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German Pages 335 Year 2006
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel
Band 162
Die Reform der Vereinten Nationen – Bilanz und Perspektiven Herausgegeben von Johannes Varwick und Andreas Zimmermann
Duncker & Humblot · Berlin
JOHANNES VARWICK / ANDREAS ZIMMERMANN (Hrsg.)
Die Reform der Vereinten Nationen
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von J o s t D e l b r ü c k, T h o m a s G i e g e r i c h und A n d r e a s Z i m m e r m a n n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht 162
Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Rudolf Bernhardt Heidelberg
Eibe H. Riedel Universität Mannheim
Christine Chinkin London School of Economics
Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg
James Crawford University of Cambridge
Bruno Simma International Court of Justice, The Hague
Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis
Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Die Reform der Vereinten Nationen – Bilanz und Perspektiven Herausgegeben von Johannes Varwick und Andreas Zimmermann
A Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-12266-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Geleitwort Es gibt keine Alternative, die globalen Herausforderungen, vor denen die Weltgesellschaft steht, zu bewältigen. Dazu muss das politische System der Weltgesellschaft, deren Kern die Vereinten Nationen sind, handlungsfähiger werden. Auf das Jahr 2005, in dem die Vereinten Nationen auf 60 Jahre ihres Wirkens zurückblicken konnten, waren große Hoffnungen gesetzt. Der Weltgipfel im September dieses Jahres sollte die UN handlungsfähiger machen. Diese Erwartungen wurden nicht so erfüllt, wie es hätte sein können. Diese Erkenntnis macht das große Engagement vieler – darunter auch der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) – für die Reform der Vereinten Nationen nicht vergeblich. Das gilt für das zivilbürgerliche Engagement jedes Einzelnen, der zur öffentlichen Kommunikation über globale Herausforderungen beiträgt. Das gilt für die wissenschaftlichen Bemühungen, die Vereinten Nationen zu analysieren und dabei Perspektiven für ihre Verbesserung aufzuzeigen. Das vorliegende Buch leistet dazu wichtige Anregungen. Seine Beiträge können helfen, in den politischen Anstrengungen zur institutionellen Bewältigung globaler Herausforderungen nicht nachzulassen. Mit seiner Herausgabe haben Johannes Varwick und Andreas Zimmermann Verdienstvolles geleistet. Viele Autoren des Sammelbandes sind der DGVN seit langem verbunden. Manuel Fröhlich ist seit Mai 2006 Vorsitzender des DGVN-Forschungsrats, Johannes Varwick und Sabine von Schorlemer gehören ihm an. Hervorzuheben ist der interdisziplinäre Anspruch des Buches, der Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft verbindet. Die globale und problembezogen umfassende Dimension der UN als politischem System der Weltgesellschaft könnte die Ausweitung dieser interdisziplinären Bemühungen perspektivenreich sein lassen: Internationale Geschichte, Politische und Interkulturelle Philosophie und auch die Soziologie sind gefragt. Vorstellung und Begriff der Weltgesellschaft stoßen in Deutschland – und offenkundig noch stärker in den USA – auf Kritik, ja mangelndes Verständnis. Aber diesen Begriff und damit diese globale Perspektive in den Blick zu nehmen, ist für die Behandlung der Frage nach den Institutionen und Instrumenten globaler Politik unausweichlich. Aufbauend auf Erkenntnissen
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Geleitwort
der siebziger Jahre von Niklas Luhmann in Deutschland, Peter Heintz in der Schweiz und John W. Meyer in den USA sind die sozial-theoretischen Überlegungen dazu weit fortgeschritten. Insbesondere Ulrich Beck hat aktuelle Beiträge geleistet. Das auch für die konkrete UN-Politik einzelner Staaten und für die UNPolitik selbst entscheidend Kontroverse in diesen sozialtheoretischen Reflexionen ist die „Container-Theorie der Gesellschaft“ – wie Ulrich Beck es formuliert. Die moderne Gesellschaft ist einerseits an einen abgegrenzten Raum, andererseits an die Nation oder den Staat gebunden. Diese sozialtheoretische Auffassung korrespondiert mit einer Vorstellung von Außenpolitik, die sie, in der Tradition des 19. Jahrhunderts, als chaotisches Spiel der Mächte sieht. Niklas Luhmanns nüchterne Sicht von Weltgesellschaft lautet hingegen: Die Einheit einer alle Funktionen umfassenden Gesellschaft ist nur in der Form der Weltgesellschaft möglich. Folgt man dieser Einsicht, tritt schnell das Problem der Idealisierung von Weltgesellschaft auf, das dann zur Kritik an den Möglichkeiten multikulturellen oder multiethnischen Zusammenlebens führt. Diesem Dialogmuster hält Ulrich Beck entgegen: „Weltgesellschaft meint: Was die Menschen scheidet – religiöse, kulturelle und politische Unterschiede –, ist an einem Ort präsent. Die Allgegenwart der Weltunterschiede und Weltprobleme sind das genaue Gegenteil des Konvergenz-Mythos, nach dem alle Kulturen einander gleich werden.“ Evidenz gewinnt die Vorstellung einer Weltgesellschaft bei Problemen mit globalpolitischer Reichweite. Wesentlichen dieser globalen Probleme widmet sich dieses Buch. In Schwerpunkten behandelt sind Friedenssicherung, Entwicklung und Umwelt. Im Ausblick beschäftigen sich die Beiträge mit einigen Grundproblemen, die in der Staatengemeinschaft bei der UN-Reform bestehen. So ist es zum Beispiel wichtig, das Verständnis der USA zu analysieren. Immerhin sind die USA – vielleicht gemeinsam mit China – der mächtigste Nationalstaat in der Geschichte, auch wenn diese Feststellung etwas im Kontrast zur politikwissenschaftlichen Feststellung steht, die Welt sei in eine postnationale Konstellation eingetreten, was wohl nur europäisch gesehen richtig ist. Auch künftig ist es notwendig, dass die Wissenschaft die Reform der UN weiter behandelt. Damit nimmt sie auf ihre Weise Einfluss auf die Regierungen der Staaten, in Deutschland primär auf die Bundesregierung. Dass mehrere in Bundesministerien Tätige an diesem Buch mitgewirkt haben, mag ein gutes Beispiel für die Vernetzung der Subsysteme Administration und Wissenschaft sein. Soziologisch gesehen gehören die Menschen, die in diesen Subsystemen arbeiten, zu den Völkern, von denen die Präambel der UN-Charta spricht. Diese – so hat es die Mitgliederversammlung der DGVN Ende 2005 beschlossen – sollen Druck auf ihre Regierungen zur konkreten Mitarbeit im Sinne der Präambel ausüben. Viel-
Geleitwort
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leicht könnte man das vorliegende Buch sogar als eine solche Kommunikation interpretieren. Es orientiert sich am Wert der Demokratie, der die Weltgesellschaft wohl zu integrieren vermag, wie die Menschenrechte und ihre Konkretisierung im Konzept menschlicher Sicherheit.
Christoph Zöpel, Vorsitzender des DGVN-Vorstands
Vorwort Nach einer wechselvollen Geschichte sollten die Vereinten Nationen nach dem Willen vieler Mitgliedstaaten 60 Jahre nach Unterzeichnung ihrer Charta im Jubiläumsjahr 2005 einer grundlegenden Reform und Erneuerung unterzogen werden. Rückblickend wird man sagen können, dass dabei der „große Wurf“ bislang sicher nicht gelungen ist. Das Thema einer möglichen Reform der Vereinten Nationen bleibt mit hoher Priorität auf der Agenda der internationalen Politik wie auch der Wissenschaft. Das Institut für Politische Wissenschaft und das Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel haben dieses Jubiläum gleichwohl zum Anlass genommen, die Arbeit der Weltorganisation in unterschiedlichen Politikbereichen auf den politikwissenschaftlichen und völkerrechtlichen Prüfstand zu stellen. Ein Ergebnis dieser Bemühungen ist der vorliegende Sammelband, der Beiträge von 23 ausgewiesenen Expertinnen und Experten aus Politik- und Völkerrechtswissenschaft sowie der Praxis der deutschen VNPolitik beziehungsweise Politikberatung zusammenfasst. Erklärtes Ziel ist dabei ein interdisziplinärer Anspruch, mit anderen Worten politik- und rechtswissenschaftliche Instrumentarien und Blickwinkel sollen kombiniert und füreinander fruchtbar gemacht werden. Dabei sollen weder die Herangehensweisen dieser beiden verwandten, aber eben doch unterschiedlichen Wissenschaften nivelliert noch soll der Versuch einer Vereinheitlichung der Perspektiven gemacht werden. Dennoch sind wir der Auffassung, dass zur Erfassung des komplexen Themas einer möglichen Reform der Vereinten Nationen sowohl die Politik-, als auch die Rechtswissenschaft wertvolle Beiträge liefern und in der offenen Diskussion zwischen beiden ein analytischer Mehrwert entstehen kann. Letztlich bleibt es dem Leser vorbehalten zu entscheiden, ob dies Herausgebern und Autoren gelungen ist. In Teil I führt Johannes Varwick mit einem Beitrag aus politikwissenschaftlicher Perspektive in die Thematik ein. Er argumentiert, dass neben der zentralen Rolle beziehungsweise den unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten ein Erklärungsschlüssel für die Reformresistenz der Vereinten Nationen auch in grundsätzlich divergierenden Einschätzungen hinsichtlich der Funktionsweise und den Strukturen des internationalen Systems liegt.
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Vorwort
In Teil II werden in sechs Beiträgen zentrale Organisationsfragen der Vereinten Nationen untersucht. Peter Hilpold nimmt zunächst aus rechtswissenschaftlicher Perspektive eine Bestandsaufnahme der Debatte um die Funktionen und die neuen Aufgaben des Sicherheitsrates vor. Volker Rittberger und Heiko Baumgärtner beleuchten die Debatte um die Reform des Sicherheitsrates und unterbreiten ein politikwissenschaftliches Erklärungsangebot für das (vorläufige) Scheitern dieses zentralen Reformvorhabens. Die deutsche Position zur Reform des Sicherheitsrates skizziert Ingo Winkelmann, der im Auswärtigen Amt selbst aktiv über Jahre an der deutschen Positionierung mitgewirkt hat. Christian Much, ebenfalls deutscher Diplomat in Diensten des Auswärtigen Amts, untersucht Chancen und Grenzen einer Revitalisierung der Generalversammlung, bevor Thorsten Benner dann seinerseits die Debatte um die Reform des Sekretariats der Vereinten Nationen aus der Sicht eines politikwissenschaftlichen Beobachters und Beraters der Politik aufgreift. Abschließend beleuchtet noch Beate Rudolf aus rechtswissenschaftlicher Perspektive den Reformbedarf und die Reformmöglichkeiten im Bereich der Vertragsgremien, die durch die wesentlichen Menschenrechtsschutzverträge geschaffen worden sind. Teil III widmet sich sodann in drei Beiträgen einem der Kernaufgabenfelder der Vereinten Nationen, nämlich der Wahrung und Sicherung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit. Zunächst analysiert Oliver Dörr aus rechtswissenschaftlicher Perspektive die zuletzt teilweise kontrovers geführte Debatte um das Gewaltverbot als zentrale völkerrechtliche Norm, bevor zwei Politikwissenschaftler auf weitere Themen der Reformagenda in diesem Bereich eingehen. Manuel Fröhlich widmet sich der Thematik einer Duty to Protect und sieht darin eine neue Verhaltensregel im Bereich der Friedenssicherung. Sven Bernhard Gareis schließlich geht auf die neue Kommission zur Friedenskonsolidierung ein und stellt diese in den allgemeinen Kontext der Perspektiven für die Friedenssicherung im Rahmen der Vereinten Nationen. Teil IV untersucht in drei Beiträgen einige Aspekte aus den Bereichen Entwicklung und Umwelt. Jens Martens beleuchtet aus der Sicht eines Vertreters einer Nichtregierungsorganisation die entwicklungspolitische Agenda nach dem Gipfeltreffen im September 2005 und sieht insoweit zahlreiche unerledigte Aufgaben. Adolf Kloke-Lesch, Thomas Helfen und Mario Sander von Torklus, alle im Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit mit Fragen der Vereinten Nationen befasst, analysieren die deutsche Rolle im Kontext der UN-Entwicklungspolitik. Zum Abschluss dieses Teils wirft Udo E. Simonis noch einen Blick auf die Umweltpolitik der Vereinten Nationen. Der abschließende Teil V analysiert in fünf Beiträgen die Perspektiven der VNReform. Den Auftakt machen dabei drei Politikwissenschaftler. Nachdem zu-
Vorwort
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nächst Jan Irlenkaeuser die Position der USA zu wichtigen Themen der Reform skizziert, stellt Alfredo Märker, der an der Schnittstelle von Politikberatung und Lobbyarbeit für die VN arbeitet die grundlegende Frage nach einer „neuen“ oder einer lediglich „erneuerten“ Organisation der Vereinten Nationen. Im Anschluss daran analysiert Manfred Knapp wichtige Probleme und nach wie vor offene Fragen der VN-Reform. Sabine von Schorlemer, die als Politikwissenschaftlerin und Völkerrechtlerin den interdisziplinären Ansatz des Buches geradezu idealtypisch in einer Person vereint, behandelt die Umsetzungschancen der zahlreichen Vorschläge des VN-Generalsekretärs, bevor Tono Eitel, Völkerrechtler und ehemaliger deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen, die Tragweite der vorgeschlagenen Charta-Änderungen skizziert. Die Veröffentlichung des Bandes knüpft an eine Expertenkonferenz zum Thema „Die Reform der Vereinten Nationen – Bilanz und Perspektiven“ an, die vom Institut für Politische Wissenschaft und dem Walther-Schücking-Institut in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und der Friedrich-Naumann-Stiftung Ende September 2005 in der Vertretung des Landes Schleswig-Holstein beim Bund stattgefunden hat. Bei Vorbereitung und Durchführung der Konferenz haben Frau Eva Lichtschlag (Landesvertretung SchleswigHolstein), Frau Carmen Thies (Walther-Schücking Institut), Frau Jana Windwehr (Institut für Politische Wissenschaft), Herr Alfredo Märker (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen) sowie Frau Jeanette Hassenmeier (FriedrichNaumann-Stiftung) wertvolle Beiträge geleistet. Allen Kooperationspartnern sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. Besonders gedankt sei auch der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und ihrer Generalsekretärin, Frau Beate Wagner, die nicht nur die Expertenkonferenz mitveranstaltet, sondern auch mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss das Erscheinen des Bandes ermöglicht hat. Die an der Konferenz beteiligten Vortragenden haben sich dankenswerterweise dazu bereit erklärt, ihre Vorträge, die jeweils nur ausschließlich ihre persönliche Meinung widerspiegeln, für die Drucklegung zu überarbeiten und den Anforderungen einer Buchpublikation anzupassen. Einzelne Beiträge wurden ergänzend zu der Konferenz in den Band aufgenommen; teilweise gehen diese auf eine Ringvorlesung am Institut für Politische Wissenschaft der CAU Kiel im Wintersemester 2005/2006 zum Thema „Die Rolle der Vereinten Nationen in der internationalen Politik“ zurück, die von der Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützt wurde. Allen Autorinnen und Autoren sei sehr herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit bei diesem Projekt und die pünktliche Lieferung der Beiträge gedankt.
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Vorwort
Unser abschließender Dank geht an Frau Marianne Nilsson vom WaltherSchücking Institut, die mit gewohnter großer Sorgfalt die Erstellung der Druckvorlagen übernommen hat, sowie dem Verlag Duncker & Humblot für die engagierte verlegerische Betreuung.
Kiel, im April 2006
Johannes Varwick, Andreas Zimmermann
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung Die Reform der Vereinten Nationen – politikwissenschaftliche Perspektiven Johannes Varwick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
II. Organisationsfragen Der UN-Sicherheitsrat – neue Aufgaben, neue Funktionen Peter Hilpold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Die Reform des Weltsicherheitsrats – Stand und Perspektiven Volker Rittberger und Heiko Baumgärtner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Deutschlands Position bei der Reform des Sicherheitsrats Ingo Winkelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Revitalisierung der UN-Generalversammlung – die unendliche Geschichte Christian Much . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 „Ineffizient und unverantwortlich?“: Die Doppelkrise des UN-Sekretariats – Diagnosen, Therapievorschläge, Genesungsaussichten Thorsten Benner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Reformbedarf und Reformmöglichkeiten im Bereich der UN-Vertragsgremien Beate Rudolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
III. Friedenssicherung Das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Vereinten Nationen Oliver Dörr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 „Responsibility to Protect“ – Zur Herausbildung einer neuen Norm der Friedenssicherung Manuel Fröhlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
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Inhaltsverzeichnis
Neue Perspektiven in der Friedenssicherung? Die Peacebuilding Commission der Vereinten Nationen Sven Bernhard Gareis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
IV. Entwicklung und Umweltfragen Die Entwicklungsagenda nach dem Millennium+5-Gipfel 2005 – eine Checkliste unerledigter Aufgaben Jens Martens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Deutsche Entwicklungspolitik und Vereinte Nationen Adolf Kloke-Lesch, Thomas Helfen und Mario Sander von Torklus . . . . . . . . . . . . . 213 Reform der Umweltpolitik der Vereinten Nationen Udo E. Simonis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
V. Ausblick „In Order to Form a More Perfect Union“ – Die amerikanische Politik zur Reform der Vereinten Nationen Jan C. Irlenkaeuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 „Neue“ versus „erneuerte“ Vereinte Nationen – Überlegungen im Anschluss an Kofi Annan, Hobbes Foole und andere Ansichten Alfredo Märker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Probleme und offene Fragen der UN-Reform Manfred Knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Chancen für die Umsetzung der Reformvorschläge des UN-Generalsekretärs Sabine von Schorlemer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Bedeutung und Tragweite der vorgeschlagenen Charta-Änderungen Tono Eitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Die Reform der Vereinten Nationen – politikwissenschaftliche Perspektiven Von Johannes Varwick
A. Die Reform der Vereinten Nationen als „unendliche Geschichte“ Die Organisation der Vereinten Nationen (VN) macht, wie so oft in ihrer mehr als 60-jährigen Geschichte, Sprünge auf der Beliebtheitsskala wie sonst kaum eine internationale Organisation. Den „VN-Enthusiasten“, denen die Organisation für alles Gute und Schöne dieser Welt verantwortlich zu sein scheint und die Defizite immer nur den Mitgliedstaaten anlasten, stehen die Fundamentalkritiker gegenüber, welche kein gutes Haar am vermeintlichen „Zentralorgan des Multilateralismus“ lassen und die VN in wichtigen Fragen der internationalen Politik für irrelevant halten. Mit der Realität haben diese politischen Extrempositionen wenig gemein. Dennoch spielt die Organisation in den Diskussionen über die Zukunft der internationalen Politik eine eigentümliche Rolle. Obwohl bereits mehr als 60 Jahre alt, hat es mitunter den Anschein, als müsste die Weltorganisation erst noch gegründet werden. Denn sei es die Friedenssicherung, die Stärkung der Menschenrechte, die Bewältigung der globalen Umweltprobleme oder der Kampf gegen den internationalen Terrorismus mitsamt seinen vielschichtigen Ursachen – es gibt kaum ein globales Problem, bei dessen Bearbeitung den VN nicht eine Schlüsselrolle zugeschrieben würde. Andererseits wird im gleichen Atemzug darauf hingewiesen, dass es dafür einer Erneuerung der VN und eines grundsätzlichen Umdenkens zumal der mächtigen Mitgliedstaaten bedürfe. So ist die Forderung nach einer Reform der Vereinten Nationen auch fast schon so alt wie die Organisation selbst und mithin eine wahrhaft „unendliche Geschichte“.1 1
K. T. Paschke, UN-Reform – die unendliche Geschichte, in: Vereinte Nationen 5 (2005), 170-173. Grundlegend zur VN-Reform in unterschiedlichen Entwicklungsphasen der VN siehe etwa: R. Wolfrum (Hrsg.), Die Reform der Vereinten Nationen: Möglichkeiten und Grenzen, Berlin 1989; K. P. Saksena, Reforming the United Nations. The Challenge of Relevance, New Delhi u.a. 1993; K. Hüfner (Hrsg.), Die Reform der Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwischen Krise und Erneuerung, Opladen 1994;
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Johannes Varwick
In diesem Beitrag soll, neben einer kurzen Skizzierung bisheriger wichtiger Reformetappen, ein politikwissenschaftliches Erklärungsangebot für die Schwierigkeiten einer grundlegenden Reform der Vereinten Nationen unterbreitet werden. Es wird argumentiert, dass neben der zentralen Rolle bzw. den unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten ein Erklärungsschlüssel auch in grundsätzlich divergierenden Einschätzungen über die Funktionsweise und die Struktur des internationalen Systems liegt.2
I. Die VN als entwicklungsfähige Organisation Das VN-System spiegelt heute in seiner Vielfalt, in der großen Zahl seiner Sonder- und Spezialorganisationen, seiner Fonds und Programme und in seiner hochkomplexen Struktur die häufig an Trends und Gruppeninteressen orientierte Willensbildung seiner Mitgliedstaaten wider. Die Organisation der Vereinten Nationen blickt auf eine Geschichte zurück, die auch als ein permanenter Prozess des Wandels und der Reformen beschrieben werden kann. In diese Zeitspanne fallen Beginn und Ende des lähmenden Ost-West-Gegensatzes ebenso wie der Prozess der Dekolonisation, der den Vereinten Nationen nicht nur eine beträchtliche Vergrößerung ihrer Mitgliederzahl bescherte, sondern sie zugleich vor vielfältige Herausforderungen bei der Bewältigung des Verhältnisses zwischen den Staaten der nördlichen und den Entwicklungsländern der südlichen Erdhalbkugel stellte. Zu den bereits bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 erkannten und antizipierten Risiken und Problemen traten neue globale Fragen wie die Verknappung natürlicher Ressourcen, die Zerstörung der Umwelt und die voranschreitende Klimaveränderung, das rasante Wachstum der Weltbevölkerung sowie neue Formen der Bedrohung des Friedens und der gesamten Menschheit durch Massenvernichtungswaffen und innerstaatliche Konflikte hinzu. In diesen ganz verschiedenartigen Prozessen haben sich die Vereinten Nationen als eine entwicklungsfähige und integrative Organisation erwiesen, die sich parallel zur Verwirklichung ihres Universalitätsanspruches bezüglich der MitgliederM. Knapp, 50 Jahre Vereinte Nationen: Rückblick und Ausblick im Spiegel der Jubiläumsliteratur, Zeitschrift für Politikwissenschaft 2 (1997), 423-481; G. Bhatta, Reforms at the UN: Contextualising the Annan Agenda, Singapore 2000; J. Müller (ed.), Reforming the United Nations. The Quiet Revolution, The Hague 2001. 2 Teile dieses Beitrags knüpfen an folgende Überlegungen an: J. Varwick, Die Reform der Vereinten Nationen. Weltorganisation unter Anpassungsdruck, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (2004), 37-45; J. Varwick, Völkerrecht und internationale Politik, in: Internationale Politik 12 (2005), 115-121; S. B. Gareis/J. Varwick, Die Vereinten Nationen, Aufgaben, Instrumente und Reformen, 4. Aufl., Opladen 2006, 59-70, 263-319.
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struktur schrittweise auch bemerkenswerte Kompetenzen und Kapazitäten zum Umgang mit diesen globalen Herausforderungen erwarb. Allerdings beschränkten sich die Vereinten Nationen in ihrem Lern- und Reformprozess ganz überwiegend auf die Erweiterung bestehender Gremien sowie auf die Schaffung immer neuer Spezialorgane, Programme und Sonderorganisationen, die dem VN-System hinzugefügt wurden. Damit jedoch geriet nach und nach ein Mechanismus außer Kontrolle, der von den Gründern der Weltorganisation einst durchaus bewusst als Ordnungsprinzip vorgesehen war. Die Vereinten Nationen sollten als eine Art „Planetensystem“ konstruiert werden, dessen Kernorganisation ein eher loses Beziehungsgeflecht von Institutionen und Organisationen mit dem Ziel einer effektiven Zusammenarbeit koordinieren sollte. Dabei sollte die Kernorganisation auf das aggregierte Wissen des Gesamtsystems zurückgreifen, umfassende Strategien formulieren und diese dann in abgestimmter Weise umsetzen können.3 Unterschätzt wurden bei dieser ursprünglichen Konzeption jedoch die zentrifugalen Kräfte dieses Systems, die aus den divergierenden Interessen einzelner und Gruppen von Staaten resultieren und zu einer weitgehenden Autonomie der Sonderorganisationen sowie zu einem wachsenden Bewusstsein der Eigenständigkeit auch subsidiärer Einrichtungen der Organisation selbst geführt haben. Im Ergebnis entstand ein VN-System, in dem sich vertikale Koordination sowie horizontale Kooperation äußerst schwierig gestalteten und das sein vorhandenes Potential nur unzureichend in effektives Handeln umzusetzen vermochte. Die durch den Ost-West-Gegensatz bewirkte Handlungsunfähigkeit der Vereinten Nationen in ihren Kernzuständigkeitsfeldern verschleierte lange Zeit nicht nur die Dysfunktionalität dieser inflationären Organisationsentwicklung, sondern bestärkte die handelnden Staaten und Staatengruppen geradezu in ihrem Vorgehen. Der weitgehende Ausfall des Sicherheitsrats als Macht- und Entscheidungszentrum der Vereinten Nationen führte zu einem Bedeutungszuwachs der Generalversammlung, in der den Entwicklungsländern der „Dritten Welt“ die Mehrheit zufiel. Für diese neu entstandenen Staaten bildete die Generalversammlung das entscheidende Forum zur formal gleichberechtigten Artikulation ihrer Interessen und Anliegen.4 Ihr Bestreben nach Schaffung neuer Institutionen zur Befassung mit den spezifischen Problemen der Entwicklungsländer wurde durch beide Großmächte des Ost-West-Konflikts und ihre Verbündeten aus letztlich einer gemeinsamen Position heraus unterstützt: Die neu geschaffenen Gremien eigneten sich in probater Weise zur Ableitung der Forderungen von Seiten der Entwicklungsländer nach größerer Partizipation und Gerechtigkeit in einen institutionellen 3
Vgl. E. Childers/B. Urquhart: Renewing the United Nations System, New York 1994,
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Siehe hierzu den Beitrag von Christian Much im vorliegenden Band.
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Aktivismus, der die bestehende Grundstruktur der globalen Machtverhältnisse nicht in Frage stellen konnte. Eine ins Grundsätzliche gehende Reformdiskussion über die neuen Aufgaben der Weltorganisation sowie eine daran orientierte Ausrichtung ihrer Instrumente und Arbeitsweisen unterblieb indes.
II. Reformvorschläge nach dem Epochenwechsel Dieser Zustand änderte sich, als mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes die Vereinten Nationen in einer Reihe von Bereichen begannen, ihre Rolle als Forum der Staatengemeinschaft mit der eines Akteurs in der internationalen Politik zu vertauschen. Angesichts der neu gewonnenen Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates einerseits und der durch die sich einstellenden Rückschläge offenkundig werdenden strukturellen Defizite andererseits entspann sich eine Debatte, in der zwei Hauptrichtungen von Reformvorschlägen ausgemacht werden können: – Die Angehörigen der Blockfreien-Bewegung, einer Gruppe von mehr als 100 Staaten vornehmlich aus dem Bereich der Entwicklungs- und Schwellenländer, mussten zunehmend ihre beschränkten Einflussmöglichkeiten nach dem Wiedererstarken des Sicherheitsrates erkennen. Seit Beginn der 1990er Jahre drängten sie daher stärker als zuvor auf bessere Partizipationsmöglichkeiten in den wesentlichen Entscheidungsprozessen der Organisation wie auch auf weitergehende Mitsprache in den durch die Industriestaaten dominierten BrettonWoods-Organisationen.5 – Die Industriestaaten und allen voran die USA wiederum monierten die mangelnde Effektivität des Systems der Vereinten Nationen und forderten schlankere, transparentere und weniger kostenintensive Strukturen. Das Argument der Effektivität indes wurde insbesondere von den Entwicklungsländern schnell als Vorwand für die Instrumentalisierung der Vereinten Nationen zur Interessendurchsetzung der Industriestaaten aufgefasst.6 Die Stichworte „Partizipation“ und „Effektivität“ entwickelten sich in dieser Diskussion zu einander faktisch ausschließenden Ansätzen. Vor allem in den USA wurden die Vereinten Nationen um die Mitte der 1990er Jahre zum „Prügelknaben der Politik“. Das „Draufhauen“ auf die VN (UN-bashing) war beliebt, wie am New Yorker East-River beklagt wurde. Was in Jahrzehnten unter tätiger Mit5 Siehe etwa Saksena (Anm. 1); South Centre (ed.), For A Strong and Democratic United Nations: A South Perspective on UN Reform, Geneva 1996. 6 Vgl. D. Bourantonis, Reform of the UN-Security-Council and the Non-Aligned States, in: International Peacekeeping 1 (1998), 89-109.
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wirkung nicht zuletzt auch der USA selbst entstanden war, fand sich nun als Gegenstand pointierter Kritik: institutioneller Wildwuchs, ein schwerfälliger Apparat mit einem zu großen und dazu inkompetenten Personalbestand in verkrusteten Strukturen, anachronistische Arbeitsweisen und ein sorgloser Umgang mit dem Geld der Mitgliedstaaten. Als Therapie zur Bewältigung ihrer Probleme wurde den Vereinten Nationen von den USA die Konzentration auf ihre Kernaufgaben in der internationalen Friedenssicherung verordnet, einhergehend mit einem downsizing ihres Apparates.7 Durch die Zurückhaltung von Beiträgen zum ordentlichen Haushalt wie auch für die Friedenssicherung wurde versucht, entsprechende Reformen zu erzwingen. Hinter der institutionellen Schelte stand indes immer unverhohlener die Abkehr der verbliebenen Supermacht vom Multilateralismus als Ordnungsmechanismus der internationalen Beziehungen. Der Gründungskonsens der Vereinten Nationen, globale Probleme gemeinsam unter Hintanstellung partikularer nationaler Interessen zu lösen, wurde zunehmend in Frage, den Wilsonian utterances eine neorealistische Renaissance nationalstaatlicher Kompetenzen entgegen gestellt8 und die Vereinten Nationen gar mit einem verstorbenen Kranken, der nicht mehr geheilt, sondern nur noch in irgendeiner neuen Form wiedergeboren werden kann, verglichen.9 Reformvorschläge eher institutionalistisch orientierter Experten, die den konstruierten Gegensatz von Partizipation und Effektivität zu überwinden versuchten, konnten sich demgegenüber nicht durchsetzen.10 Diese Vorschläge gingen von der Voraussetzung aus, dass die Mitgliedstaaten den politischen Willen und die Ausdauer hätten, eine Reform ihrer Weltorganisation in systematischer Weise zu diskutieren und zu beschließen. Ein derartiges Vorgehen müsste zunächst mit der Analyse der globalen Herausforderungen und der Beantwortung einiger grundlegender Fragen nach der Ordnung des internationalen Systems beginnen:11
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Siehe hierzu den Beitrag von Jan C. Irlenkaeuser im vorliegenden Band, dessen Einschätzungen in Bezug auf die Rolle der USA vom Verfasser gleichwohl nicht durchweg geteilt wird. 8 Vgl. A. Eban, The U.N. Idea Revisited, in: Foreign Affairs 5 (1995), 39-55 (50). 9 I. M. Laulan, Il faut réformer l’ONU, in: Defense Nationale 12 (1996), 45-55 (51). 10 Etwa Childers/Urquhart (Anm. 3); R. Weizsäcker/Q. Moeen, The United Nations in its Second Half Century. A Report of the Independent Working Group on the Future of the United Nations, New York 1995; P. Kennedy/B. Russett: Reforming the United Nations, in: Foreign Affairs 5 (1995), 56-71. 11 Vgl. B. Russett, Ten Balances for Weighing UN-Reform Proposals, in: Political Science Quarterly 2 (1996), 259-269 (261).
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– Bis zu welchem Grad kann den Staaten die Erosion ihrer Souveränität zugunsten kollektiver Mechanismen zugemutet werden? – Inwieweit halten sich die Staaten an gemeinsam verabredete Beschlüsse und in welchem Maße ist die Verletzung, Missachtung oder mangelnde Unterstützung selbiger hinnehmbar? – Wie können Macht und Recht in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht und widerstreitende Interessen in konstruktiver Weise ausgeglichen werden? – Wie gestalten sich Global-Governance-Prozesse mit Staaten, internationalen Organisationen, Akteuren der Zivilgesellschaft und der globalen Wirtschaft als zentralen Akteuren? Mit diesen Fragen im Hinterkopf wäre es theoretisch denkbar gewesen, ein gänzlich neues institutionelles Design einer „Weltorganisation der Dritten Generation“12 zu entwerfen und ihren einzelnen Organen die erforderlichen Kompetenzen zuzuweisen, aus denen sich dann wiederum interne Strukturen und Arbeitsabläufe ergeben. Die weltpolitische Situation in den 1990er Jahren bot jedoch – anders als 1945 – keinen Rahmen, in dem die Kreation einer von Grund auf erneuerten Weltorganisation hätte erfolgen können. 1945 hatte eine wesentlich kleinere Staatengemeinschaft unter dem Trauma zweier vernichtender Menschheitskriege gestanden, zu deren künftiger Vermeidung die – wenn auch damals nur widerwillige – Zustimmung zur Aufgabe von Souveränitätsrechten sowie zur Privilegierung einer kleinen Gruppe von Ordnungsmächten als erforderlich und angemessen betrachtet wurde. Die globalen Probleme der 1990er Jahre waren demgegenüber zu abstrakt und auch zu vielschichtig, um den für die Neuorientierung der Organisation und die Neuformulierung der Charta erforderlichen Einigungsdruck auf die Mitgliedstaaten zu bewirken.
III. Ein neues „Fenster der Gelegenheit“? Wenn es in der internationalen Politik so etwas wie ein „Fenster der Gelegenheit“ geben sollte, dann sah es im Jahr 2005 zeitweise so aus, als ob dieses Fenster vergleichsweise weit offen stand. Denn es bestand weitgehender Konsens darüber, dass die Vereinten Nationen reformiert werden müssten, weil Strukturen und Verfahren nicht mehr den weltpolitischen Realitäten entsprächen. VN-Generalsekretär Kofi Annan hat seitdem bei unzähligen Gelegenheiten an die Mitgliedstaa12 M. Bertrand/D. Warner (eds.), A New Charter for A Worldwide Organization (The Hague 1996).
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ten appelliert, die Regeln und Institutionen der VN einer grundlegenden und umfassenden Reform zu unterziehen. „Wir sind an einem Scheideweg angelangt. Dieser Augenblick könnte nicht weniger entscheidend sein als das Jahr 1945, als die Vereinten Nationen gegründet wurden“.13 Insbesondere in Folge des IrakKrieges 2002/2003 und der damit sichtbar gewordenen Machtlosigkeit der Weltorganisation hatte die Reformdebatte an Intensität zugenommen und auch die Umsetzungschancen hatten sich verändert.
Übersicht Wichtige Reformberichte im Vorfeld des Weltgipfels 2005 Bericht
Titel
Veröffentlichung
Bericht für die Beziehungen zwischen den VN und der Zivilgesellschaft
Wir, die Völker: Zivilgesellschaft, die VN und Global Governance
Juni 2004
Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel
Eine sichere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung
Dezember 2004
Bericht des VNMillenniumsprojekts
In die Entwicklung investieren: Ein praktischer Plan zur Erreichung der MillenniumsEntwicklungsziele
Januar 2005
Bericht des VNGeneralsekretärs
In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle
März 2005
Beschluss der 191 VNMitgliedstaaten
Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005
September 2005
13 So etwa K. Annan, Rede vor der 58. VN-Generalversammlung am 23.9.2003, in: Internationale Politik 11 (2003), 116-118 (117). Siehe dazu auch den Beitrag von Alfredo Märker im vorliegenden Band.
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Im März 2005 hatte Annan – nach intensiver Beratung durch verschiedene Expertengremien, die jeweils im Auftrag des Generalsekretärs eine Bestandsaufnahme in wichtigen Tätigkeitsbereichen der VN vorlegen sollten (siehe Übersicht) – einen Reformplan mit dem Titel „In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“ vorgelegt, der die umfassendste Reform der VN in ihrer Geschichte zum Ziel hatte. Doch von den Berichten blieb nach den Diskussionen in den Mitgliedstaaten sowie den Entscheidungen anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Vereinten Nationen im September 2005 in der VN-Generalversammlung nicht viel übrig. Politische Bedeutung in dem Sinne, dass die zahlreichen Ideen in ganz unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern der Vereinten Nationen aufgegriffen und umgesetzt worden wären, haben sie bis auf Weiteres nicht. Erste Bewertungen der Abschlusserklärung fallen daher „mehr als ernüchternd“ aus,14 und selbst Generalsekretär Annan räumte ein: „we have not yet achieved the sweeping and fundamental reform that I and many others believe is required. Sharp differences, some of them substantive, and legitimate, have played their part in preventing that“.15
Insbesondere die vertagte Entscheidung über die Reform des Sicherheitsrats ist, neben der Ausklammerung des Bereichs nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung, das wohl größte Versäumnis des Gipfeltreffens.16 An anderer Stelle erklärte Annan, er habe „wohlüberlegt die Latte sehr hoch gelegt, da man in internationalen Verhandlungen nie alles bekommt, worum man bittet“.17 In der Sache sei das Dokument immer noch ein „bemerkenswerter Ausdruck der Einheit der Welt.“18 Allerdings ist dieses Vorgehen in der Wissenschaft kritisiert worden. Der deutlich formulierte Anspruch, dass die VN einen neuen Gründungskonsens (New San Francisco Moment) benötigten, sei ein strategischer Fehler des Generalsekre14
B. Wagner, Verpasste Gelegenheit. Vor allem die USA haben den UN-Reformgipfel torpediert, in: Internationale Politik, 10 (2005), 76-83. Siehe auch die weiteren Beiträge im vorliegenden Band, insbesondere von Alfredo Märker, Manfred Knapp, Sabine von Schorlemer und Tono Eitel. 15 K. Annan, The Secretary-General Address to the World Summit 2005, New York 2005. 16 Dies ist insofern weniger eine institutionelle, als eine herausragende inhaltliche Frage, als dass etwa im Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel vom Dezember 2004 (VN-Dok A/59/565) eine repräsentativere Zusammensetzung dieses zentralen Gremiums als Schlüssel für die künftige Beachtung und Relevanz von Sicherheitsratsentscheidungen gesehen wird. Siehe hierzu auch den Beitrag von Rittberger/Baumgärtner im vorliegenden Band. 17 K. Annan, Kofi, Ich habe die Latte sehr hoch gelegt, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.09.2005, 3. 18 Annan (Anm. 17), 3.
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tärs gewesen. Die damit geweckten hohen Erwartungen seien schlicht unerfüllbar, und eine der vorhersehbaren Konsequenzen sei bei diesen hohen Maßstäben ein Scheitern des Gipfeltreffens gewesen.19
B. Das internationale System und die VN-Reform Die Beurteilung der praktischen Erfolgschancen der Vereinten Nationen hängt auch von grundsätzlichen Einschätzungen über Funktionsweise und Struktur des internationalen Systems ab. Dabei kommen unterschiedliche Selektions-, Ordnungs- und Erklärungsschemata (also Theorien) zum Tragen, von denen im Folgenden vier knapp und in ihren Grundzügen angesprochen werden sollen: die realistische, die idealistische, die institutionalistische und die konstruktivistische Schule. Theorien der internationalen Beziehungen versuchen, allgemeine Aussagen über das Beziehungsgeflecht grenzüberschreitender Interaktionen zu treffen, wobei verschiedene Dimensionen zu unterscheiden sind. Während die ontologische Dimension Aussagen über die Sichtweise des Betrachters auf den Untersuchungsgegenstand im Sinne eines wissenschaftlichen Weltbildes macht, bezieht sich die epistemologische Dimension auf die Art und Weise der Erkenntnisgewinnung und das dahinter stehende Wissenschaftsverständnis. Schließlich zielt die normative Dimension auf die politische Praxis und versucht im Sinne einer politischen Handlungsanleitung zu begründen, was und warum sein soll.20 Unterschiedliche theoretische Annahmen führen also nicht nur zu unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Reformchancen der Vereinten Nationen sondern sind auch konstitutiv für das Verhalten wichtiger Akteure.
I. Die realistische Schule Die Anhänger der so genannten realistischen Schule sind der Auffassung, dass das Streben nach Macht sowie das Eigeninteresse der Staaten die wichtigsten Kategorien zum Verständnis internationaler Politik darstellen, weil die souveränen 19
Vgl. M. Berdal, The UN’s Unnecessary Crisis, in: Survival 2005 (3), 7-32 (7-9). Siehe dazu M. Spindler/S. Schieder, Theorie(n) in der Lehre von den internationalen Beziehungen, in: S. Schieder/M. Spindler (Hrsg.), Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen 2003, 7-33 (18 f). Bei der Darstellung der Theorien geht es an dieser Stelle um die Einschätzung der jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen, Verlaufsformen und erwarteten Wirkungen internationaler Zusammenarbeit im Hinblick auf die Vereinten Nationen und nicht etwa um eine detaillierte Darstellung der theoretischen Ansätze. 20
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Nationalstaaten keiner übergeordneten Instanz mit Sanktionskompetenz unterworfen sind und auch nicht sein können. Das Fehlen einer übergeordneten Instanz im internationalen System, die eine verbindliche Einhaltung gemeinsamer Entscheidungen und Grundprinzipien gewährleisten würde, führt dazu, dass Staaten durch die Akkumulation von Macht ihre Existenz als souveräne Handlungseinheit zu sichern versuchen. In einem derartigen Zustand treibt ein „aus gegenseitiger Furcht und gegenseitigem Misstrauen geborenes Unsicherheitsgefühl die Einheiten in einen Wettstreit um Macht dazu, ihrer Sicherheit halber immer mehr Macht anzuhäufen, ein Streben, das unerfüllbar bleibt, weil sich vollkommene Sicherheit nie erreichen lässt“.21 Die Nationalstaaten müssten ihren machtpolitischen Souveränitätsanspruch aufgeben und sich einer gemeinsamen Willensbildung unterwerfen, um sich den historischen Erfordernissen zu stellen, was für sie aber keine akzeptable Option ist. Der Nationalstaat alter Prägung kann den an ihn gestellten Forderungen – nicht zuletzt im Bereich der Friedenssicherung – nicht mehr gerecht werden. Er ist im Gegenteil das zentrale Problem, denn der anarchische Zustand der Staatenwelt impliziert, dass Krieg ein „notwendiges, natürliches und unausweichliches Produkt dieser Ordnung“ ist.22 Durch dieses Sicherheitsdilemma in einem anarchischen internationalen Selbsthilfesystem kommt es fast zwangsläufig zu Kriegen und nullsummenspielartigen Auseinandersetzungen oder aber zu einem permanent bedrohten Gleichgewicht der Kräfte. Die Realisten sehen deshalb in der rein intergouvernementalen Zusammenarbeit der Nationalstaaten die einzige Möglichkeit, das Gleichgewicht der Kräfte zu erhalten und damit Kriege zu verhindern und Zusammenarbeit zu fördern. In dieser Sichtweise erfüllen internationale Organisationen „lediglich derivative, aus der Souveränität und den Interessen ihrer Mitglieder abgeleitete Funktionen, sind also durch die Handlungsbereitschaft der Mitglieder in ihrer Zielsetzung und Aktionsfähigkeit klar determiniert“.23 Realisten empfehlen die traditionellen Mittel zur Gewährleistung von Sicherheit wie nationale Streitkräfte, Bündnisse und das gemeinsame Vorgehen der mächtigen und reichen Staaten gegen potentielle Unruhestifter auf Ad-hoc-Basis.
21
J. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart 1961, 130. I. L. Claude, Swords into Plowshares. The Problems and Progress of International Organizations, New York 1970, 372. 23 A. Siedschlag, Neorealismus, Neoliberalismus und Postinternationale Politik. Beispiel internationale Sicherheit – Theoretische Bestandsaufnahme und Evaluation, Opladen 1997, 227. 22
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II. Die idealistische Schule Für Wissenschaftler in der Tradition der idealistischen Schule stellen internationale Organisationen hingegen ein analytisches Konstrukt dar, das weniger eine Bezeichnung für eine bestimmte institutionelle Gattung, sondern „eine normativfinale Vorstellung von der Entwicklung der internationalen Beziehungen“24 umfasst. Sie heben nicht so sehr auf den vermeintlich anarchischen Grundzustand des internationalen Systems ab, bei dem keine über dem Staat stehende Autorität existiert, sondern fokussieren Kooperationsformen, welche die internationale Anarchie regulieren sollen. Sie sind zudem der Auffassung, dass internationale Kooperation für alle Beteiligten Vorteile bringt und dass die Beziehungen zwischen Individuen, verschiedenartigen Organisationen und Staaten allmählich zu einer Art universeller Gemeinschaft führen, die aus sich heraus friedensstiftend wirkt. Charakteristisch für viele Situationen der internationalen Politik sind demnach nicht Nullsummen-Spiele, sondern Variable-Summen-Spiele. Dabei fallen den Akteuren Gewinne zu, die durch unilaterales Handeln nicht erzielt werden können. Durch die Herausbildung verbindlicher Regelwerke könnte demnach eine zivilisierte Weltgemeinschaft hervorgebracht werden, die aufgrund eines gemeinsamen Lernprozesses ihre Konflikte nicht mehr mit Gewalt löst. So begreift etwa Klaus Dicke25 internationale Organisationen als „Katalysator, Forum und Form“ zwischenstaatlicher Kooperation, die den Staaten einerseits als Instrument der Zusammenarbeit dienen und gleichzeitig einen Ordnungsrahmen darstellen, der Ansätze zu Kooperationspflichten enthält und Kooperation auch normativ determiniert. Dicke weist damit gleichzeitig auf den normativen Aspekt des Konzepts internationaler Organisationen hin, dem die Idee des Rechts und des Friedens zugrunde liegt: „In dieser Hinsicht besagt der normative Gehalt des Konzepts internationaler Organisationen, dass sie die Imperative des Friedens und der Völkerrechtsordnung darstellen und zugleich Realisierungsmöglichkeiten anbieten. Diese Realisierungsmöglichkeiten indessen werden durch vielfältige Interessen und politische Erfahrungen bedingt.“26
24
V. Rittberger, Internationale Organisationen, Theorie der, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, München 1991, 363-372 (363). 25 K. Dicke, Effizienz und Effektivität internationaler Organisationen. Darstellung und kritische Analyse eines Topos im Reformprozess der Vereinten Nationen, Berlin 1994, 317-333. 26 Dicke (Anm. 25), 332.
26
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III. Die institutionalistische Schule In den vergangenen Jahren hat zudem die in idealistischer Tradition stehende, aber realistische Elemente aufgreifende so genannte institutionalistische Schule an Einfluss gewonnen. Institutionalisten halten im Unterschied zu Realisten stabile internationale Kooperation eher für möglich und schreiben darüber hinaus internationalen Institutionen, die einen bestimmten Politikbereich normativ verregeln, einen größeren Einfluss auf die Interessen und das Verhalten der Staaten zu. Für die Relevanz des Institutionalismus sind jedoch zwei Grundvoraussetzungen notwendig: Die Akteure müssen erstens gemeinsame Interessen besitzen, d.h., dass sie einen erfahrbaren Vorteil durch Kooperation haben oder erwarten dürfen. Zweitens müssen Variationen im Institutionalisierungsgrad substantielle Effekte auf das Verhalten der Staaten ausüben, denn wenn der Grad der Institutionalisierung beschränkt oder konstant wäre, würde es keinen Sinn machen, institutionelle Veränderungen hervorzuheben, um das Verhalten von Staaten zu analysieren. Die Grundthese des Institutionalismus lautet demnach, dass Variationen in dem Grad der Institutionalisierung internationaler Politik signifikante Auswirkungen auf das Verhalten der Regierungen haben. Dies bedeutet nicht, dass Staaten bei ihren Aktionen die realistischen Machtprämissen außer Acht lassen würden. Kooperation und Integration wird nicht im idealistischen Sinne als „vernünftiger“ und damit relativ einfach zu erreichender Prozess verstanden, sondern ist sowohl schwierig zu initiieren als auch zu erhalten. Aber staatliche Aktionen hängen zu einem beträchtlichen Grad von der bestehenden institutionellen Ordnung ab. Nach Robert Keohane haben solche Institutionen regulative und konstitutive Aspekte: sie ermöglichen Staaten Aktionen, die sonst nicht vorstellbar wären, reduzieren die Transaktionskosten und beeinflussen das Rollenverhalten von Staaten in Bezug auf ihre Interessenvorstellungen. Zudem erhalten Staaten durch internationale Organisationen verlässliche Informationen über das Verhalten anderer Staaten, wodurch wiederum Vertrauen geschaffen und Angst abgebaut wird.27 Es wird angenommen, dass zwischen der Form einer Institution – also der Mitgliederstruktur und den Regelsystemen – und ihrer Funktion – also der ausgeübten Aktivität – ein enger Zusammenhang besteht. Veränderungen in der Form führen zu geänderten Funktionen und umgekehrt.
27
R. O. Keohane, International Institutions and State Power, Boulder 1989, 150 f.
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IV. Die konstruktivistische Schule In jüngster Zeit hat zudem eine wissenschaftliche Strömung die Debatte über das Verhalten von Staaten und die Rolle von internationalen Organisationen um eine Reihe von Annahmen und Sichtweisen bereichert, die als konstruktivistische Schule bezeichnet wird. Der Konstruktivismus beruht im Kern auf der Erkenntnis, dass Wirklichkeit immer Erfahrungswirklichkeit ist, dass die begriffliche Wahrnehmung keineswegs nur abbildet, sondern gestaltet, die Wirklichkeit konstruiert. Folglich schaut diese Richtung vornehmlich auf die Ideen, die normativen Grundlagen und kulturellen Hintergründe politischen Handelns. Realität wird nicht als objektive Realität aufgefasst, sondern überwiegend als das Ergebnis von sozialen Konstruktionsprozessen. Damit werden Strukturmerkmale wie die im Realismus unterstellte Anarchie des internationalen Systems oder die Interessen von Staaten nicht als objektive Gegebenheiten gesehen, sondern vielmehr darauf hingewiesen, dass diese von den Akteuren selbst hervorgebracht werden und damit veränderbar sind. Mit neuen Ideen, Werten, Regeln und Normen können nachhaltige politische Veränderungen erreicht werden. Ausgehend von der Behauptung, dass es sich bei den VN vornehmlich um eine internationale Bürokratie handelt, werden von Konstruktivisten die typischen Entscheidungsmuster und Wirkungsweisen internationaler Organisationen untersucht. Wie jede andere Bürokratie sind demnach auch die VN sowie ihre zahlreichen Sonderorganisationen und Spezialorgane durch ein breites Spektrum allgemeiner Regeln und Verfahren gekennzeichnet, durch welches sie sich nicht nur selbst als System etablieren, sondern gleichzeitig die soziale Welt konstruieren. Dementsprechend werden die VN in ihrer Eigenschaft als internationale Bürokratie als autonomer Akteur der Weltpolitik betrachtet, womit die Theorie sich unmissverständlich in Opposition zu den weit verbreiteten (neo-)realistischen Anschauungen begibt. Internationale Organisationen und insbesondere die VN verfügen demnach in konstruktivistischer Perspektive über eine beträchtliche Macht, soziale Realitäten und damit auch die Interessen der Staaten zu beeinflussen, ja diese zielgerichtet zu manipulieren. Diese Erkenntnis beinhaltet, dass internationale Organisationen sich eigenständig, d.h. unter Umständen auch ungeachtet der Präferenzen ihrer Mitgliedstaaten, wandeln können. Angesichts der beträchtlichen Macht, die dieser Ansatz internationalen Organisationen und insbesondere den VN zuspricht, aber auch angesichts der gravierenden Fehlfunktionen, die eine solche Bürokratie oftmals aufweist, liegt die Frage nach der Legitimität derartiger bürokratischer Einrichtungen selbstverständlich auf der Hand. Insgesamt zeichnet dieser konstruktivistische Ansatz ein differenziertes Bild internationaler Organisationen, das sich weit von den gängigen Vorstellungen
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insbesondere der realistischen Schule entfernt. So konstatieren die Autoren, dass die konstitutive Macht einer internationalen Organisation (power as constitution) zu einer beherrschenden Macht (power as domination) werden kann: „The ability of international organizations to frame problems as global and to use the discourse of the international community to justify and legitimate their intervention in domestic, interstate, and transnational spaces represents not only an exercise of power as constitution but also, at times, an exercise of power as domination.“28
Nach dieser Theorie wird tatsächlich zumindest in den Bereichen der moralischen Autorität sowie der Autorität durch Expertenwissen als zunehmend wichtigen Quellen der Macht die in allen Realismus-Spielarten unterstellte Anarchie im internationalen System – bei der es sich aus konstruktivistischer Perspektive ohnehin um eine konstruierte handelt – durch internationale Organisationen als themenspezifisch übergeordnete Instanzen durchbrochen, was die Kooperationschancen verbessert.
C. Bilanz: Reform als mühsamer und langfristiger Prozess I. Sichtweisen internationaler Organisationen In funktionaler Hinsicht lassen sich internationale Organisationen im Allgemeinen und die Vereinten Nationen im Besonderen – abgeleitet aus den skizzierten theoretischen Annahmen – in dreifacher Hinsicht differenzieren:29 – Die erste Sichtweise sieht diese vornehmlich als Instrumente staatlicher Diplomatie, d.h., Staaten instrumentalisieren internationale Organisationen, um ihre eigenen Interessen mit ihrer Hilfe in einer anarchischen Umwelt durchzusetzen. Abmachungen sind wenig verlässlich, weil ein Partner sie je nach Interesse jederzeit brechen und das kooperative Verhalten der anderen Seite ausnutzen kann. – Eine zweite Sichtweise interpretiert diese vornehmlich als Arenen in der internationalen Politik, die als diplomatische Dauereinrichtungen unterschiedliche Politikfelder auf unterschiedlichen Kooperationsniveaus behandeln und die im 28
M. Barnett/M. Finnemore, Rules for the World. International Organizations in Global Politics, Ithaca/London 2004, 165. 29 Vgl. C. Archer, International Organizations, London 2001, 65-111; V. Rittberger/B. Zangl, Internationale Organisationen – Politik und Geschichte, 2. Aufl., Opladen 2003, 3348.
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Unterschied zu der instrumentellen Sichtweise eher als Rahmen denn als Mittel zum Erreichen bestimmter Ziele gesehen werden. – Die dritte Sichtweise weist diesen eine eigenständige Qualität als Akteur in der internationalen Politik zu, der zudem als ursächlicher Faktor in der Lage ist, die Grundmuster internationaler Politik im Sinne einer Minderung des anarchischen Grundzustands zu verändern. Wird also einerseits der analytische Schwerpunkt auf die kooperationshemmende strukturelle Anarchie des internationalen Systems gelegt, auf nationale Interessen verwiesen und werden die Kooperationschancen insgesamt eher negativ beurteilt, rücken andere Sichtweisen eher die Chancen der Kooperation mit der Hilfe von Institutionen in den Mittelpunkt und gehen von der Grundannahme organizations matter aus. Thorsten Benner und Jan Martin Witte haben demgegenüber vorgeschlagen, ein neues Leitbild für internationale Organisationen zu entwickeln. Als themenfokussierte Schnittstellen könnten internationale Organisationen demnach drei verschiedene Rollen wahrnehmen: – Als Verhandlungsplattform ihre Reichweite nutzen und unterschiedliche Akteure zusammen bringen, – als Wissensmanager Wissen zusammenfügen, Lernprozesse ermöglichen und Beratungsdienste anbieten, und – als Implementierungsagenturen Vereinbarungen umsetzen und deren Einhaltung überwachen.30 Die wesentliche Funktion internationaler Organisationen bestehe zukünftig darin, Brückenfunktionen im internationalen System zwischen verschiedenen Akteuren und Problembereichen zu übernehmen.
II. Systemimmanente Beschränkungen Was bedeutet dies für die eingangs gestellte Frage nach der politikwissenschaftlichen Erklärung der Reformmöglichkeiten der Weltorganisation? Für eine Bewertung der Arbeit der VN ist es zum Einen unerlässlich, auf Konstruktionsprinzipien hinzuweisen, die sie als intergouvernementale Organisation ausweisen, in der die Mitgliedstaaten nicht nur Herren der Verträge sind, sondern eben auch in fast allen Einzelentscheidungen das letzte Wort haben (und auch gefragt werden 30 T. Benner/J. M. Witte, Brücken im globalen System. Neues Leitbild für internationale Organisationen, in: Internationale Politik 2001 (5), 1-8.
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wollen).31 Nahezu allen wichtigen Reformerfordernissen ist gemeinsam, dass die auf sie bezogenen Maßnahmen nur von den Mitgliedstaaten selbst beschlossen und umgesetzt werden können. Während die Arbeitsweisen der Hauptorgane und auch zahlreiche Koordinationsfragen durch neue Bestimmungen in den jeweiligen Geschäftsordnungen bzw. auf dem Resolutionswege relativ einfach verändert werden können, ist zudem für die Mehrzahl der Reformen eine Änderung bzw. Revision der Charta erforderlich. Allerdings wurden in den diesbezüglichen Artikeln 108 und 109 der VN-Charta überaus hohe institutionelle Hürden aufgebaut. In dieser fortbestehenden Situation sind Prognosen über die Realisierungschancen zentraler Vorhaben kaum möglich. Es ist es zum Zweiten unerlässlich, nach Politikfeldern zu differenzieren, da die Vereinten Nationen als internationale Organisation kein einheitlicher Akteur sind, sondern vielmehr ein weit verzweigtes und komplexes Netzwerk von Haupt-, Neben- und Spezialorganen darstellen, die sowohl unterschiedliche Kompetenzen und Zuständigkeitsbereiche als auch differierende organisatorische Strukturen aufweisen. Somit variieren auch die Rollen der Vereinten Nationen (oder besser gesagt, des Systems der Vereinten Nationen) in der internationalen Politik: je nach Politikfeld sind sie mal vornehmlich Instrument, mal Arena und mal eigenständiger Akteur. Das Hauptcharakteristikum der Vereinten Nationen dürfte allerdings ihre Funktion als Forum sein, in dem die „verschiedensten Interessen formuliert und diskutiert werden können, um der Entwicklung globaler Problemlösungen näher zu kommen. Diese Funktion der UN wird von allen Staaten der Welt als unverzichtbare Leistung angesehen. In einzelnen Politikfeldern wie z.B. dem Menschenrechtsbereich können Ansätze für eine Akteursorientierung festgestellt werden. Eine nennenswerte Autonomie der UN in den verschiedenen Politikfeldern ist allerdings auch heute nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen gegeben“.32
31
Die stellvertretende VN-Generalsekretärin formulierte diesen Befund treffend: „The need for reform is inscribed in its DNA, and permeates its entire being. It can and will be up to the task – provided its Member States are willing to support it“, L. Fréchette: The United Nations at 60: Too Old to Reform? (VN-Dok. DSG/SM/275 ORG/1452 vom 10.11.2005). 32 V. Rittberger, Vereinte Nationen, in: D. Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik, Band 6: Internationale Beziehungen, hrsg. von Andreas Boeckh, München 1994, 561-581.
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III. Beschränkungen aus der Struktur des internationalen Systems Warum also werden Reformen der VN immer wieder gefordert, aber sehr viel seltener verwirklicht? Multilateralismus, so der ehemalige VN-Untergeneralsekretär Karl Theodor Paschke, vollziehe sich in der fortwährenden Konsenssuche zwischen allen Beteiligten. „Diese Konsenssuche kann aber nur erfolgreich sein, wenn alle Staaten zu Kompromissen und damit zu Abstrichen an der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen bereit sind. Eine solche Bereitschaft […] ist jedoch heute in der Staatengemeinschaft noch viel zu schwach ausgebildet. Während die meisten Regierungen sich verbal zum Multilateralismus bekennen, ist der nationale Egoismus nach wie vor erster Maßstab ihres Handelns auf internationaler Ebene. Dies gilt übrigens nicht nur für Diktaturen, sondern genauso für viele Demokratien.“33
Aus diesem Grunde wie auch vor dem Hintergrund zahlreicher grundlegender Differenzen über die künftige Gestalt und Funktion der Vereinten Nationen verwundert es nicht, dass die Vorstellungen von einer umfassenden Reform überaus vage geblieben sind. Die Weltorganisation war in ihrer Geschichte stets abhängig von den wechselhaften politischen Konjunkturen für multilaterale Zusammenarbeit und der Reformprozess dürfte sich auch weiterhin vornehmlich in kleinen Schritten vollziehen. Die Vereinten Nationen sind insofern überaus abhängig von dem internationalen Milieu, in dem sie sich bewegen und es hängt stark von den theoretischen Leitbildern ab, wie dieses Milieu wahrgenommen und damit konstruiert wird.
IV. Ausblick Multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der VN ist oft mühsam, ineffektiv und zeitraubend. Einerseits ist bei bestimmten Problemkonstellationen (etwa in Fragen der Weltumweltpolitik) unstrittig, dass nur ein multilateraler Ansatz Erfolg versprechend sein kann. Andererseits sind andere Problemkonstellationen offensichtlich multilateral nicht immer effektiv zu bearbeiten. Hier gilt es, jenseits von wishful thinking eine nüchterne Bestandsaufnahme vorzunehmen und die VN nicht zu überfordern oder gar von ihr Leistungen zu verlangen, die sie nicht erbringen können. Multilateralismus ist zudem kein Wert an sich, sondern nur dann sinnvoll, wenn damit Beiträge zur Problemlösung geleistet werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der internationalen Sicherheit, wo mitunter schnelles und effizientes Handeln unerlässlich ist. Aber auch in anderen Bereichen ist nüchtern über ein downsizing der VN nachzudenken und zu überlegen und besser zu begründen, wo 33
Paschke (Anm. 1), 170.
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der Vorteil einer globalen Organisation gegenüber anderen bi- oder multilateralen Foren liegt.34 Viel gewonnen wäre bereits, wenn sich die Mitgliedstaaten in den Politikbereichen, in denen gemeinsamer Handlungsbedarf definiert wurde, intensiver engagierten. Die Vereinten Nationen werden weiter existieren und aller Wahrscheinlichkeit nach auch eine bedeutsame Rolle in der internationalen Politik spielen. Die Ereignisse um den Reformgipfel 2005 zeigen gleichwohl, dass es ratsamer ist, „auf alle hochfliegenden, kolossalen, pompösen Reforminitiativen zu verzichten“ und sehr pragmatisch in den Bereichen Verbesserungen anzustreben, die im Konsens durchzusetzen sind.35 Dieser konsensuale Bereich ist bei 191 Mitgliedstaaten und einer überaus heterogenen Interessens- und Präferenzstruktur naturgemäß überaus klein.
34 Vgl. A. Rechkemmer, Die UNO, die Irak-Kontroverse und das Prinzip kollektiver Aktion. Weltorganisation unter Rekonstruktion?, Berlin 2003 (Arbeitspapier der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik Nr. 13), 8. 35 Paschke (Anm. 1), 173.
Der UN-Sicherheitsrat – neue Aufgaben, neue Funktionen Von Peter Hilpold „It was to keep the peace, not to change the world order, that the Security Council was set up“1
A. Einführung Wenn es ein zentrales Thema gibt, um welches die gesamte UN-Reform-Diskussion kreist, so ist es jenes der Sicherheit. Angesichts völlig neuer Bedrohungsszenarien, aber auch einer intensivierten Sensibilität gegenüber Problemstellungen, die in der Vergangenheit allein dem innerstaatlichen Kompetenzbereich zugeordnet worden sind, wird nunmehr in immer eindringlicherer Form eine Neudefinition des Begriffs „Sicherheit“ verlangt. Die zentralen Dokumente, welche die UNReform-Diskussion der letzten Jahre hervorgebracht hat, der Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel mit dem Titel „Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung“2 (im Englischen Report of the Secretary-General’s High-level Panel on Threats, Challenges and Change, A more secure world: Our shared responsibility, im Folgenden: HLPBericht), der Bericht des UN-Generalsekretärs Kofi Annan mit dem Titel „In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“ (im Englischen: „In larger freedom: towards development, security and human rights for all“; im Folgenden Annan-Bericht)3 sowie das Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005 (im Englischen „Outcome Document“; im Folgenden: Ergebnisdokument)4 stellen auch das Thema „Sicherheit“ – mit unterschiedlichen Nuancierungen – in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Angesichts dieses 1 Gerald Fitzmaurice, diss. op., ICJ Report 1971, 294, zitiert nach G. Arangio-Ruiz, On the Security Council’s „Law Making“, RDI 3 (2000), 609-725. 2 A/59/565 v. 2. Dezember 2004. 3 A/59/2005 v. 21. März 2005. 4 A/60/L. 1 v. 15. September 2005.
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Peter Hilpold
Leitgedankens der gesamten aktuellen UN-Reformdiskussion darf es somit auch nicht verwundern, dass jenes UN-Organ, das schon von seiner Bezeichnung her der Wahrung der Sicherheit verpflichtet ist und dem laut Art. 24 SVN „die Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ zukommt, in dieser Reformdebatte primär angesprochen worden ist. Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen soll eine Analyse und Wertung dieser Reformvorschläge sein. Wertungen werfen – sollen sie nicht völlig subjektiv begründet und damit weitgehend entbehrlich sein – die Frage nach dem „tertium comparationis“ auf, d.h., an welchem Maßstab soll die Nützlichkeit eines Reformvorschlags gemessen werden? Diese Aufgabe wird hier scheinbar dadurch erleichtert, dass am Ausgangspunkt dieses Reformvorhabens die Prämissen klar definiert worden sind. Ausgehend von den Zielen der Millenniums-Deklaration5 wurde den Arbeiten nahezu der gesamte Kanon an etablierten Werten und Zielen der modernen Völkerrechtsordnung vorangestellt. Es darf nicht verwundern, dass sich die gesamte Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Unbestimmtheit dieser Vorgaben im Ergebnis widerspiegeln.
B. Sicherheit im engeren, traditionellen Sinne I. Der HLP-Bericht Wenn dieses gesamte Reformvorhaben im Zeichen der Bemühung stand, wesentliche Fortschritte bei der Festigung der internationalen Sicherheit zu erzielen, so durfte naturgemäß das traditionell definierte Sicherheitsanliegen nicht unberücksichtigt bleiben, ja es kann sogar gesagt werden, dass die diesbezüglichen Reformvorschläge international auf die größte Aufmerksamkeit gestoßen sind. Die Hochrangige Gruppe, die den HLP-Bericht ausgearbeitet hat, hat diesbezüglich besonders weit reichende Forderungen gestellt, die inhaltlich der Aufgabe ganz zentraler Sätze des geltenden Völkerrechts gleichkommen. In der nach Maßgabe dieses Konzepts zu schaffenden neuen Völkerrechtsordnung sollte dem Sicherheitsrat eine besonders wichtige Rolle als Umsetzungsorgan und Garant zukommen. Ausgehend von der Feststellung, dass die Mehrzahl der bisher verwendeten Instrumente der kollektiven Sicherheit ineffizient gewesen seien,6 wird nach grundlegend neuen Wegen gesucht. Wenngleich der Charakter dieser Reform als 5 A/55/L.2 v. 8.9.2000. Vgl. dazu auch Investing in Development: A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals, www.unmillenniumproject.org. 6 Vgl. Abs. 39 HLP-Bericht.
Der UN-Sicherheitsrat – neue Aufgaben, neue Funktionen
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evolutorisch ausgegeben wird, als Fortschreibung und Adaptierung des Bestehenden, ist dieser in Wahrheit jedoch revolutionärer Art, ein Bruch mit den Grundgedanken, auf welchen das 1945 geschaffene System beruht. Ein generelles Merkmal des gesamten Reformkonzeptes der Hochrangigen Gruppe ist ihr auf Prävention ausgerichteter Charakter. Nicht reaktives, sondern proaktives Verhalten wird gefordert. Im vorbeugenden Handeln wird ein Weg gesehen, in einer globalisierten Welt, in der örtliche Probleme rasch internationalen Charakter annehmen können, auf neue Herausforderungen zeitgerecht und wirkungsvoll zu reagieren. Dieser Ansatz ist durchaus zu begrüßen, wobei aber folgende Voraussetzungen gegeben sein müssen: – Natur und Dimension der Herausforderung müssen korrekt identifiziert werden; – Es darf kein völkerrechtliches Verbot zum präventiven Handeln vorliegen. Diese Voraussetzungen (und insbesondere die zweitgenannte) sind aber gerade im Bereich des hier zu behandelnden und für dieses Reformvorhaben insgesamt prägenden Anliegens der präventiven Gewaltprävention nicht gegeben. Die Hochrangige Gruppe will nun den einzelnen Staaten ein sehr weit reichendes Recht auf Selbstverteidigung zuerkennen: „Indessen kann ein bedrohter Staat nach lange etablierten Regeln des Völkerrechts militärische Maßnahmen ergreifen, solange der angedrohte Angriff unmittelbar bevorsteht, durch kein anderes Mittel abzuwenden ist und die Maßnahmen verhältnismäßig sind.“7 Was hier als etabliertes Völkerrecht hingestellt wird, ist freilich keineswegs derart unbestritten, wie die Hochrangige Gruppe glaubhaft machen möchte. Im Gegenteil: Es kann sogar gesagt werden, dass mit dieser Feststellung die Gefahr einer inakzeptablen Aufweichung des Gewaltverbots heraufbeschworen wird. Diese Frage wurde an anderer Stelle einer vertieften Untersuchung unterzogen8 und ist auf jeden Fall nicht unmittelbar Gegenstand der vorgegebenen Themenstellung. Von spezifischer Relevanz sind dagegen die Ausführungen zur Rolle des Sicherheitsrats in Bezug auf die antizipatorische Friedenssicherung im engeren Sinne: „[...] Wenn gute, durch handfeste Beweise erhärtete Argumente für militärische Präventivmaßnahmen vorliegen, so sollten diese dem Sicherheitsrat unterbreitet werden, der die Maßnahmen sodann nach seinem Gutdünken genehmigen kann. Tut er dies nicht, besteht per definitionem Zeit genug, um andere Strategien zu verfolgen, darunter Überzeugungsarbeit, Verhandlungen, Abschreckung und Eindämmungspolitik, und danach die militärische Option erneut zu prüfen.“9
7
Ibid., Abs. 188. Vgl. P. Hilpold, Die Vereinten Nationen und das Gewaltverbot, in: Vereinte Nationen 3 (2005), 81-88. 9 Vgl. Abs. 190 HLP-Bericht. 8
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Diese Feststellung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Offenkundig geht hier die Hochrangige Gruppe von einem einwandfrei funktionierenden System kollektiver Sicherheit aus, in welchem kollektive Zwangsmaßnahmen gleichsam automatisch gesetzt werden, wenn ein entsprechender Bedarf gegeben ist, wobei dieser durch einen gerichtsähnlichen Mechanismus festgestellt wird. Präventive Maßnahmen sind per definitionem nicht erforderlich, wenn sich der Sicherheitsrat dagegen ausspricht. Woher die Hochrangige Gruppe die Überzeugung nimmt, dass der Sicherheitsrat mit gleichsam mathematischer Präzision seiner Aufgabe nachkommt, deren Wahrnehmung bekanntlich von weit reichenden Beurteilungsspielräumen gekennzeichnet ist und die in der Vergangenheit geprägt war vom Einfluss diplomatischer Elemente, bleibt unklar. Offenbar hat hier die Hochrangige Gruppe bereits das durch ihre Reformvorschläge neu verfasste Sicherheitsratssystem vor Augen, wobei allerdings festzuhalten ist, dass diese Vorschläge sehr breite Spielräume offen lassen und es unrealistisch erscheint, dass jede Alternative von derselben maximalen Effizienz gekennzeichnet wird. Hinzu kommt, dass selbst dann, wenn es gelänge, alle politischen Egoismen auszuschalten, die bislang die Tätigkeit des Sicherheitsrates geprägt haben, weiterhin gilt, dass Entscheidungen dieses Gremiums grundsätzlich unter Unsicherheit getroffen werden, und zwar sowohl im Hinblick auf die faktische Sachlage als auch in Bezug auf die Konsequenzen der jeweiligen Entscheidung. Insgesamt kann also festgehalten werden, dass kaum überzeugende Gründe vorliegen, die auf eine wirksamere Wahrnehmung der Sicherheitsgarantiefunktion durch den Sicherheitsrat hindeuten würden. Der angedeutete Quantensprung in diesem Bereich entspringt wohl eher nicht näher erläutertem Wunschdenken.
II. Der Annan-Bericht Auch Kofi Annan macht sich das von der Hochrangigen Gruppe vertretene extensive Selbstverteidigungskonzept zu Eigen.10 Er erkennt aber durchaus die Gefahren, die damit verbunden sind und betont die Zuständigkeit des Sicherheitsrates für präventive Maßnahmen.11 Hinsichtlich der durch den Sicherheitsrat in der Vergangenheit verschiedentlich geübten (und regelmäßig auch wieder relativierten) Praxis, auch innerstaatliche Vorgänge potentiell als Friedensbedrohung
10 11
Vgl. Abs. 124 Annan-Bericht. Ibid., Abs. 125.
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einzustufen,12 möchte Annan einen weiteren (vorsichtigen) Schritt nach vorn setzen, indem er eine rhetorische Frage stellt: „Sind nicht auch Völkermord, ethnische Säuberungen und andere vergleichbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit Bedrohungen für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit, hinsichtlich welcher die Menschheit den Sicherheitsrat um Schutz ersuchen kann?“13
Es ist offensichtlich, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen eine solche Fortentwicklung begrüßen würde, wenngleich er es nicht wagt, für den gegenwärtigen Zeitpunkt die Existenz einer derartigen Norm zu behaupten. Anders als die Hochrangige Gruppe erkennt er, dass gegenwärtig kein Automatismus gegeben ist, der einerseits das Einschreiten des Sicherheitsrates bei Bedarf garantiert, andererseits die Verhältnismäßigkeit zu wahren beiträgt. Es sind vielmehr geeignete Voraussetzungen und Mechanismen zu schaffen, die dies sicherstellen sollen. Annan schlägt zu diesem Zweck die Verabschiedung einer Resolution durch den Sicherheitsrat vor, in welcher entsprechende Prinzipien festgehalten werden sollten, die den Sicherheitsrat in der Beurteilung der Frage über eine Autorisierung einer Gewaltanwendung zu leiten hätten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein solcher Kriterienkatalog tatsächlich dienlich sein kann, den einschlägigen Entscheidungsvorgang zu versachlichen und damit zu vereinfachen. Weder ist garantiert, dass ein Prinzipienkatalog die volle Komplexität sicherheitspolitischer Fragestellungen zu erfassen imstande ist, noch ist hinreichend Sorge dafür getragen, dass diese Prinzipien mit hinreichender Klarheit die Anwendung von Sanktionen im Ernstfall zu gebieten vermögen.14
12
So kann davon ausgegangen werden, dass sich der Großteil der vom Sicherheitsrat autorisierten Interventionen auf innerstaatliche humanitäre Krisensituationen bezogen hat, die aber zumindest das Potential für eine Internationalisierung aufgewiesen haben. Vgl. I. Österdahl, The Continued Relevance of Collective Security under the UN: The Security Council, Regional Organizations and the General Assembly, FYIL 2002, 103-140 (106). Vgl. auch P. Hilpold, The continuing modernity of Article 2(4) of the UN Charter, in: W. Ingenhaeff/R. Staudinger/K. Ebert (Hrsg.), Festschrift Rudolf Palme, Innsbruck 2002, 281-295. 13 Ibid., Abs. 125. Kofi Annan knüpft dabei im Übrigen an Ansätze an, die bereits vom früheren Generalsekretär Boutros-Ghali vertreten worden waren. Vgl. H. Charlesworth, The inadequacy of ,collective security‘, FYIL 2000, 39-46 (41). 14 Zu dieser Problematik vgl. auch P. Hilpold, Sezession und humanitäre Intervention – völkerrechtliche Instrumente zur Bewältigung innerstaatlicher Konflikte?, ZÖR 54 (1999), 529-602 und ders., Humanitarian Intervention: Is There a Need for a Legal Reappraisal?, EJIL 12 (3/2001), 437-467.
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III. Das Ergebnisdokument Von den gewagten Vorschlägen der Vorgängerdokumente wurde in das Ergebnisdokument sehr wenig übernommen. Der Sicherheitsrat wird aufgefordert, die Überwachung der Anwendung und der Auswirkungen von Sanktionen zu verbessern.15 Es wird bekräftigt, dass die UN-Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit übertragen haben.16 Was die Anwendungsvoraussetzungen für die Aktivierung des Systems kollektiver Sicherheit anbelangt, wird auf das geltende Recht verwiesen, wobei keinerlei inhaltliche Präzisierungen mehr vorgenommen werden.
C. Der erweiterte Sicherheitsbegriff I. Zum Begriff Während der Versuch einer Relativierung des Gewaltverbots wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt war und die diesbezüglichen Ausführungen in den genannten Berichten auch kaum die weitere Reformdiskussion beeinflussen werden, so äußern diese Dokumente – wie erwähnt – gerade dort einen besonders innovativen Charakter, wo sie traditionelle Bahnen verlassen und dem Sicherheitsrat nach Maßgabe eines erweiterten, neu definierten Sicherheitskonzepts völlig neue Aufgaben zuerkennen wollen. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob der Sicherheitsrat diesen neuen Herausforderungen gerecht werden kann und ob die Ausweitung der Kompetenzen dieses Organs im jeweiligen Bereich sinnvoll erscheint – immer bezogen, wie eingangs erwähnt, auf das den Reformbestrebungen vorgegebene Generalziel der Verwirklichung eines breit definierten Sicherheitsanliegens.
II. Völkerstrafrecht Bekanntlich hat der Sicherheitsrat unter Berufung auf Kapitel VII der Satzung der Vereinten Nationen mit Resolution 827 v. 25.5.1993 einen Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und mit Resolution 955 v. 8.11.1994 einen Strafgerichtshof für Ruanda eingerichtet. Für diese Vorgangs15 16
Vgl. Abs. 107 Ergebnisdokument. Ibid., Abs. 152.
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weise hat er massive Kritik geerntet, da ihm diesbezüglich ultra vires-Handlungen vorgeworfen worden sind.17 Andererseits darf nicht übersehen werden, dass diese Tribunale im Endergebnis zweifelsohne gewichtige Beiträge zur internationalen Friedenssicherung geleistet haben. Mit der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs auf völkervertraglicher Basis ist nun eine solide Grundlage für eine umfassende und nachhaltige Pflege des Völkerstrafrechts geschaffen worden. In diesem Zusammenhang kann der Sicherheitsrat nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, und zwar kann er einzelne Fälle, in denen der Anschein gegeben ist, dass ein der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs unterliegendes Verbrechen begangen worden ist, dem Ankläger dieses Gerichts unterbreiten.18 Die Hochrangige Gruppe ersucht den Sicherheitsrat, bei sich intensivierenden Konflikten klar erkennen zu geben, dass er die Entwicklung aufmerksam beobachte und dass er gewillt sei, gegebenenfalls von seiner ihm laut Römischem Statut zustehenden Befugnis Gebrauch zu machen, den betreffenden Fall an den Inter-nationalen Strafgerichtshof zu verweisen.19 Tatsächlich könnte von einer solchen Erklärung eine nicht zu unterschätzende Abschreckungswirkung ausgehen. Kofi Annan betont dagegen in seinem Bericht eher die Verantwortung der einzelnen UN-Mitgliedstaaten, mit dem Internationalen Strafgerichtshof (und den übrigen Einrichtungen der internationalen Strafrechtspflege) zu kooperieren. Gänzlich unberücksichtigt bleibt diese Thematik im Ergebnisdokument, das – wie bereits erwähnt – von zahlreichen Kompromissen gekennzeichnet ist und einen ausgeprägt traditionellen, souveränitätsschonenden Ansatz wählt.
17
Für eine ausführliche Diskussion dieser Kontroverse vgl. S. Lamb, Legal Limits to United Nations Security Council Powers, in: G. S. Goodwin-Gill/S. Talmon (Hrsg.), The Reality of International Law – Essays in Honour of Ian Brownlie, Oxford 1999, 361-388 (Anm. 6 sowie S. 376 ff.). 18 Vgl. Art. 13 lit b) des Römischen Statuts. Vgl. dazu L. Condorelli/S. Villalpando, Referral and Deferral by the Security Council, in: A. Cassese/P. Gaeta/J. R. W. D. Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Bd. I, Oxford 2002, 627-655. Zu erwähnen ist außerdem, dass der Sicherheitsrat auch eine auf Kapitel VII begründete Resolution erlassen kann, mit welcher der Gerichtshof ersucht wird, für einen Zeitraum von 12 Monaten (erneuerbar) keine Ermittlungen und keine Strafverfolgung einzuleiten oder fortzuführen. 19 Vgl. Abs. 90 des HLP-Berichts.
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III. Bedrohung durch nukleare, radiologische, chemische und biologische Waffen Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Fortentwicklung der Waffentechnik und die immer breitere Verfügbarkeit nichtkonventioneller Waffen eine ganz besondere Herausforderung für die internationale Sicherheit darstellen. Dies wird nicht zuletzt auch durch die aktuelle Irankrise bestätigt, die auch die Grenzen der zur Verfügung stehenden Instrumente zur Krisenbewältigung offenbart. Auch in diesem Zusammenhang hat die Hochrangige Gruppe dem Sicherheitsrat eine zentrale Rolle zur Festigung der internationalen Sicherheit zugedacht, wobei sie betont, dass das Handeln des Sicherheitsrates glaubhaft und wirksam sein muss.20 Insbesondere soll die Zusammenarbeit des Sicherheitsrates mit den einschlägigen internationalen Organisationen (der IAEO und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, OVCW) verstärkt werden: Der Rat sollte die Generaldirektoren der IAEO und der OVCM bitten, ihm halbjährlich über den Stand der Sicherungsmaßnahmen und Verifikationsverfahren sowie über alle besonderen Besorgnisse Bericht zu erstatten, auch wenn diese nicht auf einen tatsächlichen Verstoß gegen den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen und das Chemiewaffenübereinkommen hinauslaufen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen greift in seinem Bericht diesen Vorschlag auf und legt dem Sicherheitsrat nahe, den Generaldirektor der IAEO und den Generaldirektor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen regelmäßig einzuladen, über den Stand der Sicherungsmaßnahmen und der Verifikationsprozesse zu berichten.21 Eine institutionalisierte Berichterstattungspraxis brächte tatsächlich den Vorteil größerer Transparenz mit sich und würde durch die damit verbundene Publizität auch die Überwindung der politischen Vorbehalte ermöglichen, die gegenwärtig einer wirksamen Befassung oft gerade mit den brisantesten Fällen entgegenstehen bzw. eine solche zeitlich über Gebühr verzögern. Ausdrücklich erwähnt wird auch die Sicherheitsratsresolution 1540 (2004), durch welche nichtstaatliche Akteure daran gehindert werden sollen, Zugang zu nuklearen, chemischen und biologischen Waffen, Technologien und Materialien sowie ihren Trägersysteme zu erhalten.22 20 Vgl. Abs. 139 des HLP-Berichts: „[D]ie spezielle Überweisung einer Angelegenheit an den Sicherheitsrat [ist], wenn sie kein entsprechendes Handeln zur Folge hat, schlimmer als gar keine Überweisung.“ 21 Annan-Bericht, Abs. 105. 22 Ibid., Abs. 100.
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Wie umstritten diese Materie auf der Ebene der Staaten insgesamt ist, kommt darin zum Ausdruck, dass im Ergebnisdokument, das ja den gegenwärtig effektiv gegebenen Konsens in der Staatengemeinschaft zum Ausdruck bringt, darauf nicht eingegangen wird. Es steht zu vermuten, dass gerade die systematische Einbindung des Sicherheitsrats ohne davor geschaltete politische Kontrolle ein wesentliches Hindernis für die umfassende Berücksichtigung dieser sicherheitspolitisch äußerst wichtigen Thematik dargestellt hat.
IV. Sanktionen Den Sanktionen kommt im Völkerrecht bekanntlich eine vielfältige Rolle zu. So erfüllen diese über ihre bloße Androhung nicht nur eine wichtige präventive Funktion, sondern sie können durch ihre Vollstreckung unmittelbar auf die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes ausgerichtet sein.23 Insgesamt wird an der Wirksamkeit des Sanktionsinstrumentariums häufig die Effektivität der Völkerrechtsordnung gemessen.24 Zwar muss in einer Rechtsordnung wie der völkerrechtlichen, in der die Bestandssicherung ganz wesentlich ihren eigenen Subjekten überantwortet ist, den einzelnen Staaten eine zentrale Rolle bei der Anwendung der Sanktionen zukommen, doch wird gleichzeitig das damit verbundene Unsicherheitselement erheblich reduziert, wenn parallel dazu ein Exekutivorgan zur Verfügung steht, das auf zentraler Ebene diese Funktion noch wirksamer wahrnehmen kann. Dieses Organ ist nun gerade der Sicherheitsrat. Diesbezüglich wird vom Sicherheitsrat verlangt, dass er Sanktionen wirksam anwendet und durchsetzt. Im Einzelnen wird vorgeschlagen: – dass routinemäßige Überwachungsmechanismen geschaffen werden; – dass die Sanktionsausschüsse des Sicherheitsrates beauftragt werden, verbesserte Richtlinien und Berichterstattungsverfahren zur Unterstützung der Staaten bei der Anwendung von Sanktionen auszuarbeiten;
23
Vgl. zu dieser Thematik allgemein U. Beyerlin, Sanctions, in: R. Wolfrum/Ch. Philipp (Hrsg.), United Nations: Law, Policies and Practice, München 1995, 1111-1127 sowie M. Schröder, Sanktionen, in: W. Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin 2004, 582588. 24 Vgl. P. Malanczuk, Akehurst’s Modern Introduction to International Law, London 1997, 5 ff.; S. Blay, The Nature of International Law, in: S. Blay/R. Piotrowicz/M. Tsamenyi (Hrsg.), Public International Law, Oxford 2005, 1-19 (6 ff.).
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– der Generalsekretär sollte einen hochrangigen Bediensteten ernennen, der Analysen für den Sicherheitsrat vorbereiten sollte; – die Mitgliedstaaten sollten mehr Ressourcen für die wirksame Verhängung von Sanktionen zur Verfügung stellen; – in nachgewiesenen Fällen chronischer Verstöße sollte auch der Sicherheitsrat Sanktionen verhängen.25 Auch im Bericht des UN-Generalsekretärs wird eine wirksamere Durchführung der Sanktionen verlangt und zu diesem Zweck werden Anregungen aus dem HLPBericht aufgegriffen. Besonders betont wird auch der Aspekt der humanitären Folgen von Sanktionen, eine Thematik, die immer mehr ins Rampenlicht der internationalen Aufmerksamkeit gerät.26 Im Ergebnisdokument kommt wiederum die stärker staatenorientierte Perspektive zum Ausdruck. Besonders betont wird hier die Notwendigkeit einer regelmäßigen Überprüfung der Sanktionen, das Erfordernis ihrer Befristung und ihrer Aufhebung, sobald das angestrebte Ziel erreicht ist.27 Genau konträr zum HLP-Bericht wird hier nicht primär auf eine Verstärkung multilateraler Sanktionsmechanismen abgestellt, sondern auf ihre wirksamere Kontrolle, auf ihre verantwortliche Anwendung und auf die Vermeidung negativer Folgewirkungen.28 Der Konsens in der Staatengemeinschaft scheint somit gegenwärtig keineswegs auf eine Stärkung zentraler Sanktionsmechanismen ausgerichtet zu sein, so wie am Ausgangspunkt der aktuellen Reformdiskussion vorgeschlagen, sondern auf ihre stärkere Kontrolle, während die Staaten individuell durchaus an der Festigung ihrer Sanktionssetzungsbefugnisse interessiert sind.29
V. Terrorismus Zweifelsohne stellt das Phänomen des Terrorismus eine der herausragendsten Bedrohungen der internationalen Sicherheit dar. Inwieweit in diesem Zusammenhang aber der Sicherheitsrat eine aktive Rolle einnehmen kann, ist weniger klar. Zwar hat der Sicherheitsrat im Anschluss an den 11. September 2001 Akte des
25
Vgl. zum Ganzen Abs. 180 des HLP-Berichts. Vgl. umfassend zu dieser Thematik M. Bessler/R. Garfield/G. Mc Hugh, Sanctions Assessment Handbook, United Nations – IASC 2004. 27 Vgl. Abs. 107 des Ergebnisdokuments. 28 Ibid., Abs. 108. 29 Dies kommt deutlich in Abs. 110 des Ergebnisdokuments zum Ausdruck. 26
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Terrorismus als Friedensbedrohung qualifiziert.30 Damit ist aber eine Vielzahl ungelöster dogmatischer Fragestellungen verbunden, weshalb auch die Position des Sicherheitsrates in diesem Zusammenhang unklar bleibt. Im HLP-Bericht werden diesbezügliche Klärungsversuche unternommen; einen neuen systematischen Ansatz kann aber auch dieser nicht liefern. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus erfolgt nach wie vor durch die Staaten – individuell oder im bilateralen bzw. multilateralen Verbunde. Der diesbezügliche Beitrag der Vereinten Nationen beschränkt sich im Wesentlichen auf eine technische Hilfestellung. Der Sicherheitsrat kommt aber dann wieder ins Spiel, wenn einzelne Staaten eine Kooperation verweigern. Die Hochrangige Gruppe schlägt in diesem Zusammenhang vor, eine Liste im Voraus festgelegter Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung von einschlägigen Kooperationspflichten auszuarbeiten.31 Vorsichtiger ist das Ergebnisdokument: Hier werden die Berichtspflichten der Staaten gegenüber dem Sicherheitsrat sowie die unterstützende Rolle dieses Organs betont.32 Von einer erweiterten Befugnis des Sicherheitsrats zur Setzung von Sanktionen ist keine Rede mehr.
