstellung her, in der sich die Einheit der wissenschaftlichen Beherrschung der Natur durch den Menschen und die wissenschaftliche Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse manifestiert. 26 Auf diese Weise verwandeln sich Natur- und Gesellschaftswissenschaften in mächtige, ständig wirkende Faktoren der sozialistischen Geselle schaftsordnung.27 Daher sind heute mehr denn je auch auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften praxisbezogenes Forschen und exakte mit naturwissenschaftlichen Methoden betriebene Untersuchungen der verschiedensten Seiten des gesellschaftlichen Lebens erforderlich in engster Verbindung mit den konkreten Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung. Gerade diese Forderung an die Gesellschaftswissenschaften steht absolut im Einklang mit den besten Traditionen unserer Akademie, mit den Ideen ihres Begründers G O T T F R I E D W I L H E L M LEIBNIZ, der die Vereinigung der Theorie mit der Praxis als das Ziel der Akademie bezeichnete und sie aufforderte, „nicht allein die Künste und Wissenschaften, sondern auch Land und L e u t e . . . zu verbessern". 28 In diesem Zusammenhang sei auch auf die Gedanken und Grundsätze der Organisation der Wissenschaft und des höheren Unterrichts W I L H E L M VON H U M B O L D T S und auf die beiden vertraulichen Denkschriften A D O L F 26
WOLFGANG EICHHORN, Die Auswirkung der wissenschaftlich-technischen Revolution auf den Menschen als Produktivkraft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 5, 1 9 6 3 , S. 5 6 5 u. HANS KLOTZ/KLAUS RUM, Über die Produktivkraft Wissenschaft, a. a. 0 . , S. 4 6 .
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Vgl. L. F . ILJITSCHOW, Die wissenschaftliche Grundlage der Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Heft 2, 1 9 6 3 , S. 113 f.
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Vgl. Geschichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet von ADOLF HARNACK, 2. Band, Berlin 1 9 0 0 , S. 7 6 .
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an Kaiser Wilhelm I I . vom November 1 9 0 9 29 und vom Mai 1910 unter dem Titel „Gedanken über die Notwendigkeit einer neuen Organisation zur Förderung der Wissenschaften in Deutschland" 30 verwiesen. Für die militaristische Zielsetzung der Denkschriften HARNACKS, aber auch für die Geisteshaltung dieses — man sollte meinen, weitabgewandten — Religionshistorikers ist der in Fettdruck hervorgehobene Schlußappell der Denkschrift besonders charakteristisch: VON HARNACKS
„Die Wehrkraft und die Wissenschaft sind die beiden starken Pfeiler der Größe Deutschlands, deren Pflege niemals aufhören oder stillstehen darf." 31 Im Gegensatz zu dieser durch den Kapitalismus militaristisch deformierten Wissenschaft besteht die soziale Funktion der Wissenschaft im Sozialismus darin, die Arbeit und das Leben der Menschen zu erleichtern, ihre materiellen und geistigen Bedürfnisse befriedigen zu helfen, den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt zu fördern und die friedliche Entwicklung der Menschheit zu sichern. Diese offene Parteinahme für den progressiven Fortgang der geschichtlichen Entwicklung kollidiert durchaus nicht mit der Erkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten in der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens, im Gegenteil: Sie ist der legitime politisch-ideologische Ausdruck dieser Gesetzmäßigkeiten. Bei dem umfassenden Aufbau des Sozialismus ist die Rolle der Gesellschaftswissenschaften außerordentlich gewachsen, einmal weil sie die theoretischen Grundlagen schafft für die wissenschaftliche Leitung und Organisation der Produktion und des gesamten sozialistischen Aufbaus, dann weil sie die Grundlage ist f ü r die sozialistische Erziehung der Jugend, für die Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins aller Werktätigen und für die schöpferische Weiterbildung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. 32 Im Hinblick auf die 29
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Abgedruckt in: 25 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Verlag Julius Springer, Berlin 1936, Erster Band, S. 30 ff. ADOLF HARNACK, Gedanken über die Notwendigkeit einer neuen Organisation zur Förderung der Wissenschaften in Deutschland, Berlin, Mai 1910. Ebd. S. 9. Vgl. KURT HAGER, Diskussionsbeitrag auf dem VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, a. a. 0., S. 3 f.