D. Die Kommission für Friedenskonsolidierung Es wäre sicherlich zu verengend, den Erfolg der aktuellen UN-Reformdiskussion allein an Umfang und Zahl der konkret verabschiedeten Maßnahmen zu messen, stellt doch die Thematisierung und grundlegende Aufarbeitung wesentlicher Eckpfeiler des Reformanliegens an sich eine wichtige Leistung dar, deren effektiver Nutzen sich möglicherweise erst in fernerer Zukunft äußert. Was die unmittelbaren, „handfesten“ Ergebnisse dieser Bemühungen anbelangt, so ist in erster Linie die Einrichtung der Kommission für Friedenskonsolidierung zu erwähnen. Schon im HLP-Bericht wurde darauf hingewiesen, dass die Vereinten Nationen verstärkt im Bereich der Friedenskonsolidierung tätig werden sollten, wodurch ein Zusammenbruch von Staaten sowie ihr Abgleiten in den Krieg verhindert werden sollte.33 Für die Bewältigung dieser Aufgabe sollte dem Sicherheitsrat eine zentrale Rolle zukommen. Wäre allerdings eine Friedenskommission mit einem derart allgemein gehaltenen Mandat geschaffen worden, so hätte dies eine erhebliche Einschränkung der 30 31 32 33
S/Res/1368(2001) und 1373(2001). Vgl. Abs. 156 HLP-Bericht. Vgl. Abs. 90 des Ergebnisdokuments. Abs. 261 HLP-Bericht.
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Souveränität der Mitgliedstaaten bedeutet und eine relativ einfache Handhabe für die Internationalisierung innerstaatlicher Konflikte geboten. In der definitiv verabschiedeten Form hat diese Kommission primär den „Konfliktnachsorgeprozess“ zu steuern und ein Wiederabgleiten der betreffenden Staaten in kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.34 Die prominente Rolle des Sicherheitsrates in diesem Kontext kommt z.B. darin zum Ausdruck, dass in dem ständigen, 31 Mitglieder umfassenden Organisationskomitee dieser Kommission sieben Mitglieder des Sicherheitsrates – darunter alle ständigen – vertreten sind.
E. Die Rolle des Sicherheitsrates im Verfassungssystem der Vereinten Nationen Die verschiedenen hier behandelten Dokumente bringen sehr divergierende Vorstellungen über die dem Sicherheitsrat beizumessende Rolle im zukünftigen Verfassungssystem der Vereinten Nationen zum Ausdruck. Der HLP-Bericht, der von einer sehr gestaltungsfreudigen Haltung seiner Verfasser gekennzeichnet und vom Bemühen getragen ist, das UN-Recht – angesichts völlig neuer Sicherheitsherausforderungen – grundlegend umzuformen, stützt sich ganz wesentlich auf den Sicherheitsrat. Die von Art. 23 der Satzung der Vereinten Nationen diesem Organ beigemessene „Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit“ wird ernst genommen. Parallel zur Ausweitung des Sicherheitsbegriffs wachsen auch die Befugnisse des Sicherheitsrates. Die potentielle Schlagkraft des Sicherheitsrates wird zum Motor der Neuen Vereinten Nationen, die die Hochrangige Gruppe als reformbestrebt, interventionistisch und eindeutig wertorientiert sieht. Zweifelsohne wurde UN-Generalsekretär Kofi Annan bei der Abfassung seines Berichts ganz maßgeblich vom HLP-Bericht beeinflusst. Dennoch ist hier eine gewisse Akzentverschiebung unverkennbar. Auch der Generalsekretär setzt zwar auf die Gestaltungskraft des Sicherheitsrates, doch ist er sich der Grenzen bewusst, die von Seiten der Staaten diesbezüglich gesetzt werden. Zumindest in seinen Formulierungen ist Kofi Annan vorsichtiger als die Hochrangige Gruppe. Sein Bericht bringt deutlich das Bemühen zum Ausdruck, die Staaten durch Überzeugungsarbeit für sein Reformvorhaben zu gewinnen, wobei er auch auf emotionsgeladene stilistische Bilder zurückgreift. Insgesamt setzt aber auch Kofi Annan ganz maßgeblich auf den Sicherheitsrat als Triebfeder für die Umsetzung seiner Reformpläne. Diesen Ansatz von vornherein als utopisch abzutun, würde seiner Dimension nicht gerecht werden, ist er doch gleichzeitig mit einer tief greifenden 34
Vgl. die Absätze 97-105 des Ergebnisdokuments sowie A/60/L.40 v. 14.12.2005.
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Reform des Sicherheitsrates selbst verbunden,35 die diesen autoritativer, repräsentativer und schlagkräftiger machen sollte. Da aber gegenwärtig auch diese Reformschiene nicht weiter verfolgt wird, scheint in einer Gesamtwertung auch dieser Aspekt den Eindruck der Realitätsferne des Reformbemühens als Ganzes weiter zu verstärken. Das Ergebnisdokument spiegelt wiederum den Minimalkonsens der Staatengemeinschaft wider. Vom Reformeifer der Hochrangigen Gruppe bzw. des Generalsekretärs ist hier wenig mehr zu verspüren. Die Existenz des Dokuments selbst ist Beleg für die vorangegangenen Reformdiskussionen, nicht hingegen sein Inhalt, weshalb man sich des Eindrucks eines gewissen Zynismus nicht erwehren kann. In diesem über weite Strecken unverbindlich gehaltenen Dokument ragt nun der Sicherheitsrat nicht mehr besonders hervor. Gerade weil die einzelnen Staaten auf die Wahrung ihrer souveränen Rechte bedacht sind, sehen sie keine Veranlassung, die Machtbefugnisse des Sicherheitsrats auszudehnen. Nach der hier vertretenen Auffassung waren die beschriebenen Bemühungen der Hochrangigen Gruppe sowie des Generalsekretärs nicht umsonst. Die Diskussion wird weitergehen und die erwähnten Dokumente werden dafür wohl auf absehbare Zeit einen wichtigen Bezugspunkt darstellen.36 Die seit langem die einschlägige wissenschaftliche Auseinandersetzung beherrschende Fragestellung, wie weit die Befugnisse des Sicherheitsrates im System der UN-Verfassungsordnung reichen,37 wurde in diesen Dokumenten nicht direkt angesprochen. Es ist aber klar erkennbar, dass diese Frage im HLP-Bericht sowie im Annan-Bericht 35 Vgl. dazu z.B. Y. Z. Blum, Proposals for UN Security Council Reform, AJIL 99 (2005), 632-649. 36 Für eine kritische Stellungnahme, was die Reformmöglichkeit insbesondere des Sicherheitsrates anbelangt, vgl. E. Suy, Is the United Nations Security Council Still Relevant? And Was it Ever?, Tulane Journal of International and Comparative Law 12 (2004), 7-25 (24): „Let it be clear, first of all, that any amendment of the Charter, redefining the purposes and principles of the Organization and modifying the mandate of the Security Council belongs to utopia. The reason for this is very simple: the Charter defines that the existing permanent members have to agree to any amendment.“ 37 Vgl. dazu z.B. K. Skubiszewski, The International Court of Justice and the Security Council, in: V. Lowe/M. Fitzmaurice (Hrsg.), Fifty years of the International Court of Justice, Cambridge 1996, 606-629; K. Zemanek, Is the Security Council the sole Judge of its own Legality?, in: E. Yakpo/T. Boumedra (Hrsg.), Liber Amicorum Mohammed Bedjaoui, Den Haag 1999, 629-645; A. Zimmermann/B. Elberling, Grenzen der Legislativbefugnisse des Sicherheitsrats, in: Vereinte Nationen 3 (2004), 71-77; E. de Wet, The Security Council as a Law Maker: The Adoption of (Quasi)-Judicial Decisions, in: R. Wolfrum/V. Röben (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, Berlin u.a. 2005, 183-225 (mit anschließenden Kommentaren von M.C. Wood und G. Nolte, 227235 und 237-243).
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keine große Rolle spielte. Eine größere Sensibilität dafür könnte allerdings – ganz im Sinne des eingangs zitierten Satzes von Fitzmaurice – einen wichtigen Beitrag dafür darstellen, dass zukünftigen Reformbemühungen größere Erfolgsaussichten beschieden sein mögen.
Die Reform des Weltsicherheitsrats – Stand und Perspektiven Von Volker Rittberger und Heiko Baumgärtner
A. Einführung und Fragestellung Die angestrebte Reform des Sicherheitsrats mit dem Ziel einer veränderten Zusammensetzung ist gescheitert, zumindest vorerst, vermutlich aber auch mittelfristig. Obgleich die Staatengemeinschaft im Abschlussbericht des „Millennium+5-Gipfels“1 ihren Willen zur institutionellen Umgestaltung des mächtigsten und wichtigsten der sechs Hauptorgane der Vereinten Nationen bekundet, hat sich keines der diskutierten Reformmodelle als mehrheitsfähig erwiesen und eine vermittelnde Kompromisslösung ist nicht in Sicht. Das Fenster, das VNGeneralsekretär Kofi Annan mit seiner Reformagenda geöffnet hatte, ist somit wieder zugestoßen worden. Es wird voraussichtlich für viele Jahre geschlossen bleiben. Im Prozess der angestrebten organisatorisch-strukturellen Umgestaltung des Sicherheitsrats haben sich wie in einem Brennglas die Schwierigkeiten und Hindernisse institutionellen Wandels in den Vereinten Nationen gebündelt.2 Zwar teilen nahezu alle VN-Mitgliedstaaten die Auffassung, dass Aufbau und Arbeitsweise des Sicherheitsrats nicht mehr den politischen und wirtschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts gerecht werden. Gleichwohl befürchten die VN-Mitgliedstaaten auch, dass sich strukturelle Veränderungen zu ihrem Nachteil auswirken könnten.3 Trotz der Intensivierung der Reformdebatte zu Beginn der 1990er Jahre 1
VN-Dok. A/60/1, Rn. 152-154. Strukturelle Veränderungen wie die Reform des Sicherheitsrates beinhalten eine Revision der VN-Charta bzw. Änderungen einzelner Bestimmungen und sind folglich mit nur schwer überwindbaren Hürden konfrontiert. In der bisherigen Geschichte der VN wurden daher lediglich fünf Änderungen von vier Artikeln vorgenommen. Vgl. dazu: M. Fröhlich/K. Hüfner/A. Märker, Reform des Sicherheitsrates. Modelle, Kriterien und Kennziffern, Berlin 2005, 3-41 (7). 3 Vgl. B. Fassbender, Pressure for Security Council Reform, in: D. M. Malone (Hrsg.), The UN Security Council. From the Cold War to the 21st Century (2004), 341-355. 2
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Volker Rittberger und Heiko Baumgärtner
konnte bis heute keine Formel gefunden werden, welche eine konsensfähige Grundlage für eine mögliche Reform des Weltsicherheitsrates böte. Die Suche nach einer konsensfähigen Grundlage wird durch die widerstreitenden und teils nur schwer miteinander zu vereinbarenden Zielgrößen einer Sicherheitsratsreform erschwert. So soll eine Veränderung von Aufbau und Arbeitsweise des Sicherheitsrates zugleich drei Zielsetzungen genügen4: 1. Erhöhung der Effektivität (im Sinne schneller Entscheidungsfindung und der Bindewirkung seiner Beschlüsse); 2. Erhöhung der Repräsentativität (im Sinne der Vermehrung der Mitgliederzahl, um einen repräsentativen Querschnitt aller Weltregionen zu erreichen); 3. Erhöhung der Legitimität (im Sinne eines möglichst „demokratischen“ Entscheidungsfindungsmechanismus).5 Um diese Ziele zu erreichen, müsste einerseits die Zusammensetzung des Gremiums, andererseits der Modus der Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat verändert werden. Bis heute hat sich jedoch kein Konsens in der Staatengemeinschaft darüber herausgebildet, wie und mittels welcher Formel die Zusammensetzung des Gremiums sowie der Modus der Entscheidungsfindung verändert werden müssen, um diesen Zielsetzungen gerecht zu werden. Mit Blick auf die Zusammensetzung des Gremiums gehen die Auffassungen auseinander, ob eine Erweiterung neue ständige und nicht ständige Mitglieder oder lediglich nicht ständige Mitglieder umfassen soll, welche Staaten dabei zu berücksichtigen seien und bei welcher Mitgliedszahl die Arbeits- und Entscheidungsfähigkeit des Rats in Mitleidenschaft gezogen würde. Denn zwischen der Repräsentativität des Rats und der Effizienz und Effektivität seiner Entscheidungen besteht ein Spannungsverhältnis.6 Nicht einmal die Hochrangige Reformgruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel konnte sich hinsichtlich der 4
Vgl. M. Fröhlich/K. Hüfner/A. Märker (Anm. 2). Die Zielgrößen der Sicherheitsratsreform haben sich in den 1990er Jahren als Grundlage der Reformdebatte herausgebildet und in den sogenannten Razali-Vorschlag (1997) Eingang gefunden. Die Gewichtung dieser Zielgrößen wird in der Literatur freilich unterschiedlich bewertet. Während V. Rittberger/M. Mogler, Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und ständige Mitgliedschaft Deutschlands, in: Die Reform des UNSicherheitsrates, Ein ständiger Sitz für Deutschland?, Bonn 1997, 18-40, Effektivität und Repräsentativität als Zielgrößen diskutieren, wird bei Fröhlich/Hüfner/Märker (Anm. 2) die Legitimität der Entscheidungsfindung zusätzlich als eigenständige Zielgröße angeführt, obschon diese – streng genommen – nur eine aus den beiden zuvor genannten abgeleitete Zielgröße darstellt. 6 S. Graf von Einsiedel, Vision mit Handlungsanweisung. Das High-level Panel und die Reformagenda der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen 1 (2005), 5-12. 5
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Erweiterung um neue Mitglieder abschließend darauf einigen, ob der Rat um ständige und nicht ständige oder lediglich um nicht ständige Mitglieder erweitert werden sollte. Obschon sich der Reformbericht auf eine Obergrenze der Erweiterung von 24 Mitgliedern einigen konnte, bei welcher der Rat noch arbeitsfähig sei, wurden zwei Modelle angeboten. Keines der beiden Modelle ist radikal, revolutionär oder auch nur neu. Die grundlegenden Elemente beider Modelle wurden schon über viele Jahre diskutiert.7 Modell A, das dem deutschen Werben um einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat im Rahmen der G 4-Initiative (Brasilien, Deutschland, Indien, Japan) zugrunde lag, umfasst eine Erweiterung des Rats um sechs neue ständige Mitglieder, allerdings ohne Vetorecht, und drei neue nicht ständige Mitglieder – mit angemessener geographischer Verteilung.8 Diese Erweiterungsformel ist in der Staatengemeinschaft nicht ausreichend mehrheitsfähig, da sie zu viele potentielle relative Statusverlierer erzeugt. Modell B, mit dem ursprünglich eine Gruppe um Italien (Uniting for Consensus, früher auch Coffee Club genannt) sympathisierte, es aber dann in nur sehr abgeschwächter Form noch unterstützte,9 sieht eine Erweiterung des Sicherheitsrats um acht „semi-permanente“ Sitze und einen nicht ständigen Sitz vor. Die G 4-Staaten ebenso wie die Staaten der Afrikanischen Union lehnen dieses Modell strikt ab, weil sie sich nicht lediglich mit zusätzlichen „semi-permanenten“ Sitzen abspeisen lassen wollen. Keines der beiden vorgeschlagenen Reformmodelle der Hochrangigen Reformgruppe vermochte mithin, die divergierenden Interessen der Staaten und Staatengruppen zu einer Konsensus-Entscheidung zu führen. Mit Blick auf eine Reform des Modus der Entscheidungsfindung sind die Spielräume freilich noch begrenzter. Da eine Reform der Entscheidungsfindung eine Modifikation des Veto-Rechts nach sich zöge, müsste sie mit erheblichem Widerstand der derzeit ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats rechnen.10 In den 7
Vgl. R. Thakur, „Wieder Vereinte Nationen? Die Weltorganisation vor einschneidenden Veränderungen“, Internationale Politik 60 (1/2005), 102-107 (105). 8 VN-Dok. A/59/L.64. Neben dem Vorschlag der G 4-Staaten hat die Afrikanische Union (AU) einen eigenen Vorschlag eingebracht, der in der Zahl und Verteilung der ständigen Sitze dem G 4-Vorschlag entspricht, jedoch einen zusätzlichen nicht ständigen Sitz für Afrika einfordert. Zudem fordert die AU für die neuen ständigen Mitglieder die gleichen Rechte wie für die bisherigen ständigen Mitglieder inklusive dem Vetorecht (vgl. VN-Dok. A/59/L.67). 9 VN-Dok. A/59/L.68. 10 Vgl. Fröhlich/Hüfner/Märker (Anm. 2), 10; T. Weiss/K. E. Young, Compromise and Credibility: Security Council Reform?, Security Dialogue 36 (2/2005), 131-154. Bezüglich der Änderung der Verfahrensregeln für die Entscheidungsfindung gilt es jedoch, zwischen einer Vielzahl möglicher Reformschritte zu unterscheiden. Die Empfehlungen reichen von der Einführung einer Rechenschaftspflicht für die Anwendung des Veto, der Einführung
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Reformmodellen der Hochrangigen Gruppe, auf deren Basis Kofi Annan sein reformpolitisches Grundlagendokument „In größerer Freiheit“11 formulierte, wird folglich nur eine freiwillige Selbstbeschränkung der ständigen Mitglieder bei der Ausübung des Veto-Rechts vorgeschlagen. Trotz der Schwierigkeiten der Konsensfindung besteht der Bedarf für eine Reform des Sicherheitsrats uneingeschränkt fort. Denn die Beharrungskraft alter und das Aufkommen neuer Problembündel im Sachbereich Sicherheit macht globale Steuerungs- und Regelungsleistungen notwendig, die nur durch effektive und legitime multilaterale Institutionen wie den Weltsicherheitsrat erbracht werden können. Angesichts des Scheiterns der jüngsten Reformbemühungen zur Erreichung der Zielgrößen Effektivität, Repräsentativität und Legitimität läge es freilich nahe, die wissenschaftliche und in der Öffentlichkeit stattfindende Debatte zu erweitern. Dazu müssten alternative Modelle stärker diskutiert werden, die eine Annäherung an die einzelnen Zielgrößen erlauben und gleichzeitig ein Gleichgewicht zwischen diesen herstellen können. Ein solches alternatives Modell der Erweiterung könnte darin bestehen, dass der Sicherheitsrat zwar nur um nicht ständige Mitglieder erweitert, zugleich aber das Verbot der unmittelbaren Wiederwahl (Art. 23 Abs. 2 VN-Charta) aufgehoben würde. Dies würde Mittelmächten wie Deutschland, Indien oder Japan eine „quasi-ständige nicht ständige Mitgliedschaft“ in Aussicht stellen, ohne dass hierfür neue ständige Sitze geschaffen werden müssten.12 Daneben gilt es, eine Reihe von Reformen fortzuführen, die ohne eine Änderung der Charta zu bewerkstelligen sind. Hierunter fallen insbesondere die Reform der Arbeitsweisen des Sicherheitsrats. Auf diesen Aspekt verweist auch das Ergebnisdokument des Weltgipfels vom September 2005, in dem die Empfehlung ausgesprochen wird, der Sicherheitsrat möge „seine Arbeitsmethoden weiter so anpassen, dass Staaten, die nicht Mitglied des Rates sind, gegebenenfalls stärker an seiner Arbeit beteiligt werden“.13 Der Sicherheitsrat hat in diesem Zusammenhang bereits eine Reihe richtungsweisender Initiativen ergriffen, die Raum für
eines virtuellen Abstimmungsverfahrens, das vor wichtigen Beschlussfassungen Transparenz über die Mehrheitsverhältnisse schaffen soll, der Qualifizierung des Veto als „doppeltes Veto“ (mindestens die gleichzeitige Ablehnung durch zwei Vetomächte), der Einschränkung des Veto auf bestimmte Angelegenheiten (etwa auf Kapitel VII der Charta) bis hin zur Abschaffung des Veto (sowohl bei den jetzigen als auch potentiell neuen ständigen Mitgliedern). 11 VN-Dok. A/59/2005. 12 Siehe Rittberger/Mogler (Anm. 5), V. Rittberger, Ein problematisches Streben. Ständiger Sitz für Deutschland im Sicherheitsrat?, WZB-Mitteilungen 105 (2004), 20-22. 13 VN-Dok. A/60/1, Rn. 154.
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mehr Verantwortlichkeit, Effektivität und Transparenz schaffen.14 Indem diese Reformschritte ausgebaut und intensiviert werden, kann ein institutioneller Reformprozess auch ohne tief greifende konstitutionelle Einschnitte (Änderung der VN-Charta) fortgeführt werden. In diesem Beitrag sollen die den Weltsicherheitsrat betreffenden Entwicklungen des Reformprozesses und dessen Defizite analysiert werden, um auf dieser Grundlage zukünftige Reformschritte aufzuzeigen. Zu diesem Zweck werden in einem ersten Schritt die unleugbaren strukturellen Gründe für den Bedarf nach institutionellem Wandel des Weltsicherheitsrats erörtert. Trotz dieses gestiegenen Reformbedarfs sind jedoch alle Reformbemühungen bisher im Sande verlaufen. In einem zweiten Schritt werden daher einige Überlegungen angestellt, wie das Scheitern der Reform des Sicherheitsrates mit Blick auf dessen Erweiterung um ständige und nicht ständige Mitglieder theoriegestützt zu erklären ist. Rätselhaft ist, warum trotz des gemeinsamen Interesses aller Mitgliedstaaten an einer institutionellen Reform des Sicherheitsrates im Verhandlungsprozess keine konsensfähige Herangehensweise für die Art und Weise der Erweiterung gefunden werden konnte. Hierbei wird auf das Modell des „institutionellen Aushandelns“ (institutional bargaining) zurückgegriffen, das Bedingungen des Erfolgs oder Misserfolgs von Verhandlungsprozessen über Institutionenbildung und institutionellen Wandel entwickelt. Abschließend wird den Möglichkeiten und Grenzen von Reformschritten unterhalb der Schwelle einer formellen Änderung der VN-Charta nachgegangen. Hier wird argumentiert, dass angesichts des Scheiterns der Erweiterung des Sicherheitsrates um ständige oder „semi-permanente“ Mitglieder der Schwerpunkt der Reformbemühungen in der nahen Zukunft auf der Änderung der internen Organisationsrechtsformen liegen muss. Grundlegend hierfür ist der Ausbau bestehender sowie die Errichtung neuer Formen der institutionalisierten Beteiligung und Mitwirkung externer, d.h. staatlicher und nichtstaatlicher Akteure. Diese Dimension hat in der auf die Zielgröße der Erweiterung zugespitzten Debatte bislang zu wenig Berücksichtigung gefunden.
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Vgl. T. G. Weiss, Overcoming the Security Council Reform Impasse. The Implausible versus the Plausible, Occasional Paper of the Friedrich-Ebert-Foundation No. 14 (2005), 13-31. Die bis zum Jahr 2001 erfolgten Neuerungen zur Schaffung von Transparenz, Offenheit und Effizienz sind vom Sicherheitsrat in einem Bericht über prozedurale Entwicklungen aufgelistet worden (VN-Dok. S/2002/603).
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B. Bedarf für die Reform des Sicherheitsrats Der Sicherheitsrat ist das mächtigste und wichtigste Organ der Vereinten Nationen. Er kann gemäß den Bestimmungen des Kapitels VII VN-Charta Bedrohungen des Friedens und der internationalen Sicherheit feststellen und ist allein befugt, auf dieser Grundlage Zwangsmaßnahmen gegen Friedensstörer zu autorisieren. Das traditionelle Verständnis von Sicherheit beschränkte sich auf Schutz vor äußeren Bedrohungen, der physischen Existenz eines politischen Kollektivs sowie seiner Freiheit, die eigene Entwicklung selbstbestimmt zu steuern. Sicherheit wurde in erster Linie als Bedrohung von und für Staaten definiert. Im Zuge des Prozesses der „Versicherheitlichung“ (securitization) der internationalen und transnationalen Beziehungen hat sich jedoch der Begriff dessen, was als Sicherheitsbedrohung gewertet wird, und der Kreis derer, die als schutzwürdig erachtet werden, erheblich gewandelt. 1. Zum einen hat der Begriff der Sicherheitsbedrohung eine inhaltliche Ausdifferenzierung erfahren. Bedrohungen werden nicht mehr ausschließlich als militärische Bedrohungen der nationalen territorialen Integrität und Entscheidungsautonomie definiert. Vielmehr hat der Prozess der Vernetzung sozialer Handlungszusammenhänge zum Aufkommen neuer, transsouveräner Probleme15 geführt, die ebenfalls zur Gefährdung der physischen Existenz politischer Kollektive führen können. Sicherheitspolitik bezieht sich somit sowohl auf die Bearbeitung von „hard threats“ als auch auf die Bearbeitung von „soft threats“.16 2. Zur inhaltlichen Ausdifferenzierung des Sicherheitsbegriffs gesellt sich eine Ausdifferenzierung des Kreises der Subjekte, deren physische Sicherheit als schutzwürdig erachtet wird. Als unbedingt schutzwürdig gilt nun die „menschliche Sicherheit“ (human security) selbst.17 Menschliche Sicherheit umfasst nicht nur den Schutz der physischen Integrität des Individuums vor äußerem Zwang, sondern auch seinen Anspruch auf die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Lebenschancen. Ein derart umfassendes Konzept geht über das
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Transsouveräne Probleme sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Staatsgrenzen überschreiten, sich damit (einzel-)staatlicher Kontrolle entziehen und auf unilateralem Wege nicht mehr bearbeitet werden können, vgl. M. K. Cusimano (Hrsg.), Beyond Sovereignty: Issues for a Global Agenda, Boston 2000, 3. 16 VN-Dok. A/59/565, 28 ff. 17 Commission on Human Security (Hrsg.), Human Security Now: Protecting and Empowering People, New York 2003.
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traditionelle Verständnis von Sicherheitsbedrohungen im Sinne von Art. 39 VN-Charta weit hinaus.18 Mit dem um die Bezugnahme auf „menschliche Sicherheit“ erweiterten Sicherheitsbegriff geht auch ein fundamentaler Wandel der Staatenmoral einher. Denn die Ausübung externer Souveränität wird als Folge dieses erweiterten Sicherheitsbegriffs mit der internen Herrschaftsausübung verknüpft, deren oberste Aufgabe der Schutz der „menschlichen Sicherheit“ („responsibility to protect“) wird.19 Die Inanspruchnahme und Anerkennung externer Souveränität gegenüber Dritten und deren Anerkennung durch sie stehen somit unter dem Vorbehalt der angemessenen Ausübung interner Souveränität. Souveränität verpflichtet!20 Sie wird nicht mehr allein oder vorrangig als Schutz vor Einmischung in innere Angelegenheiten begriffen, sondern als Verantwortung jedes einzelnen Staates, die eigene Bevölkerung vor vermeidbaren, ihre physische Existenz gefährdenden Sozial- oder humanitären Katastrophen zu bewahren.21 Wie weit der Prozess der Konsensfindung innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft über den normativen Wandel von Souveränität als Abwehrrecht hin zu Souveränität als Schutzverpflichtung fortgeschritten ist, wird nicht zuletzt im Ergebnisdokument des „Millennium+5-Gipfels“ deutlich: „Jeder einzelne Staat hat die Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“22 Wird ein Staat, genauer: werden seine Regierungsorgane ihrer Verantwortung nicht gerecht, geht die Verantwortung auf die internationale Staatengemeinschaft über. Der internationalen Staatengemeinschaft und ihren Organen, namentlich dem Weltsicherheitsrat, obliegt dann die Aufgabe, Menschen den Schutz zu gewähren, der ihnen durch den Unwillen oder durch die Unfähigkeit ihrer Regierung entzogen wurde.23 18
Vgl. hierzu auch C. Schaller, Zur künftigen Rolle des Sicherheitsrates, SWP-Aktuell 2 (2005), 3. 19 Der Begriff geht auf den viel beachteten Bericht The Responsibility to Protect der International Commission on Intervention and State Sovereignty aus dem Jahr 2001 zurück. Der Bericht argumentiert für eine Neubestimmung des Konzepts der staatlichen Souveränität, in dem das herkömmliche Verständnis von Souveränität als Abwehrrecht (sovereignty as control) durch ein Verständnis von Souveränität als Schutzverpflichtung der staatlichen Regierungsorgane gegenüber „ihren“ Bürgern (sovereignty as responsibility) ersetzt wird. 20 T. Debiel, „Souveränität verpflichtet: Spielregeln für den neuen Interventionismus“, Internationale Politik und Geschichte 11 (3/2004), 61-81. 21 VN-Dok. A/59/565, 24 f., 63 f. 22 VN-Dok. A/60/1, Rn. 138. 23 VN-Dok. A/60/1, Rn. 139. Skeptiker bezweifeln, dass sich die Schutzverpflichtung der Staaten als internationale Norm mit hohem Kommunalitätsgrad bereits etabliert habe,
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Mit dieser Erweiterung des Sicherheitsbegriffs von der staatlichen zur menschlichen Sicherheit geht auch eine räumliche Ausweitung und eine funktionale Differenzierung der Kompetenzansprüche des Sicherheitsrats einher. Ist ein Staat nicht willens oder nicht fähig, die eigene Bevölkerung zu schützen, wird die Gewährleistung physischer Sicherheit von Individuen und Gruppen zu einer Angelegenheit der internationalen Staatengemeinschaft. Der Sicherheitsrat hat vor diesem Hintergrund seit dem Ende des Ost-West-Konflikts sein Rollenverständnis deutlich erweitert.24 Er intervenierte in zahlreiche innerstaatliche Konflikte, errichtete Tribunale zur Strafverfolgung von Kriegsverbrechern, installierte territoriale Übergangsverwaltungen und beschloss Maßnahmen gegen den transnationalen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen auch und gerade an nichtstaatliche Akteure.25 In Fällen von Völkermord oder bei massiven Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung hat der Sicherheitsrat auch militärische Interventionen autorisiert. Mit anderen Worten, der Sicherheitsrat entwickelt sich zusehends zu einer „Weltexekutive“.26 Der Sicherheitsrat hat seine Kompetenzansprüche zudem in jüngster Zeit auch auf den Erlass von abstrakt-allgemeinen, d.h. gesetzesgleichen Rechtsakten ausgeweitet.27 Er hat mit der Resolution 1373 vom 28. September 2001 auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung und der Resolution 1540 vom 28. April 2004 auf dem Gebiet der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen an nichtstaatliche Akteure in abstrakt-genereller Weise Verpflichtungen für die gesamte Staatenvgl. Debiel 2004 (Anm. 20) 68-69. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf das völkerrechtliche Gewicht, welches das herkömmliche Verständnis von Souveränität als Abwehrrecht gegenüber einer sich herausbildenden Norm der Souveränität als Schutzverpflichtung der Staaten nach wie vor besitze. Zugleich weisen sie darauf hin, dass die verantwortlichen Organe wie der Weltsicherheitsrat trotz ihrer rechtlichen Handlungskompetenz häufig der politischen Handlungsfähigkeit entbehrten. Es ist vor diesem Hintergrund freilich umso bemerkenswerter, dass ein normativer Konsens innerhalb der Staatengemeinschaft angesichts der existierenden Beharrungskräfte und angesichts der divergierenden Interessen der Staaten und Staatengruppen zustande gekommen ist und Eingang in das Abschlussdokument des „Millennium+5-Gipfels“ gefunden hat. Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Schutzverantwortung der Staaten bereits zu einem festen Bestandteil eines internationalen Diskurses geworden ist, der durch die wachsende Bedeutung der Menschenrechte für den Sachbereich Sicherheit geprägt ist. 24 S. Hulton, Council Working Methods and Procedure, in: D. M. Malone (Hrsg.), The UN Security Council. From the Cold War to the 21st Century, Boulder 2004, 237-251. 25 Schaller (Anm. 18), 1. 26 Rittberger (Anm. 12), 21. 27 A. Zimmermann/B. Eberling, „Grenzen der Legislativbefugnisse des Sicherheitsrates. Resolutionen und abstrakte Bedrohungen des Weltfriedens“, Vereinte Nationen 3 (2004), 71-77.
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gemeinschaft aufgestellt und sich somit zu für diese verbindlichen legislativen Maßnahmen ermächtigt. Diese an alle Staaten gerichteten abstrakt-allgemeinen Rechtsakte treten neben die herkömmlichen Quellen des Völkerrechts. Sie verpflichten sämtliche Staaten zu bestimmten gesetzgeberischen und vollziehenden Maßnahmen. Zusätzlich wurden spezielle Ausschüsse wie das Counter-Terrorism Committee und Agenturen wie das Counter-Terrorism Executive Directorate28 innerhalb des Sicherheitsrats eingerichtet, die mit Hilfe von Experten die Umsetzung der Resolutionen in den einzelnen Staaten beobachten. Wie durchgreifend die Wirkung dieser abstrakt-allgemeinen Rechtsakte ist, wurde jüngst anhand des Falls eines jungen Mannes islamischen Glaubens aus Berlin deutlich.29 Diesem wurde zeitweise das Arbeitslosengeld II entzogen, weil er sich auf einer ständig aktualisierten Liste von Terrorverdächtigen wiederfand, die vom Al-Qaida and Taliban Sanctions Committee des VN-Sicherheitsrats als Maßnahme zur Bekämpfung des Terrorismus eingeführt worden ist.30 Die deutschen Behörden hielten sich bei ihrem Vorgehen an die Verordnung 2580/2001 des Rats der Europäischen Gemeinschaft,31 der hiermit die abstrakt-generellen Verpflichtungen der Resolution 1373 des Weltsicherheitsrates umsetzte. Diese EG-Verordnung hält die mitgliedstaatlichen Behörden dazu an, dass für Personen, Organisationen oder Vereinigungen, die auf der Liste terrorverdächtiger Personen des Sanktionsausschusses stehen, „keine Gelder, sonstige finanzielle Vermögenswerte, wirtschaftliche Ressourcen oder Finanzdienstleistungen bereit gestellt werden“.32 Der Entzug des Arbeitslosengeldes II, d.h. von Zahlungen an Leistungsempfänger, die sich auf der Liste terrorverdächtiger Personen befinden, ist somit direkte Folge der Richtlinien-Gesetzgebung des Weltsicherheitsrats durch Resolution 1373. Zwar hat sich inzwischen herausgestellt, dass es sich im Falle des Berliners um eine Verwechslung handelte, die nicht zuletzt auf das intrans28
Zur Errichtung des Counter-Terrorism Committee vgl. S/RES/1373 (2001). Die Einrichtung des Counter-Terrorism Executive Directorate geht auf Res. 1535 (2004) des Sicherheitsrats zurück. 29 Vgl. hierzu S. Weiland, UNO Fahndung. Wie ein Arbeitsloser zum Terrorverdächtigen wurde, SPIEGEL ONLINE, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,392 578,00.html (abgerufen am 29.12.2005). 30 Die Liste terrorverdächtiger Personen kann auf den Internetseiten des Sanktionsausschusses eingesehen werden. http://www.un.org/Docs/sc/committees/1267/1267ListEng. htm (abgerufen am 12.01.2006). 31 Verordnung (EG) 2580/2001 des Rats vom 27. Dezember 2001, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 344/70 (28. Dezember 2001). 32 Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Hrsg.), Merkblatt zu den Länder unabhängigen Embargomaßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, Frankfurt/M. 2005, 7.
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parente Verfahren der Aktualisierung sowie die unpräzisen Personendaten der Liste zurückzuführen ist; das Beispiel illustriert jedoch eindrucksvoll, wie tief die Beschlüsse des Sicherheitsrates mittlerweile auf mitgliedstaatliche Rechtsordnungen und sogar das Leben einzelner einwirken können. Der Sicherheitsrat schließt erkennbare Lücken im Völkerrecht und versucht, durch Richtlinien-Gesetzgebung den Staaten vorzugeben, wie sie in angebbaren Problemfeldern künftig zu handeln haben. Mit anderen Worten, der Sicherheitsrat entwickelt sich zusehends zu einer „Weltlegislative“. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass sich der Sicherheitsrat durch die Selbsteinsetzung als Weltexekutive und Weltlegislative zum Eckstein eines sich im embryonalen Status befindlichen, freilich demokratisch defizitären Weltregierungssystems im Sachbereich „Sicherheit“ entwickelt. Als „Weltexekutive“ und „Weltgesetzgeber“ greift der Sicherheitsrat tief in die innerstaatlichen Verhältnisse der Mitgliedstaaten ein und stellt Verpflichtungen für die gesamte Staatengemeinschaft auf. Er trifft somit Entscheidungen und Beschlüsse von großer Tragweite und mitunter existenzieller Bedeutung für einzelne Staaten und deren Bürger. Diese Entwicklungstendenzen werfen die Forderung nach verstärkter Mitwirkung und Teilhabe an der Entscheidungsfindung seitens der Mitgliedstaaten, aber auch der (Zivil-)Gesellschaftswelt auf. Denn die Durchsetzungsfähigkeit dieser Entscheidungen und Beschlüsse hängt nicht zuletzt davon ab, ob eine Institution als unterstützenswert wahrgenommen wird; mit anderen Worten, von ihrer Legitimität. Der augenblicklich in eine Sackgasse geratene Reformimpetus bleibt für die Akzeptanz der Autorität und die Legitimität der Entscheidungen des Sicherheitsrats unverzichtbar. Nachdem in diesem Abschnitt die strukturellen Gründe für den Reformbedarf dargestellt wurden, wird im folgenden Abschnitt der Frage nachgegangen, warum der Reformbedarf bis dato in keine greifbare institutionelle Reform mündete.
I. Erklärung Das Scheitern der Sicherheitsratsreform war mitnichten von Vornherein zu erwarten. Umfragen belegen, dass die an Vorschläge für eine Reform des Sicherheitsrats geknüpften Erwartungen sowohl in der öffentlichen Meinung vieler Mitgliedstaaten als auch bei VN-Experten sehr groß waren. In einer 23 LänderUmfrage für BBC World Service zeigte sich in 22 von 23 Ländern eine breite Unterstützung für eine Erweiterung des Sicherheitsrats. Die Bevölkerungen von vier der fünf ständigen Mitglieder (namentlich Frankreich, Großbritannien, VR
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China und USA) sprachen sich mit deutlicher Mehrheit für eine Erweiterung um neue ständige Mitglieder aus. Insbesondere das deutsche Streben nach einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat fand eine breite Unterstützung.33 Auch das Ergebnis einer kleinen Umfrage bei VN-Experten zeigte eine ähnliche Tendenz. Während sie einer Reform des Vetorechts keine Aussicht auf Erfolg einräumten, hielten sie Bemühungen um eine Revision der Zusammensetzung des Sicherheitsrats für erfolgsträchtig.34 Dieses unerwartete Scheitern der Sicherheitsratsreform, soweit sie dessen Zusammensetzung betrifft, stellt auch vor diesem Hintergrund ein Rätsel dar. Rätselhaft ist, warum ein institutioneller Wandel durch Erweiterung des Sicherheitsrats um neue Mitglieder trotz der von vielen Seiten geteilten optimistischen Erwartungen nicht herbeigeführt werden konnte. Dieses empirische Rätsel soll im Folgenden theoriegestützt entschlüsselt werden. Zu diesem Zweck wird ausgehend von der Theorie des rationalistischen Institutionalismus auf das Modell des „institutionellen Aushandelns“ (institutional bargaining) eingegangen, auf dessen Grundlage sich Bestimmungsfaktoren für den Erfolg oder Misserfolg von Verhandlungsprozessen ermitteln lassen. Die ökonomische (Verhandlungs-)Theorie, die der Denkschule des rationalistischen Institutionalismus35 zugrunde liegt, betont, dass die Kooperationsbereitschaft der Akteure nicht automatisch in Kooperation mündet, weil Vertrauens- und Verteilungsprobleme die „Chance der Kooperation“36 oftmals zunichte machen. Ein Bereich der Übereinstimmung (zone of agreement) durch gemeinsame Inter33 Vgl. BBC-Umfrage „Reform der Vereinten Nationen“ vom März 2005. http://www. pipa.org/OnlineReports/UnitedNations/UNReform_May05/UNReform_Mar05_rpt.pdf (abgerufen am 12.12.2005). Bernd Mützelburg, der außen- und sicherheitspolitische Berater von Bundeskanzler Gerhard Schröder, führte dies auf Deutschlands Ansehen in der Welt als „glaubwürdiger Multilateralist“ zurück, B. Mützelburg, „Deutscher Sitz im UNSicherheitsrat“, Internationale Politik 60 (10/2005), 34-41 (38). 34 T. G. Weiss/K. E. Young, Compromise and Credibility: Security Council Reform?, Security Dialogue 36 (2/2005), 131-154. 35 R. O. Keohane, After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy, Princeton 1984; ders., Neoliberal Institutionalism. A Perspective on World Politics, in: R. O. Keohane (Hrsg.): International Institutions and State Power. Essays in International Relations Theory, Boulder 1989, 1-20; M. Zürn, Interessen und Institutionen in der internationalen Politik. Grundlegung und Anwendung des situationsstrukturellen Ansatzes, Opladen 1992; V. Rittberger (Hrsg.), Regime Theory and International Relations, Oxford 1993; A. Hasenclever/P. Mayer/V. Rittberger, Theories of International Regimes, Cambridge 1997. 36 H. Müller, Die Chance der Kooperation. Regime in den internationalen Beziehungen, Darmstadt 1993.
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essen ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Kooperation zwischen strategisch handelnden Akteuren.37 Das Erkenntnisinteresse dieser Ansätze ist daher auf die Frage gerichtet, inwieweit die soziale Situation oder Interessenkonstellation der an der Interaktion Beteiligten für den Verhandlungsverlauf und die erzielten Verhandlungsergebnisse ausschlaggebend ist. Die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Institutionalisierung der Kooperation, die diese fördert oder auf Dauer stellt, aus Verhandlungen hervorgeht, variiert folglich mit der jeweiligen Interessenkonstellation zwischen den Beteiligten und so genannten sekundären Einflussfaktoren wie z.B. dem „Schatten der Zukunft“.38 In der neueren Forschung über Institutionenbildung und institutionellen Wandel wird indessen stärker der Frage nachgegangen, inwieweit ein Wirkungszusammenhang zwischen der Art und dem Verlauf der Verhandlungen über Institutionenbildung oder institutionellen Wandel einerseits und der Form und dem Ausmaß der Institutionalisierung andererseits besteht.39 Bei diesen Forschungsansätzen ist das Interesse nicht auf die soziale Situation oder Interessenskonstellation gerichtet, sondern vielmehr auf diejenigen Merkmale des Verhandlungsprozesses, die zum Erfolg oder Misserfolg bei der Errichtung neuer oder der Veränderung bestehender institutioneller Arrangements beitragen. Das Modell des „institutionellen Aushan-
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Keohane (Anm. 35), 6; Hasenclever/Mayer/Rittberger (Anm. 35), 72. Zürn (Anm. 35), 151 ff. 39 Zum Wirkungszusammenhang zwischen Verhandlungsprozess und der Form und dem Ausmaß der Institutionalisierung vgl. F. U. Pappi/E. Riedel/P. W. Thurner/R. Vaubel (Hrsg.), Die Institutionalisierung internationaler Verhandlungen, Frankfurt/M. 2004, und die darin enthaltenen Überblicksartikel zum Forschungsstand von T. Conzelmann, Hauen und Stechen oder Vertrauen und Sprechen? Interessen und Ideen in internationalen Verhandlungssystemen, 69-89; und H. Esser, Die „Logik“ der Verständigung. Zur Debatte um „Arguing“ und „Bargaining“ in internationalen Verhandlungen, 33-68. Die Verfasser greifen dabei auf die verbreitete Unterscheidung zwischen den beiden Interaktionsmodi des Aushandelns (Bargaining) und des Argumentierens (Arguing) zurück. Ob Verhandlungen im Interaktionsmodus des Bargaining oder des Arguing stattfinden, ist jedoch eine empirische Frage. Unstrittig dürfte aber sein, dass der Verhandlungsprozess über die Reform des Sicherheitsrats vom Erscheinen des Berichts der Hochrangigen Gruppe Ende des Jahres 2004 bis zum „Millennium+5-Gipfel“ im September 2005 starke Merkmale des Bargaining-Modus, also des strategischen Vertretens von Interessen aufweist. Ein sehr guter Überblick zur Debatte über die (Ver-)Handlungsmodi des Aushandelns (Bargaining) und des Argumentierens (Arguing) findet sich bei T. Risse, „,Let’s Argue!‘: Communicative Action in World Politics“, International Organization 54 (1/2000), 1-39. 38
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delns“ (institutional bargaining) von Oran Young40 benennt solche Bestimmungsfaktoren für den Erfolg oder Misserfolg von solchen Verhandlungsprozessen.41 Für Young ist die Errichtung eines institutionellen Arrangements oder die Veränderung bestehender institutioneller Arrangements umso wahrscheinlicher, je stärker der Verhandlungsprozess Merkmale des integrativen im Unterschied zum distributiven Bargaining aufweist. Beim distributiven Bargaining sind die Akteure stärker an der – aus der Sicht der Beteiligten angestrebten, aber nur schwer, wenn überhaupt erreichbaren – ausgeglichenen Verteilung der Kosten und des Nutzens der Kooperation orientiert.42 Im integrativen Interaktionsmodus hingegen sind die verhandelnden Akteure stärker an der Hervorbringung gemeinschaftlicher Lösungen orientiert, weil für sie Anreize bestehen, solche institutionellen Arrangements zu wählen, die für alle akzeptabel sind.43 Integratives Bargaining setzt jedoch voraus, dass die verhandelnden Akteure mit unvollständiger Information unter einem „Schleier der Ungewissheit“ handeln.44 Dieser „Schleier der Ungewissheit“ „verwischt“ einerseits einen klar umrissenen Bereich einer möglichen Einigung, weil er bei den (ver-)handelnden Akteuren sowohl hinsichtlich der eigenen Strategien, Ziele und (zukünftigen) Interessen als auch derjenigen der anderen zu einer fundamentalen Unsicherheit führt.45 Andererseits ist unter der Bedingung des „Schleiers der Ungewissheit“ die aus der strategischen Interaktion resultierende zukünftige Gewinnverteilung nicht klar ersichtlich. Integrative Verhandlungsprozesse befördern somit Institutionenbildung bzw. institutionellen Wandel, weil sie den Bereich der (Nicht-)Übereinstimmung „verwischen“ und über die Verteilung der zukünftigen Gewinne aus der Institutionenbildung oder dem Institutionenwandel keine volle Gewissheit zulassen. Neben diesen Merkmalen, die integrative Verhandlungsprozesse beschreiben, hat Young jedoch noch eine Reihe weiterer Bedingungen identifiziert, deren
40 O. Young, The Politics of International Regime Formation: Managing Natural Resources and the Environment, International Organization 43 (1/1989), 349-367; ders., International Governance: Protecting the Environment in a Stateless Society, Ithaca 1994. 41 „Institutionelles Aushandeln“ bedeutet „Verhandlungen mit dem Ziel der Errichtung einer Institution“, vgl. Hasenclever/Mayer/Rittberger (Anm. 35), 69. 42 Hasenclever/Mayer/Rittberger (Anm. 35), 73. 43 Young (1994) (Anm. 40), 126 f. 44 Young (1989) (Anm. 40), 362 f. An dieser Stelle wird deutlich, dass Young im Grunde den Boden rationalistischer Ansätze mit exogen gegebenen und fixen Präferenzen verlässt und sich tendenziell (schwach) reflexiven Ansätzen annähert. Zur Charakterisierung von schwach reflexiven bzw. kognitiven Ansätzen vgl. Hasenclever/Mayer/ Rittberger (Anm. 35), 136 ff. 45 Hasenclever/Mayer/Rittberger (Anm. 35), 73.
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(Nicht-)Vorliegen den Erfolg oder Misserfolg von Institutionenbildung oder institutionellem Wandel erklären.46 Integrative Verhandlungsprozesse müssen: 1. Lösungen hervorbringen, die alle Verhandlungspartner gleichermaßen zufrieden stellen können (equitable solution). Die Verhandlungslösungen müssen Fairnesskriterien von Recht und Billigkeit genügen, bei denen die wichtigsten Parteien und Gruppierungen ihre Kerninteressen gewahrt sehen. Standards von Fairness und Reziprozität werden von den beteiligten Parteien herangezogen, um die Verteilung zu bewerten. Nur faire Lösungen können bei allen Parteien Akzeptanz und Folgebereitschaft erzeugen und die vielen Vetopositionen, die integrative Verhandlungsprozesse kennzeichnen, überwinden. 2. Externen Schocks oder Krisen ausgesetzt sein, die einen „Einigungszwang“ von außen erzeugen.47 3. Lösungen hervorbringen, die für die beteiligten Verhandlungspartner durch ihre Einfachheit und Klarheit eingängig sind (salient solution). 4. Durch die Führerschaft (leadership) eines Akteurs gekennzeichnet sein. Führerschaft kann sich entweder aus strukturellen Machtpositionen oder aus Ideenproduktivität ergeben. Sie kann Staaten, internationalen Organisationen oder NGOs zukommen. Im Folgenden soll überprüft werden, inwiefern der Verhandlungsprozess im Jahr 2005 bezüglich einer veränderten Zusammensetzung des Sicherheitsrats den Merkmalen und Erfolgsbedingungen integrativer Verhandlungsprozesse (nicht) entsprochen hat. Eine Reform des Sicherheitsrats durch eine Erweiterung um neue Mitglieder gemäß Modell A konnte nicht zu integrativem Bargaining führen, weil über die zukünftige Kosten- und Nutzenverteilung aus dem Institutionenwandel volle 46
Vgl. Hasenclever/Mayer/Rittberger (Anm. 35), 74-77. Bei diesen erklärenden Faktoren handelt es sich um so genannte INUS-Bedingungen – insufficient but non-redundant part of an unnecesssary but sufficient condition (J. L. Mackie, Cement of the Universe, Oxford 1974). In dem Modell von Young ist mithin keiner der angeführten Faktoren hinreichend zur Erklärung des Erfolgs von Institutionenbildung oder institutionellem Wandel. In Kombination bilden sie jedoch ein komplexes hinreichendes Bedingungsgefüge. 47 Dass ein solcher „externer Schock“ wie z.B. das Ende des Ost-West-Konflikts im hier untersuchten Verhandlungszeitraum nicht vorlag, muss nicht eigens erwähnt werden. Freilich ließe sich darüber debattieren, ob nicht die Terroranschläge des 11. September 2001 einem „externen Schock“ gleich kommen (so Georg Nolte auf dem Experten-Workshop des Instituts für Politische Wissenschaft und Walther-Schücking-Instituts am 21.9. 2005 in Berlin).
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Gewissheit bestand. Zudem entbehrt Modell A der Flexibilität, weil es den Nichtbegünstigten keine Aussicht auf eine künftige Revision der damit erfolgenden Statuszuteilungen eröffnet: Einmal ständiges Mitglied, immer ständiges Mitglied! Bei einer Reform nach Modell B hätte sich der Schleier der Ungewissheit über dessen Verteilungsfolgen zumindest ein erhebliches Stück weiter erstreckt, weil sich dann auch andere Kandidaten wie Ägypten, Argentinien, Indonesien, Italien, Malaysia, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Spanien oder Südafrika zukünftig bei der Wahl oder Wiederwahl berechtigte Hoffnungen hätten machen können, als Mitglied berücksichtigt zu werden. Da Modell A zugleich zu viele potentielle Verlierer und zu wenige Gewinner erzeugt, wird es auch den Standards von Fairness und Reziprozität nicht gerecht. In der Wahrnehmung der an fairen Verhandlungslösungen orientierten Akteure entspricht Modell A nicht einer ausgeglichenen Lösung und vermag somit nicht, die zahlreichen Vetopositionen in dezentralen Verhandlungssystemen zu überwinden. Nicht nur die auf ihre eigene Statusverbesserung bedachten oder eine Statusminderung befürchtenden Länder des „Coffee Clubs“, sondern auch die Hegemonialmächte USA und China haben gegen die Reform nach Modell A offen Widerstand geleistet. Für diese Hegemonialmächte hätte eine Reform nach Modell A zu einer Relativierung ihres institutionellen Status und ihrer (Entscheidungs-) Macht geführt, ohne diese Relativierungen kompensierende positive Anreize zu schaffen. Ein solcher typischer Anreiz wäre z.B. verlässliche Lastenteilung (burden sharing) mit den durch eine Reform nach Modell A begünstigten Staaten, so dass die Hegemonialmächte daraus zusätzlichen Nutzen würden ziehen können. Angesichts des Fehlens eines solchen Anreizes waren insbesondere die USA auch nicht bereit, die Reformführerschaft im Verhandlungsprozess zu übernehmen, die ihnen aufgrund ihrer machtstrukturellen Position zugefallen wäre. Dem Modell des „institutionellen Aushandelns“ zufolge wäre jedoch ein aktives Engagement zumindest der USA für eine mögliche Lösung erforderlich gewesen, um eine Sicherheitsratsreform durchzusetzen.
II. Evolutionärer, nicht revolutionärer Wandel Aufgrund des Scheiterns eines institutionellen Wandels mit dem Ziel einer veränderten Zusammensetzung des Sicherheitsrats müssen zukünftige Reformschritte zum einen stärker auf eine Veränderung der internen Organisationsrechtsformen sowie eine Stärkung informeller Regelungsmechanismen gerichtet sein,48 zum anderen ein stärkeres Maß an Flexibilität aufweisen, so dass eine künftige 48
Weiss (Anm. 14), 25.
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Revision der einmal eingeleiteten institutionellen Innovationen zumindest möglich erscheint. Auf diesem Wege kann die Effizienz, Verantwortlichkeit und Akzeptanz des Sicherheitsrats allmählich und schrittweise erhöht werden, ohne dass hierfür eine mit den dargestellten Kooperationsproblemen verbundene Zustimmung einer Supermajorität der Mitgliedstaaten notwendig wäre. Grundlegend für jede Reform der Arbeitweisen ist die Erweiterung und Vertiefung bestehender Informations-, Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte für externe Akteure. Indem Nicht-Mitglieder des Sicherheitsrats, Organisationen und Experten stärker in seine Entscheidungsprozesse eingebunden werden, wird einerseits die Transparenz der Beschlüsse und die Offenheit der Verfahrensschritte gestärkt. Andererseits profitiert der Sicherheitsrat von diesen externen Wissens-, Personal- und Finanzressourcen zur Bearbeitung der zahlreichen ihn beschäftigenden Problembündel. Erforderlich wäre hier: 1. Ein Ausbau der Teilnahme- und Mitwirkungsrechte für Mitgliedstaaten, die nicht im Sicherheitsrat vertreten sind. Hier sollten die bereits bestehenden informellen „privaten Treffen, die offen für alle VN-Mitglieder sind“,49 zu einem regelmäßigen umfassenden Konsultationsmechanismus erweitert werden. Dies gilt insbesondere für die wichtigsten Geberländer sowie die größten truppenstellenden Mitgliedstaaten. 2. Die stärkere Einbindung der anderen VN-Gremien in die Entscheidungsprozesse des Sicherheitsrats, insbesondere die Generalversammlung. Zu denken wäre an eine Verpflichtung des Sicherheitsrats zur detaillierten Rechenschaftslegung gegenüber der Generalversammlung mit anschließender Debatte und Schlussfolgerungen durch den Präsidenten der Generalversammlung oder in der Form einer Resolution. Zwar ist der Sicherheitsrat bereits jetzt schon verpflichtet, der Generalversammlung jedes Jahr einen Bericht vorzulegen (Art. 15 VN-Charta); dieser enthält aber oft nur eine kurze Aufzählung der beschlossenen Maßnahmen. 3. Der Ausbau bestehender und die Schaffung neuer Bindeglieder, so dass eine ökonomische Arbeitsteilung durch die Zusammenarbeit mit externen Akteuren möglich wird. In diesem Zusammenhang müsste beispielweise die Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) bei der Überwachung des Nichtverbreitungsvertrags ausgebaut werden. Zudem müsste die alleinige Zuständigkeit des Sicherheitsrats bei der Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen in Nachkriegsgesellschaften eingeschränkt werden, so dass die substanziellen Defizite bei der Planung, Finanzierung und Durchführung von Friedensmissionen und von Maßnahmen zur Friedenskonsolidie49
Weiss (Anm. 14), 26-27.
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rung in der Konfliktfolgezeit behoben werden könnten. Die neu eingerichtete Kommission für Friedenskonsolidierung, die als eines der wesentlichen Ergebnisse des „Millennium+5-Gipfels“ gelten kann, könnte in diesem Bereich die erforderlichen Synergien freisetzen.50 4. Eine verstärkte Inanspruchnahme externer Expertise zur Bewertung der Vereinbarkeit von mitgliedstaatlichem Verhalten mit dem Völkerrecht durch die Einholung von Rechtsgutachten durch den IGH (Art. 65 IGH-Statut i.V.m. Art 96 VN-Charta) auf Antrag einer Mehrheit des Sicherheitsrats, wobei diese Entscheidung als prozedurale gewertet würde, mithin nicht dem Veto eines ständigen Mitglieds unterläge. 5. Eine Reform der Verfahrensregeln für den Entscheidungsprozess. Hierbei wäre eine Modifikation des Vetorechts sowohl bei den jetzigen als auch potentiell neuen ständigen Mitgliedern erforderlich. Die Vorschläge reichen von der Einführung einer Rechenschaftspflicht für die Anwendung des Vetos, der Einführung eines virtuellen Abstimmungsverfahrens oder der Qualifizierung des Vetos als „doppeltes Veto“. Ein anderer Reformvorschlag findet sich im Bericht der Hochrangigen Gruppe. Dieser besagt, dass die ständigen Mitglieder eine freiwillige Selbstbeschränkung bei der Ausübung des Vetos praktizieren und seine Inanspruchnahme auf bestimmte Angelegenheiten einschränken sollen (etwa auf Kapitel VII der Charta).51 6. Der Ausbau eines institutionalisierten Zugangs für zivilgesellschaftliche Akteure. Die bisher diskutierten Reformschritte verharren allesamt im Bereich der Staatenwelt, ignorieren aber den Beitrag der zivilgesellschaftlichen Akteure zur erfolgreichen Bearbeitung von Sicherheitsproblemen und Friedensgefährdungen. M.a.W., sie blenden die Realität einer zunehmend durch gesellschaftsweltliche Akteure geprägten internationalen Politik aus. Ein angemessener Reformansatz muss aber nicht nur eine faire Verteilung der Mitwirkungsrechte zwischen den Mitgliedern der internationalen Staatengemeinschaft vorsehen, sondern sich gerade angesichts des Rollenwandels des Sicherheitsrats auch für die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure öffnen und neue Beteiligungsformen anbieten.
50
Da eine Reform des Sicherheitsrats bezüglich seiner Zusammensetzung offenkundig in absehbarer Zeit nicht stattfinden wird, betonen U. Schneckener/S. Weinlich, Die VNPeacebuilding-Kommission. Aufgaben, Auftrag und Design für eine neue Institution“, SWP-Aktuell 37 (2005), zu Recht, dass die Mitgliedschaft in der VN-Kommission für Friedenskonsolidierung für Deutschland mittelfristig von großem Interesse sein wird. 51 VN-Dok. A/59/565, Rn. 256-257.
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Über eine Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteuren muss daher stärker nachgedacht werden, nicht nur zur Verbesserung der Transparenz, sondern auch im Rahmen der Konfliktbeilegung. Derzeit gibt es keine formellen Informations-, Teilnahme- und Mitwirkungsrechte nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) an den Beratungen des Sicherheitsrats. Durch eine schrittweise Öffnung des Sicherheitsrates gegenüber NGOs im Laufe der 1990er Jahre haben sich lediglich Möglichkeiten der informellen Teilhabe ergeben. In diesem Rahmen haben sich zwei Anhörungsverfahren herausgebildet:52 Zum einen besteht eine Arbeitsgruppe von auf Friedensmissionen spezialisierten NGOs, die sich mit einzelnen VNBotschaftern regelmäßig zu inoffiziellen und informellen Gesprächen trifft. Daneben kann in einem zweiten Verfahren gemäß der nach dem damaligen Botschafter Venezuelas Diego Arria benannten „Arria-Formel“ (1992) ein Ratsmitglied andere Mitglieder des Organs einladen, an einem Treffen mit Vertretern der Organisationen der Zivilgesellschaft oder Experten teilzunehmen, um Informationen und Fachkenntnisse zu konkreten Krisen oder zu Fragen im Zusammenhang mit der Arbeit des Rats einzuholen. In den letzten Jahren hat der Sicherheitsrat dieses Instrument extensiv genutzt und eine Reihe solcher informeller Sitzungen oder Unterrichtungen abgehalten.53 Zu den jüngsten Beispielen gehörten Sitzungen über Kleinwaffen, den Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten, Kinder und Krieg oder die humanitäre Lage in Angola. Zwar enthält der „ArriaFormel“-Mechanismus bereits gewisse formale Elemente; so finden beispielsweise die informellen Zusammenkünfte zwar nicht in den Ratsräumen statt, aber in anderen VN-Sitzungssälen und sind zudem fester Bestandteil des Zeitplans der Ratspräsidentschaft. Die Zusammenarbeit des Sicherheitsrats mit NGOs ist jedoch bislang wenig transparent und jeweils von der Initiative und dem Willen einzelner Mitglieder des Rats abhängig. Da NGOs häufig über einen Informationsvorsprung in denjenigen Konfliktregionen verfügen, in denen sie tätig sind, und zunehmend maßgebliche Beiträge für Sicherheit und Frieden in Konfliktzonen leisten, scheint es an der Zeit, einen formellen Mechanismus der Zusammenarbeit zu entwickeln. Der „Arria-Formel“-Mechanismus sollte daher zu einem institutionalisierten und 52 H. Volger, Mehr Partizipation nicht erwünscht. Der Bericht des Cardoso-Panels über die Reform der Beziehungen zwischen den Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaft, in: Vereinte Nationen 1 (2005), 12-18 (14); J. A. Paul, Working with Nongovernmental Organizations, in: D. M. Malone (Hrsg.): The UN Security Council. From the Cold War to the 21st Century, Boulder 2004, 373- 387 (377 f.). 53 Der Erfolg dieser institutionellen Innovation spiegelt sich auch in einer jüngeren Umfrage (Oktober 2004) bei Vertretern der dem Sicherheitsrat angehörenden Mitgliedstaaten wider. Eine überwältigende Mehrheit gab an, das Instrument häufig zu nutzen; ein Drittel erachtete es als essentielles Element der Arbeitsweise des Rat, vgl. Weiss/Young (Anm. 10), 136.
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zugleich transparenten Konsultationsverfahren zwischen allen Mitgliedstaaten des Sicherheitsrats und einem repräsentativen Querschnitt der für die konstruktive Bearbeitung von Sicherheitskonflikten relevanten zivilgesellschaftlichen Organisationen, evtl. auch von Unternehmen (Mitglieder des Global Compact), ausgebaut werden. Daneben müssten solche Informations- und Beteiligungsrechte für NGOs auch in der mit dem Sicherheitsrat institutionell eng verflochtenen Kommission für Friedenskonsolidierung vorgesehen werden. Die Rahmenresolution der Generalversammlung sieht jedoch lediglich vor, dass „gegebenenfalls die Zivilgesellschaft, nichtstaatliche Organisationen […] und Akteure des Privatsektors zu konsultieren“ seien.54 Das institutionelle Design der Kommission für Friedenskonsolidierung lässt somit kaum Informations- und Beteiligungsrechte für nichtstaatliche Akteure zu, obschon sie der geeignete Rahmen wäre, in dem bereits durchgeführte Friedensmissionen durch Untersuchungskommissionen unter Mitwirkung von NGOs evaluiert werden könnten.55 Der Ausbau und die Entwicklung solcher Instrumente sind zukünftig dringend geboten, um die herrschaftsfunktionelle Trennung von Staaten- und Gesellschaftswelt in der Security Governance-Architektur der Vereinten Nationen im Allgemeinen und im Sicherheitsrat im Besonderen zumindest ansatzweise aufzuheben.
C. Fazit und Ausblick Der fortschreitende Bedeutungs- und Kompetenzzuwachs des Sicherheitsrates als Eckstein eines sich im Entstehen befindenden Weltregierungssystems im Sachbereich „Sicherheit“ hat einen zunehmenden Bedarf nach Mitwirkung und Teilhabe an dessen Entscheidungsfindung erzeugt. Der Sicherheitsrat weist ein Legitimitätsdefizit auf. Die zahllosen Reformvorschläge der vergangenen Jahre sind vornehmlich darauf gerichtet, dieses Legitimitätsdefizit durch eine Erweiterung des Sicherheitsrats um ständige und/oder nicht ständige Mitglieder zu beheben. Strittig ist nach wie vor die Formel, nach welcher eine solche Erweiterung durchgeführt werden könnte. Ob angesichts der hohen Hürden, die eine Erweiterung des Gremiums aufgrund der erforderlichen Charta-Änderung zu überwinden hat, in dieser Frage jemals eine Konsensus-Entscheidung herbeigeführt werden kann, ist nach den jüngsten Entwicklungen mehr als fraglich geworden.
54 55
Vgl. VN-Dok. A/RES/60/180, Rn. 21. VN-Dok. A/58/817.
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Es wäre daher an der Zeit, über alternative Formeln und Lösungswege nachzudenken. In diesem Artikel wurde daher argumentiert, zukünftige Reformschritte stärker auf die Veränderung der Arbeitweisen und der internen Organisationsformen zu richten, weil diese Maßnahmen geringere konstitutionelle Hürden zu überwinden haben und zugleich ein höheres Maß an Flexibilität aufweisen. Neben der Stärkung der Konsultationsmechanismen für Nichtmitglieder, der vertieften Zusammenarbeit mit anderen VN-Organen oder der Einschränkung des Gebrauchs des Vetorechts muss in diesem Zusammenhang insbesondere über eine neue und bessere Beteiligung und Mitwirkung von zivilgesellschaftlichen Akteuren nachgedacht werden. In Zukunft muss der Reformprozess stärker als bisher auf die Mobilisierung gesellschaftsweltlicher Kapazitäten zur Bearbeitung von Konflikten gerichtet sein, um die Bereitstellung der für das gesellschaftliche Zusammenleben wichtigen oder unverzichtbaren öffentlichen Güter (z.B. Sicherheit und Frieden) zu gewährleisten. Der Sicherheitsrat sollte sich deshalb der Einräumung eines formalen Konsultativstatus für zivilgesellschaftliche Akteure nicht verweigern. Durch die Erschließung dieser gesellschaftsweltlichen Kapazitäten, die sowohl das Wissen und die Expertise als auch die personellen und finanziellen Ressourcen nichtstaatlicher Akteure umfassen, kann die Effektivität des Sicherheitsrates, also sein Beitrag zur Lösung globaler Probleme, nachhaltig gestärkt werden. Der aufgezeigte Weg versteht Reform des Sicherheitsrats als Prozess einer schrittweisen institutionellen Umgestaltung, durch die eine allmähliche Annäherung an die Zielgrößen Effektivität, Repräsentativität und Legitimität bewirkt werden kann. Er wäre eine Fortführung dessen, was Generalsekretär Kofi Annan mit Blick auf bereits begonnene institutionelle Neuerungen die „stille Revolution“ nannte.56
56
K. Annan, The Quiet Revolution, Global Governance 4 (2/1998), 123-138.
Deutschlands Position bei der Reform des Sicherheitsrats Von Ingo Winkelmann*
Die Reform des VN-Sicherheitsrats (VN-SR) ist seit vielen Jahren eines der großen Reformanliegen der Vereinten Nationen. Nachdem eine Umfrage des VNGeneralsekretärs aus dem Jahr 1992 ergab, dass die VN-Mitgliedstaaten (einschließlich der ständigen Mitglieder des VN-SR) sich in der Notwendigkeit der Reform einig waren,1 wurde 1993 eine Arbeitsgruppe der Generalversammlung (GV) zur SR-Reform ins Leben gerufen,2 Die jahrelangen Vorarbeiten dieser Arbeitsgruppe ebneten den Weg dafür, dass es 2004/2005 zur Einbringung konkreter Reformmodelle in die GV kam. Autoren der Modelle waren VN-Generalsekretär Kofi Annan, eine sehr hochrangige Expertengruppe3 sowie drei spezifische Gruppen von Staaten. Deutschland hat in diesem Prozess von Beginn an, d.h. mehr als 10 Jahre lang, eine klare, geduldige und verlässliche Position vertreten, die vor allem auf die Verbesserung der Legitimationsbasis des VN-SR abzielte. Deutschland hat sich dabei konsequent dafür eingesetzt, dass die Staaten des „Südens“ künftig fairer im VN-SR vertreten sein sollten als bisher.4
* Der Verfasser war von 2002-2005 Mitarbeiter der für VN-Fragen zuständigen Abteilung im Auswärtigen Amt in Berlin. Der nachfolgende Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verf. wieder. 1 GV-Res. 47/62 v. 11.12.1992, VN-Dok. 48/264 v. 29.07.1993 mit insges. 10 addenda. 2 GV-Res. 48/62 v. 03.12.1993. 3 Sog. „Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ (u. Anm. 25). 4 Vgl. I. Winkelmann, Das Postulat einer stärkeren Beteiligung des Südens am Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in: J. Abr. Frowein et al. (Hrsg.), Negotiating for Peace. Verhandeln für den Frieden. Liber Amicorum Tono Eitel, Berlin 2003, 229 ff.; zuvor auch schon B. Fassbender, Die prekäre Stellung des Südens im Völkerrecht der Gegenwart, Politische Studien 49 (1998), 99 ff. (108).
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Ingo Winkelmann
Die Reform bleibt aktuell. Die im Jahr 2005 erstmals in die GV eingebrachten formellen Charta-Änderungsresolutionen zur SR-Reform zeigen, dass Letztere soweit wie nie zuvor vorangetrieben worden ist. Dass sie noch ihrer endlichen Umsetzung harrt, liegt an der fortdauernd unklaren Entscheidungslage innerhalb des Hauptbegünstigten einer Reform, der afrikanischen Regionalgruppe mit ihren 53 Mitgliedern. Auch die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats trugen – mit Ausnahme Frankreichs – wenig dazu bei, am status quo etwas zu ändern. Dennoch: Die in den VN versammelte Völkergemeinschaft ist seit Ende 2004 nur noch einen Hauch von einer erfolgreichen Charta-Änderung entfernt. Die „Reform in der Warteschleife“, wie sie eingangs 2002 genannt worden war,5 hat die Phase der Warteschleife hinter sich. Nun geht es darum, das richtige gate zum Andocken und Aussteigenlassen der Passagiere der Maschine zu finden.
A. Seit 1992: Konsistente deutsche Position I. Kontinuität unter den Bundesregierungen Alle Bundesregierungen seit 1992 haben das Ziel einer Reform des Sicherheitsrats unterstützt. Dies gilt für die Regierung Kohl/Kinkel ebenso wie für die Regierungen Schröder/Fischer oder – soweit absehbar – Merkel/Steinmeier.6 Alle offiziellen Äußerungen deutscher Repräsentanten vor VN-Organen über die Jahre hinweg legen hiervon Zeugnis ab. Mal mit mehr, mal mit weniger Verve, jeweils den Erfordernissen der Zeit angepasst. Die Koalitionsverträge hinter den jeweiligen Regierungspolitiken sprechen keine andere Sprache. Zu Unrecht wurde und wird vereinzelt behauptet, es gehe der Bundesrepublik Deutschland lediglich darum, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erlangen. Solche Auffassungen gehen an der deutschen außenpolitischen und der VN-Wirklichkeit vorbei. Von Beginn an ging es der Bundesregierung darum, die Anliegen einer großen Anzahl von Staaten, darunter insbesondere der sog. Entwicklungsländer, ernst zu nehmen 5 L. Andreae, Reform in der Warteschleife. Ein deutscher Sitz im UN-Sicherheitsrat?, Berlin 2002. 6 Ausführliche Darstellung der Positionierungen der Parteien und der Koalitionsverträge aus den Jahren 1998 und 2002 bei Andreae (Anm. 5, 87 ff.) und Winkelmann (Anm. 4, 244 ff.). Der aktuelle Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2005 blieb in der einschlägigen Passage praktisch unverändert (Vertrag vom 11.11.2005, Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit, Ziff. IX 5.): „[...] Eine Reform ohne Reform des Sicherheitsrats wäre unvollständig. Deutschland bleibt bereit, auch mit der Übernahme eines ständigen Sicherheitsratssitzes mehr Verantwortung zu übernehmen […]“.
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und für deren fairere künftige Beteiligung am Sicherheitsrat einzutreten. In ihrer Stellungnahme vom 30.06.1993 an den VN-Generalsekretär hat sie betont, dass „Effizienz und Glaubwürdigkeit von gleicher Bedeutung für die Zusammensetzung des Sicherheitsrats sind.“ Sie drückte zugleich ihre „Dankbarkeit dafür [aus], dass eine Anzahl von Mitgliedstaaten der Meinung sind, dass Deutschland ein natürlicher Kandidat für ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat sein sollte“.7 Hätte Deutschland dies ablehnen sollen? Zum damaligen Zeitpunkt traten bereits 22 Staaten für eine ständige Einbeziehung Deutschlands in den Sicherheitsrat ein, darunter Australien, die Niederlande, die Vereinigten Staaten von Amerika u.a.m.8 Beginn der Reformdiskussion war demnach der allgemeine Wunsch der VNMitglieder, den status quo zu ändern, Beginn der Einbeziehung Deutschlands in den Kreis natürlicher Kandidaten die Auffassung wichtiger Drittstaaten. Alle VNGeneralsekretäre seither haben sich in gleicher Richtung geäußert.
II. Beginn der Arbeiten der Reform-Arbeitsgruppe: 1993 Von 1993 bis heute hat die Open-Ended Working Group on the Question of the Equitable Representation on and Increase in the Membership of the Security Council and other Matters related to the Security Council (OEWG) jährlich bis zu mehr als 20 Mal getagt und nach jeder GV Fortschrittsberichte veröffentlicht.9 Das sorgsam formulierte Mandat der Arbeitsgruppe spricht davon, dass die SR-Zusammensetzung in zweierlei Hinsicht überprüft werden müsse: Einmal vor dem Hintergrund des substantiellen Anstiegs der VN-Mitgliedschaft, insbes. von Entwicklungsländern, sodann vor dem Hintergrund der Veränderungen in den internationalen Beziehungen.10 Ferner war man sich bewusst, dass es „wichtig [sei], allgemeines Einverständnis11 zu erzielen“. Von Konsens bei den Entschei7
Abgedr. in: VN-Dok. 48/264 v. 29.07.1993, S. 43/44. AaO. 8 ff., 66 ff., 91 ff.; vgl. auch B. Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto, Den Haag 1998, 245. 9 Zu der Entstehungsgeschichte und den Ergebnissen der ersten Jahre vgl. u.a. E. Kourula/T. Kanninen, Reforming the Security Council: The International Negotiating Process within the Contexts of Calls to Amend the UN Charter to the New Realities of the Post-Cold War Era, Leiden Journal of International Law 8 (1995), 337 ff.; I. Winkelmann; Bringing the Security Council into a New Era, Max-Planck Yearbook of International Law 1 (1997), 35 ff. 10 GV-Res. 48/26 v. 23.12.1993, pp. 5 und 9. 11 Sog. „general agreement“. Aus GV-Res. 53/30 vom 01.12.1998, die später einstimmig angenommen wurde, ergibt sich, dass für general agreement eine Zweidrittelmehrheit der VN-Mitglieder ausreicht. 8
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dungen war – anders als bei anderen Arbeitsgruppen zu der Zeit12 – bewusst nicht die Rede. Konsens konnte zu keinem Zeitpunkt realistisch angestrebt sein. Er wäre nicht erzielbar gewesen. Richtigerweise beschreibt „allgemeines Einverständnis“ Mehrheiten, die auch in der VN-Charta für deren Änderung vorgeschrieben sind: Zweidrittel aller VN-Mitgliedstaaten.13 Dessen ungeachtet wurde in der OEWG von Beginn an de facto im Konsens verhandelt. Dies sollte sich rasch als fatal erweisen. Keine schriftliche Aussage zu Mehrheiten, kein Fortschrittsbericht, kein Papier des Vorsitzenden, das nicht sofort von einem Staat, der seine Meinung darin nicht widergespiegelt sah, vetiert wurde. Entsprechend wurden regelmäßig selbst ursprünglich klare Feststellungen relativiert und abgeschwächt. Berichte wurden in dem Maß aussageärmer, in dem Minderheiten annehmen mussten, dass die Gefahr eines Reformbeschlusses, der sich auf Mehrheiten würde stützen können, wüchse. Mit anderen Worten: Die Arbeitsgruppe lähmte sich selbst bei dem Ziel, zu aussagekräftigen allgemeinen Aussagen zu kommen. Die Bundesregierung vermochte hieran nichts zu verändern, war ihre Auffassung selbst doch Teil des von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten mitgetragenen mainstreams. Dies bewies eine informelle Umfrage unter 162 Mitgliedstaaten ausgangs 1996.14 Deutschland hat durch die Einspeisung zahlreicher Kommentare und Diskussionspapiere, etwa zu den Themen Ständige Mitgliedschaft, Nichtständige Mitgliedschaft, Veto, Überprüfung der Reform (periodic review clause), Arbeitsmethoden des VN-SR u.v.a.m.15 die Arbeit der Gruppe tatkräftig unterstützt. Zum Höhepunkt der Beratungen der OEWG wurde die Präsentation des Reformplans des malaysischen OEWG-Vorsitzenden Razali Ismail, vormals malaysischer VN-Botschafter und zeitweise zugleich Präsident der VN-Generalversammlung, im März 1997.16
III. Der Razali-Plan von 1997 Razali hatte von Beginn seines Mandats als GV-Präsident und Arbeitsgruppenvorsitzender an aus eigenem Antrieb auf einen Durchbruch deren Arbeiten hingearbeitet. Wie alle GV-Präsidenten vor und nach ihm war er von der Notwendig12
Dies ergibt ein Vergleich der GV-Mandate für die vier weiteren, damals bestehenden GV-Arbeitsgruppen: Agenda für den Frieden, Agenda für Entwicklung, Stärkung des Systems der VN, Finanzsituation der VN. 13 Vgl. Anm. 11. 14 VN-Dok. A/51/47, Suppl. 47, Annex VI; vgl. a. u. III. 15 Für den Zeitraum 1993-1997 abgedr. in: Permanent Mission of the Federal Government of Germany (Hrsg.), The UN Reform – Reform of the Security Council. The German Position, New York, Vol. I (1996) und Vol. II (1997). 16 VN-Dok. A/51/47 (1997), Suppl. 47, 6 ff. (Annex II).
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keit der SR-Reform überzeugt. Er brachte die Arbeitsgruppe dazu, frühzeitig ihre Arbeit aufzunehmen und erreichte die Wahl zweier reformfreudiger Ko-Vorsitzenden, der Botschafter Wilhem Breitenstein (Finnland) und Asda Jayanama (Thailand). Beide sollten sich im Weiteren in ihrem schwierigen Amt bewähren. Beweis hierfür war die von ihnen um die Jahreswende 1996/1997 durchgeführte informelle Umfrage, die als Ergebnis u.a. eine „vast majority“ zur Einführung neuer ständiger Mitglieder des VN-SR erbrachte.17 Diese Umfrage nahm Razali als Ermutigung und Grundlage für einen erstmals ausformulierten Reformplan, der Züge einer GV-Resolution aufwies. Der Plan und seine Präsentation in vollbesetzter GV-Halle am 20. März 1997 war damals talk of the town in VN-New York. Nicht erfreut über die Zuspitzung der Diskussion waren die Wortführer der Blockfreien, denen das Diskussionstempo zu schnell ging, einige wenige Staaten, die befürchteten, dass als regionale Rivalen betrachtete Partnerstaaten zu ständigen Mitgliedern würden sowie bereits damals die Vereinigten Staaten von Amerika, welche die vorgesehene zahlenmäßige Vergrößerung des Rats – vornehmlich um Staaten des Südens – ablehnten.18 Razalis’ Konzept sah Folgendes vor:19 – Aufstockung des Sicherheitsrats von 15 auf 24 Mitglieder; – Von den neun neuen Sitzen sollten fünf ständige und vier nicht-ständige Sitze sein; – Die fünf ständigen Sitze sollten von sog. „industrialisierten“ (2) und „Entwicklungs“-Staaten (3) belegt werden , letztere aufgeteilt nach den Kontinenten Afrika, Asien und Lateinamerika/Karibik; – Auch die neuen ständigen Mitglieder sollten durch die GV gewählt werden. Jedes VN-Mitglied sollte sich bewerben können; – Das Vetorecht sollte nicht auf neue ständige Mitglieder erstreckt werden; – Die Reform sollte nach 12 Jahren einer zwingenden Überprüfung unterzogen werden. Die Bundesregierung begrüßte den Plan noch in der gleichen Sitzung in einer mündlichen Stellungnahme des damaligen deutschen VN-Botschafters, Tono Eitel, der auch darauf hinwies, dass die Aufspaltung der Reform in eine Rahmenresolution und nachfolgende Ausfüllungsschritte Umsetzungsrisiken beinhalte.20 Die deutsche Positionierung war eindeutig. Sie war VN-freundlich und pragmatisch. 17
Später als sog. „Beichtgespräche“ bezeichnet. Ergebnisse abgedr. aaO. (Anm. 16). In weiten Passagen immer noch gültig die Beschreibung der US-Position bei B. Rivlin, UN Reform from the Standpoint of the United States, Tokyo 1996. 19 Abgedr. bei: Andreae (Anm. 5), 275 ff. 20 Abgedr. aaO. (Anm. 15). 18
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Deutschland akzeptierte, dass kein Land von vornherein gesetzt war, das sich um einen ständigen Sitz bemühen wollte. Niemand war ausgeschlossen. Dies galt für die Staaten der Südlichen Hemisphäre ebenso wie für Deutschland. Und selbstverständlich für alle anderen Partner, einschließlich solche in der Europäischen Union.21
IV. Die Reformmodelle von Kofi Annan und des Hochrangigen Reformausschusses Nach dem rechtlich wie politisch umstrittenen militärischen Einsatz einer Allianz von VN-Mitgliedern im Irak Anfang 2003 kam es in den VN zu einer Grundsatzdiskussion um Stellenwert und die Gerüstetheit der Organisation, künftigen „harten“ Herausforderungen begegnen zu können.22 Diese Fragestellung kam in einer Grundsatzrede des VN-Generalsekretärs vor der VN-GV im September 2003 zum Ausdruck: „Wir befinden uns an einer Wegkreuzung. Dieser Moment ist nicht weniger bedeutend als das Jahr 1945, als die VN gegründet wurden[…]. Wenn Sie wollen, dass die Entscheidungen des Sicherheitsrats wirklich befolgt werden, besonders unter den Entwicklungsländern, dann müssen Sie das Thema seiner Zusammensetzung mit mehr Dringlichkeit angehen“.23
An diese Rede knüpfte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder tags darauf an und unterstützte das Anliegen Kofi Annans nachdrücklich.24 Auf Annans Betreiben wurde noch im Dezember 2003 das sog. „High-Level Panel on Threats, Challenges and Change“ gegründet, dessen Vorsitzender der frühere thailändische Premierminister Anand Panyarachún wurde.25 Das Panel legte nach einjähriger Beratung und den US-Wahlen im November 2004 seinen „A more secure world: our shared responsibility“ betitelten Bericht vor,26 der sich grundsätzlich für eine 21 Von daher konnte sich das deutsche Modell gegen niemanden richten, auch nicht etwa gegen den EU-Partner Italien, der sich zu Anfang der Diskussion offiziell selbst das Recht auf ständige Mitgliedschaft vorbehalten hatte: VN-Dok. A/48/264 v. 20.07.1993, 52. 22 Statt aller: K. Wiesbrock, Testfall Irak: Von den Vorzügen abgestimmten multilateralen Handelns, in: Vereinte Nationen 51 (2004), 215 ff. 23 GV, Offizielles Protokoll A/57/PV.7, 2ff. (3); a. abgedr. in: M. Fröhlich (Hrsg.), Kofi Annan: Reden und Beiträge (2004), 289 ff. 24 Ansprache vom 24.09.2003, VN-Dok. A/58/PV.9 (2003). 25 Weitere Mitglieder: Badinter, Baena Soares, Brundtland, Chinery-Hesse, Evans, Hannay, Iglesias, Moussa, Nambiar, Ogata, Primakow, Quian, Sadik, Salim, Scowcroft; Bericht in deutscher Fassung: DGVN (Hrsg.), Eine sichere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung, Dokumentation Nr. 89, Berlin, Dezember 2004. 26 Dt. Fsg. Anm. 25; s. a. VN-Dok. 59/565 v. 02.12.2004.
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Erweiterung des Sicherheitsrats aussprach und zwei Optionen zur Diskussion stellte: – Ein sog. „Modell A“, das einen Sicherheitsrat von insgesamt 24 Mitgliedern vorsah, darunter sechs ständige und drei nicht-ständige neue Mitglieder. Neue ständige Mitglieder sollten aus Europa (1) Amerika (1), Asien (2) sowie Afrika (2) kommen. Neue ständige Mitglieder sollten kein Vetorecht erhalten.27 – Ein sog. „Modell B“, wonach ebenfalls neun neue Sitze hinzugefügt werden sollten, darunter ein normaler nicht-ständiger sowie acht Sitze, auf die sich nach bestimmten Kriterien qualifizierte Mitgliedstaaten alle vier Jahre wählen lassen können sollten, ggfs. auch mehrmals. Neben dieser Schaffung einer neuen dritten Kategorie von Sitzen würde die Kategorie der ständigen Sitze unberührt bleiben.28 Beiden Modellen wurde ein neue Regionalgruppengliederung unterlegt, die aus nur noch vier Regionalgruppen bestand und u.a. die (Ost- und West-)Europäer erkennbar benachteiligte.29 Dieser nur schwer umsetzbaren Vorgabe einer Gruppen-Neustrukturierung war ein starker akademischer Ansatz inhärent, der auch viele andere Elemente insbesondere des Modells B prägte.30 Positiv war dagegen, dass es überhaupt zu Konkretisierungen und Zuspitzungen kam. Die nachfolgenden intensiven Diskussionsrunden in der VN-GV zeigten kärgliche Zustimmung zu den Modalitäten des Modells „B“, sowie klare Mehrheiten zugunsten der Grundzüge des Modells A, d.h. einer Erweiterung beider VN-SRSitzkategorien. Dieses Ergebnis entsprach dem Meinungsstand in der GV-Arbeitsgruppe seit Mitte der 90er Jahre. Noch im März 2005 folgten die Reform-Empfehlungen des VN-Generalsekretärs, die dieser ebenfalls in Berichtsform fasste. Der Bericht „In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte für Alle“ nahm vieles aus dem Bericht des Hochrangigen Ausschusses auf, darunter die beiden SR-Erweiterungsmodelle.31 Deren Umsetzung spitzte Kofi Annan allerdings im Rahmen des einem VN-Generalsekretär Möglichen in folgender Weise zu: 27
AaO. Ziff. 252. AaO. Ziff. 254. 29 AaO. Ziff: 251. Zu den Möglichkeiten einer Reform der VN-Regionalgruppen: S. von Schorlemer, „Gemeinsam stärker?“: Regionalgruppen in der UNO, in: K. Dicke/M. Fröhlich (Hrsg.), Wege multilateraler Diplomatie, Baden-Baden 2005, 26 ff. 30 Im Sekretariat der Hochrangigen Gruppe war Stephen Stedman (USA) als Forschungsdirektor für den Entwurf des Berichts verantwortlich. 31 „In Larger Freedom: Towards Development, Security and Human Rights for All“. Report of the Secretary-General. For Decision by Heads of State and Government in September 2005, New York 2005. VN-Dok. 59/2005 v. 21.03.2005. 28
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Ingo Winkelmann „Ich fordere die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, die beiden […] Modelle […] zu prüfen. Die Mitgliedstaaten sollten […] vor dem Gipfel im September 2005 in dieser wichtigen Frage eine Entscheidung treffen. […] sollten sie keinen Konsens erzielen können, darf dies nicht zum Vorwand dafür werden, die Beschlussfassung hinauszuzögern“.32
Damit war eine erhebliche Dynamik in Gang gesetzt, die auf eine weitere für die VN wichtige Zeitschiene traf: Die 5-Jahresbilanz der sog. „Millennium-Erklärung“ von 2000, angesetzt für September 2005. Von Anfang an war der Gipfel schwerpunktmäßig auf die Behandlung der „weichen“ Herausforderungen (Armutsbekämpfung) ausgerichtet, zu denen Konsens denkbar schien.33 Eine Entscheidung der institutionellen Frage des VN-SR-Reform sollte bereits im Vorfeld – und nur da – erfolgen, um den Gipfel nicht zu überlagern. Von daher konnte der Gipfel zu keinem „Fehlschlag“ werden, jedenfalls was die Reformfrage anbetraf, da diese dort nicht behandelt werden sollte.
B. Zentrale Elemente der deutschen Position I. Für einen in beiden Sitzkategorien erweiterten VN-SR Für Deutschland war es im Verlauf der Reform zentral, eine Verbesserung der Vertretung der Staaten des Südens durchzusetzen. Ein Sicherheitsrat, der sich überwiegend mit Konflikten in der südlichen Hemisphäre beschäftigte, sollte nicht beraten, ohne dass die durchgängige Präsenz wichtiger Vertreter aus dessen Kontinenten gewährleistet war. Dies umso mehr, als nach den Ereignissen von 9/11 dem Sicherheitsrat Befugnisse auf den Feldern der Terrorismus- und Antiproliferations-Politiken zuwuchsen, die tief in Souveränität aller VN-Mitglieder eingriffen.34 Diese Politik einer Stärkung der Legitimität des Rats war Konstante aller Bemühungen Deutschlands. Sie entsprach zugleich einem immer wieder geäußerten Anliegen des VN-Generalsekretärs.35 Deutsche VN-Reformpolitik war insoweit deckungsgleich mit dem, was zentrale VN-Entscheidungsträger für richtig hielten. Nicht immer wird diese Tatsache gebührend gewürdigt.
32
AaO. (Anm. 31), Ziff. 170. Hierzu T. Fues/M. Loewe, Zwischen Frustration und Zuversicht: Die entwicklungspolitische Bilanz des Millennium+5-Gipfels, DIE-Anlaysen und Stellungnahmen 7/2005, 1-4; Wortlaut der Ergebnisse des Weltgipfels 2005: VN-Dok. A/RES/60/1 v. 24.10.2005. 34 Etwa SR-Res. 1373 vom 28.09.2001 (Terrorismusbekämpfung) und SR-Res. 1540 vom 28.04.2004 (Massenvernichtungswaffen). 35 Vgl. o. A. IV. 33
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In konkreten Zahlen war aus Sicht Deutschlands die 1997 von Razali fixierte Zahl 24 eine gute Mittelgröße, die allen Belangen Rechnung trug, auch den gerade von Deutschland immer besonders unterstützten Wünschen der Osteuropäischen Regionalgruppe. Deren nach der Auflösung der Sowjetunion angewachsener Mitgliederzahl mittels eines weiteren (nicht-ständigen) Sitzes Rechnung zu tragen, schien gerechtfertigt. Auch maßvolle Zahlen unter- und oberhalb der Mittelgröße waren für Deutschland kein Tabu, immer vorausgesetzt, sie würden ein vernünftiges Verhältnis zwischen ständigen und nicht-ständigen Mitgliedern (auf der einen Seite) und der Handlungsfähigkeit eines erweiterten VN-SR (auf der anderen Seite) bewahren. Ausgeschlossen waren nach diesem Konzept nur ein sog. „quickfix“ (Erweiterung des Rats lediglich um ständige Mitglieder Deutschland und Japan) sowie die Erweiterung lediglich um eine der beiden Sitzkategorien. In beiden Fällen sagte bereits der gesunde Menschenverstand, dass derartige Ansätze außerstande waren, je eine ausreichende Mehrheit in der GV zu finden.
II. Überprüfung (review) Sehr früh schon war es Deutschland angelegen klarzustellen, dass eine Hinzufügung neuer ständiger Mitglieder nicht zu dauerhaften, gewissermaßen „ewigen“ neuen Bevorzugungen führen sollte. Die derzeitige Formulierung in Art. 108 VN-Charta beinhaltet eine derartige „Ewigkeitsgarantie“ zugunsten der P5, ohne bzw. gegen deren Stimme zwar eine Charta-Änderung beschlossen, ohne deren nationale Ratifizierung sie aber nicht wirksam umgesetzt werden kann.36 Daher formulierte Deutschland als erster Staat Überlegungen, die während der Beratungen der Arbeitsgruppe aufgetaucht waren.37 Diese liefen darauf hinaus, alle kommenden Reformbeschlüsse nach jeweils38 einer Zeit von 10, 12 oder 15 Jahren einer zwingenden (regelmäßigen) Überprüfung zu unterziehen. Sollte sich dabei ergeben, dass die VN-Mitgliedschaft neuen ständigen Mitgliedern den Sitz wieder entziehen wollte, so sollte dies mit einer Zweidrittelmehrheit zulässig sein. Für neue ständige Mitglieder wäre eine Berufung auf Art. 108 VN-Charta ausge36
Wortlaut Art. 108 VN-Charta: „Änderungen dieser Charta treten für alle Mitglieder der Vereinten Nationen in Kraft, wenn sie mit Zweidrittelmehrheit angenommen und von zwei Dritteln der Mitglieder der Vereinten Nationen einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts ratifiziert worden sind.“ 37 Deutscher Beitrag zur GV-Arbeitsgruppe im Jahr 1996: GV-Dok. 50/47, Suppl. 47, Ziff. 34 sowie Addendum Nr. 1 vom 01.09.1996, Annex XIV, 54. 38 Ursprünglich daher angedacht als „periodic review review“, vgl. die dazu vorgeschlagenen Formulierungen in Suppl. 47 (A/50/47), Ziff. 34 sowie Addendum Nr. 1 vom 01.09.1996, Annex XIV, 54.
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schlossen worden. Dieser Mechanismus hat seither zwar in sämtliche Reformmodelle Eingang gehalten, ist aber öffentlich kaum gewürdigt worden. Im Kern enthält er geradezu Revolutionäres, nämlich nicht Mehr oder Weniger als eine demokratische Rechenschaftspflicht (neuer) ständiger Mitglieder vor ihrem Wahlgremium, der GV. Von daher erstaunt, wie wenig dieses neuartige Element in nahezu allen auf dem Markt befindlichen Reformanalysen zur Kenntnis genommen wird.
III. Veto Zum Vetorecht hat sich Deutschland während der langjährigen Beratungen stets zurückhaltend geäußert. Ausschlaggebend hierfür war die Einsicht in zwei Wahrheiten: Zum einen die Tatsache, dass angesichts der Vorgaben der VN-Charta solche Änderungen so gut wie ausgeschlossen waren, die zu einer substantiellen Änderungen des Vetorechts der P5 hätten führen können. Ebenso die Tatsache, dass es in der allgemeinen Mitgliedschaft der VN angesichts bisher gemachter Erfahrungen eine weit verbreitete Abneigung dagegen gab, das Vetorecht auf noch mehr Mitglieder zu erstrecken. Zum anderen hielt Deutschland immer dafür, dass es im Grundsatz keine Diskriminierungen innerhalb gleicher Sitzkategorien (hier: alte und neue ständige Mitglieder) geben sollte. Ebenso lag auf der Hand, dass sich das Gewicht eines ständigen Sitzes zwar weitgehend auf dem damit einhergehenden institutionellen Know-how des Sitzinhabers gründet, zuweilen aber auch von der mit dem Sitz verbundenen (Veto-)Macht markiert wird. In Abwägung dieser Argumente pro und contra schien es das Klügste, die Entscheidung hierüber dem Endstadium der Diskussion zu überantworten. Dies bedeutete nicht, dass sich Deutschland gänzlich kreativer Vorschläge enthielt: So etwa der Vorschlag des damaligen Außenministers Joschka Fischer vom 22.09. 1999, für das Veto eine Begründungspflicht vor der GV einzuführen39 oder Überlegungen, welche durch eine Änderung der Ausübung des Vetorechts dieses langsam, aber sicher reformieren sollte.40 Deutschland hat sich bei allen seinen 39
Abgedr. in: Internationale Politik 12 (1999), 103 ff. (105). Z.B. Ausübung von Vetorechten nur noch in Kap. VII-Konstellationen, stärkere Begründungspflicht, unilateraler Verzicht auf die Ausübung von Vetorechten, Zulassung einer nicht veto-wirksamen Nein-Stimme im Sicherheitsrat u. dgl. mehr; Beispiele bei Winkelmann (Anm. 4), 240; grundlegend zum Vetorecht auch im Kontext der SR-Reform: Faßbender (Anm. 8). 40
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Vorschlägen an dem orientiert, was im Sinne der VN und ihrer Mitglieder machbar und sinnvoll erschien.41 Zeugnis hiervon legt der aktuelle Resolutionsentwurf der „Gruppe der Vier“ ab.
C. Deutsches Engagement in New York und innerhalb der „Gruppe der Vier“ Neben dem skizzierten, durch zahlreiche Diskussionsbeiträge belegten deutschen Engagement in den einschlägigen VN-Gremien kam es im September 2004 zu einem von Japan initiierten gemeinsamen Auftreten Brasiliens, Japans, Indiens und Deutschlands auf Ebene der Außenminister in New York. Form des Auftritts war eine kurze Pressekonferenz mit Bild, welches dann um die Welt ging. Bereits Mitte der 90er Jahre hatte es immer wieder intensivere Beratungen zwischen den USA, UK, Frankreich, Japan und Deutschland dazu gegeben, wie dem von Razali 1997 angestoßenen Entscheidungsprozess zusätzliche Schubkraft verliehen werden könnte. Diese Beratungen waren fruchtbar, wurden indes über übliche diplomatische Zusammenarbeitsformen hinaus nicht formalisiert.42 Die ebenfalls informelle Arbeit der „Gruppe der Vier“ seit September 2004 dokumentierte den Zusammenhalt wichtiger Industrie- und Entwicklungsländer beim Versuch, die VN effizienter und gerechter zu gestalten. Sie war ein Beispiel gewollter und gelungener Nord-Süd-Zusammenarbeit, das nur deshalb Manchen überraschen konnte, weil aussichtsreiche Kandidaten für ständige Sitze im VN-Sicherheitsrat nach den Gepflogenheiten der Diskussion es bis dahin vermieden hatten, andere Bewerber offen mit Namen zu nennen. Mit dieser Gepflogenheit brach die „Gruppe der Vier“ mittelbar, indem sie sich lose und pragmatisch koordinierte.43 Das gemeinsame Auftreten der Gruppe darf nicht überbewertet werden. Alle von der Gruppe oder ihren Mitgliedern vorgelegten Erweiterungspläne nennen keine Staatennamen, sondern lediglich Sitzzahlen. Potentielle Inhaber dieser Sitze wurden nicht genannt oder vorweggenommen. Die Zusammenarbeit der „Gruppe der Vier“ zielte daher gegen niemanden. Vielmehr bezweckte sie allein die Anbahnung eines für richtig erkannten gemeinsamen Erweiterungsmodells. Die programmatische VN-Reform-Ansprache von Außenminister Fischer vor der GV
41
Nachlesbar in den deutschen Positionspapieren seit 1996, abgedr. aaO. (Anm. 15). Vgl. Andreae (Anm. 5), 184 ff. 43 In jüngster Zeit scheint sich Erstinitiator Japan wieder etwas von den gemeinsamen Bemühungen abgesetzt zu haben, vgl. auch Anm. 60. 42
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am 25. September 2004 belegt darüber hinaus das eigenständige und intensive Bemühen Deutschlands um einen breiten Reformansatz in den VN.44
D. Die Konkretisierung der Modelle I. Das Modell der „Gruppe der Vier“ Zusammen mit 24 weiteren Miteinbringern aus allen Kontinenten – darunter Frankreich als ständigem VN-SR-Mitglied – brachten Brasilien, Deutschland, Indien und Japan am 06.07.2005 in der GV einen Resolutionsentwurf zur Reform des VN-SR ein.45 Der Entwurf befasste sich mit Größe und Zusammensetzung des VN-SR, den Wahlverfahren für neue ständige Mitglieder, dem Veto, der ChartaÄnderung und Überprüfung der Reform sowie den Arbeitsmethoden des VN-SR. Mit letzterem Punkt war ein für viele VN-Mitgliedstaaten wichtiger Aspekt angesprochen, da gerade kleinere Mitglieder seit jeher auf eine transparentere Beratungs- und Entscheidungspolitik des VN-SR gedrängt hatten.46 Der Entwurf sieht einen neuen Gesamtumfang des VN-SR mit insgesamt 25 Mitgliedern vor. Gegenüber dem Razali-Plan soll Afrika nun nicht einen, sondern zwei ständige Sitze erhalten. Damit wurde einem traditionellen Anliegen Afrikas Rechnung getragen. Auch sollte Ägypten als Mitglied der Gruppe Arabischer Staaten und der Konferenz islamischer Staaten eine Chance eröffnet werden, sich als AU-Mitglied um einen ständigen Sitz zu bewerben. Spätestens zwölf Wochen nach Annahme der Resolution sollte zur Wahl neuer ständiger Mitglieder in der VN-GV geschritten werden. Spätestens zwei weitere Wochen danach sollte über eine formelle Charta-Änderungs-Resolution in der VN-GV abgestimmt werden. 15 Jahre nach Wirksamwerden der Änderungen sollte die Reform überprüft werden.47 In der heiklen Frage des Vetorechts besagte der Entwurf, dass neue ständige Mitglieder die gleichen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen haben sollten wie die derzeitigen ständigen Mitglieder.48 Zugleich wurde festgelegt, dass neue ständige 44
GV-Prot. A/59/PV.7, 16 ff. Dok. A/59/L.64 vom 06.07.2005. 46 Sog. „Cluster II“. Mit Schreiben vom 03.11.2005 an alle Leiter der VN-Vertretungen in New York haben die Schweiz, Jordanien, Liechtenstein, Costa-Rica und Singapur einen informellen Resolutionsentwurf gestreut, der isoliert von den anderen Reform-Elementen allerdings nicht zum Tragen kommen wird. 47 Ziff. 6: „to review the situation created by the amendments … fifteen years after their entry into force“. 48 Ziff. 5(a). 45
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Mitglieder das Vetorecht solange nicht ausüben sollten, bis die Frage der Erstreckung des Vetorechts auch auf neue ständige Mitglieder im Rahmen der vorgesehenen Überprüfung nach 15 Jahren entschieden würde.49 Die VN-Charta sollte diese Tatsache rechtlich widerspiegeln.50
II. Das Modell afrikanischer Staaten Am 14.07.2005 präsentierten 43 Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union (AU) ihrerseits einen Resolutionsentwurf zur Reform des VN-SR.51 Der „afrikanische“ Entwurf glich in vielen Einzelheiten dem der „Gruppe der Vier“. Unterschiede bestanden darin, dass der afrikanische Entwurf eine SR-Erweiterung auf insgesamt 26 Staaten fordert, darunter zwei ständige und fünf nicht-ständige Sitze für Afrika. Neue ständige Sitze sollten die „gleichen Vorrechte und Privilegien“52 haben wie die der derzeitigen ständigen Mitglieder, einschließlich des Vetorechts. Erstaunlicherweise enthielt der Entwurf nur allgemeine Aussagen zu verbesserten Arbeitsmethoden im VN-SR.53
III. Das Modell des verbleibenden Kerns des „coffee club“ Zwölf Staaten, geleitet von Italien, präsentierten am 21.07.2005 einen dritten Entwurf.54 In dieser Gruppe befinden sich diejenigen Staaten, die sich seit Präsentation des Razali-Plans in einem informell „coffee club“ genannten Format getroffen hatten, um eine rasche Umsetzung der SR-Reform, insbesondere was die Schaffung neuer ständiger Mitglieder anging, zu verhindern.55 Die Gruppe schlug vor, den VN-SR um zehn nicht-ständige Mitglieder zu erweitern. Alle insgesamt 20 nicht-ständigen Mitglieder sollten künftig direkt wiederwählbar sein, wenn ihre 49
Ziff. 5(b). Ziff. 6(b): „… the Resolution will include amendments … to reflect, consistent with paragraph 5 (b) above, the fact that the extension of veto to the new permanent members has not been decided“. 51 Dok. A/59/L.67 vom 14.07.2005. Nicht-Miteinbringer unter den AU-Mitgliedstaaten waren: Benin, Burundi, Zentralafrikanische Republik, Komoren, Demokratische Republik Kongo, Eritrea, Lesotho, Marokko, Swaziland, Togo. 52 Ziff. e). 53 Ziff. a). 54 Dok. A/59/L. L.68 vom 21.07.2005. 55 Argentinien, Kanada, Kolumbien, Costa Rica, Italien, Malta, Mexiko, Pakistan, Südkorea, San Marino, Spanien, Türkei. 50
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jeweiligen Regionalgruppen dies so indossierten.56 Von den 20 nicht-ständigen Mitgliedern würden sechs aus Afrika, fünf aus Asien, vier aus Lateinamerika/ Karibik, drei aus Westeuropa (und Andere) sowie zwei aus Osteuropa kommen. Ferner wurden Rotations-Abmachungen innerhalb der Regionalgruppen zur Wahl in den VN-SR angeregt.57
IV. Unterschiede zu den Grundmodellen A und B Alle drei formell in die VN-GV eingebrachten Vorschläge unterscheiden sich von Modellen A und B der beiden großen Reformberichte 2004/2005 darin, dass sie die Struktur der bisherigen (fünf) Regionalgruppen beibehalten und statt 24 Sitzen 25 bzw. 26 Sitze vorschlagen. Der afrikanische Vorschlag und der Vorschlag der „Gruppe der Vier“ entspricht der Grundstruktur des Modells A, indem sich beide für eine Erweiterung der Kategorie ständiger Mitglieder aussprechen. Dies spiegelt die Auffassung der überwiegenden Mehrheit der VN-Mitglieder wider. Die Gruppe um Italien tritt dahingehend dafür ein, es bei der Machtstellung der P5 zu belassen und lediglich die Kategorie nichtständiger Mitglieder zu erweitern. Derenbezüglich wird das Wiederwahlverbot aus Art. 23 VN-Charta abgeschafft, zugleich unter das nihil obstat der betreffenden Regionalgruppe gestellt. Formal wird so ein wichtiger Nachteil des Modells B vermieden, nämlich die Schaffung einer dritten Kategorie von VN-SR-Mitgliedern. Der Wahlakt nichtständiger Mitglieder wird schwerpunktmäßig aus der GV heraus- und in die Regionalgruppen hineinverlagert, die sich auf Rotationsschemata einigen müssten. Dies kann allerdings nur zu Lasten der kleinsten Mitgliedstaaten gehen. Am status quo des Kreises ständiger Mitglieder würde nichts geändert. Die drei Alternativen zeigen, dass nun klare Vorschläge vorliegen, die des vorangegangenen Anstoßes durch die in Modell A und B formulierten Lösungen bedurften. Was aussteht, ist die formelle Abstimmung in der VN-GV, um herauszufinden, welche der Lösungen eine Zweidrittelmehrheit der Mitgliedschaft zu erringen imstande ist. Die sich ähnelnden Modelle der „Gruppe der Vier“ und der afrikanischen Staaten verfügen zusammen bereits über 67 Miteinbringer unter den insgesamt 191 VN-Mitgliedstaaten.
56 57
AaO. (Anm. 49), Ziff. 3. Ziff. 5.
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E. Ausblick I. Die afrikanischen Staaten als ausschlaggebende Stimmgruppe Dass es Mitte 2005 noch nicht zu einer GV-Abstimmung kam, lag an dem Fortdauern der Diskussion innerhalb der Mitgliedstaaten der AU. Diese hatte zwar im sog. Ezulwini-Konsens, einem Treffen in Swaziland im Februar 2005, ihre Haltung fortentwickelt. Statt weiterhin vorzuschlagen, Vertreter Afrikas auf zwei ständigen Sitzen rotieren zu lassen, wie es 1997 der seither gültige sog. „HarareVorschlag“ formuliert hatte,58 wurden nunmehr klar zwei ständige Sitze für Afrika gefordert.59 Dieser Ezulwini-Konsens wurde auf nachfolgenden Treffen in Sirte (Libyen) am 7. Juli 2005 und Addis Abbeba (Äthiopien) am 4. August 2005 bekräftigt. Nachteil der neuen Position war, dass sie auf insgesamt fünf nichtständigen Mitgliedern für Afrika sowie dem sofortigen Vetorecht für neue ständige Mitglieder beharrte. Insbesondere letzteres scheint derzeit in den VN nicht durchsetzbar zu sein, da die kritischen Stimmen gegen eine Ausweitung des Vetorechts weit überwiegen. Ein zwischen Vertretern der „Gruppe der Vier“ im Juli 2005 in London auf Außenminister-Ebene ausgehandelter Kompromiss (derzeitiger Verzicht auf Vetorecht, Rotation des fünften afrikanischen Sitzes zwischen Lateinamerika/Karibik, Osteuropa und Asien) wurde von den afrikanischen Staats- und Regierungschefs nachfolgend nicht indossiert. Insbesondere aus Staaten der Maghreb-Region regt sich Widerstand. Der Verdacht ist nicht unbegründet, dass es dem Widerstand eher darum geht, einen Durchbruch zum jetzigen Zeitpunkt zu verhindern als eine in den VN mehrheitsfähige Position zu erreichen. Der Schlüssel zum Durchbruch liegt bei den Mitgliedstaaten der AU,60 die wie alle anderen Region(algrupp)en in dieser Frage kaum zu Konsens finden wird.61 Mittlerweile haben sowohl die afrikanische Gruppe62 wie auch die „Gruppe der
58
Beschluss der AU-Staats- und Regierungschefs vom 04.06.1997 in Harare; abgedr. in: Suppl. 47 (A/51/47) vom 08.08.1997, Annex XII. 59 Die beiden von 43 afrikanischen Staaten vorgelegten SR-Reform-Resolutionen spiegeln den in Ezulwini gefundenen Konsens wider, der seinerseits von Gipfeln in Sirte und Addis Abbeba bekräftigt wurde (s.o. D 2). 60 Vgl. etwa die Aussage in der Erklärung von Sirte: „convinced that Africa is now in a position to influence the proposed UN reforms by maintaining her unity of purpose“ (pp. 2). 61 Weder die fünf VN-Regionalgruppen noch irgendeine andere regionale Gruppierung sind in zurückliegenden Beratungen zu durchsetzbaren Konsenspositionen gelangt. 62 Dok. A/60/L.41 v. 14.12.2005.
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Vier“63 ihre Reformresolutionen unverändert wieder in die neue (60.) GV eingebracht. Damit liegen den VN-Mitgliedstaaten abstimmbereite Texte vor.64
II. Die Haltung der Europäischen Union (EU) Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union vertreten in der Reformfrage unterschiedliche Auffassungen. Während Italien und Spanien der Auffassung sind, es bei den bisherigen P5 als ausschließliche ständige Mitglieder zu belassen, sind neben Deutschland die Miteinbringer des Resolutionsentwurfs der „Gruppe der Vier“ Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Polen, Tschechische Republik, Griechenland, Portugal sowie die meisten anderen EU-Partner dafür, an diesem status quo etwas zu ändern. Hier und da angedachte Vorschläge einer gemeinsamen EUVertretung im VN-SR65 gehen an der politischen und rechtlichen Wirklichkeit vorbei und kommen zu früh. Von daher werden sie auch von der EU nicht verfochten. Die Argumente, die zum jetzigen Zeitpunkt gegen eine einheitliche EUVertretung sprechen, sind erdrückend. Weder im Vertrag über die Europäische Union noch in der VN-Charta finden sich Grundlagen hierfür. Ein Sitz wäre nicht mit den ständigen Sitzen von Frankreich und dem Vereinigten Königreich in Einklang zu bringen.66 EU-freundlicher als eine einheitliche EU-Vertretung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Verbesserung der GASP-Abstimmungsprozesse, eine bessere Vertaktung des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees mit den Sitzungen des VN-SR sowie das Erreichen einer zahlenmäßigen stärkeren EUMitglieder-Bank im VN-SR. Eine solche Bank verspricht erheblich größeren Mehrwert als die Vereinheitlichung von Stimmrechten, die im Endeffekt auf eine Reduzierung von EU-Einfluss im VN-SR hinausläuft.
63 Japan hat diesmal nicht als Miteinbringer fungiert, der Wiedereinbringung indes zugestimmt. Ende 2005 zirkulierte Japan informell eine weitere Option, die auf einen auf 21 Mitglieder erweiterten Sicherheitsrat hinauslief und lediglich die Möglichkeit neuer ständiger Mitglieder vorsah. 64 Dok: A/60/L. 46 v. 05.01.2006. 65 U. Laschet, Für einen effizienten Multilateralismus. Gemeinsame Werte von Europäischer Union und Vereinte Nationen, in: Vereinte Nationen 52 (2005), 41 ff. (44). 66 Statt aller: G. Pleuger, The Reform of the Security Council of the United Nations, in: S. von Schorlemer, Praxishandbuch UNO (2003), 686 ff. (690); Chr. Tomuschat, Die EU als Akteur in den internationalen Beziehungen, in: J.A. Frowein et al., aaO. (Anm. 4), 799 ff.; I. Winkelmann, Germany’s role in the Security Council of the United Nations, German Yearbook of International Law (2003), 30 ff. (58 ff.).
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III. Fazit Die Beratungen in der Frage der SR-Reform sind 13 Jahre nach ihrem Beginn in konkret ausformulierte Vorschläge gemündet. Der Weltgipfel 2005 hat eine baldige Reform des VN-SR als wesentlicher Bestandteil der Reform der VN gefordert.67 Ende 2005/Anfang 2006 sind zwei der drei konkreten SR-ReformResolutionen erneut der GV vorgelegt worden. Für Charta-Änderungen haben die Väter und Mütter der VN-Charta eine Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung vorgesehen. Diese Mehrheit entspricht dem, was auch bei besonders wichtigen Fragen als Abstimmungsquorum in der GV gilt.68 Was heute alleine aussteht, ist die Anberaumung einer Abstimmung. Dies kann zeigen, ob ein ausreichender Teil der VN-Mitgliedschaft sich hinter einer der vorgeschlagenen Lösungen vereint. Konsens zu fordern, zeugt entweder von Praxisferne oder davon, alles beim Alten belassen zu wollen. Aus deutscher Sicht spricht alles dafür, dass eine weit ausreichende Mehrheit auf Grundlage des Vorschlags der „Gruppe der Vier“ möglich ist. Dies wäre gut für den Süden, gut für Deutschland und noch besser für die VN und multilaterale Politik schlechthin. Selbst der Versuch wäre es wert. Er würde jedem Beteiligten zur Ehre gereichen und zeigen, bis wohin die VN-Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit zu gehen bereit sind.
67
AaO. (Anm. 33) Ziff. 153. Vgl. Art. 108 VN-Charta (Charta-Änderung), Art: 18 Abs. 2 VN-Charta (allg. GVBeschlüsse, dort allerdings nur „present and voting“). 68
Revitalisierung der UN-Generalversammlung – die unendliche Geschichte Von Christian Much*
A. Das zentrale Organ der Vereinten Nationen – vom Verfall bedroht Die UN-Generalversammlung (UNGV) ist eines der Hauptorgane der Vereinten Nationen – das einzige mit nahezu universeller Mitgliedschaft.1 Die Allzuständigkeit der UNGV für „alle Fragen und Angelegenheiten […], die in den Rahmen der [UN-]Charta fallen“,2 wird nur begrenzt durch die vorrangige Zuständigkeit des Sicherheitsrates, Entscheidungen zu treffen über Situationen, die bei ihm anhängig sind.3 Doch mit der „Uniting for Peace“-Resolution4 nahm die UNGV für sich das Recht in Anspruch, anstelle eines in seiner Handlungsfähigkeit gelähmten Sicherheitsrates tätig zu werden. Beste Voraussetzungen also für eine herausragend wichtige Stellung der UNGV im Gefüge der UN-Organe. Und dennoch: – Als die Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel (der Weisen-Rat, den UN-Generalsekretär Annan um Vorschläge zur UN* Der Verfasser war von 2001-2005 als Rechtsberater und stellvertretender Leiter der Politischen Abteilung an der Ständigen Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen (New York) auch für die Revitalisierung der UN-Generalversammlung zuständig. Die Ausführungen in diesem Artikel geben jedoch ausschließlich seine eigenen Meinungen und Eindrücke wieder. 1 Stand (01.01.2006): 191 Mitgliedstaaten, 1 Beobachterstaat (Heiliger Stuhl), 1 Beobachter mit weitgehend gleichen Verfahrensrechten (Palästina). 2 UN-Charta, Art. 10 (deutscher Wortlaut: http://www.runiceurope.org/german/charta/ charta.htm). Art. 11-17 UN-Charta führen einige Zuständigkeiten explizit auf, darunter auch das Budgetrecht. 3 UN-Charta (Anm. 2), Art. 11 Abs. 2. 4 UNGV-Resolution 377 (V) vom 03.11.1950, http://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get? OpenAgent&DS=A/RES/377(V)&Lang=E&Area=RESOLUTION.
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Reform gebeten hatte) im Dezember 2004 ihre Empfehlungen vorlegte,5 galten nur 4 von 302 Absätzen des Reformberichts bzw. 3 der 101 im Reformbericht enthaltenen konkreten Vorschläge der UNGV-Reform. – Als Annan im März 2005 seine Vorstellungen zur Umsetzung der Reformvorschläge des Weisen-Rates vorlegte,6 waren nur 7 von 222 Absätzen des Berichts bzw. 3 der ca. 60 im Bericht enthaltenen konkreten Vorschläge der UNGV-Reform gewidmet. – Als die Staats- und Regierungschefs nahezu aller Staaten der Welt am 16. September 2005 im Ergebnisdokument ihres New Yorker Weltgipfels7 eine Entwicklungs- und Reformagenda absegneten, beschäftigten sich nur 3 von 178 Absätzen des Abschlussdokuments mit der UNGV-Reform. Ist die UNGV so perfekt, dass sie keiner weiteren Reformen bedarf? Oder ist ihr Zustand so hoffnungslos, dass Weisen-Rat, Annan und der Gipfel getrost darauf verzichten durften, ihre Energien auf aussichtslose Reformvorschläge zu verschwenden? Licht und Schatten ergänzen sich: Kein Hauptorgan der Vereinten Nationen verkörpert wie die UNGV das Leitbild der aus gleichberechtigten, souveränen Staaten zusammengesetzten Weltgemeinschaft. Daher ist auch kein anderes UNOrgan in solchem Maße wie die UNGV den sich hieraus ergebenden Reibungsverlusten und Unzeitgemäßheiten ausgesetzt. Kein anderes UN-Organ ist so reformresistent wie die UNGV, und in keinem anderen UN-Organ vollziehen sich Reformen dermaßen unspektakulär, dass sie, anders als die Reform des Sicherheitsrates oder der Menschenrechtskommission, kaum mit öffentlichem Interesse rechnen können. Dennoch sind diese Reformen wichtig. Die Weisen, Annan und der Gipfel vom September 2005 waren wortkarg, was Reformen der UNGV betrifft. Doch selbst in der Kürze ihrer Aussagen drückt sich der Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit aus, der für die UNGV so charakteristisch ist. Die Weisen lobten gleich mehrfach die „einzigartige Legi5 Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel „A more Secure world: Our shared responsibility“, UN-Dok. A/59/565 vom 02.12.2004. Deutsche Übersetzung („Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung“): http:// www.runic-europe.org/german/reform/a-59-565.pdf. 6 Bericht von UNGS K. Annan „In Larger Freedom: towards development, security and human rights for all“, UN-Dok. A/59/2005 vom 21.05.2005. Deutsche Übersetzung („In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“): http://www.runic-europe.org/german/reform/a-59-2005-ger.pdf. 7 Ergebnis des Weltgipfels 2005. UNGV-Resolution 60/1, UN-Dok. A/60/1 vom 24.10.2005. Deutsche Übersetzung: http://www.un.org/Depts/german/gv-60/band1/ ar60001.pdf.
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timität der UNGV“;8 Annan und der Gipfel priesen in nahezu identischen und umso Mantra-hafteren Formulierungen „die zentrale Rolle der UNGV als wichtigstem beratenden, richtliniengebenden und repräsentativen Organ“.9 Gleichzeitig beklagten die Weisen, dass „die Normsetzungskapazität [der UNGV] oft auf Debatten über Nebensächlichkeiten oder auf von der Realität längst überholte Themen verschwendet wird“, dass „eine schwerfällige, statische Tagesordnung zu repetitiven Debatten führt“ und dass „viele Resolutionen [der UNGV] repetitiv, von fraglicher Relevanz oder unanwendbar sind und so die Glaubwürdigkeit des gesamten Organs mindern“.10 Annan sorgte sich aus eben diesen Gründen um den „Verfall des Prestiges der UNGV“.11 Handfeste Indizien belegen, dass diese Sorgen nicht unberechtigt sind. In wichtigen „harten“ Themen, vor allem Terrorismus und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, hat die UNGV ihr Erörterungs- und NormsetzungsPrimat mittlerweile an den Sicherheitsrat verloren. Während die UNGV sich unfähig zeigte, in diesen Schlüsselfragen konzeptionell und normativ voranzukommen – symptomatisch ist der jahrelange Stillstand bei den Verhandlungen über eine umfassende Anti-Terrorismus-Konvention –, hat der Sicherheitsrat nach Art eines Gesetzgebers verbindliche, auf Kapitel VII der UN-Charta gestützte Resolutionen erlassen12 und damit das Gleichgewicht zwischen dem „Gesetzgeber“ UNGV und dem „Polizisten“ Sicherheitsrat13 zu seinen Gunsten verschoben. Diese bedenkliche, mit der UN-Charta eigentlich nicht zu vereinbarende Entwicklung wäre vermutlich so nicht eingetreten, wenn die UNGV ihrer Normsetzungskompetenz in den vergangenen Jahren energischer und effizienter gerecht geworden wäre. Auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich lässt sich beobachten, dass die UNGV gegenüber IWF und Weltbank als konzeptioneller Motor an Boden verloren hat.
8 Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel (Anm. 5), Ziff. 240 und – spezifisch im Kontext der Kodifizierung von Anti-Terrorismus-Normen – Ziff. 163. 9 Annan, In größerer Freiheit (Anm. 6), Ziff. 158; Ergebnis des Weltgipfels 2005 (Anm. 7), Ziff. 149. 10 Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel (Anm. 5), Ziff. 241. 11 Annan, In größerer Freiheit (Anm. 6), Ziff. 158 ff. 12 Insb. Sicherheitsrats-Resolutionen 1373 vom 28.09.2001 und 1544 vom 08.10.2004 (beide betreffend Terrorismus) sowie 1540 vom 28.04.2004 (betreffend Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen). 13 J. Frowein/N. Krisch, Introduction to Chapter VII, in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the United Nations – A Commentary, 2. Aufl. (2002), Rn. 23 mwN.
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B. Zwei Ebenen der Reform: Reparatur und Umbau Bemühungen zur Reform – oder, wie es im UN-Sprachgebrauch heißt: zur „Revitalisierung“ – der UNGV haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, wohl in Korrelation zum immer deutlicher werdenden Verfall des Ansehens der UNGV. Jedenfalls hat jeder der vergangenen fünf UNGV-Präsidenten die UNGV-Revitalisierung gleich zu Beginn seiner Amtszeit zur Chefsache erklärt und sich höchstpersönlich, meist im Verbund mit einigen als Bindeglied zu den regionalen Gruppierungen dienenden UN-Botschaftern („Facilitatoren“), um Fortschritte im Reformprozess bemüht. Dabei wiederholt sich dann Jahr für Jahr dasselbe Ritual: Vom UNGV-Präsidenten und seinen „Facilitatoren“ zu Beginn der UNGV-Sitzungsperiode, also im Herbst, vorgelegte Reformideen schrumpfen im Verlauf der Sitzungsperiode, also bis zum Frühsommer, unter dem Einspruch der einen oder anderen Staatengruppe auf einen mageren Rest konsensfähiger Maßnahmen, die nach einem dramatischen Verhandlungs-Endspurt beschlossen und, um das magere Ergebnis zu verbrämen, als wichtiger Meilenstein gepriesen werden. Den unerledigten Rest vertagt die UNGV dann in ihre nächste Sitzungsperiode. Bevor ich mich der Substanz des Reformprozesses zuwende, lohnt es sich darauf hinzuweisen, dass die UNGV-Revitalisierung, inhaltlich gesehen, auf zwei unterschiedlichen Ebenen läuft bzw. laufen müsste: auf der Ebene der Effizienzsteigerung der real existierenden UNGV, und auf der Ebene des Umbaus der UNGV in ein modernes Gremium, das den gewandelten weltpolitischen Gegebenheiten angepasst ist. Zu letzteren zählen sicherlich der Bedeutungszuwachs nichtstaatlicher Akteure wie auch das zunehmende Bewusstsein, dass öffentliche Gewalt sich durch die verantwortungsvolle, überprüfbare Wahrnehmung der Interessen der Bevölkerung legitimieren muss. Anders ausgedrückt: Neben Reformen, die vom status quo der politischen Beschlussfassung durch souveräne Staaten ausgehen und dieses Getriebe lediglich ölen, ohne es in Frage zu stellen, müssten Reformen stehen, die das bestehende System in Richtung Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure öffnen und es gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig machen. Die Vorschläge der Reform-Weisen, Annans Umsetzungsbericht und das Abschlussdokument des Gipfels vom September 2005 deuten entsprechenden Reformbedarf zumindest an: Laut Bericht der Reform-Weisen wird die UNGV „durch detaillierte Verfahrensreformen […] auch nicht zu einem wirksameren Instrument als bisher. Dies kann nur erreicht werden, wenn ihre Mitglieder die nachhaltige Entschlossenheit zeigen, ihr bisheriges Verhalten auf-
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zugeben.“14 Alle drei Dokumente – am deutlichsten Annans Umsetzungsbericht15 – fordern, dass die UNGV sich systematischer mit der Zivilgesellschaft einlassen müsse. Allerdings knüpfen alle drei Dokumente diese Forderung in, wie mir scheint, wenig hilfreicher Weise an die Vorschläge des sog. Cardoso-Berichts,16 der von verschiedenen Teilen der UN-Mitgliedschaft aus verschiedenen Gründen eher zurückhaltend aufgenommen wurde und bislang kaum Reformimpulse aussendete.17 Festzuhalten bleibt, dass die weitaus meisten Reformvorschläge wie auch Reformbeschlüsse sich auf die Effizienzsteigerung der real existierenden UNGV bezieht. Spiegelbildlich zu ihrer praktischen Bedeutung werden sie auch im Mittelpunkt dieser Ausführungen stehen, bevor ich abschließend auch auf die Öffnung der UNGV gegenüber der Zivilgesellschaft und die Forderung nach „Demokratisierung“ der UNGV eingehe.
C. Reparaturen: Greentree und seine Folgen Der bislang ambitionierteste Versuch, ein großes – wenn auch aus vielen „kleinen“ Einzelmaßnahmen bestehendes – Bündel an Reformvorschlägen zu schnüren, geht auf ein Seminar zurück, bei dem sich auf Einladung der International Peace Academy und der Ständigen Vertretung der Niederlande bei den Vereinten Nationen (New York) am 16./17. Mai 2003 über dreißig hochrangige 14 Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel (Anm. 5), Ziff. 241. 15 Annan, In größerer Freiheit (Anm. 6), Ziff. 162: „[Die UNGV] sollte sehr viel aktiver den Kontakt mit der Zivilgesellschaft suchen – und so der Tatsache Rechnung tragen, dass die Zivilgesellschaft nach einem Jahrzehnt rasch zunehmender Interaktion mit den Vereinten Nationen jetzt an den meisten ihrer Aktivitäten beteiligt ist. Die Ziele der Vereinten Nationen können überhaupt nur erreicht werden, wenn die Zivilgesellschaft und die Regierungen voll einbezogen werden.“ 16 „We the peoples: civil society, the United Nations and global governance“ (Report of the Panel of Eminent Person on United Nations–Civil Society Relations), UN-Dok. A/58/ 817 vom 11.06.2004, http://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/58/817 &Lang=E; Rezeption der in diesem Bericht enthaltenen Vorschläge durch UNGS Annan in dessen Bericht „Report of the Secretary-General in response to the report of the Panel of Eminent Persons on United Nations-Civil Society Relations“, UN-Dok. A/59/354 vom 13.09.2004, http://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/59/354&Lang=E. 17 Einen guten Überblick verschafft H. Volger, Mehr Partizipation nicht erwünscht, Vereinte Nationen 53 (2005), 12 ff.
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Diplomaten, fast ausschließlich auf Ebene der Missionschefs, sowie einige UNMitarbeiter im idyllischen Landgut Greentree, unweit New York, zusammenfanden. Ausgehend von einer Analyse der Schwächen der UNGV gelangt das Protokoll des Greentree-Seminars18 zu einer Reihe praktischer Vorschläge, die sich in der Folgezeit als wichtiger Ideenspender der Revitalisierungsdiskussion erwiesen. Das Greentree-Protokoll beschwört zunächst das einzigartige Gestaltungspotenzial der UNGV: Sie gebe allen Staaten – und manchen von ihnen die einzige – Gelegenheit, gleichberechtigt und im Geiste des Multilateralismus eine große Bandbreite von Fragen zu behandeln. Besondere Bedeutung habe die UNGV bei der Setzung und Überwachung internationalen Rechts gehabt. Die Resolutionen der UNGV seien zwar unverbindlich, aber deswegen nicht wirkungslos: Greentree nennt das Beispiel der Beschlüsse zur Überwindung der Apartheid. Ebenso gut hätte UNGV-Resolution A/RES/217 A(III) vom 10.12.1948 genannt werden können – die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die sich aus bescheidenen, unverbindlichen Anfängen zu einem der wirkungsmächtigsten Dokumente der Neuzeit entwickelte. Sodann analysiert das Greentree-Protokoll die Schwächen der UNGV: zum einen ihre Unfähigkeit, auf Schlüsselfragen adäquat einzugehen, zum anderen die lähmenden Rituale im Arbeitsablauf der UNGV. Als wesentlichen Grund für diese Schwächen benennt Greentree nationale Egoismen, die den Blick auf die überragenden gemeinsamen Interessen der Staatengemeinschaft verstellen. Nord-SüdPolarisierungen sorgten für zusätzliche Lähmung und geistige Verflachung. So nützlich Blockbildungen historisch auch gewesen sein mögen, um Machtasymmetrien des internationalen Systems auszugleichen, sollten sie vor den globalen Herausforderungen doch zurückweichen. Ansatzpunkte zur Revitalisierung der UNGV sieht Greentree unter anderem in den folgenden – hier bei weitem nicht vollständig aufgeführten – Bereichen: – Führung: Stärkung der Stellung des UNGV-Präsidenten und des ihm zur Verfügung stehenden Stabes; Stärkung des Einflusses des UN-Generalsekretärs auf Ausrichtung und Inhalt der Debatten; stärkere Einbeziehung der Missionschefs in das UNGV-Geschehen. – Reform der Tagesordnung: Sie müsse stärker auf aktuelle Themen ausgerichtet werden; sie müsse durch Zusammenlegung von Tagesordnungspunkten, durch Bi- oder Triannualisierung von Themen19 oder schlicht durch Streichung obso18 „From Promise to Practice: Revitalizing the General Assembly for the New Millennium“ (http://pvnewyork.org/statements/from_promise_to). 19 Üblicherweise kehren UNGV-Tagesordnungspunkte und die unter ihrem Rubrum behandelte Resolution im Jahresrhythmus auf die Tagesordnung der folgenden UNGV
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leter Themen kräftig entschlackt werden; die Aussprachen müssten, auch durch Einbeziehung des Sachverstands von Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft, unmittelbarer und interaktiver werden; der UNGV-Präsidialausschuss20 solle nach Art eines Tagesordnungs-Managers sehr viel aktiver werden, um die effiziente Abarbeitung der Tagesordnung zu gewährleisten. – Reform der Ausschüsse: Neuzuschnitt der Ausschüsse21 und Abschaffung obsoleter Unterausschüsse; Streckung des Terminkalenders der Ausschüsse über das gesamte Jahr;22 stärkere inhaltliche Prioritätensetzung; mehr Disziplin bei der Einhaltung zeitlicher Vorgaben (Sitzungsbeginn/-ende, Dauer der Redezeit, usw.). – Resolutionen: Statt routinemäßig Aussagen des Vorjahres zu wiederholen, sollten Folge-Resolutionen sich auf neue Elemente konzentrieren; die Wirkung von Resolution sollte nach einer gewissen Zahl von Jahren überprüft werden; die verbreitete Praxis der Annahme von Resolutionen ohne Abstimmung – etwa 75% aller Resolutionen, in manchen Ausschüssen traditionsgemäß 100%, kommen auf diese Weise zustande – solle wegen ihrer inhaltlich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner nivellierenden Wirkung überprüft werden.23 – Stärkere Verzahnung mit anderen UN-Gremien, etwa durch wechselseitige Unterrichtungspflichten und gemeinsame Sitzungen und Ausschüsse.
zurück. Durch Bi- bzw. Triannualisierung wird dieser „Wiedervorlage-Rhythmus“ auf zwei bzw. drei Jahre verlängert. 20 Besser bekannt unter seinem englischen Namen „General Committee“. Ein aus dem UNGV-Präsidenten, seinen 21 Stellvertretern und den Vorsitzenden der sechs UNGVHauptausschüsse bestehender Ausschuss, dem im Wesentlichen die Beschlussfassung über die UNGV-Tagesordnung obliegt (vgl. Vorläufige Geschäftsordnung der UNGV, Regeln 38-44, insb. Regel 40. Fundstelle: http://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?Open&DS =A/520/rev.15&Lang=E. 21 Das Greentree-Protokoll (Anm. 18) dachte insbesondere an die Zusammenlegung des ersten (Abrüstungs- und Sicherheits-) und vierten („besonderen politischen“ und Dekolonisierungs-)Ausschusses. Demgegenüber sprachen sich die Reform-Weisen in ihrem Bericht (Anm. 5, Ziff. 242) für mehr kleinere Ausschüsse aus. Annan folgte dem nicht, sondern befürwortete eine „Straffung“ der Ausschüsse (Anm. 6, Ziff. 160). Letztlich tat sich in dieser Hinsicht nichts. 22 Während derzeit alle sechs Hauptausschüsse gleichzeitig im Herbst tagen, könnte die Ausschussarbeit über das ganze Jahr verteilt werden. 23 Alternative ist beispielsweise, dass ein Staat, der nur gewisse Teile einer Resolution und diese auch nicht allzu vehement ablehnt, die Resolution trotzdem unter Abgabe einer rechtswahrenden Erklärung passieren lässt.
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– Unter Verschiedenes erwähnt das Greentree-Protokoll schließlich auch noch die Institutionalisierung des Austausches mit Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft sowie die Notwendigkeit, dass die UNGV sich gegenüber der Öffentlichkeit und den Medien attraktiver präsentiert. Das Greentree-Protokoll erschien im Herbst 2003 und somit in doppelter Hinsicht zu einem günstigen Zeitpunkt. Zum einen, weil es dem um die UNGVRevitalisierung in ganz besonderem Maße bemühten Präsidenten der 58. UNGVSitzungsperiode (September 2003 – September 2004), dem Außenminister von Saint Lucia Julian Hunte, als Ideengeber diente; zum anderen, weil die Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel (die Reform-Weisen) zu diesem Zeitpunkt mitten in der Materialsammlung für ihren Reformbericht steckte. In mehreren der vom Greentree-Protokoll identifizierten Reformbereiche gab es (punktuelle, aber in der Summe doch nicht unbedeutende) Fortschritte. Von ihnen sei auf die folgenden hingewiesen, erneut ohne Anspruch auf Vollständigkeit: – Führung: Durch Stellenaufbau im Büro des UNGV-Präsidenten24 wurde seine Fähigkeit gestärkt, mit eigenen Initiativen oder als Vermittler in die Beschlussfassung einzugreifen. Gleichzeitig wurde ihm ein Initiativrecht verliehen, um für die zu Beginn jeder Sitzungsperiode stattfindende Allgemeine Aussprache (Generaldebatte) ein Leitthema vorzugeben25 und zu aktuellen Themen Debatten einzuberufen.26 Die bereits in der 56. UNGV getroffene Regelung, den UNGV-Präsidenten und seine Vertreter im Interesse der Kontinuität schon drei Monate vor Beginn der kommenden Sitzungsperiode zu wählen, und nicht erst zu ihrem Auftakt,27 wurde auf die Vorsitzenden der UNGV-Hauptausschüsse und die übrigen Mitglieder des Ausschuss-Präsidiums ausgedehnt.28 – Reform der Tagesordnung: Hier gelang es in ersten zaghaften Schritten, die Zahl der jährlich anfallenden Tagesordnungspunkte von ehemals ca. 180 auf nunmehr 156 – eine weiterhin unhandlich hohe Zahl – zu reduzieren. Nachdem bereits im Herbst 2001 alle die Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und diversen internationalen bzw. regionalen Organisationen betreffenden Resolutionen in einem einzigen Tagesordnungspunkt zusammengefasst und
24 UNGV-Res. 58/126 vom 13.01.2004, Annex Ziff. A.10 und UNGV-Res. 59/313 vom 21.09.2005, op. 3(b). 25 UNGV-Res. 58/126 vom 13.01.2004, Annex Ziff. A.7. 26 UNGV-Res. 59/313 vom 21.09.2005, op. 3(a). 27 UNGV-Res. 56/509 vom 10.07.2002, op. 2. 28 UNGV-Res. 58/126 vom 13.01.2004, Annex Ziff. B.9.
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fünf Tagesordnungspunkte biannualisiert worden waren,29 beschloss die UNGV in ihrer 58. Sitzungsperiode30 einen Doppelansatz: Zum einen eliminierte sie zwei Tagesordnungspunkte gänzlich und versetzte sieben weitere Tagesordnungspunkte in einen „Schlummerzustand“ (d.h. Behandlung nur, wenn ein Mitgliedstaat dies ausdrücklich beantragt); zum anderen verständigte sie sich darauf, die verbliebenen Tagesordnungspunkte ungeachtet des Ausschusses, in dem sie anhängig sind, nach Themenblöcken zu sortieren, die den acht Oberzielen des mittelfristigen Plans 2002-2005 (plus einem „Restposten“) entsprechen. Es handelt sich um die Themenblöcke: (i)
Wahrung des internationalen Friedens und der Sicherheit;
(ii)
Förderung von nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung;
(iii) Entwicklung Afrikas; (iv)
Förderung der Menschenrechte;
(v)
Wirksame Koordinierung humanitärer Hilfe;
(vi)
Förderung von Justiz und Völkerrecht;
(vii) Drogenkontrolle, Verbrechensverhütung, Bekämpfung des Terrorismus; (viii) Organisations-, Verwaltungs- und sonstige Angelegenheiten. Auch wenn diese thematische Sortierung einstweilen keinen praktischen Effekt hat, soll sie der erste Schritt dazu sein, die UNGV-Tagesordnung stärker auf politisch wichtige Themen auszurichten. Politische Relevanz der Tagesordnung, so die zutreffende Erwartung, wird sich vorteilhaft auf Relevanz und Ansehen der UNGV auswirken. Allerdings stößt das Vorhaben, die Tagesordnung strategisch zu fokussieren, wie kaum ein anderes Reformthema an die Grenzen nationaler Egoismen. Was dem einen als obsolet gilt, ist dem anderen das Herzstück der Tagesordnung schlechthin. Kein Wunder also, dass die UNGV dieses heiße Eisen nun bereits in zwei aufeinander folgenden in die nächste Sitzungsperiode vertagte, zuletzt am 12.09.2005 per UNGV-Resolution 59/313. Als Beitrag zur Aufwertung der Tagesordnung ist zu sehen, dass die UNGV beschloss, größere thematische Debatten durchzuführen31 und die Hauptaus-
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UNGV-Res. 55/285 vom 10.09.2001, Annex Ziff. II.A.3 und B.10. UNGV-Res. 58/316 vom 13.07.2004, Annex Ziff. B.2. UNGV-Res. 59/313 vom 21.09.2005, op. 2(a).
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schüsse dazu aufforderte, „interaktive Debatten“ zu veranstalten32 – wobei „interaktiv“ als Gegensatz zum Verlesen vorgefertigter Reden zu verstehen ist. – Eindämmung der Papierflut: In diesem sowohl vom Greentree-Protokoll als auch von anderen Reformvorschlägen eher kursorisch behandelten, aber schon allein aus finanziellen und arbeitsökonomischen Gründen wichtigen Bereich machte die UNGV einige Fortschritte. Den zahlreichen Berichten, die die UNGV-Mitgliedstaaten dem UN-Sekretariat abfordern, verordnete sie eine maximale Seitenzahl und mahnte unter dem Strich erfolgreich zur Reduzierung der Berichtszahl.33 Auch bei dem aus sitzungsökonomischen Gründen begrüßenswerten Einsatz von Geräten zur Stimmzählung gab es, nach Überwindung jahrelanger Bedenken wegen angeblicher Manipulierbarkeit derartiger Geräte, in UNGV-Resolution 59/313 endlich einen Durchbruch.34 – In weiteren Bereichen treten die Reformbemühungen eher auf der Stelle. Von Überlegungen zur Neustrukturierung der UNGV-Hauptausschüsse nahm die UNGV Abstand,35 da kein Ausschuss gewillt war, in die als Degradierung empfundene Frühjahrs-Sitzungsperiode auszuweichen. Anläufe zu verbessertem Sitzungsmanagement (Redelänge, Pünktlichkeit, usw.) und verbesserter Zusammenarbeit zwischen den UN-Organen, insb. UNGV, Sicherheitsrat und ECOSOC, drücken sich allenfalls in Appellen zur Einhaltung der einschlägigen Beschlusslage aus. Zu inhaltlichen Qualitätsmaßstäben an Resolutionen findet sich in den Reformbeschlüssen wenig mehr als ein Aufruf zu konziseren, aktionsorientierten und mit kürzeren Präambeln ausgestatteten Resolutionen.36 Die Hoffnungen, die die UNGV 2004 in den Präsidialausschuss (General Committee) als Tagesordnungs- und Ablauf-Manager gesetzt hatte,37 scheinen wieder geschrumpft zu sein. Jedenfalls ist ihm in der jüngsten Reform-Resolution keine Rolle mehr zugedacht; neue Vorschläge zur Reform von Tagesordnung und Sitzungs-Management soll nun bis Sommer 2006 eine allen UNMitgliedstaaten offen stehende Arbeitsgruppe erstellen.
32 UNGV-Res. 58/316 vom 13.07.2004, Annex Ziff. C.3(c) und UNGV-Res. 59/313 vom 21.09.2005, op. 12. 33 UNGV-Res. 58/126 vom 13.01.2004, Annex Ziff. B.7. 34 UNGV-Res. 59/313 vom 21.09.2005, op. 15. 35 Vgl. Vertagungsbeschluss in UNGV-Res. 58/126 vom 13.01.2004, Annex Ziff. A.1(a). 36 UNGV-Res. 58/126 vom 13.01.2004, Annex Ziff. B.6. 37 UNGV-Res. 58/126 vom 13.01.2004, Annex Ziff. B.1 ff.
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D. Umbau: Öffnung gegenüber der Zivilgesellschaft, „Demokratisierung“ Während man im Bereich der UNGV-„Reparaturen“ immerhin von Teilfortschritten sprechen kann, fällt die Bilanz bei den Umbauarbeiten noch dürftiger aus. Beteiligung der Zivilgesellschaft: In der Praxis hat sich im UNGV-Plenum und noch stärker in einzelnen Hauptausschüssen eingebürgert, dass – über die eigentliche Beschlusslage hinaus – akkreditierten Nichtregierungsorganisationen die Beratungen beobachten dürfen, solange kein Ausschussmitglied hieran Anstoß nimmt und im Ausschuss keine Verhandlungen stattfinden. Diesen de factoZustand zu institutionalisieren, dürfte jedoch weiterhin schwer fallen. Das staatszentrierte Politikverständnis zahlreicher Staaten, vermutlich gepaart mit Scheu vor allzu viel Transparenz, steht dem weiterhin entgegen und wird aus Sicht dieser Staaten anscheinend auch nicht durch den teilweise sehr qualitätsvollen Beitrag aufgewogen, den Nichtregierungsorganisationen dank ihres Wissens und ihrer Felderfahrung zu Debatten leisten können. Der Weltgipfel (September 2005) begrüßte „den positiven Beitrag, den […] die Zivilgesellschaft, einschließlich der nichtstaatlichen Organisationen, zur Förderung und Durchführung von Entwicklungs- und Menschenrechtsprogrammen leisten“,38 betonte, „wie wichtig es ist, dass sie sich in diesen Schlüsselgebieten auch weiterhin mit Regierungen, den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen engagieren“39 und „begrüßte den Dialog zwischen diesen Organisationen und den Mitgliedstaaten, der in den ersten informellen interaktiven Anhörungen der UNGV Ausdruck findet“.40 Letzteres ist eine Anspielung auf eine Anhörung (New York, 23./24.06.2005),41 zu der UNGV-Präsident Jean Ping über 200 Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und Privatsektor im Vorfeld des Weltgipfels eingeladen hatte. Nachträglich betrachtet muss man konstatierten, dass von den zahlreichen Anregungen, die von der Zivilgesellschaft in der Anhörung aufgebracht wurden, nur Weniges in das Ergebnisdokument des Weltgipfels Eingang fand. Es verbleibt der Eindruck, dass aus Sicht so mancher UN-Mitgliedstaaten Kontakte mit der Zivilgesellschaft nur eine Konzession an die political correctness sind, die es prozedural unter Kontrolle und inhaltlich kurz zu halten gilt. Dass der Weltgipfel informelle interaktive Anhörungen begrüßte, steht diesem 38 39 40 41
ings/.
Ergebnis des Weltgipfels 2005 (Anm. 7), Ziff. 172. Ergebnis des Weltgipfels 2005 (Anm. 7), Ziff. 172. Ergebnis des Weltgipfels 2005 (Anm. 7), Ziff. 173. Nähere Informationen zur Anhörung unter: http://www.un.org/ga/civilsocietyhear-
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Eindruck nicht entgegen, sondern bestätigt ihn. Damit befindet sich die UNGV Meilen entfernt von der Vision, die Annan in seinem Bericht zur Rezeption des Cardoso-Berichts prägnant formuliert hatte: „Die Vereinten Nationen sollten ihren Blick stärker nach außen richten und sich stärker auf ihre Rolle besinnen, verschiedene Interessengruppen, die für ein Thema von Belang sind, zusammenzubringen. Erweiterte Konsultationen der Vereinten Nationen mit verschiedenen Interessengruppen können die Qualität und die Tiefe der politischen Analyse wie auch umsetzbarer Diskussionsergebnisse nur erhöhen, auch in Gestalt von Partnerschaften. Derartige Partnerschaften können den Vereinten Nationen dabei behilflich sein, neue Antworten auf schwierige Fragen zu finden. Debatten in den Vereinten Nationen können auf diese Weise reichhaltiger und vielseitiger, zugleich realitätsnäher werden. Wirksamere Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass Entscheidungen der Vereinten Nationen von einem breiteren Publikum besser verstanden und stärker unterstützt werden.“42
„Demokratisierung“ der UNGV: Am schwierigsten dürfte es derzeit wohl fallen, die UNGV zu „demokratisieren“. Das beginnt schon damit, dass man unter diese Forderung recht unterschiedliche Inhalte subsumieren kann: Gemeint sein könnte das Anliegen vor allem von Entwicklungsländern, ihren im Vergleich zu den Industrieländern geringeren Einfluss auf die politische Meinungsbildung zu erhöhen und sie mit diesen auf gleiche „Augenhöhe“ zu bringen. Gemeint sein könnte auch das diametral entgegen gesetzte Anliegen, das in der UNGV geltende Prinzip „ein Staat, eine Stimme“ durch ein System der Stimmgewichtung zu ersetzen, bei dem Bevölkerung oder wirtschaftliche Leistungskraft berücksichtigt werden. Schließlich könnte die „Parlamentarisierung“ der UNGV gemeint sein – immerhin kam der Weltgipfel dem nahe, wenn er eine „stärkere Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und nationalen und regionalen Parlamenten, insbesondere über die Interparlamentarische Union“ (IPU) forderte, „mit dem Ziel, alle Aspekte der Millenniums-Erklärung […] zu fördern und die wirksame Durchführung der Reform der Vereinten Nationen zu gewährleisten.“43 Bei näherem Hinsehen ist diese Forderung aber hinreichend unbestimmt, um auch für diejenigen Staaten akzeptabel zu sein, die eine Parlamentarisierung der UNGV nicht wünschen: weil sie parlamentarische Transparenz auch zuhause nicht kennen, oder weil sie sich von parlamentarischer Aufsicht keine schmeichelhaften Schlussfolgerungen bezüglich des eigenen Landes erwarten. Der Weltgipfel stellte seine Forderung nach Zusammenarbeit mit nationalen Parlamenten und der IPU klar in den – durchaus sinnvollen, aber aus Demokratisierungs-Sicht zu kurz greifenden – Kontext des Strebens nach nationalen Multiplikatoren für die Umsetzung politischer Beschlüsse der Vereinten Nationen. Befürwortern einer UNGV-
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Annan (Anm. 16), Ziff. 4. Ergebnis des Weltgipfels 2005 (Anm. 7), Ziff. 171.
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Demokratisierung44 hingegen geht es darum, der Legitimität der UNGV (Rückkoppelung ihrer Beschlüsse an den Willen der Bevölkerung, Rechenschaftspflicht der UN-Bürokratie gegenüber der Bevölkerung) einen Schub zu verleihen. In derartigen Demokratisierungskonzepten spielt gelegentlich auch die IPU eine Rolle, aber nicht als Transmissionsriemen in die nationale Politik, sondern als Vorläufer-Institution eines „echten“ UN-Weltparlaments. Unabhängig von der Frage nach der systemischen Kompatibilität (quasi-) parlamentarischer Kontrollinstanzen ist festzuhalten, dass eine Parlamentarisierung der UNGV derzeit nicht durchsetzbar ist. In der Revitalisierungs-Diskussion steht sie noch nicht einmal auf der Tagesordnung.
E. Ausblick Warum tut sich die UNGV so schwer mit ihrer Revitalisierung? Darauf gibt es eine Reihe von Antworten: Erstens: Nationales Interesse – genauer: die Überordnung des nationalen Interesses über das multilaterale Interesse – ist der wichtigste Einzelfaktor, der größere Reformschritte verhindert. Dabei kann das nationale Interesse in manchen Fällen durchaus nachvollziehbar sein. Ein Staat mit personell sehr eingeschränkter Vertretung am Sitzort der Vereinten Nationen wird sich gegen eine Erhöhung der Zahl gleichzeitig tagender Ausschüsse wenden, weil sich dadurch seine Teilnahmemöglichkeit reduziert. Ein Staat mit großem Anteil an der Finanzierung des UN-Haushaltes wird gegenüber zusätzlichen Mandaten zurückhaltender sein als ein Staat, der lediglich für 0,001% des Haushaltes aufkommen muss. Auf einer höheren Abstraktionsebene muss man in Rechnung stellen, dass die zahlreichen in die Zuständigkeit der UNGV fallenden Themen für die Länder des Nordens und des Südens einen unterschiedlichen Stellenwert haben: Was dem einen die Bedrohungsperzeptionen des Terrorismus und der Massenvernichtungswaffen sind, sind dem anderen Armut, AIDS, Verschuldungskrise oder Klimawandel. In anderen Fällen erscheint es weniger nachvollziehbar, teilweise geradezu ärgerlich, wenn Staaten ein nationales Interesse, das von außen betrachtet eher marginal erscheint, mit großem Nachdruck durchzusetzen versuchen. Aber derartigen Konstellationen verdankt die Auseinandersetzung um die Straffung der UNGVTagesordnung ihre Zähflüssigkeit. 44 Stellvertretend für andere sei hingewiesen auf die detaillierten Vorstellungen des Komitees für eine demokratische UNO: A. Bummel, Internationale Demokratie entwickeln (2005).
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Zweitens: Jenseits der Verfolgung „objektiver“ nationaler Interessen wird das Geschehen in den Vereinten Nationen in gewissem Maße auch durch Misstrauen geprägt. So stehen die Industrieländer regelmäßig im Verdacht, sich trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit mit überlegenem Einsatz von Ressourcen (Geld, Personal, diplomatisches Lobbying, Zusammenspiel mit Medien und Nichtregierungsorganisationen) stets irgendwie durchzusetzen. Umgekehrt befällt die strukturelle Minderheit im Norden oft der Argwohn, dass sie von der Mehrheit überrumpelt und vor vollendete Tatsachen gestellt werde. Es gibt kaum ein Reform-Thema, dass derartigem Misstrauen nicht schon als Projektionsfläche gedient hätte. Drittens: Die rechtliche Unverbindlichkeit der UNGV-Resolutionen enthält weder einen Anreiz zu ergebnisorientierten Beschlüssen, noch dazu, dem Multilateralen Vorrang vor den Partikularinteressen zu geben. Damit begibt sich die UNGV in einen Teufelskreis: Die Banalität und die Realitätsferne mancher Beschlüsse führen zu ihrer Folgenlosigkeit; die erwartete Folgenlosigkeit wiederum ermuntert zu Banalität und Realitätsferne. Dem könnte die UNGV entrinnen, wenn sie sich wieder stärker auf ihre Legislativbefugnis besinnt sowie darauf, durch ausgewogene, praktikable Vorschläge ihre konzeptionelle Führerschaft im Bereich der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik zurück zu gewinnen. Qualitätsdruck würde auch entstehen, wenn die UNGV sich stärker als bisher der Öffentlichkeit stellt. Viertens: Globalisierungsbedingt ändern sich Themen und Akteure der internationalen Politik, und mit ihnen muss die UNGV sich ändern. Das fällt einigen Staaten schwerer als anderen, vor allem denen, die noch im herkömmlichen, nationalstaatlichen Souveränitätsverständnis verhaftet sind. Hieraus folgt ein sehr beschränkter Handlungsspielraum für Maßnahmen zum „Umbau“ der UNGV. Was folgt hieraus? Zweierlei: Erstens: Hoffnungen auf rapide „Revitalisierung“ der UNGV sind unrealistisch. Obwohl das Bewusstsein durchaus vorhanden ist, dass die UNGV (insbesondere gegenüber dem Sicherheitsrat) an Macht und Prestige verliert, obwohl sich der Reformdruck, der unter dem Eindruck der Doppelkrise des Irak-Kriegs und des Oil-for-Food-Skandals entstanden ist, kaum noch steigern lässt, und obwohl die UNGV zuletzt eine Reihe sehr kompetenter, reformwilliger Präsidenten hatte, hat es für einen beherzten Durchbruch im Reformprozess nicht gereicht. Man wird sich also auf den mühsamen Weg weiterer schrittweiser Reformen einstellen müssen. Der Reformdruck könnte in dem Maße gesteigert werden, wie es gelingt, die kritische Öffentlichkeit am Geschehen teilhaben zu lassen. Zweitens: Diejenigen Staaten, die aus ihrem Souveränitätsverständnis heraus vor dem gebotenen „Umbau“ der UNGV zurückschrecken, sollten keiner Schock-
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therapie, sondern einem beständigen Lernprozess ausgesetzt werden. Um die Vorzüge partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen, Staaten und Zivilgesellschaft unter Beweis zu stellen, ist die UNGV ein wichtiger Schauplatz, an dem auch zukünftig mit interaktiven Debatten, Anhörungen und Fragestunden festgehalten werden sollte. Aber die UNGV ist hierfür nicht der einzige, vielleicht nicht einmal der wichtigste Schauplatz. Wichtiger dürften insoweit positive Erfahrungen mit öffentlich-privaten Partnerschaften im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sein. Ähnlich verhält es sich mit der Einführung stärkerer Elemente der Rechenschaft und der Transparenz in die UNGV: Auch hier wird Wandel in der UNGV dann möglich, wenn die Idee auf einem anderen Schauplatz, nämlich in der Wirklichkeit der jetzt noch skeptischen Staaten, ihren Nutzen erwiesen hat.
„Ineffizient und unverantwortlich?“: Die Doppelkrise des UN-Sekretariats – Diagnosen, Therapievorschläge, Genesungsaussichten Von Thorsten Benner
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A. Das Sekretariat nach dem „Annus horribilis“: durch Reform aus der Krise? „Annus horribilis“ – mit diesen Worten charakterisiert UN-Generalsekretär Kofi Annan Ende 2004 bei einer Pressekonferenz im New Yorker Hauptquartier das abgelaufene Jahr. In der Tat zeichnet sich das Jahr 2004 durch eine lange Liste von Vorwürfen gegen das UN-Sekretariat aus: Korruption und Missmanagement im Rahmen des Öl-für-Lebensmittel-Programms; sexueller Missbrauch durch UNBlauhelmsoldaten im Kongo; Fahrlässigkeit und ignorierte Sicherheitswarnungen im Vorfeld der tragischen Angriffe auf das UN-Hauptquartier im Irak; sexuelle Belästigung von Mitarbeiterinnen durch ein Mitglied der UN-Führungsspitze. Diese Vorwürfe stürzen das Sekretariat am Vorabend des Jubiläumsjahres 2005 in eine tiefe Krise. Annan selbst, bis vor kurzem als Friedensnobelpreisträger unumstrittener Superstar und Säulenheiliger der UN, gerät immer stärker unter Beschuss. Und dies nicht nur aus dem Kreise der üblichen Kritiker im US-Kongress, wo beispielsweise Senator Norm Coleman lautstark Annans Rücktritt einfordert. Zunehmend sind es namhafte Unterstützer der UN, die öffentlich und hinter verschlossenen Türen Annan und der UN-Spitze Versäumnisse vorwerfen: schlechte Personalentscheidungen und Personalführung, zu wenig Transparenz, schwaches Krisenmanagement, kein entschlossenes Vorgehen gegen die Altlasten (die „Traditionalisten“) im UN-Generalsekretariat.1 Es bestehe die Gefahr, so diese besorgten Annan-Unterstützer, dass die Errungenschaften der ersten vier Jahre von Annans Amtszeit zunichte gemacht würden. Ohne ein kraftvolles Um-
* Der Autor dankt Andrea Binder, Anna Herrhausen, Jan Ortgies und Philipp Rotmann für hilfreiche Kommentare und Verbesserungsvorschläge. 1 W. Hoge, Secret Meeting, Clear Mission: ‘Rescue’ UN, New York Times, 2.1.2005.
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steuern gehe der Rest seiner Amtszeit sang- und klanglos zu Ende, und Annan scheide Ende 2006 mit einer schwachen Bilanz aus dem Amt. Im UN-Jubiläumsjahr 2005 wächst der Reformdruck von Seiten der führenden Beitragszahler, allen voran der Vereinigten Staaten. Während die deutsche Regierung sich an der Seite von Brasilien, Indien und Japan mit dem von den Italienern angeführten „Coffee Club“ Scharmützel um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat liefert, nimmt die US-Regierung das UN-Sekretariat ins Visier. US-Außenministerin Rice fordert eine „lasting revolution of reform“2 der Vereinten Nationen ein. Unter dem Rubrum „Managementreform“ hat sie dabei vor allem das UN-Sekretariat im Auge, das es mit Blick auf dessen tiefe Krise transparenter, effizienter und verantwortlicher zu machen gelte. Annan reagiert Anfang 2005 und versucht zunächst, mit Personalentscheidungen die Initiative zurückzugewinnen. So verpflichtet er im Januar 2005 Mark Malloch Brown, Leiter des UN Development Programme (UNDP), als neuen Chef de Cabinet. Malloch Browns Rolle als Krisenmanager ist eine doppelte: Intern gilt es, Vertrauen bei den Mitarbeitern zu gewinnen und eine Dynamik für eine durchgreifende Reform des Sekretariats zu schaffen. Extern ist es Malloch Browns Aufgabe, das UN-Sekretariat gegenüber zentralen Mitgliedsstaaten und der breiten Öffentlichkeit besser zu vertreten als es sein farbloser Vorgänger Iqbal Riza vermochte hatte. Im Laufe des Reformjahres 2005 holt Annan mit Rajat Gupta, Ex-Chef und Senior Partner von McKinsey, einen der weltweit profiliertesten Unternehmensberater, an Bord. Als Sonderberater für die Managementreform ist es Guptas Aufgabe sicherzustellen, dass „the overall management reform programme is in line with best global practice“.3 Mit diesen Personalentscheidungen signalisiert Annan, dass er die Reform des UN-Sekretariats zum Schwerpunkt des Endes seiner Amtszeit machen will. Mit Hilfe einer Reformoffensive möchte er das UN-Sekretariat und auch das eigene Ansehen aus der tiefen Krise führen. Bereits im Vorfeld des UN-Weltgipfels im September 2005 wird klar, dass sich die Mitgliedsstaaten in New York nicht auf Maßnahmen für eine weitreichende Reform des UN-Sekretariats verständigen können. Im Abschlussdokument des Weltgipfels spielen sie den Ball zurück zum Generalsekretär. Annan soll einen Bericht zur Reform des Sekretariats vorlegen. Anfang März 2006 präsentiert Kofi Annan der Generalversammlung den Bericht „Investing in the United Nations: for
2 C. Rice, Remarks at the 60th United Nations General Assembly, New York, 17.9. 2005, http://www.state.gov/secretary/rm/2005/53374.htm. 3 Secretary-General takes further steps to reform UN management, UN News Centre 2. 11. 2005 http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=16444&Cr=UN&Cr1=reform.
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a stronger Organization worldwide“.4 Annan betont in diesem Bericht, dass in den bisherigen Reformschritten nach dem Ende des Kalten Krieges lediglich einige Symptome, aber nicht die Gründe für die Malaise des UN-Sekretariats angepackt wurden. Deshalb sei die Zeit reif für einen „radical overhaul of the United Nations Secretariat – its rules, structure, systems and culture“.5 Diese grundlegende Reform präsentiert Annan in sieben Kapiteln: Personal, Führung, Informations- und Kommunikationstechnologie, Dienstleistungen, Budget & Finanzen, Governance, Change Management. Hinzu kommen die bereits im Jahr 2005 vorgestellten Maßnahmen in den Bereichen Ethik, Rechenschaft und Transparenz. Annan argumentiert, dass „only by an effort this scale – a management reform as broad as it is deep – can we create a United Nations Secretariat fully equipped to implement all mandates, using its Member States’ resources wisely and accounting for them fully, and winning the trust of the broader world community.“6 Als Annan den Bericht am 7. März 2006 der Öffentlichkeit präsentierte, hat sich die Abwehrfront bereits formiert. Eine sehr effektive Koalition gegen die Reform des UN-Sekretariats meldet sich zu Wort. Die beiden zahlenmäßig größten und sich überlappenden Gruppen in der Generalversammlung – die 132 Mitglieder starke Gruppe der 77 (G77) und die 115 Mitglieder zählenden Blockfreien – sprechen sich gegen die vorgeschlagenen Reformen aus. Sie sehen in der Stärkung des Sekretariats eine Schwächung der Generalversammlung. Ein stärkerer Generalsekretär schwäche den Einfluss der Mehrheit der Mitgliedsstaaten weiter und leiste einer weiteren Dominanz der USA Vorschub. Die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter des UN-Sekretariats schließen sich ebenfalls der Koalition gegen die Reform an. Auf einer Sondersitzung der UN Staff Union wenden sich die anwesenden Mitglieder gegen die von Annan vorgeschlagenen Reformen. Die vorgeschlagene Flexibilisierung von Vertragsverhältnissen und Karrierewegen komme einer „fundamental attack against the international civil service“ gleich.7 Mit überwältigender Mehrheit spricht die Staff Union Annan und dessen Führungsteam das Misstrauen aus. Angesichts der kurzen verbleibenden Amtszeit Annans und der breiten Abwehrfront sind die Aussichten sehr gering, mit einer erfolgreichen Reform das UNSekretariat quasi im Handumdrehen aus der Krise zu befreien. Die Dynamik von Krise und Reform des Sekretariats wird also aller Voraussicht nach auch die
4 K. Annan, Investing in the United Nations: for a stronger organization worldwide, A/60/692, 7.3.2006. 5 K. Annan (Anm. 5), 1. 6 K. Annan (Anm. 5), 42. 7 E. M. Lederer, U. N. Union: “No Confidence” in Annan. Associated Press, 10.3.2006.
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Amtszeit des nächsten UN-Generalsekretärs begleiten – Grund genug für eine eingehendere Bestandsaufnahme, die dieser Artikel in vier Schritten leistet. – Erster Schritt Anamnese der Krise: Was sind die Vorgeschichte und Entwicklung der gegenwärtigen Krise des Generalsekretariats? – Zweiter Schritt Diagnose: Was sind die Gründe für die Krise? – Dritter Schritt Therapie: Wie sieht die Idealpolitik der Reform aus – und wie die Realpolitik? – Vierter Schritt Prognose: Was sind die Erfolgsperspektiven für die Reform des UN-Sekretariats?
B. Am East River nichts Neues? Anamnese der Doppelkrise des UN-Sekretariats Was ist das Neue an der Krise des UN-Sekretariats? Für viele befindet sich das UN-Sekretariat quasi seit Gründung der UN in einer Dauerkrise. Diese liegt darin begründet, dass die Mitgliedsstaaten hohe und vielfach widersprüchliche Erwartungen an die Arbeit des Sekretariats haben, es aber gleichzeitig nicht mit den nötigen Ressourcen ausstatten. Die Aufregung um das Sekretariat in den letzten beiden Jahren sei vor allem der US-amerikanischen Politik geschuldet; eine direkte Folge der Verärgerung über die Widerspenstigkeit von Kofi Annan, Hans Blix und Mohamed El-Baradei gekoppelt mit der in Teilen der politischen Klasse der Vereinigten Staaten üblicherweise zelebrierten Verachtung der UN. Es handele sich um keine Krise des UN-Sekretariats, sondern um eine rein innenpolitisch motivierte Treibjagd der Amerikaner gegen missliebige Elemente in der verhassten UN-Bürokratie. Grundübel sei also eine aus dem Ruder gelaufene US-amerikanische UN-Politik, nicht das UN-Sekretariat, welches unter schwierigen Bedingungen gute Arbeit leiste. Dies ist eine Position, wie sie gerade in betont UNfreundlichen Staaten wie Deutschland nicht selten zu hören ist. Eine bequeme Position, die jedoch zu kurz greift und das Besondere der gegenwärtigen Krise verkennt. Zum einen ist die Kritik am UN-Sekretariat nicht auf die USA beschränkt. Gerade im Zusammenhang mit den Untersuchungen zum Öl-fürLebensmittel-Progamm geriet das Sekretariat auch in der Öffentlichkeit außerhalb der USA unter Beschuss, eine Tatsache, welche die UN-Spitze nicht kalt lassen konnte. Mark Malloch Brown etwa betonte nach seiner Ernennung zum Chef de Cabinet Annans: „I don’t think one should shrug off the problems we face […] as
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things which are going to remain uniquely American; they’re not. The criticism of the UN has become much more widespread in recent months.“8 Zum anderen lässt sich die Krise der Jahre 2004 und 2005 nicht (wie in der Vergangenheit) ausschließlich als eine Krise der Effektivität beschreiben. Es sind die Zweifel an der Integrität und Glaubwürdigkeit des Sekretariats, die in Kombination mit den üblichen Vorwürfen von Ineffizienz die besondere Dimension der aktuellen Krise ausmachen. In diesem Sinne ist „accountability“ das Signum der gegenwärtigen Krise des Sekretariats. „Accountability“ spielte bis 2003 nur eine latente Rolle in der Debatte um das UN-Sekretariat, wurde aber binnen kurzer Zeit zum Schlüsselbegriff. Intern kommt die Krise der Verantwortlichkeit in der vom Beratungsunternehmen Deloitte erstellten Organizational Integrity Survey 2004 zum Ausdruck. Die hier befragten Mitarbeiter des Sekretariats brachten zum Ausdruck, dass sie den Mangel an Verantwortlichkeit bei der Führungsspitze und Vorgesetzten für ein grundlegendes Problem halten.9 Die Garde der Reformer an der Spitze des Sekretariats hat dies erkannt. Mark Malloch Brown etwa, nach gut einem Jahr als Chef de Cabinet im April 2006 zum neuen UN Deputy SecretaryGeneral an die zweite Stelle der UN-Hierarchie befördert, argumentiert: „There is a genuine concern in the building that senior management is not held accountable for their decisions, for bad judgments, for poor performance, and that must change.“10
Extern wurden auch über den Kreis der professionellen UN-Kritiker hinaus Zweifel an der Integrität des Sekretariats laut. Diese Doppelkrise der Effektivität und Verantwortlichkeit ist aus zwei Gründen fatal für die Vereinten Nationen: Der erste Grund ist die zunehmende Bedeutung des Sekretariats. Während des Kalten Krieges leistete das Sekretariat vor allen Dingen Unterstützung für Konferenzen und Diplomatie; die Durchführung von Friedensmissionen und humanitären Hilfsmaßnahmen spielten eine untergeordnete Rolle. In den letzten 15 Jahren hat sich dieses Bild gewandelt. Heute verantwortet das Sekretariat mit 8.900 Mitarbeitern die grundlegende Infrastruktur für eine Vielzahl von Aufgaben, die über Unterstützungsleistungen der UN-Konferenzdiplomatie weit hinausgehen. Die Ausweitung der vom UN-Sekretariat verantworteten Aktivitäten schreitet parallel zur Krise fort, etwa im Bereich der Friedensicherung, wo seit Juli 2003 zahlreiche neue Missionen sowie die Ausweitung bestehender Missionen beschlossen wurden. Zudem spielt das Sekretariat eine 8 Interview mit Mark Malloch Brown, Secretariat News 1 (2005), abrufbar unter: http://www.lowlevelpanel.org/?p=35. 9 Deloitte Consulting LLP, United Nations Organizational Integrity Survey 2004. Final Report. New York. 10 Interview mit Mark Malloch Brown (Anm. 9).
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wichtige Rolle bei den Bemühungen um die Umsetzung der Millennium-Entwicklungsziele, der Koordination humanitärer Hilfe sowie ambitionierter neuer Partnerschaften mit Unternehmen und der Zivilgesellschaft. Zweiter Grund ist der Stellenwert von Glaubwürdigkeit als eine der wichtigsten, wenn nicht der wichtigsten Ressource des Generalsekretariats und der Vereinten Nationen im Allgemeinen. Der Einfluss des UN-Sekretariats liegt sicherlich nicht in den Truppen begründet, über die der UN-Generalsekretär gebietet. Es ist auch nur zu einem Teil die durch die Generalversammlung und den Sicherheitsrat delegierte Autorität, welche den Einfluss des Sekretariats und seiner Führungsspitze ausmacht. Zentral für die Einflussmöglichkeiten des Sekretariats ist die ihm traditionell zugeschriebene moralische Autorität: das UN-Sekretariat verkörpert und verteidigt die in der Charta festgeschriebenen Werte der Organisation. Dass es dem Sekretariat dabei manchmal an Durchschlagskraft und Ressourcen fehlte, unterhöhlte die moralische Autorität des Sekretariats nicht – im Gegenteil: das Sekretariat konnte sich als von den Mitgliedsstaaten systematisch zu schlecht ausgestattete, aber unter schwierigen Bedingungen gute und ethisch einwandfreie Arbeit leistende Organisation darstellen. Das wertebasierte Alleinstellungsmerkmal („unique value proposition“ im Beraterjargon) macht auch für externe Partner die Attraktivität des UN-Sekretariats aus, wie das Beispiel des Global Compact unterstreicht. Eine zentrale Motivation für Unternehmen, sich dem UN Global Compact anzuschließen, ist die „value-based mission“ und „convening power“ der UN, die der Generalsekretär noch einmal in seinem jüngsten Bericht herausstellt.11 Nachhaltige Zweifel an der ethischen Integrität der Arbeit des UN-Sekretariats, wie sie etwa im Rahmen der Untersuchungen zum Öl-für-Lebensmittel-Programm, der Aufdeckung sexueller Übergriffe durch Blauhelm-Truppen oder der systematischen Unregelmäßigkeiten im Beschaffungsprozess bei Peacekeeping-Missionen aufgetaucht sind, unterhöhlen die moralische Autorität, die wichtigste Ressource des Sekretariats. Die 2004/2005 aufgetretene und noch nicht ausgestandene Doppelkrise aus Effektivität und Verantwortlichkeit ist für das Sekretariat umso gefährlicher in einer Zeit, in der es einerseits von den Mitgliedsstaaten immer weitreichendere Aufgaben übertragen bekommt und versucht, durch eine intensivere Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft und Unternehmen die Schlagkraft und Reichweite der UN zu erhöhen, es andererseits Tendenzen gibt, eine als nicht ausreichend handlungsfähig eingeschätzte UN durch ad hoc-Arrangements zu umgehen.
11
K. Annan, Enhanced Cooperation between the United Nations and all relevant partners, in particular the private sector. Report of the Secretary-General, A/60/214, 10.8.2005, S. 20. Vgl. hierzu auch J. M. Witte/W. H. Reinicke, Business UN Usual. Facilitating United Nations Reform Through Partnerships, New York 2005.
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C. Ursachen für die Krise des Sekretariats Kommentatoren streben danach, eine Krise immer auf eine klare Ursache zurückzuführen und zu personalisieren – deshalb auch die Tendenz, die Ursache entweder allein beim UN-Generalsekretär oder in der US-amerikanischen UNPolitik zu suchen. Wie so oft ist die Situation komplizierter. Weder haben wir es mit „Kofigate“ zu tun, wie es einige der neurotischeren UN-Jäger in den USA behaupten,12 noch handelt es sich um eine allein von der US-Politik fabrizierte Krise. Eine tragfähige Erklärung der Doppelkrise muss komplexer argumentieren. Es sind drei komplementäre Elemente, welche zu einem differenzierten Bild beitragen: die Krise als nachholende Entwicklung, strukturelle Widersprüche im Verhältnis zwischen Mitgliedsstaaten und Sekretariat sowie Unzulänglichkeiten und Fehlleistungen innerhalb der Sekretariats-Bürokratie.
I. Die Krise als nachholende Entwicklung In der Wissenschaft spielte in den vergangenen Jahrzehnten ein nüchterner Blick auf die UN und das Sekretariat als Bürokratie nicht oder nur am Rande eine Rolle. Die Forschung hatte die UN je nach theoretischer Präferenz als Spielball von Großmachtinteressen, Transaktionskostenminimierer oder Verhandlungsforum, aber nicht als bürokratische Organisation im Visier.13 In der Öffentlichkeit stand und steht die Arbeit des UN-Sekretariats gerade in UN-freundlichen Staaten wie Deutschland unter einem generellen Heiligenscheinverdacht. Während sich etwa Weltbank und Internationaler Währungsfonds heftigen Attacken aus Medien und sozialen Bewegungen gegenüber sahen, schien das UN-Sekretariat als Hort des Gutmenschentums frei von jeglicher Kritik und Beobachtung. Die kritisch die Arbeit der Bretton-Woods-Organisationen unter die Lupe nehmenden NGOs etwa interessierten sich nicht für einen Blick hinter die Kulissen des UN-Sekretariats, sei es, weil sie die Rolle der UN in zentralen entwicklungspolitischen Fragen als peripher einschätzten oder weil sie die Bürokratie des Sekretariats auf ihrer Seite wähnten. Die Presse zeigte sich ebenfalls desinteressiert an einer kritischen Analyse der Arbeit des Sekretariats. 12 Z.B. P. A. Sanjuan, The UN Gang. A Memoir of Corruption, Espionage, AntiSemitism, and Islamic Extremism at the UN Secretariat, New York 2005. 13 Vgl. M. Barnett/M. Finnemore, Rules for the World. International Organizations in Global Politics, Ithaca 2004.
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Dies hat sich in den letzten beiden Jahren ein Stück weit geändert. In Folge einer nachholenden Entwicklung wurden die Vereinten Nationen eingeholt von der Transparenz- und Rechenschaftsrevolution, die bereits viele andere internationale Organisationen erreicht und zum Ende des „closed shop“-Modells des Multilateralismus geführt hatte.14 Ausgangspunkt waren die Anfeindungen UN-kritischer Think Tanks und Presseorgane (wie dem Wall Street Journal), welche das Sekretariat insbesondere nach den erhitzten Debatten um den Irak-Krieg vermehrt unter Beschuss nahmen. Diese Kritik verfing, da es gehäuft Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten des Sekretariats gab, so dass auch neutrale oder UN-freundliche Zeitungen wie die New York Times und Financial Times über Missstände im Sekretariat berichteten und Abhilfe einforderten. Das UN-Sekretariat war auf diese nachholende Entwicklung schlecht vorbereitet, im Unterschied zu Weltbank und IWF, die sich auf die neuen Anforderungen in puncto Transparenz und Rechenschaft eingestellt haben und über eine gut geölte Maschinerie aus Krisenkommunikation, Dialogen mit Kritikern, Internetforen und anderen PR-Instrumenten verfügen. Nicht so das UN-Sekretariat, das von der harschen Kritik kalt erwischt wurde. John Ruggie etwa, ehemaliger Chefstratege Annans, betont, dass er keine andere Organisation kenne, deren Kommunikationsabteilung so unfähig auf eine Krise reagiert habe wie das UN-Sekretariat.15 Einige Top-Beamte (wie etwa Annans ehemaliger Chef de Cabinet Iqbal Riza) missachteten das grundlegende Gesetz politischer Krisen und Skandale, dass der Eindruck der Vertuschung oft schwerwiegender ist als die ursprünglichen Vorwürfe, etwa indem sie im Rahmen der Untersuchung des Öl-für-LebensmittelProgramms Dokumente vernichteten. Die unzureichende Öffentlichkeitsarbeit des Sekretariats in Reaktion auf die Vorwürfe hat sicherlich zur Verschärfung der Krise beigetragen. Gleichzeitig ist die Sichtweise, dass es sich ausschließlich um ein Kommunikationsproblem des Sekretariats handele, falsch. Dies betont auch Ruggie: „The recognition set in that you actually have more than a communications problem. You can’t resolve structural problems through better communications. You have to restructure.“16 Zu diesen strukturellen Problemen gehören einerseits Widersprüche im Verhältnis Mitgliedsstaaten – Sekretariat, die einer „organisierten Heuchelei“ gleichen, andererseits von den Mitgliedsstaaten unabhängige Probleme in der Bürokratie des Sekretariats.
14
R. W. Grant/R. O. Keohane, Accountability and Abuses of Power in World Politics, American Political Science Review 99 (2005), 1-15. 15 Zitiert in W. Hoge, Once Lionized, Annan Teeters on Pedestal, New York Times, 4.12.2004. 16 Zitiert nach C. Lynch, Repairing Ties with the U. S. is Key, U. N. Officials Say, Washington Post, 26.2.2005.
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II. „Organisierte Heuchelei“: Widersprüche im Verhältnis Mitgliedsstaaten – Sekretariat Die Staats- und Regierungschefs der UN-Mitgliedsstaaten beschwören in ihren Sonntagsreden bei den feierlichen Almauftrieben des Multilateralismus (wie jüngst dem UN-Weltgipfel 2005) gebetsmühlenhaft ihre bedingungslose Unterstützung der Vereinten Nationen. Sie sprechen von den gemeinsamen Werten der „internationalen Gemeinschaft“ und stellen eine großzügige und selbstlose Unterstützung der UN und konkrete Handlungen zur Stärkung der Organisation in Aussicht. Wenn sich Schall und Rauch verzogen haben, sieht die Realität freilich anders aus. Die konkreten Handlungen haben wenig mit den wohlklingenden Beteuerungen zu tun. Diese „organisierte Heuchelei“17 zeigt sich deutlich in vier Feldern des prekären Verhältnisses Mitgliedsstaaten – Sekretariat.
1. Ausweitung der Aufgaben bei inadäquater Ressourcenausstattung Eine Ausweitung der dem Sekretariat übertragenen Aufgaben steht einer stagnierenden Ressourcenausstattung gegenüber. Auch außerhalb des PeacekeepingBereichs, dessen separat veranlagtes Budget sich stetig erhöht hat, hat das Sekretariat wichtige neue Aufgaben übernommen. Das Kernbudget des Sekretariats ist jedoch über einen langen Zeitraum hinweg nicht über einen Inflationsausgleich angehoben worden. Hinzu kommt, dass die dem Sekretariat übertragenen Aufgaben generell kein „Ablaufdatum“ haben und sich über die Jahre auf 36.000 einzelne Posten erhöht haben. So werden alte, oft obsolete Mandate beibehalten, was die Kapazitäten der Organisation überdehnt und zu Frustration bei den Mitarbeitern führt. Schlagen aber Generalsekretär oder Mitgliedsstaaten die Streichung von Mandaten vor, sich oft einzelne Mitgliedsstaaten, die obsolete, aber für ihr Land als wichtig angenommene Mandate verteidigen. Gegen die generelle Einführung von festgelegten Ablaufdaten für Mandate („sunset clauses“) wehrt sich zum Beispiel die Mehrzahl der G-77 und blockfreien Staaten. Die G-77 steht dem gegenwärtig vom Sekretariat unter der Ägide von Assistant Secretary-General Robert Orr durchgeführten Mandate Review skeptisch bis ablehnend gegenüber.
17 S. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, Princeton 1999; N. Brunsson, The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions and Actions in Organizations, New York 1989.