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wissenschaftlich-technische Revolution unseres Zeitalters und den Charakter des umfassenden Aufbaus des Sozialismus ist diese Aufgabe von den Gesellschaftswissenschaften nur in engstem Zusammenwirken mit Naturwissenschaftlern und Technikern zu lösen.33 In dem Bericht des Zentralkomitees an den VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands heißt es, daß auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften noch ein großer Verzug festgestellt werden muß. Die bisher fehlende Planung und Koordinierung der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung sowie ihre mangelnde Orientierung auf die Schwerpunkte der gesellschaftlichen Entwicklung stelle ein ernstes Hemmnis dar. Obwohl auf dem 15. Plenum des Zentralkomitees die grundlegenden Aufgaben der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung in der gegenwärtigen Etappe des sozialistischen Aufbaus festgelegt worden sind, seien die Erscheinungen des Dogmatismus und die1 Tendenz, die Gesellschaftswissenschaft von der Politik zu trennen, noch nicht überwunden. Noch bestehe auf verschiedenen Gebieten die Neigung zu deskriptiver, faktologischer Darlegung der gesellschaftlichen Prozesse, anstatt die neuen Fragen und Erfahrungen des gesellschaftlichen Aufbaus auf Grund konkreter, wissenschaftlich exakt erforschter Tatsachen schöpferisch zu verallgemeinern, ihre Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und daraus Schlußfolgerungen für die wissenschaftliche Leitung des sozialistischen Aufbaus in Gegenwart und Zukunft zu ziehen.34 Besonderen Nachdruck legte der VI. Parteitag auf das Bündnis der Gesellschaftswissenschaften mit den Naturwissenschaften. Wie sehr die Grenzen zwischen diesen beiden nach Gegenstand und Methode verschiedenen Wissensgebieten bereits verfließen, zeigte der Vortrag von Hr. H. FRÜH AUF vom 13. Juni d. J. „Vom Wesen der Information, der Informations-Verarbeitung, -Übermittlung und der Aufnahme von Information", in den er mit gutem Grund Fragen der Philosophie, Physiologie und Psychologie einbezogen hat. Daß die Fragen der 33
34
Vgl. GERHARD HARIG, Die Entwicklung der Wissenschaft zur unmittelbaren gesellschaftlichen Produktivkraft, Vortrag, gehalten am. 3. Mai 1963 in der KarlMarx-Universität Leipzig. Vgl. Bericht des ZK der SED an den VI. Parteitag der SED, Kapitel IV: „Die sozialistische Umwälzung auf ideologischem und kulturellem Gebiet", Punkt 5, Abschnitt c) Die Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften.