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2. Nationales Mikromanagement und Kirchturmdenken Verbreitet ist nationales Kirchturmdenken vor allem bei der Personalpolitik und der Budgetplanung. Ein wichtiger Einflusskanal für nationales Mikromanagement ist das „Fifth Committee“ der Generalversammlung, das den Budgetprozess kontrolliert. Alle 191 Mitgliedsstaaten haben hier einen Sitz, es herrscht das Konsensprinzip. Mit Zähigkeit werden auch noch so kleine Punkte durchgeboxt und dem Sekretariat Vorschriften auf Mikroebene gemacht. Änderungsinitiativen aus dem Sekretariat werden oft ausgebremst. Ein jüngeres Beispiel ist ein während der 59. Periode der Generalversammlung eingebrachter Vorschlag des Sekretariats, die Ausschreibefristen für neu zu besetzende Stellen von 60 auf 45 Tage zu verkürzen. Nach einer längeren Debatte entschied das Fifth Committee, „to revert to this issue in the context of a comprehensive study addressing all factors contributing to the process at its 61st session“, also geschlagene zwei Jahre später.18
3. Widersprüchliche Anforderungen an den Generalsekretär Die UN-Charta bezeichnet den UN-Generalsekretär als „Chief Administrative Officer“. Die Volcker-Kommission stellt in ihrem Bericht treffend fest: „Whatever the founders had in mind, the Secretary-General – any Secretary-General – has not been chosen for his managerial or administrative skills, nor has he been provided with a structure and instruments conducive to strong executive oversight and control. That is most clearly evident in the area of personnel management, where professional competence must compete with, and often take second place to, the narrow political interests of member states.“19 Zudem muss die Aufgabe als „Chief Administrative Officer“ mit zwei weiteren zeitintensiven und anspruchsvollen Rollen des UN-Generalsekretärs konkurrieren. Zum einen der des Welt-Diplomaten, des Vermittlers zwischen Staaten und Konfliktgruppen, dessen Dienste in einer Vielzahl von Fällen (oft unterhalb des Radars der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit) in Anspruch genommen werden. Zum anderen der gerade von Annan gewählten und stilisierten Rolle als „weltlicher Papst“, der die hehren Ziele
18 T. Johnston/M. Turner, Under Fire: the United Nations struggles to meet the challenges of a changed world, Financial Times, 6.6.2005. 19 Independent Inquiry Committee into the United Nations Oil-for-Food-Programme, Management of the Oil-For-Food Programme, Vol. I, New York 2005, 1.
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der UN-Charta verkörpert und Mitgliedsstaaten und Weltöffentlichkeit auf deren Umsetzung drängt.20 Vom Zeitbudget her sind die Rollen als Diplomat und Weltgewissen nicht mit der als CEO einer zunehmend komplexen Organisation vereinbar; auch ist es die natürliche Neigung eines jeden UN-Generalsekretärs, der strategischen und operativen Führung des UN-Sekretariats eine geringere Priorität zukommen zu lassen. Die Mehrheit der Mitgliedsstaaten wiederum hat bislang wenig darauf gedrängt, dass die UN-Führungsspitze den strategischen Managementaufgaben Priorität einräumt, sondern sich auf ihre eigenen Interventionen, etwa im Budgetprozess, als Steuerungsinstrument verlassen.
4. Ineffiziente Steuerungs- und Kontrollmechanismen und Verantwortlichkeits-Pingpong Im Verhältnis Mitgliedsstaaten – Sekretariat tritt ein punktuelles Mikromanagement allzu oft an die Stelle von Steuerungs- und Kontrollmechanismen, wie sie den dem Sekretariat übertragenen komplexen Aufgaben angemessen wären. Das Öl-für-Lebensmittel-Programm ist hierfür das augenfälligste Beispiel. Die untereinander zerstrittenen Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates erteilten dem Sekretariat kein klares Mandat für die Steuerung des Programms, des mit Abstand größten dieser Art, welches das Sekretariat je durchgeführt hat. Zudem war das UNSekretariat nicht mit den nötigen Ressourcen ausgestattet: Bei der Überprüfung der im Rahmen des Programms abgeschlossenen Verträge konnten sich die USA allein der Dienste von 60 dafür abgestellten Mitarbeitern bedienen – mehr als das Doppelte der Gesamtzahl der Beschäftigten im Öl-für-Lebensmittel-Büro des Sekretariats. Die USA und Großbritannien stoppten bis zu 5.000 der insgesamt 36.000 Verträge aufgrund möglicher „dual use“-Probleme der gelieferten Güter. Kein einziger Vertrag wurde wegen Unregelmäßigkeiten bei der Preisgestaltung aufgehalten.21 Wie die Volcker-Kommission herausstellt, versäumte es der Sicherheitsrat, die „practical parameters, policies, and administrative responsibilities“ des Programms klar zu definieren.22 Stattdessen überließ der Sicherheitsrat den Irakern einen 20
Siehe auch S. Chesterman, Duty Pulls Annan in Two Directions, International Herald Tribune, 9.9.2005. 21 J. G. Ruggie, What about the log in your eye, Congress?, International Herald Tribune, 8.12.2004. 22 Independent Inquiry Committee into the United Nations Oil-for-Food-Programme (Anm. 20), 3.
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großen Spielraum bei der Ausgestaltung des Programms. Weder der Sicherheitsrat noch die Führung des Sekretariats hatten eindeutig die Kontrolle über das Programm, „[which] turned out to be a recipe for the dilution of Secretariat authority and evasion of personal responsibility at all levels“.23 Unklare Verantwortlichkeitsstrukturen zwischen Mitgliedsstaaten und Sekretariat führen bei Fehlleistungen regelmäßig zum Ritual der „politics of blame avoidance“24: Sekretariat und Mitgliedsstaaten machen sich wechselseitig für Fehler verantwortlich, ohne die eigene Verantwortung einzugestehen. Umgekehrt ist kein Vorgang aktenkundig, bei dem Mitgliedsstaaten und Sekretariat im Falle eines Erfolges einander die Lorbeeren zugewiesen hätten; diese werden bei Erfolgen selbstverständlich monopolisiert. Die „organisierte Heuchelei“ im Verhältnis Mitgliedsstaaten – Sekretariat schafft hervorragende Bedingungen für Strategien der wechselseitigen Schuldzuweisungen und hat mit ihren negativen Auswirkungen auf Effizienz und Verantwortlichkeit zur Krise des Sekretariats beigetragen.
III. Die interne Dimension der Krise Falsch wäre es jedoch, die Krise des Sekretariats allein auf die „Fehlsteuerung“ durch Generalversammlung und Sicherheitsrat zurückzuführen. Viele Unzulänglichkeiten liegen in der Verantwortung des Sekretariats und wären somit (den nötigen Willen der relevanten Akteure vorausgesetzt) ohne Zustimmung und Handeln der Mitgliedsstaaten ausräumbar. Dies bringt auch eine reformorientierte Gruppe von Sekretariats-Mitarbeitern, die als „Low Level Panel“ einen Gegenpunkt zu den „High Level Panels“ der elder statesmen setzen will, zum Ausdruck: „Wasted resources, frustrated staff and partially implemented policies translate into a less effective organisation. Member State representatives need not intervene to solve these problems, and the solutions are rarely complex.“25 Fünf Bereiche stechen heraus: mangelndes Engagement und strategische Fehlleistungen der Führungsspitze, unzureichende interne Management- und Kontrollsysteme, unzureichende Transparenz- und Verantwortlichkeitsmechanismen, eine fehlgeleitete Personalpolitik sowie eine Organisationskultur, die den Idealen des „international public service“ nicht gerecht wird. 23
Independent Inquiry Committee into the United Nations Oil-for-Food-Programme (Anm. 20), 3. 24 Vgl. R. K. Weaver, The Politics of Blame Avoidance, Journal of Public Policy 6 (1986), 371-398. 25 Low Level Panel, Practical Steps to a More Effective and Efficient United Nations, New York 2006, 6.
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1. Mangelndes Engagement und strategische Fehlleistungen der Führungsspitze Nach einigen Initiativen zur Modernisierung des Sekretariats zu Beginn seiner Amtszeit ließ das Interesse Annans am Umbau der eigenen Bürokratie über die Jahre merklich nach. Gerade während der Annan-Jubelzeit nach der Verleihung des Nobelpreises war vom Umbau des Sekretariats keine Rede mehr – andere Fragen schienen dringlicher oder geschichtsträchtiger für einen nobelgekrönten Generalsekretär. Annans Stellvertreterin Louise Fréchette hatte weder das Mandat noch den Durchsetzungswillen und die Durchsetzungskraft, um energisch eine Modernisierung voranzutreiben. Die von Annan eingeführten Managementgruppen zur Bündelung der Koordination in verschiedenen Politikbereichen (z.B. Sicherheit) scheiterten daran, dass die machtbewussten Garden der UndersecretaryGenerals sich keiner Steuerung durch eine „peer group“ unterordnen wollten; die dysfunktionalen Rivalitäten zwischen dem Department of Political Affairs und dem Department of Peacekeeping Operations etwa gingen auch im Rahmen der Managementgruppe „peace and security“ rege weiter. Ein strategischer Fehler Annans war es zudem, den Umbau des Sekretariats in seiner Reformoffensive zum 60. Bestehen der UN zunächst hinten anzustellen und stattdessen die Reform und Ausweitung des Sicherheitsrates als vordringliches Ziel zu präsentieren.26 Die Reformoffensive begann im Herbst 2003 mit einer Rede vor der UN-Generalversammlung, bei der er die Frage der Zusammensetzung des Sicherheitsrates als dringende Aufgabe bezeichnete. Die Ergebnisse sind bekannt: Ein Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit um die Reform der UN galt in den folgenden Jahren den bitteren Kämpfen zwischen den G4-Aspiranten und ihren Gegnern (allen voran China, Pakistan und Italien). Der Impuls zum umfassenden Bericht zur Reform des Sekretariats kam 2005 erst in Reaktion auf die tiefe Krise des Sekretariats, nicht vorausschauend als integraler Bestandteil des 2003 von Annan gestarteten Aufrufs zu einer Reformoffensive. Das relative Desinteresse an internen Managementfragen zieht sich auch durch das mittlere Management des Sekretariats, wie eine Gruppe jüngerer Mitarbeiter zu Protokoll gibt: „The Organisation’s culture does not reward management ability, nor emphasise management responsibilities enough. […] Many of us refer to vital management tasks – budget planning, identifying resource needs, motivating junior staff, setting expectations, giving feedback – as ,administrative‘ work, as opposed to our ,substantive‘ work. Few staff spend time trying to improve their management skills. Too many staff with management roles over-emphasise their 26 Vgl. M. Berdal, The UN’s Unnecessary Crisis, Survival 47 (2005), 7-26; E. C. Luck, How Not to Reform the United Nations, Global Governance 11 (2005), 407-414.
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external work and neglect their internal management duties. One middle manager responsible for managing a number of junior staff told us: ,I am a diplomat, not an administrator‘.“27
2. Unzureichende interne Managementsysteme, Aufsichts- und Kontrollmechanismen Untersuchungen des Öl-für-Lebensmittel-Programms und des Beschaffungswesens im Peacekeeping-Bereich28 förderten die umfangreichen Unzulänglichkeiten interner Managementsysteme sowie Aufsichts- und Kontrollmechanismen zu Tage. Das 1995 geschaffene Office of Internal Oversight Services (OIOS) konnte seiner Bestimmung nur unzureichend nachkommen. Erst Anfang 2006 wurde eine umfassende Evaluierung der internen Kontroll- und Überwachungssysteme in Auftrag gegeben, welche von PriceWaterhouseCoopers und einem Gremium von acht Experten durchgeführt wird. In den Bereich unzureichender Managementsysteme fällt auch das Fehlen eines modernen Informations- und Wissensmanagementsystems. Das Low Level Panel stellt hierzu fest: „We find it hard to identify and contact potentially helpful colleagues because the Secretariat lacks an upto-date electronic directory of staff and their roles.“29 In einer stark wissensbasierten Organisation wie dem Sekretariat ist dies eine signifikante und teure Fehlstelle. Dass die für die IT verantwortlichen Personen im Sekretariat weit unten in der Hierarchie angesiedelt waren, hinderte sie, sich in der Organisation Gehör zu verschaffen. Erst Ende 2005 empfahl das Budgetkomitee der Generalversammlung die Schaffung des Postens eines „Chief Technology Officer“ im Sekretariat.
3.Unzureichende Transparenz- und Verantwortlichkeitsmechanismen Die Transparenz- und Verantwortlichkeitsregelungen des Sekretariats entsprachen nicht den Standards einer modernen Organisation. Ein Beispiel ist die (im Herbst 2005 geänderte) Regelung, nach der UN-Beamte Geschenke bis zu einem Wert von US$10,000 nicht deklarieren mussten. Weiteres Merkmal ist die fehlende Regelung für den Schutz für bei Aussagen gegen Vorgesetzte und Kollegen („whistleblower protection policy“). Einer Reihe von Mitarbeitern des Sekretariats fehlte das Bewusstsein dafür, bei ihrer Arbeit stets den höchstmöglichen ethischen 27 28 29
Low Level Panel (Anm. 26), 8. C. Lynch, U. N. Finds Waste in Peacekeeping Work, Washington Post, 24.1.2006. Low Level Panel (Anm. 26), 5.
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Standards zu folgen. Dies ist bei einer großen Organisation nicht ungewöhnlich; allerdings ist es bei einer stark reputationsbasierten Organisation wie dem UNSekretariat fatal.
4. Personalplanung und Personalentwicklung Fehlende Meritokratie bei der Rekrutierung und Beförderung gerade mit Positionen im mittleren und gehobenen Management wird von vielen Beobachtern des Sekretariats hervorgehoben. Dies ist zu einem Gutteil dem bereits diskutierten Mikromanagement durch einzelne Mitgliedsstaaten geschuldet. Manche Beobachter kritisieren jedoch einen „vorauseilenden Gehorsam“, mit der bei der Besetzung von Stellen im Sekretariat Mikrointeressen von einzelnen Mitgliedsstaaten antizipiert werden.30
5. Organisationskultur Der Mangel an Meritokratie bei Personalplanung und Personalentwicklung hat deutliche Auswirkungen auf die Organisationskultur. Desillusionierung und Zynismus sind oft Resultate einer verfehlten Personalpolitik und den Altlasten der Zeit des Kalten Krieges. Mit den Idealen eines modernen „International Civil Service“ hat die Realität in vielen Teilen des UN-Sekretariats wenig gemein.31 Gerade junge Mitarbeiter des Sekretariats (oft solche mit ausgiebiger Felderfahrung) kritisieren eine rigide und innovationsfeindliche Hierarchie: „We need to aim for a working culture that is more collaborative and open, and much more innovative“.32 Mit Blick auf das Verständnis von Verantwortlichkeit und Transparenz kann man zwischen den „Traditionalisten“ und „Modernisten“ unterscheiden: „Whereas traditionalists treat opaqueness as a strategic asset, for modernists transparency is the key to institutional success.“33 Transparenzorientierte Vertreter wie John Ruggie betonen, dass die „Traditionalisten“ zu lange die Oberhand behielten – zum Schaden der Gesamtorganisation – und dass sich erst im Rahmen der Krise die Gelegenheit für eine Veränderung bietet. 30
Vgl. als frühe Kritik T. G. Weiss, International Bureaucracy: The Myth and Reality of International Civil Service, International Affairs 58 (1982), 287-306. 31 Vgl. als Darstellung der Ideale und Geschichte D. Hammarskjöld, The International Civil Servant in Law and in Fact, Oxford 1961. 32 Low Level Panel (Anm. 26), 6. 33 J. G. Ruggie, Modernists Must Take over the United Nations, Financial Times, 24.1.2005.
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D. Wege aus der Krise: Idealpolitik vs. Realpolitik der Reform des UN-Sekretariats Der Schritt von der Diagnose der Krise des Sekretariats hin zu Therapievorschlägen erfordert keine intellektuellen Höchstleistungen. Prinzipien und Einzelmaßnahmen einer „Idealpolitik der Reform“ liegen auf der Hand; der Generalsekretär und reformorientierte UN-Mitgliedsstaaten haben sie in den letzten Jahren artikuliert. Die „Realpolitik“ der Reform sieht (wie üblich) anders aus. Hier mischen sich erste Erfolge mit handwerklichen Fehlleistungen und einer von einigen Mitgliedsstaaten sehr erfolgreich organisierten Reformblockade.
I. Idealpolitik der Reform 1. Grundprinzipien Kofi Annan hat die Grundsätze für eine Reform 2005 treffend skizziert: „But if reform is to be truly successful, the secretary-general, as chief administrative officer of the organization, must be empowered to manage it with autonomy and flexibility, so that he or she can drive through the necessary changes. The secretary-general must be able to align the organization’s work program behind the kind of agenda I have outlined, once it is endorsed by member states, and not be hamstrung by old mandates and a fragmented decision-making structure that jeopardize setting a central strategic direction. When member states grant the post this autonomy and flexibility, they will have both the right and the responsibility to demand even greater transparency and accountability.“34 Die Volcker-Kommission forderte Ähnliches in ihrem Abschlussbericht: „The Organization requires stronger executive leadership, thoroughgoing administrative reform, and more reliable controls and auditing“.35 Dies übersetzt sich in eine Vielzahl von einzelnen Maßnahmen, welche das Verhältnis zwischen den Mitgliedsstaaten und dem Sekretariat, das Management des Sekretariats sowie die Personalpolitik betreffen. Aus Gründen der Kürze der Darstellung seien hier nur einige Grundlinien diskutiert.
34
K. Annan, „In Larger Freedom“, Decision Time at the UN, Foreign Affairs 84 (2005). Independent Inquiry Committee into the United Nations Oil-For-Food Programme (Anm. 20), 1. 35
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2. Verhältnis Mitgliedsstaaten – Sekretariat Grundlage für eine Neubestimmung des Verhältnisses Mitgliedsstaaten – Sekretariat muss ein „neuer grand bargain“ sein, wie ihn Annan skizziert hat: die Mitgliedsstaaten geben dem Sekretariat mehr Entscheidungsfreiheit, als Gegenleistung erhalten sie ein Mehr an Effektivität und Rechenschaft. Ein verbessertes Reporting umfasst u.a. die Einführung eines aussagekräftigen Jahresberichts sowie die Konsolidierung der gegenwärtigen Flut von Einzelberichten (etwa der gegenwärtig 30 Berichte zu Management- und Budgetfragen).
3. Management Maßnahmen zur Verbesserung des Managements umfassen u. a. die Ernennung eines Chief Operating Officer (COO), der als Stellvertreter des Generalsekretärs für das Management des Sekretariats verantwortlich ist. Weitere Maßnahmen sind ein besseres Auditing und interne Kontrolle und die Verbesserung der Koordination und Abstimmung mit anderen UN-Organisationen.
4. Personalpolitik und Organisationskultur Der stellvertretende UN-Generalsekretär Mark Malloch Brown betont die Notwendigkeit „to re-create the internal, meritocratic, non-politicized career ladder so that someone of talent and energy, regardless of nationality or gender, can join close to the bottom rung of the ladder and believe that they can be Administrator of UNDP or Secretary-General of the United Nations as the reward for a career of hard work and success.“36 Eine stärkere Orientierung der UN-Personalpolitik an meritokratischen Prinzipien setzt einerseits weniger Einflussnahme durch Mitgliedsstaaten auf Personalentscheidungen voraus, andererseits eine neue Personalund Managementkultur. Dafür gibt es in den nächsten fünf Jahren Gelegenheit, da ein Gutteil der Beschäftigten des UN-Sekretariats das Rentenalter erreichen wird und es so zu einem Generationswechsel kommen muss.37 Zu besserem Personalmanagement gehören z.B. auch die Möglichkeiten zum Personalaustausch mit NGOs oder Unternehmen, damit Mitarbeiter des Sekretariats Erfahrungen in anderen Bereichen sammeln können. Wichtig ist zudem die Einrichtung von
36 37
Interview mit M. Malloch Brown (Anm. 9). Vgl. Low Level Panel (Anm. 26), 9.
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Förderprogrammen und Karrierewegen für die Sekretariatsmitarbeiter, um sich für Managementaufgaben zu qualifizieren. Mark Malloch Brown spricht von einer „kulturellen Revolution“, die mit Blick auf die Organisationskultur stattfinden müsse: „I think there is a profound cultural revolution, apart from an institutional revolution, that has to happen. […] A renewal of the vision of what it means to be an international civil servant and the terms and conditions which underpin that vision is absolutely critical.“38 Kofi Annan hat seine Vision der Wiederbelebung der Ideale des „International Civil Service“ in seinem Bericht „Investing in the United Nations“ im März 2006 skizziert: „My vision is of an independent international civil service which will once again be known for its high standards of ethics, fairness, transparency and accountability, as well as its culture of continuous learning, high performance and managerial excellence. The Secretariat will be truly an integrated, field-oriented operational Organization. Its multiskilled, versatile and mobile staff will be working across disciplines to fulfil the Organization’s complex and interrelated mandates in an efficient and cost-effective manner. The United Nations will be an employer of choice in the international public sector“.39
5. Handwerk der Reformarbeit Der US-amerikanische UN-Botschafter John Bolton hat festgestellt: „Reform is not a one-night stand“. Kofi Annan betont regelmäßig: „Reform is a process, not an event“.40 Dies setzt einen langen Atem voraus – und die Beherrschung des „Reformhandwerks“, zu dem eine effektive Kommunikation nach innen und nach außen gehört. Nach innen gilt es, eine Mehrheit der Mitarbeiter hinter die Reformbemühungen zu bringen und hartnäckige Saboteure aus dem Verkehr zu ziehen (wozu man beispielsweise den „one time staff buyout“, den Annan beantragt hat, nutzen könnte). Nach außen gilt es, sowohl Mitgliedsstaaten als auch die breite Öffentlichkeit von den vorgeschlagenen Maßnahmen und dem Fortgang der Reform zu überzeugen. Zum Handwerk der Reform gehört auch eine Umsetzungskontrolle – es reicht nicht, neue Institutionen wie das Ethics Office zu schaffen, ohne deren Umsetzung laufend zu evaluieren.
38
Interview with Mark Malloch Brown (Anm. 9). K. Annan (Anm. 5), 9. 40 Zitiert in M. Malloch Brown, Testimony at the House International Relations Committee, 28.9.2005, abrufbar unter: http://wwwc.house.gov/international_relations/109/bro 092805.pdf. 39
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II. Realpolitik 1. Erste Erfolge Im Gefolge des UN-Gipfels im September 2005 und im Rahmen des Handlungsspielraums des Generalsekretärs sind bereits erste Schritte mit Blick auf eine umfassende Managementreform unternommen worden.41 Dazu gehören unter anderem die Einrichtung eines „Ethics Office“ zum 1.1.2006, eine Schutzbestimmung bei Aussagen gegen Vorgesetzte („whistleblower protection“), Offenlegungsbestimmungen für Bezüge und Geschenke sowie die bereits erwähnte, noch zu vollziehende Bestellung eines Chief Technology Officer. Auf der Habenseite sind auch Erfolge der Modernisten innerhalb des UN-Generalsekretariats zu verbuchen. Das von Jan Egeland geleitete UN-Büro zur Koordinierung humanitärer Hilfe beispielsweise zeigte im Gefolge des Seebebens in Südostasien, dass die UN im Stande ist, in kurzer Zeit vergleichsweise effektive Hilfe zu mobilisieren und gleichzeitig auf moderne Art und Weise Rechenschaft über die Mittelverwendung abzulegen. Unterstützt von einer weltweit operierenden Wirtschaftsprüfungskanzlei machte die UN der Öffentlichkeit ein Online-System für die Nachverfolgung der Mittelverwendung zugänglich. Ein Erfolg ist auch die verbesserte Außenkommunikation des Sekretariats. Mark Malloch Brown etwa, der die Gesetze des Medienzeitalters gerade in den Vereinigten Staaten beherrscht, hat dazu beigetragen, dass das UN-Sekretariat effektiver Position bezieht in der USDebatte – unter anderem durch mit klaren Aussagen nicht geizende Auftritte im US-Fernsehen und vor dem US-Kongress. Ebenso auf der Habenseite ist die zunehmend offene Besetzung von Spitzenposten. Dies war (außerhalb des Sekretariats, aber in der Verantwortung Annans) etwa bei der Besetzung der Spitzenposten des UN-Entwicklungsprogramms UNDP und des UN-Umweltprogramms UNEP der Fall, wo mit Kemal Dervis und Achim Steiner in einem offenen und transparenten Prozess zwei ausgewiesene Fachleute berufen wurden. Auch Spitzenposten innerhalb des Sekretariats werden zunehmend offen ausgeschrieben, so zuletzt die Stelle des Assistant SecretaryGeneral for Peacekeeping. Nicht der Fall war dies zwar bei der Besetzung der Nachfolge Louise Fréchettes als Annan-Stellvertreter, die nach einem Versteckspiel mit der Presse an Annans Chef de Cabinet Mark Malloch Brown fiel – allerdings wäre für die verbleibende neunmonatige Amtszeit eine offene Ausschreibung für auswärtige Kandidaten auch wenig sinnvoll gewesen.
41
Vgl. die aktuelle Übersicht unter www.un.org/reform.
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2. Rückschläge und Blockaden Verantwortlich für Rückschläge und Blockaden auf dem Weg aus der Krise zu einer umfassenden Reform des Sekretariats sind sowohl handwerkliche Fehler als auch die Blockade durch eine Koalition von Mitgliedsstaaten. Zu den handwerklichen Fehlern gehört die unzureichende Vermittlung des umfassenden Reformprogramms nach innen. Viele Mitarbeiter des Sekretariats fühlten sich (gerade bei der Erstellung des umfassenden, im März 2006 vorgestellten Berichts) unzureichend eingebunden. Es war ein strategischer Fehler der Autoren des Berichts, die Fragen der Verlagerung („relocating/offshoring“) und der externen Vergabe („outsourcing“) von bislang innerhalb des Sekretariats erbrachter Dienstleistungen im Bericht zu diskutieren. Damit eröffnete die UNSpitze eine neue Flanke gegenüber den Sekretariatsmitarbeitern, die sich schon nach Indien umgesiedelt sehen und befürchten, dass ihr Job an externe Dienstleister ausgelagert wird. Wenig erfolgreich war die UN-Spitze auch in der Reaktion auf die besorgten Nachfragen von Sekretariatsmitarbeitern. Bei einer Zusammenkunft mit in der UN Staff Union organisierten Mitarbeitern wurde Annan nach der Präsentation seines Berichts zur Managementreform am 7. März 2006 mit einer angeblichen Aussage seines Undersecretary-General for Management Christopher Burnham konfrontiert, der gefragt haben soll „Why should we do something in the organization when we could do it cheaper outside“ und dabei den Namen „Kinko’s“ erwähnt habe.42 Annan fragte nur nach: „What is Keeko’s?“43 – offenbar war ihm der Name der in New York allgegenwärtigen Kopier- und Druckläden nicht geläufig. Es ist zudem Ergebnis einer schlechten Kommunikationspolitik, wenn sich die Schlagzeilen zum im März 2006 vorgestellten Annan-Bericht in Zeitungen wie der Financial Times oder dem Boston Globe allein auf die Frage des Outsourcing beziehen („UN looks at ways to reduce its staff“44), statt die Kernbotschaften des Berichts aufzugreifen. Wenig effektiv war auch die gerade von US-amerikanischer Seite oft vorgebrachte Rhetorik, welche das UN-Sekretariat auf ein Dienstleistungsunternehmen reduziert. Dies brachte auch besorgte NGO-Kritiker auf den Plan, die wie beispielsweise James A. Paul, Exekutivdirektor des Global Policy Forum, argumentierten: „It is unfortunate that this campaign continues with the same methods and the same concept: that the secretary-general’s post is like that of a corporate chief executive officer (CEO), not like a gov-
42 43 44
E. M. Lederer, Blog: Behind the Scenes at the U. N., Associated Press, 11.3.2006. Ibid. J. Lauria, UN looks at ways to reduce its staff, Boston Globe, 10.2.2006.
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ernment leader, responsible to a parliamentary body“.45 Paul übersieht hierbei geflissentlich, dass seine einfach gestrickte parlamentarische Analogie genauso wenig tragfähig ist wie naiv auf die UN übertragene Konzepte aus der Managementlehre für Anfänger. Gleichzeitig spielen Kritiker wie Paul den G77-Staaten in die Hände, deren Blockadepolitik viele der nötigen Reformen verzögert. Es ist die oft geäußerte Befürchtung der G 77, dass eine stärkere Rolle und größere Handlungsfreiheit des UN-Generalsekretärs die Einflussmöglichkeiten der Generalversammlung beschneidet. Sie sehen in der Managementreform ein trojanisches Pferd für die absolute Dominanz der Organisation durch die USA: ein stärkerer Generalsekretär wäre für die G77 nicht mehr als eine Marionette des größten Beitragszahlers Vereinigte Staaten. Die G77 sieht zudem die Agenda der Vereinigten Staaten als eine an, die Fragen der Entwicklung nur nachrangig behandelt und die UN auf Fragen der Förderung von Demokratisierung und Terrorismusbekämpfung reduzieren will. Einige Beobachter sehen die Blockade der Reformpolitik durch die G77 auch darin motiviert, dass die G77-Staaten um aus Finanz-, Patronage- und Prestigegründen lieb gewonnene, aber unnötige Posten und Programme fürchten, die im Zuge einer Reform wegfallen würden. Innerhalb des vergangenen Jahres bezichtigte die G77 den Generalsekretär sowie den Sicherheitsrat mehrfach der Unterminierung der Funktionen der Generalversammlung, des Versuchs, „to usurp the powers of member states as represented by the General Assembly.“46 So beschwerte sich die Gruppe der 77 bei UN-Generalsekretär Annan, dass seine Top-Beamten „continue to recklessly leak privileged information and to undermine the world body in public.“47 Der Vorsitzende der G77, Südafrikas Botschafter Dumisani Kumalo, kritisierte das Sekretariat, weil es die Generalversammlung umgangen habe und die Presse über Fragen von Missmanagement, Betrug und Korruption informiert habe. Der jüngste Streit entzündete sich an einem Treffen des Sicherheitsrates zu Verwürfen von Korruption und Mismanagement im Beschaffungswesen bei Peacekeeping-Operationen: „It is a peculiar coincidence“, so der indische UNBotschafter Nirupam Sen für die G77, „that the (recent) attempted arrogation of the functions of the General Assembly by the Secretariat comes at a time when we are witnessing a similar arrogation by the Security Council.“ Beschaffung und Beschaffungskontrolle seien allein Aufgabe der Generalversammlung. Dass
45 James Paul zitiert in: T. Deen, U. N. Chief Challenges at Contentious Staff Meeting, IPS, 8.2.2006. 46 T. Deen, U. N. Security Council Wades into Corruption Fray, IPS, 9.2.2006. 47 Ibid.
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Annans Chef de Cabinet Malloch Brown vor dem US-Kongress ausgesagt habe, sei nicht hinzunehmen. Die Vereinigten Staaten antworteten mit weiteren Drohungen, ihren Beitrag zum Budget der Vereinten Nationen weiter zurückzuhalten, falls die G77 ihre Blockade der Reformbemühungen aufrechterhalte. Die US-Vertreter weisen regelmäßig darauf hin, dass sie allein 22% des Budgets zahlen, die niedrigsten 128 UNBeitragszahler jedoch gemeinsam für weniger als 1% (genau 0.966 %) des UNBudgets aufkommen.48 Dieses Verhältnis sei nicht haltbar, falls die niedrigsten Beitragszahler sich gleichzeitig als Anti-Reformblock hervortäten. Es ist auch Aufgabe Deutschlands und Europas, diese Gefahr den G77-Staaten deutlich zu machen. Europa sollte die Reform des Sekretariats zu einer klaren Priorität einer gemeinsamen UN-Politik machen – nach der Demonstration der Teilbarkeit der EU im Vorfeld des Irak-Krieges und der Erweiterung des Sicherheitsrates eine gute Gelegenheit, mit einer gemeinsamen Position Flagge zu zeigen. In der Frage der Reform des Sekretariats ist die EU 2006 (vertreten durch die österreichische Präsidentschaft) bereits gemeinsam aufgetreten; es fehlen jedoch bislang klare Worte gegenüber den G77-Staaten. Die EU sollte deutlich machen, dass es nicht länger hinzunehmen ist, dass sich die G77 mit wohlfeiler Rhetorik als Sachwalter von Entwicklungsfragen präsentieren und de facto vor allem dringend notwendige Reformen des Sekretariats blockieren.49 Bewegung in dieser Frage sollte von Seiten Deutschlands und der EU auch zu einem Kriterium bei der Entscheidung über bi- und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit G77-Staaten gemacht werden.
E. Aussichten „The United Nations is no stronger than the collective will of the nations that support it. Of itself it can do nothing. It is a machinery through which the nations can cooperate. It can be used and developed […] or it can be discarded and broken.“50
Mit diesen Worten erinnerte der erste UN-Generalsekretär Tryvge Lie im Jahr 1946, ein Jahr nach der Gründung der UN, die Mitgliedsstaaten an ihre Verantwortung für das Gedeihen der Vereinten Nationen. In einer solchen Sichtweise 48
Zitiert nach United Nations, Resolution Adopted By the General Assembly: Scale of Assessments for the Apportionment of the Expenses of the United Nations, A/RES/58/1 (2004). 49 Vgl. die Argumentation Mats Berdals (Anm. 27), der die Staaten der G77 unkritisch als Advokaten einer entwicklungszentrierten Agenda innerhalb der VN präsentiert. 50 Tryvge Lie 1946 zitiert nach E. B. Haas, Why we still need the United Nations, Berkeley 1986, 54.
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bleibt dem Sekretariat keine klar zugewiesene Verantwortung für Erfolge oder Misserfolge der Organisation. Sechzig Jahre nach Tryvge Lies Plädoyer bietet die Doppelkrise des Sekretariats die Gelegenheit für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Mitgliedsstaaten und UN-Sekretariat. Diese Neubestimmung ist umso dringlicher, als die „organisierte Heuchelei“ im Verhältnis von Mitgliedsstaaten und Sekretariat zur gegenwärtigen Krise beigetragen hat. Ziel sollte es sein, das Sekretariat zu einer leistungsfähigen und verantwortlichen Organisation zu entwickeln. Es gilt, den Nachfolger Annans gleich bei der Auswahl auf das Vorantreiben der Reformen des Sekretariats zu verpflichten. Die Position des stellvertretenden Generalsekreträrs, der sich für das Management des Sekretariats verantwortlich zeichnen wird, ist von solch zentraler Bedeutung, dass der neue Generalsekretär direkt im Tandem mit einem Stellvertreter ernannt werden sollte. Dies heißt, dass sich mögliche Kandidaten für den Posten des Generalsekretärs auf der Basis eines „joint ticket“ mit einem möglichen Stellvertreter der Bewertung durch Mitgliedsstaaten und die breitere Öffentlichkeit stellen. Gerade weil das Sekretariat immer neue Aufgaben angenommen hat, ist die Reform der Organisation von entscheidender Bedeutung. Leider wird diesem Umbau sowohl von vielen Mitgliedsstaaten als auch vielen Sekretariatsmitarbeitern oft nicht die nötige Zentralität zugemessen. Das Low Level Panel, die bereits oben erwähnte Gruppe reformorientierter Sekretariatsmitarbeiter, bringt dies zum Ausdruck: „For many UN staff, internal management reform is not as interesting and important as the politics of the Middle East, anti-narcotics work on the Afghan-Tajik border, or planning food distribution in Sudan. But we need to focus more on internal reform because the cumulative impact of low level problems on the Secretariat is immense“.51 Eine Blockade der Reforminitiativen und Fortschreibung des status quo würde zu einem weiteren Verlust von Effektivität und Glaubwürdigkeit des Sekretariats führen. Genau dies droht jedoch durch die Politik der G77-Staaten. Deutschland sollte seine (nicht zuletzt im Rahmen der deutschen Werbebemühungen für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat intensiv gepflegten) Beziehungen zu G77-Staaten nutzen, um ein Ausbrechen aus dieser Sackgasse zu befördern. Es ist erfreulich, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung eine Abkehr von einer Fixierung auf einen deutschen Sicherheitsratssitz angekündigt hat: „Die Reform der UNO kann nicht auf die Frage des Sicherheitsrates reduziert werden, sondern sie geht weit darüber hinaus. Die Frage, welche Rolle die UNO in den nächsten Jahrzehnten einnimmt, wird von existenzieller strategischer Bedeutung für eine global zusammenwachsende Welt sein.“52 Ob der Sicherheitsrat dabei mit oder ohne Deutschland als ständigem 51 52
Low Level Panel (Anm. 28). A. Merkel, Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, 30.11.2005.
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Mitglied operieren wird, wird für das Wohlergehen der UN und der Welt nur eine periphere Bedeutung haben. Weit wichtiger wird sein, ob das UN-Sekretariat über die Fähigkeiten, das Personal und das Maß an Integrität verfügen wird, um die sich den Vereinten Nationen stellenden Aufgaben erfolgreich anzugehen. Die Vereinten Nationen sind heute weit mehr als die Plattform für zwischenstaatliche Kooperation, als die sie der erste UN-Generalsekretär bezeichnete. Als zunehmend feldbasierte Organisation erfüllt sie immer komplexere und wichtigere Aufgaben. Ressourcenausstattung und Managementprozesse, Mentalität und Praktiken der Mitgliedsstaaten; Kooperations- und Koordinationsfähigkeit mit anderen UNUnterorganisationen und Programmen und auch mit der Zivilgesellschaft und Unternehmen, die Mentalität der Mitarbeiter und vorherrschende Organisationskultur tragen dem jedoch noch nicht Rechnung. Die vorliegenden Vorschläge für eine umfassende Reform des Sekretariats können hier Abhilfe schaffen oder zumindest Anstöße für eine Kurskorrektur geben. Ziel sollte es sein, dem Sekretariat mehr Entscheidungsspielraum zuzubilligen und dafür eine stärkere Rechenschaft und Erfolgskontrolle zu verlangen. Dann könnte auch das Sekretariat für Fehlleistungen klar verantwortlich gemacht werden. Das setzt einen Kompromiss zwischen den Reformbefürwortern (vor allem den USA) und den Reformgegnern (G77 und Blockfreie) voraus – ein Kompromiss, für den Deutschland werben sollte: Einerseits müssen die G77-Staaten ihre Blockade der Reformen aufgeben und ihre Politik gegenüber dem UN-Sekretariat grundlegend ändern. Eine Politik des Neo-Patrimonialismus,53 der die „UN als Beute“ sieht und bei der die Verteidigung von Pfründen im Vordergrund steht, befördert lediglich den Niedergang des Sekretariats – die großen Beitragszahler werden die Mittel für die Pfründe nicht endlos bereitstellen. Andererseits sollten große Beitragszahler wie die USA von regelmäßigen Erpressungsversuchen der UN und einer Rhetorik abrücken, bei der die UN lediglich als ein Anbieter im „Markt für globales Problemlösen“ firmiert – ein Anbieter, den die USA je nach gusto nutzen.54 Als Gegenleistung für durchgreifende Reformen müssten sich die Hauptbeitragszahler zu regelmäßigen Beitragszahlungen und signifikanten Inves53
Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie, Tübingen 1922, Erster Teil, Kap. III.3.9. 54 So der US-amerikanische UN-Botschafter John Bolton, der im November 2005 erklärte: „Americans are a very practical people, and they don’t view the U.N. through theological lenses. They look at it as a competitor in the marketplace for global problemsolving, and if it’s successful at solving problems, they’ll be inclined to use it. If it’s not successful at solving problems, they’ll say, ,Are there other institutions?‘“, zitiert nach C. Lynch, Bolton Admonishes the UN, Washington Post, 23.11.2005.
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titionen in die Kapazitäten der UN verpflichten. Resultat dieses Kompromisses wäre eine Politik des „Förderns und Forderns“ des UN-Sekretariats – und damit ein Kompromiss, der das Verhältnis Mitgliedsstaaten – Sekretariat neu justiert und gleichzeitig die Wiederbelebung der Ideale des „International Civil Service“ in moderner Form vorantreibt. Ohne einen neuen „grand bargain“ wird der angestrebte „radical overhaul“ (Annan) und die „lasting revolution of reform“ (Rice) zu einer institutionalisieren Scharade – und es bleibt allein die organisierte Heuchelei, welche die Malaise nicht nur des Sekretariats, sondern auch der Gesamtorganisation befördern wird.
Reformbedarf und Reformmöglichkeiten im Bereich der UN-Vertragsgremien Von Beate Rudolf
A. Einleitung Die Reform der Vertragsgremien, also der für die Überwachung der sieben großen UN-Menschenrechtsverträge1 eingesetzten Sachverständigenausschüsse, war kein prominentes Thema auf dem „Weltgipfel 2005“. Die Debatte um eine Reform der Vereinten Nationen kreiste dort um die institutionelle Reform der UNO. Formal betrachtet ist dies Folge der Tatsache, dass die Vertragsgremien fast ausnahmslos keine Organe der Vereinten Nationen sind,2 sondern Kontrollorgane im Rahmen selbständiger völkerrechtlicher Verträge, welche der UNO lediglich über ihr Budget3 sowie eine Pflicht zur Berichterstattung an die Generalversamm1
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD, „Rassendiskriminierungskonvention“) vom 21.12.1965, BGBl. (1969 II), 962, in Kraft seit 4.1.1969; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR, „Sozialpakt“) und Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (CCPR, „Zivilpakt“), beide vom 19.12.1966, BGBl. (1973 II), 1570 bzw.1534, in Kraft seit 3.1.1976 bzw. 23.3.1976; Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW, „Frauenrechtskonvention“), vom 18.12.1979, BGBl. (1985 II), 648, in Kraft seit 3.9.1981; Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT, „AntiFolter-Konvention“), vom 10.12.1984, BGBl. (1990 II), 247, in Kraft seit 26.6.1987; Übereinkommen über die Rechte des Kindes („CRC“, „Kinderrechtskonvention“), BGBl. (1992 II), 122, in Kraft seit 2.9.1990; Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (CMW, „Wanderarbeitnehmerkonvention“), vom 18.12.1990, A/44/49, S. 315, in Kraft seit 1.7.2003. 2 Einzige Ausnahme ist der CESCR-Ausschuss, welchen der ECOSOC durch Res. 1985/17 (vom 28.5.1985) eingesetzt und dem er die ihm selbst nach Art. 16 Abs. 2 lit.a CESCR obliegende Aufgabe der Berichtsprüfung übertragen hat. 3 Vgl. Art. 17 Abs. 8 CEDAW, Art. 43 Abs. 12 CRC, Art. 72 Abs. 8 CMW, anders hingegen Art. 8 Abs. 6 CERD, Art. 42 Abs. 9 CCPR und Art. 18 Abs. 5 CAT, wonach die Vertragsparteien die Aufwandsentschädigung für die Sachverständigen und weitere Kosten
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Beate Rudolf
lung4 verbunden sind und vom Menschenrechtshochkommissariat Unterstützung erhalten.5 Dennoch besteht auch ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der Debatte um die institutionelle Reform der UNO und der Reformdiskussion im Bereich der Vertragsgremien: Angesichts des herausragenden Stellenwerts, welchen Schutz und Förderung der Menschenrechte für die UNO haben, muss die Frage nach der künftigen inhaltlichen Ausrichtung der Organisation, ihren Prioritäten und der angemessenen Ausgestaltung ihrer Strukturen auch mit Blick auf den Menschenrechtsschutz durch die Vertragsgremien beantwortet werden. Deshalb hat der UN-Generalsekretär Kofi Annan in seinen Entwürfen für die Reform der Vereinten Nationen sowohl Vorschläge für institutionelle Reformen der UNO als auch der Vertragskontrollgremien unterbreitet.6 In seinem Bericht „Strengthening the UN“ regte er an, die Staaten sollten künftig einen Gesamtbericht über die Erfüllung ihrer Pflichten aus den von ihnen ratifizierten UN-Menschenrechtsverträgen vorlegen.7 Aufgrund des starken Widerstandes von Staaten, der Kontrollgremien und von NGOs8 hielt er in seinem Bericht „In Larger Freedom“ daran nicht mehr fest, sondern fordert lediglich eine Harmonisierung der Berichtsanforderungen und gleichzeitig eine Koordinierung der Aktivitäten aller sieben Vertragsgremien im Sinne eines „unified system“.9 tragen. Für den CESCR-Ausschuss hat der ECOSOC die Kostentragung durch die UNO in Res. 1985/17 (Anm. 2), lit. (e) festgelegt. 4 Vgl. Art. 45 CCPR, Art. 9 Abs. 2CERD, Art. 21 Abs. 1 CEDAW, Art. 24 CAT, Art. 44 Abs. 5 CRC, Art. 74 Abs. 7 CMW. Auch hier besteht im Rahmen des CESCR eine Ausnahme, da der ECOSOC unmittelbar für die Prüfung der Staatenberichte zuständig ist; dieser ist jedoch seinerseits befugt, der Generalversammlung Berichte vorzulegen (Art. 21). Der CESCR-Ausschuss hat gemäß ECOSOC-Res. 1985/17 (Anm. 2), lit. (f) an den Wirtschafts- und Sozialrat zu berichten. 5 Die Verträge benennen den Generalsekretär als das zur Unterstützung verpflichtete Organ, vgl. Art. 36 CCPR, Art. 10 Abs. 3 CERD, Art. 17 Abs. 9 CEDAW, Art. 18 Abs. 3 CAT, Art. 43 Abs. 11 CRC, Art. 72 Abs. 7 CMW; wegen der Besonderheit der Berichtsprüfung im Rahmen des CESCR besteht dort keine solche vertragliche Regelung. Allerdings verpflichtet ECOSOC-Res. 1985/17 (Anm. 2), lit. (f) den Generalsekretär zur Unterstützung des CESCR-Ausschusses. Der CEDAW-Ausschuss wird von der Division for the Advancement of Women im Generalsekretariat in New York unterstützt. 6 Strengthening of the United Nations: An Agenda for Further Change, A/57/387 (2002) und „In Larger Freedom: Towards Development, Security and Human Rights for All“, A/59/2005 (2005). 7 Anm. 6, § 54. 8 Vgl. den Bericht über das Expertentreffen in Malbun, Liechtenstein (4.-7. Mai 2003), A/58/123, Annex (2003), und den Bericht über die 15. Sitzung der Vorsitzenden der Vertragsgremien, A/58/350 (2003). 9 Anm. 6, § 147.
Reformbedarf und Reformmöglichkeiten im Bereich der UN-Vertragsgremien 129
Damit greift der Generalsekretär einerseits die vorhandenen Koordinierungsbemühungen der Vertragsgremien auf – das jährliche Zusammentreffen der Vorsitzenden10 und das Inter-Committee Meeting.11 Andererseits hat er sich mit dem Begriff des „vereinheitlichten Systems“ noch nicht auf ein klares Ziel festgelegt; es kann sowohl die bloße Abstimmung zwischen den Vertragsgremien bezeichnen als auch die Schaffung eines gemeinsamen Vertragsausschusses für alle Verträge, wie ihn die Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, anstrebt.12 Der Problembefund, welcher die Reformdebatten ausgelöst hat, ist seit langem unverändert. Die Berichtsprüfung leidet unter drei zentralen Mängeln: der Nichtoder Schlechterfüllung ihrer Berichtspflicht durch zahlreiche Staaten, dem Rückstau bei der Prüfung vorhandener Berichte und der unbefriedigenden Effektivität der Berichtsprüfung. Diese drei Problembereiche hängen eng miteinander zusammen, weil sie zum Teil auf die gleichen Ursachen zurückzuführen sind: Zum einen ist dies die fehlende Fähigkeit und/oder der fehlende politische Wille von Regierungen, Berichte vorzulegen. Zum anderen ist das Finanzproblem der Vereinten Nationen wesentlicher Grund sowohl für den Berichtsstau also auch für teilweise geringe Qualität der Berichtsprüfung, weil die Vertragsgremien nicht über genügend Zeit und Ressourcen für eine substanziierte Berichtsprüfung verfügen. Vor diesem Hintergrund hat der in weiten Teilen gescheiterte Weltgipfel 2005 zumindest ein positives Ergebnis gezeitigt: die Ankündigung, das reguläre Budget des Menschenrechtshochkommissariats in den kommenden fünf Jahren zu verdoppeln. Dies kann auch den Vertragskontrollgremien zugute kommen, weil damit die Möglichkeit zusätzlicher Sitzungsperioden und der Personalaufstockung besteht – freilich nur, wenn die Staaten, die bislang freiwillige Beiträge geleistet haben, diese auch weiterhin erbringen.13
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Vgl zuletzt: Report of the Chairpersons of the Human Rights Treaty Bodies on Their Seventeenth Meeting, A/60/265 (2005). Das Treffen wurde 1984 gemäß Resolution A/RES/38/117 (1983) eingeführt und findet seit 1995 jährlich statt. 11 Seit 2002 jährlich, bestehend aus je 3 Vertretern jedes Ausschusses. Vgl. zuletzt: Report of the Fourth Inter-Committee Meeting of Human Rights Treaty Bodies, Annex zum Bericht über das 17. Treffen der Vorsitzenden (Anm. 10). 12 OHCHR Plan of Action, 2005, § 147 („unified standing treaty body“). Hierzu liegt seit dem Frühjahr 2006 ein Konzeptpapier des Hochkommissariats für Menschenrechte vor, HRT/MC/2006/CRP.1. Zu dem geplanten Gremium vgl. unten (Punkt III. 2.). 13 Der Haushalt des Hochkommissariats betrug für 2004 und 2005: 56,8 Mio US $ regulärer Haushalt, vgl. Res. A/58/271, zzgl. freiwilliger Beiträge (2004: 52,3 Mio US $, 2005: 65,3 Mio US $). Liste der freiwilligen Beiträge für 2005 unter (Stand: 15. Dezember 2005).
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Die zentralen inhaltlichen Fragen einer Reform der Vertragskontrollgremien sind jedoch weiterhin offen: (I) die Erleichterung der Berichtspflicht, (II) die Verbesserung der Berichtsprüfung, (III) die Ausgestaltung eines vereinheitlichten Systems.
B. Reformansätze I. Erleichterung der Berichtspflicht Keine Analyse des Reformbedarfs bei der Berichtspflicht kann die alarmierenden Statistiken über die Berichterstattung ignorieren: Im Mai 2005 waren bei den sieben UN-Menschenrechtsverträgen insgesamt 1.492 Berichte überfällig: von 25 bei der Wanderarbeitnehmerkonvention – obwohl sie erst seit dem 1. Juli 2003 in Kraft ist14 – bis zur Rassendiskriminierungskonvention, die mit 478 ausstehenden Berichten einen traurigen Spitzenplatz innehat.15 Dieser Befund hat zwei Hauptursachen: fehlende politische Bereitschaft zur Vorlage eines Berichts, aber auch – gerade bei weniger entwickelten Staaten – unzureichende Ressourcen für die Erstellung von Berichten. Immerhin muss ein Staat, der gleichzeitig alle sieben Verträge ratifiziert, innerhalb von zehn Jahren 22 Berichte vorlegen – im Schnitt also alle 5 ½ Monate einen Bericht erstellen.16 Dass dies auch den willigsten Staat überfordern kann, ist offensichtlich.
14
Gegenwärtig 31 Vertragsparteien (Stand: 18. Januar 2006). Eine Vertragspartei hat ihren Erstbericht gemäß Art. 73 CMW nach einem Jahr vorzulegen. 15 Report on the Implementation of Recommendations of the 3rd Inter-Committee Meeting and the 16th Meeting of Chairpersons, HRI/MC/2005/2, 9, § 31 (Stand: 18. Mai 2005). Bei den übrigen Verträgen sind überfällig: CCPR: 190, CESCR: 154, CAT: 187, CEDAW: 241, und CRC: 128 (zzgl. 43 für das 1. Fakultativprotokoll über Kinder in bewaffneten Konflikten und 46 für das Fakultativprotokoll über Kinderhandel). Fast die Hälfte (641) sind mehr als fünf Jahre überfällig (ibid.). Nach Ländern geordnete Angaben im Bericht des Menschenrechtshochkommissariats, Recent Reporting History under the Principle International Human Rights Instruments, HRI/GEN/4/Rev.5 (Stand 3. Juni 2005). 16 Vgl. die schematische Darstellung unter .
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1. Überblick über die Erleichterungsmöglichkeiten Von den denkbaren Möglichkeiten, die rechtzeitige und vollständige Erfüllung der Berichtspflicht sicherzustellen, kommt vorrangig internationale Unterstützung der Staaten bei der Erstellung des Berichts in Betracht – eine Aufgabe, die vor allem die Beratenden Dienste des Hochkommissariats für Menschenrechte übernehmen, aber eben nur in den Grenzen der verfügbaren Haushaltsmittel. Daher ist eine Erhöhung des Budgets für das Hochkommissariat unabdingbar und Nagelprobe dafür, ob die Staaten ernsthaft eine Verbesserung des Menschenrechtsschutzes und der Kontrollverfahren anstreben.17 Weiterhin kann den Staaten die Erfüllung der Berichtspflicht schlicht durch Reduzierung des Berichtsumfangs erleichtert werden. Hierfür werden Seitenbegrenzungen diskutiert – der Vorschlag des Hochkommissariats liegt bei 60 Seiten für den Erstbericht und 40 Seiten für Folgeberichte;18 hinzu kommt allerdings noch ein 60-80-seitiger Kernbericht für alle Verträge (dazu sogleich unter 2.). Ob dies wirklich zu einer Erleichterung für die Staaten führt, ist indes sehr zweifelhaft. Wichtige Informationen kondensieren zu müssen, ist arbeitsintensiver, nicht arbeitserleichternd. Daher trägt die Seitenbegrenzung die Gefahr verschlechterter Qualität der Berichte in sich. Eine wirkliche Erleichterung für die Staaten wird sich nur erreichen lassen, wenn die Anforderungen an den Berichtsinhalt reduziert werden. Das ist das Ziel, welches mit dem einheitlichen Kernbericht erreicht werden soll. Er soll die vertragsspezifischen Berichte inhaltlich entlasten und damit eine Konzentration der staatlichen Ressourcen zur Berichtserstellung ermöglichen (hierzu 2.). Schließlich kann der Umfang der Berichtspflicht durch eine Verlängerung der Berichtsintervalle verringert werden (hierzu 3.). Eine andere Entlastungsmöglichkeit besteht darin, anstelle einer umfassenden Darstellung der Vertragserfüllung eine Schwerpunktsetzung vorzugeben. Diese Lösung würde außerdem den Vertragskontrollgremien eine fokussierte Berichtsprüfung ermöglichen (hierzu II.).
17
Auf die bereits bei der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 deutlich gewordenen Diskrepanz zwischen Worten und Taten weist schon Elisabeth Evatt hin, Ensuring Effective Supervisory Procedures: The Need for Resources, in: P. Alston/J. Crawford (Hrsg.), The Future of UN Human Rights Treaty Monitoring (2000), 461-479 (473). 18 Bericht des Menschenrechtshochkommissariats, Harmonized Guidelines on Reporting under the International Human Rights Treaties, Including Guidelines on a Common Core Document and Treaty-Specific Targeted Documents, HRI/MC/2005/3, § 19.
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2. Ein einheitlicher Kernbericht („common core document“)? Die Idee eines einheitlichen Kernberichts wird seit dem Jahr 2004 nachdrücklich vom Hochkommissariat für Menschenrechte propagiert,19 nachdem der Vorschlag eines Gesamtberichts für alle Verträge auf unüberwindbaren Widerstand gestoßen war.20 Den gegenwärtigen Stand der Diskussion gibt der überarbeitende Entwurf von 2005 wieder, welchen das Hochkommissariat im Lichte der Stellungnahmen der Vertragsgremien, von Staaten und NGOs erstellt hat.21 Dieser Entwurf soll im Sommer 2006 vom Inter-Committee Meeting der Vertragsgremien auf der Grundlage eines kritischen Berichts der zur Vorbereitung eingesetzten Arbeitsgruppe abschließend beraten werden. Schon jetzt legen knapp 120 Staaten freiwillig Kernberichte vor.22 Darin enthalten sind allgemeine Informationen über die Bevölkerungsstruktur, das politische System und den rechtlichen und institutionellen Rahmen, innerhalb dessen die Menschenrechtsverträge innerstaatlich umgesetzt werden. Der neue gemeinsame Kernbericht soll darüber hinausgehen und beispielsweise über die gesamten menschenrechtlichen Verpflichtungen Auskunft geben, welche ein Staat übernommen hat, einschließlich seiner Vorbehalte und der Reaktionen anderer Staaten hierauf. Der zentrale Streitpunkt bezüglich eines neuen common core document ist die Forderung, es solle zusätzlich Informationen über die Umsetzung derjenigen Menschenrechte enthalten, welche mehreren Menschenrechtsverträgen gemeinsam sind („kongruente Normen“). Hierzu zählen jedenfalls das Diskriminierungsverbot und das Gleichheitsgebot.23 Daneben können die Staaten auch Themenkomplexe bilden, etwa „Leben, Freiheit und persönliche Sicherheit“ oder „Verfahrensgarantien“.24
19 Bericht des Menschenrechtshochkommissariats, Guidelines on an Expanded Core Document and Targeted Treaty-Specific Reports and Harmonized Guidelines for Reporting under the International Human Rights Treaties, HRI/MC/2004/3. 20 Vgl. oben, Text bei Anm. 8. 21 Bericht des Menschenrechtshochkommissariats, Harmonized Guidelines on Reporting under the International Human Rights Treaties, Including Guidelines on a Common Core Document and Treaty-Specific Targeted Documents, HRI/MC/2005/3. 22 Vgl. die Liste des OHCHR, . Der gegenwärtige Kernbericht Deutschlands ist enthalten in HRI/CORE/1/Add.75 Rev. 1 (2003). 23 Entwurf des Hochkommissariats für harmonisierte Richtlinien (Anm. 21), §§ 60-72. 24 Als andere Themenkomplexe werden wirksame Rechtsbehelfe, Teilhabe am öffentlichen Leben, Ehe und Familie, wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten sowie Erziehung genannt, vgl. den Entwurf des Hochkommissariats für harmonisierte Richtlinien (Anm. 21), § 56.
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Man erhofft sich, dass die Staaten auf diese Weise einen ganzheitlichen Ansatz der Menschenrechte verinnerlichen, d.h. die Unteilbarkeit und Interdependenz aller Menschenrechte anerkennen und bei ihrer Menschenrechtspolitik verwirklichen.25 Insbesondere können auf diese Weise – so die Erwartung – die besonderen Bedürfnisse einzelner Personengruppen, z.B. von Frauen, Kindern oder Angehörigen ethnischer Gruppen, bei der Umsetzung der allgemeinen Menschenrechtsübereinkommen berücksichtigt werden.26 Ob dieses Ziel durch den gemeinsamen Kernbericht erreicht werden kann, ist jedoch zweifelhaft. Eine wirkliche Berücksichtigung solcher besonders schutzwürdigen Belange kann nur bei der Umsetzung der einzelnen Verträge erfolgen. Daher ist die Aufnahme der Diskriminierungsverbote in den gemeinsamen Kernbericht möglicherweise kontraproduktiv, indem sie die Staaten dazu verleitet, der Umsetzung dieser Norm innerhalb der vertragsspezifischen Berichte keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Dieser Gefahr müssen die Vertragsgremien entgegenwirken, beispielsweise durch Aufnahme entsprechender Fragen nach der Umsetzung in die „List of Issues“ im Vorfeld der Berichtsprüfung und durch gezieltes Nachfragen während des konstruktiven Dialogs. Umfasst der gemeinsame Kernbericht die Umsetzung der kongruenten Normen, so fragt sich, welche Angaben für den vertragsspezifischen Bericht verbleiben.27 Auch dies betrifft insbesondere die beiden speziellen Verträge zur Diskriminierungsbekämpfung, CEDAW und CERD, die das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlecht bzw. der „Rasse“ für wesentliche Sachgebiete und typische Konstellationen konkretisieren. Insbesondere muss gewährleistet sein, dass die spezifischen Perspektiven dieser beiden Verträge erhalten bleiben, also beispielsweise die Erkenntnis, dass Frauen oft Opfer von Mehrfachdiskriminierung sind oder dass gewisse Menschenrechtsverletzungen, beispielsweise Gewalt gegen Frauen, auch eine Form von Diskriminierung darstellt.28 Die Berücksichtigung solcher Erkenntnisse ist bei der gegenwärtigen Fassung der Richtlinien für den Kernbericht gefährdet, da er nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der Diskriminierungsverbote nach allen sieben Verträgen enthält.29 Da Kernbericht 25
Entwurf des Hochkommissariats für harmonisierte Richtlinien (Anm. 21), § 7. So z.B. der CEDAW-Ausschuss in: Preliminary Views of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women (Revised Version), in: Comments and Suggestions Concerning the Draft Harmonized Guidelines on Reporting under the International Human Rights Treaties, HRI/MC/2005/6/Add.1, § 17 („mainstreaming a gender perspective into the implementation of all human rights treaties“). 27 Vgl. auch die vorläufige Stellungnahme des CEDAW-Ausschusses (Anm. 26), § 32. 28 Vorläufige Stellungnahme des CEDAW-Ausschusses (Anm. 26), § 27. 29 Kritisch hierzu die vorläufige Stellungnahme des CEDAW-Ausschusses (Anm. 26), § 26. 26
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und vertragsspezifischer Bericht einander ergänzen, besteht die Gefahr, dass sich das niedrigere Schutzniveau aus Ersterem auch in Letzterem niederschlägt und damit mittelbar bei der Realisierung des speziellen Vertrages auswirkt. Die Entscheidung über die Richtlinien für den neuen Kernbericht kann daher – entgegen der Absicht des Hochkommissariats – nicht unabhängig von denjenigen für die vertragsspezifischen Berichte getroffen werden.30 Als letztes Problem des common core document ist die Frage nach der Häufigkeit seiner Aktualisierung zu nennen. Um eine sinnvolle Umsetzungskontrolle zu ermöglichen, müsste sie bei jeder Berichtsprüfung des betreffenden Landes erfolgen.31 Dann aber leistet der gemeinsame Kernbericht keinen nennenswerten Beitrag zur Verringerung der Berichtslast. Sein Vorteil ist – allein, aber immerhin – die Förderung einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschenrechtsschutzes. Das neue common core document ist nach alledem nützlich, aber nicht die Rettung aus der Überlastung der Staaten, die es verheißt. Um einen Rückschritt gegenüber dem bislang erreichten Stand des menschenrechtlichen Diskurses zu verhindern, kann endgültig über seinen Inhalt nur zusammen mit Richtlinien für die vertragsspezifischen Berichte entschieden werden.
3. Reduzierung der Berichtshäufigkeit? Dieser Befund legt es nahe, über eine Reduzierung der Berichtshäufigkeit nachzudenken. Das Problem, dass der Berichtszyklus (außer bei den beiden Menschenrechtspakten32) vertraglich festgeschrieben ist,33 ist kein unüberwindbares Hindernis. Die Verlängerung der Berichtsperiode bedarf keiner ausdrücklichen Vertragsänderung, sondern kann auch durch eine geänderte Vertragspraxis und Auslegung im Lichte von Ziel und Zweck der Berichtsprüfung erreicht werden (Art. 31 Abs. 3 lit. b und Abs. 1 WVK). Schon heute hat der Rückstau an ungeprüften Berichten zu der Praxis geführt, dass die Vertragsgremien mehrere Berichte eines Staates zusammen prüfen oder sogleich die Vorlage kombinierter
30
So zu Recht der CEDAW-Ausschuss (Anm. 26), § 37. So auch der Entwurf des Hochkommissariats für harmonisierte Richtlinien (Anm. 21), § 18. 32 Art. 40 Abs. 1 lit. b) CCPR, wonach der Menschenrechtsausschuss die Staaten zur Berichterstattung auffordert (idR 4 Jahre, vgl. Verfahrensregeln 60 und 70A), und Art. 17 Abs. 1 CESCR; der ECOSOC hat in Res. 1988/4 einen Berichtszeitraum von 5 Jahren festgelegt; der Ausschuss handhabt dies aber flexibel, vgl. seinen Bericht in E/C.12/2001/17, § 1024. 33 CERD: 2 Jahre, CEDAW und CAT: 4 Jahre; CRC und CMW: 5 Jahre. 31
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Berichte fordern.34 Letzteres entspricht auch dem Sinn der vertraglichen Berichtspflicht: Die Vorlage von Berichten erfolgt zum Zwecke ihrer Prüfung durch die Vertragsorgane. Wenn diese die Berichte nicht (oder jedenfalls nicht sobald wie möglich) behandeln können, muss die Berichtsvorlage so ausgestaltet werden, dass eine effektive Kontrolle noch möglich ist. Denkbar wäre es deshalb, die Verlängerung des Berichtszyklus als Anreiz zur Kooperation einzusetzen: So könnte die Vorlage kombinierter Berichte denjenigen Staaten vorbehalten bleiben, welche in den vergangenen zwei Berichtsperioden rechtzeitig Berichte vorgelegt haben. Allerdings hat diese Lösung den Nachteil, dass die mit der Berichterstattung gleichzeitig bezweckte Selbstkontrolle der Staaten entfällt.35 Diese Erwägung legt es nahe, den bisherigen Berichtszyklus beizubehalten, aber einen geringeren Umfang für solche Berichte zu verlangen, deren Prüfung nicht erfolgen kann. Dies praktiziert beispielsweise der CERD-Ausschuss schon jetzt.36 Sinnvoll wäre es zu verlangen, dass sich diese Zwischenberichte auf die Implementierung der Empfehlungen des jeweiligen Ausschusses konzentrieren. Damit ließe sich ohne Verschlechterung der Qualität der Umfang der Berichte verringern – vorausgesetzt, die Staaten erfüllen bei dem reduzierten Zwischenbericht ihre Berichtspflicht ernsthaft. Eine Lösung, die nicht vom guten Willen der Staaten abhängt, könnte darin bestehen, eine neue Form der Kontrolle einzuführen, ob ein Zwischenbericht den Anforderungen entspricht. Zur Entlastung der Vertragsgremien wäre denkbar, dass die Staaten diese Umsetzungskontrolle auf innerstaatlicher Ebene durchführen müssen, beispielsweise in einer öffentlichen Konferenz über den Zwischenbericht. Idealerweise hätte sie unter der Leitung einer unabhängigen nationalen Menschenrechtsinstitution37 und mit Beteiligung von Menschenrechts-NGOs stattzufinden. Über die Ergebnisse dieser Veranstaltung wäre im nächsten Bericht Rechenschaft abzulegen. Der Vorteil dieser Lösung liegt in einer Stärkung nationaler Menschenrechtsinstitutionen und der Zivilgesellschaft in den Vertragsparteien. Ihr Nachteil 34 Dies praktizieren etwa der CERD-Ausschuss, der CRC-Ausschuss sowie ausnahmsweise der CEDAW-Ausschuss und der CAT-Ausschuss, vgl. Report on the Working Methods of the Human Rights Treaty Bodies Relating to the State Party Reporting Process, HRI/MC/2005/4, §§ 33-35. 35 Zu diesem Zweck vgl. den Entwurf des Hochkommissariats für harmonisierte Richtlinien (Anm. 21), § 9. 36 Vgl. den Bericht über die Arbeitsmethoden der Ausschüsse ( Anm. 34), § 33. 37 Diese Menschenrechtsinstitution müsste den von der Generalversammlung in den Pariser Prinzipien formulierten Anforderungen entsprechen, vgl. Principles Relating to the Status of National Human Rights Institutions (The Paris Principles), A/Res/48/134, Annex I (1993).
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ist, dass sie zwar den Umfang der staatlichen Berichtspflicht verringert, aber gleichzeitig den Staaten eine andere Pflicht auferlegt – die Belastung also nur verschiebt.
II. Verbesserung der Berichtsprüfung Diese Überlegungen zeigen, dass der Spielraum für eine nennenswerte Entlastung der Staaten von ihrer Berichtspflicht eng ist. Zudem besteht die Gefahr, dass die Entlastung der Staaten zu einer weiteren Belastung der Vertragsgremien führt, denn die Erfüllung der (erleichterten) Berichtspflicht würde den gegenwärtig bestehenden Rückstau an ungeprüften Berichten vergrößern. Die neuere Praxis einiger Vertragsgremien, in zwei Kammern zu tagen und auf diese Weise doppelt so viele Berichte zu prüfen,38 verheißt hierfür nur vorübergehend Abhilfe. Allein eine deutliche Verlängerung der Sitzungsperioden der Ausschüsse kann eine dauerhafte Entlastung bewirken. Immerhin sind bei einem Vertrag mit 180 Vertragsparteien und 5-jährigem Berichtszyklus pro Jahr 36 Berichte zu prüfen. Setzt man nur einen Tag pro Staatenbericht an – was die unterste Grenze bilden dürfte39 –, wären schon zu diesem Zweck mindestens sieben Sitzungswochen erforderlich und damit mehr, als den meisten Vertragsgremien bislang zur Verfügung steht.40 Hinzu kommen müsste noch Zeit für die anderen Aufgaben, welche die Ausschüsse zu erfüllen haben, z.B. Prüfung von Individualbeschwerden oder Ausarbeitung von Allgemeinen Bemerkungen.41 Zudem ist die Verlängerung der Sitzungsperioden nicht unbegrenzt möglich und hat den unerwünschten Nebeneffekt, den Kreis der potentiellen Ausschussmitglieder zu reduzieren, da sich die Arbeit im Ausschuss dann nur noch schwer mit einer hauptberuflichen Tätigkeit vereinbaren lässt. 38
Vom CRC-Ausschuss erstmals im September 2005 praktiziert (A/RES/59/261); für den CEDAW-Ausschuss hat die Generalversammlung dies erstmalig für das Jahr 2006 gestattet (vgl. A/RES/60/230). 39 Als nicht ausreichend bezeichnet dies der CEDAW-Ausschuss, so Hanna Beate Schöpp-Schilling, Reform der Vertragsorgane des Menschenrechtsschutzes, VN 1/2004, 11-17 (13). 40 Menschenrechtsausschuss und CRC-Ausschuss verfügen über 9 Sitzungswochen jährlich, die Ausschüsse unter CERD, CESCR und CEDAW über 6, der CAT-Ausschuss über 5 und der CMW-Ausschuss über 2 Wochen, vgl. Bericht über die Arbeitsmethoden (Anm. 34), § 51. 41 Vgl. allg.: Eckart Klein, General Comments. Zu einem eher unbekannten Instrument des Menschenrechtsschutzes, in: J. Ipsen/E. Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning (2001), 301-311. Bei CERD und CEDAW als „Allgemeine Empfehlungen“ bezeichnet.
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1. Fokussierte Berichtsprüfung Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie der Umfang des Berichts und seiner Prüfung ohne Qualitätsverlust verringert werden können. Eine Antwort könnte sein, die Berichte und ihre Überprüfung auf bestimmte Sachbereiche zu konzentrieren.42 Schon jetzt listen die Vertragsgremien zur besseren Fokussierung ihrer Berichtsprüfung die klärungsbedürftigen Punkte in ihrer „List of Issues“ vor einer Sitzung auf.43 Allerdings beziehen sich diese Listen auf den gesamten Vertrag; eine Schwerpunktsetzung durch den Ausschuss oder straffe Lenkung der Berichtsprüfung im anschließenden „konstruktiven Dialog“ mit den Staatenvertretern erfolgt nicht.44 Eine wirkliche fokussierte Berichtsprüfung würde voraussetzen, dass sich ein Ausschuss auf genau benannte Sachfragen konzentriert. Ausgangspunkt hierfür könnten seine eigenen abschließenden Bemerkungen und Empfehlungen zu dem Bericht eines Staates sein. Ihre Umsetzung müsste im Vordergrund des folgenden Berichts eines Landes und seiner Überprüfung bilden. Die Regierung wäre zwar gehalten, in ihrem Bericht den Ausschuss auf neu entstandene Probleme hinzuweisen, doch verbliebe dem Ausschuss die Letztentscheidung über die Prioritätensetzung bei der Berichtsprüfung. Jeder Ausschuss könnte hierfür die Einschätzung durch den Staat mit den Erkenntnissen der anderen Vertragsgremien sowie der Länder- und Themenberichterstatter der Menschenrechtskommission abgleichen. Sinnvoll wäre es auch, wenn die Vertragsgremien ihre länderbezogenen Empfehlungen systematisch mit denjenigen der anderen UN-Organe verknüpften. Auf diese Weise würde ein kohärentes Kontrollsystem errichtet, das kontinuierlich öffentlichen Druck aufrechterhält und dessen Autorität vor Ort agierenden NGOs nutzen könnten. Diese Form der fokussierten Berichterstattung setzt allerdings die Bereitschaft voraus, sich von der Illusion zu verabschieden, dass die Berichtsprüfung inhaltlich umfassend sein kann.
2. Verbessertes „Follow-Up“ Eng verbunden mit dem Gedanken fokussierter Berichtsprüfung ist die Idee eines verbesserten Follow-up, d.h. der Kontrolle, inwieweit Empfehlungen des 42 Vorsichtig befürwortend auch James Crawford, The UN Human Rights Treaty System: A System in Crisis?, in: Alston/Crawford (Anm. 17), 1-12 (8). 43 Vgl. zur Praxis der verschiedenen Ausschüsse den Bericht über die Arbeitsmethoden (Anm. 34), §§ 36-36. 44 Vgl. für den CEDAW-Ausschuss: Schöpp-Schilling (Anm. 39), 14.
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Vertragsgremiums umgesetzt worden sind. Einige Ausschüsse haben hierfür spezielle Verfahren eingeführt, die darin übereinstimmen, dass Staaten für besonders wichtige Empfehlungen schon deutlich vor dem nächsten regulären Bericht Informationen vorlegen müssen.45 Dies ist sinnvoll, weil damit die Lösung drängender Probleme gefördert wird. Dass auf diese Weise die Berichtslast der Staaten – jedenfalls in begrenztem Maße – weiter anwächst, ist unvermeidbar, wenn die Berichtsprüfung wirksam sein soll. Allerdings kann dieses Vorgehen wegen der mit ihm einhergehenden zusätzlichen Belastung der Staaten und Vertragsgremien nur im Falle außergewöhnlich schwerer oder häufiger Rechtsverletzungen genutzt werden. Die Umsetzung der übrigen Empfehlungen kann lediglich innerhalb des üblichen Berichtszyklus kontrolliert werden. Wenn sich – wie hier vorgeschlagen – das gesamte Verfahren der Berichtsprüfung durch die Empfehlungen inhaltlich strukturiert und auf sie fokussiert wird, würde das Follow-up durch die Vertragsgremien aber einen deutlich höheren Stellenwert als gegenwärtig erhalten. Die tatsächliche Umsetzung der Empfehlungen, welche für eine Wirksamkeit der Berichtsverfahren entscheidend ist, kann freilich durch die Vertragsgremien nur gefördert werden; Kontrolle kann innerstaatliches Handeln nicht ersetzen. Daher sollte sich die Reformdebatte stärker darauf konzentrieren, wie die Staaten bei der Umsetzung von Empfehlungen unterstützt werden können. So könnte eine unabhängige innerstaatliche Menschenrechtsinstitution eine Konferenz über die Empfehlungen durchführen, an der Regierungsvertreter und NGOs beteiligt sind. Ziel wäre die Ausarbeitung konkreter Umsetzungsstrategien auf nationaler Ebene. Hierüber sowie über die Realisierung dieser Strategien hätte der Staat in seinem Folgebericht Rechenschaft abzulegen.46 Dieses Verfahren praktiziert beispielsweise das Deutsche Institut für Menschenrechte seit einigen Jahren. Denkbar wäre es auch, dass die nationale Menschenrechtsinstitution eine Überprüfungskonferenz rechtzeitig vor der nächsten Berichtsprüfung durchführt und dem jeweiligen Vertragsgremium hierüber berichtet, damit dieses die Einschätzung des Staates kritisch bewerten kann. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Ausschüsse ihre Empfehlungen konkreter formulieren als bisher.47 45
Menschenrechts- und CAT-Ausschuss sehen hierfür eine Frist von einem Jahr vor, CERD- und CESCR-Ausschuss handhaben das Berichtserfordernis flexibel, vgl. Bericht über die Arbeitsmethoden (Anm. 34), §§ 73-76. 46 Hierzu im Einzelnen: Frauke Seidensticker, Examination of State Reporting by Human Rights Treaty Bodies: An Example of Follow-Up at the National Level by National Human Rights Institutions (2005), 21-23. 47 Kritik an der fehlenden Konkretheit von Empfehlungen übt auch Scott Leckie, The Committee on Social, Economic and Cultural Rights: Catalyst for Change in a System Needing Reform?, in: Alston/Crawford (Anm. 17), 129-144 (132 f.).
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3. Berichtsprüfung bei Nichtvorlage von Berichten Die voranstehenden Überlegungen setzen die Bereitschaft von Staaten voraus, ihre Berichtspflicht zu erfüllen. Das Problem fehlenden politischen Willens von Staaten, sich internationaler Kontrolle zu stellen, lösen sie nicht. Hierzu sind weitere Änderungen in den Arbeitsmethoden der Vertragskontrollgremien erforderlich, insbesondere bei ihren Reaktionsmöglichkeiten auf die Nichtvorlage von Berichten. Schon jetzt setzen einige Ausschüsse eine Prüfung ohne Bericht an, wenn ein Staat über lange Zeit hinweg keinen Bericht vorgelegt hat.48 Problematisch hieran ist, dass diese Prüfung nur zu vertraulichen Empfehlungen führt. Dies wird mit dem Schutz legitimer staatlicher Interessen begründet.49 Diese Begründung kann nicht überzeugen: Die Staaten haben sich zur Berichterstattung im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens verpflichtet, um die Erfüllung ihrer materiellen Vertragspflichten kontrollieren zu lassen. Ein legitimes Interesse, die Nichterfüllung geheim zu halten, erkennen die Menschenrechtsverträge also gerade nicht an. Zudem erfolgt eine Prüfung ohne Bericht auch nicht überraschend. Vielmehr kündigen die Vertragsgremien sie frühzeitig an und teilen dem betroffenen Staat vertraulich die „List of Issues“ sowie später ihre vorläufigen Schlussfolgerungen mit. Bei jedem dieser Schritte hat der Staat also Gelegenheit, seine Sicht zu vertreten. Wenn er jedoch beharrlich auf die Wahrnehmung seiner Interessen verzichtet, bedarf er auch keines Schutzes durch Vertraulichkeit nach Abschluss der Prüfung. Eine Veröffentlichung der Empfehlungen würde außerdem anderen UN-Organen und NGOs ermöglichen, deren Umsetzung zu fördern. Schließlich besteht auch ein Interesse aller Vertragsparteien an Information über die Vertragserfüllung durch die übrigen. Eine weitere Sanktionsmöglichkeit besteht außerhalb der Berichtsprüfung, nämlich bei der Entscheidung über die Wahl eines Staates in die Menschenrechtskommission oder ihren geplanten Nachfolger, den Menschenrechtsrat. Zwar hat die Generalversammlung lediglich beschlossen, dass die UN-Mitgliedstaaten bei ihrer Wahlentscheidung den Beitrag eines Kandidaten zu Schutz und Förderung der Menschenrechte berücksichtigen sollen.50 Aber als Indiz hierfür lässt sich die Erfüllung der Berichtspflichten nach den Menschenrechtsverträgen heranziehen. Sinnvoll wäre eine öffentliche Selbstverpflichtung von Staaten, dieses Kriterium zu berücksichtigen. Bislang haben jedoch Mitgliedstaaten nur erklärt, solche Staaten nicht zu wählen, gegen die der Sicherheitsrat Sanktionen wegen Men48 49 50
Vgl. den Bericht über die Arbeitsmethoden (Anm. 34), §§ 78-80. Christian Tomuschat, Human Rights – Between Idealism and Realism (2003), 153. Resolution der Generalversammlung A/RES/60/251 (2006), § 8.
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schenrechtsverletzungen verhängt hat.51 Außerdem sollen die Mitglieder des Menschenrechtsrats einem „universal periodic review mechanism“ unterworfen werden.52 Da dessen Ausgestaltung noch offen ist, besteht die Möglichkeit, auch hier die Erfüllung der Berichtspflichten einzubeziehen.53
III. Ausgestaltung des „Unified System“ Neben der Verbesserung des Berichtsprüfungsverfahrens, die sich zur Zeit auf den gemeinsamen Kernbericht konzentriert, kreist die Reformdebatte um die Frage nach der Ausgestaltung des „vereinheitlichten Systems“ der Vertragsgremien. Hierbei stehen sich eine nur verbesserte Koordination zwischen den Ausschüssen und die Idee eines gemeinsamen Kontrollgremiums gegenüber. Diese Diskussion wird sich im Sommer 2006 intensivieren, nachdem nun das Konzeptpapier der Hochkommissarin für Menschenrechte vorliegt.54
1. Verbesserte Koordination zwischen den Ausschüssen in anderen Bereichen Dass die Vertragsgremien ihre Tätigkeiten besser abstimmen sollten, ist eine oft erhobene und kaum bestreitbare Forderung.55 Dies legt schon die inhaltliche Überschneidung der Verträge nahe. Hier bietet sich die Ausarbeitung gemeinsamer Allgemeiner Bemerkungen an.56 Sie würde einen ganzheitlichen Ansatz des Menschenrechtsschutzes fördern und die Kooperation der Ausschüsse über den bisherigen Austausch in verfahrenstechnischen Fragen substanziell fortentwickeln. 51 So etwa die EU, Australien, Kanada und Neuseeland, vgl. UN-Pressemitteilung GA/10449 vom 15. März 2006, . 52 RES/A/60/251 (Anm. 50), § 9. 53 So auch der im Vorfeld debattierte Vorschlag des „Peer Review“, hierzu Gunnar Theissen, Der neue Menschenrechtsrat der VN, Vereinte Nationen 3 (2006). 54 Vgl. Anm. 12. 55 Vgl. hierzu z.B. Cees Flinterman: United Nations Human Rights Reform: Some Reflections of A CEDAW-Member, Neth.Q.H.R. 21 (2003), 621-624; Eric Tistounet, The Problem of Overlapping among Different Treaty Bodies, in: Alston/Crawford (Anm. 17), 383-401 (400 f.). Vergleichende Studie der bisherigen Konvergenz bei Wouter Vandenhole, The Procedures before the UN Human Rights Treaty Bodies: Divergence or Convergence? (2004). 56 Die befürwortet auch das 4th Inter-Commitee Meeting (Anm. 11), § 18.
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Solche allgemeinen Bemerkungen dürften allerdings nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner enthalten, sondern müssten einen Problembereich aus der Perspektive aller Verträge erfassen. Bezogen auf das Recht auf Leben wären beispielsweise die typischen Verletzungssituationen für Frauen (familiäre Gewalt, sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten) oder für Kinder (Kinderhandel, Tötung neugeborener Mädchen) zu betonen und diejenigen wirtschaftlichen Rechte hervorzuheben, die eng mit diesem Recht verbunden sind (z.B. Recht auf Nahrung, Recht auf Wasser). Weitere Möglichkeiten zur Koordinierung bestehen hinsichtlich des Umgangs mit Vorbehalten,57 sowie bei der hier vorgeschlagenen Festlegung von Schwerpunktthemen, welche die Berichtsprüfung leiten könnten, und bei der Formulierung von Empfehlungen. Über solche Koordination hinaus ist auch Kooperation denkbar. Soweit Vertragsgremien die Befugnis haben, Untersuchungen in einzelnen Mitgliedstaaten durchzuführen,58 wären etwa – nach dem Vorbild der außervertraglichen Kontrollverfahren – gemeinsame Vor-Ort-Missionen möglich.59 Bezüglich der Behandlung von Individualbeschwerden könnte eine engere Verbindung zwischen den Verträgen hergestellt werden, indem der Menschenrechtsausschuss auch für Beschwerden nach anderen Verträgen zuständig wird. Dies wird etwa für den Wirtschafts- und Sozialpakt vorgeschlagen,60 und würde lediglich der Regelung in einem neuen Fakultativprotokoll zum CESCR bedürfen. Allerdings ist dies kein Vorschlag zur Arbeitsentlastung der Vertragsgremien; umgekehrt dürfte die Belastung des Menschenrechtsausschusses auch nicht signifikant steigen, weil dieser heute schon erheblich mehr Individualbeschwerden behandelt als die übrigen Ausschüsse.61 Ziel dieses Planes ist es, im Sinne einer ganzheitlichen Betrach57
Hierzu hat das 4th Inter-Commitee Meeting eine vorbereitende Arbeitsgruppe eingesetzt, aaO (Anm. 11), § 14. 58 Vgl. die Fakultativprotokolle zum CEDAW (Art. 8), BGBl. (2001 II), 1238, und zum CAT (Art. 11) A/RES/57/199 (2002). 59 Hierzu Julia Raue/Beate Rudolf, Die Zukunft der Sondermechanismen der UNMenschenrechtskommission, Vereinte Nationen 1/2 (2006). 60 So Martin Scheinin auf der Konferenz der französischen Regierung und der International Commission of Jurists in Nantes, 5.-7. November 2005, und in der Online-Diskussion des Hochkommissariats, . 61 CCPR: 1.432 Individualbeschwerden seit 1976 entschieden, 293 gegenwärtig anhängig, (Stand: 10.11.2005); CERD: 35 seit 1982 entschieden, 3 anhängig, vgl. (Stand: 15. Februar 2006); CAT: 66 seit 1987 entschieden, 47 anhängig (Stand: 15. 2. 2006); CEDAW: 3 seit 2000 entschieden; Anzahl der anhängigen nicht feststellbar (Stand: 1.3.2006).
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tung der Menschenrechte eine weitere Verschränkung zwischen den Menschenrechtsverträgen einzuführen. Er kann zudem Vorläufer für den weitergehenden Entwurf sein, ein einheitliches Kontrollgremium für alle Verträge einzuführen.
2. Schaffung eines gemeinsamen Kontrollorgans für alle Menschenrechtsverträge? Die Idee eines gemeinsamen Vertragsausschusses wird insbesondere von der Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, nachdrücklich befürwortet.62 Für eine solche Zusammenführung spricht die zu erwartende Zunahme von Vertragsgremien in der Zukunft, etwa im Rahmen der geplanten Konventionen über die Rechte von Menschen mit Behinderung63 oder über „Verschwindenlassen“.64 Die Errichtung eines gemeinsamen Ausschusses würde zudem der Gefahr der Zersplitterung des Menschenrechtsschutzes entgegenwirken. Zudem könnte ein solches Gremium, das wegen seiner Arbeitsbelastung ständig tagen müsste, schneller und damit wirkungsvoller Eilaktionen65 durchführen, sobald es Informationen über akute Menschenrechtsverletzungen erhält. Schließlich würde auf diese Weise an die Stelle der mühsamen Koordinierung ein einheitliches Vorgehen treten. Trotz dieser Vorteile stößt der Vorschlag zu Recht auf Kritik.66 Die Mehrheit von Vertragsgremien ist nämlich auch vorteilhaft: Sie ermöglichte bislang einen Wettbewerb zwischen den Ausschüssen und damit die Herausbildung und Erprobung neuer Lösungsansätze.67 Durch eine Zusammenlegung droht ein Verlust der Expertise der einzelnen Vertragsgremien sowie ein Verwischen der vertragsspezifischen Besonderheiten zugunsten eines kleinsten gemeinsamen Nenners.
62
Vgl. OHCHR Action Plan (Anm. 12), § 147. Draft Comprehensive and Integral International Convention on the Protection and Promotion of the Rights and Dignity of Persons with Disabilities (unvollständiger Entwurf der ad hoc Arbeitsgruppe), A/AC/265/2006/1, Annex I. 64 International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance, (ausgearbeitet von einer Arbeitsgruppe der Menschenrechtskommission), E/ CN.4/2005/WG.22/WP.1/Rev.4. 65 Bisher führen nur der Menschenrechts- und der CERD-Ausschuss Eilaktionen durch, vgl. Bericht über die Arbeitsmethoden (Anm. 34), §§ 81-83. 66 Z.B. auf dem 17. Treffen der Vorsitzenden der Vertragsgremien (Anm. 10), § 13. 67 So auch Craig Scott, Bodies of Knowledge: A Diversity Promotion Rule for the UN High Commissioner for Human Rights, in Alston/Crawford (Anm. 17), 403-437 und Tomuschat (Anm. 49), 155. 63
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Letztlich wird auch ein gemeinsamer Ausschuss, der alle Funktionen der bisherigen Vertragsgremien erfüllt, der befürchteten Zersplitterung des Menschenrechtsschutzes nicht entgegenwirken können. Denn wenn nicht gleichzeitig „durch die Hintertür“ der abgelehnte Vorschlag eines einzigen Berichts pro Staat eingeführt werden soll, wird der Ausschuss wegen der erheblichen Zahl von zur Prüfung anstehenden Berichten in mehreren Kammern tagen müssen.68 Wenn diese dann nach Verträgen strukturiert würden, wäre zwar die besondere Perspektive der jeweiligen Verträge gewahrt, aber nichts gegenüber dem gegenwärtigen Zustand gewonnen. Eine Strukturierung nach regionalen Kriterien könnte die Kritik auf sich ziehen, dass mit unterschiedlichem Maß gemessen wird, und bedürfte deshalb einer zusätzlichen Koordinationsinstanz. Gegen eine Differenzierung zwischen den Kammern nach Funktionen – Berichtsprüfung, Individualbeschwerden und Allgemeine Bemerkungen – spricht, dass das bisherige System gerade von dem Wissenstransfer zwischen den verschiedenen Bereichen profitiert hat. Deshalb sollte die Debatte über den gemeinsamen Ausschuss genutzt werden, einen qualitiativen Schritt zur Verbesserung des internationalen Menschenrechtsschutzes zu tun, hin zur Schaffung eines zusätzlichen gerichtlichen Kontrollverfahrens. Denkbar wäre es, gegen die Entscheidung eines Vertragsgremiums im Individualbeschwerdeverfahren ein Rechtsmittel zu einem Internationalen Menschenrechtsgerichtshof einzuführen. Dieses könnte – ähnlich wie im gegenwärtigen System der EMRK – zulässig sein, wenn der Fall eine grundsätzliche Frage aufwirft oder das Vertragsgremium von der Spruchpraxis eines anderen Vertragsgremiums abgewichen ist.69 Hiermit würde eine Einheitlichkeit in der Auslegung der Menschenrechte erreicht, bei der die Unterschiede zwischen einzelnen Verträgen berücksichtigt werden müssten. Gleichzeitig würde auf diese Weise die Verrechtlichung des internationalen Menschenrechtsschutzes vorangetrieben.