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Mathematik, Statistik, Kybernetik aus der Ökonomie nicht mehr wegzudenken sind, daß die Archäologie mathematische, physikalische und chemische Methoden anwendet, daß sogar die Sprachwissenschaft nicht mehr ohne die Methoden der Technik, Mathematik, Statistik und Kybernetik auskommen kann, gehört heute bereits zu den Gemeinplätzen im wissenschaftlichen Sprachgebrauch. So sind in der Sowjetunion über den Rahmen der längst vollzogenen Koordinierung der naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen hinaus von naturwissenschaftlicher Seite her emste Vorstöße unternommen worden, auch die Gesellschaftswissenschaften in den naturwissenschaftlich-technischen Forschungsbereich einzubeziehen. Es sei hier nur auf die theoretischen Konferenzen über die philosophischen Fragen der Theorie der Elementarteilchen verwiesen, die Konferenzen über Fragen der Physiologie, Psychologie und Kybernetik und namentlich auf die Konferenz des Plenums der Akademie der Wissenschaften der UdSSR vom 19. bis 20. Oktober 1962 mit dem Zentralthema: „Die wissenschaftliche Grundlage der Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung" von L. F. ILJITSCHOW, der darauf hinwies, daß eines der charakteristischsten Kennzeichen unserer Zeit die ungemein erhöhte Rolle der Wissenschaft als Ganzes im Leben der Gesellschaft sei. Die gleichen Gedankengänge entwickelte L. F. I L J I TSCHOW in; seinem Hauptreferat auf dem jüngsten Plenum des ZK der KPdSU vom 18. Juni 1963. Der Präsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, M. W. KELDYSCH, und mit ihm eine Reihe weltbekannter Vertreter der verschiedensten naturwissenschaftlichen Disziplinen traten mit Nachdruck dafür ein, daß die von den stürmisch sich entwickelnden Naturwissenschaften neuentdeckten Tatsachen auch ihre erkenntnistheoretische Fundierung erhalten. Nach KELDYSCH hat die materialistische Deutung der neuen Erscheinungen und Naturgesetze nicht nur für die Formung des wissenschaftlichen Weltbildes eine große Bedeutung, sondern auch direkt für ihre praktische Auswertung in der Produktion. 35 Die Chemisierung, Mechanisierung und Automatisierung der Produktion, das immer tiefere Vordringen in den Mikro- und Makrokosmos, die Errungenschaften der modernen 35
M. W. KELDYSCH in: Der Aufbau des Kommunismus und die Gesellschaftswissenschaften, Sitzungsprotokoll der Plenar-Versammlung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR vom 19. bis 20. Oktober 1962, Akademie-Verlag, Moskau 1962, S. 7.
Die Rolle der Gesellschaftswissenschaften
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Biologie, Biochemie und Biophysik, die Entstehung neuer Wissenschaften wie Kybernetik, Bionik, Kosmobiologie, Kosmomedizin, Biotelemetrie und Molekularelektronik und neuer Technologien., die ganze Produktionszweige revolutionieren — das alles bedeutet zugleich auch eine ungeheure Bereicherung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaftswissenschaften, vorausgesetzt, daß sie die naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften sachkundig nützen und sich ihre Methoden aneignen. Im Zeitalter der naturwissenschaftlich-technischen Revolution müssen Mathematik, mathematische Logik, Theorie der Information, Elektronik, Kybernetik mehr und mehr zum Handwerkszeug auch der Gesellschaftswissenschaften werden, wenn sie nicht hinter der allgemeinen Entwicklung zurückbleiben und für sie zum Hemmnis werden sollen. Die Nutzanwendung daraus für die Deutsche Demokratische Republik ist, daß es an der Zeit ist, nach dem Modell der Forschungsgemeinschaft die Arbeit auch auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften zu koordinieren und sie stärker auf die entscheidenden Schwerpunkte der Forschung auszurichten. Dies ist nur durch die Überwindung des Individualismus, der Autarkietendenzen der einzelnen Institute und Arbeitsstellen, des Parallelismus in der Forschungsarbeit und durch eine maximale Verwirklichung des Prinzips der Kollektivität in der Forschung möglich. Noch sind die Tendenzen zum Isolationismus, Subjektivismus, Dogmatismus und Sektierertum in den Gesellschaftswissenschaften