C. Fazit Ausgangspunkt der Reformdebatte im Bereich der Vertragsgremien waren die Überlastung der Ausschüsse und der Staaten sowie die Notwendigkeit für die UNO, ihre Strukturen dem Stellenwert des Menschenrechtsschutzes angemessen auszugestalten. Wie aufgezeigt, ist der Spielraum für eine spürbare Entlastung der 68
Im Idealfall wären für alle 7 Verträge 191 Berichte zu prüfen. Bei einem (z.T. verlängerten) Berichtszyklus von 5 Jahren wären pro Jahr 267 Berichte zu prüfen, d.h. bei nur einem Tag pro Berichtsprüfung würde diese alleine die Kapazitäten des gemeinsamen Ausschusses ausschöpfen, ohne dass die übrigen Aufgaben erfüllt werden könnten. 69 Art. 30 und Art. 43 Abs. 2 EMRK.
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Staaten bei gleichzeitiger Erhaltung des gegenwärtigen Schutzniveaus gering. Die Reformdiskussion birgt daher die Gefahr des Rückschritts in sich, zumal Staaten, welche kritische UN-Öffentlichkeit fürchten, versuchen werden, die Gelegenheit zu nutzen, um unter dem Deckmantel der Effizienzsteigerung den Menschenrechtsschutz inhaltlich zu schwächen. Insbesondere wird also darauf zu achten sein, dass die Anforderungen an den neuen Kernbericht so ausgestaltet werden, dass sie nicht zu einer Entwertung des vertragsspezifischen Berichts und zu einer Aufgabe des erreichten Erkenntnisstands führen. Soweit es um eine Entlastung der Vertragsgremien geht, dient die hier vorgeschlagene Neuausrichtung der Berichtsprüfung hin auf eine klare und konzertierte Schwerpunktsetzung zugleich auch dem weiteren Reformziel, die Tätigkeit der UNO stärker zu fokussieren. Mit der Schaffung einer zusätzlichen gerichtlichen Kontrolle würde schließlich der Menschenrechtsschutz auf universeller Ebene eine neue inhaltliche Stufe erreichen.
Das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Vereinten Nationen Von Oliver Dörr
A. Einleitung Gewalt und Krieg hat es in den internationalen Beziehungen zu jeder Zeit gegeben – und zwar unabhängig davon, ob sie völkerrechtlich verboten waren oder nicht. Immerhin war seit Gründung der Vereinten Nationen der Begründungsaufwand, den ein Staat leisten musste, um die Anwendung militärischer Gewalt zu rechtfertigen, beträchtlich gewachsen – und mit ihm die Skrupel der meisten Staaten, einen solchen Aufwand zu betreiben. Einhellig war der in der UN-Charta dokumentierte Wille der Staatengemeinschaft, dass die autonome staatliche Waffengewalt aufgrund souveränen Beschlusses einer einzelnen Regierung der Vergangenheit angehören sollte. Mit dem Irak-Krieg aber, den eine Staatenkoalition „der Willigen“ unter Führung der USA im März 2003 begann, erhielt das Verhältnis der Staaten zur Anwendung militärischer Gewalt eine neue Dimension: Zum ersten Mal seit Gründung der Vereinten Nationen wurde das völkerrechtliche Gewaltverbot, eine der Säulen der Organisation, nicht nur tatsächlich verletzt, sondern von einem wesentlichen player der Staatengemeinschaft auch normativ in Frage gestellt – jedenfalls vordergründig. In ihrer neuen Sicherheitsstrategie, die im September 2002 veröffentlicht wurde, nehmen die USA angesichts der neuartigen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus für sich das Recht zur einseitigen, vorbeugenden Gewaltanwendung in Anspruch.1 Keine Rede ist mehr von der Waffengewalt, die nur noch im gemeinsamen Interesse der Staatengemeinschaft und nur noch durch 1
Vgl. The National Security Strategy of the United States of America (September 2002), http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf, unter V.; konkretisiert vom Rechtsberater des State Department, W.H. Taft, IV, The Legal Basis for Preemption, http://www.cfr.org/ publication.php?id=5250. Ähnlich auch noch die National Defense Strategy v. März 2005 (Volltext unter http://www.defenselink.mil), II. vor C.: „At the direction of the President, we will defeat adversaries at the time, place, and in the manner of our choosing[…]“.
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diese legitimiert angewendet werden soll, wie es noch die UN-Charta formuliert.2 Dieser Tendenz entsprechen mündliche Stellungnahmen, wie diejenige von Richard Perle, der im November 2003 mit Blick auf die Irak-Invasion schlicht erklärte: „I think in this case international law stood in the way of doing the right thing“.3 Das Gewaltverbot der Charta scheint damit prinzipiell zur Disposition zu stehen. Dieser unilaterale Ansatz, vor allem die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Begründungen, werfen für den Völkerrechtler im Wesentlichen drei Fragen auf: Wo steht das geltende Völkerrecht in Bezug auf die Anwendung staatlicher Gewalt? Taugt es zur Eindämmung der Bedrohungen, welchen sich die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts gegenüber sieht? Und welche Rolle spielen hierbei die Vereinten Nationen, die von der Charta doch als organisierte Hoheitsgewalt zur Gewährleistung von Frieden und Sicherheit konzipiert sind? Nach einigen grundsätzlichen Bemerkungen zum völkerrechtlichen Gewaltverbot (B.) wird es vor allem um die zulässigen Ausnahmen dazu (C.) und um die Rechtsfolgen seiner Verletzung gehen (D.), bevor die Rolle des UN-Sicherheitsrats bei der Durchsetzung des Gewaltverbots beleuchtet wird (E.).
B. Das Gewaltverbot als Grundnorm der internationalen Ordnung Die völkerrechtliche Begrenzung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen ist eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Bis zum Ende des 1. Weltkrieges gehörte es zu den wesentlichen Attributen des souveränen Staates, jederzeit Krieg führen zu dürfen, um seine außenpolitischen Interessen durchzusetzen. Beschränkungen dieses souveränen Rechts ergaben sich nur mittelbar durch die Regeln über Kampfmittel und -methoden, das sog. ius in bello, das sich vor allem seit der Haager Friedenskonferenz von 1907 sprunghaft entwickelte. Erst in der Ära des Völkerbundes nach 1919 entstand – nicht zuletzt unter dem Eindruck des zu Ende gegangenen Weltkrieges – ein neues Verständnis internationaler Ordnung. Die Ächtung des Krieges und schließlich die Gewaltlosigkeit zwischen Staaten wurde zum wichtigsten Grundwert dieser Ordnung. Die Völkerbundsatzung selbst enthielt in Art. 12 ein Kriegsmoratorium sowie für den Fall, dass der Völkerbundsrat eine einstimmige Empfehlung zur Streitbeilegung beschlossen hätte, ein Verbot des Krieges in Art. 15 VI. Eine solche Einstimmigkeit 2
Vgl. Abs. 7 der Präambel. Zitiert nach The Guardian v. 20.11.2003: „War critics astonished as US hawk admits invasion was illegal“, http://www.guardian.co.uk. 3
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kam jedoch in keinem einzigen Fall zustande, so dass es bei der Rechtsfolge von Art. 15 VII blieb, wonach „The Members of the League reserve to themselves the right to take such action as they shall consider necessary for the maintenance of right and justice.“
Ein wesentlicher Meilenstein in dieser Entwicklung war der Kellogg-BriandPakt von 1928, in dem alle Vertragsparteien auf den „Krieg als Werkzeug nationaler Politik“ verzichteten. Die Charta der Vereinten Nationen schuf 1945 eine neue völkerrechtliche Grundlage sowohl für das materiell-rechtliche Gewaltverbot als auch für seine kollektive Durchsetzung durch die Staatengemeinschaft. Art. 2 Ziffer 4 der Charta untersagt den Mitgliedstaaten grundsätzlich jede Androhung oder Anwendung von Gewalt in ihren internationalen Beziehungen. Jede militärische Gewalt – nicht mehr nur der Krieg – eines Staates gegen einen anderen ist damit völkerrechtswidrig. Nach Kapitel VII der Charta obliegt es dem UN-Sicherheitsrat, im Falle einer Friedensbedrohung oder einer Angriffshandlung Maßnahmen gegen den Aggressor zu beschließen und durchzusetzen. An solche Beschlüsse sind alle UN-Mitgliedstaaten gebunden (näher unten E.).4 Das umfassende Gewaltverbot des Art. 2 (4) UN-Charta entwickelte sich in der Folgezeit zum tragenden Grundpfeiler der Vereinten Nationen und der gesamten internationalen Ordnung.5 Es wurde von allen Staaten auch außerhalb der Vereinten Nationen als wesentliche Richtschnur ihres außenpolitischen Handelns anerkannt und erlangte so die Qualität universellen Völkergewohnheitsrechts. Der Internationale Gerichtshof (IGH) bestätigte dies 1984 in seiner NicaraguaEntscheidung6 und zuletzt 2004 in seinem Gutachten zur Israelischen Mauer um die besetzten Gebiete.7 Hier fügte der Gerichtshof übrigens hinzu, dass als Ausfluss des Gewaltverbots auch der gewaltsame Gebietserwerb gewohnheitsrechtlich verboten sei.8 Alle Staaten und internationalen Organisationen sind daher gehalten, die aus einer illegalen Gewaltanwendung resultierende Situation nicht anzuerkennen.
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Und zum Teil auch die von ihnen getragenen Organisationen: Das Gericht erster Instanz der EU erklärte im Yusuf-Urteil v. 21.9.2005, dass auch die EG an die UN-Charta und verbindliche Sicherheitsratsbeschlüsse rechtlich gebunden sei, vgl. Rs. T-306/01, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2005, 592, Rn. 244-257. 5 Statt aller A. Randelzhofer, Article 2(4), in: B. Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, 2. Aufl. (2002), Rn. 12. 6 Military and Paramilitary Activities In and Against Nicaragua (Jurisdiction and Admissibility), ICJ Reports 1984, 392, § 73. 7 Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Rechtsgutachten v. 9.7.2004, § 87, Text unter http://www.icj-cij.org. 8 Ebenda, §§ 87 und 117.
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Darüber hinaus ist das Gewaltverbot heute als ein Satz des ius cogens anerkannt, also als zwingende Völkerrechtsnorm, von der die Staaten auch im Rahmen einer vertraglichen Einigung nicht abweichen können.9 Unberührt davon bleibt freilich die Möglichkeit jedes Staates, der Anwesenheit fremder Truppen auf seinem Staatsgebiet freiwillig zuzustimmen. Die Voraussetzungen dafür hat der IGH erst kürzlich im Verfahren zwischen Kongo und Uganda untersucht.10 Im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg 2003 hatten vor allem U.S.-amerikanische Völkerrechtler die Fortgeltung des allgemeinen Gewaltverbots bestritten und sein Erlöschen vor allem damit begründet, dass das UN-System untauglich sei, den Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus wirksam entgegenzutreten.11 Dieser kurzsichtige Versuch, die außenpolitischen Handlungsoptionen der USA zu erweitern, hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Denn zum einen gilt das Gewaltverbot in Art. 2 (4) UN-Charta weiterhin als Bestandteil dieses völkerrechtlichen Vertrages fort – die Charta ist von keiner Seite gekündigt worden. Vor allem aber hat die übergroße Mehrheit der Staaten aus Anlass der AfghanistanIntervention 2001 sowie insbesondere des Irak-Krieges 2003 ihr grundsätzliches Festhalten an dieser Fundamentalnorm bekräftigt. Und auch die USA und ihre „Koalition der Willigen“ haben dadurch, dass sie den Angriff auf den Irak mit Hilfe völkerrechtlicher Ausnahmeregeln zu rechtfertigen suchten, den Fortbestand der Grundregel implizit anerkannt. Der Konsens in der Staatengemeinschaft, dass militärische Gewalt eines Staates gegen einen anderen grundsätzlich verboten und damit völkerrechtswidrig ist, besteht also nach wie vor.12 Dies ist angesichts des gewaltigen Zerstörungspotentials der modernen Waffentechnik auch rechtspolitisch ohne ernsthafte Alternative: Ein souveränes Recht zur Gewaltanwendung, vergleichbar dem internationalen Faustrecht des 19. Jahrhunderts, würde unter den technischen Bedingungen unserer Zeit praktisch jede internationale Ordnung in Frage stellen. Die Erhaltung eines wirksamen völkerrechtlichen Gewaltverbots ist daher nicht zuletzt ein Gebot der praktischen Vernunft. 9 Vgl. Art. 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge von 1969. Kürzlich in diesem Sinne auch das Bundesverwaltungsgericht, Neue Juristische Wochenschrift (2006), 77 (82). 10 Vgl. Case concerning Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of Congo v. Uganda), Urteil v. 19.12.2005, §§ 42-53 (http://www.icj-cij.org). 11 Z.B. M. J. Glennon, The Rule of Law is Breaking Down, International Herald Tribune v. 22.11.2002, S. 8; ders., Why the Security Council Failed, Foreign Affairs 82 (2003), No. 3, 22-24; Th. M. Franck, What Happens Now? The United Nations after Iraq, American Journal of International Law 97 (2003), 607 (610). 12 Ebenso z.B. G. Nolte, Zu Wachstum und Krisen des Völkerrechts in sechzig Jahren Vereinte Nationen, in: Vereinte Nationen 2005, 190 (192).
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C. Ausnahmen für einzelstaatliche Gewaltanwendung Doch wie bekanntlich rigide Rechtlichkeit höchste Ungerechtigkeit hervorbringt,13 ist auch das völkerrechtliche Gewaltverbot ohne Ausnahmen nicht denkbar. Ein ausnahmsloses Verbot, das es auch in Zeiten höchster Not jedem Staat untersagte, seine Existenz und existentiellen Interessen notfalls mit Gewalt zu wahren, wäre für viele Staaten inakzeptabel und würde damit den internationalen Konsens, auf dem die völkerrechtliche Norm beruht, zerstören. Dementsprechend sieht die UN-Charta selbst in Art. 51 als wichtigste Ausnahme das Recht zur Selbstverteidigung vor. Andere Ausnahmen, die in der Völkerrechtslehre allerdings sehr umstritten sind, entwickeln sich als Gewohnheitsrecht in der Staatenpraxis. Sicherlich muss das Instrument der Ausnahme sehr zurückhaltend eingesetzt werden, um das Gewaltverbot als Grundregel nicht zu unterlaufen und diesen wesentlichen Stützpfeiler der Völkerrechtsordnung vor einer Aushöhlung zu bewahren. Dank seiner Dynamik und Flexibilität aber bietet es die Möglichkeit, veränderten Gefahrenlagen wirksam zu begegnen und dennoch die Staaten nicht aus dem disziplinierenden Regelwerk des Völkerrechts zu entlassen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Anwendungsbereich und Reichweite des Selbstverteidigungsrechts heute im Mittelpunkt der völkerrechtlichen Debatte stehen. Die internationale Praxis geht allerdings inzwischen darüber hinaus und kennt, jedenfalls ansatzweise, weitere Ausnahmeregeln (dazu II. und III.).
I. Selbstverteidigungsrecht Art. 51 UN-Charta erlaubt die individuelle und kollektive Selbstverteidigung nur im Falle eines „bewaffneten Angriffs“ (armed attack). Ohne einen solchen gibt es im geltenden Völkerrecht kein Recht zur Selbstverteidigung.14 Die praktische Verbotswirkung des Gewaltverbots bestimmt sich daher ganz maßgeblich nach dem Konzept des armed attack: Was macht die besondere Qualität eines solchen Angriffs aus? Wer kann in diesem Sinne „angreifen“, d.h. gegen wen darf sich die darauf folgende Verteidigungsmaßnahme richten? Wann ist die Schwelle zu einem solchen Angriff überschritten? Wie lange dauert dieser an?
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Nach Cicero, De officiis I, 10, 33: summum ius summa iniuria. Vgl. zuletzt IGH (Anm. 10), §§ 146-148.
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Auf alle diese Fragen kennt auch das moderne Völkerrecht – heute weniger denn je – keine eindeutigen Antworten. Immerhin aber ergeben sich aus internationaler Praxis und wissenschaftlicher Diskussion einige Eingrenzungen, die eine inhaltliche, personelle und zeitliche Präzisierung des „bewaffneten Angriffs“ erlauben. Dadurch erhält das moderne Selbstverteidigungsrecht Konturen, welche dafür sorgen, dass die Staaten ihre ansonsten strikte Bindung an das Gewaltverbot – jedenfalls im Großen und Ganzen – weiterhin akzeptieren.
1. Inhaltliche Präzisierung Inhaltlich ergibt sich aus der Rechtsprechung des IGH nur, dass ein „bewaffneter Angriff“ eine massive militärische Gewaltanwendung darstellt. Diese besondere Qualität wird anhand des Ausmaßes der Gewalt und ihrer Wirkungen („scale and effects“) gemessen und unterscheidet den „bewaffneten Angriff“ von einem reinen Grenzzwischenfall.15 Es tut sich im Konzept der UN-Charta also eine problematische Divergenz auf zwischen dem Eingreifen des Gewaltverbots und der Schwelle eines „bewaffneten Angriffs“, ab welcher der Angegriffene erst zurückschlagen darf. Gegen die „kleine Gewalt“ unterhalb dieser Schwelle steht eine „kleine Selbstverteidigung“ nach geltendem Recht nicht zur Verfügung.16 Hier soll nach dem Konzept der UNSicherheitsrat für den angegriffenen Staat in die Bresche springen und gegen den Aggressor vorgehen […]. Unklar ist damit weiterhin, ob nicht nur der kompakte Großangriff einen armed attack darstellt, sondern auch eine Vielzahl kleiner Übergriffe quasi nach Art von „Nadelstichen“ diese Schwelle erreichen kann. Vor allem Israel und die Türkei, die solchen Attacken in der Vergangenheit aus dem Südlibanon bzw. dem Nordirak ausgesetzt waren, haben dies regelmäßig als Auslösung einer Selbstverteidigungslage interpretiert, und der Internationale Gerichtshof hielt einen solchen „summierenden Angriff“ im „Plattform“-Fall 2003 immerhin für möglich.17 Gesichert ist im Übrigen, dass ein „bewaffneter Angriff“ nur von außen auf das Gebiet eines Staates erfolgen kann. Bedrohungen, die auf dem vom Staat selbst 15
Vgl. Military and Paramilitary Activities In and Against Nicaragua (Merits), ICJ Reports 1986, 14, §§ 191, 195; bestätigt in Case concerning Oil Platforms (Merits), Urteil v. 6.11.2003, §§ 51 und 64. Näher Randelzhofer (Anm. 5), Art. 51 Rn. 17-36. 16 Für eine solche Abstufung aber vor allem B. Simma in Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. (1984), § 472, und im Sondervotum zum Case concerning Oil Platforms (Anm. 15), § 12. 17 Vgl. Case concerning Oil Platforms (Anm. 15), § 64.
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beherrschten Gebiet entstehen, lösen das Selbstverteidigungsrecht nicht aus. Daher konnte Israel die Errichtung einer Mauer um die besetzten palästinensischen Gebiete 2004 nicht auf diese Weise rechtfertigen.18
2. Personelle Eingrenzung In personeller Hinsicht ergibt sich aus dem System des Völkerrechts, dass der „Angriff“ einem anderen Völkerrechtssubjekt zurechenbar sein und damit im Rechtssinne von diesem ausgehen muss. Das bedeutet nicht, dass ein anderer Staat den Angriff selbst mit eigenen Truppen führen muss. Schon im Nicaragua-Urteil 1986 hatte der IGH einen „bewaffneten Angriff“ auch darin gesehen, dass ein Staat bewaffnete Rebellen oder sonstige Private auf das Gebiet eines anderen Staates regelrecht „entsendet“.19 Die internationale Praxis geht unter dem Eindruck der Terrorangriffe vom 11. September 2001 mittlerweile darüber hinaus und ordnet auch die private Gewaltanwendung, wenn sie das Ausmaß einer staatlichen Militäraktion erreicht,20 als „bewaffneten Angriff“ ein: Der UN-Sicherheitsrat hatte unmittelbar nach den Terroranschlägen und mit Bezug auf diese das Selbstverteidigungsrecht der USA ausdrücklich betont und letztere also wohl in einer solchen Verteidigungssituation gesehen.21 Und auch der Beschluss des NATO-Rates vom 12.9.2001, der den Bündnisfall gemäß Art. 5 NATO-Vertrag feststellte, beruhte auf dieser Annahme. In einem Fall privater Gewalt fragt sich dann, wer Adressat der Selbstverteidigung sein kann, d.h. gegen wen der angegriffene Staat gewaltsam vorgehen darf. In einem völkerrechtlichen Sinne können die Privaten selbst es nicht sein, da ihnen die Völkerrechtsfähigkeit fehlt und sie somit nicht Partei eines völkerrechtlichen Rechtsverhältnisses sein können.22 Und dies sollte auch so bleiben, da ansonsten 18 19 20
Vgl. IGH (Anm. 7), § 139. Military and Paramilitary Activities (Anm.15), § 195. Näher dazu z.B. H.-G. Dederer, Krieg gegen Terror, Juristenzeitung 2004, 421 (424-
426). 21 SR-Res. 1368 (2001), Abs. 3 der Präambel; SR-Res. 1373 (2001), Abs. 4 der Präambel. 22 Ebenso z.B. Dederer (Anm. 20), 426. Anders wohl Th. Bruha, Gewaltverbot und humanitäres Völkerrecht nach dem 11. September 2001, Archiv des Völkerrechts (AVR) 40 (2002), 383 (390) m.w.N.; M. Krajewski, Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe nicht-staatlicher Organisationen – Der 11. September 2001 und seine Folgen, AVR 40 (2002), 183 (202). De lege ferenda schon J. Delbrück, Effektivität des Gewaltverbots – Bedarf es einer Modifikation der Reichweite des Art. 2 (4) UN-Charta?, Friedenswarte (FW) 1999, 139 (156).
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das völkerrechtliche Gewaltverbot seine begrenzende Funktion nicht mehr erfüllen kann. Aus dem Blickwinkel des Gewaltverbots ist ein militärisches Vorgehen gegen Private daher stets Terrorbekämpfung und nicht Selbstverteidigung. Völkerrechtlich legitimierte Verteidigungsgewalt kann sich nur gegen einen anderen Staat richten, dem der private Angriff völkerrechtlich zuzurechnen ist.23 Über die Kriterien für diese Zurechnung aber, die also für die personelle Reichweite des Selbstverteidigungsrechts von entscheidender Bedeutung sind, besteht keine Einigkeit. Die regelrechte „Entsendung“ privater Gewalttäter begründet unproblematisch die Zurechnung zum Entsendestaat.24 Ebenso anerkannt ist, dass ein Staat, der sein Staatsgebiet für private Angriffe gegen einen anderen zur Verfügung stellt oder solche Angriffe duldet, seinerseits zum Angreifer wird.25 Im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen die Taliban in Afghanistan hat sich ein weiterer Zurechnungsgrund in der Praxis herausgebildet: Nunmehr gilt auch derjenige Staat als legitimes Ziel der Selbstverteidigung, der private Gewalttäter durch die Gewährung von Unterschlupf (safe haven) unterstützt. Auch die nachträgliche Zufluchtgewährung für Terroristen macht einen Staat also im Nachhinein zu einem Angreiferstaat, wenn diese zuvor einen Anschlag vom Ausmaß eines „bewaffneten Angriffs“ begangen haben.26 Im Übrigen aber darf ein unbeteiligter Drittstaat, dem weder Unterstützung noch Duldung privaten Terrors vorzuwerfen ist, nicht zum Adressaten von Verteidigungsmaßnahmen gemacht werden. Dies ergibt sich aus dem System der UN-Charta, das ersichtlich davon ausgeht, dass ein Staat, der sich völkerrechtskonform verhält, nicht von einzelnen Staaten mit militärischer Gewalt überzogen werden darf. Auch ein möglicher Notstand ermächtigt daher einen angegriffenen Staat grundsätzlich nicht, zum Zwecke der Angriffsabwehr auf das Territorium eines Drittstaates auszugreifen. Dies wäre nur zulässig, wenn der betreffende Staat ad hoc zustimmt oder aber vertraglich zur Mitwirkung an der Verteidigung verpflichtet ist (kollektives Verteidigungsbündnis).
23 Ebenso z.B. T. Stein/Chr. v. Buttlar, Völkerrecht, 11. Aufl. 2005, Rn. 788. Den notwendig zwischenstaatlichen Charakter der Selbstverteidigung hebt in jüngerer Zeit auch die Rechtsprechung des IGH deutlich hervor, vgl. z.B. in Legal Consequences (Anm. 7), § 139, und in Armed Activities (Anm. 10), § 146. 24 Oben bei Anm. 19. 25 Vgl. schon Art. 3 Buchst. f) der Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung, GV-Res. 3314 (XXIX) v. 14.12.1974. 26 Stein/v. Buttlar (Anm. 23), Rn. 791, 846; Randelzhofer (Anm. 5), Art. 51 Rn. 34. Noch weiter gehen will Dederer (Anm. 20), 427, und eine Zurechnung bereits dann annehmen, wenn der betreffende Staat „die […] Gefahr eines Terrorakts geschaffen oder erhöht hat“.
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3. Zeitliche Eingrenzung Die zeitliche Komponente des Selbstverteidigungsrechts hat in Praxis und Lehre zu zahlreichen Zweifelsfragen geführt, die sich sowohl auf den Beginn als auch auf das Ende der Selbstverteidigungslage beziehen.
a) Prävention Im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg 2003, den die USA jedenfalls partiell als „preemptive strike“ orchestrierten,27 stellte sich die Frage, wie weit die aus einem „bewaffneten Angriff“ erwachsende Bedrohungssituation antizipiert werden kann, d.h. unter welchen Umständen präventive Selbstverteidigung zulässig ist. In ihrer nationalen Sicherheitsstrategie vom September 200228 nehmen die USA für sich ein Recht zur Gewaltanwendung unabhängig von einer konkreten militärischen Bedrohung in Anspruch: Nach dieser „Bush-Doktrin“ soll allein die abstrakte Gefahr, die in Zukunft von einem „Schurkenstaat“ oder einer unberechenbaren Regierung ausgehen könnte, das Recht zur einseitigen Gewaltanwendung eröffnen. Diese überzogene Form der Prävention – auch im Deutschen gelegentlich als „Präemption“ bezeichnet29 – wird in Lehre und Praxis mit Recht zurückgewiesen, denn durch sie würde das Gewaltverbot praktisch hinfällig.30 Ebenso hatte die Staatengemeinschaft 1981 einen israelischen Angriff auf einen Kernreaktor im Irak verurteilt, der damit begründet worden war, dort würde an einer Nuklearwaffe für einen Angriff gegen Israel gearbeitet.31 Eine Gegenmaßnahme derart weit im Vorfeld eines möglichen Angriffs zuzulassen, würde zum Missbrauch geradezu einladen. Entsprechend lehnte der Internationale Gerichtshof kürzlich eine von Uganda geltend gemachte Selbstverteidigungslage ab, weil die von diesem im 27 Vgl. R. Wedgwood, The Fall of Saddam Hussein, Security Council Mandates and Preemptive Self-Defense, American Journal of International Law (AJIL) 97 (2003), 576 (582 ff.); A. D. Sofaer, On the Necessity of Pre-emption, European Journal of International Law 14 (2003), 209 ff. 28 Vgl. Anm. 1. 29 Zur uneinheitlichen Terminologie Stein/v. Buttlar (Anm. 23), Rn. 825. 30 D. Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, Neue Juristische Wochenschrift 2003, 1014 (1019); Th. Schweisfurth, Aggression, FAZ v. 28.4.2003, S. 10; H. Hillgenberg, Gewaltverbot: Was gilt noch?, in: J. A. Frowein u.a. (Hrsg.), Verhandeln für den Frieden. Liber Amicorum Tono Eitel (2003), 141 (166 f.); R. N. Gardner, Neither Bush nor the „Jurisprudes“, AJIL 97 (2003), 585 (588). 31 SR-Res. 487 (1981).
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Nachbarstaat Kongo verübten Gewalttaten im Kern der präventiven Verfolgung eigener Sicherheitsinteressen gedient hätten.32 Auf der anderen Seite kommt ein zeitgemäßes Selbstverteidigungsrecht im 21. Jahrhundert ohne ein Element der Prävention nicht aus. Eine Völkerrechtsnorm, die es den Staaten verböte, ihre Bevölkerung gegen absehbare Bedrohungen von außen zu schützen, nur weil diese Bedrohung noch nicht die Form eines militärischen Erstschlages angenommen hat – eine solche Norm wäre in Zeiten extrem effektiver ABC-Waffen schwer zu vermitteln. Es kann also nur darum gehen, das legitime Maß an Prävention zu bestimmen. Um dies zu tun, greift die Völkerrechtslehre traditionell auf die sog. CarolineFormel zurück, die auf einen Zwischenfall im kanadischen Unabhängigkeitskampf 1837 zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich zurückgeht.33 Danach sollte eine präventive Verteidigung nur zulässig sein im Falle einer „instant and overwhelming necessity leaving no choice of means and no moment for deliberation“. Diese Umschreibung trifft auch heute noch den Kern der präventiven Selbstverteidigung: Es geht um unbedingt notwendige Maßnahmen gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff, der dem Angegriffenen keinen anderen Ausweg lässt. Zwei Komponenten sind unabdingbar: die zeitliche Nähe zwischen Angriffshandlung und Verteidigung sowie das Element von Erfordernis und Verhältnismäßigkeit. Nur sind diese Anforderungen heute vor dem Hintergrund der modernen Waffentechnologie und der gewandelten globalen Sicherheitsstrukturen zu sehen: Sie müssen z.B. der Situation gewachsen sein, dass eine private, weltweit operierende Terrorgruppe Massenvernichtungswaffen zur Verfügung hat, die leicht zu verbergen und mit geringem Aufwand einzusetzen sind, dabei aber erhebliche Schäden unter der Zivilbevölkerung anrichten können. Diese und ähnliche Szenarien prägen heute die Vorstellung von einer zeitgemäßen, wenngleich stets auf das unbedingt Notwendige beschränkten Prävention. Die weiterhin notwendige Konkretisierung im Einzelfall muss sich am drohenden Schaden und den verbleibenden Eingriffsmöglichkeiten orientieren: Je gravierender die mutmaßliche Bedrohung, je schwieriger die Angriffsabwehr bei weiterem Zuwarten, je kleiner
32
Armed Activities (Anm. 10), § 143. Vgl. den diplomatischen Notenwechsel aus den Jahren 1841-1844 in British and Foreign State Papers 29 (1840-1841), 1126-1142 (1137 f.) und bei J. B. Moore, A Digest of International Law, vol. II (1906), 412. Das historische Geschehen ist rekapituliert bei Sofaer (Anm. 27), 214-220. 33
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das „Zeitfenster“ für ein effektives Eingreifen, desto weiter ist ein Staat befugt, den sich abzeichnenden Angriff vorwegzunehmen.34 Die abstrakte Gefahr durch einen „verrückten Diktator“ oder ein „Schurkenregime“ allein aber kann nach geltendem Völkerrecht in keinem Fall zum präventivem Eingreifen berechtigen. Auch der Besitz oder Erwerb von Massenvernichtungswaffen löst als solcher keine Selbstverteidigungslage aus; hinzukommen muss wenigstens der nachweisbare Wille eines Staates (bzw. einer privaten Gruppe mit staatlicher Unterstützung), derartige Waffen einzusetzen.35
b) Andauernder Angriff Die zweite zeitliche Grenze der Selbstverteidigung ergibt sich ebenfalls mit Blick auf den „bewaffneten Angriff“: Dieser muss noch andauern, sonst wird die Verteidigung zur reinen Vergeltung und verstößt dann mangels eines rein defensiven Charakters gegen das Völkerrecht. Das Andauern der Bedrohung war bislang stets auf einzelne Militäraktionen bezogen und in diesem Zusammenhang meist einfach zu bestimmen. Nun aber erklären Staaten einen „Krieg gegen den Terror“ und verstehen dabei das Bestehen privater Terrornetzwerke und die latente Bedrohung durch diese als eine permanente Verteidigungssituation. Auch wenn der andersartigen Gefährdung durch privaten Terror Rechnung zu tragen ist, so ist doch an dieser Stelle ebenfalls Vorsicht geboten: Wird die latente Terrorgefahr zum maßgeblichen Anknüpfungspunkt und die als Ausnahmefall gedachte Situation auf diese Weise zum Dauerzustand, so verschwimmen die Grenzen der Selbstverteidigung, ja das Konzept dieses Rechtsinstituts selbst gerät ins Wanken.36
II. Rettung eigener Staatsangehöriger Während das Recht zur Selbstverteidigung in der UN-Charta (Art. 51) ausdrücklich festgeschrieben ist, haben sich in der internationalen Staatenpraxis Rechtfertigungsgründe für den einzelstaatlichen Gewalteinsatz entwickelt, denen eine ausdrückliche Grundlage fehlt.
34 35 36
Ähnlich J. Yoo, International Law and the War in Iraq, AJIL 97 (2003), 563 (572 ff.). Ebenso Stein/v. Buttlar (Anm. 23), Rn. 839. Offener wohl Stein/v. Buttlar (Anm. 23), Rn. 850.
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Das gilt vor allem für die gewaltsame Rettung eigener Staatsangehöriger, die heute fast zu einem alltäglichen Ereignis geworden ist und deren Zulässigkeit daher kaum noch bestritten wird. Wenn eigene Staatsangehörige im fremden Staat tatsächlich an Leib oder Leben bedroht sind, der fremde Staat selbst die Bedrohung nicht abstellt und andere – z.B. diplomatische – Rettungsversuche erfolglos blieben, dann erlaubt das Völkerrecht dem Heimatstaat der Bedrohten den geringstmöglichen Gewalteinsatz, um bedrohte Staatsangehörigen herauszuholen.37 Präzedenzfälle, die kaum je auf ernsthaften Protest gestoßen sind, gibt es viele. Am bekanntesten sind vielleicht die israelische Geiselbefreiungsaktion in Entebbe 1976 oder auch die regelmäßigen Rettungseinsätze französischer und belgischer Truppen in Afrika. Aber selbst die deutsche Bundeswehr ist 1997 in Albanien eingedrungen, als dort anarchische Zustände herrschten und deutsche Staatsangehörige in Gefahr waren. – Durch diese im Kern unbestrittene Praxis ist ein Satz des Völkergewohnheitsrechts entstanden, der eine weitere, eng begrenzte Ausnahme vom Gewaltverbot enthält.
III. Humanitäre Intervention Sehr viel problematischer als ein Fall einzelstaatlicher Gewaltanwendung ist dagegen die humanitäre Intervention, also die Anwendung militärischer Gewalt zum Schutz der Bevölkerung im angegriffenen Staat. Hier geht es nicht um den Schutz des eigenen Gebiets oder der eigenen Leute, sondern um den Schutz der Menschenrechte im anderen Staat. Immerhin handelt es sich dabei um ein objektives Rechtsgut, das in der Verfassung der internationalen Gemeinschaft ebenfalls einen hohen Rang einnimmt. Die Menschenrechte sind nicht nur in der UN-Charta selbst verankert, sondern in vielen völkerrechtlichen Verträgen festgeschrieben, im Prinzip also von gleichem Rechtswert wie das Gewaltverbot. Kann ein einzelner Staat daher berechtigt sein, sich gegenüber einem anderen zum Protektor dieses Allgemeininteresses aufzuschwingen und dazu notfalls auch militärische Gewalt einzusetzen? Solche Interventionen hat es gelegentlich gegeben. Genannt werden regelmäßig die indische Intervention in Bangladesch 1971, der Eingriff Vietnams in Kambodscha 1979 oder der Tansanias in Uganda 1979. Auch die Einrichtung von Flugverbotszonen durch Amerikaner und Briten im Nordirak 1991 könnte hierzu gezählt werden. Allerdings waren es nicht übermäßig viele Präzedenzfälle, und sie wurden regelmäßig mit anderen rechtlichen Argumenten als mit dem der Humanität gerechtfertigt. Daher war die normbildende Überzeugung der Staaten, der 37
Ebenso z.B. Stein/v. Buttlar (Anm. 23), Rn. 805.
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Konsens, dass eine solche altruistische Intervention im Dienste der Menschenrechte zulässig sein kann, bis Ende der 1990er Jahre nicht nachzuweisen. Und das ist auch kein Wunder, denn es handelt sich um eine wahrhaftige Büchse der Pandora – die Gefahren, die nach ihrer Öffnung drohen, sind immens: Wie leicht kann ein Staat behaupten, die Menschenrechte, so wie er sie versteht, seien in einem Nachbarstaat bedroht, um daraus die Legitimation zur gewaltsamen Intervention, einschließlich kriegerischer Besetzung und erzwungenem Regimewechsel, abzuleiten! Ein beredtes Beispiel ist die indonesische Invasion von OstTimor 1975, die zunächst mit humanitären Motiven begründet wurde und nur wenige Monate später in eine Annexion mündete. Man mag es in diesem Zusammenhang auch bezeichnend finden, dass der Irak-Krieg 2003, nachdem die in Aussicht gestellten Massenvernichtungswaffen nicht zu finden waren, in U.S.amerikanischen Medien zunehmend in einen Zusammenhang mit der Unterdrückung des irakischen Volkes durch einen Diktator gerückt wurde[...]. Wegen dieser großen Missbrauchsgefahr, die viele Staaten unter Umständen selbst zu potentiellen Interventionsopfern machte, war die humanitäre Intervention bis vor kurzem kein völkerrechtlich anerkannter Rechtfertigungsgrund für militärische Gewalt: Die genannten Militäraktionen mögen legitim gewesen sein, legal waren sie nicht. Im März 1999 aber meinten 19 NATO-Staaten, dass die Behandlung, welche die Albaner im Kosovo durch das jugoslawische Regime unter MiIoševiì erfuhren, ein gewaltsames Eingreifen rechtfertigte. Die Reaktionen der anderen Staaten waren sehr unterschiedlich, keinesfalls also Ausdruck eines neuen universellen Konsenses zur humanitären Intervention in der Völkerrechtsgemeinschaft. Immerhin aber erscheint es wegen der breiten Beteiligung an der Intervention und der Zustimmung, die sie in Teilen der Staatengemeinschaft gefunden hat, nun möglich, dass eine gewohnheitsrechtliche Ausnahme zum völkerrechtlichen Gewaltverbot sich hier in der Entwicklung befindet.38 Sollte eine solche Norm in Zukunft entstehen, so wird sie Vorkehrungen gegen allzu einfachen Missbrauch enthalten müssen. So werden zum einen nur Verletzungen der elementaren Menschenrechte zum Eingreifen berechtigen können: das Recht auf Leben, die Verbote von Sklaverei und Folter. Schon beim Selbst38
In diese Richtung z.B. auch A. Cassese, Ex iniuria ius non oritur: Are We Moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community?, EJIL 10 (1999), 23 (27-30); ders., A Follow-Up: Forcible Humanitarian Countermeasures and Opinio Necessitatis, EJIL 10 (1999), 791 ff. Dagegen z.B. P. Hilpold, Humanitarian Intervention: Is There a Need for a Legal Reappraisal?, EJIL 12 (2001), 437 (454-462); ders., Die Vereinten Nationen und das Gewaltverbot, in: Vereinte Nationen 2005, 81 (83).
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bestimmungsrecht der Völker (Art. 1 der UN-Menschenrechtspakte) werden die Dinge schwierig, weil dessen genauer Inhalt nach wie vor recht diffus ist. Interventionen, um reine Verfahrensrechte vor Gericht39 oder das Recht auf Familiengründung40 durchzusetzen, erscheinen von vornherein ausgeschlossen. Das wird auch für demokratische Mitwirkungsrechte zu gelten haben, die zum Teil in Gestalt individueller Menschenrechte gewährleistet sind.41 Eine „demokratische Intervention“, wie sie gelegentlich in Wissenschaft und Politik als Gegenstand einzelstaatlicher Militäraktionen propagiert wird, lässt sich also völkerrechtlich nicht begründen. Eine weitere Kautele für eine in Zukunft zulässige humanitäre Intervention wird ihr multilateraler Charakter sein. Denn die Gefahr, dass in Wirklichkeit einzelstaatliche Sonderinteressen verfolgt werden, ist jedenfalls geringer, wenn sich mehrere Intervenienten auf ein gemeinsames Vorgehen einigen und dieses miteinander abstimmen müssen. Auch der Präzedenzfall der Kosovo-Intervention, die im Rahmen der NATO erfolgte, spricht für eine solche Voraussetzung. Nur eine genuin multilaterale Militäraktion kann also in Zukunft als humanitäre Intervention gerechtfertigt sein. In diese Richtung weist nicht zuletzt die UN-Charta selbst, wenn sie in Art. 52 den Einsatz „regionaler Abmachungen oder Einrichtungen“ zur Wahrung von Frieden und Sicherheit vorsieht.
D. Konsequenzen unzulässiger Gewalt Wenn keine der anerkannten Ausnahmeregeln eingreift, verstoßen die Staaten, die ohne Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat militärische Gewalt androhen oder anwenden, gegen die Fundamentalnorm des geltenden Völkerrechts. Dies kann Konsequenzen auf der völkerrechtlichen und auf der innerstaatlichen Ebene nach sich ziehen.
I. Völkerrechtlich Völkerrechtlich ist der Gewalt anwendende Staat zur Wiedergutmachung verpflichtet, d.h. er muss die Folgen der unzulässigen Gewalt, soweit möglich, rückgängig machen und verbleibende Schäden in Geld ausgleichen. Der angegrif39 Wie z.B. aus Art. 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR). 40 Art. 23 IPBPR. 41 Vgl. z.B. Art. 25 IPBPR.
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fene Staat kann sich mit Repressalien, aber natürlich auch mit militärischen Gegenmaßnahmen zur Wehr setzen. Als Repressalien ließen sich z.B. denken die Suspendierung völkerrechtlicher Abkommen, die Sperrung von Bankguthaben, das Verweigern von Handelsprivilegien, Landerechten, der Transitpassage etc. Schließlich kann der angegriffene Staat, wenn die Voraussetzungen vorliegen, Klage zum Internationalen Gerichtshof erheben. Da es sich beim Gewaltverbot um eine Fundamentalnorm des Völkerrechts handelt, deren Einhaltung die Staatengemeinschaft als Ganze angeht (erga-omnesWirkung), können auch dritte Staaten dem angegriffenen Staat zur Hilfe kommen. Das betrifft nicht nur die kollektive Selbstverteidigung, sondern auch sonstige Sanktionen durch Staaten, die von der verbotenen Gewaltanwendung unmittelbar überhaupt nicht berührt sind: Auch sie können also die Erfüllung ihrer völkerrechtlichen Pflichten gegenüber dem Angreiferstaat aussetzen.42 Diese Reaktionsmöglichkeiten stehen allerdings nur Völkerrechtssubjekten zu, nicht aber Privaten. Private Gruppierungen, die sich zum Nothelfer eines angegriffenen Staates aufschwingen wollen, können die Berechtigung dazu nicht aus dem Völkerrecht herleiten.
II. Innerstaatlich Ob die verbotswidrige Gewalt auch auf der innerstaatlichen Ebene rechtliche Konsequenzen hat, entscheidet jede nationale Rechtsordnung für sich selbst. Die innerstaatliche Geltung völkerrechtlicher Normen, wie auch die Möglichkeit von Individuen, sich vor nationalen Gerichten auf diese zu berufen, steht grundsätzlich im freien Ermessen der Staaten. Wenn nun die Verfassung des Angreiferstaates dem völkerrechtlichen Gewaltverbot innerstaatliche Geltung verleiht, so kann eine Klage einzelner Gewaltopfer vor dessen Gerichten in Betracht kommen. Unter Umständen ergibt sich nach Maßgabe des nationalen Haftungsrechts sogar ein Schadensersatzanspruch für Privatpersonen. Denkbar wären also etwa Schadensersatzklagen von Irakern vor U.S.- oder britischen Gerichten. In Deutschland klagen gegenwärtig Opfer des NATOLuftangriffs 1999 auf die serbische Stadt Varvarin gegen die Bundesrepublik Deutschland. Wegen der begrenzten Inkorporation völkerrechtlicher Regeln in die 42
So hätte zum Beispiel Russland 1999 dem von den NATO-Staaten angegriffenen Jugoslawien beispringen können, oder Syrien und Iran hätten als Reaktion auf die IrakInvasion 2003 Öllieferungen oder den Schutz von Kapitalinvestitionen gegenüber den USA und dem Vereinigten Königreich aussetzen können – wohlgemerkt theoretisch!
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deutsche Rechtsordnung (vgl. Art. 25 GG) wird ihnen allerdings wohl der Erfolg versagt bleiben.43 Demgegenüber scheidet eine Klage einzelner vor den nationalen Gerichten eines anderen (z.B. des angegriffenen) Staates aus, da der Angreiferstaat als souveräner Staat nicht der Gerichtsbarkeit anderer Staaten unterliegt und diese staatliche Immunität auch durch einen schwerwiegenden Völkerrechtsverstoß grundsätzlich nicht verliert.
E. Kollektive Durchsetzung durch den UN-Sicherheitsrat Neben die Instrumente der einzelstaatlichen Durchsetzung stellt die UN-Charta – nicht zuletzt als Reaktion auf Defizite des Völkerbundes – ein System der kollektiven Durchsetzung des Gewaltverbots. Dieses in den Verhandlungen von Dumbarton Oaks 1944 vereinbarte Konzept beruht auf der Idee, dass die in den Vereinten Nationen organisierte Staatengemeinschaft im Falle einer Aggression zusammensteht und gemeinsam unter Führung des UN-Sicherheitsrats gegen einen Aggressorstaat vorgeht. Dieses Konzept hat wegen der ideologischen Spaltung der internationalen Gemeinschaft im Kalten Krieg praktisch nicht funktioniert. Nach seinem Ende wurde das Sanktionssystem zwar zum Leben erweckt, erfuhr aber wegen der veränderten internationalen Sicherheitsstrukturen in den 1990er Jahren einschneidende Veränderungen. Zur Anwendung kommt jetzt in der völkerrechtlichen Praxis ein Sanktionsmechanismus, der mit den Vereinbarungen von 1945 fast nur noch den normativen Aufhänger gemein hat. Nach einer Skizzierung des ursprünglichen Konzepts seien abschließend die wesentlichen dieser Veränderungen dargestellt. Beides kann hier knapp bleiben, weil die insofern zentrale Rolle des Sicherheitsrates Gegenstand des Beitrags von Peter Hilpold ist.
I. Das Konzept der Charta Nach der Konzeption des Kapitels VII der UN-Charta ist die kollektive Sanktionierung verbotener Gewalt beim UN-Sicherheitsrat konzentriert. Dieser stellt 43
Vgl. das abweisende erstinstanzliche Urteil des Landgerichts Bonn v. 10.12.2003, NJW 2004, 525 = JZ 2004, 572 m. Anm. Dörr (S. 574). Mit anderer Begründung wies das OLG Köln, NJW 2005, 2860, die Berufung der Kläger zurück; die Revision ist mittlerweile beim Bundesgerichtshof anhängig (Az. III ZR 190/05).
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gemäß Art. 39 UN-Charta fest, ob „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ durch einen Staat vorliegt. Trifft er eine solche Feststellung, wofür es nach Art. 27 UN-Charta der Zustimmung von neun Sicherheitsratsmitgliedern, einschließlich der fünf ständigen Mitglieder, bedarf, dann hat der Sicherheitsrat drei Optionen: Er kann nur Empfehlungen abgeben, nichtmilitärische Sanktionen beschließen oder militärische Sanktionen durchführen. Als nichtmilitärische Maßnahmen sieht Art. 41 UN-Charta insbesondere verschiedene Formen des Embargos (Handel, Verkehr, Kommunikation) vor. Die Durchführung der militärischen Sanktionen legt Art. 42 UN-Charta in die Hand des Sicherheitsrates selbst, der zu diesem Zweck durch einen Generalstabsausschuss (Art. 47) unterstützt wird. Die notwendigen Streitkräfte stellen die Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat nach Maßgabe von Sonderabkommen zur Verfügung (Art. 43), außerdem halten die Staaten Luftstreitkräfte zum sofortigen Einsatz unter Leitung des Generalstabsausschusses bereit (Art. 45). Die Zwangsmaßnahmen sind gegen einen Staat gerichtet (Art. 50) und werden, wenn der Sicherheitsrat dies entscheidet, von allen oder einigen UN-Mitgliedstaaten durchgeführt (Art. 48). Der völkerrechtliche Kern von Kapitel VII UN-Charta liegt darin, dass der betroffene Staat gegen seinen Willen von einem völkerrechtlichen Organ zu einem Handeln oder Dulden verpflichtet wird, und zwar auch, wenn es um ein militärisches Eingreifen auf seinem Territorium geht. Die staatliche Souveränität wird also relativiert, auf die Zustimmung des Staates im Einzelfall kommt es nicht mehr an. Für alle UN-Mitgliedstaaten sind die Beschlüsse des Sicherheitsrates verbindlich (Art. 25, 48 Abs. 2 UN-Charta) und gehen anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen vor (Art. 103 UN-Charta).44
II. Die Veränderungen nach 1990 Seitdem Kapitel VII der UN-Charta Anfang der 1990er Jahre wiederbelebt wurde, hat der Sicherheitsrat dieses Konzept in seiner Praxis den Anforderungen und Bedrohungen der Gegenwart angepasst. Die meisten dieser Veränderungen werden mittlerweile vom Konsens der UN-Mitgliedstaaten getragen und haben sich damit als Modifizierungen der UN-Charta durchgesetzt. Sie betreffen im Wesentlichen drei Punkte:
44
Zur Bindung der Europäischen Gemeinschaft oben in Anm. 4.
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1. Friedensbedrohung als Auslöser Zunächst hat die Praxis den Auslöser jeder Zwangsmaßnahme, das Konzept der Friedensbedrohung in Art. 39 UN-Charta, verändert. War damit ursprünglich noch die militärische Bedrohung durch einen Aggressorstaat gemeint, so bezieht der UN-Sicherheitsrat den Begriff heute auf jede Situation, die ein Handeln der Staatengemeinschaft erforderlich erscheinen lässt. So hat er z.B. Kapitel VII angewendet auf innerstaatliche Situationen wie humanitäre Notlagen (Somalia), Unruhen (Albanien, Ost-Timor, Haiti 2004) oder Bürgerkriege (Ruanda, Sierra Leone). Auch die Absetzung eines demokratisch gewählten Präsidenten (Haiti 1994) oder die Nichtauslieferung mutmaßlicher Terroristen (Libyen) nahm der Sicherheitsrat bereits zum Anlass für Sanktionsmaßnahmen. Das Verhalten Privater, wie z.B. von Rebellengruppen in Liberia, der Elfenbeinküste, im Sudan oder im Kongo, kann ebenso friedensbedrohend sein wie das von Staaten. Die Finanzierung international agierender Terrorgruppen, ja der Besitz von Massenvernichtungswaffen als solcher wird zur Friedensbedrohung und löst die Anordnungsbefugnis des Sicherheitsrates aus. Letztere wird auf diese Weise von einem Mittel zur Abwehr externer Aggression zu einem Instrument veritabler Weltinnenpolitik. Für die Zukunft kann man sich dementsprechend ohne Weiteres vorstellen, dass der Sicherheitsrat z.B. die Gefahr großflächiger Umweltverschmutzungen oder Epidemien zum Anlass nimmt, die Staaten zu einem bestimmten Verhalten zu verpflichten.
2. Kapitel VII als „Blankoscheck“ Zweitens hat der Sicherheitsrat die Durchführung der militärischen Zwangsmaßnahmen dezentralisiert: Statt einer Durchführung durch UN-Organe selbst werden häufig bestimmte oder auch beliebige Staaten zum Gewalteinsatz ermächtigt. Der Sicherheitsrat zieht sich darauf zurück, die besondere Autorität des Kapitels VII UN-Charta auszulösen, und hat mit der praktischen Umsetzung nicht wirklich etwas zu tun. Die zur Durchsetzung bereiten Staaten erhalten praktisch carte blanche, wenn sie zu den „notwendigen Maßnahmen“ autorisiert werden. Dieses Modell ist seit der Operation Desert Storm (Irak 1991) zum praktischen Regelfall geworden (z.B. in Somalia 1992, Ruanda und Haiti 1994, Ost-Zaire 1996, Ost-Timor 1999, Haiti 2004), auch wenn der den Staaten eingeräumte Spielraum im Einzelfall durchaus unterschiedlich bemessen war. In dem Maße,
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wie der Sicherheitsrat die Gewaltanwendung im gemeinsamen Interesse somit praktisch aus der Hand gibt, wird das ihm nach der UN-Charta zugedachte Gewaltmonopol aufgeweicht.
3. Unbegrenzte Vielfalt von Rechtsfolgen Die dritte Veränderung betrifft den Inhalt der nichtmilitärischen Sanktionen nach Art. 41 UN-Charta. Während die Norm selbst im Wesentlichen auf Embargomaßnahmen zielt, hat sich in der UN-Praxis eine breite Palette verschiedener Maßnahmen entwickelt. Der Sicherheitsrat hat unter Berufung auf Kapitel VII UN-Charta zum Beispiel staatliche Finanzmittel beschlagnahmt und einen Entschädigungsfonds für Aggressionsopfer eingerichtet (Irak 1991), Straftribunale (Jugoslawien 1993, Ruanda 1994) und internationale Behörden zur Verwaltung von Gebieten (Bosnien-Herzegowina 1995, Kosovo 1999, Ost-Timor 1999) errichtet oder eine Jurisdiktionssperre für den Internationalen Strafgerichtshof verhängt (2002 und 2003). Dabei sind jedenfalls die materiellen Strafnormen der Straftribunale an einzelne Privatpersonen, nicht mehr nur an völkerrechtswidrig handelnde Staaten adressiert: Der Sicherheitsrat greift also in den Souveränitätsbereich der Mitgliedstaaten ein, indem er selbst Verhaltenspflichten für deren Staatsangehörige schafft und ihre Durchsetzung organisiert. Diese Form der innerstaatlichen unmittelbaren Wirkung war bislang den supranational strukturierten Organisationen vorbehalten, vor allem den Europäischen Gemeinschaften. Seit 2001 kommen individualgerichtete Sanktionen hinzu, die zwar formal an die Staaten adressiert sind, in der Sache aber auf die Bewegungsfreiheit und Finanzmittel bestimmter Einzelpersonen abzielen (Listing von Terrorverdächtigen).45 In jüngerer Zeit schließlich erlässt der Sicherheitsrat allgemeine Verhaltensnormen für die Staatengemeinschaft und betätigt sich damit praktisch als „Weltgesetzgeber“.46 Das betrifft etwa die Anordnung allgemeiner Regeln zur 45
Dazu z.B. O. Dörr, „Privatisierung“ des Völkerrechts, Juristenztg. 2005, 905 (914 f.). Dazu statt aller P. Szasz, The Security Council Starts Legislating, AJIL 96 (2002), 901 ff.; J. D. Aston, Die Bekämpfung abstrakter Gefahren für den Weltfrieden durch legislative Maßnahmen des Sicherheitsrats – Resolution 1373 (2001) im Kontext, ZaöRV 62 (2002), 257 ff.; A. Zimmermann/B. Elberling, Grenzen der Legislativbefugnisse des Sicherheitsrats, in: Vereinte Nationen 2004, 71 ff. Zu einem Teilproblem E. de Wet, The Security Council as a Law Maker: The Adoption of (Quasi-)Judicial Decisions, in: R. Wolfrum/V. Röben (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making (2005), 183 ff. 46
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Terrorismusbekämpfung47 sowie zur Eindämmung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen.48 Auf diese Weise entstehen völkerrechtliche Normen mit einem universellen Befolgungsanspruch, für den eigentlich der Abschluss eines multilateralen Übereinkommens mit einer Ratifikation durch jeden einzelnen Staat notwendig wäre. Unter dem Strich ergibt sich ein kollektives Sanktionssystem, das zwar in der Praxis heute passabel, jedoch deutlich anders funktioniert, als sich das die Urheber der UN-Charta gedacht hatten. In seinem Zentrum steht ein Sicherheitsrat, der praktisch frei von rechtlichen Bindungen agiert und sich die Kompetenznormen der Charta wie ein „aufgeklärter Despot“ nach eigenem Gusto zurechtschneidet.49 Seine Befugnisse sind aufgrund einer von den Mitgliedstaaten geduldeten Praxis mittlerweile derart dynamisch, dass sie die kollektive Durchsetzung des Gewaltverbots längst überschreiten, vielmehr praktisch jedes – von fünfzehn Staaten definierte – Gemeinwohlziel der Staatengemeinschaft erfassen. Dadurch steht die kollektive Anwendung militärischer Gewalt heute potentiell als Instrument für die Schaffung und Durchsetzung einer internationalen public order zur Verfügung, die über das Unterlassen einzelstaatlicher Gewalt weit hinausgeht.
F. Ausblick Das völkerrechtliche Gewaltverbot bleibt die zentrale Norm der internationalen Ordnung. Der Verzicht auf militärische Gewalt gehört mit dem Schutz der Menschenrechte zu den wesentlichen völkerrechtlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts; beide prägen als Grundwerte der Staatengemeinschaft auch das neue Jahrhundert. Ohne ein wirksames Gewaltverbot ist ein modernes Völkerrecht nicht denkbar. Allerdings muss sich das Gewaltverbot, um weiterhin vom Konsens der souveränen Staaten getragen zu sein, den veränderten Bedrohungen der Gegenwart anpassen. Die dafür erforderliche Flexibilität erhält die Norm durch ein – in Grenzen – dynamisches System von Ausnahmen, von denen vor allem das Selbstverteidigungsrecht und das Recht zur (kollektiven) humanitären Intervention in den Sicherheitsstrukturen des 21. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle spielen werden. Das Schicksal des Gewaltverbots wird nicht zuletzt davon abhängen, dass 47
SR-Res. 1373 (2001). SR-Res. 1540 (2004). 49 Vgl. auch M. Herdegen, Die Befugnisse des UN-Sicherheitsrates. Aufgeklärter Absolutismus im Völkerrecht? (1998). 48
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der zu seiner kollektiven Durchsetzung in Kapitel VII UN-Charta vorgesehene Sanktionsmechanismus flexibel und verantwortungsvoll gehandhabt wird. An einer bemerkenswerten Flexibilität hat es dem Sicherheitsrat und den ihn tragenden Staaten in den letzten Jahren nicht gefehlt. In Bezug auf ihr Verantwortungsbewusstsein werfen dagegen z.B. die Vorgänge im Vorfeld des Irak-Krieges 2003 deutliche Zweifel auf.
„Responsibility to Protect“ – Zur Herausbildung einer neuen Norm der Friedenssicherung Von Manuel Fröhlich
Das Abschlussdokument des Reform-Gipfels vom September 2005 hat allenfalls gemischte Reaktionen hervorgebracht: Zu vieles schien vertagt, übergangen oder in Formelkompromissen versteckt. Selbst UN-Generalsekretär Kofi Annan konnte bestenfalls von einem „glas half full“ sprechen. In einem Gastbeitrag für die Washington Post betonte er jedoch: „Perhaps most precious to me is the clear acceptance by all UN members that there is a collective responsibility to protect civilian populations against genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity, with a commitment to do so through the Security Council wherever local authorities are manifestly failing. I first advocated this in 1998, as the inescapable lesson of our failures in Bosnia and Rwanda. I am glad to see it generally accepted at last – and hope it will be acted on when put to the test.“1
Tatsächlich reflektiert die Aufnahme der so genannten „responsibility to protect“ in das Gipfeldokument die Herausbildung einer neuen sicherheitspolitischen und völkerrechtlichen Norm, die sich insbesondere in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre entwickelt hat. Vor diesem Hintergrund will der vorliegende Beitrag zunächst das ursprünglich auf die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) zurückgehende Konzept erläutern (A). Dem folgt ein Blick auf die Übernahme und Transformation des Konzeptes in den beiden Reformberichten des High-Level-Panels und des Generalsekretärs (B). Eine Analyse der Behandlung des Themas in den diplomatischen Verhandlungen hin zum Gipfeldokument verweist auf unterschiedliche nationale Positionen und Implikationen der Norm (C). Abschließend werden potentielle Entwicklungslinien, aber auch „Lücken“ des Konzepts vorgestellt (D).
1
K. Annan, A Glass at Least Half Full, The Wall Street Journal 19.09.2005, 16.
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Manuel Fröhlich
A. Das Konzept der ICISS Auslöser für eine konzeptionelle Neuorientierung kollektiver Interventionsmöglichkeiten ist die doppelte Erfahrung internationalen Handelns bzw. NichtHandelns im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda. Auf die massenhafte Tötung von über 800.000 Menschen innerhalb von weniger als einhundert Tagen hatte die internationale Gemeinschaft 1994 keine unmittelbare Antwort.2 Legalistische Debatten um die Vermeidung des Begriffs „Völkermord“ sowie mangelnde Bereitschaft zur Unterstützung der weder vom völkerrechtlichen Mandat noch von der militärischen Kapazität handlungsfähigen, kleinen Blauhelmmission offenbarten auf schreckliche Weise die „Konsequenzen von Untätigkeit“,3 wie Annan sie 1999 in seiner Rede vor der Generalversammlung darstellte. Dieser Erfahrung stellte er auf der anderen Seite die nicht durch den UN-Sicherheitsrat autorisierte Intervention der NATO im Kosovo gegenüber, die „die Konsequenzen von Handeln beim Fehlen vollständiger Einigkeit der internationalen Gemeinschaft“4 offenbart habe. Zwar seien ethnische Säuberung und Gewalt im Kosovo schließlich auf fragiler Basis beendet worden; die Gewaltanwendung ohne ausdrückliche Legitimation im Sinne der UN-Charta eröffnete für eine Reihe von Beobachtern jedoch das Tor zu einer nicht mehr an einer einheitlichen Vorstellung des Rechts, sondern an den Interessen der Intervenierenden ausgerichteten Interventionspraxis. Die doppelte Frage nach der Legitimität des Gewalteinsatzes und der „allgemein anerkannte[n] Notwendigkeit, massive und systematische Menschenrechtsverletzungen mit gravierenden humanitären Folgen wirksam zu beenden“5 führt also in ein Dilemma, in dessen Mittelpunkt das Verhältnis von kollektivem Gewalteinsatz und nationalstaatlicher Souveränität steht. Der eine dieser beiden Pole ist durch die UN-Charta in Artikel 2 als mangelnde Befugnis „zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“ (Ziff. 7) sowie als Unterlassung von „jede[r] gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ (Ziff. 4) ausbuchstabiert. Der andere 2
Vgl. statt anderer L. Melvern, Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt, München 2004, sowie die Schilderung von R. Dallaire, Shake Hands with the Devil. The Failure of Humanity in Ruanda, Toronto 2003. 3 K. Annan, Ein neues Verständnis von Souveränität, in: M. Fröhlich (Hrsg.), Kofi Annan. Die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert. Reden und Beiträge des UNO-Generalsekretärs 1997-2003, Wiesbaden 2004, 258-264 (259). 4 Annan (Anm. 3), 259. 5 Annan (Anm. 3), 259.
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Pol findet sich in Kapitel VII bzw. im Besonderen Artikel 42, der die Möglichkeit zu kollektiven, militärischen Maßnahmen durch den UN-Sicherheitsrat eröffnet. Diese Vorgaben der Charta sind in einer Reihe von Fällen umgangen und verletzt worden; der Fall „Kosovo“ wurde jedoch von Befürwortern wie Kritikern der Intervention mit paradigmatischer Bedeutung für die Weiterentwicklung des Systems kollektiver Sicherheit aufgeladen.6 Annan hatte, gestützt auf die Erfahrungen in Srebrenica und Ruanda (bei denen er als Untergeneralsekretär für Friedensoperationen selbst Verantwortung trug), vor diesem Hintergrund eine Neudefinition des Begriffs der Souveränität angeregt, da „traditionelle Auffassungen von Souveränität den Hoffnungen der Menschen, ihre fundamentalen Freiheiten zu erhalten, nicht mehr gerecht werden können“.7 Die Souveränität des Staates müsse sich an der Souveränität der Individuen messen, deren konkreter Schutz zu einem Baustein dessen wird, was ebenfalls seit Mitte der neunziger Jahre mit dem Schlagwort „menschlicher Sicherheit“ beschrieben wird.8 Annan war sich jedoch im Klaren darüber, dass eine solche Neudefinition ihrerseits mit schwerwiegenden Problemen behaftet ist: Wer kann beanspruchen, für „den“ oder „die“ betroffenen Menschen zu urteilen? Wer ist befugt, in einer solchen Situation tätig zu werden? Welche Mittel dürfen dabei angewandt werden? Die Initiative Annans fand parallele Überlegungen bzw. Widerhall in einer Reihe von Positionspapieren und Kommissionen u.a. in Schweden, den USA, den Niederlanden oder Dänemark.9 Ein Team um den kanadischen Außenminister Lloyd Axworthy und seinen Berater Don Hubert ventilierte die Idee einer internationalen Expertenkommission, die sich des Themas annehmen sollte.10 Annan wollte nach seinem eigenen Vorstoß den Eindruck einer unter UN-Verantwortung arbeitenden Kommission vermeiden. So wurde schließlich Kanada zum Sponsor einer Kommission,11 die aus Leuten bestehen sollte „who were representatives of 6 Vgl. die umfassende Studie von S. Chestermann, Just War or Just Peace? Humanitarian Intervention and International Law, Oxford u.a. 2001. 7 Annan (Anm. 3), 260. Vgl. auch M. Fröhlich, Keeping Track of UN Peacekeeping – Suez, Srebrenica, Rwanda and the Brahimi Report, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law 5 (2001), 185-248. 8 Vgl. statt anderer F. O. Hampson, Madness in the Multitude. Human Security and World Disorder, Don Mills u.a. 2002; R. Paris, Human Security: Paradigm Shift or Hot Air?, International Security 26 (2001), 87-102. 9 Vgl. T. Weiss, The Sunset of Humanitarian Intervention? The Responsibility to Protect in a Unipolar Era, Security Dialogue 35 (2004), 135-153 (137). 10 Vgl. zum folgenden L. Axworthy, Navigating a New World. Canada’s Global Future, Toronto 2003, 191-199; R. Thakur, Intervention, Sovereignty and the Responsibility to Protect. Experiences from ICISS, Security Dialogue 33 (2002), 323-340. 11 Finanzielle Unterstützung stellten neben Kanada, die Schweiz, Großbritannien und eine Reihe US-amerikanischer Stiftungen bereit.
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different regions and perspectives and who would undertake widespread consultations“.12 Die unter dem Ko-Vorsitz des ehemaligen australischen Außenministers und Leiter der International Crisis Group, Gareth Evans, sowie dem algerischen Diplomaten und langjährigen UN-Sonderbotschafter, Mohamed Shanoun, etablierte Kommission wollte mit ihrer Besetzung von Beginn an den Vorwurf aushebeln, man repräsentiere „nur“ eine Nord- oder Südperspektive bzw. eine interventionsorientierte oder souveränitätsbetonte Sichtweise. Die Mitglieder sollten einerseits unabhängig von aktuellen Positionen ihres Herkunftslandes sein, andererseits aber über genügend politisches Ansehen verfügen, um wirksame Vermittler der Kommissionsergebnisse sein zu können.13 Annan hatte zugesagt, den Bericht offiziell entgegenzunehmen und auf diesem Wege seiner politischen Aussage zusätzliche Resonanz zu verschaffen (im Mai 2002 organisierte er zudem eine Klausurtagung des Sicherheitsrates, um den Bericht zu diskutieren). Die Kommission tagte an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Kontinenten, um ein möglichst breites Spektrum an Ideen und Positionen mit einbeziehen zu können. Neben dem eigentlichen Bericht, der maßgeblich von Ramesh Thakur und Michael Ignatieff ausformuliert wurde, veröffentlichte die Kommission einen umfangreichen wissenschaftlichen Begleitband, den ein Forschungsteam unter der Leitung von Thomas Weiss erarbeitete.14 Die zentrale These des Berichts stellt den Schutz der Menschen in den Mittelpunkt staatlicher wie internationaler Politik. Der Schutz der Menschen wird zur Qualifizierung der Souveränität, da er (neben jüngeren Entwicklungen im Völkerrecht und Menschenrechtsschutz) von Beginn an zu den „obligations inherent in the concept of sovereignty“15 gehört. Tatsächlich lässt sich der konstitutive Schutzgedanke ideengeschichtlich bis an den Ursprung des Souveränitätsbegriffs verfolgen.16 Eine Lesart von Souveränität als Abwehrschild, hinter dem Machthaber grobes Unrecht an ihren Bürgern verüben dürfen, war insofern nie authentisch – wenngleich sie oft genug und in mancherlei Variation in der internationalen Politik 12
Axworthy (Anm. 10), 191. Zur Funktionsweise und Relevanz internationaler Kommissionen (einschließlich der ICISS) siehe die Beiträge in: R. Thakur/A.F. Cooper/J. English (Hrsg.), International Commission and the Power of Ideas, Tokyo/New York/Paris 2005. 14 ICISS, The Responsibility to Protect. Research, Bibliography, Background. Supplementary Volume to the Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, December 2001 (http://www.iciss.ca). 15 ICISS, The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, December 2001 (http://www.iciss.ca), xi. Im Folgenden ICISS. 16 Vgl. dazu den Research Essay „Sovereignty“, in: ICISS (Anm. 14), 5-13; M. Fröhlich, Lesarten der Souveränität, Neue politische Literatur 50 (2005), 19-42. 13
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bemüht wurde. Ausgehend von dieser Bestimmung staatlicher Souveränität formuliert die ICISS: „[T]he idea [is] that sovereign states have a responsibilty to protect their own citizens from avoidable catastrophe – from mass murder and rape, from starvation – but that when they are unwilling or unable to do so, that responsibility must be borne by the broader community of states.“ (ICISS, viii)
Wenn also die primäre Verantwortung eines Staates gegenüber seinen eigenen Bürgern nicht wahrgenommen wird, dann tritt die internationale Gemeinschaft in eine Ersatzfunktion: „Where a population is suffering serious harm, as a result of internal war, insurgency, repression or state failure, and the state in question is unwilling or unable to halt or avert it, the principle of non-intervention yields to the international responsibility to protect.“ (ICISS, xi)
Diese Aussage leitet in mehrfacher Hinsicht einen Paradigmenwechsel ein: Zum einen findet sich kein Verweis auf traditionelle Argumentationsmuster von einem (wie auch immer) nationalstaatlich reklamierten Recht auf Intervention in einen anderen Staat; die Rede ist vielmehr von einer Pflicht der Staatengemeinschaft. Zum anderen wollen die Mitglieder der ICISS die Verantwortung zum Schutz ausdrücklich nicht nur als militärische Aufgabe verstanden wissen, sondern stellen der „responsibility to react“ mittels militärischer Zwangsmaßnahmen die „responsibility to prevent“ und die „responsibility to rebuild“ an die Seite (ICISS, xi). Während die „responsibility to react“ auch Sanktionen umfassen könne und militärische Interventionen nur „in extreme cases“ erfolgen sollten, wird die präventive Verantwortung als „the single most important dimension of the responsibility to protect“ bezeichnet. Präventive Maßnahmen, die auf „both the root causes and direct causes of internal conflict and other man-made crises putting populations at risk“ (ICISS, xi) zielten, müssten zudem sämtlich ausgeschöpft sein, „before intervention is contemplated“. Sollte es dennoch zum Abwägen militärischer Optionen kommen, schlägt der Bericht eine Reihe von Prinzipien vor, die die Entscheidung bestimmen sollten. Die ersten beiden Prinzipien behandeln die Schwelle, ab der militärische Interventionen überhaupt in Frage kommen. Genannt werden unter dem Stichwort „Just cause“: „A. large scale loss of life, actual or apprehended, with genocidal intent or not, which is the product either of deliberate state action, or state neglect or inability to act, or a failed state situation; or B. large scale ‚ethnic cleansing‘, actual or apprehended, whether carried out by killing, forced expulsion, acts of terror or rape.“ (ICISS, xii)
Die ICISS bindet den Einsatz von Gewalt darüber hinaus noch an „precautionary principles“, die eine mögliche Eingriffsentscheidung an die Abwägung der Prinzipien von „right intention“, „last resort“, „proportional means“ und „reasonable prospects“ verpflichtet (ICISS, xii). Gerade in der knappen Erläuterung dieser
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Prinzipien wird beständig auf die Perspektive der Opfer verwiesen, die für die Prüfung der Prinzipien entscheidend sei. Eine solche Konzeption würde tatsächlich einen Wendepunkt von der Diskussion eines „Rechts auf Intervention“ (gedacht vom intervenierenden Staat) hin zu einer „Verantwortung zum Schutz“ (gedacht von den betroffenen Individuen) bedeuten. Thakur erläutert: „Our preferred terminology refocuses the international searchlight back on the duty to protect the villager from murder, the woman from rape, and the child from starvation or being orphaned.“17
Die klassischen Vorwürfe von verdecktem Kolonialismus oder Paternalismus sind durch diese Sprachform teilweise ausgehebelt. Drittens wird unter dem Stichwort „right authority“ die Frage der Gewalt autorisierenden Instanz angesprochen. Der Bericht sieht „no better or more appropriate body than the United Nations Security Council“ (ICISS, xii): „The task is not to find alternatives to the Security Council as a source of authority, but to make the Security Council work better than it has.“ Autorisierung durch den Sicherheitsrat „should in all cases be sought prior to any military intervention“. In dem Wörtchen „should“ findet sich jedoch eine Tür, die die monopolartige Stellung des Sicherheitsrates etwas relativiert. Ihm wird nämlich implizit auch eine Art von „responsibility“ zugeschrieben, die mit seiner einzigartigen rechtlichen Stellung einhergehe: So müsse der Rat sich umgehend um Krisensituationen kümmern, aussagefähige Verifikationsmechanismen etablieren und schließlich sollten sich die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates darauf einigen „not to apply their veto power, in matters where their vital state interests are not involved, to obstruct the passage of resolutions authorizing military intervention for human protection purposes for which there is otherwise majority support“ (ICISS, xiii) – eine politisch äußerst brisante Forderung, die sich nicht auf die bisherige Praxis der „permanent five“ (P5) stützen kann. Der Sicherheitsrat wird also in die Pflicht genommen und für den Fall, dass er ein begründetes Unterfangen ablehne oder nicht schnell genug behandle, führt der Bericht zwei alternative Modelle ein: Erstens verweist er auf die Möglichkeit der Generalversammlung, im Sinne der „Uniting for Peace“-Resolution18 tätig zu werden. Zweitens, und durchaus problematischer, spricht er von „action within area of jurisdiction by regional or sub-regional organizations under Chapter VIII of the Charter, subject to their seeking subsequent authorization from the Security Council“ – in anderen Worten also die „Kosovo“-Option, wie sie ex-post durch 17 Thakur (Anm. 10), 328. Zum Kalkül der Terminologie gehörte jedoch auch offensichtlich der Umstand, dass der Bericht von der etwas weniger verbindlichen „responsibility“ und nicht von „duty“ oder „obligation“ spricht. 18 Vgl. statt anderer J. Delbrück, Die Entwicklung des Verhältnisses von Sicherheitsrat und Vollversammlung der Vereinten Nationen, Kiel 1964.
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den Sicherheitsrat vollzogen wurde.19 Das Ganze ist dann abschließend noch mit der Warnung verbunden, dass der Sicherheitsrat im Falle des Versagens angesichts „conscience-shocking situations“ damit rechnen müsse, dass betroffene Staaten andere Mittel und Wege nicht ausschließen würden, die letztlich die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen beschädigen könnten. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Prinzipien, zu denen noch einige operative Forderungen wie klares Mandat etc. kommen, zutiefst verankert in der Denkfigur des „gerechten Krieges“20 und seinen Kategorien von causa iusta, recta intentio und legitima auctoritas. Mehr noch: dieselben Schwierigkeiten und konzeptionellen Probleme, denen die Lehre vom gerechten Krieg seit dem Mittelalter ausgesetzt ist, finden sich auch bei den Prinzipien der ICISS: Da ist zunächst der Umstand, dass die Prinzipien zugleich Gewalt reglementierende wie Gewalt ermöglichende Argumentationen formulieren. Zweitens stellt sich die Frage der Angemessenheit militärischer Handlungen im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen einerseits und politisch geplantem Massenmord andererseits in besonderer Brisanz. Gerade die Einführung atomarer Waffen in die internationale Politik hatte ja mit guten Gründen dem Rechtfertigungsdiskurs zum Einsatz „legitimer“ Gewalt eine gewisse Grenze gesetzt.21 Drittens schließlich mögen die Kriterien in ihrer allgemeinen Form sinnvoll erscheinen – das Problem ist jedoch, dass sie ihrerseits Begriffe enthalten, über deren politische, völkerrechtliche und ethische Einschätzung trefflich gestritten werden kann („letztes“ Mittel, „Ernsthaftigkeit“ der Bedrohung etc.). Der zentrale Unterschied zwischen der klassischen Lehre vom gerechten Krieg und den Vorschlägen der ICISS besteht allerdings in dem Umstand, dass die Entscheidung über die Auslegung und Anwendung der Prinzipien nicht einem Herrscher oder Staat, sondern einem multilateralen Gremium, dem UN-Sicherheitsrat übertragen ist (wenn auch mit den genannten Problemen und Ausnahmen).
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Vgl. UN Doc. S/Res/1244 v. 10.06.1999. Zur Problematik siehe I. Österdahl, Preach what you Practice. The Security Council and the Legalisation ex-post-facto of the Unilateral Use of Force, Nordic Journal of International Law 74 (2005), 231-260. 20 Vgl. statt anderer Chestermann (Anm. 6) sowie auch M. Fixdal/D. Smith, Humanitarian Intervention and Just War, Mershon International Studies Review 42 (1998), 283-312. Eine anschlussfähige, jedoch nicht auf Legitimation durch den Sicherheitsrat beschränkte, kommunitaristische Perspektive bietet M. Walzer, Die Politik der Rettung, in: ders., Erklärte Kriege – Kriegserklärungen. Essays, Hamburg 2003, 82-97. 21 J. Delbrück/K. Dicke, The Christian Peace Ethic and the Doctrine of Just War from the Point of View of International Law, German Yearbook of International Law 28 (1985), 194-208.
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B. „Responsibility to protect“ in den Reformberichten der Vereinten Nationen Die Tatsache, dass der ICISS-Bericht Ende September 2001 im Schatten der Ereignisse des 11. September veröffentlicht wurde, der eine Neuausrichtung der internationalen Agenda um den Kampf gegen den Terrorismus nach sich zog, ließ das Konzept zunächst etwas in den Hintergrund treten. Das Spannungsverhältnis zwischen nationalstaatlicher Souveränität und ausschließlich kollektiver Gewaltanwendung wurde nun durch einen dritten Pol erweitert: Der Debatte um das Selbstverteidigungsrecht, wie es in Art. 51 der Charta niedergelegt ist. Stand den Autoren des ICISS-Berichts der Kosovo-Fall besonders deutlich vor Augen, so hatte sich das von Annan einberufene „High Level Panel“ (HLP) mit der Erfahrung des Irak-Krieges im Jahre 2003 auseinanderzusetzen. Die Frage nach dem konzeptionellen und politischen Konsens, der das System kollektiver Sicherheit der UNO trägt, hatte neue Dringlichkeit erfahren.22 In seiner bemerkenswerten „Scheideweg“-Rede23 vor der Generalversammlung hatte Annan jedoch vor einfachen Antworten gewarnt: weder die voreilige Umgehung der multilateralen Verfahren und Prinzipien der Charta noch die bloße Verdammung „unilateraler“ Militärschläge ohne Verweis auf effektive Alternativen kollektiver Gremien seien geeignet, das Friedenssicherungssystem der UNO aufrechtzuerhalten. Die Ergebnisse der Axworthy-Kommission sind nicht zuletzt durch die personelle Kontinuität von Gareth Evans auch in die Vorschläge der hochrangigen UNReformgruppe vom Dezember 2004 eingegangen. In einem Absatz über „sovereignty and responsibility“ wird klargestellt, dass der Anspruch der Souveränität heutzutage die Verpflichtung eines Staates beinhalte „to protect the welfare of its own peoples and meet its obligations to the wider international community“.24 Diese Definition kann sich auf jenen Befund stützten, den Abram Chayes und Antonia Handler Chayes pointiert als „new sovereignty“25 bezeichnet haben und 22
Vgl. dazu M. Fröhlich, Auf der Suche nach einem neuen Konsens: Die Reformberichte vor der 60. UN-Generalversammlung, in: E. Klein/H. Volger (Hrsg.), Chancen für eine Reform der Vereinten Nationen? Bilanz zum 60. Geburtstag der Weltorganisation (Potsdamer UNO-Konferenzen, Bd. 6), Potsdam 2006, 45-61 sowie J. Varwick, Der Reformbericht „eine sicherere Welt“: Erkenntnise und Konsequenzen, in: Die FriedensWarte (i.E.). 23 Vgl. Annan (Anm. 3), 289-294. 24 A more secure world: Our shared responsibility. Report of the Secretary-General’s High-level Panel on Threats, Challenges and Change, New York 2004, para. 29. Im Folgenden HLP. 25 A. Chayes/A. Handler Chayes, The New Sovereignty. Compliance with International Regulatory Agreements, Cambridge/Mass./London 1995. Mit Blick auf die Bedeutung der
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die darin besteht, ordentlich anerkanntes – ja angesehenes – und damit wirkmächtiges Mitglied funktionierender Kooperationssysteme zu sein. Wenngleich etwas variiert, findet sich im HLP auch die allgemeine Kernaussage der ICISS wieder. Im Kapitel zur kollektiven Sicherheit heißt es: „We endorse the emerging norm that there is a collective international responsibility to protect, exercisable by the Security Council authorizing military intervention as a last resort, in the event of genocide and other large-scale killing, ethnic cleansing or serious violations of international humanitarian law which sovereign Governments have proved powerless or unwilling to prevent.“ (HLP, para. 203)
Auch HLP führt dann ein Kriterienbündel ein, das bei der Entscheidung über einen Gewalteinsatz bedacht werden sollte. Anders jedoch als bei der ICISS werden die durch das HLP genannten Kriterien von „seriousness of threat“, „proper purpose“, „last resort“, „proportional means“ und „balance of consequences“ (HLP, para. 207) nicht nur auf Fälle humanitärer Intervention, sondern auch auf Fälle ähnlich der Irak-Krise 2003 bezogen. Sie sollen grundsätzlich einen anspruchsvollen, nachvollziehbaren und möglichst konsistenten Rechtfertigungsdiskurs zum Einsatz von Gewalt begründen – ohne rechtliche Verbindlichkeit oder Zwangsläufigkeit für die beteiligten Akteure zu etablieren. HLP ist sich im Klaren darüber, dass die bloße Bezugnahme auf die Prinzipien noch keine „agreed conclusions with push-button predictability“ (HLP, para. 206) hervorbringen werde. Die Richtlinien definieren Situationen, aber nicht Handlungsoptionen und bürgen nicht von sich aus für den entsprechenden politischen Willen zur Umsetzung. Die ICISS-Forderung nach einer Selbstbeschränkung des Vetos taucht in HLP nur vermittelt auf. Das Veto habe einen „anachronistic character“, sei aber grundsätzlich wohl nicht zu verändern: „We also ask the permanent members, in their individual capacities, to pledge themselves to refrain from the use of the veto in cases of genocide and large-scale human rights abuses.“ (HLP, para. 256) Offen bleibt dagegen die Frage, was passiert, wenn (aus welchen Beweggründen auch immer) keine Mehrheit im Rat für ein Einschreiten zu bekommen ist. HLP formuliert etwas wolkig: „If it [the Security Council] does not so choose [to engage militarily], there will be, by definition, time to pursue other strategies, including persuasion, negotiation, deterrence and containment – and to visit again the military option.“ (HLP, para. 190) Grundlage der „last resort“-Debatte zuvor war aber eigentlich die Situation, dass diese Möglichkeiten bereits ausgeschöpft sind. Der konkrete Verweis auf Alternativen wie „Uniting for Peace“ oder gar das KosovoModell der ICISS unterbleibt.
Einhaltung der Menschenrechte siehe auch W. M. Reisman, Sovereignty and Human Rights in Contemporary International Law, American Journal of International Law 84 (1990), 866-876.
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Der Bericht, den Annan im April 2005 unter dem Titel „In larger freedom“ (ILF) vorlegte und der einen weiteren Zwischenschritt auf dem Weg zu einem gut vorbereiteten und aussagekräftigen Jubiläumsgipfel der Staats- und Regierungschefs darstellen sollte, unterstützt das Konzept der Verantwortung zum Schutz unter Verweis auf das HLP: „While I am well aware of the sensitivities involved in this issue, I strongly agree with this approach. I believe that we must embrace the responsibility to protect, and, when necessary, we must act on it.“26 Ähnlich wie HLP sieht Annan im Sicherheitsrat die einzige reguläre Instanz zur Autorisierung von Gewaltmaßnahmen. HLP und ILF wenden sich beide gegen eine förmliche Neuinterpretation von Art. 51 der Charta – etwa i.S. der Erweiterung oder Präzisierung hinsichtlich des Einsatzes von preemptiver bzw. präventiver Gewalt in Situationen unmittelbarer oder latenter Bedrohung. Diese Ablehnung stützt sich dabei erstens auf Verweise zur vorherrschenden völkerrechtlichen Interpretation von Art. 51, die diesen eben nicht bloß auf den Fall eines erfolgten zwischenstaatlichen Angriffs konventioneller Art einschränkt, sondern (unter gewissen Bedingungen der Absehbarkeit eines Angriffes) auch antizipatorische Selbstverteidigung (ILF, para. 124) ermöglicht („imminent threat“).27 Zweitens verweisen beide Berichte darauf, dass es dem Sicherheitsrat (weitestgehend) frei stehe, neue Bedrohungsformen unter Art. 51 zu fassen oder in Auslegung seiner Definitionsmacht nach Art. 3928 selbst tätig zu werden – dies könnte im Extremfall auch präventive Schläge umfassen. Bedingung für eine solche Option ist in beiden Berichten nicht die Aufhebung vermeintlicher völkerrechtlicher Schranken, sondern die Güte der ins Feld geführten Argumente entlang der vorgeschlagenen Prinzipien und Richtlinien. Der Fokus wechselt damit zur politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung des Sicherheitsrates – ein Aspekt, der hier nicht ausführlich behandelt werden kann, aber ein wichtiges, sachliches Anliegen mit Blick auf die Reform des Rates darstellt.29 Im Gegensatz 26 In larger Freedom. Towards Development, Security and Human Rights for all. Report of the Secretary-General, New York 2005, para. 135. 27 Vgl. auch D. Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegstrategie und das Völkerrecht, Neue juristische Wochenschrift 56 (2003), 1014-1020. 28 Vgl. zur Entwicklung K. Dicke, National Interest vs. the Interest of the International Community – A Critical Review of Recent UN Security Council Practice, in: J. Delbrück (Hrsg.), New Trends in International Lawmaking – International ,Legislation‘ in the Public Interest, Berlin 1997, 145-169. Kritisch zu möglichen Grenzen siehe A. Zimmermann/B. Elberling, Grenzen der Legislativbefugnisse der Sicherheitsrats, Vereinte Nationen 52 (2004), 71-77. 29 Vgl. C. Freuding, Entscheidungsfindung im UN-Sicherheitsrat, in: K. Dicke/M. Fröhlich (Hrsg.), Wege multilateraler Diplomatie. Politik. Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsstrukturen im UN-System, Baden-Baden 2005, 64-92.
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zu ICISS und HLP unterlässt Annan die politisch brisante Forderung nach der freiwilligen Selbstbeschränkung des Vetos. Mit Blick auf die hier zu verfolgende Norm der „responsibility to protect“ und die Prinzipien zum Einsatz von Gewalt hatte HLP dafür plädiert, die genannten Prinzipien als „guidelines“ in deklaratorische Resolutionen der Generalversammlung und/oder des Sicherheitsrates aufzunehmen. ILF fordert hier deutlicher die Annahme der Prinzipien durch den Sicherheitsrat (ILF, para. 126). Dies stellt zusammengenommen die Ausgangsposition vor den diplomatischen Verhandlungen im Vorfeld des Millennium+5Gipfels im September 2005 dar.
C. „Responsibility to Protect“ in den Gipfel-Verhandlungen 2005 Die politische wie völkerrechtliche Brisanz und Relevanz des Themas lässt sich besonders gut an den Aushandlungsprozessen für den Wortlaut des Gipfeldokuments im September 2005 nachzeichnen. Am 3. Juni 2005 legte der Präsident der UN-Generalversammlung, Jean Ping, die erste Version eines „draft outcome document“ vor. Dieser Entwurf enthielt ein Teilkapitel zur „responsibility to protect“.30 Neben dem Appell zur Umsetzung des Präventionsplans gegen Völkermord und einem Hinweis darauf, die Schutzverantwortung im Rahmen der Generalversammlung weiter zu behandeln, finden sich folgende Sätze: „We agree that the responsibility to protect civilian populations lies first and foremost with each individual State. The international community should, as necessary, encourage and help States to exercise this responsibility. The international community has also the responsibility to use diplomatic, humanitarian and other peaceful means under Chapter VI and VIII of the UN Charter to help protect civilian populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing, and crimes against humanity. If such peaceful means appear insufficient, we recognize our shared responsibility to take collective action, through the Security Council and, as appropriate, in cooperation with relevant regional organizations under Chapter VII of the Charter.“ (Draft 1, para. 72)
Wenn auch erneut sprachlich und inhaltlich etwas variiert, so bündelt dieser Absatz doch die wesentlichen Elemente der beiden Reformberichte. Ein neuer Akzent findet sich in der Betonung der internationalen Unterstützung und Hilfe für Staaten bei der Ausübung ihrer Schutzverantwortung. In der Sache ist das Konzept jedoch im ersten Entwurf aufgenommen – „responsibility to protect“ wird zu einer eigenständigen Zwischenüberschrift des Entwurfs. Bezüglich der Prinzipien zum 30 Draft Outcome Document v. 03.06.2005, para. 72-74. Im Folgenden Draft 1. Dieser und weitere Entwürfe finden sich auf der Homepage des Global Policy Forums, das den Verhandlungsprozess über die einzelnen Texte dokumentierte (http://www.globalpolicy. org/msummit/millenni/m5outcomedocindex.htm).