weit verbreitet. Eines steht jedoch unverrückbar fest: Im Alleingang kann heute weder auf dem Gebiet der Naturwissenschaften noch auf dem der Gesellschaftswissenschaften ein Einzelner die komplexen Probleme lösen. Gar nicht zu reden von den allen, Wissenschaften gemeinsamen gesellschaftlichen, wissenschaftstheoretischen, methodologischen und weltanschaulichen Problemen. Auch für die Gesellschaftswissenschaft gilt der Satz: Die Planung muß wissenschaftlicher und die Wissenschaft muß planmäßiger gestaltet werden. Bei der Lösung komplexer Aufgaben durch die moderne Wissenschaft ist nicht nur die Kooperation der Naturwissenschaft und Technik mit der Ökonomie erforderlich, sondern auch die Kooperation mit anderen Zweigen der Gesellschaftswissenschaft wie Philosophie, Rechtswissenschaft, Geschichte, Soziologie, Psychologie, Ethik, Ästhetik, Sprachwissenschaft, Literatur, Kunst und Kultur. Ebenso müssen die Zersplitterung und die isolationistischen Tendenzen der einzelnen Gesellschaftswissenschaften gegenüber den
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Nachbardisziplinen unbedingt überwunden werden. Nur dann werden die Gesellschaftswissenschaften, wie dies WALTER ULBRICHT auf der 15. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (21.—23.2.1962) formulierte, imstande sein, den höchsten Nutzeffekt in Forschung, Lehre und Erziehung zu erreichen und die wissenschaftlichen Grundlagen für die Planung und Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung für die Gegenwart und Zukunft zu erarbeitein 36 . Nur im engsten Bündnis mit den Naturwissenschaften werden die Gesellschaftswissenschaften mit der wissenschaftlich-technischen Revolution unserer Zeit Schritt halten und einen ernsten Beitrag für den Fortschritt der Gesellschaft leisten können. 36
Vgl. WALTER ULBRICHT, Referat, Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Dietz Verlag, Berlin 1963, S. 346.
PHILIPP MELANCHTHON 1497-1560 Baud I : Philipp Melanchthon Humanist, Reformator, Praeceptor Germaniae 325 Seiten — 24 Tafeln — Ganzleinen 45 — DM B a n d i i : In Vorbereitung Im Jahre 1960 wurde des 400. Todestages des großen deutschen Humanisten Philipp Melanchthon, dem schon zu seinen Lebzeiten der ehrenvolle Titel „Praeceptor Germaniae" zuerkannt worden ist, gedacht. Die Deutsche Demokratische Republik als Hüterin der progressiven Tradition unseresVolkes würdigte in eindrucksvoller Weise die hervorragenden kulturellen und wissenschaftlichen Verdienste dieser historischen Persönlichkeit. Neben der Vorbereitung entsprechender Feierlichkeiten sah das Melanchthon-Komitee seine Hauptaufgabe in der Herausgabe einer Festschrift. Historiker, Pädagogen, Sprachwissenschaftler und Theologen bemühen sich, Beiträge zur Formung eines neuen Melanchthon-Bildes zu leisten. Die Bedeutung dieser Festschrift wird noch durch Aufsätze von Wissenschaftlern aus Westdeutschland und den sozialistischen Ländern unterstrichen.
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STUDIEN ÜBER DIE DEUTSCHE GESCHICHTSWISSENSCHAFT Band I: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben Herausgegeben von Joachim Streisand (Schriften des Instituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Reihe I, Band 20)
355 Seiten — Ganzleinen 27,— DM Erstmals wird mit den hier veröffentlichten 18 Untersuchungen von Historikern, Philosophen und Juristen ein Überblick über die wichtigsten Strömungen und Probleme der deutschen Geschichtswissenschaft und der Geschichtsideologie der einzelnen Klassen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von 1871 gegeben. Die Studien weisen den engen Zusammenhang von Politik und Geschichtsschreibung nach und berücksichtigen vor allem jene Richtungen und Persönlichkeiten, die bis heute im positiven oder negativen Sinne fortwirken. Sie bilden einen ersten wichtigen Beitrag zu einer umfassenden marxistischen Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung. Diesem ersten Band wird ein zweiter folgen, der bis zur Gegenwart führt und besondere Aufmerksamkeit der Geschichte der marxistischen Geschichtswissenschaft in Deutschland widmet.
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