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Einsatz von Gewalt aus HLP und ILF findet sich dagegen nur ein relativ unverbindlicher Hinweis auf die Notwendigkeit, solche Prinzipien weiter in der Generalversammlung zu diskutieren (Draft 1, para. 47). Am 22. Juli legte Ping nach ersten Verhandlungen und Rückmeldungen eine modifizierte Fassung des Dokuments vor.31 Es finden sich kleine, aber bedeutsame Änderungen, die in der Summe eine vorsichtigere Formulierung erkennen lassen. Die Hilfe und Unterstützung von Staaten durch die internationale Gemeinschaft steht nun nicht mehr unter der Spezifizierung „as necessary“, sondern unter der weicheren Bestimmung „as appropriate“ (Draft 2, para. 113). Der Rückgriff auf militärische Maßnahmen wird nicht nur an die Bedingung geknüpft, dass die genannten nichtmilitärischen Maßnahmen sich als unzureichend erweisen sollten, sondern mit der zusätzlichen Spezifizierung versehen, dass „national authorities be unwilling or unable to protect their populations“. Der Verweis auf Diskussionsbedarf bezüglich der Prinzipien wird wiederholt (Draft 2, para. 76). Auch dieser Entwurf zog eine Reihe weiterer Verhandlungen nach sich, bevor Ping am 10. August den dritten Entwurf vorlegte.32 Dieser weist nun neben einigen sprachlichen Umstellungen drei substantielle Neuerungen auf: Erstens findet sich eine Erweiterung der „responsibility to protect“ dahingehend, dass nunmehr auch „the prevention of such crimes, including their incitement“ (Draft 3, para. 119) zur Schutzverantwortung gezählt werden. Diesen Gedanken weiter verfolgend wird Unterstützung für die Entwicklung einer „early warning capability“ der Vereinten Nationen gefordert. Zweitens ist die aus den beiden vorhergehenden Entwürfen bekannte „responsibility“ zur Nutzung der genannten nichtmilitärischen Maßnahmen nun als verbindlichere „obligation“ formuliert. Drittens schließlich taucht ein völlig neuer, politisch brisanter Absatz auf: „We invite the permanent members of the Security Council to refrain from using the veto in cases of genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity.“ (Draft 3, para. 120) – also genau jene Forderung, die die ICISS und das HLP aufgestellt hatten. Die Prinzipien zum Einsatz von Gewalt werden dagegen in der bekannten Formulierung weitergehender Diskussion erwähnt. Nachdem der zweite Entwurf also eine vorsichtigere Behandlung des Themas erkennen ließ, bietet der dritte Entwurf eine Erweiterung und nicht unerhebliche Konkretisierung der „responsibility to protect“. Diese Variante blieb jedoch nicht ohne Widerspruch; nicht nur die USA meldeten (als Teil ihrer umfassenden Änderungsvorschläge vom August 2005) auch zur Schutzverantwortung erheblichen Änderungsbedarf an. Washingtons UN-Botschafter John Bolton übermittelte seinen Kollegen am 30. August einen Brief, in dem er (bei grundsätzlicher Unterstützung des Prinzips einer 31 32
Vgl. UN Doc. A/59/HLPM/CRP.1/Rev.1 v. 22.07.2005. Im Folgenden Draft 2. Vgl. UN Doc. A/59/HLPM/CRP.1/Rev.2 v. 10.08.2005. Im Folgenden Draft 3.
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„responsibility to protect“) mehrere Kritikpunkte äußert.33 Der grundsätzlichste Vorbehalt betrifft dabei die Stellung des Sicherheitsrates: „[W]e note that the Charter has never been interpreted as creating a legal obligation for Security Council members to support enforcement action in various cases involving serious breaches of international peace. […] [A] determination as to what particular measures to adopt in specific cases cannot be pre-determined in the abstract but should remain a decision within the purview of the Security Council.“
In diesem Sinne sieht der amerikanische Text auch die Streichung der Passagen zur Zurückhaltung beim Veto und zur weiteren Diskussion der Prinzipien vor. Die generelle Anerkennung des Konzepts, wie sie ja auch zuvor im Reformbericht der einflussreichen, überparteilichen Initiative des US-amerikanischen Kongresses unter George Mitchell und Newt Gingrich ausgedrückt wurde,34 verbindet sich hier mit der offensiven Wahrung einer möglichst ungebundenen Entscheidungs- und Rechtsposition als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates. Aus dem öffentlich gewordenen Papier der Gruppe der Blockfreien vom 1. September 2005 ist keine spezifische Stellungnahme zu den relevanten Abschnitten erkennbar.35 Die Position der einflussreichen Gruppe der 77 liegt nicht als Papier vor. Als vehemente Kritiker des Konzepts hatten sich jedoch u.a. Pakistan, der Iran, Kuba und Ägypten hervorgetan.36 Stellvertretend für diese Haltung sei die Aussage des pakistanischen UN-Botschafters Munir Akram zitiert, der in der informellen Beratung der Generalversammlung sagte: „[M]any doubts remain regarding the concept of the so-called ,responsibility to protect‘, perhaps due to its antecedents. It needs careful study and consideration. Any endavour to promote protection of civilians should not become a basis to contravene the principles of non-interference and non-intervention or question the national sovereignty and territorial integrity of States. We hope that the draft Outcome Document will reflect these considerations. Meanwhile, this section should be retitled: ,Protection of Civilians‘.“37
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Vgl. http://www.un.int/usa/reform-un-jrb-ltr-protect-8-05.pdf. Eine Darstellung aller US-Änderungsvorschläge im Vergleich zum Dokument vom 10. August findet sich unter http://www.globalpolicy.org/msummit/millenni/2005/0825usproposal.pdf. 34 Vgl. American Interest and UN Reform, Report of the Task Force on the United Nations, Washington 2005. 35 Vgl. Proposed Amendments by the Non-Aligned Movement to the Draft Outcome Document of the High-level Plenary Meeting of the General Assembly v. 01.09.2005 (http://www.globalpolicyforum.org). 36 Vgl. dazu P. Willig, Ein neues System kollektiver Sicherheit? Die UN zwischen Stillstand und Reform, International Politik 3 (2006), 76-83. 37 Statement by Ambassador M. Akram in the Informal Meeting of the Plenary 21.06.2005 (http://www.un.int/pakistan/00home050905).
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China hatte Anfang Juni ein Positionspapier vorgelegt, in dem es zur Überraschung vieler Beobachter die „responsibility to protect“ aufgenommen hatte.38 In den Erläuterungen des Positionspapiers wird jedoch klar, dass die chinesische Regierung die Betonung auf die erste, staatliche Verantwortung zum Schutz legt und vor unzulässigem Urteil und Einmischung von außen warnt: „Prudence is called for in judging a government’s ability and will to protect its citizens. No reckless intervention should be allowed.“ Gleichzeitig erkennt Peking jedoch an, dass „massive humanitarian crisis“ ein „legitimate concern of the international community“ sei. Neben der Bindung an die Charta, die Ausschöpfung friedlicher Mittel und die Entscheidung des Sicherheitsrates plädiert China auch noch für die Achtung der „opinions of the country and the regional organization concerned“ – eine weitere Illustration einer eher souveränitätsbetonten Lesart der Schutzverantwortung, die auch keine Unterstützung für eine Selbstbeschränkung des Vetos erkennen lässt. Der abermals überarbeitete Entwurf des Präsidenten vom 6. September 2005, der im Kontext der so genannten Kerngruppe von 32 Staaten vorverhandelt wurde, setzt nunmehr den Absatz zur Veto-Zurückhaltung in Klammern – zeigt also an, dass hierzu noch keine Einigung hergestellt wurde. In der Version vom 12. September ist der Absatz getilgt; er erscheint auch nicht im Schlussdokument vom 15. September. Der Verweis auf die weitere Diskussion der Prinzipien wird im Entwurf vom 6. September nun allenfalls in einem Absatz sichtbar, in dem der Generalversammlung die weitere Beschäftigung mit „responsibility to protect“ und ihren Implikationen aufgegeben ist – die konkretere Bezugnahme auf die Prinzipien des Generalsekretärs ist nicht mehr zu finden. Der eigentliche Absatz zur Schutzverantwortung hat in den September-Entwürfen ebenfalls kleine, aber durchaus symptomatische Veränderungen erfahren. Zunächst einmal gab es offensichtlich Bemühungen, das Konzept in seiner Formulierung als eigenständiges Teilkapitel des Abschlussdokuments zu relativieren. Klammer-Formulierungen sehen zunächst den Zusatz „Responsibility to protect civilian populations“ und dann sogar die Alternative „Responding to genocide, war crimes, and crimes against humanity“ vor – eine Variante, in welcher der Wortlaut des ursprünglichen Konzepts gar nicht mehr aufgetaucht wäre. Der Kampf um Worte, der hier unmittelbare politische Auseinandersetzung um die Akzeptanz oder Ablehnung der Idee der Schutzverantwortung ist, führte letztlich zum Kompromiss „Responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity“. Der entsprechende Abschnitt im Gipfel-Dokument beinhaltet
38
Vgl. Position Paper of the People’s Republic of China on the United Nations Reform v. 07.06.2005 (http://www.china-un.org/eng/xw/t199101.htm).
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eine Fülle von Relativierungen und Qualifizierungen,39 die hier im Einzelnen nicht entfaltet werden sollen und insgesamt auch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen können, dass das Konzept nun – zunächst deklaratorisch – Aufnahme in die Erklärung der versammelten Staats- und Regierungschefs gefunden hat. Die Intensität der Auseinandersetzung um die Formulierungen zeigt, dass sich die Diplomaten durchaus bewusst waren, dass auch die eigentlich rechtlich nicht bindende Äußerungsform dieses Abschlussdokumentes gleichwohl Wirkung entfalten wird.40 Die Plenardebatte ließ dabei teilweise große Unterschiede in der Interpretation des Konzepts erkennen – der Wortlaut (und damit auch die Sache selbst) sind jedoch als Bezugspunkt offensichtlich anerkannt. Im Lager der Befürworter finden sich u.a. Armenien, Australien, Botswana, Zypern, Island, Irland, Italien, Liechtenstein, Litauen, Mauritius, Monaco, Norwegen, Schweden und die Schweiz. Kanadas Premierminister Paul Martin spricht von einer „powerful norm of international behaviour“ und stellt nochmals klar, dass das Konzept keine 39 Vgl. UN Doc. A/60/L. 1 v. 15.09.2005: „Responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity: 138. Each individual State has the responsibility to protect its populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. This responsibility entails the prevention of such crimes, including their incitement, through appropriate and necessary means. We accept that responsibility and will act in accordance with it. The international community should, as appropriate, encourage and help States to exercise this responsibility and support the United Nations in establishing an early warning capability. 139. The international community, through the United Nations, also has the responsibility to use appropriate diplomatic, humanitarian and other peaceful means, in accordance with Chapters VI and VIII of the Charter, to help protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. In this context, we are prepared to take collective action, in a timely and decisive manner, through the Security Council, in accordance with the Charter, including Chapter VII, on a case-by-case basis and in cooperation with relevant regional organizations as appropriate, should peaceful means be inadequate and national authorities manifestly fail to protect their populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. We stress the need for the General Assembly to continue consideration of the responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity and its implications, bearing in mind the principles of the Charter and international law. We also intend to commit ourselves, as necessary and appropriate, to helping States build capacity to protect their populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity and to assisting those which are under stress before crises and conflicts break out. 140. We fully support the mission of the Special Adviser of the Secretary-General on the Prevention of Genocide.“ 40 In diesem Sinne auch grundsätzlich D. Jones, The Declaratory Tradition in Modern International Law, in: T. Nardin/D. Mapel (Hrsg.), Traditions of International Ethics, Cambridge 1992, 42-61.
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unilateralen Handlungen rechtfertige.41 Alle Staaten der Europäischen Union begrüßen in der vom britischen Premierminister Tony Blair vorgetragenen Stellungnahme die internationale Anerkennung der „responsibility to protect“ als „important step forward“.42 Vor dem Hintergrund der Erfahrung seines eigenen Landes fordert Ruandas Präsident Paul Kagame sogar, Frühwarnmechanismen gegen Völkermord und „preventive interventions“ zur Regel zu machen. Daneben gibt es eine Reihe von eher zurückhaltenden Stimmen wie etwa im Statement des indonesischen Präsidenten Susilo Bambang Yudhuyono. Deutlich ablehnend äußern sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez („[L]et’s not allow a handful of countries try to interpret with impunity the principles of the International Law.“) und der Präsident Simbabwes, Robert G. Mugabe, der vor „vague concepts“ warnt, die auf unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten zielten und genau geprüft werden müssten „in order to test the motives of their proponents“. Der Verweis auf weitere Diskussionen in der Generalversammlung platziert das Konzept zumindest potentiell auf der künftigen Agenda der Vereinten Nationen. Die Tatsache, dass im Laufe der Verhandlungen noch ein Absatz mit einer Unterstützungerklärung für den Sonderberater zur Verhütung von Völkermord eingefügt wurde, deutet dabei zugleich auf ganz praktische „Baustellen“, die auf dem neu gelegten Fundament der „responsibility to protect“ nun weiter bearbeitet werden müssen.
D. Entwicklungslinien und Lücken des Konzepts Der Blick auf die Etablierung des Konzepts der „responsibility to protect“ hat mehrere neuralgische Punkte offen gelegt: Zum einen gibt es einen erheblichen Vorbehalt, insbesondere der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, die Schutzverantwortung als eine wie auch immer geartete, grundsätzliche und bindende Einschränkung ihrer politischen und rechtlichen Kompetenzen in Folge von Artikel 24 und Kapitel VII anzuerkennen. Die grundsätzliche Anerkennung der „guiding principles“ konnte selbst in vager Sprache keinen Widerhall finden. Zweitens gibt die Verbindung staatlicher und internationaler Verantwortung die Möglichkeit, entweder erstere (eher aus souveränitätsbetonenden Ländern) oder 41
Stellungnahmen und Zitate sind der Zusammenstellung auf http://www.reformthe un.org entnommen. 42 Vgl. Statement of the European Union accompanying the speech of Prime Minister T. Blair v. 14.09.2005 (http://www.ukun.org). Zu Blair, der seit längerem (und auch mit Blick auf den Krieg im Irak) für einen gewandelten Souveränitätsbegriff plädiert, vgl. dessen programmatische Rede in Sedgefield v. 05.03.2004 (http://www.number-10.gov. uk).
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letztere Lesart (etwa von Mitgliedern des Human Security Network)43 zu akzentuieren. Drittens liegt über dem Konzept der „responsibility to protect“ seit dem Irak-Krieg der Schatten und die Versuchung auch unilaterale oder jedenfalls nicht vom Sicherheitsrat autorisierte Interventionen argumentativ abzustützen.44 Eine solche Instrumentalisierung würde freilich die deutliche Bindung an den Sicherheitsrat und die Bestätigung des geltenden Charta-Rechts im Gipfeldokument übergehen.45 Hinter diesen neuralgischen Punkten des Konzepts steht aber nichts anderes als eine Variation des eingangs beschriebenen Spannungsverhältnisses zwischen den Polen von Nichteinmischung, kollektiver Gewaltanwendung und individueller wie kollektiver Selbstverteidigung, das bereits in der Charta angelegt ist. „Responsibility to protect“ löst dieses Spannungsverhältnis nicht grundsätzlich auf – und doch hat es dieses Spannungsverhältnis in einen neuen Kontext und auf eine neue Ebene überführt. Dieser Befund kann umso mehr Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen, als er auf eine Reihe von Entwicklungen verweisen kann, die teils parallel und teils unabhängig von der hier skizzierten Herausbildung der Norm stattgefunden haben. Diese Entwicklungen führen zu den genannten „Baustellen“, auf denen die Umsetzung des Konzepts weitergeführt werden kann. An erster Stelle ist dabei eine verstärkte Tätigkeit im Bereich der Verhütung von Völkermord zu verweisen – jenem Tatbestand, der im Mittelpunkt auch der Schutzverantwortung steht und bei dem die für die „responsibility to protect“ konstitutive, präventive Dimension besonders deutlich wird.46 Die Einsetzung eines Sonderberichterstatters, von Kofi Annan anlässlich des zehnten Jahrestages des Genozids in Ruanda vorgeschlagen und mittlerweile mit dem Argentinier Juan E. Méndez besetzt, stellt eine sinnvolle Erweiterung des Frühwarninstrumentariums dar.47 Mit nur zwei Mitarbeitern ausgestattet, ist eine solche Tätigkeit sicherlich unterbesetzt. Gleichwohl stellt der Sonderberater (über den Generalsekretär) sozusagen eine institutionalisierte Möglichkeit dar, den Sicherheitsrat mit gefährlichen Situationen zu befassen – obwohl oder gerade wegen des Umstands, dass das Mandat des Sonderberichterstatters nicht beinhaltet, die Entscheidung darüber zu treffen, ob ein Völkermord vorliegt oder nicht. Bezüglich der Tatsachenermittlung lässt sich daneben auf den ad hoc-Mechanismus der Commission of Inquiry 43
Siehe http://www.humansecuritynetwork.org. In d. S. auch die Kritik von M. Byers, War Law. International Law and Armed Conflict, London 2005, 104-111. Zum Hintergrund vgl. auch T. Bruha/C. Tams, Die Vereinten Nationen und das Völkerrecht, Aus Politik und Zeitgeschichte 22 (2005), 32-39. 45 Vgl. UN Doc. A/60/L. 1 v. 15.09.2005, para. 77-80. 46 Vgl. zum Folgenden W. Schabas, Preventing Genocide and Mass Killing: The Challenge for the United Nations, London 2006, (http://www.minorityrights.org). 47 Siehe dazu Annans Plan UN Doc. SG/SM 9197 v. 07.04.2001 und die entsprechende Resolution des Sicherheitsrates UN Doc. S/Res/1366 v. 30.08.2001. 44
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on Darfur verweisen, die zum Modell für ähnlich gelagerte Fälle werden könnte.48 Tatsachenermittlung ist eine unverzichtbare Grundlage für die sinnvolle Anwendung der Prinzipien zum Einsatz von Gewalt, wie sie im Umfeld von „responsibility to protect“ entwickelt worden sind. Neben der Einbeziehung des Internationalen Strafgerichtshofes in diesem Zusammenhang wäre die Etablierung eines „treaty monitoring body“ für die Implementation der Verpflichtungen aus der Konvention gegen Völkermord ein möglicher weiterer Schritt.49 Wenn auch die „responsibility to protect“ noch nicht zweifelsfrei verankert ist, so hat sich der Sache nach dieser Gedanke (aufbauend auf dem humanitären Völkerrecht) bereits in einer Reihe weitreichender Resolutionen des Sicherheitsrates zum Schutz der Zivilbevölkerung im Allgemeinen und als Bestandteil des Auftrags diverser Friedenstruppen Bahn gebrochen.50 Der Textbaustein „to protect civilians under imminent threat of physical violence“ findet sich mit Variationen in den Mandaten der Missionen in Burundi, der Elfenbeinküste, Darfur, der Demokratischen Republik Kongo, Haiti, Liberia und Sierra Leone.51 In der offenen Debatte zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten, die der Sicherheitsrat im Dezember 2005 veranstaltete, war die „responsibility to protect“ der zentrale konzeptionelle Referenzpunkt. Der Entwurf für eine dritte, aktualisierte Grundsatz-Resolution des Sicherheitsrates zu diesem Thema (eingebracht von Großbritannien, Frankreich und Dänemark) nimmt entsprechend deutlich Bezug auf die Verankerung von „responsibility to protect“ im Gipfeldokument.52 Russland und China lassen dagegen deutliche Zurückhaltung gegenüber der Aufnahme des Konzepts in einer Resolution des Sicherheitsrates erkennen und verweisen auf die ebenfalls im Gipfeldokument enthaltene Forderung, das Konzept in der Generalversammlung weiter zu diskutieren. Erneut spiegelt der Kampf um Worte die inhaltliche und politische Auseinandersetzung um die Sache selbst 48 Vgl. P. Alston, The Darfur Commission as a Model for Future Responses to Crisis, Journal of International Criminal Justice 3 (2005), 600-607. 49 So die Vorschläge bei Schabas (Anm. 43), 29-30. 50 Vgl. Byers (Anm. 42), 126 sowie M. Fröhlich, Die Vereinten Nationen am Scheideweg, in: Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Ergänzungsband I, Hamburg/Berlin/Bonn 2004, 427-448 (431-436) sowie die beiden Grundsatzresolutionen UN Doc. S/Res/1265 v. 17.09.1999 und UN Doc. S/Res/ 1296 v. 19.04.2000. 51 Vgl. die Zusammenstellung bei V. K. Holt, The Responsibility to Protect: Considering the Operational Capacity for Civilian Protection, Washington January 2005 (Discussion Paper Henry L. Stimson Center), 45-58. (http://www.stimson.org/fopo/pdf/Stimson_ CivPro_pre-pubdraftFeb04.pdf). 52 Vgl. die laufende Dokumentation weiterer Entwicklungen auf den Seiten http://www. responsibilitytoprotect.org und http://www.securitycouncilreport.org.
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wider. Dieser Weg zur Weiterentwicklung des Konzepts verweist also auf eine Reihe von Einzelentscheidungen seitens des Sicherheitsrates. Damit verbunden ist die im Aushandlungsprozess letztlich übergangene Frage der Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat und insbesondere die Forderung nach der Selbstbeschränkung des Vetos. In diesem Kontext ist es interessant zu vermerken, dass die beiden konkurrierenden Resolutionen zur Veränderung der Zusammensetzung des Sicherheitsrates („G4“ und „Uniting for Consensus“) jeweils auch substantielle Vorschläge zur Änderung der Verfahrensweise und Erhöhung der Transparenz von Entscheidungen im Rat gemacht haben.53 Wenngleich hier massiver Widerstand der ständigen Ratsmitglieder erwartet werden kann, zeigt die jüngste Initiative einer Gruppe von kleinen Staaten, dass das Thema auch auf der Tagesordnung bleiben wird – ihr Resolutionsentwurf vom November 2005 nimmt die ursprüngliche ICISS-Forderung nach Zurückhaltung in Fällen von Genozid etc. auf.54 Bei all diesen Fortschritten sollten jedoch zwei „Lücken“ des Konzepts nicht unerwähnt bleiben. Die erste Lücke hat mit der offensichtlich unzureichenden Antwort zu tun, welche die internationale Gemeinschaft selbst bei Vorliegen von und Einigung über völkermordähnliche Taten in Darfur gegeben hat. Jegliche konzeptionelle Verfestigung von „responsibility to protect“ wirkt allenfalls dekorativ, solange sie nicht ihrem eigenen Anspruch gerecht wird, die Lage eindeutiger Opfer von staatlicher und nichtstaatlicher Gewalt zu verbessern. Geostrategische Interessen der Ratsmitglieder drohen die Glaubwürdigkeit des Rates zu unterlaufen.55 Damit verbunden ist jedoch eine zweite Lücke: Selbst wenn Einigkeit nicht nur über die Fakten, sondern auch über das Handeln und die Bereitstellung der nötigen Mittel erzielt werden könnte, bleibt die Frage des „Wie“ offen. Abseits der immer zu beachtenden Dreidimensionalität von prevent, react und rebuild, wie sie das ICISS vorgestellt hat, besteht eine erhebliche Lücke in der operativen Kapazität und militärischen Doktrin zum effektiven Schutz von Zivilisten. Eine Studie des Stimson Center attestierte sowohl den nationalen wie auch internationalen militärischen Führungs- bzw. Trainingszentren einen erheblichen Nachholbedarf bezüglich der Frage, unter welchen Prinzipien und mit welchen Mitteln 53
Vgl. M. Fröhlich/K. Hüfner/A. Märker, Reform des UN-Sicherheitsrates. Modelle, Kriterien und Kennziffern, Berlin 2005, (DGVN Blaue Reihe 94). 54 Siehe den Text unter http://www.eda.admin.ch/newyork_miss/e/home/wmsc. ContentPar.0001.UpFile.tmp/xy_yymmdd_0123456789_l.pdf. 55 Vgl. dazu P. D. Williams/A. J. Bellamy, The Responsibility to Protect and the Crisis in Darfur, in: Security Dialogue 36 (2005), 27-47; H. Slim, Dithering over Darfur? A Preliminary Review of the International Response, in: International Affairs 80 (2005), 811828 sowie R. Bernhard/H. Lingnau, Die Vereinten Nationen und die Darfur-Krise. Nationale Interessen stehen einer Lösung im Wege, Vereinte Nationen 52 (2004), 167-172.
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eine mandatsgetreue und effektive Schutzleistung durch Soldaten oder Polizisten von Friedensmissionen gewährleistet werden kann bzw. worin diese genau besteht: „As a result, there seems to be a gap between the thinking of the normative/ policy community to press for civilian protection policies and the understanding of the military and peace operations community who are likely to be asked to take action to protect civilians.“56 Diese Lücke zu verringern, ist ebenfalls Teil und Aufgabe der „responsibility to protect“, deren Herausbildung als neue Norm der Friedenssicherung damit jedoch nicht geschmälert werden soll. Das Konzept der „responsibility to protect“ ist nicht für die Schwierigkeiten in Haft zu nehmen, deren Sichtbarkeit und potentielle Behandlung dieser neuen Perspektive internationaler Politik erst zu verdanken ist.
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Holt (Anm. 51), 6.
Neue Perspektiven in der Friedenssicherung? Die Peacebuilding Commission der Vereinten Nationen Von Sven Bernhard Gareis
A. Einleitung Im Abschlussdokument des Weltgipfels der Vereinten Nationen vom 16. September 2005 findet sich neben zahlreichen Absichtserklärungen auch eine Reihe konkreter Reformbeschlüsse, unter denen die Schaffung einer Kommission für Friedenskonsolidierung (peacebuilding commission) als die wahrscheinlich bedeutendste Neuerung herausragt. Schließlich konzentrieren sich die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen seit fast zwei Jahrzehnten immer stärker auf die Stabilisierung und den Wiederaufbau von Staaten und Gemeinwesen, deren politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen zuvor durch Bürgerkriege, Staatszerfall oder andere dramatische Entwicklungen zerstört worden sind. Seit der „Agenda für den Frieden“1 hat sich für diese Art von Bemühungen der internationalen Gemeinschaft der Begriff „Friedenskonsolidierung“ (peacebuilding) eingebürgert. Die von VN-Generalsekretär Kofi Annan eingesetzte „Hochrangige Expertengruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ hat in ihrem im Dezember 2004 vorgelegten Bericht ein wachsendes Engagement der Vereinten Nationen in der Friedenskonsolidierung konstatiert,2 zugleich aber nachdrücklich auf die „institutionelle Lücke“ hingewiesen, welche im VN-System zwischen dem Sicherheitsrat sowie dem Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) hinsichtlich der Verantwortung für die Prävention etwa von Staatszerfall oder eben für nachhaltige Friedenskonsolidierung klafft. So befasst sich der Sicherheitsrat vorrangig mit den aktuellen Krisenszenarien, während der ECOSOC eher für Entwicklungsaufgaben in friedlichen Kontexten zuständig ist. Hilfe für Gesell1
B. Boutros-Ghali, Agenda für den Frieden. Vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung und Friedenssicherung. Bericht des Generalsekretärs. VN-Dokumente A/47/277S/24111. 2 Vgl. Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel, Eine sicherere Welt: Unsere geteilte Verantwortung. VN-Dokument A/59/565, Ziff. 224-230.
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schaften im Übergang von der Gewalt zu einem dauerhaften Frieden jedoch kommt oft gar nicht, zu spät oder zu wenig koordiniert an – mit der Folge, dass zahlreiche Bürgerkriegsländer nach allenfalls kurzen Phasen eines oberflächlichen Friedens wieder in Krieg und Gewalt zurückfallen. Zur Schließung dieser Lücke, zur besseren Koordination der zahlreichen an post-conflict peacebuilding beteiligten Akteure und vor allem zur Reduzierung des Rückfallrisikos regte das Panel die Einrichtung einer Kommission für Friedenskonsolidierung an.3 In seinem Reformbericht „In größerer Freiheit“ vom März 2005 machte sich der VN-Generalsekretär diese Empfehlung zu eigen und unterbreitete eine Reihe konkreter Vorschläge zu Struktur und Funktionen einer solchen peacebuilding commission,4 die er in einer am 17. April 2005 nachgereichten Erläuternden Mitteilung weiter präzisierte.5 Die sich daran anschließenden Aussprachen in der Generalversammlung zeigten, dass unter den Mitgliedstaaten eine große Übereinstimmung hinsichtlich der Erforderlichkeit einer solchen Einrichtung herrschte – auch die stets VN-skeptischen USA unterstützten das Projekt.6 Das Abschlussdokument des Weltgipfels konnte daher neben dem Beschluss zur Schaffung der Kommission auch klare Vorgaben zu ihrer Ausgestaltung machen,7 so dass es nur relativ kurzer Verhandlungen bedurfte, bis Generalversammlung und Sicherheitsrat am 20. Dezember 2005 in parallelen Resolutionen8 die peacebuilding commission als ein internationales Beratungs- und Konsultationsorgan ins Leben rufen konnten. Erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen wurde damit ein Nebenorgan geschaffen, welches gleichzeitig von zwei Hauptorganen genutzt wird und ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Die neue Kommission sowie ihre Möglichkeiten und Grenzen, wirkungsvoll zu einer erfolgreicheren Bilanz der internationalen Bemühungen um den Frieden beizutragen, stehen im Mittelpunkt der nachfolgenden Analyse. Zuvor jedoch scheint es angebracht, mit einem Überblick über das Handlungsfeld „peacebuilding“ den Rahmen aufzuzeigen, innerhalb dessen sich die künftige Arbeit der Kommission vollziehen wird. 3
Ebda., Ziff. 261-269. K. Annan, In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle. Bericht des Generalsekretärs. VN-Dokument A/59/2005, Ziff. 114119. 5 K. Annan, Kommission für Friedenskonsolidierung. Erläuternde Mitteilung des Generalsekretärs. VN-Dokument A/59/2005/Add. 2. 6 Vgl. Report of the Task Force on the United Nations, American Interests and UN Reform, Washington 2005, 24. 7 Vgl. Ergebnis des Weltgipfels. Resolution der Generalversammlung 60/1. VN-Dokument A/RES/60/1, Ziff. 97-105. 8 Generalversammlung: A/RES/60/180; Sicherheitsrat: S/RES/1645. 4
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B. Peacebuilding als wachsende Herausforderung für die VN-Friedenssicherung Die Vereinten Nationen sehen sich in ihren Bemühungen für den Weltfrieden seit nunmehr rund zwanzig Jahren mit neuen Entwicklungen im internationalen Krisen- und Konfliktgeschehen konfrontiert, in denen sich zwei grundlegende Trends ausmachen lassen: – Zum ersten gehört der klassische zwischenstaatliche Krieg zwar noch nicht der Vergangenheit an, er wird aber immer seltener. Krieg und Gewalt verschwinden damit aber nicht, sondern verlagern sich verstärkt in den innerstaatlichen Bereich. Diese „neuen“ oder „kleinen“ Kriege9 sind dann zumeist durch ein Nebeneinander einerseits von Kampfhandlungen etwa zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Aufständischen sowie zwischen rivalisierenden warlords oder Clanführern und andererseits von großflächigen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung gekennzeichnet. Trotz ihres Ursprungs innerhalb der Grenzen eines Staates entfalten sie dabei weitreichende Wirkungen in das internationale System hinein, etwa durch spill over-Effekte, durch Flüchtlingsbewegungen oder dadurch, dass fragile bzw. zerfallende Staaten einen idealen Nährboden für die organisierte Kriminalität und den mit dieser eng verbundenen Gewaltexport nicht zuletzt durch Terrorgruppen bieten.10 – Zum zweiten zeigt sich, dass die Zahl neu entstehender Konflikte – je nach Zählweise – stagniert oder gar rückläufig ist, dafür aber die Häufigkeit des Rückfalls von Gesellschaften mit unvollständig überwundener Gewalterfahrung zunimmt. In rund der Hälfte der Bürgerkriegsländer kommt es innerhalb eines Zeitraumes von weniger als fünf Jahren zu einem erneuten Ausbruch der Gewalttätigkeiten,11 auch nach zehn Jahren ist das Rückfallrisiko eines früheren
9
Vgl. hierzu ausführlich Chr. Daase, Kleine Kriege, große Wirkung, Baden-Baden 1999; M. Kaldor, Alte und Neue Kriege, Frankfurt a.M. 2002; H. Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002 / auch bei Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 387. 10 Vgl. S. Gareis, Future Wars. Characteristics, Forms of Reaction and Strategic Requirements, in: A. Gobbicchi (Hrsg.), Globalization, Armed Conflicts and Security, Rom 2004, 153-170; U. Schneckener, Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-29 (2005), 26-31. 11 Vgl. Annan (Anm. 4), Ziff. 114.
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Bürgerkriegslandes erheblich höher als die Gefahr eines Konfliktausbruchs in einem noch friedlichen Staat.12 Aus beiden Trends folgt, dass die Unterstützung von Staaten und Gesellschaften beim Übergang von der Beendigung akuter Gewaltanwendung hin zu einem nachhaltigen Frieden nicht nur ein humanitäres Gebot, sondern aufgrund der vielfältigen internationalen Folgewirkungen auch eine wachsende Herausforderung für die globale Friedenssicherung darstellt. Die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen waren jahrzehntelang darauf konzentriert, zur Beendigung laufender Konflikte beizutragen (peacemaking) und durch den Einsatz von Beobachtungs- bzw. Blauhelmmissionen (peacekeeping) das Wiederaufflammen der Kampfhandlungen zu verhindern. Demgegenüber forderten die komplexen innerstaatlichen Szenarien, mit denen sich die Organisation ab Ende der 1980er Jahre zu befassen begann, die Erfüllung sehr viel weiterreichender Funktionen im Rahmen von Friedenskonsolidierung (peacebuilding).13 Das zentrale Ziel dieser Bemühungen besteht in der Verhinderung eines Rückfalls des betroffenen Landes in die Gewalt. Friedenskonsolidierung gehört damit in einem umfassenden Verständnis zur Konfliktprävention, wenngleich sie keine primäre Prävention zur Verhinderung von Gewaltkonflikten darstellt. Indem es – entschlossen zur Anwendung gebracht – Staaten und Gesellschaften vor fortgesetzter Gewalt bewahrt, füllt post-conflict peacebuilding als „sekundäre Prävention“ gleichwohl wichtige Funktionen aus.14 Zur Friedenskonsolidierung gehört zunächst die Gewährleistung eines sicheren Umfeldes durch robuste militärische Präsenz, aber auch durch Entwaffnungs-, Demobilierungs- und Reintegrationsprogramme (disarmament, demobilisation, reintegration, DDR). In den Rahmen von peacebuilding fallen darüber hinaus Anstrengungen hinsichtlich des institutionellen Wiederaufbaus (institution-building), insbesondere bei zivilen Verwaltungen, bei der Rechtspflege, beim Polizeiwesen, bei demokratischen Strukturen und freien Medien. Die Schaffung tragfähiger gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller und infrastruktureller Bedingungen unter den Vorzeichen des Friedens statt des Krie12
Vgl. P. Collier/L. Elliott/H. Hegre/A. Hoeffler/M. Reynal-Querol/N. Sambanis, Breaking the Conflict Gap. Civil War and Development Policy. A World Bank Policy Research Report, Washington und Oxford 2003, 8. 13 Zur Entwicklung der Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen siehe ausführlich S. Gareis/J. Varwick, Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente, Reformen, 4. Aufl. (2006), Teil B, Kap. 2. 14 Zu den Konzepten von Krisen- und Konfliktprävention vgl. V. Matthies, Krisenprävention. Vorbeugen ist besser als Heilen, Opladen 2000; S. Gareis, Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik, Opladen 2005, Kap. 11.
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ges schließlich runden das komplexe Anforderungsprofil von Einsätzen zur Friedenskonsolidierung ab.15 Peacebuilding weist damit zahlreiche Elemente des nation- bzw. state-building auf;16 tatsächlich kommt das Mandat von Einsätzen wie in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo oder in Ost-Timor der mehr oder minder umfassenden Neuschaffung eines Staates bzw. Gemeinwesens gleich. In peacebuilding-Prozessen gehen dabei klassische Formen militärischer Friedenssicherung mit entwicklungspolitischen Ansätzen eine zunehmend unauflösliche Verbindung ein. Entsprechend vielschichtig ist das Akteursensemble im Bereich der Friedenskonsolidierung. Auf der operativen Ebene wirken neben Soldaten in zunehmender Weise auch Zivilpolizisten, Verwaltungsexperten und Entwicklungshelfer ebenso mit wie Infrastrukturexperten und technische Spezialisten, hinzu kommen Repräsentanten der verschiedenen VN-Gliederungen bzw. anderer internationaler Organisationen sowie die Angehörigen einer rasch wachsenden NGO-Community. Angesichts der häufig divergierenden Interessen der dieses Personal entsendenden Staaten, Organisationen und Institutionen kommt es häufig genug zum clash of civilizations, selbst wenn es sich bei den agierenden Personen um Angehörige des gleichen Staates oder Kulturkreises handelt. Eine strategische Koordination dieser Einsatzkräfte im Rahmen integrierter Missionen zur Friedenskonsolidierung fällt unter diesen Bedingungen zumindest sehr schwer und ist oftmals kaum möglich. In der Folge treten gerade die komplexen Friedensmissionen gegenüber den zu entwickelnden Institutionen und Strukturen im Einsatzland häufig als alles andere denn kohärente Partner mit einem gemeinsamen Anliegen auf. Dieses Problem wiegt umso schwerer, als es ja das Ziel dieser Einsätze ist, schrittweise und möglichst frühzeitig Macht- und Ordnungsbefugnisse an eben diese neu zu formenden Autoritäten abzugeben, bis schließlich der Einsatzzweck erfüllt ist und die Mission abgezogen werden kann. Hinzu kommt, dass die je nach den Gegebenheiten des Einsatzlandes und des zugrunde liegenden Konflikts unterschiedlichen Herausforderungen dafür sorgen, dass für jede Mission ein spezifisches Anforderungs- und Fähigkeitenprofil erarbeitet werden muss. Die Entwicklung grundlegender Standards für die integrat-
15
Zu den Anforderungen komplexer Missionen vgl. S. Gareis, Internationale Friedenssicherung im Rahmen der Vereinten Nationen, in: S. Gareis/P. Klein, Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, 2. Aufl. 2006, 226–237 (232). 16 Zu den begrifflichen Klärungen der zahlreichen, teils synonym verwendeten building-Konzepte siehe detailliert U. Schneckener, Frieden Machen: Peacebuilding und peacebuilder, in: Die Friedenswarte 1-2 (2005), 17-39 (18f.).
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ed missions, die seit den ausgehenden 1990er Jahren praktisch den Regelfall von VN-Friedenseinsätzen bilden, steht daher weiterhin aus.17 Bislang haben die Vereinten Nationen diesen hier nur skizzierten Herausforderungen in konzeptioneller wie auch institutioneller Hinsicht eher wenig entgegenzusetzen. Zwar sind mit der Etablierung des Standby-ArrangementSystems18 und dem auf dem VN-Millenniumsgipfel im Jahr 2000 einmütig verabschiedeten Brahimi-Report19 wichtige Impulse zur Verbesserung der operativen peacekeeping-Fähigkeiten der VN gegeben worden – eine umfassende Positionsbestimmung und Neuausrichtung des komplexen Politikfeldes „Umgang mit globalen Bedrohungen und Risiken“ wurde dagegen erst mit den Berichten der Hochrangigen Gruppe und des VN-Generalsekretärs angestoßen. Im Kontext der diesbezüglich zu entwickelnden Strategien und Instrumente wie auch hinsichtlich einer verbesserten Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen in diesem Bereich könnte die peacebuilding commission eine wichtige Rolle spielen.
C. Die Peacebuilding Commission: Funktionen, Struktur und Arbeitsweisen Mit ihren Resolutionen haben Generalversammlung und Sicherheitsrat die peacebuilding commission als ein intergouvernementales Beratungsorgan eingesetzt, dessen primäre Aufgabe darin besteht, das breitgefächerte Akteursensemble auf dem Gebiet der Friedenskonsolidierung in einem institutionellen Kontext zusammenzubringen, um Vorschläge für Ressourceneinsatz und Wiederaufbaustrategien im Rahmen von post-conflict peacebuilding zu erarbeiten. Eine weitere zentrale Funktion der Kommission wird darin bestehen, die in vielen Szenarien nur unzureichend ausgeprägte Aufmerksamkeit der globalen Öffentlichkeit auf das Erfordernis von Bemühungen um Wiederaufbau und Institutionenbildung in der Konfliktnachsorge zu lenken sowie die Entwicklung integrierter Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung zu unterstützen.
17
Vgl. hierzu ausführlich E. B. Eide/A. T. Kaspersen/R. Kent/K. v. Hippel, Report on Integrated Missions. Practical Perspectives and Recommendations. Independent Study for the Expanded UN ECHA Core Group. New York 2005. 18 Vgl. M. Eisele/E. Griep, „Standby“: Neue Wege in der Friedenssicherung, in: Vereinte Nationen 2 (1996), 50–56; S. Gareis, Verfügbarkeit auf Abruf, in: Reader Sicherheitspolitik 4 (2001), 41–56. 19 Brahimi Report, Report of the Panel on United Nations Peacekeeping Operations, VN-Dokumente A/55/305-S/2000/809.
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Trotz zwischenzeitig vielfältiger Erfahrungen in der Friedenskonsolidierung fehlen den beteiligten Akteuren bei Beginn neuer Operationen immer wieder grundlegende Doktrinen und Richtlinien in Form eines reflektierten kollektiven Erfahrungsbestandes. Dies hat zur Folge, dass die ohnedies kritische Frühphase eines Einsatzes zusätzlich durch Lern- und Findungsprozesse belastet wird, die durch eine harmonisierte vorbereitende Ausbildung des Personals beträchtlich reduziert werden könnte. Zu den wichtigsten Aufgaben der peacebuilding commission gehört daher auch, Informationen und Empfehlungen für eine verbesserte Koordination aller wichtigen Akteure innerhalb und außerhalb des VN-Systems zu erarbeiten, best practices zu entwickeln. Solche Erfahrungswerte sollen auch den zuständigen Einrichtungen der Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden, damit diese ihr Personal schon im nationalen Bereich auf die Erfordernisse des künftigen Einsatzes vorbereiten können. Weil insbesondere bei der Institutionenbildung – etwa im Bereich von Polizei, Rechtspflege und Administration – erhebliche Kosten bereits in einem Stadium entstehen, in dem internationale Finanzierungsmechanismen (Geberkonferenzen etc.) noch nicht greifen, soll die Kommission auch zur verlässlichen Finanzierung gerade der frühen Wiederaufbaumaßnahmen beitragen können. Angesichts rasch aufeinander folgender Krisen weltweit wendet sich die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft rasch neuen Brennpunkten zu – die Kommission soll daher nicht zuletzt auch dafür sorgen, dass die Bemühungen in der Konfliktfolgezeit möglichst lange auf der globalen Agenda bleiben.20 Um gleichzeitig dem Erfordernis einer dauerhaften Arbeit insbesondere auch im Hinblick auf die Entwicklung von Leitlinien und Grundsätzen für Operationen zur Friedenskonsolidierung wie auch den jeweiligen landes- und missionsspezifischen Gegebenheiten entsprechen zu können, soll die Kommission in unterschiedlicher Zusammensetzung arbeiten. Ihren Kern bildet dabei ein Organisationsausschuss (organizational committee), dem 31 VN-Mitgliedstaaten – verteilt auf die fünf nachstehenden Kategorien – angehören: – sieben Mitglieder des VN-Sicherheitsrates: In einem unmittelbar nach der Gründungsresolution verabschiedeten Beschluss bestimmte der Sicherheitsrat, dass seine fünf Ständigen Mitglieder dem Organisationsausschuss dauerhaft angehören sollen, so dass nur zwei der zehn nichtständigen Mitglieder für eine Mitarbeit in der Kommission in Frage kommen,21 – sieben Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC), die nach Maßgabe seiner Regeln durch den ECOSOC bestimmt werden, 20 21
Zu den Funktionen der Kommission vgl. A/RES/60/180: Ziff. 2. S/RES/1646 vom 20. Dezember 2005.
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– fünf Staaten, welche die zehn Hauptbeitragszahler zum VN-Haushalt aus ihrem Kreis heraus bestimmen, – fünf Staaten, welche die zehn größten Steller von Militärpersonal und Zivilpolizei aus ihrem Kreis heraus bestimmen, – sieben weitere Staaten, die von der Generalversammlung unter Berücksichtigung der Regionalgruppen sowie nach noch festzulegenden Verfahren zu bestimmen sind. Zudem wurde in der Gründungsresolution festgelegt, dass jedes Mitglied nur in einer der obigen fünf Kategorien für eine Amtszeit von zwei Jahren gewählt werden kann. Weil die Amtszeiten unbeschränkt erneuerbar sind, können auch andere Staaten als die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates durch Wiederwahl eine quasi-ständige Mitgliedschaft in der peacebuilding commission erreichen. Deutschland wird sich in der Kategorie „Hauptbeitragszahler“ um eine Vertretung im Organisationsausschuss bewerben. Im Rahmen der so genannten länderspezifischen Beratungen (country-specific meetings) werden zusätzlich zum Organisationsausschuss weitere Mitglieder hinzugezogen, voran das betroffene Land, aber auch in den Wiederaufbau und politischen Dialog involvierte regionale Anrainerstaaten bzw. Regionalorganisationen, wichtige Truppen bzw. Polizeikräfte stellende Staaten, VN-Vertreter oder internationale Finanzorganisationen. Bezüglich ihrer Arbeitsweisen steht der Kommission kein Initiativrecht zu, sie kann also nicht die Szenarien und Themen auswählen, die ihrer Auffassung nach der Bearbeitung bedürfen. Vielmehr kann sie nur tätig werden, wenn sie durch den Sicherheitsrat, die Generalversammlung, einen betroffenen Staat oder den VNGeneralsekretär dazu aufgefordert wird. Für die Generalversammlung und ein möglicherweise betroffenes Land gilt dabei einschränkend das vorrangige Befassungsrecht des Sicherheitsrates, das in Art. 12 der VN-Charta niedergelegt ist. Alle Aktivitäten und Äußerungen der Kommissionen basieren auf dem Konsens ihrer Mitglieder und ihre Vorschläge und Positionen sind rein empfehlender Natur, d.h. sie binden weder VN-Gremien noch Mitgliedstaaten.22 Die Arbeit der Kommission soll durch ein Peacebuilding Support Office (PSO) unterstützt werden, welches der VN-Generalsekretär im Sekretariat einzurichten beauftragt wurde. Dieses Expertengremium wird – so der Stand der Diskussion im Januar 2006 – voraussichtlich rd. 20 Personen umfassen, die aus dem Personalbestand des Sekretariats rekrutiert werden müssen. Ein eigenes Stellentableau wollten die Mitgliedstaaten ihrem neuen Nebenorgan nicht zugestehen. 22
Ebda. Ziff. 12.
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Die Finanzierung insbesondere der Maßnahmen in der frühen Konfliktfolgezeit soll aus einem ebenfalls durch den Generalsekretär zu eröffnenden Peacebuilding Fund geschehen. Die Zahlungen in diesen Fond sollen auf freiwilliger Basis durch die Mitgliedstaaten erfolgen. Über ihre Arbeit hat die Kommission einmal jährlich gegenüber der Generalversammlung Bericht zu erstatten; in der bereits erwähnten Resolution 1646 hat der Sicherheitsrat für sich ebenfalls eine Berichterstattung reklamiert.
D. Die Peacebuilding Commission in der VN-Friedenssicherung: Chancen und Grenzen Mit der peacebuilding commission hat die an Neben-, Unter- und Fachorganen nicht gerade arme Weltorganisation eine weitere Einrichtung geschaffen, deren Erforderlichkeit indes bei der übergroßen Zahl der Mitgliedstaaten unbestritten ist. Immerhin haben die Passagen über die Kommission die umfassenden inhaltlichen Überarbeitungen des Abschlussdokuments des Weltgipfels 2005 einigermaßen unbeschadet überstanden. Doch so groß die Zustimmung in der Staatenwelt zu der neuen Kommission auch ist, so differenziert müssen ihre Möglichkeiten angesehen werden, zu einer nachhaltigen Verbesserung der Erfolgsbilanz internationaler Friedensbemühungen beizutragen. Als wichtige limitierende Faktoren müssen vorderhand die Beschränkung der Kommission auf Beratungsfunktionen sowie ihre Verpflichtung betrachtet werden, ihre Arbeitsweisen,Vorschläge und Empfehlungen am Konsensprinzip auszurichten. In Verbindung mit der Vorgabe, nur auf Beratungsersuchen hin tätig zu werden, sind der peacebuilding commission Möglichkeiten einer proaktiven Thematisierung zu behandelnder Probleme weitestgehend verschlossen. Dabei hätte der entscheidende Mehrwert eines solchen Organs gerade in einer größeren Unabhängigkeit von den Interessenlagen und Opportunitätserwägungen der Staaten, vor allem der (Ständigen) Mitglieder des Sicherheitsrates bei der Befassung mit post-conflict-Szenarien und der Formulierung von Strategien zu ihrer Bewältigung bestehen können. Tatsächlich hatten die ursprünglichen Empfehlungen der Hochrangigen Gruppe in einem umfassenden, das gesamte Kontinuum von präventiven Maßnahmen bis zur Konfliktnachsorge einschließenden Ansatz ein solches Initiativrecht der Kommission bezüglich drohenden oder begonnenen Konflikten vorgesehen.23 Doch schon im Bericht des Generalsekretärs war von einer solchen präventiven 23
Vgl. Bericht der Hochrangigen Gruppe, (Anm. 2), Ziff. 263 und besonders 264.
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bzw. Frühwarnfunktion keine Rede mehr, und während des 2005 geführten Diskussionsprozesses ist das tatsächliche Mandat der Kommission weiter deutlich begrenzt worden. Insbesondere die Regierungen zahlreicher Entwicklungsländer mit teils fragilen innenpolitischen Bedingungen hatten die Befürchtung gehegt, so „rascher zu Kandidaten für VN-Interventionen zu avancieren“24 und verweigerten ihre Zustimmung zu einer allzu eigenständigen Rolle der neuen Kommission. Zudem ist die Kommission – wiederum entgegen den Empfehlungen des Reformpanels – mit ihren 31 Mitgliedern im Organisationsausschuss und einer größeren Zahl weiterer Teilnehmer in den länderspezifischen Zusammenkünften alles andere als klein. Ihre Arbeitseffizienz wird daher in erheblichem Maße von der Kooperationsdisziplin der Mitglieder abhängen – wobei keineswegs ausgemacht ist, dass nur Staaten mit einer konstruktiven Haltung in das Organisationskomitee gewählt werden. Mit der im Vergleich zu den früheren Entwürfen in den Gründungsresolutionen von drei auf zwei Jahre reduzierten Amtszeit könnte auch eine erhebliche Fluktuation unter den Mitgliedern eintreten. Dies würde sich keinesfalls zugunsten der Entwicklung eines institutionellen Gedächtnisses auswirken, welches für die Überführung gelernter Lektionen in ein Set grundlegender Richtlinien und Anleitungen (doctrines and guidance) für integrierte Missionen zur Friedenskonsolidierung erforderlich ist. Auch hinsichtlich der Ausstattung des peacebuilding support office (PSO), das vom VN-Sekretariat aus die Arbeit der Kommission unterstützen soll, sind die Mitgliedstaaten wenig beherzt vorgegangen – sowohl die Personalstellen als auch die für die Arbeit nötigen Finanzmittel muss der Generalsekretär aus dem laufenden, ohnedies schrumpfenden Bestand heraus aufbringen. Der für Haushaltsfragen zuständige V. Hauptausschuss der Generalversammlung jedenfalls hat im Dezember 2005 entschieden, keine zusätzlichen eigenen Haushaltsmittel für die Arbeit von Kommission und PSO bereitzustellen.25 Schließlich ist die Etablierung als gemeinsames Nebenorgan zweier Hauptorgane, die sich hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer Handlungsmöglichkeiten so grundlegend unterscheiden wie die Generalversammlung und der Sicherheitsrat, alles andere als einfach – hinzu kommt der ECOSOC als drittes, ebenfalls noch zu berücksichtigendes Hauptorgan. Diese komplizierte institutionelle Anbindung der peacebuilding commission wird einen sicher nicht unerheblichen Koordinierungsaufwand zur Folge haben, insgesamt dürften sich damit auch die Voraussetzungen für die Abfassung klarer Mandate für die Kommission schwierig gestalten. 24 U. Schneckener/S. Weinlich, Die VN-Peacebuilding Kommission. Berlin, SWPaktuell 37 (2005), 6. 25 Vgl. Report of the Fifth Committee, The Peacebuilding Commission. Programme budget implications on draft resolution A/60/L.40, VN-Dokument A/60/598.
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Anstelle eines eigenständigen Frühwarnsystems haben die VN-Mitglieder also ein abhängiges Beratungsgremium geschaffen – realistischerweise war nach den Erfahrungen mit den Reformbemühungen der zurückliegenden zehn Jahre auch kaum zu erwarten, dass die Staaten in einem sensiblen Bereich eine neue Institution schaffen würden, ohne sich weitestreichende Kontrollbefugnisse zu reservieren.26 Doch diesen Einschränkungen zum Trotz erscheint die Schaffung dieser Kommission dennoch sinnvoll: Sie ist zwar ein großes, dafür aber auch ein differenziertes Gremium, dessen Mitgliederstruktur in durchaus repräsentativer Weise den in der Friedenskonsolidierung zu begegnenden Aufgaben, Funktionen und Herausforderungen entspricht. Ihre zentrale Funktion, die wesentlichen Akteure auf diesem Gebiet zusammenzuführen, erfüllt sie somit bereits durch ihre schiere Existenz – die Verantwortung, dieses Forum dann auch in angemessener Weise zu nutzen, bleibt indes bei den beteiligten (meist staatlichen) Akteuren. So sind im Organisationsausschuss neben den mächtigen Ständigen Sicherheitsratsmitgliedern und den Hauptbeitragszahlern auch die Haupttruppensteller durch fünf Mitglieder vertreten – dies fast allesamt Entwicklungs- und Schwellenländer, die sonst kaum in die konzeptionelle Vorbereitung von Entscheidungen eingebunden werden. Dabei könnte die Berücksichtigung von deren spezifischen Sichtweisen auf die zu behandelnden Probleme ebenso von Bedeutung für die Arbeit der Kommission sein wie umgekehrt die Lernprozesse, die für diese Länder aus der verantwortlichen Einbindung in solche Gremien resultieren. Aber auch die vermeintliche Schwäche eines beratenden Konsensgremiums ohne Entscheidungsbefugnisse könnte sich durchaus als Vorteil erweisen: Unter den Vorzeichen der Unverbindlichkeit fällt die Konsensfindung gemeinhin leichter – es besteht dann die begründete Hoffnung, dass sich die beteiligten Staaten dann in den Entscheidungsgremien, insbesondere im Sicherheitsrat, auch an die gemeinsamen Ziele und Strategien halten werden. Richtig genutzt erscheint die peacebuilding commission also durchaus als ein sinnvolles Gremium, dessen Wirksamkeit in der VN-Friedenssicherung sich gleichwohl noch herausstellen muss.
E. Perspektiven Die peacebuilding commission ist zwar im Dezember 2005 eingerichtet worden, ihre Konstituierung jedoch wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen und sich möglicherweise bis in die zweite Hälfte des Jahres 2006 hinziehen. Im Organisationsausschuss sind bislang nur die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates 26
Vgl. Gareis/Varwick (Anm. 13 ), Teil E, Kap. 1.
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von vorneherein gesetzt – die übrigen 26 Mitglieder müssen in allen fünf Kategorien nach teilweise noch festzulegenden Verfahren ausgewählt und die sich möglicherweise überlappenden Amtszeiten (im Falle der Sicherheitsrat- und ECOSOCVertreter) harmonisiert werden. Gleiches gilt für die Rekrutierung des Personals für das peacebuilding support office und auch im Falle des peacebuilding fund muss neben der Klärung von Fragen wie der Zugriffsberechtigung bzw. Ausgabenverantwortung auch abgewartet werden, inwieweit die Mitgliedstaaten den Fond mit freiwilligen Beiträgen füllen. Ob sich die Kommission nach der Herstellung ihrer Arbeitsfähigkeit als ein erfolgreiches Gremium bewähren oder zu einem weiteren Beispiel für die Unfähigkeit der Vereinten Nationen wird, komplexen politischen Anforderungen durch multilaterale Kooperation gerecht zu werden, wird wesentlich von den ersten Entscheidungen hinsichtlich ihrer Arbeit abhängen: So dürften überzogene Erwartungen seitens der Mitgliedstaaten in Verbindung mit einer großen Zahl zugewiesener Mandate ein sicheres Scheitern des neuen Nebenorgans nach sich ziehen. Gleiches gilt für die Übertragung eines wenig aussichtsreichen Falles wie etwa der Haiti-Problematik als erste Bewährungsprobe für die Kommission. Ihre Größe und die Komplexität ihrer Mitgliederstruktur erfordern ein gewisses Maß an Zeit, um Regeln, Verfahren und Geschäftsordnungen zu entwickeln und sie einzuüben, damit sich ein so heterogenes Akteursensemble in eine gemeinsame Richtung wird bewegen können. Die VN-Mitgliedstaaten wären daher gut beraten, sich der Möglichkeiten der peacebuilding commission zunächst nur im Rahmen eines einzelnen Szenarios zu bedienen, welches für die Entwicklung und Implementierung von Wiederaufbaustrategien erfolgversprechende Bedingungen aufweist und welches zugleich die Interessen der mächtigeren Staaten hinreichend stark berührt, um ihre konstruktive Mitarbeit zu sichern – zu denken wäre hier etwa an die Situation in Burundi. Idealiter könnte sich die peacebuilding commission so schrittweise zu einem Gremium entwickeln, das im Auftrag von Sicherheitsrat bzw. Generalversammlung die an den jeweiligen Erfordernissen orientierte Ausarbeitung von Mandaten für Missionen zur Friedenskonsolidierung leistet, um sie dann vom Sicherheitsrat beschließen zu lassen. Gemessen an der bisherigen Praxis des Sicherheitsrates, häufig wenig realitätsbezogene Mandate auf der Grundlage halbherziger Kompromisse zu erteilen, könnte dies zu einer wesentlichen Qualitätssteigerung der gesamten durch die Vereinten Nationen verantworteten Friedenssicherung beitragen. Dies wäre umso mehr der Fall, wenn sich die Kommission eine eigene Infrastruktur schaffen könnte – etwa durch ständige oder ad hoc eingesetzte Arbeitsgruppen sowie Unterstützungsgruppen für bestimmte Themenfelder, wie sie als like-minded groups bzw. friends-of-groups auch im Bereich der VN-Friedens-
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sicherung seit langem erfolgreich bestehen. Wenn die Kommission darüber hinaus mit der Befugnis ausgestattet würde, über Mittel aus dem peacebuilding fund vor allem bei frühen Konsolidierungsmaßnahmen (etwa Gehaltszahlungen für Bedienstete staatlicher Institutionen im Einsatzland als Teil des institution-building), zu verfügen, könnten ihr sogar (beschränkte) Akteursfunktionen zufallen. Es bleibt daher zunächst abzuwarten, ob die neue Kommission über den Status eines Debattiergremiums hinauskommt. Ihre Zukunft hängt dabei, wie die der gesamten Weltorganisation, in erster Linie von den sie tragenden Staaten ab. Denn auch für die peacebuilding commission gilt, was seit Jahren und Jahrzehnten zum gesicherten Erfahrungsstand der Friedensbemühungen der Weltorganisation gehört: Erfolge stellen sich nur in dem Maße ein, in dem es gelingt, den politischen Willen handlungsbereiter und -fähiger Staaten in ein erfüllbares politisches Mandat zu überführen, die eingesetzten Missionen personell, finanziell und materiell angemessen auszustatten und sie bei der Durchführung ihres Mandates dauerhaft zu unterstützen. Fehlt es an diesem politischen Willen, besteht auch keine Aussicht auf eine erfolgreiche Mission gleich welcher Art und Komplexität. Wenn es im Rahmen der Kommission gelingt, durch die Zusammenführung der wesentlichen Akteure in einem institutionellen Kontext an der Ausprägung dieses politischen Willens, seiner Aufrechterhaltung sowie seiner koordinierten Umsetzung unterstützend mitzuwirken, wäre mithin schon viel erreicht.
Die Entwicklungsagenda nach dem Millennium+5-Gipfel 2005 – eine Checkliste unerledigter Aufgaben* Von Jens Martens
A. Einleitung Es sollte ein historisches Gipfeltreffen werden, und gemessen an der Zahl der anwesenden Politiker war es das auch. 154 Staats- und Regierungschefs und mehr als 900 Minister trafen sich vom 14. bis 16. September 2005 bei den Vereinten Nationen in New York, um Schlussfolgerungen aus der bisherigen Umsetzung der Millenniumserklärung des Jahres 2000 zu ziehen und konkrete Schritte zur Verwirklichung der Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) und der Reform der Weltorganisation zu beschließen. Am Ende verabschiedeten sie ein 40-seitiges Ergebnisdokument,1 das den derzeit erreichbaren Minimalkonsens der 191 UNMitgliedsstaaten in den Themenbereichen Entwicklung, Frieden und Sicherheit, Menschenrechte sowie UN-Reform widerspiegelt. Aber dieser Minimalkonsens reicht bei Weitem nicht aus, um die im Vorfeld des Gipfels in zahlreichen Berichten dokumentierten Defizite globaler Zusammenarbeit zu überwinden. Entsprechend enttäuscht fielen die unmittelbaren Reaktionen auf die Gipfelergebnisse aus. In seltener Einmütigkeit kritisierten NGOs und Medien, aber auch viele Regierungschefs und Minister aus Nord und Süd die schwachen Resultate der monatelangen Verhandlungen. Auch UN-Generalsekretär Kofi Annan machte seiner Enttäuschung vor dem versammelten Staats- und Regierungschefs Luft, indem er feststellte: „[...] let us be frank with each other, and with the peoples of the United Nations. We have not yet achieved the sweeping and fundamental
* Dieser Text erschien zuerst in ähnlicher Form als Briefing Paper des Global Policy Forums Europe und der Friedrich-Ebert-Stiftung. 1 UN General Assembly, 2005: 2005 World Summit Outcome. New York: UN (UN Dok. A/60/L.1 vom 15 September 2005), im Folgenden zitiert als „Outcome Document“.
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reform that I and many others believe is required. Sharp differences, some of them substantive and legitimate, have played their part in preventing that.“2 Fünf Tage später hatte Kofi Annan seinen Zweckoptimismus wiedererlangt und in einem Beitrag für das Wall Street Journal die Fortschritte des Gipfels hervorgehoben.3 Sein Fazit: Das Glas sei mindestens halbvoll („A glass at least half full“). Nachdem sich der Staub gelegt hat, den das größte Gipfeltreffen aller Zeiten aufgewirbelt hatte, ist es an der Zeit, eine genauere Bilanz zu ziehen. Dies soll im Folgenden vor allem mit Blick auf die entwicklungspolitischen Ergebnisse des Weltgipfels geschehen. Welche Entscheidungen wurden trotz aller Differenzen gefällt und müssen nun in die Tat umgesetzt werden? Welche Fragen blieben bis zum Gipfel ungelöst und werden in den folgenden Monaten „nachverhandelt“? Und in welchen Bereichen bestehen zwischen den Regierungen weiterhin gravierende Differenzen – trotz drängendem Handlungsbedarf? Die Antworten auf diese Fragen geben Hinweise darauf, welche Themen die entwicklungspolitische Agenda der kommenden Jahre bestimmen werden und wo öffentlicher Druck und kritisches Monitoring der Zivilgesellschaft besonders notwendig sind.
B. Entwicklungszusammenarbeit und MDGs Der Bericht des Millennium-Projekts unter Leitung von Jeffrey Sachs, Kofi Annans Bericht „In größerer Freiheit“ und die zahlreichen Analysen und Studien, die NGOs im Rahmen der weltweiten Anti-Armutskampagne (Global Call to Action Against Poverty – GCAP) präsentierten, forderten von den Regierungen radikale Schritte, um die MDGs noch bis zum Jahr 2015 zu verwirklichen. Der UN-Gipfel ist diesen Erwartungen nicht gerecht geworden. Die Regierungen haben dort kaum neue Beschlüsse gefasst, sondern überwiegend alte Entscheidungen „bekräftigt“ und neue Initiativen „begrüßt“ oder „mit Interesse zu Kenntnis genommen“, die im Vorfeld bzw. am Rande des Gipfels von einzelnen Ländergruppen angestoßen wurden. Allerdings wäre es zu einigen dieser Initiativen vermutlich ohne den Handlungsdruck des Gipfels nicht gekommen. Einige Fortschritte gab es im Umfeld des Gipfels vor allem bei der Entwicklungsfinanzierung und der Entschuldung. Dagegen waren der Einfluss der Kapitalmärkte und der internationalen Finanz- und Währungspolitik auf die Entwicklung für die Regierungen in New York kein Thema. Und auch zur Welthandelspolitik 2 UN Secretary-General, Address to the 2005 World Summit. New York, 14 September 2005. 3 Kofi A. Annan, A Glass At Least Half Full. In: Wall Street Journal, 19 September 2005.
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enthält das Ergebnisdokument des UN-Gipfels lediglich einige bedeutungslose Allgemeinplätze. Dies zeigt einmal mehr, dass die Vereinten Nationen für die Regierungen schon lange nicht mehr der Ort handelspolitischer Auseinandersetzungen sind. Diese Musik spielt bei der WTO.
I. Nationale MDG-Strategien bis 2006 Um die international vereinbarten Entwicklungsziele, einschließlich der Millenniumsentwicklungsziele (MDGs), zu erreichen, verpflichteten sich die Regierungen im Ergebnisdokument des New Yorker Gipfels, bis zum Jahr 2006 umfassende nationale Entwicklungsstrategien zu verabschieden und umzusetzen.4 Genaueres sagen sie in ihrem Beschluss nicht. Damit bleibt unklar, ob die Entwicklungsstrategien zusätzlich zu den in vielen Ländern bereits verabschiedeten Strategien zur Armutsreduzierung (Poverty Reduction Strategies) ausgearbeitet werden sollen, in welchem Verhältnis sie zu anderen Entwicklungsstrategien, etwa den im Rio-Folgeprozess formulierten nationalen Nachhaltigkeitsstrategien stehen, und auf welche Weise Parlamente und Zivilgesellschaft in die Erarbeitung der Strategien einbezogen werden sollen. Unklar bleibt auch, ob sich mit diesem Beschluss auch die Industrieländer verpflichten, Strategien zur Verwirklichung der MDGs zu verabschieden. Diese müssten sich vor allem auf die Verwirklichung von MDG 8 konzentrieren. Die Initiative, nationale MDG-Strategien zu verabschieden, geht zurück auf den Bericht des Millennium-Projekts.5 Der Bericht fordert unter anderem von jedem Entwicklungsland detaillierte 3- bis 5-Jahresstrategien, in denen die konkreten politischen Maßnahmen aufgelistet werden, die erforderlich sind, um die MDGs bis zum Jahr 2015 zu erreichen („MDG-based poverty reduction strategies“). Diese Strategien sollen auch eine Kosten- und Budgetplanung einschließen, aus der hervorgeht, in welchem Umfang heimische Ressourcen mobilisiert werden können und wie hoch der externe Finanzierungsbedarf in Form öffentlicher Entwicklungshilfe ist.
4
Outcome Document, para. 22 a). Vgl. UN Millennium Project, Investing in Development. A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals. UNDP, New York 2005. 5
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II. Stufenplan zur Erhöhung der ODA Im Bereich der Entwicklungsfinanzierung haben die Regierungen beim UNGipfel lediglich wiederholt, was im Vorfeld des Gipfels von einzelnen Ländern und Ländergruppen bereits angekündigt worden war. Hervorzuheben ist vor allem der Beschluss der Europäischen Union (EU) über den Stufenplan zur Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA). Mit der Konsensentscheidung des Europäischen Rates vom Juni 2005 soll die ODA der 25 EU-Mitglieder bis zum Jahr 2010 im EU-Durchschnitt auf 0,56 Prozent und bis 2015 auf 0,7 Prozent des BNE steigen. Nach Berechnungen der Europäischen Kommission bedeutete dies eine Verdoppelung der europäischen ODA von rund 33 Mrd. Euro 2003 auf 67 Mrd. Euro 2010 und eine weitere Erhöhung auf 92 Mrd. Euro 2015.6 Die deutsche ODA müsste sich von 6,005 Mrd. Euro 2003 auf 12,655 Mrd. 2010 verdoppeln und bis 2015 auf 17,661 Mrd. Euro nahezu verdreifachen. Dies hieße praktisch eine jährliche Erhöhung der deutschen ODA um mindestens eine Mrd. Euro. Andere Mitglieder der EU haben sich noch ambitioniertere Ziele gesetzt. So will Frankreich das 0,7-Prozentziel bereits bis 2012 und Großbritannien bis 2013 erreichen. Eine zentrale Frage ist allerdings, ob die Steigerung der ODA durch „frisches Geld“ („fresh money“) erfolgt. Die ODA-Erhöhungen müssten sich dann bereits in den nationalen Haushalten 2006 widerspiegeln. Zu befürchten ist jedoch, dass die Regierungen ihr Ziel auf andere Weise erreichen wollen, beispielsweise durch die Anrechnung von Schuldenerlassen. Die Geber-Regierungen haben in der OECD vereinbart, dass unter bestimmten Bedingungen Schuldenerlasse auf die ODA angerechnet werden können. Die ODA-Zahlen steigen durch diesen „Buchhaltungstrick“, ohne dass ein zusätzlicher Euro in den Süden fließt. Es ist zu erwarten, dass durch zusätzliche Schuldenstreichungen, insbesondere gegenüber dem Irak, die ODA-Statistiken in den nächsten Jahren erheblich „geschönt“ werden. Die im Pariser Club zusammengeschlossenen Gläubigerländer hatten dem Irak im November 2004 einen Schuldenerlass von insgesamt 31,1 Mrd. US-Dollar gewährt. Der Erlass wird in den nächsten vier Jahren wirksam. Schuldenstreichungen sind gegenüber den hochverschuldeten Entwicklungsländern zweifellos dringend erforderlich und entwicklungspolitisch sinnvoll. Sie dürfen jedoch kein Ersatz für die Bereitstellung des notwendigen „frischen“ Geldes zur Finanzierung der MDGs sein. 6
Vgl. Commission of the European Communities, Communication from the Commission to the Council and the European Parliament. Accelerating progress towards attaining the Millennium Development Goals – Financing for Development and Aid Effectiveness. COM(2005)133 final. EC, Brüssel 2005.
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III. Streichung multilateraler Schulden Ebenfalls begrüßt wird im New Yorker Ergebnisdokument die jüngste Entschuldungsinitiative der G8. Die Staats- und Regierungschefs der G8 hatten bereits bei ihrem Gipfel im schottischen Gleneagles7 im Juli 2005 vorgeschlagen, 18 der hochverschuldeten armen Ländern (HIPC) ihrer multilateralen Schulden bei der Weltbanktochter IDA, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Afrikanischen Entwicklungsbank (ADB) zu streichen. Die Schuldenstreichungen, die formal bei der Jahrestagung von IWF und Weltbank am 25. September 2005 beschlossen wurden, haben einen Nominalwert von 40 Mrd. US-Dollar, bezogen auf eine Laufzeit von 40 Jahren.8 Die 18 Länder sparen somit effektiv eine Mrd. US-Dollar im Jahr an Schuldendienstzahlungen. Es handelt sich dabei nicht um einen 100-prozentigen Schuldenerlass für diese Länder, da sie weiterhin ihre Schulden bei anderen multilateralen Gläubigern zurückzahlen müssen. Andere hochverschuldete Länder gingen bei den Schuldenstreichungen leer aus.9 ActionAid, Christian Aid und die britische Jubilee-Kampagne hatten im Vorfeld des Gipfels vorgerechnet, dass insgesamt 62 Länder einen 100-prozentigen Schuldenerlass benötigten, um die Millenniumsentwicklungsziele bis zum Jahr 2015 zu erreichen.10 Hinzu kommt, dass für die 18 Länder, denen die Schulden erlassen werden, bei IDA und ADB die künftigen Bruttohilfsflüsse um die erlassenen Beträge reduziert werden sollen. Die erlassenen Mittel sollen entsprechend dem jeweiligen Verteilungsschlüssel auf alle IDA- bzw. ADB-Länder umgelegt werden. Die 18 vom Schuldenerlass betroffenen Länder profitieren dadurch freilich weniger von dem Erlass. Um die Finanzierungskapazität von IDA und ADB nicht zu verringern, haben die Geberregegierungen zugesagt, die infolge der geringeren Schuldenrückzahlungen fehlenden Mittel durch die Bereitstellung zusätzlicher Gelder auszugleichen. Es wird genau zu prüfen sein, ob die Regierungen bei den kommenden Wiederauffüllungsrunden von IDA und ADB diese Zusage einhalten. 7
Vgl. G8, 2005: The Gleneagles Communiqué. Gleneagles. (http://www.fco.gov.uk/ Files/kfile/PostG8_Gleneagles_Communique.pdf). 8 Der ökonomisch relevantere Gegenwartswert (Net Present Value) der Schulden beträgt allerdings lediglich 17 Mrd. US-Dollar. 9 Grundsätzlich hat die G8 die Schuldenstreichungen auch den derzeit 20 anderen HIPC-Ländern zugesagt, sobald diese den sogenannten Vollendungszeitpunkt (completion point) im Rahmen der HIPC-Initiative erreicht haben. Ob und wann dies der Fall ist, ist jedoch völlig ungewiss. 10 Vgl. ActionAid/Jubilee Debt Campaign/Christian Aid, In the Balance. Why Debts must be Cancelled Now to Meet the Millennium Development Goals, London 2005.
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Über weitergehende Schritte, insbesondere die seit langem geforderte Neudefinition von Schuldentragfähigkeit und die Einführung eines internationalen Insolvenzverfahrens, gab es weder unter den G8 noch beim New Yorker Gipfel eine Einigung.
IV. Solidaritätsabgabe auf Flugtickets und Pilot-IFF Konkrete Entscheidungen über die Einführung innovativer Finanzierungsinstrumente waren vom New Yorker Gipfel nicht zu erwarten. Zu groß ist weiterhin der Widerstand der USA, Japans und anderer reicher Länder gegen jede Form von internationaler Besteuerung. Im Ergebnisdokument des Gipfels erkennen die Regierungen lediglich an, „dass es sinnvoll ist, innovative Finanzierungsquellen zu erschließen“ und nehmen die entsprechenden internationalen Bemühungen „mit Interesse zu Kenntnis“. Explizit erwähnt wird in diesem Zusammenhang die „Aktion gegen Hunger und Armut“, die der brasilianische Präsident Lula da Silva 2004 initiiert hatte. Am Rande des New Yorker Gipfels präsentierte die daraus entstandene „Lula-Gruppe“ (Brasilien, Frankreich, Chile, Spanien, Algerien und Deutschland) eine gemeinsame Erklärung, in der sie unter anderem dafür plädiert, eine Solidaritätsabgabe auf Flugtickets einzuführen.11 Frankreich und Chile haben bereits angekündigt, eine solche Abgabe ab Anfang 2006 zu erheben. In anderen Ländern, darunter auch in Deutschland, steht eine endgültige Entscheidung der Regierung noch aus. Die Erlöse der Flugticketabgabe sollen unter anderem zur Refinanzierung der Internationalen Finanzfazilität für Impfungen (International Finance Facility for Immunization, IFFIm) verwendet werden, die auf britische Initiative am 9. September 2005, wenige Tage vor dem UN-Gipfel, gemeinsam mit Spanien, Italien, Schweden und der Bill and Melinda Gates Foundation ins Leben gerufen worden war. Mit Hilfe von IFFIm sollen in den kommenden zehn Jahren insgesamt vier Mrd. US-Dollar für die Arbeit der Global Alliance for Vaccines and Immunization (GAVI) auf den internationalen Kapitalmärkten mobilisiert werden. IFFIm soll nach den Vorstellungen der britischen Regierung als Pilotmodell dienen, um zu demonstrieren, dass auch eine „große“ IFF mit einem Finanzierungsvolumen von rund 50 Mrd. US-Dollar pro Jahr realisierbar ist. Das Prinzip der Vorfinanzierung („frontloading“) von öffentlicher Entwicklungshilfe über die Kapitalmärkte
11 Declaration on innovative sources of financing for development. New York, 14 September 2005. (http://www.globalpolicy.org/socecon/glotax/aviation/2005/ 0914airlula.pdf).
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– quasi Entwicklungshilfe auf Pump – wird jedoch von Regierungen und NGOs zunehmend kritisch gesehen und findet bislang wenig Unterstützung.12 Die New Yorker Erklärung der Lula-Gruppe bleibt zwar weit hinter ihren eigenen Erwartungen zurück, kann aber als erster Schritt auf dem Weg zu international koordinierten Steuern gewertet werden. Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac hat für Februar 2006 zu einer Konferenz nach Paris eingeladen, bei der die nächsten Schritte einer koordinierten Einführung der Flugticketabgabe erörtert werden sollen. Ob die Lula-Gruppe ihre Arbeit in der bisherigen Zusammensetzung fortführen wird, ist angesichts der politischen Krise in Brasilien und des Regierungswechsels in Deutschland derzeit ungewiss.
V. Pariser Erklärung über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit Neben den quantitativen Aspekten der Entwicklungszusammenarbeit befassten sich die Regierungen beim UN-Gipfel auch mit der Qualität der Entwicklungshilfe. Sie verwiesen dabei hauptsächlich auf die Pariser Erklärung über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit (Paris Declaration on Aid Effectiveness), die im März 2005 von rund 90 Industrie- und Entwicklungsländern verabschiedet worden war.13 Diese Erklärung enthält konkrete Verpflichtungen, die Hilfe zu harmonisieren und besser an die Entwicklungsstrategien der Empfängerländer anzupassen, Transaktionskosten und bürokratische Verfahren zu reduzieren, Lieferbindungen aufzuheben, und die Rechenschaftspflicht von Geber- und Empfängerregierungen gegenüber der betroffenen Bevölkerung und den Parlamenten zu stärken. Um Fortschritte bei der Verwirklichung der Verpflichtungen zu messen, enthält die Pariser Erklärung eine Liste von 12 Zielen (einschließlich der dazugehörigen Indikatoren), die bis zum Jahr 2010 verwirklicht werden sollen. Um die Transparenz der Finanzflüsse zu erhöhen und die Integration der Hilfe in die nationalen Entwicklungsstrategien sicherzustellen, sollen bis 2010 mindestens 85 Prozent der ODA-Mittel, die in den staatlichen Sektor fließen, im Staatshaushalt des jeweiligen Empfängerlandes verbucht werden. Mindestens 75 Prozent der ODA sollen im Rahmen ein- oder mehrjähriger Zeitpläne ausgegeben werden, um die Vorhersehbarkeit der Zahlungsflüsse für die Empfänger zu erhöhen. Der Anteil der ODA, 12 Vgl. Jens Martens, Verdoppelung der Hilfe – Halbierung der Armut. Die Internationale Finanzfazilität – Neue Zauberformel der Entwicklungsfinanzierung?, VENRO, Berlin 2005. 13 Vgl. Outcome Document, para. 23 c).
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die nicht an Lieferungen und Leistungen von Unternehmen des Geberlandes gebunden sind, soll bis 2010 kontinuierlich erhöht werden. Schließlich sollen die Geber in fünf Jahren mindestens 25 Prozent der ODA im Rahmen von Programmhilfe (anstelle von kleinteiliger Projektunterstützung) ausgeben. Die Pariser Erklärung war bisher überwiegend vom kleinen Kreis entwicklungspolitischer Experten wahrgenommen worden. Sie wirkt auf den ersten Blick technokratisch, kann aber spürbare Auswirkungen auf die entwicklungspolitische Praxis haben.
C. Reformen im Wirtschafts- und Sozialbereich der Vereinten Nationen Die Debatte über die Reform der Vereinten Nationen hat die Verhandlungen im Vorfeld des New Yorker Gipfels dominiert und auch die entwicklungspolitische Auseinandersetzung überschattet. Im Zentrum stand die Reform des Sicherheitsrates, die auch von der deutschen Regierung mit diplomatischem Hochdruck angestrebt wurde. Während diese Reform bereits im Vorfeld des Gipfels aufgrund der unüberbrückbaren Interessengegensätze der Regierungen auf Eis gelegt worden war, fällten die Regierungen im Wirtschafts- und Sozialbereich einige Entscheidungen, die konkrete institutionelle Reformen zur Folge haben. Sie ließen aber viele Fragen offen, über die während der 60. Generalversammlung nachverhandelt werden muss. Dies gilt vor allem für den geplanten Menschenrechtsrat und die neue Kommission für Friedenskonsolidierung.
I. Wirtschafts- und Sozialrat Die Regierungen bekräftigen im Ergebnisdokument die Rolle des ECOSOC als Hauptorgan der UN für Fragen wirtschaftlicher- und sozialer Entwicklung. Der Rat soll jährlich auf Ministerebene zusammentreten. Seine Aufgabe soll in erster Linie darin bestehen, die Umsetzung der international vereinbarten Entwicklungsziele, inkl. der MDGs, zu überprüfen. Alle zwei Jahre soll er als hochrangiges Forum für Entwicklungszusammenarbeit fungieren, das Trends in der internationalen Entwicklungspolitik analysiert und die Kohärenz fördert. Den derzeit politisch bedeutungslosen ECOSOC zu einer Art „MDG Council“ aufzuwerten, wäre möglicherweise ein Fortschritt. Zugleich würde aber dadurch sein Kompetenzbereich enger auf entwicklungspolitische Fragen begrenzt. Die Kompetenzen im Menschenrechtsbereich werden auf den neu zu gründenden
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Menschenrechtsrat übertragen (s.u.). Über die internationale Wirtschafts-, Währungs- und Handelspolitik wird außerhalb der UN entschieden. Die Vereinten Nationen überlassen in diesen Fragen weiterhin dem IWF, der Weltbank und der WTO das Feld. Konsequenterweise griffen die Regierungen in New York weder die Forderungen nach einer substantiellen Reform dieser Organisationen auf, noch die Forderungen nach einem hochrangigen Entscheidungsgremium für Wirtschaftsfragen unter dem Dach der UN, einer Art „Economic Security Council“. Stattdessen beschränkten sie sich auf die wenigen halbherzigen Schritte zur Neupositionierung des ECOSOC. Ob es dadurch zu einer zumindest graduellen Stärkung des ECOSOC kommt, wird vor allem davon abhängen, ob die Regierungen seine neue entwicklungspolitische Rolle akzeptieren und ihre zuständigen Minister zu den jährlichen Tagungen nach New York bzw. Genf schicken. Ansonsten bestünde die postulierte Erneuerung des Rates nur auf dem Papier. Die Tagung des ECOSOC im Juli 2006 wird einen ersten Nachweis darüber liefern.
II. Kommission für Friedenskonsolidierung Um Länder beim Übergang von einem gewaltsamen Konflikt zu dauerhaftem Frieden zu unterstützen, beschloss der Gipfel, eine Kommission für Friedenskonsolidierung (Peacebuilding Commission) als „zwischenstaatliches Beratungsorgan“ zu gründen. Sie soll Länder nach einem Konflikt beim Wiederaufbau unterstützen, finanzielle Ressourcen mobilisieren und Empfehlungen zur Verbesserung der Koordination aller maßgeblichen Akteure formulieren. Damit ist ihr Mandat wesentlich vager formuliert als in den ursprünglichen Vorschlägen von Kofi Annan und dem High-level Panel on Threats, Challenges and Change. Über die Frage, wo die Kommission angesiedelt wird, konnten sich die Regierungen nicht einigen. Die G77 präferiert die Generalversammlung, während einige Industrieländer sie beim Sicherheitsrat, andere zwischen Sicherheitsrat und ECOSOC verankern wollen. Die Kommission soll in allen Angelegenheiten im Konsens entscheiden. Dies gibt umgekehrt jedem Mitglied faktisch ein Vetorecht. Die Mitgliedschaft der Kommission soll je nach Konflikt variieren. Den Kern bildet ein ständiger Organisationsausschuss, dem Mitglieder des Sicherheitsrates, einschließlich der ständigen Mitglieder, Mitglieder des ECOSOC, die größten Beitragszahler und die größten Truppensteller der UN angehören. Über die genaue Zahl der Mitglieder sagt das Gipfeldokument nichts. Auch über die Rolle der Zivilgesellschaft in der Arbeit der Kommission äußern sich die Regierungen nicht. Dagegen sehen sie explizit die Einbeziehung von Weltbank, IWF und anderen institutionellen Gebern vor.
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Die Kommission soll durch einen Fonds zur Friedenskonsolidierung, der sich aus freiwilligen Beiträgen speist, sowie ein „kleines Büro“ innerhalb des UNSekretariats unterstützt werden. Die Kommission soll ihre Arbeit bis spätestens 31. Dezember 2005 aufnehmen – eine der wenigen klaren Zeitaussagen im Gipfeldokument. Bis dahin müssen die bislang ungelösten Fragen der Mitgliedschaft, des Mandates und der Positionierung der Kommission innerhalb des UN-Systems gelöst werden.
III. Menschenrechtsrat Die Regierungen entschieden im Grundsatz, einen neuen Menschenrechtsrat unter dem Dach der Vereinten Nationen zu etablieren. Sie konnten aber über alle weiteren Fragen keine Einigung erzielen und beauftragten den Präsidenten der Generalversammlung, bis zum Ende der 60. Tagung, d.h. bis zum 11. September 2006, Verhandlungen über das Mandat, die Funktionen, die Größe, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise des geplanten Rates durchzuführen. Aus dem Ergebnisdokument des Gipfels geht noch nicht einmal hervor, ob und wann der Menschenrechtsrat die bisherige Menschenrechtskommission (MRK) ersetzen soll. Völlig unklar ist, inwieweit die positiven Elemente der Arbeit der MRK (enge Einbeziehung der NGOs, Sonderberichterstatter etc.) vom künftigen Rat übernommen werden. Da dieselben Regierungen, die für die politischen Defizite und Unzulänglichkeiten der MRK verantwortlich sind, nun auch über die Reformen mitentscheiden, besteht die Gefahr, dass einige dieser positiven Elemente im Laufe des Verhandlungsprozesses „verloren gehen“. Die Menschenrechtsarbeit der UN würde dann am Ende durch die „Reformen“ eher geschwächt als gestärkt. Ein positives Signal ist immerhin die Entscheidung des Gipfels, den ordentlichen Haushalt des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte in den nächsten fünf Jahren zu verdoppeln. Unklar bleibt allerdings, ob es sich dabei um zusätzliche Mittel handelt, oder ob lediglich innerhalb des UN-Budgets zu Lasten anderer Aufgaben umgeschichtet wird.
D. Zusammenfassung Der Millennium+5-Gipfel hat zweifellos nicht die notwendigen Entscheidungen zur Verbesserung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und zur institutionellen Stärkung der Vereinten Nationen gebracht. Dennoch wäre es falsch zu sagen, beim Gipfel sei nichts herausgekommen. Die Regierungen haben im
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Ergebnisdokument des Gipfels und in den Erklärungen, die sie im Umfeld des Gipfels verabschiedeten, einige sehr konkrete und überprüfbare Beschlüsse gefasst. Es wäre allerdings voreilig, diese Beschlüsse bereits als Erfolge zu werten. Überwiegend handelt es sich lediglich um politische Absichtserklärungen, die die Regierungen nun nach dem Gipfel implementieren müssen (Beispiel: ODA-Stufenplan der EU). Zum Teil sind die bisherigen Entscheidungen so unpräzise, dass noch nicht feststeht, ob die endgültigen Ergebnisse der Verhandlungen positiv zu bewerten sind. Dies gilt beispielsweise für die Schaffung des Menschenrechtsrates. Es wird Aufgabe zivilgesellschaftlicher Organisationen sein, sorgfältig zu beobachten und zu bewerten, ob und auf welche Weise die Regierungen die Beschlüsse und Selbstverpflichtungen, die im Ergebnisdokument des UN-Gipfels protokolliert sind, in die Tat umsetzen. Die folgende „Checkliste“ fasst nochmals einige entwicklungspolitisch relevante Beschlüsse zusammen, bei denen ein kritisches Monitoring im Jahr 2006 (und darüber hinaus) erforderlich ist: – Nationale MDG-Strategien: Verabschieden die Regierungen im Jahr 2006 nationale Entwicklungsstrategien zur Verwirklichung der MDGs und auf welche Weise werden Zivilgesellschaft und Parlamente in die Erarbeitung der Strategien einbezogen? – ODA-Stufenplan: Spiegeln sich die Erhöhungen der ODA, die notwendig sind, um den verbindlichen Stufenplan der EU zu verwirklichen, in den Entwicklungshilfebudgets der 25 EU-Mitgliedsländer wider? – Streichung multilateraler Schulden: Wird der beschlossene Schuldenerlass für 18 der hochverschuldeten armen Länder von Weltbank, IWF und ADB bis 2006 vollständig umgesetzt? Stellen die Geberländer die zugesagten Ausgleichszahlungen für IDA und ADB bereit, und welchen Ländern kommen diese zugute? Erfolgen weitere Schuldenstreichungen für die 20 übrigen HIPC und hochverschuldete Nicht-HIPCs? – Solidaritätsabgabe auf Flugtickets: Welche Länder führen im Jahr 2006 die Flugticketabgabe ein? Wie hoch ist das Steueraufkommen und für welche entwicklungspolitische Zwecke werden die Mittel verwendet? – IFF für Impfungen: In welchem Umfang werden durch IFFIm im Jahr 2006 zusätzliche Mittel auf den Kapitalmärkten mobilisiert? Wie hoch sind die Zinsund Transaktionskosten des frontloading? Für welche Zwecke werden die Mittel verwendet? – Weitere Innovative Finanzierungsinstrumente: Welche Fortschritte werden bei der Verwirklichung der anderen Vorschläge für innovative Finanzierungs-
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instrumente, die z.B. von der Lula-Gruppe diskutiert wurden, gemacht. Dies gilt insbesondere für die Einführung einer Devisentransaktionssteuer. – Pariser Erklärung: Gibt es erste Zwischenergebnisse bei der Verwirklichung der 12 Ziele, die in der Pariser Erklärung über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit formuliert wurden? – ECOSOC-Reform: Wird der ECOSOC im Jahr 2006 auf Ministerebene zusammentreten? Auf welche Weise wird er seine Aufgabe erfüllen, die Umsetzung der international vereinbarten Entwicklungsziele, einschließlich der MDGs, zu überprüfen? Wie wird sich die inhaltliche Neuausrichtung des ECOSOC in seiner Struktur und Arbeitsweise widerspiegeln? – Kommission für Friedenskonsolidierung: Wie wird sich der ständige Organisationsausschuss der Kommission zusammensetzen? Kommt es zur befürchteten Dominanz der reichen Länder des Nordens? Bei welchem Hauptorgan der UN wird die Kommission angesiedelt? Mit welchen Ländern wird sich die Kommission im Jahr 2006 befassen? Auf welche Weise wird die Kommission diese Länder effektiv beim Übergang zu einer dauerhaft friedlichen Entwicklung unterstützen? – Menschenrechtsrat: Gelingt es, im neuen Menschenrechtsrat die positiven Elemente der bisherigen Arbeit der Menschenrechtskommission (enge Einbeziehung der NGOs, Sonderberichterstatter etc.) zu übernehmen? Haben NGOs im Menschenrechtsrat die gleichen Konsultativ- und Partizipationsrechte wie in der Menschenrechtskommission? Was geschieht mit der Unterkommission der Menschenrechtskommission zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte? Wie wird der Übergang von der Menschenrechtskommission zum Menschenrechtsrat organisatorisch geregelt? Dies sind einige der Fragen, die im Folgeprozess des UN-Gipfels im Jahr 2006 die entwicklungspolitische Agenda und die Debatten im Wirtschafts- und Sozialbereich der Vereinten Nationen bestimmen werden. Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, lässt sich endgültig beurteilen, ob der Millennium+5-Gipfel in die Geschichte der Vereinten Nationen als Gipfel des Scheiterns oder doch als wichtiger Zwischenschritt im weltweiten Bemühen um eine Stärkung multilateraler Zusammenarbeit eingehen wird.
Deutsche Entwicklungspolitik und Vereinte Nationen Von Adolf Kloke-Lesch, Thomas Helfen und Mario Sander von Torklus*
A. Nach dem Millennium+5-Gipfel Mit dem Millennium+5-Gipfel der Vereinten Nationen vom September 2005 ist nach hochfliegenden Erwartungen an eine breite Reformagenda der Vereinten Nationen Ernüchterung, teilweise Enttäuschung eingetreten. Manche sehen eine historische Gelegenheit zu weitgreifenden bindenden Beschlüssen verpasst und ein sich zunehmend schließendes „window of opportunity“.1 Andere mahnen zu Realismus und sehen in den Ergebnissen des Gipfels eher einen – wenn auch unzureichenden – weiteren Schritt, der eben keine Tür zugeschlagen hat und dem jetzt weitere Schritte an den verschiedenen Baustellen des Systems der Vereinten Nationen folgen müssen.2 Vielleicht muss man fairer Weise sagen: In dem Ausmaß, in dem Erwartungen überzogen wurden, konnte es nur zu Enttäuschungen kommen. Aber „Ent-Täuschungen“ können auch helfen zu verstehen, was realistisch ist, sowie genauer hinzuschauen, welche Kräfte wie wirken – und sie verlangen, präziser zu bestimmen, wovon wir sprechen und was wir anstreben. Wer immer sich mit der Reformagenda der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen befasst, kommt deshalb nicht umhin, sein Verständnis von Entwicklungspolitik, von den Vereinten Nationen und von der Rolle beider im Rahmen der internationalen Beziehungen anzusprechen. Während es sich bei der Entwicklungspolitik um ein Politikfeld handelt, das in mehreren institutionellen *
Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Vgl. Edward C. Luck, How not to reform the United Nations, in: Global Governance, Volume 11, No. 4, 407-414 (2005); B. Wagner, Verpasste Gelegenheit. Vor allem die USA haben den UN-Reformgipfel torpediert, in: Internationale Politik 10 (2005), 76-83. 2 Vgl. Th. Fues/M. Loewe, Zwischen Frustration und Zuversicht: Die entwicklungspolitische Bilanz des Millennium+5-Gipfels, Analysen und Stellungnahmen Nr. 7 (2005), Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn. 1
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Kontexten wirkt, stellen die Vereinten Nationen einen institutionellen Rahmen dar, der zahlreiche Politikfelder umfasst. Es geht also einerseits um die Rolle der Vereinten Nationen für die und in der Entwicklungspolitik und andererseits um die Rolle und Arbeitsweise der Entwicklungspolitik in den Vereinten Nationen. Die Positionierung zu beiden Fragen hängt nicht zuletzt von der jeweiligen Sichtweise des internationalen Systems und seiner Perspektiven ab. Denn auch die Vereinten Nationen sind das, was die Staaten aus ihnen machen. Zu ihrer zukunftsfähigen Weiterentwicklung bedarf es deshalb einer starken und handlungsfähigen „Koalition der Willigen“ ganz eigener Art.
B. Wandel des Begriffs von Entwicklung und Entwicklungspolitik Aufgrund der Erfahrungen und Debatten der verschiedenen Entwicklungsdekaden hat der Begriff von Entwicklung einen spürbaren Wandel erfahren. Ging es zunächst vor allem um „nachholende“ wirtschaftliche Entwicklung („Industrialisierung“), so rückten bald Verteilungs- und Zielgruppenfragen (Grundbedürfnisbefriedigung und Armutsbekämpfung) in den Vordergrund. Die zunehmende Bedeutung der ökologischen Dimension kam mit der VN-Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung (1992 in Rio de Janeiro) und im Konzept „nachhaltiger Entwicklung“ zum Ausdruck.3 Gleichzeitig wurde deutlicher, dass „politische“ Themen wie Menschenrechte und Demokratie, friedliche Konfliktbearbeitung und gute Regierungsführung nicht Rahmenbedingungen, sondern integrale Elemente und Ziele von Entwicklung sind.4 In Anlehnung an Amartya Sen kann Entwicklung heute als ein Prozess der Erweiterung realer Freiheiten, die den Menschen zukommen, angesehen werden.5 Die Richtung dieses letztlich ergebnisoffenen Prozesses ist auf der Grundlage von Zielen und Interessen im politischen Diskurs national wie international zu gestalten. Der umfassende „mehrdimensionale“ Entwicklungsbegriff kam bereits 1986 in der VN-Erklärung zum Recht auf Entwicklung zum Ausdruck.6 Danach geht es um wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Entwicklung für alle Menschen und Völker auf der Grundlage ihrer aktiven, freien und sinnvollen 3
Einen guten Überblick über aktuelle Fragestellungen gibt Tom Bigg (ed.), Survival for a small planet. The sustainable development agenda, London 2004. 4 Vgl. etwa D. Messner/I. Scholz (Hrsg.), Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik, Baden-Baden 2005. 5 A. Sen, Development as Freedom, New York 1999. 6 Beschluss der VN-Generalversammlung vom 4.12.1986: Declaration on the Right to Development (A/RES/41/128).
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Teilhabe. Die Wiener VN-Menschenrechtskonferenz hat 1993 schließlich das Recht auf Entwicklung mit dem Konzept nachhaltiger Entwicklung verknüpft. Auch für das Abschlussdokument des Millennium+5-Gipfels vom September 2005 und die politischen Grundlagen des VN-Reformprozesses ist der innere Zusammenhang von Menschenrechten, Frieden sowie Armutsbekämpfung und nachhaltiger Entwicklung zentral. Die Bundesregierung hat sich entsprechend bereits seit einigen Jahren dem mehrdimensionalen Konzept nachhaltiger Entwicklung verschrieben, das sich gleichermaßen in wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Tragfähigkeit und politischer Stabilität auf der Grundlage von Menschenrechten und demokratischen Grundprinzipien ausdrückt.7 Auch wenn der Wandel des Entwicklungsbegriffs grundsätzlich internationales politisches Gemeingut geworden ist, so wird seine Erweiterung doch nicht von allen Mitgliedern der internationalen Staatengemeinschaft mit dem gleichen Nachdruck ernst genommen. Entsprechend fehlt es an vielen Stellen an der nötigen Konsequenz. So werden erstens zu oft noch aus dem Kreis der Entwicklungsund Übergangsländer wichtige Fragen etwa der nationalen Eigenanstrengungen der Empfängerländer (wenngleich 2002 im „Monterrey-Konsens“ festgeschrieben), der (fehlenden) Entwicklungsorientierung vieler Eliten, aber auch die Frage nach dem Recht auf Freiheit und demokratische Mitwirkung abgeblockt oder formelhaft ausweichend behandelt. Zweitens unterminieren Verhaltensweisen von Industrieländern die Glaubwürdigkeit der internationalen Entwicklungspartnerschaft – sei es im Bereich der Relativierung oder Missachtung von Menschenrechten und des Völkerrechts, sei es durch Zögerlichkeit oder Weigerung beim Abbau von Handelsschranken und Subventionen. Drittens wird aber auch – zum Teil daraus folgend, zum Teil aufgrund institutioneller Blockaden, Verkrustungen oder auch unsystematischer, spontaner Neubildungen – die Erweiterung des Entwicklungsbegriffs und seine Umsetzung nicht angemessen in der Landschaft der internationalen Institutionen sowie ihrer Mandate und Ressourcen widergespiegelt. Um das Politikfeld Entwicklungspolitik vor dem Hintergrund eines gewandelten, sich der Sektoralisierung entziehenden Entwicklungsbegriffs sinnvoll in das System internationaler Politik einpassen und optimal organisieren zu können, schält sich eine funktionale Positionierung als naheliegend heraus. Im angelsächsischen Raum ist in den letzten Jahren das Zusammenwirken unterschiedlicher Funktionsbereiche internationaler Politik z.B. mit Blick auf den Umgang mit fragilen Staaten zunehmend mit dem Topos der drei „D“s (Diplomacy, Development, Defense) konzeptionalisiert worden. Neben den diplomatischen und den militärischen Mitteln ist Entwicklungspolitik so als das internationale Politikfeld 7 BMZ, Elfter Bericht zu Entwicklungspolitik der Bundesregierung, BMZ-Materialie Nr. 111 (2001).
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zu verstehen, das mit Mitteln partnerschaftlicher Zusammenarbeit auf die Mitgestaltung eben nicht nur sozialer und wirtschaftlicher, sondern gerade auch politischer Verhältnisse in Entwicklungs- und Übergangsländern zielt.8 Ein entsprechender funktionaler Auftrag fällt der Entwicklungspolitik auch jenseits von Armutsbekämpfung und Sicherheit bei anderen globalen Zukunftsaufgaben zu, bei denen es um Zusammenarbeit bei der Umsetzung und dem Capacity Building in den Entwicklungsländern geht, wenn die im Rahmen internationaler Fachpolitiken entwickelten globalen Normen- und Regelwerke Wirkung entfalten sollen.
C. Die Reform der Vereinten Nationen in einem veränderten geopolitischen Umfeld Dass die Forderung nach einer Reform der Vereinten Nationen schon lange im Raum steht bzw. in schöner Regelmäßigkeit als politische Forderung erhoben wird, gibt noch keine Antwort auf die Frage, warum und mit welcher Stoßrichtung die Reform erfolgen soll. Dabei geht es nicht nur um innere Effizienz- und Wirksamkeitsfragen des VN-Systems, sondern auch um die zeitgemäße Ausgestaltung und Zielrichtung der Instrumente der Vereinten Nationen angesichts veränderter Rahmenbedingungen und Anforderungen.9 Konzipiert noch vor dem Kalten Krieg hat sich das VN-System auch unter den Bedingungen des jahrzehntelangen Ost-West-Konflikts – den es selbst nicht lösen konnte und der die Lösung so mancher anderer politischer Probleme blockierte – dennoch zu einer „der komplexesten von Menschen geschaffenen Institutionen“10 entwickeln können. Es waren gerade die nicht im Mittelpunkt des Gründungsimpulses zu findenden wirtschaftlichen und sozialen Themen, die im Zuge der Entkolonialisierung und der zunehmenden Globalisierung nahezu aller Lebensbereiche die Entfaltung des VN-Systems förderten. Als sich dann vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten mit dem Ende des Ost-WestKonflikts die weltpolitische Konstellation fundamental änderte, sahen viele darin 8
Vgl. A. Kloke-Lesch, Mitgestalten in anderen Ländern. Die Funktion von Entwicklungspolitik im Rahmen von Global Governance, in epd-Entwicklungspolitik, Nr. 14/15 (2000), 32-37. 9 Vgl. D. Messner et al., Governance Reform of the Bretton Woods Institutions and the UN Development System, Dialogue on Globalization, Occasional Paper No. 18, Friedrich Ebert Foundation, Washington, D.C. 2005; K. Dervis, A better globalization: Legitimacy, governance and reform, Washington 2005. 10 D. Göthel, Die Vereinten Nationen: Eine Innenansicht, Auswärtiges Amt, Berlin 2002.
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Chancen für eine Verbesserung von zentralen Koordinaten für die Arbeit der Vereinten Nationen. Es galt, von einer bipolar geprägten Welt überzugehen in eine multilaterale Gestaltung von „global governance“, um auf diese Weise zentrale Fragen nach internationaler Gerechtigkeit, nach friedlicher Konfliktlösung oder nach der Lösung globaler Probleme wie Klimawandel oder der HIV/Aids-Pandemie anzugehen. Ein sprunghafter Anstieg von VN-Friedensmissionen und eine Serie von VN-Weltkonferenzen11 nährten insbesondere in den neunziger Jahren die Hoffnung auf eine erfolgreiche politische Gestaltung der Globalisierung im VN-Kontext.12 Diese Dekade des globalen, gerade auch entwicklungspolitischen Aufbruchs fand ihren prominentesten Niederschlag in der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen vom September 2000. Dennoch waren bereits in den neunziger Jahren gegenläufige Tendenzen des globalen Systems nicht zu übersehen. In den Balkankriegen und insbesondere im Kosovokrieg deutete sich die Rückkehr von „Realpolitik“ mit Mitteln politischer, ökonomischer und letztlich militärischer Macht an. Zahlreiche Ergebnisse der Weltkonferenzen blieben zahnlos, entweder weil die nötigen Konsequenzen in den operativen VN-Strukturen nicht bzw. nur halbherzig gezogen wurden oder weil einigen neuen Umsetzungsinstrumenten wichtige Akteure wie die USA, aber auch Schwellen- und Ankerländer nicht beitraten. Der 11. September 2001 und seine Folgen wie auch der Irakkrieg des Jahres 2003 ließen dann die tektonischen Verschiebungen in der Weltpolitik deutlich hervortreten. Während postmoderne „europäische“ Konzepte jenseits des „westfälischen“ Modells von Nationalstaaten darauf setzen, den globalen Herausforderungen u.a. durch Souveränitätsübertragung an regionale und globale supranationale Strukturen zu begegnen, folgen die verbliebene Supermacht wie auch aufstrebende Regionalmächte wieder verstärkt klassischen Konzepten von Machtpolitik. Gleichzeitig prägt die prämoderne Welt zerfallender Staaten mit den von ihnen ausgehenden Risiken das internationale System.13 Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass diese Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung des internationalen Staatensystems zu entsprechend inkonsistenten, 11 1992 Rio de Janeiro: Umwelt und Entwicklung; 1993 Wien: Menschenrechte; 1994 Kairo: Bevölkerung und Entwicklung; 1995 Kopenhagen: Weltsozialgipfel; 1995 Peking: Weltfrauenkonferenz; 2002 Monterrey: Entwicklungsfinanzierung; 2002 Johannesburg: Nachhaltige Entwicklung. 12 T. Fues/B. Hamm (Hrsg.), Die Weltkonferenzen der 90er Jahre: Baustellen für Global Governance, EINE-WELT-Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Bd. 12, Bonn 2001; T. Debiel, UN-Friedensoperationen in Afrika: Weltinnenpolitik und die Realität von Bürgerkriegen, Bonn 2003. 13 Vgl. R. Cooper, The Breaking of Nations: Order and Chaos in the Twenty-first Century, London 2003.
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sich überlappenden und oft widersprüchlichen Strukturen von „global governance“ führen. So konkurrieren in gewisser Weise die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und Sicherheitsstrukturen des VN-Systems mit der klassisch realpolitischen Welt von G8, NATO und Internationalen Finanzinstitutionen (IFIs), in der vor allem die verbliebene Supermacht Partner zur Lösung von solchen Aufgaben sucht, die sie nicht alleine bewältigen kann oder will. Das VN-System ist demgegenüber einerseits Spiegelbild der Pluralität und Interessen der 191 Mitgliedstaaten (einschließlich der Sonderstellung der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates), andererseits macht es sich aber auch zunehmend Menschheitsanliegen zu eigen und anerkennt (Rechts-)Ansprüche von Individuen an die Völkergemeinschaft („responsibility to protect“).14 Parallel und teilweise durchaus nicht nur komplementär zu diesen beiden „global governance“-Strukturen baut die Europäische Union (EU) einen immer größeren postmodernen Integrations- und Partnerschaftsraum auf, der insbesondere im Entwicklungs- und Handelsbereich weit über die unmittelbare europäische Nachbarschaft hinausreicht. Es wird sich in den nächsten Jahren zeigen, ob das lange multilaterale „global governance“-Jahrzehnt zwischen dem Ende des Kalten Krieges mit dem Fall der Berliner Mauer am 9.11.1989 und der Erklärung des „global war on terrorism“ nach dem 11.9.2001 zur Episode einer „Zwischenkriegszeit“ wird oder ob der Trend zunehmender Verrechtlichung und Institutionalisierung der internationalen Beziehungen auf der Grundlage der Millenniumserklärung und des Millennium+5Gipfels im Kontext der Vereinten Nationen wieder aufgenommen werden kann.15 Hierfür sind das Verhalten der USA, der aufstrebenden Regionalmächte des Südens und der EU gleichermaßen von Bedeutung.
D. Die Bedeutung der Vereinten Nationen für die internationale und die deutsche Entwicklungspolitik Die Vereinten Nationen haben für die internationale wie für die deutsche Entwicklungspolitik in den letzten Jahren vor allem normative Bedeutung entfaltet. In den Vereinten Nationen erfolgt in einzigartiger Weise eine gleichberechtigte Behandlung der mit der menschlichen Entwicklung verbundenen Fragen und der Herausforderungen der Mitgestaltung der Globalisierung. Mit dem Instrument der 14
Vgl. A.-M. Slaughter, Security, Solidarity, and Sovereignty: The Grand Themes of UN Reform, in: American Journal of International Law 99, No. 3 (2005), 619-631. 15 Vgl. J. Martens, Die Entwicklungsagenda nach dem Millennium+5-Gipfel 2005 – Eine Checkliste unerledigter Aufgaben, Oktober 2005, Dialogue on Globalization Briefing Paper Series, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin.
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Weltkonferenzen seit Beginn der 1990er Jahre und ihrer Überprüfungsprozesse ist es den Vereinten Nationen gelungen, in der internationalen entwicklungspolitischen Diskussion konzeptionelle Führung nicht nur gegenüber Geber- und Nehmerländern, sondern auch im Verhältnis zu den multilateralen Entwicklungsbanken und der EU zu entfalten. Mit ihren wegweisenden Beschlüssen und Normensetzungen haben die Vereinten Nationen maßgeblich dem integrierten Entwicklungsbegriff zum Durchbruch verholfen. Mit der Millenniumserklärung vom September 2000 und den Millenniumsentwicklungszielen (MDGs) wurden für die gesamte Entwicklungspolitik der internationalen Gemeinschaft verbindliche Leitziele erarbeitet sowie substantielle Anstrengungen bei ODA-Steigerungen und qualitativen Verbesserungen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit angestoßen. Gleichzeitig ist nicht zu verkennen, dass trotz der visionären Kraft der Weltkonferenzen und des Millenniumsprozesses oftmals – insbesondere wenn es um konkrete Umsetzungsschritte geht – die divergierenden Interessen der Mitgliedsstaaten wie wichtiger Gruppierungen innerhalb der Vereinten Nationen zu einer Vielzahl von schwierigen Kompromissen führen, die kaum befriedigen können. Gerade weil in einer Gemeinschaft von 191 Staaten Kompromisse zwangsläufig notwendig sind und sogar den Sinn der Zusammenarbeit ausmachen, stellen „faule“ Kompromisse sowie unehrliche und unsachgerechte Diskussionen immer wieder große Belastungen für die Stellung und Anerkennung der Vereinten Nationen dar. Als besonderer Schwachpunkt gilt gerade auch im Entwicklungsbereich, dass die von der Charta festgelegten Verfahren und Steuerungsinstrumente seit Gründung der Vereinten Nationen kaum angepasst wurden, obwohl sich die Zahl der Mitgliedsländer mehr als verdreifacht hat. So können ECOSOC und Generalversammlung derzeit nur unzureichend ihren Koordinierungs- und Überwachungsaufgaben nachkommen.16 Insbesondere leidet die Wirksamkeit der Arbeit des ECOSOC unter der Unverbindlichkeit seiner Beschlüsse, die von der Generalversammlung einer erneuten grundsätzlichen Erörterung unterzogen und vor allem revidiert werden können. Auch die Frühjahrstreffen von ECOSOC, Internationalen Finanzinstitutionen und WTO kommen über einen Gedankenaustausch nicht hinaus. Eine Schlüsselrolle für erreichte Erfolge und künftige Herausforderungen in der normativen entwicklungspolitischen Arbeit der Vereinten Nationen kam und kommt der EU zu. Ihr meist geschlossenes Auftreten durch die jeweilige EUPräsidentschaft hat einerseits immer wieder Kompromisse zwischen Positionen 16 Vgl. E. C. Luck, Reforming the United Nations: Lessons from a History in Progress, Academic Council of the UN System, International Relations Studies and the United Nations Occasional Papers, No. 1, New York 2003.
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insbesondere der G77 und den USA möglich gemacht, andererseits aber auch in der gemeinschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit wie auch bei den Mitgliedstaaten positive Dynamiken ausgelöst, die ohne die VN-Prozesse nicht denkbar gewesen wären. Deutschland hat auf den VN-Millenniumsgipfel 2000 unmittelbar mit dem Aktionsprogramm 201517 geantwortet, dem bisher breitesten und anspruchsvollsten entwicklungspolitischen Programm der Bundesregierung. Das Aktionsprogramm ist direkt aus den Vorgaben der VN-Weltkonferenzen und der Millenniumserklärung abgeleitet und definiert auf der Basis eines umfassenden Armutsund Entwicklungsbegriffs zehn vorrangige Ansatzpunkte für die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Dimensionen von Entwicklung – von den sozialen Grunddiensten bis hin zur friedlichen Konfliktaustragung. Den Vorbereitungsprozess zum Millennium+5-Gipfel hat die deutsche Entwicklungspolitik aktiv begleitet, unterstützt und für zusätzliche Initiativen genutzt.18 Von besonderer Bedeutung war dabei die Förderung einer integralen Sichtweise der Bereiche Entwicklung, Frieden und Sicherheit sowie Menschenrechte.19 Gleichzeitig hat der Millenniumsprozess zusammen mit den damit verbundenen EU-Prozessen zum ODA-Stufenplan der EU geführt, mit dem die Bundesregierung sich verpflichtet hat, die deutsche ODA/BNE-Relation von 0,33% im Jahr 2006 bis zum Jahr 2010 auf 0,51% und bis zum Jahr 2015 auf 0,7% anzuheben. Das erste Ziel (0,33% in 2006) wurde im direkten Zusammenhang mit der VNKonferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Monterrey (2002) festgelegt, der darauf aufbauende weitergehende und verbindliche Stufenplan im Vorfeld des Millennium+5-Gipfels im Jahre 2005. Die Rolle der Vereinten Nationen bei der Erhöhung der ODA macht aber neben ihren Stärken auch ihre Schwächen deutlich. Es ist den Vereinten Nationen zwar gelungen, dem jahrzehntealten 0,7%-Ziel durch den Millenniumsprozess neues Leben einzuhauchen, sie waren aber weder in der Lage, selber allseits verbindliche Zeitziele vorzugeben, noch konnten sie die neue ODA-Dynamik bislang für eine substantielle finanzielle und organisatorische Stärkung ihrer eigenen operativen Entwicklungszusammenarbeit nutzen. 17
BMZ, Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe: Aktionsprogramm 2015 – Der Beitrag der Bundesregierung zur weltweiten Halbierung extremer Armut, BMZ-Materialie Nr. 106 (2001). 18 BMZ, Der Beitrag Deutschlands zur Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele, BMZ-Materialie Nr. 140 (2005). 19 BMZ, Der Millennium+5-Gipfel: Weichenstellungen für unsere globale Zukunft; BMZ-Diskurs Nr. 005 (2005).
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Im Jahr 2004 erreichte die gesamte ODA-Leistung an das VN-System lt. DACStatistik knapp 5 Mrd. US-$ und damit weniger als ein Fünftel der gesamten multilateralen ODA von rd. 25 Mrd. US-$.20 Mit fast 17 Mrd. US-$ ging deren größter Teil an die EU, die Weltbank und die Regionalbanken. Die beiden letzteren konnten auf dieser Basis Gesamtausleihungen von insgesamt rund 25 Mrd. US-$ (brutto) realisieren. Die Wirkung der für die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen bereitgestellten Mittel wird demgegenüber zusätzlich dadurch gemindert, dass sie auf zahlreiche Fonds und Programme sowie Sonderorganisationen verteilt sind. Das „core budget“ von UNDP, dem zentralen Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, liegt z.B. seit Jahren mehr oder weniger deutlich unter 1 Mrd. US-$. Überdurchschnittliche nationale Beiträge zur Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen leisten vor allem Japan sowie einer Reihe mittelgroßer Geberländer wie Niederlande, Kanada, Schweden, Norwegen und Dänemark. Deutschland konnte in den vergangenen Jahren bei insgesamt stagnierender deutscher öffentlicher Entwicklungshilfe aufgrund der hohen Verpflichtungen im EU- und Bankenbereich nur unterdurchschnittlich mit zum Teil weniger als 10% seiner multilateralen ODA zur Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen beitragen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Vereinten Nationen zwar im normativen Bereich der internationalen Entwicklungspolitik durchaus eine Führungsrolle entwickeln konnten, aber weder über wirksame Steuerungsinstrumente zur Umsetzung der normativen Vorgaben im Gesamtsystem der „aid architecture“ noch über ausreichende finanzielle Mittel und organisatorische Strukturen für einen durchsetzungsfähigen eigenen operativen Beitrag im Konzert von EU, Entwicklungsbanken und bilateralen Gebern verfügen.
E. Herausforderungen für eine Reform der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen Eine Reform des unterfinanzierten und weit aufgefächerten, mitunter zersplitterten Systems der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen muss auf drei Ebenen Antworten entwickeln: Erstens geht es um den Platz der Vereinten Nationen im Gesamtsystem der internationalen Entwicklungszusam20 Die gesamte weltweite ODA erreichte 2004 79 Mrd. US-$. Zur Gesamtstruktur der weltweiten ODA siehe den DAC-Jahresbericht Development Co-operation Report 2004, OECD (2005).
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menarbeit, zweitens muss sie die Rolle der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen im Verhältnis zu anderen Politikfeldern in den Vereinten Nationen definieren, und drittens sind die Organisations- und Finanzierungsstrukturen so zu reformieren, das sie diesen Rollen und Aufgaben gerecht werden. Das System der internationalen Entwicklungszusammenarbeit erfährt z.Z. grundlegende Änderungen.21 Einerseits steht die Steigerung der Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit u.a. durch Geberharmonisierung und mehr „ownership“ der Entwicklungsländer im Vordergrund („Paris-Agenda“), andererseits entstehen neue, oft thematisch fokussierte Finanzierungsinstrumente, die Koordination und Komplementarität erschweren. Die Vereinten Nationen müssen in einer gleichzeitig von Zusammenarbeit wie Wettbewerb geprägten internationalen Entwicklungszusammenarbeit ihre spezifischen Stärken zum Tragen kommen lassen und in der Lage sein, neuartige Allianzen mit anderen öffentlichen wie privaten Akteuren zu entwickeln. Dabei ist die Vorstellung, alle Akteure der internationalen Entwicklungszusammenarbeit könnten sich operativ in einen zentral abgestimmten Rahmen einfügen, nicht nur unrealistisch, sondern auch nicht erstrebenswert, wenn die Innovationskraft der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit erhalten und gestärkt werden soll. Im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen verfügen die Vereinten Nationen über den Vorteil, dass sie praktisch alle Felder und Instrumente internationaler Politik zusammenführen und auf der Basis eines umfassenden, letztlich politischen Begriffs von Entwicklung arbeiten können. Wenn eine Reform der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen auch einen Beitrag zur Stärkung des VN-Systems insgesamt leisten soll, muss die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen sich als Teil des Gesamtinstrumentariums der Vereinten Nationen verstehen, d.h. neben der Diplomatie und den militärischen Mitteln als das Instrument, das mittels partnerschaftlicher Zusammenarbeit die Ziele der Vereinten Nationen insgesamt fördert. Eine einseitige Einpassung nur in die internationale „aid architecture“ im engeren Sinne wäre deshalb nicht sinnvoll. Gemessen an diesen Herausforderungen ist es umso beklagenswerter, dass den Vereinten Nationen heute in der Entwicklungszusammenarbeit unverändert kein einheitliches und schlagkräftiges Instrument zur operativen Umsetzung der Beschlüsse der Weltgemeinschaft zur Verfügung steht, sondern nur eine über die Jahrzehnte in vielen Teilen nach sektoralen Gesichtspunkten und Zielgruppen aufgefächerte Institutionenlandschaft. Trotz erreichter Fortschritte bei internen Managementreformen einzelner Organisationen wie etwa UNDP und der Grün21 Vgl. S. Maxwell, How to Help Reform Multilateral Institutions: An Eight-Step Program for More Effective Collective Action, in: Global Governance, Vol. 11, No. 4 (2006), 415-424.
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dung der United Nations Development Group (UNDG)22 konnte der komparative Vorteil der Neutralität und der besonderen Legitimität der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen bislang nicht hinreichend zur Geltung gebracht werden. Vor dem Hintergrund der begrenzten Mittel, die den Vereinten Nationen zur Verfügung stehen, schmerzen die durch die Aufsplitterung der die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen auf zahlreiche Fonds und Programme, Sonderorganisationen und spezielle Arbeitseinheiten des Generalsekretariats verbundenen Doppelungen und damit einhergehenden Effizienzeinbußen besonders. Vor allem: Die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit kommen dadurch nur mit Verlusten bei den Empfängern an. Die Komplexität des Entwicklungssystems der Vereinten Nationen führt zu einer inneren Konkurrenz um Ressourcen, belastet die institutionellen Beziehungen untereinander, schwächt die einzelinstitutionelle und systemische Effizienz und führt zu gesteigerten Transaktionskosten bei der operativen Umsetzung. Die hohe Zahl von Missionen unterschiedlicher VN-Einrichtungen in den verschiedenen Partnerländern bindet wertvolle Finanz- und Personalressourcen und strapaziert unnötig die administrativen Kapazitäten der Partnerländer. Eine wirksame Mitgestaltung z.B. von Sektorprogrammen oder Budgethilfen durch die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen ist so kaum möglich. Das Überdenken der Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen erhält zusätzliche Dringlichkeit durch den Umstand, dass auch die Sonderorganisationen sich nicht mehr auf ihre Aufgabe der Setzung von Normen und Standards beschränken, sondern zunehmend eigene Technische Zusammenarbeit betreiben. Hierfür werben sie bei den Gebern mit viel Aufwand zusätzliche, zweckgebundene Mittel ein. Ihre Programme zur Technischen Zusammenarbeit erreichen mittlerweile ein Drittel des Gesamtvolumens der Fonds und Programme. Da die Sonderorganisationen nicht der Generalversammlung oder dem Generalsekretär der Vereinten Nationen unterstehen, gestaltet sich eine Koordinierung besonders schwierig – abgesehen von der Grundsatzfrage, inwieweit Sonderorganisationen Programme zur Technischen Zusammenarbeit überhaupt oder zumindest in diesem Umfang betreiben sollten. Neben den begrenzten Finanzmitteln schwächen vor allem zwei Modalitäten der finanziellen Ausstattung die Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen:
22 Ziel der 1997 gegründeten UNDG ist ein einheitlicher Orientierungsrahmen für die Aktivitäten von 25 VN-Entwicklungsorganisationen. Der Kern besteht aus UNDP, UNICEF, UNFPA und WFP.
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Erstens geben wichtige Geber den VN-Organisationen zunehmend Mittel zweckgebunden (thematisch oder bezogen auf bestimmte Länder), anstatt ausschließlich ungebundene Beiträge zum „core budget“ zur Verfügung zu stellen. Bei UNDP liegen diese zweckgebundenen Mittel mittlerweile deutlich über den ungebundenen „core“-Beiträgen. Dies stellt nicht nur eine unzulässige Bilateralisierung der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen dar, es behindert auch drastisch die Planungs- und Zusammenarbeitsfähigkeit der Entwicklungsorganisationen der Vereinten Nationen untereinander und gegenüber anderen bilateralen oder multilateralen Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit. Zweitens werden im Unterschied zu den IFIs Haushaltsmittel nicht mehrjährig zur Verfügung gestellt. Dies schränkt die Planungs- und Handlungsfähigkeit weiter deutlich ein. Die organisatorische Aufsplitterung wird zusätzlich gespiegelt in einer Vielzahl meist unverbunden nebeneinander wirkender intergouvernementaler Steuerungsgremien der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen. Eine kohärente Position der Mitgliedsstaaten kann so nur schwer zum Ausdruck kommen. Mit dem VN-Gipfel vom September 2005 wurde ein neuer Anlauf zur Reform der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen unternommen. Der Gipfel beauftragte den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Vorschläge für eine Zusammenlegung der Aktivitäten der Entwicklungszusammenarbeit in straffer geführte Einheiten in den Feldern Entwicklung, humanitäre Hilfe und Umwelt auszuarbeiten.23 Am 16. Februar 2006 hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen nunmehr ein „High-level Panel on UN System-wide Coherence in the Areas of Development, Humanitarian Assistance, and the Environment“ ernannt, das unter dem Vorsitz der Premierminister Pakistans, Mosambiks und Norwegens weitere zwölf hochrangige Persönlichkeiten umfasst. Dieses Panel soll seine Vorschläge zu Beginn der 61. Generalversammlung vorlegen, damit eine mögliche Umsetzung im Jahre 2007 eingeleitet werden kann. Zweifel an der Erreichbarkeit des ehrgeizigen Zeitplans ändern nichts an der Notwendigkeit, das Reformwerk jetzt anzugehen.
23 Siehe Outcome Document A/60/L.1 Ziffer 169 zweiter Anstrich unter „Operational Activities“.
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F. Perspektiven für einen Reformprozess in der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen Wenn die Vereinten Nationen ihre normative Rolle behaupten wollen, müssen sie auch in der operativen Entwicklungszusammenarbeit eine zentrale Rolle spielen. Wenn sie dabei zu einem leistungs-, wettbewerbs- und kooperationsfähigeren Akteur in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit werden sollen, ist als Fernziel eine einzige operative Einheit der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen anzustreben, die in der Lage ist, konsistent und wirksam ihren Beitrag zur Umsetzung der seitens der Weltgemeinschaft beschlossenen Entwicklungsziele zu leisten. Dabei müssten entsprechend einem umfassenden Verständnis von Entwicklung die operativen Unterstützungsfunktionen in den Bereichen wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Umwelt, Menschenrechte/ Rechtsstaatlichkeit/Demokratie/Good Governance sowie Peacebuilding und Humanitäre Hilfe zusammengefasst werden. Mit der Integration in eine einzige operative Einheit wären auch neue Strukturen der Steuerung und Kontrolle zu schaffen. Dies würde das System der internationalen Entwicklungszusammenarbeit von IFIs, EU, „Global Funds“, bilateraler Entwicklungszusammenarbeit sowie die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen in ihrer Handlungsfähigkeit insgesamt stärken. Eine gebündelte Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen könnte so das System mit ihren innovativen Möglichkeiten bereichern und einen wirksameren Beitrag in ihren Schlüsselrollen in normativen Bereichen insbesondere bei politischen Themen wie Menschenrechten und Demokratie und deren Umsetzung durch Technische Zusammenarbeit und „capacity building“ sowie in der Zusammenarbeit mit fragilen und Post-Konflikt-Staaten („peacebuilding“) leisten. Die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen muss lernen, an die Stelle der inneren Konkurrenz die Wettbewerbsfähigkeit nach Außen zu setzen. Deshalb sollten mit einer solchen großen Integrationslösung die spezifischen Potentiale der heutigen Strukturen nicht in Frage gestellt, sondern in einem größeren Ganzen zu besserer Entfaltung gebracht werden. Dies gilt auch für die Humanitäre Hilfe, die einerseits auch in Zukunft spezielle Strukturen benötigt, um jederzeit eine schnelle Reaktion sicherzustellen, andererseits aber besser mit der längerfristigen Entwicklungszusammenarbeit verbunden werden muss. Im Hinblick auf die vielfältigen Widerstände, die auf dem Weg zu einer einzigen operativen Einheit zu überwinden sein werden, wird man sich zunächst auf operative Zwischenschritte konzentrieren müssen. Dabei kann auf laufende Reformprozesse wie etwa die Einrichtung von UNDG aufgebaut werden.
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Die Reform der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen muss auf vier Ebenen ansetzen: in den Programmländern, auf intergouvernementaler Ebene, auf organisatorisch-struktureller Ebene und schließlich hinsichtlich ihrer Finanzierung. – In den Programmländern geht es zunächst um die Stärkung des Systems des „UN Resident Coordinator“ (RC). Seine derzeitige „Koordinierungsrolle“ ohne echte Befugnisse muss zu einer wirklichen Steuerung ausgebaut werden. Hierfür sollte der RC mit dem Recht zur Weisungsgebung an das UN Country Team ausgestattet werden. Insbesondere in Ländern mit größeren Programmen sollte die Personalunion von RC und „UNDP Resident Representative“ aufgelöst werden, damit der RC ausreichend Kapazitäten für Koordinierung hat und organisationsneutral entscheiden kann. Mittelfristig sollte das Weisungsrecht des RCs auch insoweit auf die TZ-Aktivitäten der Sonderorganisationen ausgeweitet werden, als diese sich in das „common country programme“ einfügen müssen. Begleitend gilt es, die Vertretungen der verschiedenen Organisationen in einem Land räumlich und gegebenenfalls auch administrativ zusammenzuführen. Gemeinsame, an nationalen Armutsbekämpfungsstrategien ausgerichtete Länderprogramme für Fonds und Programme müssen verpflichtend werden. Für Sonderorganisationen sollten Anreize geschaffen werden, sich hieran zu beteiligen und entsprechende Beschlüsse in ihren Aufsichtsgremien zu fassen. – Bei der Steuerung durch die Mitgliedstaaten (intergouvernementale Ebene) geht es in einem ersten wichtigen Schritt darum, eine gemeinsame verbindliche Entscheidungsfindung der Aufsichtsgremien der Fonds und Programme einzuführen (z.B. für common country programmes24). Dies sollte längerfristig, entsprechend dem Voranschreiten abgestimmten Handelns auf Länderebene, schrittweise zu einem gemeinsamen Aufsichtsgremium mit abschließender Entscheidungsbefugnis (joint executive board) ausgebaut werden. – Auf organisatorisch-struktureller Ebene muss die schrittweise Zusammenlegung von Einheiten das Kernstück des Reformprozesses sein. Diese sollte nicht nach Sektoren oder Zielgruppen erfolgen. Vielmehr sollten zunächst jene Organisationen zusammengeführt werden, die die engste inhaltliche Verwandtschaft hinsichtlich ihres Charakters als operative Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit aufweisen. Dadurch kann auch der Bedeutung von Querschnittsthemen (wie „Gender“, Umwelt oder „peacebuilding“) besser 24 Ein erstes gemeinsames Länderprogramm von UNDP, UNFPA, UNIFEM und WFP wurde im Januar 2006 für Cap Verde von den jeweiligen Aufsichtsgremien verabschiedet. Weitere sind geplant.
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Rechnung getragen werden. Zwischenziel könnte sein, ein Entwicklungscluster mit einheitlicher Organisationsstruktur zu bilden, das auch den Bereich Umwelt umfasst. Dabei könnte in erster Linie der operative Aufgabenbereich einbezogen werden, der gegenwärtig auf UNDP, UNICEF, UNFPA, UNEP, UN-Habitat, UNIDO und Teile des Generalsekretariats verteilt ist. Bei der aktuellen Diskussion über die Gründung einer Umweltorganisation („UNEO“) muss darauf geachtet werden, dass diese sich als Sonderorganisation auf Normensetzung konzentriert und operative Aufgaben beim Entwicklungscluster verbleiben. – Im Bereich der Finanzierung sollte dem System der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen eine verlässliche Grundlage in angemessener Höhe zum Beispiel durch verhandelte Mehrjahreszusagen statt freiwilliger jährlicher Beiträge verschafft werden. Bei der Erhöhung der Beiträge sollte es auch um eine gleichmäßigere Lastenverteilung gehen, wobei sowohl Mitteleinkommensländer als auch einige Hocheinkommensländer stärker gefordert sind. Letzteres betrifft z.B. neben Frankreich und Italien auch Deutschland. Ferner geht es um eine deutliche Verlagerung von gebundenen zugunsten ungebundener Haushaltsmittel. Nur auf der Basis gesicherter ungebundener Mittel kann die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen neue Modelle der Finanzierung von Entwicklung und globalen öffentlichen Gütern entwickeln, in denen private und öffentliche Akteure zusammenwirken.25
G. Ausblick Bei allen Reformdiskussionen darf eines nicht vergessen werden: Die vielen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen haben sich nicht selbst gegründet, sondern sind – zumindest zum Zeitpunkt ihrer Gründung – dem Willen der Völkergemeinschaft und spezifischen Interessenkonstellationen erwachsen. Insofern kommt es auf eine erneute Mobilisierung dieses Willens der Geber- wie der Nehmerländer an, wenn eine Reform gelingen soll. Während die genannten Reformziele seitens vieler Geber, etwa aus dem erweiterten Utstein-Kreis/G-13,26 grundsätzlich unterstützt werden, so müssen doch innerhalb der Regierungen der einzelnen Geber die Voraussetzungen für die Akzeptanz weit greifender Reformen oft noch geschaffen werden. Die Zuständig25
Vgl. I. Kaul/P. Conceicao (Hrsg.), The New Public Finance, New York/Oxford 2006. Die G-13 umfasst die Länder Belgien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Finnland, Frankreich, Irland, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Schweden und Schweiz. 26
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keiten für die Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen bzw. die Sonderorganisationen sind meist – wie auch in Deutschland – auf verschiedene Fachministerien verteilt, die in den jeweiligen Aufsichtsgremien in der Regel fach- bzw. institutionenpolitischen Anliegen Vorrang vor einer kohärenten Förderung einer leistungsfähigen Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen einräumen. Ein geschlossener Auftritt der Geber wird zusätzlich dadurch erschwert, dass einzelne Geber bei spezifischen Punkten nicht bewegungsfähig sind. So lehnen z.B. die USA und Japan grundsätzlich mehrjährige Finanzierungszusagen ab. Vor allem aber gilt es, die in der G77 zusammengeschlossenen Entwicklungsländer – und damit die Mehrheit in der VN-Generalversammlung – für einen mutigen Reformprozess zu gewinnen. Die Besetzung des vom VN-GS berufenen Reformpanels mit wenigen, aber wichtigen Vertretern des Südens ist hier ein Zeichen der Hoffnung. Die Skepsis auf Seiten der Entwicklungsländer gegenüber jeglichen Reformdiskussionen beruht u.a. auf der Befürchtung, die Industrieländer könnten die Effizienzgewinne einer solchen Reform für ein Absenken ihrer Hilfszusagen nutzen. Daher ist es ein vordringliches Anliegen, bei jeder politischen Erörterung der angestrebten Reform der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen die Saldo-Gewinne für die Entwicklungsländer und das VNSystem insgesamt deutlich herauszuarbeiten. Ein leistungsfähigeres VN-System sollte auch im längerfristigen Interesse einiger im Kreis der G77 einflussreicher, aber auf die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen weniger angewiesenen Entwicklungsländer wie z.B. Indien, China, Algerien, Ägypten oder Pakistan liegen. Die Vereinten Nationen und ihre Entwicklungszusammenarbeit bilden eine einzigartige globale Kommunikations- und Kooperationsplattform, an deren Weiterentwicklung all diejenigen ein Interesse haben müssen, die sowohl in einer einseitig unipolaren als auch in einer multipolaren Welt(un)ordnung erhebliche Risiken für Frieden und Entwicklung sehen und deshalb auf die Stärkung der multilateralen Strukturen der Vereinten Nationen setzen. Diese dürfen dann eben nicht nur zum Spiegelbild – und damit nur allzu leicht zum Spielball – der Einzelinteressen ihrer 191 Mitglieder werden, sondern müssen sich schrittweise von diesen emanzipieren und Menschheitsanliegen wie auch Ansprüche von Individuen an die Völkergemeinschaft in das Zentrum ihrer Arbeit rücken. Die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen könnte hierfür zu einem Modell werden, und vielleicht hat der Millennium+5-Gipfel dann doch ein „window of opportunity“ geöffnet.
Reform der Umweltpolitik der Vereinten Nationen Von Udo E. Simonis
A. Internationalisierung der Umweltpolitik Das Interesse an globalen Umweltproblemen und globaler Umweltpolitik hat in jüngster Zeit erheblich zugenommen – sowohl in der Wissenschaft als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit. Dies dürfte einerseits mit dem wachsenden Problemdruck zusammenhängen, der sich aus weiterhin ungelösten ökologischen Problemen ergibt, und es mag andererseits Folge der Erkenntnis sein, dass sich manche Probleme auch durch die beste nationale Umweltpolitik allein nicht werden lösen lassen. Ist also die Zeit gekommen für eine neue, pro-aktive Umweltpolitik der Vereinten Nationen? Bietet der allgemein konstatierte Reformbedarf der Weltorganisation1 auch die Chance in Richtung einer systematischen, konsistenten Weltumweltpolitik? In der Disposition muss zunächst zwischen globalen und universell auftretenden Umweltproblemen unterschieden werden, auf die hin Politik formuliert und implementiert wird. Für globale Umweltprobleme kann nur eine global konzipierte Politik ursachenadäquat und zielführend sein. Ein gutes Beispiel hierfür ist der anthropogene Treibhauseffekt, der das Weltklimasystem destabilisiert und nur durch internationale Kooperation, d.h. global verbindliche Vertragsgrundlagen, Zielvorgaben und Maßnahmenpakete angegangen werden kann. Universell auftretende Umweltprobleme können dagegen lokal oder regional begrenzt sein und erfordern nicht notwendigerweise eine solche Vorgehensweise. Ein Beispiel hierfür ist die zunehmende Wasserknappheit, die lokal und regional angegangen werden kann, auch wenn es dazu angesichts der faktisch höchst unterschiedlichen Problemlösungskapazitäten einer international koordinierten Strategie bedarf.
1
Vgl. hierzu K. Annan, Strengthening of the United Nations. An Agenda for Further Change (A/57/387); ferner S. Gareis/J. Varwick: Die Vereinten Nationen, 4. Aufl., Opladen 2006, 263-320; sowie K. D. Wolf, Die UNO. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, München 2006.
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Die Notwendigkeit der weiteren Internationalisierung der Umweltpolitik ergibt sich einerseits aus den zunehmenden ökologisch-ökonomischen Interdependenzen, den Effekten der Globalisierung der Ökonomie auf die globale Ökologie, der Komplexität biologisch-chemisch-physikalischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und der Langfristigkeit der Wirkungen wie auch der möglichen Irreversibilität bestimmter Umweltschädigungen. Sie ergibt sich andererseits aber auch wegen der großen Zahl der politischen Akteure, der Widersprüchlichkeit ihrer Interessen, der Unterschiedlichkeit ihrer ökonomischen, technischen und politischen Handlungspotenziale – aber auch der Asymmetrie des ökologischen Wissens. Globale bzw. universell auftretende Umweltprobleme erfordern eine Politik, die den Nationalstaat als traditionellen Hauptakteur von Politik nicht aus der Verantwortung entlässt, ihn alleine aber überfordert. Genau dies macht ökologisch effektive, ökonomisch effiziente und sozial akzeptable Lösungen auf globaler Ebene aber besonders schwierig. Um nationales Trittbrettfahrerverhalten zu verhindern, sind eine austarierte internationale Kooperation und geschickte globale Diplomatie erforderlich, die für abgestimmte Ziele, für ein adäquates Instrumentarium und für angemessene institutionelle Bedingungen einer koordinierten Umsetzung von Politik sorgen. Ein Grundproblem der internationalen Umweltpolitik besteht dabei darin, dass ihre Ziele durch freiwilliges Handeln von Individuen, Unternehmen und Institutionen verwirklicht bzw. von Staaten mit territorial begrenzter Autorität durchgesetzt werden müssen und dass bisher erst partiell Mechanismen verfügbar sind, um Nationalstaaten zur Durchsetzung international vereinbarter Umweltpolitik zu verpflichten. Globale bzw. universell auftretende Umweltprobleme können auf unterschiedliche Weise angegangen werden. In der Fachliteratur2 steht vielfach die „Weltumweltformel“ von Anne und Paul Ehrlich3 – I = P x A x T ; in Deutsch: U = f (B,V,T) – im Blickpunkt, wonach die globalen Umweltprobleme (U) bedingt sind durch das Wachstum der Weltbevölkerung (B), den zunehmenden Verbrauch an Gütern und Diensten (V) und die installierte, nicht umweltgerechte Technologie (T). Für die Formulierung praktischer Politik hat diese Formel allerdings keine unmittelbare Bedeutung gehabt, wenn auch die Frage nach den demographischen, ökonomischen und technologischen Triebkräften (driving forces), die hinter der Belastung und Zerstörung der globalen ökologischen Systeme (wie Ozonschicht, Klima, Biodiversität, Böden, Wasser und Meere) stehen, nicht ausgeklammert 2
World Commission on Environment and Development: Our Common Future, Oxford 1987; in Deutsch: Weltkommission für Umwelt und Entwicklung: Unsere Gemeinsame Zukunft, Greven 1987. 3 P. R. Ehrlich/A. H. Ehrlich, The Population Explosion. New edition, London, Sydney 1990.
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worden ist. Es hat sich stattdessen eine mediale Grundstruktur der internationalen Umweltpolitik herausgebildet, in der diese Triebkräfte bzw. die intermedialen Zusammenhänge jeweils unterschiedlich stark berücksichtigt sind. Der hauptsächliche Grund hierfür ist historisch-pragmatischer Art: Die realen Umweltprobleme entwickeln sich unterschiedlich schnell, werden unterschiedlich intensiv von der Öffentlichkeit wahrgenommen, von der Wissenschaft aufgearbeitet und von der Politik aufgegriffen. Das war so bei der Entwicklung der nationalen Umweltpolitik, wo die Luftreinhalte- und die Abfallpolitik fortgeschrittener sind als beispielsweise die Bodenpolitik – und es ist so bei der internationalen Umweltpolitik, wo die Ozon- und die Klimapolitik stärker ausformuliert sind als beispielsweise die Biodiversitäts- und die Wasserpolitik.4 Die Erfolge und Misserfolge der medialen, sektoral konzipierten internationalen Umweltpolitik sollen im Folgenden zunächst näher betrachtet werden.
I. Ozonpolitik Das am intensivsten behandelte, politisch ausformulierte globale Umweltproblem ist die Schädigung der stratosphärischen Ozonschicht (sog. „Ozonloch“). Auf Initiative der Vereinten Nationen entstand im Laufe insgesamt zehnjähriger Verhandlungen hierzu ein dynamisches internationales Umweltregime, das auf einer Zweiteilung des rechtlichen Instrumentariums in einen stabilen, institutionellen Teil (Rahmenkonvention) und einen flexiblen, instrumentellen Teil (Protokoll) beruht. Die „Wiener Konvention“ von 1985 definierte das Problem, das „Montrealer Protokoll“ von 1987 verpflichtete die Unterzeichnerstaaten dazu, den Verbrauch der die Ozonschicht zerstörenden Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) und Halone bis 1999 um 50 % gegenüber 1986 zu reduzieren, ließ jedoch zunächst die Übertragung von Produktionen auf andere Staaten zu. Die Vertragsstaatenkonferenz in Helsinki 1989 leitete die geplante Revision ein, die für FCKW einen vollständigen Produktionsstopp sowie eine schrittweise Regelung für die Reduzierung der anderen Ozon schädigenden Stoffe vorsah. Auf den Nachfolgekonferenzen in London (1990) und Kopenhagen (1992) wurden Verkürzungen der Ausstiegszeiten beschlossen. Die USA, weniger die EU spielten in diesem Prozess eine aktive Rolle. Neben diesen verschärften Reduzierungspflichten war jedoch eine Ausweitung der internationalen Kooperation geboten, weil sich zunächst nur Industrieländer den Regeln unterworfen hatten, nicht aber Entwicklungsländer – darunter Brasi4 U. E. Simonis, Weltumweltpolitik. Grundriss und Bausteine eines neuen Politikfeldes. 2. Aufl., Opladen 1999.
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lien, China und Indien, die über einen potenziell großen Binnenmarkt für Autos, Kühlschränke und Klimaanlagen verfügen, für die nach herkömmlicher Technik FCKW verwendet wurden. Um diesen Ländern den Beitritt zu erleichtern, beschlossen die Vertragsstaaten, einen speziellen Mechanismus zur Finanzierung von und zum Zugang zu moderner Technologie zu entwickeln. Auf der Konferenz in London 1990 wurde hierzu der Multilateral Ozone Fonds (MOF) eingerichtet, der die Aufgabe hat, die erhöhten Kosten (full incremental costs) zu decken, die Entwicklungsländern bei der Umstellung der Produktion auf ozonverträgliche Stoffe und Verfahren entstehen. Durch Produktionsstopp (phasing out) der Ozon schädigenden Substanzen in den Industrieländern und durch internationalen Finanz- und Technologietransfer (substitution) in die Entwicklungsländer gelang so in relativ kurzer Zeit eine Trendwende, die das Ozonregime zu einem, wie es zu Recht heißt, Modellfall für die internationale Umweltpolitik werden ließen.5 Die Erfolgsbedingungen der Ozonpolitik waren jedoch eher spezifischer Art und sind nicht ohne weiteres auf andere Problemfälle übertragbar: Der wissenschaftlich komplizierte aber relativ unstrittige Nachweis des Ursache-WirkungsZusammenhangs6 machte die politische Bedeutung von Wissenschaft deutlich; die hochkonzentrierte, oligopolistische Produktionsstruktur bei FCKW schwächte den Widerstand der Industrie gegen die Produktionsumstellung; die Gefahr der erhöhten UV-Strahlung wurde von der Bevölkerung als unmittelbar bedrohlich empfunden. Alle diese Faktoren erleichterten und beschleunigten den Prozess der Politikformulierung und -implementierung. Die Schädigung der stratosphärischen Ozonschicht bleibt jedoch weiterhin auf der politischen Agenda der Vereinten Nationen, weil von verschiedenen Ersatzstoffen ebenfalls ökologische Schäden ausgehen, weil Umsetzungsprobleme (Substitution FCKW-haltiger Produkte und Produktionsverfahren) in den NichtVertragsstaaten bestehen und weil weiterhin illegale Exporte größeren Ausmaßes stattfinden (insbesondere aus Teilen der ehemaligen Sowjetunion in die USA).
5 Zu den Details vgl. R. E. Benedick, Ozone Diplomacy. New Directions in Safeguarding the Planet. Enlarged edition, Cambridge/Mass., London 1998. 6 Hierfür erhielten Sherwood Rowland, Mario Molina und Paul Crutzen 1995 den Nobelpreis.
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II. Klimapolitik Das zurzeit meistdiskutierte globale Umweltproblem ist die stattfindende bzw. erwartete Klimaänderung.7 Die emittierten klimawirksamen Spurengase – wie Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4) und Stickoxide (N2O), halogenierte und perfluorierte Kohlenwasserstoffe (HFCs und PFCs) sowie Schwefelhexafluorid (SF6) – stören den Wärmehaushalt der Erde, indem sie die Wärmestrahlung in den Weltraum zum Teil blockieren (daher: zusätzlicher Treibhauseffekt). Den größten Anteil (ca. 50 %) an diesem Erwärmungsprozess hat das CO2, das – quasi ubiquitär – bei allen wirtschaftlichen Aktivitäten entsteht und dessen Volumen stark mit Niveau und Wachstum des Bruttosozialprodukts korreliert. Das CO2-Problem ist insofern in besonderem Maße ein Nord-Süd-Problem. Die CH4-Emissionen8 stellen dagegen eher ein Süd-Nord-Problem dar, insofern als große Mengen dieses Treibhausgases in der Landwirtschaft, beim Reisanbau und beim Verdauungsvorgang der Rinderherden in den Ländern des Südens entstehen. Anders als bei den FCKW sind die rasche Eindämmung (reduction) oder gar der Stopp (phasing out) der Kohlendioxid- und Methanemissionen schwierig bzw. unmöglich. Anders dürfte es bei den HFC-, PFC- und SF6-Emissionen sein, die alle industriewirtschaftlichen Prozessen entstammen, für die sich Ersatzstoffe werden finden lassen. Während die Ursachen der künstlichen Erwärmung der Erdatmosphäre relativ gut bekannt sind, besteht über deren Auswirkungen noch erhebliche Unsicherheit. Im Spektrum des erwarteten Temperaturanstiegs von 1.41 bis 5.81 C (Szenarien des 3. IPCC-Sachstandsberichts, 2001) im globalen Mittel für dieses Jahrhundert ergeben sich gravierende Folgen: Die Winter in den gemäßigten Zonen können kürzer und wärmer, die Sommer länger und heißer werden. Die Klimaänderung wird schon bestehende, regional schwerwiegende Probleme wie Wetterextreme, Trockenheit oder Bodenerosion verschärfen und die dauerhaft umweltverträgliche Entwicklung in großen Teilen der Welt gefährden.9 Weitere gravierende Auswirkungen globaler Erwärmung wären das Schmelzen des Eises (Gletscher und Polkappen) und die dadurch verursachte thermische Ausdehnung des Ozeanwassers. Nach den IPCC-Szenarien dürfte der erwartete Temperaturanstieg von 1.41 bis 5.81 C den Wasserspiegel der Ozeane zwischen 7 Vgl. Worldwatch Institute: State of the World 2005. Redefining Global Security, New York, London 2005. 8 Diese machen ca. 18 % des Treibhauseffekts aus. 9 Zu den weiteren Details siehe: Intergovernmental Panel on Global Change (IPCC): Climate Change, Cambridge 2001.
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9 und 88 Zentimeter anheben – im Falle des Abrutschens großer Stücke polaren Eises ins Meer auch noch weit höher. Da rund ein Drittel der Weltbevölkerung in nur 60 Kilometer Entfernung von der jeweiligen Küstenlinie lebt, wären deren Wohn- und Arbeitsverhältnisse betroffen, für einzelne Länder10 und viele Inselstaaten11 könnte sich die Existenzfrage stellen. Die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, die auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro verabschiedet worden war, im März 1994 in Kraft trat und ihr Ständiges Sekretariat in Bonn hat, ist ähnlich wie das Ozonregime dynamisch konzipiert12 und enthält eine potenziell mächtige Definition der Stabilisierungsbedingungen. Sie ist auf der 3. Vertragsstaatenkonferenz in Kyoto 1997 durch ein Protokoll ergänzt worden, das bescheidene, aber konkrete Ziel- und Zeitvorgaben und erste Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen (Quellen) bzw. zur Erhöhung der Aufnahmekapazität der Natur (Senken) sowie institutionelle Vorkehrungen zur Umsetzung der Konvention enthält und im Februar 2005 in Kraft getreten ist. Die USA, aber auch Australien, die vom Klimawandel massiv betroffen sein werden, boykottieren bisher das Kyoto-Protokoll, u.a. mit dem vorgeschobenen Hinweis, dass China, Indien und andere große Entwicklungsländer keinen Reduzierungsverpflichtungen unterworfen worden seien – was aufgrund von internationalen Gerechtigkeitsüberlegungen (common, but differentiated responsibilities) aber explizit so beschlossen worden war. Von Seiten der Umweltwissenschaften sind – was das Instrumentarium der internationalen Klimapolitik angeht – mehrere strategische Vorschläge entwickelt worden. Sie reichen von der Einführung globaler Ressourcensteuern (resource taxes) bzw. Emissionsabgaben (emission charges) über gemeinsame Umsetzung von Projekten (joint implementation) bis zu transnational handelbaren Emissionszertifikaten (emissions trading). Die Annahme und Umsetzung dieser Vorschläge hätten drastische Änderungen im Wachstumspfad und in der Struktur der Industrieländer wie auch der Entwicklungsländer (ökologischer Strukturwandel der Wirtschaft) zur Voraussetzung bzw. zur Folge.13
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Wie z.B. Bangladesh. Wie z.B. Vanuatu. 12 Jährliche Vertragsstaatenkonferenzen, laufende Berichtspflichten, begleitende wissenschaftliche Forschung und Beratung. 13 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Welt im Wandel. Wege zur Lösung globaler Umweltprobleme, Berlin 1996. 11
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Zur praktischen Umsetzung dynamischer Emissionsminderungs- bzw. Absorptionskonzepte auf der lokalen und nationalen Ebene kommt eine Reihe von Maßnahmen in Betracht, vor allem – die Reduzierung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe durch Energieeinsparung und Erhöhung der Energieeffizienz bei Transportenergie, Elektrizität, Heizenergie; – die Installation neuer, effizienter Energiegewinnungstechnik, wie Blockheizkraftwerke, Fernwärme, Gasturbinen; – die Substitution fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien, wie Biomasse, Windenergie, Fotovoltaik, Wasserstoff und – die Vergrößerung der CO2-Senken, insbesondere durch Stopp der Regenwaldvernichtung, durch nachhaltige Waldbewirtschaftung und durch Aufforstung. Bei der Umsetzung der vertraglich vereinbarten internationalen Klimapolitik stehen somit alle drei zentralen Konfliktthemen der Politik der dauerhaft umweltverträglichen Entwicklung (sustainable development) im Raum: die ökologische Frage nach der Stabilisierung des globalen Ökosystems, die ökonomische Frage nach Quantität und Qualität des weiteren globalen Wirtschaftswachstums und die soziale Frage nach der internationalen und intergenerativen Gerechtigkeit entsprechender Lösungsvorschläge.14
III. Biodiversitätspolitik Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt (im Folgenden: Biodiversitäts-Konvention), das während der UN-Konferenz in Rio de Janeiro 1992 von 154 Staaten unterzeichnet wurde und im Dezember 1993 in Kraft trat, bringt die Einsicht der Staatengemeinschaft zum Ausdruck, dass international ein tief greifender Paradigmenwechsel in Bezug auf den Naturschutz erforderlich ist. Das Konzept der biologischen Vielfalt (oder: Biodiversität) umfasst alle Tier- und Pflanzenarten sowie Mikroorganismen, die genetische Variabilität innerhalb der Arten sowie die unterschiedlichen Ökosysteme der Erde, in denen diese Arten zusammenleben. Trotz Einführung zahlreicher völkerrechtlicher Vereinbarungen zum Schutz bzw. zur sorgfältigen Nutzung der biologischen Vielfalt hält die Zerstörung der natürlichen Lebensräume und das damit einhergehende Artensterben weiterhin an. 14 Vgl. hierzu den Bericht der World Commission 1987 und die 3. Studie zu den Grenzen des Wachstums von D. H. Meadows/D. J. Randers/D. Meadows, Limits to Growth – The 30 Year Update, White River Junction, VT 2004.
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Das dürfte vor allem daran liegen, dass die bisherigen Ansätze des internationalen Arten- und Naturschutzes nicht weit genug gehen und es obendrein an politischer und finanzieller Durchsetzungskraft mangelt. Die Biodiversitäts-Konvention erhebt erstmals den Anspruch, diese Malaise zu beseitigen. Dieser Anspruch kommt bereits in der Präambel der UN-Konvention zum Ausdruck, die den Schutz der biologischen Vielfalt zu einem gemeinsamen Anliegen der Menschheit (common concern of humankind) erklärt. Artikel 1 definiert als Ziele: „[...] die Erhaltung der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile sowie die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden Vorteile“. Als handlungsleitende Prinzipien sieht Artikel 1 den „[...] angemessenen Zugang zu genetischen Ressourcen, die angemessene Weitergabe einschlägiger Technologien unter Berücksichtigung aller Rechte an diesen Ressourcen und Technologien sowie eine [...] angemessene Finanzierung“ vor. Diese Ziele der Biodiversitäts-Konvention bilden einen „Dreiklang“, der sich auch in ihrer Umsetzung widerspiegeln soll. Aus der Verknüpfung des Naturschutzanliegens mit wirtschafts- und technologiepolitischen Fragen entstand so ein komplexes Regelwerk, das den allgemeinen Rahmen für künftiges Handeln festlegt. Neben den Artikeln, die den Schutz, die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt und den Finanz- und Technologietransfer regeln,15 finden sich im zweiten Teil des Vertrages16 innovative institutionelle Mechanismen, die sich auf den Kooperationsprozess und die Fortentwicklung des Vertragswerkes selbst beziehen. So findet u.a. in überschaubaren Abständen eine Vertragsstaatenkonferenz statt, während der die Verhandlungen zu einzelnen Bereichen der Konvention fortgesetzt und die erfolgte Umsetzung der Bestimmungen überprüft werden. Vor der jeweiligen Vertragsstaatenkonferenz erarbeitet ein Nebenorgan für wissenschaftliche und technologische Fragen (SBSTTA) entsprechende beschlussreife Empfehlungen. Für die laufende Betreuung und Verwaltung dieser UN-Konvention ist in Montreal ein Ständiges Sekretariat eingerichtet worden. Auf der 2. Vertragsstaatenkonferenz 1995 in Jakarta wurde vereinbart, einen Dialog mit den drei thematisch eng verwandten älteren Vertragswerken, dem Washingtoner Abkommen über den Handel mit bedrohten Tier- und Pflanzenarten (CITES), der Bonner Konvention zum Schutz wandernder Tierarten (CMS) und der Konvention zum weltweiten Schutz der Feuchtgebiete (RAMSAR) zu führen. Die Biodiversitäts-Konvention ist durch diesen dynamisch angelegten Verhandlungsprozess grundsätzlich in der Lage, neue Fragen aufzugreifen und strittige Punkte zu verfolgen, über die es bei Vertragsabschluss noch keine Einigung gab. 15 16
Art. 1-22. Art. 23-42.
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Als besonders wichtig ist hierbei – ähnlich wie bei der Klimarahmenkonvention – die Möglichkeit zur Annahme von Umsetzungsprotokollen anzusehen, mit der Ziele, Zeitvorgaben und Maßnahmen zu einzelnen Themenfeldern konkretisiert werden können. Im März 2000 ist – dementsprechend – in Cartagena ein Protokoll zur biologischen Sicherheit17 verabschiedet worden, das Regeln über den sicheren Umgang mit sowie den internationalen Transfer von genetisch modifizierten Organismen (GMOs) festlegte. Zur Biodiversität der Meere und Küstengebiete wurde ein Expertengremium einberufen, das Vorschläge zu dieser speziellen Thematik erarbeiten soll. Die handelspolitische Dimension der Biodiversitäts-Konvention macht es erforderlich, auch in einen Dialog mit der Welthandelsorganisation (WTO) einzutreten. Dies betrifft unter anderem das Abkommen über handelsbezogene Rechte des geistigen Eigentums (Trade Related Intellectual Property Rights – TRIPS). Eine andere komplexe Teilaufgabe der Biodiversitätspolitik besteht in dem Schutz bzw. der nachhaltigen Nutzung der Wälder der Welt. Da in den Wäldern – besonders in den noch verbliebenen Naturwäldern – die meisten landlebenden Tier- und Pflanzenarten beheimatet sind, ist deren ökologisch verträgliche Nutzung eine wesentliche Voraussetzung für den Schutz der biologischen Vielfalt insgesamt. Die Verhandlungen zu diesem wichtigen Bereich der biologischen Vielfalt finden im Rahmen des „Zwischenstaatlichen Waldausschusses“ (IPF) der Vereinten Nationen statt, der Vorschläge für künftige institutionelle Regelungen in der internationalen Waldpolitik erarbeiten soll.18 Da die Wälder eine Senke für CO2-Emissionen darstellen, ist eine aktive Waldpolitik zugleich auch Klimapolitik, die – dementsprechend – der „Waldoption“ neben der „Energieoption“ eine größere Bedeutung zumessen sollte.19 Stopp der Waldvernichtung, nachhaltige Waldbewirtschaftung und weltweite Wiederaufforstung – dies müssten die Ziele einer zukünftigen UN-Waldkonvention sein. Eine der Schwächen der internationalen Biodiversitätspolitik lässt sich an der geringen Finanzausstattung ausmachen. Die Globale Umweltfazilität,20 als vorläufiger Finanzierungsmechanismus der Biodiversitäts-Konvention, ist auch noch zuständig für die Umsetzung von Projekten zum Schutz der Ozonschicht, des Klimas, der Meere und vor Desertifikation. Für den Schutz der biologischen 17
Biosafety-Protocol. Zum Stand der Debatte und zu den Problemen der Institutionalisierung der Waldpolitik vgl. F. Hofmann, Globale Waldpolitik, Remagen-Oberwinter 2004; A. Rechkemmer/F. Schmidt, Neue globale Umweltpolitik. Die Bedeutung der UN-Reform für eine nachhaltige Wasser- und Waldpolitik, Berlin 2006. 19 Vgl. hierzu U. E. Simonis, Energieoption und Waldoption. Der technische und der natürliche Weg zum Internationalen Klimaschutz, WZB Papers, Berlin 2004. 20 Global Environment Facility – GEF. 18
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Vielfalt standen in letzter Zeit nur etwa 250 Millionen US-Dollar jährlich zur Verfügung. Angesichts eines vom UN-Umweltprogamm (UNEP)21 geschätzten mehrfach höheren Finanzbedarfs zeugen diese Zusagen von der weiterhin mangelnden Bereitschaft, die Biodiversitäts-Konvention umweltpolitisch effektiv zu machen.
IV. Boden- und Wasserpolitik Neben dem quantitativen Verlust an Böden vollzieht sich weltweit eine qualitative Verschlechterung ehemals ertragsreicher Böden. Es ist aber strittig, ob es sich hierbei um ein globales oder (nur) um ein universell auftretendes lokales bzw. regionales Umweltproblem handelt. Dieser Streit schlägt bis auf die entsprechenden Aktivitäten der Vereinten Nationen durch.22 Nach neueren Schätzungen dehnen sich die Wüstengebiete der Welt um jährlich etwa 6 Millionen Hektar aus. Die Zunahme der Bevölkerung, aber auch der Viehbestände in diesen Regionen hat die Vegetation beeinträchtigt und damit wiederum die Bodenerosion beschleunigt. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Prozesse hat gezeigt, dass hierbei sozio-ökonomische und politische Faktoren im Vergleich zu natürlichen Faktoren weit bedeutsamer sind, als früher angenommen. Daher sind nicht nur technische Maßnahmen erforderlich, sondern auch soziale und institutionelle Innovationen, vor allem die Einführung geeigneter Landnutzungsrechte. Diesen Fragen widmet sich die von den Vereinten Nationen beschlossene „Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung und der Dürrefolgen insbesondere in Afrika“,23 die auf Drängen afrikanischer Länder erarbeitet, im Juli 1994 unterzeichnet wurde und ihr Ständiges Sekretariat in Bonn hat. Diese UN-Konvention ist ein höchst innovativer, lokale Partizipation fördernder globaler Vertrag. Sie fordert – ähnlich wie die Klima- und die Biodiversitäts-Konvention – internationale Kooperation ein und kann, mit ein wenig Optimismus, als Vorläufer einer globalen Bodenpolitik angesehen werden.24 In anderer Weise offen ist die Lage in Bezug auf eine künftige globale Wasserpolitik.25 Nach jüngsten Ermittlungen mangelt es derzeit etwa 1,2 Milliarden 21
United Nations Environment Program (UNEP): GEO 1997/2000/2003. Global Environment Outlook, London 1997/2000/2003. 22 Vgl. WBGU (Anm. 13), Welt im Wandel. Die Gefährdung der Böden, Bonn 1994. 23 Kurz gefasst: Wüsten-Konvention. 24 Zu den Details siehe A. Rechkemmer, Postmodern Global Governance: The United Nations Convention to Combat Desertification, Baden-Baden 2004. 25 Vgl. WBGU (Anm. 13), Welt im Wandel. Wege zu einem nachhaltigen Umgang mit Süßwasser, Berlin 1997.
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Menschen an sauberem, trinkfähigen Wasser; von absoluter bzw. relativer Wasserknappheit sind insgesamt aber etwa 80 Staaten der Welt bedroht, in denen 40 % der Weltbevölkerung leben (UNEP 2003). In vielen Fällen wird das quantitative Wasserangebot durch Dürre, Übernutzung von Wasservorräten und Entwaldung kritisch, während die Wassernachfrage aufgrund künstlicher Bewässerung in der Landwirtschaft, fortschreitender Urbanisierung und Industrialisierung und damit einhergehendem höheren individuellen Wasserverbrauch weiter ansteigt. Auch die Wasserqualität verschlechtert sich zunehmend weltweit. Oberflächengewässer und Grundwasser werden durch Nitrat und Pestizide aus der Landwirtschaft, durch Leckagen der städtischen und industriellen Wasser- und Abwassersysteme, aus Kläranlagen und Mülldeponien belastet. Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Grenzwerte für Trinkwasserqualität werden so immer häufiger überschritten, die von der EU-Kommission gesetzten Grenzwerte werden von Tausenden von Brunnen in Europa nicht eingehalten – die folglich geschlossen werden müssten. Wasserpolitik hat noch eine weitere internationale Dimension; auf der Welt gibt es mehr als 200 grenzüberschreitende Flusseinzugsgebiete und eine große Zahl von Seen und Gewässern mit regionalem Einzugsgebiet, für die funktionstüchtige und verlässliche Vereinbarungen zwischen den Anliegern zu treffen sind. Neben der Anforderung, geeignete Maßnahmen zur quantitativen und qualitativen Sicherung der Wasservorräte für eine weiter zunehmende Weltbevölkerung zu treffen – wie Erschließung neuer Quellen, Schaffung integrierter Wasserkreisläufe, Verhinderung der Wasserverschmutzung durch Schadstoffe –, dürfte es in Zukunft deshalb verstärkt um eine gezielte Reduzierung des spezifischen Wasserverbrauchs in Landwirtschaft, Industrie und Haushalten gehen (sog. „Nachfragemanagement“). Die Alternative hierzu heißt weitere Wasserrationierung und Wasserverschmutzung – mit allen daraus wiederum entstehenden Konsequenzen. Es besteht daher dringender politischer Handlungsbedarf bezüglich einer pro-aktiven globalen Wasserpolitik, einer Neudefinition von Wassernutzungsrechten und des Transfers von Wasserspartechniken. Ein erster Schritt in dieser Richtung wurde auf der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (World Summit on Sustainable Development) in Johannesburg 2002 unternommen, auf der erstmals quantifizierte Ziele und Zeitlimits beschlossen wurden: Reduzierung der Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und Reduzierung der Zahl der Menschen ohne Zugang zu Abwasseranlagen auf die Hälfte bis zum Jahr 2015. Diese Initiativen müssten nun zu einer international abgestimmten Wasserstrategie fortentwickelt werden und in nicht allzu ferner Zukunft in die Formulierung einer UN-Wasser-Konvention münden.26 26
Vgl. hierzu Rechkemmer/Schmidt (Anm. 18).
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V. Stoff- und Abfallpolitik Viele Industrieprodukte, chemische Stoffe und Abfälle sind nicht bzw. nur schwer abbaubar (persistent organic pollutants, POPs) oder dauerhaft lagerungsfähig; und die wirksame Kontrolle des Transports gefährlicher Abfälle gilt generell als schwierig. Nach erfolgtem Grenzübertritt unterliegen solche Stoffe und Abfälle oft ganz unterschiedlichen, gelegentlich sich sogar widersprechenden Regulierungen. Die weiterhin bestehenden Exportmöglichkeiten mindern die zu schwachen ökonomischen Anreize zur konsequenten Stoffkontrolle und Abfallvermeidung vor Ort; sie transferieren damit zugleich einen Teil des Risikos, ohne auch das Wissen und die Technik zu dessen Behandlung zu transferieren. Angesichts dieser Problematik war die Verabschiedung der von den Vereinten Nationen erarbeiteten „Konvention über die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs mit Sonderabfällen und ihrer Beseitigung“ (sog. „Baseler Konvention“) im Jahre 1989 ein wichtiger Schritt nach vorn. Die Schwierigkeit liegt aber bis heute in der praktischen Umsetzung dieser Konvention auf lokaler und nationaler Ebene. Insbesondere müssten neue technische und organisatorische Vorkehrungen getroffen werden, um die latent vorhandene Bereitschaft zur Umgehung von Transportkontrollen zu verringern und eine für Mensch und Umwelt möglichst risikofreie Behandlung weiterhin anfallender Abfälle zu gewährleisten. Der grenzüberschreitende Transport gefährlicher Stoffe und Abfälle und deren Behandlung bleiben – so scheint es – auch für die Zukunft ein ungelöstes Umweltproblem, das Internationalisierung der Politik erfordert und diese angesichts potenzieller Gefährdungen zugleich begünstigt. In Bezug auf die POPs ist im Rahmen der Vereinten Nationen nach vielen Jahren zähflüssiger Verhandlungen eine Konvention über die zwölf gefährlichsten bzw. langlebigsten Stoffe unterzeichnet worden (sog. „Stockholm- bzw. POPKonvention über das dirty dozen“); auf EU-Ebene ist eine umfassende Chemikalienpolitik (REACH) im Beratungsverfahren, die bis zu 30.000 Chemikalien regulieren soll.
B. Perspektiven Wie die Ausführungen in den vorangehenden Abschnitten gezeigt haben, ist die Internationalisierung der medial konzipierten Umweltpolitik unterschiedlich weit fortgeschritten – eine Weltumweltpolitik ist im Grundriss vorhanden, in den einzelnen Bereichen aber höchst unterschiedlich institutionalisiert. Während sie der Ozonpolitik von Anfang an immanent war, ist sie in der Klima- und Biodi-
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versitätspolitik unbestritten anerkannt, aber erst ansatzweise implementiert. In einer Frühphase der Internationalisierung befinden sich die Boden-, die Wald- und die Wasserpolitik, während die Stoff- und Abfallpolitik in dem Sinne und Umfang international ist und bleibt, als die lokal und national ansetzende Strategie der Vermeidung gefährlicher Stoffe und Abfälle nicht greift, die Internationalisierung des Problems also nicht als Lösung, sondern als Ausweg gesehen wird. Der zentrale Grund für diesen insgesamt unbefriedigenden Stand der Dinge um eine kohärente, effiziente und effektive Weltumweltpolitik dürfte in der zu schwachen Institutionalisierung im UN-System liegen.27 Das personell und finanziell äußerst schlecht ausgestattete, der UN-Vollversammlung angegliederte UN-Umweltprogramm (UNEP) muss dringend gestärkt und fortentwickelt werden. Die Diskussion hierzu ist in vollem Gange,28 doch eine Lösung ist angesichts der Widersprüchlichkeit der entsprechenden Reformvorschläge bisher nicht in Sicht. Bei diesem Disput geht es vor allem um die Frage der angemessenen Institutionalisierung der internationalen Umweltpolitik (Hierarchisierung vs. Horizontale Institutionalisierung) und um deren fachliche Reichweite (Umweltpolitik vs. Nachhaltigkeitspolitik). Entsprechend stehen sich das Modell einer mit zentraler Sanktionsgewalt ausgestatteten, nationale Souveränität einschränkenden Weltumweltorganisation (Global Environment Organisation – GEO) und das Modell einer kommunikativen, auf inhaltliche Integration abzielenden Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung (World Environment and Development Organisation – WEDO) gegenüber.29 Wie dieser Disput enden wird, ist zurzeit offen. Er kann einerseits nach fachlichen Gesichtspunkten wie Angemessenheit und Dringlichkeit, andererseits aber auch nach politischen Gesichtspunkten wie Opportunität und Machterhalt entschieden werden. Für beide möglichen Entwicklungen gibt es Beispiele in der Geschichte des Systems der Vereinten Nationen.30 27
Vgl. A. Rechkemmer (Hrsg.), UNEO – Towards an International Environment Organisation, Baden-Baden 2005. 28 Vgl. J. Varwick, Die Reform der Vereinten Nationen. Weltorganisation unter Anpassungsdruck, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 43, 2004, 3-11; ders., Vereinte Nationen, in: W. Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik, 9. Aufl., Wiesbaden 2005, 534-546. 29 Vgl. hierzu F. Biermann/U. E. Simonis, Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik? Zur politischen Debatte um die Gründung einer Weltumweltorganisation, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1 (2000), 163-183.; W. B. Chambers/J. F. Green (Hrsg.), Reforming International Environmental Governance, Tokyo, New York, Paris 2005; St. Charnovitz, A World Environment Organization, in: Chambers/Green, Reforming International Environmental Governance, 93-123; D. Esty, Global Environmental Institutions. Perspectives on Reform, London 2002; Rechkemmer (2005) (Anm. 27). 30 Vgl. U. Albrecht (Hrsg.), Die Vereinten Nationen am Scheideweg. Von der Staatenorganisation zur internationalen Gemeinschaftswelt, Hamburg 1998.
„In Order to Form a More Perfect Union“ – Die amerikanische Politik zur Reform der Vereinten Nationen – Von Jan C. Irlenkaeuser
A. Grundlagen der amerikanischen VN-Politik Seit der Gründungsphase der Vereinten Nationen sind die Vereinigten Staaten einer der wichtigsten Akteure innerhalb des VN-Systems. So wurden die im Rahmen der kollektiven Sicherheit durchgeführten Militäreinsätze in Korea (19501953) sowie am Persischen Golf (1990-1991) maßgeblich von den USA geplant und operativ geleitet. Durch ihre Stellung als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben die USA naturgemäß einen signifikanten Einfluss auf die Richtung und die Erfolgsaussichten der gegenwärtigen Reformbemühungen der VN. Neben ihrer institutionellen Machtstellung innerhalb der VN wird die Bedeutung der USA innerhalb der Organisation vor allem durch ihre gegenwärtige Stellung auf der internationalen Bühne als einzige Supermacht geprägt. Reformen der Vereinten Nationen können nur mit, aber kaum gegen die USA durchgeführt werden.1
I. Erfahrungen der USA mit den Vereinten Nationen Seit dem Amtsantritt der Regierung von George W. Bush, vor allem aber seit dem Beginn der Debatte über einen Krieg gegen den Irak im Jahr 2002/2003 ist der Vorwurf, die US-Administration verfolge einen unilateralen Kurs, der die VN marginalisiere, häufig zu vernehmen. Dies ist angesichts der jüngeren Entwick1
Als Überblick zur US-Politik im Hinblick auf Internationale Organisationen siehe: D. Malone/Y. F. Khong (Hrsg.), Unilateralism and U.S. Foreign Policy, Boulder 2003; M. Honey/T. Barry (Hrsg.), Global Focus – U.S. Foreign Policy at the Turn of the Millenium, New York 2000; S. Patrick/S. Forman (Hrsg.), Multilateralism and U.S. Foreign Policy – Ambivalent Engagement, Boulder 2002.
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Jan C. Irlenkaeuser
lungen auf den ersten Blick sicher nicht von der Hand zu weisen, doch hält dies – so die Argumentation in diesem Beitrag – einer vertieften Untersuchung nicht stand. Mit der amerikanischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahre 2002 hat sich die US-Regierung zwar zum Multilateralismus bekannt, jedoch auch deutlich gemacht, dass sie weder in der Lage noch willens sein würde, sich bei der Umsetzung ihrer nationalen Interessen – vor allem der Gewährleistung der Sicherheit der amerikanischen Bürger – auf internationale Organisationen zu verlassen.2 Die Vereinten Nationen, wie im Übrigen alle internationalen Organisationen, stellen für die gegenwärtige Politik der USA lediglich ein Mittel zum Zweck und kein Ziel an sich dar. Dies ist keine Entwicklung, die sich erst seit dem Jahre 2001 in der amerikanischen Politik durchgesetzt hat. Zwar hatte die Regierung Clinton, unter dem deutlichen Einfluss von Madeleine Albright eine Politik des so genannten „assertive multilateralism“ verfolgt, dies bedeutet jedoch nicht, dass die Clinton-Administration unilaterale Maßnahmen grundsätzlich ausgeschlossen hätte. Schon in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Clinton-Administration aus dem Jahre 1999 wird der unilaterale Einsatz der amerikanischen (Militär-)Macht nicht ausgeschlossen. So heißt es: „We act in alliance or partnership when others share our interests, but unilaterally when compelling national interests so demand“.3 Beispiele für das alleinige Handeln der USA sind etwa die amerikanischen Luftangriffe auf Ziele im Sudan oder Afghanistan im Jahre 1998. Die Erfahrungen, welche amerikanischen Regierungen mit internationalen Organisationen in den vergangenen Jahren machen konnten bzw. machen mussten, können sicher nicht durchweg als positiv beschrieben werden. Betrachtet man beispielsweise das Jahr 1999, so wird deutlich, dass die Vereinten Nationen aufgrund der russischen, aber auch chinesischen Opposition gegen ein Eingreifen im Kosovo nicht handlungsfähig gewesen sind. Die Erfahrungen mit der Arbeit internationaler Organisationen, die damit häufig verbundene Einschränkung der amerikanischen Handlungsfreiheit sowie geringe Kostenersparnisse für die USA haben daher zu einer weniger positiven Perzeption von multilateralen Entscheidungsmechanismen beigetragen, als in Europa. In Bezug auf die VN müssen die USA zudem niemandem beweisen, dass sie die einzige verbliebene Weltmacht sind, und die USA benötigen somit ihren ständigen Sitz im Sicherheitsrat nicht, um Weltgeltung zu unterstreichen bzw. diese erst zu erhalten, wie dies etwa im französischen Fall offenkundig ist.
2 3
Vgl. National Security Strategy of the United States [NSS], Washington 2002, 1-2. White House, A National Security Strategy for a New Century, Washington 1999, 14.
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Dies sind sicherlich entscheidende Unterschiede zwischen der amerikanischen und der europäischen (und besonders in Deutschland) weit verbreiteten Ansicht über die Bedeutung von internationalen Organisationen. Man mag dies bedauern, jedoch ist es eine unabweisbare Tatsache der internationalen Beziehungen, dass das internationale Recht und die multilateralen Mechanismen der Entscheidungsfindung für machtvolle Staaten eine geringere Bindewirkung bzw. Attraktivität aufweisen, als für weniger machtvolle Akteure. Allerdings ist es nicht richtig, dass es aus diesen negativen Erfahrungen heraus zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Multilateralismus und der Vereinten Nationen als Organisation in den Reihen der Bush-Regierung gekommen ist. Anderenfalls wäre etwa der große Aufwand nicht nachvollziehbar, den die Administration während der Wochen und Monate im Vorfeld des Irakkrieges betrieben hatte, um die Weltgemeinschaft von der amerikanischen Sicht der Irak-Problematik zu überzeugen.
II. Die VN in der öffentlichen Meinung und in der Perzeption von politischen Entscheidungsträgern Eine grundsätzliche Ablehnung der Vereinten Nationen findet sich – entgegen häufig in Europa verbreiteten Ansichten – nicht im mainstream der amerikanischen Politik. Die Ernennung von John Bolton zum amerikanischen VN-Botschafter wurde als ein weiterer Beleg für die vermeintliche Ablehnung der VN durch die Regierung angesehen. Der sich aus der Nominierung Boltons ergebende innenpolitische Streit zwischen Demokraten und Republikanern im US-Senat fokussierte sich jedoch weniger auf die vermutliche Haltung Baltons gegenüber den Vereinten Nationen, sondern vielmehr auf seine Rolle als Under Secretary of State im Vorfeld des Irakkrieges und sein Verhalten gegenüber Mitarbeitern.4 Lediglich von politisch randständiger Seite wird ein Austritt der USA aus der Weltorganisation gefordert, so beispielsweise im Präsidentschaftswahlkampf 2000 vom Kandidaten der Reform Party Pat Buchanan, der eine dezidiert neoisolatio-
4 So heißt es in der Stellungnahme der demokratischen Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses des Senates: „In our judgment, four distinct patterns of conduct disqualify John Bolton for the post of U.N. ambassador: (1) Mr. Bolton repeatedly sought the removal of intelligence analysts who disagreed with him; (2) in preparing speeches and testimony, Mr. Bolton repeatedly tried to stretch intelligence to fit his views; (3) in his relations with colleagues and subordinates, Mr. Bolton repeatedly exhibited abusive behaviour and intolerance for different views; and (4) Mr. Bolton repeatedly made misleading, disingenuous or non-responsive statements to the committee.“ Statement of Senator Joseph R. Biden, Jr. Nomination of John Bolton to be UN Ambassador, May 12, 2005, 4-5.
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nistische Politik vertrat. Dieser erklärte bei der Annahme seiner Kandidatur vor dem Parteitag der Reform Party: „I will lead the United States out of the WTO out of the IMF, and I will tell Mr. Kofi Annan up at the UN this: Your UN lease, sir, has run out, and you will be moving out of the United States …but if you are not gone by year's end, we will send a few thousand U.S. marines to help you pack.“5
Das Ergebnis für Buchanan bei den Präsidentschaftswahlen 2000 von 0,4 Prozent zeigt deutlich, dass diese Form der Politik wenig populär in den USA ist. Im politischen mainstream ist zwar ein grundsätzliches Bekenntnis zu den Vereinten Nationen vorhanden jedoch wird die Leistungsfähigkeit der Organisation und ihre Bedeutung für die USA durchaus kritisch gesehen. Bei der Betrachtung von Meinungsumfragen zur politischen Akzeptanz der Vereinten Nationen wird deutlich, dass die VN in der amerikanischen Öffentlichkeit und von politischen Entscheidungsträgern durchaus positiv bewertet werden. In einer Untersuchung des renommierten Chicago Council on Foreign Relations (CCFR) aus dem Jahre 2004 wird dies mehr als deutlich.6 So erreichen die Vereinten Nationen auf einer Skala von null bis hundert (dies ist zugleich positivste mögliche Wert, 50 markiert eine neutrale Bewertung) den Wert 57, die Weltgesundheitsorganisation sogar 60 und damit die beste Bewertung.7 Hinsichtlich der Frage, ob sich die USA Entscheidungen der Vereinten Nationen unterwerfen sollten, selbst wenn dies nicht ihren Prioritäten entsprechen würde, zeigt sich sehr deutlich, dass sowohl die Öffentlichkeit als auch politische Entscheidungsträger dies befürworten (66% bzw. 78%).8 Eine positive Bewertung findet aber auch der Gedanke, eine ständige VNFriedenstruppe vorzuhalten (Öff.: 74%; Ent.: 67%) sowie der VN die Kompetenz zur Regulierung des internationalen Waffenhandel zu geben (Öff.: 57%; Ent.: 55%)9. Ambivalent bleibt die Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Entscheidungsträgern in der Frage, ob die VN ein eigenes Steuererhebungsrecht (z.B. auf den internationalen Handel mit wehrtechnischen Erzeugnissen) zur Finanzierung ihrer Arbeit erhalten sollten (positiv: 49% bzw. 46%; negative: 45% bzw. 49%).10
5
P. Buchanan, Reform Party Nomination, Acceptance Speech, Long Beach, California, August 12, 2000 . 6 Chicago Council on Foreign Relations [CCFR] (Hrsg.), World Views 2004, Chicago 2004. Die nächste Studie erscheint voraussichtlich im Sommer 2006, somit nach Ende des Untersuchungszeitraumes. 7 Zum Vergleich: Multinational Corporations erhalten eine negative Bewertung mit 41 Punkten (vgl. CCFR (Anm. 5), 36). 8 Vgl. CCFR (Anm. 6), 33. 9 Vgl. CCFR (Anm. 6), 34 10 Vgl. CCFR (Anm. 6), 34.
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Auffällig ist jedoch, dass die Erwartung der Entscheidungsträger über die Perzeption der VN in der Öffentlichkeit signifikant von der tatsächlichen Stimmung abweicht. So haben beispielsweise nur 26% der Entscheidungsträger die Stimmung hinsichtlich der Frage nach der Akzeptanz von VN Entscheidungen in der Bevölkerung korrekt antizipiert.11 Die überwiegend erwartete negative Wahrnehmung VN durch die Bevölkerung trifft nicht zu. Dies zeigt sehr deutlich, dass weder in der öffentlichen Meinung noch unter Entscheidungsträgern eine generelle Ablehnung der Vereinten Nationen konstatiert werden kann, vielmehr scheint Zustimmung das weit verbreiteste Charakteristikum der amerikanischen VN Perzeption zu sein.
B. Die Debatte über die VN-Reform in den USA Anders als in vielen europäischen Staaten und besonders in Deutschland wird die Diskussion über die Vereinten Nationen in den USA sehr offen und sehr kritisch geführt. Zwar lassen sich durchaus Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern feststellen, jedoch wäre es unangemessen vereinfachend, eine grundsätzliche Ablehnung der VN auf Seiten der Republikaner und eine generelle Zustimmung auf Seiten der Demokraten anzunehmen. Vielmehr ist aus beiden Parteien im Kongress Zustimmung zu grundsätzlichen Aufgaben der Vereinten Nationen zu vernehmen, genauso wie die Forderungen nach Reformen der Organisation. So erklärte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des US-Senates, Richard Luger, am 6. Februar 2006 vor dem Sicherheitsrat: „Because we value an effective and credible United Nations, we have advocated a United Nations reform agenda in our work in the U.S. Senate and during our visit today.“12
Dies ist keine neue Entwicklung. Bereits in der Vergangenheit hat sich der amerikanische Kongress sehr kritisch mit der Arbeit und der Leistungsbilanz der VN auseinandergesetzt. Hierbei wurde verschiedentlich das Mittel der Konditionalisierung von Beitragszahlungen mit Blick auf den Wunsch nach substanziellen Veränderungen in der Arbeit der VN eingesetzt.13 So etwa während der Amts-
11
Vgl. CCFR (Anm. 6), 51. R. Lugar, Adress to the UN Security Council, February 6, 2006 . 13 Vgl. hierzu: H. Kloth, UN-Reform im 109. US-Kongress, Zeitschrift für Parlamentsfragen 3 (2005), 706-708. 12
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zeit von Bill Clinton im Jahre 1997 mit der so genannten Helms-Biden-Vereinbarung, welche die Beiträge der USA für den VN-Haushalt auf 25% reduzierte.14
I. Der „Gingrich-Mitchell Report“ aus dem Jahr 2005 Im Dezember 2004 beschloss der amerikanische Kongress auf Anregung des Abgeordneten Frank R. Wolf (Republikaner, Virginia) die Einsetzung einer aus Vertretern beider Parteien bestehenden unabhängigen Kommission zu den amerikanischen Interessen im Rahmen der VN-Reform („American Interests and UN Reform“). Auftrag der Kommission war es, innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Einsetzung einen Bericht an den US-Kongress zu übergeben, in welchem Handlungsempfehlungen zusammengefasst werden sollten, wie die Arbeit der VN effektiver und effizienter gestaltet werden könnte. Bereits durch die Personen der beiden Vorsitzenden, der ehemalige Speaker des Repräsentantenhauses Newt Gingrich (Republikaner) und der ehemalige Mehrheitsführer im Senat George Mitchell (Demokrat) sowie durch die weiteren Mitglieder der Kommission als auch durch die beratenden Think Tanks wird die breite politische Basis dieses Unterfangens deutlich (z.B. Brookings Institution, Center for Strategic and International Studies [CSIS], Heritage Foundation). In ihrer Arbeit setzte sich die Gingrich-Mitchell-Kommission mit verschiedensten Fragestellungen aus dem Bereich der Vereinten Nationen und ihrer Reformnotwendigkeiten auseinander. Dies reichte vom Schutz der Menschenrechte und der Verhinderung von Völkermord über die Konfliktprävention, die Postkonfliktrehabilitation bis hin zur Veränderung der internen Organisation des VN-Generalsekretariats. Die Ergebnisse der Kommission reflektieren die überparteiliche Zusammensetzung derselben. In einigen zentralen Punkten konnte daher keine Einigkeit erzielt werden, beispielsweise in der Frage einer Erweiterung des Sicherheitsrates. Hierzu heißt es dementsprechend nur, dass eine Erweiterung nicht zu einer Verringerung der Effizienz und Arbeitsfähigkeit des Gremiums führen dürfe.15 Konsens wurde jedoch in einer Vielzahl von Reformvorschlägen erzielt. Hierbei handelt es sich u.a. um: – Stärkung der Rolle der VN bei der Verhinderung von Völkermord, besonders in aktueller Hinsicht im Falle Dafur;
14 Vgl. United States Senate, 248, Teil von Public Law No. 107-146 . 15 Vgl. Task Force on the United Nations, American Interests and U.N. Reform [Gingrich-Mitchell Report ], Washington 2005, 7.
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– Auflösung der gegenwärtigen Menschenrechtskommission und Schaffung eines Menschenrechtsrates, der ausschließlich durch Demokratien besetzt sein soll; – Schwerpunktbildung bei der Entwicklungszusammenarbeit in den Bereichen Bildung, Gesundheit und ökonomische Chancengleichheit auf globaler Ebene sowie die Verbesserung der Instrumente der VN zur Evaluierung der Effizienz von Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit; – Verbesserung des internen Managements des Generalsekretariats durch die Schaffung eines Independent Oversight Board, Umstrukturierung der Personalplanung des Sekretariats mit dem Ziel der Effizienzsteigerung sowie eine Befristung aller Programme und Aktivitäten, welche von der Generalversammlung beschlossen wurden; – Stärkung des Department of Peacekeeping im Generalsekretariat und Erhöhung seiner Professionalität sowie Entwicklung von Strategien und Doktrinen zur Durchführung komplexer Peacekeeping Missionen; – Sicherstellung einer effektiven Verifikation der Abkommen zur Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen (MVW) – besonders von Nuklearwaffen – und eine Stärkung der Internationalen Atomenergie Behörde (IAEO).16 Zwar sind alle diese Forderungen – vor allem in Hinblick auf die akademische Diskussion dies und jenseits des Atlantiks – nicht neu, jedoch wurden jene auf diese Weise gestärkt in den politisch-parlamentarischen Entscheidungsprozess der USA eingespeist und reflektieren in starkem Maße den politischen mainstream in den USA. Für die Kommission war in diesem Zusammenhang vor allem innerstaatlich die Zusammenarbeit zwischen Präsident und Kongress bei der Umsetzung der amerikanischen Vorstellungen zur VN-Reform von besonderer Bedeutung: „With a president and a Congress united in their desire to advance our national interests, the United Nations can rise to meet these new challenges and the lofty goals of its Charter“.17
II. Der „Henry-Hyde UN Reform Act“ aus dem Jahr 2005 Sehr viel schärfer als die Überlegungen der Gingrich-Mitchell-Kommission fielen Reaktionen im Repräsentantenhaus auf die Entwicklungen bei den Vereinten Nationen aus. Hierbei ist besonders der vom Abgeordneten Henry J. Hyde, 16 17
Vgl. Gingrich-Mitchell Report (Anm. 15), 7-13. Vgl. Gingrich-Mitchell Report (Anm. 15), 13.
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Vorsitzendem des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, eingebrachte „Henry J. Hyde United Nations Reform Act of 2005“ (im Weiteren UN Reform Act) zu nennen. Zum besseren Verständnis dieses Gesetzentwurfes sei kurz auf die starke Rolle des Kongresses in der amerikanischen Politik hingewiesen, die sich insbesondere im Budgetrecht („power of the purse“) zeigt.18 Dies ist sowohl innen- wie außenpolitisch die effektivste „Waffe“ des Kongresses in der politischen Auseinandersetzung mit dem Präsidenten. Das Ziel dieses Gesetzentwurfes war es, die Reform der Vereinten Nationen bzw. deren Umsetzung in wichtigen Bereichen zu erzwingen. In vier zentralen Bereichen der Vereinten Nationen setzten die Reformbemühungen des Gesetzentwurfes an (Management und Haushalt, Menschenrechtsschutz, Internationale Atomenergiebehörde [IAEO] und Friedensmissionen). Hierbei handelte es sich um eine Mischung aus eher technischen und genuin politischen Ansätzen. Zentralen Raum in dem Gesetzentwurf nimmt die Finanzierung und die so genannte Management Reform der Vereinten Nationen ein. Hierbei geht es vor allem um die Erhöhung der Effizienz des Sekretariates und der Unterorganisationen. So sollen neben einem Independent Oversight Board, welche Innenrevision und externen Prüfer überwachen soll, ein Ethics Office sowie die Position eines Chief Operating Officers geschaffen werden, welcher die Geschäfte des Sekretariates führen soll.19 Handelt es sich bei diesen Forderungen um solche aus dem Bereich der eher organisatorisch-technischen Fragen, so sind andere Reformvorschläge aus dem Bereich Haushalt deutlich politisch. Die Finanzierung von 18 unterschiedlichen VN-Programmen aus dem regulären Haushalt (z.B. wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Afrika, Schutz und Unterstützung von Flüchtlingen, Palästinensische Flüchtlinge) sollte auf freiwillige Beiträge der Mitgliedstaaten umgestellt werden.20 Dies würde es den USA ermöglichen, sich aus der Finanzierung einiger oder aller Programme zurückzuziehen, was nach dem gegenwärtigen Modus nicht möglich ist. Deutlich wird in dem Gesetzentwurf eine pro-israelische Haltung und eine große Zurückhaltung gegenüber den Palästinensern aber auch arabischen Staaten. Dies kann sicherlich auch als Reaktion auf die in den Vereinten Nationen weit verbreite anti-israelische Haltung vieler Staaten in der Generalversammlung verstanden werden. Im Bereich des Menschenrechtsschutzes bewegen sich die Forderungen im Rahmen des international diskutierten mainstreams über die Schaffung eines Menschenrechtsrates, besonders hinsichtlich der Nicht-Wählbarkeit von notori18 So heißt es in Art. 1, Sec. 9 der US-Verfassung: „No Money shall be drawn from the Treasury, but in Consequence of Appropriations made by Law“. 19 Vgl. Henry J. Hyde United Nations Reform Act of 2005 [UN Reform Act], Sec. 104. 20 Vgl. UN Reform Act (Anm. 19), Sec. 101.
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schen Menschenrechtsverletzern in Menschenrechtsgremien der VN.21 Auch die mit dem Gesetz intendierte Stärkung der internationalen Atomenergiebehörde dürfte wenig kontrovers sein, beinhaltet diese doch Aspekte wie die Rückgabe von Nuklearmaterial und Technologie, die einem Staat von der IAEO unter der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) zur Verfügung gestellt wurden für den Fall von dessen Kündigung.22 Die anvisierten Reformen im Bereich des Peacekeepings resultieren aus der negativen Einschätzung der Leistungsbilanz der Organisation in der Vergangenheit und dem Fehlverhalten von bei VN-Missionen eingesetzten Soldaten und Zivilisten (z.B. sexuelle Übergriffe von VN-Soldaten im Kongo). Im Einzelnen sollen Verbesserungen bei Führung, Ausbildung und Aufklärung des Fehlverhaltens von VN-Mitarbeitern erzielt werden. Mit der im Gesetzentwurf enthaltenen Vorgabe, keiner Erweiterung bestehender Friedensmissionen zuzustimmen, solange die angemahnten Reformen nicht umgesetzt würden, hätte der UN Reform Act nicht nur deutlich die US-Politik in den Vereinten Nationen bestimmt, sondern auch die Handlungsmöglichkeiten der Organisation deutlich beschränkt. Durch die Konditionalisierung der amerikanischen Beitragszahlungen an die Organisation sollte Druck auf die übrigen Mitgliedstaaten wie auch das Sekretariat ausgeübt werden, um zu einer Beschleunigung und Intensivierung des Reformprozesses zu gelangen. Die Leistung der Beiträge soll nach dem UN Reform Act nur dann erfolgen, wenn der Secretary of State eine Erklärung abgibt, in welcher den Vereinten Nationen bescheinigt wird, dass sie diese Reformen umgesetzt haben.23 Der UN Reform Act muss besonders vor dem Hintergrund des Skandals um das Öl-für-Lebensmittel-Programm gesehen werden, in dessen Verlauf zahlreiche Anschuldigungen gegen an diesem Programm beteiligte Personen erhoben wurden, einschließlich des Generalsekretärs Annan. Im Abschlussbericht des Unterausschusses für Untersuchungen des Ausschusses für Internationale Beziehungen des Repräsentantenhauses wird dieser Gesetzentwurf als Antwort des Kongresses auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlungen der VN bezeichnet.24 Der UN Reform Act führte sowohl im zuständigen Ausschuss des Repräsentantenhauses (House Commitee on International Relations – HCIR) als auch im Plenum
21
Vgl. UN Reform Act (Anm. 19), Sec. 201. Vgl. UN Reform Act (Anm. 19), Sec. 301. 23 Vgl. UN Reform Act (Anm. 19), Sec. 601, Abs. b. 24 Vgl. Committee on International Relations, Subcommitee on Investigations, The Oilfor-Food-program: The systematic Failure of the United Nations, Washington, December 7, 2005, S. 7. 22
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des Hauses zu einer deutlichen parteipolitischen Polarisierung und dementsprechendem Abstimmungsverhalten (221 zu 184 Stimmen).25 Im Senat wurde ein dem UN-Reform Act entsprechender Gesetzentwurf von Senator Gordon Smith (R-OR) eingebracht, der jedoch bisher lediglich die ersten beiden Lesung erfahren hat (13. und 14. Juli 2005). Zu einer Abstimmung im Senat ist es bisher nicht gekommen. Dies muss als sicheres Indiz dafür gewertet werden, dass der Gesetzentwurf nicht verabschiedet werden dürfte.26 Dies unterstreicht die mäßigende Rolle, welche der Senat im Zwei-Kammern-Gefüge des amerikanischen Parlamentarismus spielt.27 Jedoch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in den Reihen der Demokraten eine ähnliche Politik verfolgt wurde. So hat der Obmann der Demokraten (Ranking Member) im HICR, Tom Lantos, einen Änderungsantrag zum UN Reform Act vorgelegt, der ebenso eine Konditionalisierung der amerikanische Beitragszahlungen an die UN vorsah, jedoch dem Secretary of State in dieser Frage die Entscheidungsfreiheit überlassen würde. Auch bei diesem Gesetzentwurf hätten bis zu 50% der amerikanischen Beitragszahlungen gestundet werden können.28 Dies zeigt ebenso wie der Gingrich-Mitchell-Report deutlich, dass bei den Demokraten ebenfalls ein erhebliches Maß an Unzufriedenheit über den Fortgang der VN-Reformen besteht. Bei der Abstimmung im Plenum des Repräsentantenhauses zeigte sich abermals die parteipolitische Polarisierung in dieser Frage, so dass der Änderungsantrag mit 216 zu 190 Stimmen abgelehnt wurde.29 Die starke parteipolitische Polarisierung dieser Frage dürfte vermutlich auf die sehr hitzige und in der ersten Jahreshälfte 2005 geführte Debatte über die Nominierung von John Bolton als Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen zurückzuführen sein, jedoch keine generelle Abkehr von dem in außenpolitischen Fragen weit verbreiteten Streben nach überparteilicher Einigung anzeigen.
25
213 Republikaner stimmten für und nur 7 gegen den Gesetzentwurf; bei den Demokraten war das Abstimmungsverhalten ähnlich geschlossen, mit 176 Nein zu 8 Ja Stimmen (vgl. Clerk of the House, Final Vote Results for Role Call 282, 17 June, 2005 [http://clerk. house.gov/evs/2005/roll282.xml]). 26 Vgl. S. 1394, A bill to reform the United Nations, and for other purposes, Status Abfrage unter http://thomas.loc.gov am 6. März 2006. 27 Vgl. T. Lowi/B. Ginsberg, The American Government – Freedom and Power, New York 1977, 108. 28 H. Amdt, 320, Substitute Amendment to H.R. 2745 [http://thomas.loc.gov]. 29 Republikaner: 9 ja, 211 nein; Demokraten: 180 ja, 5 nein (vgl. Final Vote Results for Roll Call 281, 17 June, 2005 [http://thomas.loc.gov]).
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C. Die Politik der Regierung Bush gegenüber den Ansätzen zur Reform der VN Für die amerikanische Regierung lassen sich vier Themen im Bereich der VNReform-Debatte identifizieren, die für sie eine große Bedeutung haben. Dies ist (1.) die Frage einer Neuinterpretation des Selbstverteidigungsrechts (Präemption) (2.) die institutionelle Reformen der Organisation, (3.) der geplante Menschenrechtsrat der VN sowie (4.) Erweiterung des Sicherheitsrates der VN.
I. Das Problem der Präemption Für die amerikanische Regierung stellt sich seit dem 11. September 2001 die Frage einer Erweiterung des Selbstverteidigungsrechtes im Falle eines möglichen Angriffes mit Massenvernichtungswaffen. So heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS)30 von September 2002: „We must be prepared to stop rogue states and their terrorist clients before they are able to threaten or use weapons of mass destruction against the United States and our allies and friends“.31 Hieraus folgend wurde in der NSS eine Politik der Prämeption formulierte. Die Grundlage für die Politik der Bush-Regierung war in diesem Fall die Erkenntnis, dass weder traditionelle Formen der Abschreckung („Traditional concepts of deterrence will not work against a terrorist enemy […]“32) die Sicherheit der amerikanischen Bürger gewährleisten können wie die gegenwärtige völkerrechtliche Praxis des Selbstverteidigungsrechts und der darin enthaltenen Möglichkeiten zum präventiven Einsatz von militärischer Macht („We must adapt the concept of imminent threat to the capabilities and objectives of today’s adversaries.“33). Dies bedeutet in amerikanischer Sichtweise die Notwendigkeit zu einer Reform des Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen und eine Anpassung des Selbstverteidigungsrechtes an die veränderten strategischen aber auch operativen Rahmenbedingungen. Eine Entwicklung innerhalb der Vereinten Nationen, die auf diese Notwendigkeiten eingegangen wäre, hat jedoch nicht stattgefunden. Dies dürfte zu einem gewissen Grad die Frustration der amerikanischen Regierung mit dem gesamten Prozess der VN-Reform erklären. 30 Zur NSS siehe J. Krause/J. Irlenkaeuser/B. Schreer, Wohin gehen die USA? Die neue nationale Sicherheitsstrategie der Bush-Administration, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48 (2002), 40-46. 31 Vgl. NSS (Anm. 2), Washington 2002, 15. 32 NSS (Anm. 2), 15. 33 NSS (Anm. 2), 15.
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II. Management Reform Das Ansinnen der amerikanischen Regierung, zu einer signifikanten Verbesserung der Leistungsfähigkeit der VN als Organisation im Allgemeinen und des Generalsekretariates im Speziellen zu kommen, ist besonders den Enthüllungen der sog. „Volcker-Kommission“ geschuldet. Diese Kommission unter dem ehemaligen Vorsitzenden der amerikanischen Notenbank, Paul A. Volcker, kam zu dem Ergebnis, dass erhebliche Mängel bei der Abwicklung des Öl-fürLebensmittel-Programmes der Vereinten Nationen aufgetreten waren.34 So zog auch der amerikanische VN-Botschafter Bolton aus den Ergebnissen des Berichts den Schluss, dass das Managmentsystem der VN reformbedürftig sei („The management of the UN needs urgent, immediate reform“).35 Konkret setzte sich die amerikanische Regierung im Rahmen der Reformdebatte für die Stärkung der internen Aufsicht innerhalb des Generalsekretariates, aber auch der Unterorganisationen, besonders in den Bereichen Haushalt und Personal ein.36 Hierzu zählt u.a. die Schaffung eines Independent Oversight Board, sowie eines Ethics Office, welches das Verhalten leistender Mitarbeiter überprüfen soll. Darüber hinaus strebte die US-Administration die Schaffung von Prioritäten bei Programmen und Dienststellen der VN an.37 Die Politik des amerikanischen Kongress, besonders des Repräsentantenhauses (siehe oben) dürfte die amerikanische Position gestärkt haben, da diese zum Aufbau einer wirkungsvollen Drohkulisse gegenüber reformunwilligen Kräften beigetragen haben dürfte.
III. Der Menschenrechtsrat Besonders die Menschenrechtskommission der VN hat in den vergangenen Jahren vielfältige Kritik von Seiten der amerikanischen Regierung hinnehmen müssen. So beklagte beispielsweise der zuständige Abteilungsleiter im US-Außenministerium, dass die VN-Menschenrechtskommission zunehmend für politische 34
Vgl. Independent Inquiry Committee, The Management of the United Nations Oilfor-Food-Programme, 7 September 2005 < http://www.iic-offp.org/Mgmt_Report.htm>. 35 Statement by Ambassador John R. Bolton, U.S. Permanent Representative to the United Nations, on the Release of the Supplemental Report of the Independent Inquiry Committee into the United Nations Oil-for Food Program, October 27, 2005 . 36 Vgl. A. Wolff, Statement in the General assembly, December 23, 2005 . 37 Vgl. Department of State, U.S. Priorities for a stronger, more effective United Nations,Washington 2005.
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Interessen notorischer Menschenrechtsverletzer wie Libyen oder dem Sudan missbraucht würde. Dies ist weitgehend deckungsgleich mit der Einschätzung der Arbeit, wie sie vom VN-Generalsekretär Annan vorgelegt wurde. So führte dieser am 8. April 2005 vor der VN-Menschenrechtskommisson aus: „We have reached a point at which the Commission’s declining credibility has cast a shadow on the reputation of the United Nations system.“38 Grundsätzlich unterstützen die USA die Pläne des Generalsekretärs zur Schaffung eines ständigen Menschenrechtsrates, der die bisherige Kommission ersetzen soll. Allerdings besteht die USA auf der Erfüllung von vier zentralen Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in dem neuen Gremium: – Wahl mit Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung; – Zukünftige Mitglieder sollen schriftlich gegenüber dem Generalsekretär ihre Qualifikation für die Mitgliedschaft im Rat darlegen; – Unterstützung durch die jeweilige Regionalgruppe; – Staaten, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen unter einem Sanktionsregime stehen oder deren Verhalten durch eine Untersuchungskommission geprüft wird, sollen nicht wählbar für den Rat sein.39 Letztere Bestimmung bezieht sich unzweifelhaft auf Fälle in der jüngeren Vergangenheit, wie z.B. den Sudan, der trotz der Menschenrechtsverletzungen in Dafur zweimal hintereinander zum Mitglied der Menschenrechtskommission gewählt worden war. Eine solche Lösung, die durchaus durchsetzungsfähig erscheint, wird zwar die gravierendsten Fälle eines politischen Missbrauchs verhindern können, jedoch werden Staaten wie Russland oder China als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates sich kaum aus dem neu zu schaffenden Menschenrechtsrat fernhalten lassen. Sollte beide Staaten in den Rat gewählt werden, würde dieser aufgrund der erheblichen Menschenrechtsverstöße in beiden Ländern von vornherein mit einer schweren Hypothek belastet sein. Aus diesem Grund haben die USA auch am 15. März 2006 als eines von nur vier Ländern in der VN-Generalversammlung gegen die Einrichtung des Menschenrechtsrates gestimmt.40
38
United Nations, Secretary-General Outlines Major Proposals to Reform UN Human Rights Machinery, in Address to Geneva Human Rights Commission, April 8, 2005 . 39 Vgl. J. Bolton, Statement in the General Assembly, USUN Press Release # 214 (05 November 10, 2005 . 40 Vgl. United Nations, Sixtieth General Assembly, General Assembly establishes new Human Rights Council by vote, March 15, 2006 [http://www.un.org/News/Press/docs/ 2006/ga10449.doc.htm].
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IV. Erweiterung des Sicherheitsrates der VN Die amerikanische Regierung hat sich bei den Beratungen über eine Erweiterung des Sicherheitsrates besonders gegenüber der von Deutschland favorisierten Lösung (Erweiterung um neun auf dann 24 Mitglieder und vor allem die Bestellung von sechs neuen ständigen Mitgliedern) sehr zurückgehalten, und zwar in schon fast ablehnender Weise. Vielmehr favorisierte die US-Administration eine moderate Erweiterung, die nicht zu lasten der Effektivität des Rates gehen sollte. Als entscheidende Kriterien für die Aufnahme wurden genannt: Bevölkerungsgröße, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, finanzielle Beiträge zu den VN, Beiträge für Peacekeeping Operationen, sowie Einhaltung der Menschenrechte und Gewährleistung demokratischer Standards.41 Die Anlegung dieser Kriterien ließ von vorneherein eine Erweiterung des Sicherheitsrates unwahrscheinlich erscheinen, da einzig Deutschland und mit Abstrichen Japan (im Bereich Beteiligung an Peacekeeping Operationen) diese Anforderungen erfüllen dürften. Die alleinige Befürwortung der Aufnahme Japans dürfte vor allem durch taktische Überlegungen motiviert sein, da eine Erweiterung des Sicherheitsrates nur um Japan von vornherein ausgeschlossen war. Diese amerikanische Politik war und ist wenig überraschend und die teilweise erstaunten Reaktionen in Deutschland müssen im besten Falle als naiv angesehen werden. Verschiedene Gründen können für diese Vorgehensweise angeführt werden. Zum einen ist es das erklärte Ziel der amerikanischen Regierung, die Arbeitsfähigkeit des Rates zu erhöhen, zumindest jedoch zu erhalten. Eine Erweiterung seiner Mitgliederzahl um 60% erhöht naturgemäß die Anzahl der beteiligten Akteure und macht auf diese Weise die Entscheidungsfindung, besonders die Abstimmung im Vorfeld, schwieriger und zeitaufwendiger. Da der Sicherheitsrat seine Entscheidungen – unabhängig von der zumeist im Vordergrund stehenden Frage des Vetos – mit Mehrheit trifft, ist es für die amerikanische Regierung naturgemäß von entscheidender Bedeutung, nicht in die Lage einer strukturellen Mehrheitsunfähigkeit zu gelangen. Dies könnte jedoch im Falle der Aufnahme von neun neuen Mitgliedern, hierunter sechs ständige, der Fall sein. Selbst wenn keine strukturelle Mehrheitsunfähigkeit vorliegen würde, würde eine Vergrößerung dieses Gremiums um 60% zwangsläufig die politischen und materiellen Kosten für die Erlangung einer Abstimmungsmehrheit signifikant steigen lassen. Aus der Perspektive der US-Regierung trat und tritt noch hinzu, dass die meisten dieser Staaten zuvor wenig Affinität für die politischen Ziele Washingtons gezeigt haben, dies gilt besonders für die Irakpolitik der Bush-Regierung. Eine 41
Vgl. Bolton (Anm. 39).
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detaillierte Analyse des Abstimmungsverhaltens im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung der VN zeigt diesbezüglich ein gemischtes Bild. Zwar hat die Bundesrepublik Deutschland im Sicherheitsrat in 100% der Fälle mit den USA gestimmt (sowohl im Jahre 200342 als auch 200443) jedoch wurden die wirklich wichtigen Fragen wie eine Autorisierung des Einsatzes von militärischer Macht gegen den Irak im Rat gar nicht zur Abstimmung gestellt. In der Generalversammlung reduziert sich diese Koinzidenz jedoch auf 57,1% (2004)44 bzw. 47% (2003)45 wenn man die Konsensentscheidungen ausnimmt.46 Betrachtet man die Politik der Kandidaten für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat vor dem Herbst 2005 (Brasilien, Ägypten, Indien, Nigeria und Südafrika) so wird deutlich, dass diese Länder unisono in weniger als 30% der Fälle mit den USA gestimmt haben.47 Zwar ist die Koinzidenzquote mit Japan unter jener mit Deutschland, 39,4% (2003)48 bzw. 42,3% (2004)49, doch dürften die Nachwirkungen der Irakkrise hier deutlich spürbar sein. Somit ist es aus der amerikanischen Perspektive nicht nur verständlich, sondern auch alles andere als wahrscheinlich, dass sich die Position der Regierung Bush in der Frage der Erweiterung des Sicherheitsrates auf absehbare Zeit verändern wird.
D. Schlussbetrachtung Die amerikanische Debatte über die VN-Reform zeigt zwar deutlich kritischere Züge als etwa jene in Europa, jedoch kann nicht von einer grundsätzlichen Ablehnung der Organisation in der öffentlichen Meinung noch in der politischen Elite des Landes ausgegangen werden. Eine fundamentale Ablehnung der VN findet lediglich an den politischen Rändern statt. Der amerikanische Kongress, dies zeigt das Beispiel des UN Reform Act, war gewillt und wird dies sicherlich auch in der Zukunft sein, seine Macht – vor allem in Haushaltsfragen – offensiv einzusetzen um auf eine weitere Reform der VN zu drängen. Natürlich spielen hierbei auch innenpolitische Motive eine wichtige Rolle, jedoch sollten diese nicht überbe42 Vgl. Department of State, Voting Practices in the United Nations 2003, Washington 2004, 81. 43 Department of State, Voting Practices in the United Nations 2004, Washington 2005, 71. 44 Vgl. Department of State (Anm. 41), 98. 45 Vgl. Department of State (Anm. 42), 99. 46 Vgl. Department of State (Anm. 42), 157. 47 Vgl. Department of State (Anm. 41), 98, 99. 48 Vgl. Department of State (Anm. 41), 91. 49 Vgl. Department of State (Anm. 42), 77
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wertet werden. Die Vorstellung, die Republikaner seien gegen und die Demokraten für die VN, ist politikwissenschaftlich jedoch kaum haltbar und würde zu einer verzerrten Wahrnehmung der außenpolitischen Entwicklung in den USA führen. Vielmehr wird von Vertreten beider Parteien der Reformprozess der VN sehr kritisch begleitet. Trotz der unzweifelhaft vorhandenen Krise in den Beziehungen zwischen den USA und der VN im Vorfeld des Irakkrieges haben sich die Wogen wieder geglättet, führt doch an den USA in den Vereinten Nationen kein Weg vorbei. Die von den USA geforderten Reformen der VN sind keineswegs völlig unrealistisch, sondern bewegen sich ganz offenkundig im internationalen mainstream. Die Vorstellung, die USA könnten ein Interesse an einer Erweiterung des Sicherheitsrates haben, darf bezweifelt werden, vielmehr dürfte sich an der bisherigen Zusammensetzung des Gremiums wohl nur wenig ändern. Andere Themen in der Reformdebatte – wie die Managementreform – haben für die USA eine sehr viel höhere Priorität, hängt doch von diesen Veränderungen maßgeblich die Effektivität der Organisation ab.
„Neue“ versus „erneuerte“ Vereinte Nationen – Überlegungen im Anschluss an Kofi Annan, Hobbes Foole und andere Ansichten* Von Alfredo Märker
Im Jahr 2005 ist bei den Vereinten Nationen (United Nations, UN) häufig von Reformen die Rede gewesen, und die Ergebnisse des sechzigsten Gründungsjahres sind unterschiedlich aufgenommen worden. Während Einige die UN nun besser als zuvor aufgestellt sehen, um neuen Herausforderungen zu begegnen, betonen Kritiker deren mangelnde Reformfähigkeit. Der vorliegende Beitrag zeichnet die Entwicklungsgeschichte der Weltorganisation und das zurückliegende Jubiläumsjahr skizzenhaft nach. Er hinterfragt Neuerungspotentiale wie Erneuerungschancen der Vereinten Nationen, greift dabei mitunter auf Aussagen des UN-Generalsekretärs Kofi Annan zurück und bringt sie in einen diskursiven Zusammenhang mit unterstützenden oder gegenläufigen Ansichten. Kofi Annan ist in diesem Beitrag selbstverständlich Wortführer des Gedankens, die UN seien erneuerbar und auch künftig in der Lage, globale Sicherheit zu garantieren. Annan kann dies glaubhaft vermitteln. Immerhin muss er als Generalsekretär einer Organisation mit 191 Anteilseignern nicht nur über eine gehörige Portion Berufsoptimismus verfügen, sondern ist selbst vielfach als Reformer wahrgenommen worden. Trotzdem scheint seine Skeptikergemeinde – und die der Vereinten Nationen – bis heute nicht kleiner geworden zu sein. Die Wortführer der Kritik am Generalsekretär waren in jüngster Zeit vor allem in den USA zu vernehmen. In jenem Gastland der UN also, dessen Außenpolitik von Robert Kagan unlängst mit Hobbes’schen Motiven beschrieben worden ist. Auch in diesem Beitrag wird der Staatstheoretiker und Moralphilosoph fruchtbar gemacht, wenngleich nicht unter Einbindung Kagan’*
Für Anregungen und eine kritische Diskussion danke ich den Teilnehmern des Colloquiums von Herfried Münkler und des Forschungsseminars von Michael Kreile an der HU Berlin sowie Johannes Varwick für die freundliche Gelegenheit, meine Ideen im Wintersemester 2005/2006 im Rahmen seiner Ringvorlesung an der Universität Kiel zu präsentieren. Teil A ist auszugsweise eine Bearbeitung eines 2005 mit Beate Wagner veröffentlichen Artikels. Vgl. A. Märker/B. Wagner, Vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen. Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ) 22 (2005), 3-10.
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scher Mars- und Venus-Bilder, sondern durch eine Rückbesinnung auf Hobbes Foole, jenem Narren und pars pro toto für deutliche, gelegentlich ins Zynische abgleitende, doch stets gehaltvolle Einwände gegen ehrbare und vernünftige Anliegen. Dass es sich bei der Idee vereinter Nationen um ein solches Ansinnen handelt, soll und kann hoffentlich nachfolgend untermauert werden. Wohin sich die Vereinten Nationen künftig bewegen, lässt sich am Ende nur andeuten. In der Tradition politischen Philosophierens wird also auch der Diskurs um die Zukunft der Vereinten Nationen beim andauernden Gespräch verbleiben.
A. Gestern – Zeit für Bilanzen I. New York ist nicht Genf „Zeit für Erneuerung“ hieß es im letzten Jahr bei den Vereinten Nationen, ein Wunsch, der auch Eingang ins offizielle Jubiläumsemblem fand, stetig darauf hinweisend, dass es sechs Jahrzehnte nach Gründung der Weltorganisation an der Zeit sei für eine Anpassung an länger schon nicht mehr zu leugnende, neue globale Gegebenheiten. „Erneuerung der Vereinten Nationen“ lautete allerdings schon 1997 ein Bericht, mit dem der damals gerade ins Amt gelangte Kofi Annan die Weltorganisation zukunftsfähig machen wollte.1 Dass der siebte UN-Generalsekretär auf seinem Weg vieles bewirken konnte, wird heute selten bestritten. Bei der Reform des Sekretariates, wo er viel ohne die Zustimmung der UN-Mitgliedsstaaten verändern konnte, bescheinigen Befürworter ihm manchen Forschritt. Dort wo Annan auf Unterstützung und Initiative der Anteilseigner der Vereinten Nationen angewiesen blieb, tat sich hingegen wenig. Ein Umstand, der Annan 2003 dazu bewogen hatte, an die Generalversammlung zu appellieren. „Wir sind an einem Scheideweg angelangt. Dieser Augenblick könnte nicht weniger entscheidend sein als das Jahr 1945, als die Vereinten Nationen gegründet wurden [...]. Die Vereinten Nationen sind keineswegs ein perfektes Instrument, aber sie sind ein kostbares. Ich bitte Sie dringend, nach einer Übereinkunft zu suchen, um es zu verbessern, vor allem aber, um es zu nutzen, wie seine Gründer es beabsichtigt haben – um nachfolgende Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, um den Glauben an die grundlegenden Menschenrechte zu festigen, um fundamentale Bedingungen für Gerechtigkeit und die Herrschaft des Rechts zu schaffen, und um in größerer Freiheit sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard zu fördern. Die Welt mag sich
1 Vgl. UN-Doc A/51/950, Bericht des Generalsekretärs, Erneuerung der Vereinten Nationen: Ein Rahmenprogramm. Erschienen in der Blauen Reihe der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (BR/DGVN) 69 (1997).
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verändert haben, Exzellenzen, aber diese Ziele sind gültig und dringend wie schon immer. Wir müssen sie fest im Blick behalten.“2
So sehr Annan damit den Reformwillen der Delegierten beschwören wollte, fällt auf, dass er stets vermieden hat, „neue“, gar „andere“ Vereinten Nationen einzufordern. Jubiläumsmotto blieb die Erneuerung der vorhandenen Institution. Man mag dieser Sprachnuance geringe Bedeutung zumessen, man mag darin aber auch das Bewusstsein eines taktisch versierten Generalsekretärs erkennen, der die Gegner seiner Organisation kannte. Schließlich verbindet sich mit „Neuen Vereinten Nationen“ die Idee vom Scheitern der alten UN eher, als mit deren „Erneuerung“. Gegebenenfalls mag in New York sogar die Sorge vor Vergleichen mit dem Völkerbund, jenem sang- und klanglos aufgelösten „Debattierclub“ am Genfer See geherrscht haben. Dabei ist die Bilanz der UN gar nicht so schlecht, schon gar nicht mit Blick auf ihren Vorgänger. New York ist nicht Genf, selbst wenn US-amerikanische Unkenrufe derlei Analogien vermitteln mochten. Betrachtet man die Geschichte der UN und des Völkerbunds fallen weitere Unterschiede ins Auge. Allerdings auch gemeinsame Schwächen, allem voran ein gespaltenes Verhältnis der USA zum Prinzip kollektiver Sicherheit insgesamt. Und dies, obgleich beide Weltorganisationen erst auf deren Bestreben hin entstanden sind.
II. Gründung und Scheitern des Völkerbunds: Der erste Versuch Der erste Versuch einer weltweiten Friedensorganisation wäre ohne den amerikanischen Präsidenten Wilson kaum möglich gewesen. Doch als man ihm 1920 den Friedensnobelpreis verlieh, zeichnete man ihn für die Unterstützung einer Idee aus, für die er seine Landsleute wenig begeistern konnte. Philosophisch geht die Gründung des Völkerbundes ohnehin eher auf europäische Denkschulen zurück, vor allem auf Immanuel Kant. Womöglich ließ sich die dem Völkerbund zugrunde liegende Vorstellung – Einbindung souveräner Staaten in ein System gegenseitiger Sicherheit, in gemeinsame rechtliche Verpflichtungen, Institutionen und Verfahren mit dem Ziel von Vertrauensbildung – deshalb schwer mit dem amerikanischen Freiheitsideal und daraus folgenden Vorstellungen von Sicherheit vereinbaren. Realpolitisch hingegen ist die Entstehung des Völkerbundes sogar ausdrücklich mit den USA verbunden. Wilson hatte seine Vorstellung einer besseren Staatenordnung mehrfach dargelegt, etwa am 4. Juli 1918 in Mount Vernon: „Was wir suchen, ist die Herrschaft des Rechts, gegründet auf die Zustimmung der Regier2
116.
Zitiert nach der deutschen Übersetzung der Rede in Internationale Politik, 11 (2003),
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ten und getragen von der organisierten Meinung der Menschheit.“3 Wenige Monate zuvor hatte er die amerikanischen Kriegsziele in seiner berühmten 14-PunkteAnsprache vor dem Senat erörtert. Sein letztes und wichtigstes Ziel – die Gründung einer „Allgemeinen Vereinigung der Nationen“ – wurde später auf der Pariser Friedenskonferenz von den Siegerstaaten ebenso aufgenommen wie sein Vorschlag, die Satzung des Völkerbundes in die Friedensverträge zu integrieren, womit Wilson in seiner Heimat die Unterstützung der Republikaner erhoffte. Am 28. April 1919 wurde die Völkerbundsatzung schließlich von den 32 Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges einstimmig angenommen. Die USA blieben dem Völkerbund trotzdem fern, weil der Senat seine Zustimmung versagte. Die ersten Jahre der neuen Organisation stimmten gleichwohl zuversichtlich. Anfangs gab es kleinere Erfolge bei der Friedenssicherung, bedeutendere bei der Bewältigung von Herausforderungen, die heute wohl als „soft threats“ bezeichnen würden (z.B. Flüchtlingshilfe, Hungersbekämpfung, Gesundheitsvorsorge), und bei der Einleitung der Entkolonialisierung. Zentrale militärische Auseinandersetzungen – wie der Ruhrkonflikt (1923), der Spanische Bürgerkrieg (1936 bis 1939) und die Sudetenkrise (1938) – blieben indes außerhalb der „Genfer Liga“. Entsprechend klar sind im Nachhinein die Ursachen für das Scheitern des Völkerbundes beschrieben worden. Erstens hatte man es versäumt, den Völkerbund mit der nötigen Zwangsgewalt zur Durchsetzung seiner Friedensbeschlüsse auszustatten. Hinzu kam zweitens das Fehlen eines generellen Gewaltverbots und drittens mangelnde Universalität. Der Völkerbund repräsentierte nie die ganze Völkergemeinschaft, in seiner Hochphase gerade ein Drittel aller damaligen Staaten. Deutschland wurde erst 1926 Mitglied und die Sowjetunion 1934 – als Japan, Nazi-Deutschland und kurz darauf Italien bereits wieder ausgetreten waren. Dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs musste man in Genf daraufhin teilnahmslos zusehen.
III. Besser als erwartet: Gründung und Entwicklung der UN „Der Völkerbund ist tot, es lebe die UNO“ lautete der Nachruf des britischen Diplomaten Lord Cecil bei der Selbstauflösung des Völkerbundes 1946.4 Wiederum war es keine europäische, sondern eine amerikanische Initiative, und erneut bedurfte es amerikanischer Kriegsbeteiligung vor der Gründung einer Friedens3 Zitiert nach G. Unser, Die UNO: Aufgaben, Strukturen, Politik, 7. Aufl., München 2004, 7. 4 Vgl. M. Ferro, Der Völkerbund ist tot, es lebe die UNO. Le Monde diplomatique vom 11. April 2003.
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organisation. Eine Wiederbelebung des Völkerbundes kam für Präsident Roosevelt nie in Frage. Vielmehr ging es ihm darum, der Weltgemeinschaft ein Instrument an die Hand zu geben, das sowohl legitimiert als auch handlungsfähig sein würde. Der „English Speaking World“ sollte eine zentrale Rolle zukommen, bis nach Verabschiedung der Atlantik-Charta im Sommer 1941 deutlich wurde, dass eine neue Friedensordnung nur unter Einbeziehung der Sowjetunion und weiterer Verbündeter möglich sein würde. Am 1. Januar 1942 wurde die „Erklärung der Vereinten Nationen“ von 23 Unterzeichnerstaaten verkündet. Bis die UN allerdings ins Leben gerufen wurde, bedurfte es weiterer Konsultationen und der furchtbaren Erfahrung des Zweiten Weltkrieges. Roosevelt selbst erlebte die Gründungkonferenz der UN nicht mehr. Sein Nachfolger Truman galt als Anhänger Wilsons mit Sympathie für dessen Ziele. Seiner politischen Führung war es zu verdanken, dass die Charta – bei allem Dissens, der auf der Gründungskonferenz noch zu bewältigen war – am 26. Juni 1945 von 51 Gründungsstaaten unterschrieben und im amerikanischen Senat mit nur zwei Gegenstimmen schon zwei Tage später ratifiziert werden konnte. Im Ergebnis wurde in San Francisco ein von allen beteiligten Staaten getragenes Dokument verabschiedet, das mit der Hinterlegung der nötigen Ratifikation am 24. Oktober 1945 in Kraft getreten ist. „We the peoples [...]“ – die Charta beginnt wie die amerikanische Verfassung, umfasst eine fest privilegierte Rolle der Vetomächte und das Prinzip souveräner Gleichheit gleichermaßen, was gekoppelt die Voraussetzung jener universalen Legitimität und gesteigerten Handlungsfähigkeit ist, die der Völkerbund nie hatte. Die praktische Relevanz der UN ist gleichwohl immer wieder in Frage gestellt worden. Im Unterschied zum Völkerbund erwies sie sich dabei allerdings – wenn schon nicht als zentraler Akteur, so doch zumindest – als Plattform täglicher Kooperation bzw. als Ort friedfertiger Auseinandersetzungen.5 Zudem gelang es, Erfolge in anderen, nicht minder zentralen Menschheitsfragen zu erlangen. „Wir erhielten von den Vereinten Nationen viel mehr, als wir eigentlich erwarten durften“, lautete das Urteil des ehemaligen philippinischen Außenministers, Delegationsleiter seines Landes bei der Gründungskonferenz. Die Vereinten Nationen, so Carlos Romulo weiter, seien erstens einer der Schlüsselfaktoren bei der Verhinderung eines nuklearen dritten Weltkriegs gewesen und hätten viele Male dazu beigetragen, die Flammen eines regionalen und potentiell weltweiten Konflikts zu dämpfen. Zweitens hätten die UN den im Allgemeinen friedlichen Übergang von der Kolonialzeit zur Ära der unabhängigen Nationalstaaten zustande gebracht. Beinahe zwei Drittel der jetzigen Mitglieder seien daraus hervor5
Sprichwörtliche „Wortgefechte“ hat es in den UN vielfach gegeben. Erinnert sei beispielsweise an Nikita Krushev, der in der Generalversammlung vor lauter Ärger sogar einmal mit seinem Schuh auf den Tisch geklopft haben soll oder an den furios-ärgerlichen Auftritt des US-Botschafters Adlai Stevenson im Sicherheitsrat während der Kuba-Krise.
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gegangen. Drittens hätten die UN die Menschenrechte und Grundfreiheiten im globalen Rahmen kodifiziert; viertens Antworten auf die gemeinsamen weltumspannenden Probleme formulieren können; und fünftens sei durch die Vereinten Nationen, ob dies den wohlhabenden Industrienationen gefalle oder nicht, der Dialog zwischen Süden und Norden über Teilhabe und Fairness in der Weltwirtschaft eingeleitet worden.6 Romulos positive Sichtweise ist wohl nur aus dem spezifischen Blickwinkel eines Entwicklungslandes zu verstehen. Dennoch lässt sich daran ermessen, dass die UN im Laufe ihre Geschichte große Erfolge zu verzeichnen hatte. Wenngleich auch zahllose Schattenseiten sichtbar wurden – allem voran die Blockaden während des Kalten Krieges, große Finanzierungsprobleme in den achtziger Jahren, als die USA Beiträge zurückhielten, US-amerikanische Austritte aus zwei Sonderorganisationen (ILO; UNESCO) sowie zahlreiche Resolutionen, deren Nicht-Beachtung nie konsequent verfolgt wurde. Dazu zählen außerdem die Desaster in Ruanda und Somalia sowie in jüngster Zeit der Irakkrieg, welcher die heutige Debatte über Glaubwürdigkeit und Relevanz der Vereinten Nationen hervorgebracht und Annan dazu bewogen hatte, seinen dringenden Erneuerungswunsch an die Generalversammlung zu richten.
B. Die UN heute – Schlechter als nötig I. Neue Bedrohungen und alte Herausforderungen Die Situation, in der sich die Weltorganisation heute befindet, ist in der Tat besorgniserregend. Erstens muss man anerkennen, dass die staatlich-strukturellen Realitäten kaum mehr mit den Regelungen von 1945 übereinstimmen. Der Anstieg von 51 auf 191 Mitglieder ist in diesem Zusammenhang eines von vielen Problemen,7 die Tatsache, dass man bei einer wachsenden Zahl von UN-Mitgliedern kaum von echten Staaten sprechen kann, ein weiteres. Zweitens ist spätestens mit den Grausamkeiten auf dem Balkan deutlich geworden, dass die Weltgemeinschaft neuen Gewaltherausforderungen nicht ausreichend gewachsen sein würde. Hinzu kamen Bürgerkriege, vor allem in Afrika, internationaler Terrorismus sowie 6
Vgl. C. Romulo, Der unvollendete Entwurf zum Frieden, Vereinte Nationen (VN), 5-6 (1985), 137 f. 7 Galt beim Völkerbund also noch dessen fehlende Universalität als grundlegender Nachteil, so hat sich dies bei den Vereinten Nationen interessanterweise umgekehrt. Heute scheint die Ursache mangelnder Handlungsfähigkeit bei der Weltorganisation eher in deren Omniinklusivität zu liegen, wie diverse Reformdebatten zu Größe und Mitgliedschaft unterschiedlichster UN-Gremien zeigen.
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schließlich der 11. September 2001 – und heute zeigt sich drittens, dass auch die Einbindung einer sich bedroht fühlenden Weltmacht ohne Rivalen in ein System kollektiver Sicherheit zu einem ernsten Problem für die UN selbst geworden ist. Sichtbar wurde dies u.a. darin, dass die Vereinten Nationen sich von den USA mehrfach Vorwürfen der Irrelevanz ausgesetzt sahen. John Boltons und andere Schmähungen sind vielfach dokumentiert. Letztlich haben Uneinigkeit der Staatengemeinschaft im Vorfeld und mangelnde UN-Legitimation des Irakkriegs zu einer Aushöhlung der Idee vereinter Nationen geführt, welche Annan vor Augen hatte, als er 2003 vor der Generalversammlung eine Reform anmahnte. Ihm war bewusst, dass die unilateralen Bestrebungen der einzig verbliebenen Weltmacht früher oder später zu einer Schwächung der Vereinten Nationen insgesamt führen würden, sollten auch andere Staaten ihre sicherheitspolitischen Ziele an der UN vorbei verfolgen. Mit Blick auf Nordkorea und den Iran mag dies de facto schon eingetreten sein. Allerdings ist die Einbindung von Schurken eine alte Herausforderung von Politik, schließlich beschäftigte sich bereits Hobbes mit der Frage, wie es möglich ist, Rechtsbefolgung herzustellen und dauerhaft zu wahren. Die Frage seines Narren, wozu die Einhaltung von Verträgen eigentlich nützlich sei, wo doch Trittbrett fahren sich lohne, scheint insofern auch heute noch aktuell und auf den Zustand der UN übertragbar. Warum, so würde der Narr vermutlich heute fragen, sollte man nicht versuchen, von der Existenz der Vereinten Nationen zu profitieren, ohne sich an deren Regeln zu halten?8 Zu Hobbes’ Zeiten lautete die Beschreibung derlei free-ridings wie folgt: „Narren sagen sich insgeheim, so etwas wie Gerechtigkeit gebe es nicht und bisweilen sagen sie dies auch offen. Dabei führen sie allen Ernstes an, da jedermann für seine Erhaltung und Befriedigung selbst zu sorgen habe, könne es keinen Grund geben, weshalb nicht jedermann das tun könne, was seiner Ansicht nach dazu führe, und deshalb sei auch das Abschließen oder Nicht-Abschließen, Halten oder Nichthalten von Verträgen nicht wider die Vernunft, wenn es einem Vorteile einbringe.“9
Bekanntlich vertrat Hobbes im Leviathan die Auffassung, es sei immer vernünftig, einen aufgrund rationaler Überlegungen geschlossenen Vertrag einzuhalten, wenn gewährleistet ist, dass andere Vertragspartner dies ebenfalls tun. Dies impliziert eine mit ausreichenden Sanktionsmitteln ausgestattete Gewalt, einen Leviathan, der auf Weltebene nicht vorhanden ist. Weder ist davon auszugehen, 8
Passend dazu sprach der Historiker Kreis sogar explizit von der Art der Mitglieder der Weltgemeinschaft, „das System zum Guten wie zum Schlechten zu nutzen (,in using the machinery‘)“. Darin habe die UNO einen Fehler des Völkerbundes wiederholt. G. Kreis, Völkerbund und UNO. Polititorbis, Sonderausgabe (April 2001), 5. Zitiert aus der elektronischen Fassung (http://www.ssn.ethz.ch/themen/uno/documents/Politorbis_Kreis.pdf). 9 T. Hobbes, Leviathan (1651), hrsg. von Iring Fetscher, Frankfurt/Main 1984, 111.
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dass die USA sich den UN aus rationaler Einsicht in die Notwendigkeit multilateraler Friedenswahrung unterwerfen, noch ist die UN in der Lage, die USA zu bändigen. Dies wiederum führt zum Vertragsbruch bzw. Ausscheren aus dem kooperativen System der Vereinten Nationen auch bei anderen UN-Mitgliedern. Es sind also gerade die Folgen und das Wissen um die Einzigartigkeit der Supermacht USA, die das UN-System gegenwärtig destabilisieren. Nicht nur in der US-amerikanischen Sicherheitsdoktrin ist dieser Zusammenhang vernachlässigt, auch der finnische Völkerrechtler Martti Koskenniemi – ansonsten eher Verteidiger der Vereinten Nationen – klammerte dies Ende 2004 in einem Interview mit der ZEIT scheinbar aus: „Frage: Herr Koskenniemi, Sie schreiben nicht nur wichtige Bücher über das Völkerrecht. Sie waren auch 17 Jahre lang Berater des finnischen Außenministeriums, davon einige Jahre bei den Vereinten Nationen. Angenommen, Sie würden den wiedergewählten Präsidenten Bush beraten: Was würden Sie ihm empfehlen? Koskenniemi: Bush gegenüber würde ich nicht als extremer Legalist auftreten. Ich würde ihm sogar davon abraten, seine Politik ausschließlich an den UN auszurichten. Das Völkerrecht ist keineswegs die Bibel, und die Vereinten Nationen werden die Welt nicht retten können. Deshalb ist es manchmal leider notwendig, die UN-Charta zu brechen. Kurzum, ich würde dem mächtigsten Mann der USA sagen, er solle sich als Präsident einer Supermacht einen Handlungsspielraum bewahren. Um dann verantwortungsvoll zu handeln.“10 Kofi Annans Gegenrede wäre eindeutig gewesen. Er hätte darauf verwiesen, dass das Völkerrecht in der Tat nicht die Bibel, die UN-Charta dennoch zentrale Grundlage außenpolitischen Handelns sei, an die sich auch die USA zu halten habe – solange jedenfalls kein neuer, gemeinsam vereinbarter Normenkatalog existiert. Unter Umständen hätte er sogar auf den Irakkrieg und darauf verwiesen, dass dessen Illegalität gerade jenen Staaten und Akteuren Tür und Tor geöffnet habe, die das gegenwärtige System kollektiver Sicherheit unterlaufen. Kurzum: Der Generalsekretär hätte die Aushöhlung von UN-Prinzipien in Zeiten alleiniger Supermächte und Schurkenstaaten angemahnt. Und dies scheint gleichzeitig ein zentraler Grund dafür, warum die UN überhaupt erneuert werden müssen. Hinzu kommt mit dem im Vergleich zu 1945 veränderten Bedrohungsszenario eine weitere Erneuerungsnotwendigkeit. Der diesbezügliche Schlagwortkatalog ist lang und bekannt: Soft und hard threats, fragile Staatlichkeit, neue Kriege, weltweite Gewaltmärkte, internationaler Terrorismus, Warlords, global vernetzte Rauschgift-, Waffen- und Menschenhändler, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, HIV/Aids sowie andere Pandemien und Umweltzerstörung. Es war auch dieses 10
„Das Völkerrecht ist nicht die Bibel“, DIE ZEIT vom 9. Dezember 2004.
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Bündel an Herausforderungen, welches Annan im November 2003 dazu bewogen hatte, ein „High-Level-Panels on Threats, Challenges and Chance“ einzuberufen, welches Ende 2004 einen Bericht vorgelegte, der die Vorlage für das „Reformjahr 2005“ bieten sollte. Eine Aufgabe, die aus Sicht vieler Beobachter vor allem deshalb gelungen ist, weil zu vielen globalen Herausforderungen konkrete und ausgewogene Handlungsanweisungen abgegeben wurden; mit Ausnahme einer Sicherheitsratsreform, bei der sich die Panel-Mitglieder nicht einigen konnten.11
II. Absichtserklärungen und Denkschriften In der Rückschau reiht sich der Bericht trotzdem in eine lange Abfolge ehrgeiziger Absichtserklärungen und Denkschriften ein, welche zumeist unter der Federführung des Sekretariats bzw. des Generalsekretärs entstanden sind und von den Mitgliedsstaaten früher oder später zu einem Minimalkonsens verhandelt wurden oder gänzlich in den Archiven verschwanden. Karl Th. Paschke, ehemaliger UN-Untergeneralsekretär, ist deshalb skeptisch geworden, wenn er den Ruf nach Reformen hört. Er scheint ihm „fast so alt wie die Organisation selbst, eine wahrhaft unendliche Geschichte. [...] Keiner der inzwischen 191 Mitgliedsstaaten ist wirklich zufrieden mit der Leistung der Vereinten Nationen. Jedes Mitgliedsland hat gewiss auch seine eigenen, sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon, was die UN eigentlich sein, tun und lassen sollten. Der einzige Konsens von dem man wohl bei allen 191 ausgehen kann, ist der, dass die UN fortbestehen und, wenn möglich, besser werden sollten. Wenn aber über die Details der Verbesserung kein Konsens zu erzielen ist, [...] dann gibt es bei den Mitgliedstaaten immer eine solide Mehrheit für die Beibehaltung des status quo. Auf diese Weise lässt sich – gewiss etwas holzschnittartig – erklären, warum Reformvorschläge in den UN so wohlfeil und Reformbeschlüsse so rar sind.“12
Mit Ausnahme der Chartaänderungen zur Ausweitung der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat und im ECOSOC im Zuge der Entkolonialisierung konnten sich größere strukturelle Reformen oder visionäre Denkschriften in der Tat nie durchsetzen. Selbst die de jure Abschaffung des nutzlos gewordenen Treuhandrats oder der obsolet erklärten Feindstaatenklausel wurde mit Blick auf die hohen Hürden einer Revision der Charta stets aufgeschoben. Warum auch hätte man den Aufwand einer Zweidrittelmehrheit und das Ratifikationsprozedere betreiben sollen, wenn nicht für substantielle Erneuerungen. Boutros-Ghalis „Agenda für den Frieden“ (1992) hatte diese Substanz, blieb aber ebenso ergebnislos wie jene 1994 11 Vgl. UN-Doc A/59/565, Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung. Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel. Erschienen in BR/DGVN 89 (2004). 12 K. Th. Paschke, UN-Reform – Die unendliche Geschichte. VN 5 (2005), 170.
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eingerichtete „Open-ended Working Group on the Question of Equitable Representation on and Increase in the Membership of the Security Council and Other Matters Related to the Security Council“ oder die im selben Zeitraum eingesetzte „Unabhängige Arbeitsgruppe über die Zukunft der Vereinten Nationen“. Deren stellvertretender Vorsitzender, Richard von Weizsäcker, stellte bereits 1995 zum fünfzigsten Jubiläum viele nötige Reformschritte heraus und benannte Ursachen für die Regungslosigkeit der Weltorganisation mit Worten von fast schon drückender Aktualität: „Nach allem, was an ,UN-bashing seit den letzten Wahlen von der republikanischen Mehrheit im Kongress zu hören war [...]“ lauteten die ersten Zeilen. Wenig später schrieb der Altbundespräsident: „Über den Ausgang der Krise, in der sich die Vereinten Nationen derzeit befinden, wird primär in jenem ,führenden Land entschieden werden, das wie kein zweites, im guten wie im schlechten, die Weltorganisation in ihrer fünfzigjährigen Geschichte geprägt hat.“13
Zur Jahrtausendwende folgten weitere Reformversuche – wie der „BrahimiBericht“, mit dem die Vereinten Nationen auf Herausforderungen bei den Friedensmissionen reagierten – und schließlich der „Millenniumsgipfel“, dessen Reformsignale sehr positiv aufgenommen wurden. Wer hätte 1945 auch nur zu träumen gewagt, dass sich einmal fast alle Staats- und Regierungschefs in New York versammeln würden, um eine konkrete Entwicklungsagenda zu vereinbaren? Im Sog dieses Erfolges, verstärkt um den Erneuerungszwang nach dem Irakkrieg – den die UN weder verhindern noch legitimieren konnten – verdichtete sich der Reformdruck 2003 bis 2005, angetrieben vom „Reformmotor Annan“. Schon kurz nach seiner „Scheidewegsrede“ hatte er das High-Level-Panel einberufen, dessen Empfehlungen Annan mit seinem Bericht „In größerer Freiheit“ im März 2005 weitgehend folgte. Was aber wurde insgesamt bewirkt? Neue Vereinte Nationen, Erneuerung oder eine abermalige Wahrung des status quo? Aus deutscher Sicht brachte das letztjährige Reformjahr jedenfalls nicht das Erhoffte, obgleich der Generalversammlung im Sommer sogar drei Resolutionsentwürfe zur Sicherheitsratserweiterung vorlagen. Annan hatte die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, in dieser heiklen Frage möglichst noch vor dem „Millennium+5Weltgipfel“ zu entscheiden. Er hatte die Gefahr erkannt, dass eine Lähmung auf diesem Gebiet auch den Reformeifer bei anderen dringlichen Fragen bremsen würde. Bekanntermaßen fand der Gipfel statt, ohne dass eine Ausweitung des wichtigsten UN-Gremiums beschlossen wurde. Von vielen UN-Kennern angekündigt, hatte sich die G4-Initiative um Deutschland, Japan, Brasilien und Indien als diplomatischer Leerlauf erwiesen. Die Afrikanische Union konnte oder wollte sich nicht anschließen, und bei allen geopolitischen Rivalen wurden erwartungsgemäße 13 R. von Weizsäcker, Alles steht und fällt mit dem politischen Willen der Mitglieder, VN 5-6 (1995), 179.
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Abwehrreflexe hervorgerufen, so dass eine Abstimmung über eine Erweiterung des Sicherheitsrats alsbald aussichtslos schien. In der Folge war es nicht weiter verwunderlich, dass auf dem Septembergipfel auch in den anderen Reformfeldern die Ergebnisse eher mager ausfielen. Es kam, wie Annan es vorher befürchtet hatte: „[D]ie Versuchung ist groß, sich in Allgemeinplätze zu flüchten oder sich auf Gebiete zu begeben, in denen so tiefe Uneinigkeit besteht, dass Differenzen noch verstärkt anstatt überwunden werden.“14 So konnte sich die Staatengemeinschaft in der Gipfelerklärung beispielsweise doch nicht auf eine gemeinsame Terrorismus-Definition einigen, so dass auch künftig im Kampf gegen den internationalen Terrorismus „des einen Freiheitskämpfer, des anderen Terroristen“ bleiben wird. Die Millenniums-Entwicklungsziele wurden ohne konkrete Zusagen genannt, was mit Blick auf den enttäuschenden Zwischenstand zur Erreichung der Ziele zu wenig scheint. Fortschritte waren hingegen die Verständigung auf eine Kommission für Friedenskonsolidierung, wodurch die Weltgemeinschaft unter Umständen handlungsfähiger gemacht werden kann, in Post-Konflikt-Situationen nachhaltige Friedens- und Entwicklungsprozesse einzuleiten. Auch konnte man sich darauf verständigen, eine gemeinsame Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung jedes Mitgliedstaats vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen. Sehr problematisch war allerdings, dass im Abschlussdokument keine Aussage zur Nichtverbreitung und Abrüstung insbesondere von Nuklearwaffen sowie zum Klimaschutz gemacht und dass auch jenseits des Sicherheitsrats kein Konsens für eine Strukturreform von UN-Gremien gefunden wurde.
C. Morgen – Die Weltgemeinschaft im 21. Jahrhundert I. Fenster der Gelegenheiten schließen sich Die Urteile nach dem Gipfel waren gespalten. Während Annan auf einer Pressekonferenz seiner ersten Enttäuschung über die verpassten Gelegenheiten Ausdruck gab, um wenige Tage später die positiven Ergebnisse des Gipfels hervorzuheben, blieben viele Beobachter kritisch.15 Die russische Tageszeitung KOMMERSANT 14
UN-Doc A/59/2005, Bericht des Generalsekretärs: In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle. Erschienen in BR/DGVN 90 (2005), 59 f. 15 Vgl. u.a. K. Annan, Ich habe die Latte sehr hoch gelegt. Süddeutsche Zeitung vom 21. September 2005 sowie den Überblick über die internationalen Pressestimmen zu den
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ging besonders weit und formulierte ein fatalistisches Urteil, wie es an Deutlichkeit wohl vom Hobbes’schen Foole hätte stammen können. „Die UNO stirbt. Das ist nicht verwunderlich, da ihre Struktur die weltpolitische Situation von vor 60 Jahren widerspiegelt. Die Welt hat sich aber grundlegend verändert. Fragt sich nur, wie die Vereinten Nationen sterben werden. Variante eins: Deutschland, Japan, Indien und Brasilien werden in den Sicherheitsrat aufgenommen. In diesem Falle würde die UNO noch so lange leben, wie die vier Neulinge sich zurückhielten. Variante zwei: In den Sicherheitsrat werden auf einen Schlag viele neue Mitglieder aufgenommen, darunter Entwicklungsländer. Dann würde die Organisation sofort zerbrechen oder nur noch rituelle Funktionen haben. Schließlich wäre da noch Variante drei: Der Sicherheitsrat wird gar nicht reformiert. So verhält es sich in Krankenhäusern, wenn der Patient einer dringend notwendigen Operation nicht zustimmt. Bei der Entlassung eines solchen Patienten wissen die Ärzte, dass er sterben wird, doch sie wissen nicht wo, wann und in welcher Weise.“16
So wie der Narr wohl nicht bereit ist, sich der vernünftigen Einsicht in gemeinsame Regeln zu beugen, möchte man auch gegenüber dem unbekannten Autor des KOMMERSANT einwenden, dass die UN mehr ist als der Sicherheitsrat. Zahlreiche Programme und Sonderorganisationen bezeugen, dass die Zukunft „der UNO“ kaum nur davon abhängen wird, wie sich der Sicherheitsrat entwickelt. Trotzdem scheint Skepsis in zumindest einer Hinsicht gerechtfertigt. Immerhin wurde in den letzten Jahren oft vom „Fenster der Gelegenheit“ gesprochen, das nur für eine bestimmte Zeit offen sei – der Generalsekretär nannte es „Scheideweg“. Beobachter sahen in diesem Zeitfenster meist die verbleibende Amtszeit Annans, deren Ablauf nun auch bald das Ende der Reformphase bedeuten müsste. Je nachdem, welche Prioritäten Annans Nachfolger formuliert, wird man fragen müssen, ob die UN in den Augen der Weltöffentlichkeit künftig noch als legitim wahrgenommen werden, wenn sich das viel beschworene Fenster der Gelegenheit annährend ergebnislos schließt. Gerade die status-quo-Wahrung im Sicherheitsrat bedeutet, dass auch künftig mit Afrika und Lateinamerika ganze Weltregionen und mit Indien der bevölkerungsreichste – überdies ein nach demokratischen Prinzipen organisierter und föderativer – Staat der Welt nicht dauerhaft im Sicherheitsrat vertreten sind. Hinzu kommen andere Negativschlagzeilen wie der „Öl für Lebensmittelskandal“. Und vergessen scheint auch der gezielte Anschlag auf das UN-Hauptquartier im Irak 2003. Zurecht hat der Bonner Völkerrechtler Rudolf Dolzer das damals begrenzte Echo der Weltöffentlichkeit als einen Warnhinweis gedeutet: „Zum Bild einer kollektiv getragenen Organisation mit globaler Autorität passt ein
Gipfelergebnissen in der Presseschau des Deutschlandfunks vom 14. September 2005, 12.50 Uhr. Elektronisch archiviert unter http://www.dradio.de/presseschau. 16 KOMMERSANT vom 14. September 2005, ebd. zitiert.
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solcher Vorgang nicht.“17 Selbst wenn man also das Urteil des KOMMERSANT, wonach die UN das Schicksal ihres Vorgängers in jedem Fall teilen wird, als Übertreibung ansieht, bleibt die Befürchtung, dass die Idee einer legitimen globalen Ordnung symbolisiert in der Weltorganisation irgendwann nicht mehr vermittelt werden kann.
II. Die Aussichten Bei aller berechtigten Sorge ist jedoch gleichzeitig zur Kenntnis zu nehmen, dass die Neujustierung von Bedeutung und Aufgaben der Vereinten Nationen keine historische Einmaligkeit ist. Fragt man daher abschließend nach Entwicklungsperspektiven, spricht einiges dafür, dass den UN eine Gratwanderung bevorsteht zwischen der Einbindung von Weltmächten (die USA und künftig vermehrt China) und sonstigen Interessen in der Weltgesellschaft (z.B. Entwicklungsländern, nicht-staatliche Akteure). Gelingt deren gleichzeitige Einbindung würden die UN abermals ein Handlungsprinzip unterstreichen, das sie vom Völkerbund unterscheidet. Allerdings sind auch andere Entwicklungen möglich – wie nachfolgendes Schaubild idealtypisch zeigt.
Schaubild Vier idealtypische Entwicklungsperspektiven der UN EINBINDUNG
... von Weltmächten (d.h. der USA und China)
... der Weltgesellschaft (d.h. einer Vielzahl globaler Akteure und Interessen) Niedrig
Hoch
Niedrig
(1) Marginalisierung
(3) Forum
Hoch
(2) Instrumentalisierung
(4) Globale Friedensinstanz gemäß ChartaAuftrag
Quelle: Eigene Zusammenstellung
17 R. Dolzer, Die Vereinten Nationen im Wandel, in: B. Vogel/R. Dolzer/M. Herdegen (Hrsg.), Die Zukunft der UNO und des Völkerrechts, Freiburg/Breisgau 2004, 36.
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Eine Weiterentwicklung der UN zu einer echten globalen Friedensinstanz ist momentan denkbar unwahrscheinlich, schien allerdings während der neunziger Jahre realistisch. Damals hatte es den Anschein, als sei globale Politik nur mehr im Sinne weltweiter zivilisatorischer Modernisierung zu verstehen. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts hatten viele den Beginn einer Epoche des Friedens und des Völkerrechts erwartet, eine Ära fortlaufender Abrüstung, globaler Entwicklung und weltweiter Achtung von Menschenrechten. Jene „verhaltene Zuversicht“ – wie Lothar Brock es nannte – dauerte kurz.18 Gegenwärtig stehen die Vereinten Nationen zwischen Instrumentalisierung und Marginalisierung. Ob dies auch ihre Zukunft sein wird, ist offen. Denkbar wäre auch, dass die UN zurückfinden zu einer Existenz als Plattform täglicher Kooperation, die der Friedensforscher ErnstOtto Czempiel Mitte der achtziger Jahre einmal als Erfolgsprinzip der UN ausgemacht hat. So sei eine Welt, deren Staaten kontinuierlich in einer globalen internationalen Organisation zusammenarbeiten, eine andere Welt als die, die den Krieg aller gegen alle als Normalität erlebt habe. Die Kooperation innerhalb der Organisation, so Czempiel, verstärke den Konsens über Gewaltverzicht: dies sei der begrenzte, aber wichtige, unentbehrliche Beitrag, den die Vereinten Nationen zum Frieden leisten könnten.19 Womöglich besteht der wahre Handlungsmodus der Vereinten Nationen sogar im Hindurchmanövrieren zwischen Instrumentalisierung, Marginalisierung, Kooperation und Bedeutungssteigerung. Dafür spricht beispielsweise, dass Annans eingangs zitierte Scheidewegsmetapher keineswegs neu ist.20 Im Laufe ihrer Geschichte stand die Weltorganisation solchen Situationen mehrfach gegenüber. Richtunggebend waren dabei stets auch führungsstarke Persönlichkeiten, im Guten wie im Schlechten. „People and not just institutions matter“ ließe sich in Umkehrung eines politikwissenschaftlichen Theorems behaupten. Da die Amtszeit des „Reformmotors Annan“ nun zu Ende geht (allerdings auch Boltons Ernennung nur unwesentlich länger ist), wird sich bald zeigen, wohin die Weltorganisation steuern wird oder kann. Annans Nachfolgerwahl wird Aufschluss geben, ob eine erneute Bedeutungssteigerung der Vereinten Nationen bevorsteht. Daneben müssen neue Antworten auf die großen Herausforderungen gefunden werden, denen die Weltgemeinschaft noch immer gegenüber steht. Die Ergebnisse des jüngsten Weltgipfels werden dafür ebenso wenig ausreichen wie die vielen Kompromiss18
Vgl. L. Brock, Ein Ordnungsruf gegen Depression. Gekürzte Fassung erschienen in: Frankfurter Rundschau vom 01.03.2004. 19 Vgl. E.-O. Czempiel, Möglichkeiten und Grenzen der Internationalen Organisation, VN 5-6 (1985), 157. 20 Vgl. dazu etwa zwei Beiträge aus den Jahren 1975 und 1995 in der Zeitschrift Vereinte Nationen: R. von Wechmar, Die Vereinten Nationen am Scheideweg, VN 1 (1975), 5-10; V. Lengsfeld, Die Uno am Scheideweg, VN 5-6 (1995), 204-206.
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papiere, welche innerhalb und außerhalb der Staatenorganisation entstanden sind. Abschließend ist deshalb Wolf Dieter Narr zuzustimmen, wenn er das Nachdenken über Zukunft und Reform der Weltorganisation für noch nicht abgeschlossen hält und mehr Phantasie einfordert, denn „[w]as und wie eine Menschenrechte aller sichernde Welt ohne konkurrierende Gewaltmonopole geschichtlich realistisch zu denken ist und plural organisiert werden könnte – das ist wahrhaft ein weites Feld, das mit begrenzten Thesen nicht einmal ausgeflaggt werden kann.“21
21 W. D. Narr, Was heißt Reform der UNO? FriedensForum 4/2005, zitiert aus der elektronischen Fassung unter: http://www.friedenskooperative.de/ff/ff05/4-72.htm.
Probleme und offene Fragen der UN-Reform Von Manfred Knapp
A. Die Reform der UN – ein Dauerproblem der internationalen Staatengemeinschaft Der UN-Gipfel im September 2005 anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen endete mit einer herben Enttäuschung für diejenigen, die von der Jubiläums-Generalversammlung einen Durchbruch zu einer umfassenden Reform der UN erhofft hatten. Im Vorfeld des Ereignisses hatte Generalsekretär Kofi Annan große Erwartungen geweckt und hohe Reformziele gesteckt, diesmal sollte nun endlich die größte Generalüberholung der Weltorganisation seit ihrer Gründung im Jahr 1945 gelingen. Die hochgestimmten Hoffnungen und Erwartungen waren jedoch im Lichte der bescheidenen, um nicht zu sagen dürftigen Ergebnisse der Konferenz abermals einer großen Ernüchterung gewichen. Buchstäblich in letzter Minute vor Beginn des New Yorker Gipfeltreffens hatten sich die Unterhändler der Mitgliedstaaten nach mehrwöchigen zähen Verhandlungen auf eine Abschlusserklärung über die Zukunft der Vereinten Nationen geeinigt, die als Minimalkompromiss von den versammelten Staats- und Regierungschefs am Ende der Konferenz der Weltöffentlichkeit präsentiert wurde. Die darin enthaltenen und vorgesehenen Reformmaßnahmen waren alles andere als grundlegend und tiefgreifend. Vorgeschichte, Verlauf und Ergebnisse des Jubiläumsgipfels vom Herbst 2005 bestätigten wieder einmal, was jedem kritischen Beobachter der Weltorganisation seit langem bekannt ist: die Reform der UN ist ein schwer lösbares – immer noch ungelöstes – Dauerproblem der internationalen Staatengemeinschaft. Ein kurzer Rückblick auf die 60-jährige Entwicklungsgeschichte der Weltorganisation zeigt, dass der Ruf nach Reformen ein ständiger Begleiter der Vereinten Nationen gewesen ist.1 Immerhin ist festzustellen, dass Reformforderungen, 1
K. Dicke, Reform der UN, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl., München 1991, 663-673; ders., Reform der UN, in: H. Volger (Hrsg.), Lexikon der Vereinten Nationen (München/Wien 2000), 429-434; S. Gareis/J. Varwick, Die Vereinten Nationen, Aufgaben, Instrumente und Reformen, 3. Aufl., Opladen 2003, 285-341.
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Veränderungswünsche und Verbesserungsvorschläge in der Vergangenheit keineswegs gänzlich folgenlos geblieben sind. Die UN, das ganze weitverzweigte UNSystem hat sich in den vergangenen Jahren durchaus verändert. In der geschichtlichen Entwicklung der UN sind mehrere Reformphasen zu unterscheiden, in denen am Aufbau, im Institutionengefüge und in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen der UN Veränderungen vorgenommen worden sind. Allein schon die erhebliche Erhöhung der Zahl ihrer Mitgliedstaaten (praktisch eine Vervierfachung von ursprünglich 51 auf heute 191 Mitglieder) hat die UN zu einer gewissen Flexibilität und zu Anpassungen an die veränderten Anforderungen der Mitgliedstaaten gezwungen. So sind beispielsweise auf Druck neuer Mitglieder neue Aufgabenbereiche in den operativen Tätigkeitsfeldern erschlossen worden, zu deren Wahrnehmung es auch zur Neugründung etlicher Sub-Organisationen und Hilfswerke gekommen ist. Auch kann man den UN und ihren Bediensteten, an der Spitze ihren Generalsekretären, nicht das Bemühen absprechen, durch Umorganisation des Sekretariats und die Reorganisation anderer Institutionen das UNSystem besser auf die neuen Aufgaben und Herausforderungen einzustellen. Aufs Ganze betrachtet ist jedoch bis heute eine große Reform der Vereinten Nationen ausgeblieben. Trotz aller Vorschläge und Anregungen zahlreicher Reformkommissionen und den inzwischen durchgeführten oder eingeleiteten kleineren Reformschritten leidet die Weltorganisation weiterhin an einer hartnäckigen Insuffizienz ihres Organgefüges und an einem allseits beklagten unzureichenden Leistungsvermögen ihrer operativen Institutionen. Der organisatorische Aufbau und die Struktur ihrer Hauptorgane ebenso wie auch vieler nachgeordneter Dienststellen weisen Züge eines sklerotischen Immobilismus auf, wobei der anachronistisch zusammengesetzte Sicherheitsrat nur ein – wenn auch sehr wichtiges – Desiderat einer überfälligen Reform ist. Die Mitgliedstaaten vermochten noch nicht einmal den funktionslos gewordenen Treuhandrat aus der Charta zu eliminieren und unter den leidigen Relikten aus der Gründerzeit können die alten Feindstaatenartikel als Beispiele für die statutarische Unbeweglichkeit der Weltorganisation gelten. Gravierender ist freilich die Tatsache, dass das gesamte UN-System bisher nicht mit den zwingenden Anforderungen an eine multilaterale Weltordnungspolitik Schritt halten konnte. Auf diesem hier nur angedeuteten Problemhintergrund ist es nicht verwunderlich, dass während der letzten Jahre der Ruf nach Reformen und Erneuerung der Vereinten Nationen nochmals an Stärke zugenommen hat und fast schon zu einem wohlfeilen Ritual für die Artikulation weltpolitischer Besorgnisse geworden ist. Ironischerweise wurden pauschale Reformforderungen nicht selten besonders laut von jenen Seiten erhoben, die sich in den konkreten Verhandlungen über die praktische Durchsetzung notwendiger Veränderungen geradezu als Reformhinder-
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nisse erwiesen haben. Diese nicht gerade neue Tatsache kann man mit einem kurzen Rückblick auf die Reformdebatte der letzten zehn Jahre erhellen und daraus einige Erkenntnisse gewinnen.
B. Schlaglichter und Höhepunkte aus der jüngeren Reformdebatte (1995-2005) In den letzten zehn Jahren hatten die Debatten und Auseinandersetzungen über eine Reform der Vereinten Nationen einige Höhepunkte zu verzeichnen. So war es zu einer intensiveren Reformdiskussion im Vorfeld und im Rahmen des im Jahr 1995 begangenen 50-jährigen Gründungsjubiläums der Weltorganisation gekommen. Einen weiteren Höhepunkt der jüngeren Reformdebatte erlebten die Vereinten Nationen im Zusammenhang mit der Abhaltung des sog. MillenniumsGipfels an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Fünf Jahre später wurde sodann bei dem Gipfeltreffen aus Anlass des 60-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen die Problematik der UN-Reform erneut aufgegriffen. Eine verstärkte Reformdebatte setzte bereits zu Beginn der neunziger Jahre ein, als damals nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die UN eine zeitweilige Aufwertung erfahren hatten. Viele Beobachter pflichteten dem damaligen Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali bei, als dieser bei der Vorlage seiner vielbeachteten Denkschrift „Agenda für den Frieden“ im Juni 1992 die optimistische Ansicht vertreten hatte, dass die Staatengemeinschaft nach dem Ende des Kalten Krieges eine zweite Chance erhalten habe, die internationalen Beziehungen nach den Grundsätzen der Charta zu gestalten.2 Im Zuge der damaligen Aufbruchsstimmung stellten sich die Mitgliedstaaten auch die Aufgabe einer Sicherheitsratsreform und richteten eine im Dezember 1993 beschlossene diesbezügliche Arbeitsgruppe der Generalversammlung ein.3 Die Arbeitsgruppe legte nach jahrelangen Verhandlungen der Generalversammlung immer wieder „Fortschrittsberichte“ vor. Der daraus hervorgegangene und 1997 vorgelegte Razali-Reformvorschlag zur Erweiterung des Sicherheitsrats versuchte nach Möglichkeit allen Interessen Rechnung zu tragen. Doch regte sich 2
B. Boutros-Ghali, An Agenda for Peace 1995, With the new supplement and related UN documents, 2. Aufl., New York 1995, 69. 3 I. Winkelmann, Bringing the Security Council into a New Era, Recent Developments in the Discussion on the Reform of the Security Council, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law, Vol. 1, 1997, 35-90; ders., Effektiver Multilateralismus, in: K. Dicke/M. Fröhlich (Hrsg.), Wege multilateraler Diplomatie, Politik, Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsstrukturen im UN-System, Baden-Baden 2005, 93-112 (101).
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auch gegen dieses Reformmodell erheblicher Widerstand einiger Staaten, so dass dieser Vorschlag zunächst nicht weiterverfolgt werden konnte. Ein ähnliches Schicksal hatten auch die meisten anderen Reformvorschläge erlitten, die im Zusammenhang mit dem 50-jährigen Gründungsjubiläum von Sachverständigenkommissionen oder von einzelnen UN-Experten erarbeitet und vertreten worden waren.4 So hatten beispielsweise die im Juni 1995 von einer „Unabhängigen Arbeitsgruppe über die Zukunft der Vereinten Nationen“ (unter Vorsitz von Moeen Qureshi und Richard von Weizsäcker) vorgelegten Reformvorschläge5, die unter anderem mit der Schaffung neuer Räte die ganze institutionelle Kernstruktur der UN umzubauen anregten, bei den Mitgliedstaaten keine ausreichende Unterstützung gefunden. Sie verliefen ebenso wie einige andere Reformideen oder Reformforderungen im Sande. Es blieb bei der Jubiläumsfeier im Oktober 1995 zum 50. Jahrestag der Gründung der UN bei den sattsam bekannten, unverbindlichen Erklärungen, in denen die Mitglieder ihre Absichten zur Stärkung der Vereinten Nationen bekräftigten und im Übrigen auch die Unerlässlichkeit einer Reform und Modernisierung betonten.6 Frischer Wind war dagegen mit dem Amtsantritt des neuen Generalsekretärs Kofi Annan im Jahre 1997 aufgekommen.7 Annan machte sich von Anfang an zum Initiator und Antreiber für Reformen, wobei ihn bei seinem Engagement angespornt haben mag, dass seinem Amtsvorgänger ein unzureichendes Durchsetzungsvermögen bei den von ihm ergriffenen Reformmaßnahmen vorgeworfen worden war. Jedenfalls legte Annan bereits in seinem ersten Amtsjahr ein umfangreiches Reformpaket vor, mit dem er den gesamten Verwaltungsapparat der Hauptorganisation, im Wesentlichen das unter seiner Leitung stehende Sekretariat, umstrukturieren und in seiner Effizienz verbessern wollte.8 Die skeptischen USA freute es besonders, dass Annan auch den aufgeblähten Personalbestand um 1000 Stellen zu reduzieren versprach. Dass Annan die Durchforstung und Verbesserung der Leistungsfähigkeit der UN-Bürokratie ein ernsthaftes Anliegen war, stellte er auch später unter Beweis, insbesondere als er im September 2002 ein zweites 4
M. Knapp, 50 Jahre Vereinte Nationen: Rückblick und Ausblick im Spiegel der Jubiläumsliteratur, Zeitschrift für Politikwissenschaft 7 (1997), 423-481. 5 The United Nations in its Second Half-Century, A Report of the Independent Working Group on the Future of the United Nations (1995). 6 Dokumentation zum 50. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen, Internationale Politik (IP) 51 (1/1996), 99-130. 7 K. Annan, Die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert, Reden und Beiträge 19972003, hrsg. v. M. Fröhlich, Wiesbaden 2004, darin insbesondere der Einleitungsbeitrag des Herausgebers, 14-58. 8 K. Annan, Erneuerung der Vereinten Nationen. Ein Reformprogramm. Bericht des Generalsekretärs vom 14.07.1997 (A/51/950).
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Reformpaket vorlegte.9 Darin sollten mit insgesamt 36 Einzelmaßnahmen die Geschäftsgänge innerhalb der Organisation beschleunigt und das überbordende Berichtswesen eingeschränkt werden. Mit einer besseren Koordinierung der einzelnen UN-Programme sollten in den Einsatzländern auch die Leistungen der Weltorganisation verbessert und die Beziehungen zwischen den Institutionen der UN und der Zivilgesellschaft ausgebaut werden. Annan war sich dessen bewusst, dass sich die von ihm vorgeschlagenen und eingeleiteten Reformen im Wesentlichen nur auf die organisatorisch-institutionelle Verwaltungsstruktur der UN bezogen, die größtenteils ohne Änderung der Charta durchgeführt werden konnten. Weitergehende Reformmaßnahmen konnten dagegen nur im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten beziehungsweise mit ausdrücklicher Zustimmung der Staaten ergriffen werden. Trotz dieses Umstandes blieb Annan weiterhin die treibende Kraft hinter dem Fortgang der UN-Reformbemühungen. So wurde der Generalsekretär auch zum Spiritus Rector und zum Initiator der Feierlichkeiten zum sog. Millenniums-Gipfel der Vereinten Nationen im September 2000. Zur Vorbereitung dieses Ereignisses legte Annan bereits im April 2000 einen umfassenden Bericht über den Entwicklungsstand der Vereinten Nationen vor und beschrieb darin eingehend die Rolle und das veränderte Aufgabenspektrum der Weltorganisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts.10 Mit der Berufung der Brahimi-Kommission, deren Auftrag es war, Vorschläge zur Verbesserung der unter der Ägide der Vereinten Nationen durchgeführten multilateralen Friedenseinsätze zu erarbeiten, suchte er auch das Leistungsvermögen der UN auf diesem wichtigen Tätigkeitsfeld zu erhöhen.11 Die auf dem Millenniums-Gipfel versammelten Staats- und Regierungschefs bestätigten in ihrer Millenniums-Erklärung grundsätzlich die von Annan dargelegte Rollenbeschreibung der Vereinten Nationen und legten erneut ein Bekenntnis zur Stärkung und Erneuerung der UN ab.12 Einen wesentlichen Schritt in Richtung konkreter Reformanstrengungen unternahmen die Mitgliedstaaten der UN mit der Verkündung der sog. Millenniums-Entwicklungsziele zur Schaffung einer gerech9
K. Annan, Stärkung der Vereinten Nationen: Eine Agenda für weitere Veränderungen. Bericht des Generalsekretärs vom 23.09.2002 (A/57/387). Dazu auch FAZ, 25.09. 2002, 6. 10 K. Annan, Wir, die Völker: Die Rolle der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert. Bericht des Generalsekretärs vom 03.04.2000 (A/54/2000), Auszüge in IP 55 (12/2000), 74-92. 11 Zusammenfassung und Empfehlungen aus dem Bericht des Expertengremiums über UN-Friedenseinsätze („Brahimi-Bericht“) (A/55/305 – S/200/809), vorgestellt am 23.08. 2000, in IP 55 (12/2000), 92-105. 12 Millenniums-Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Vereinten Nationen vom 08.09.2000 (A/RES/55/2), in IP 55 (12/2000), 121-128.
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teren Welt.13 Die Staatengemeinschaft setzte sich eine Reihe von termingebundenen, überprüfbaren Zielen, wodurch insbesondere die Lage der Menschen in den armen Ländern mit Hilfe der UN spürbar verbessert werden sollte. Zu diesen insgesamt acht Zielvorgaben gehört die Beseitigung der extremen Armut und des Hungers (bis zum Jahr 2015 soll der Anteil der Menschen halbiert werden, deren Einkommen weniger als 1 Dollar pro Tag beträgt). Allen Menschen soll zumindest eine allgemeine Grundschulbildung ermöglicht und insbesondere sollen die Bildungschancen von Frauen verbessert werden. Die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren soll ebenso wie die Müttersterblichkeit erheblich gesenkt werden. Weit verbreitete Krankheiten wie HIV/AIDS und Malaria sollen wirksam bekämpft werden. Außerdem soll es zu einer Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit kommen (wobei bis 2015 der Anteil der Menschen um die Hälfte gesenkt werden soll, die keinen Zugang zu Trinkwasser und grundlegenden sanitären Einrichtungen haben). Darüber hinaus wollen die Staaten eine weltweite Entwicklungspartnerschaft aufbauen, die insbesondere den Bedürfnissen der am wenigsten entwickelten Länder Rechnung tragen soll. Schließlich sollen die Institutionen der Vereinten Nationen zur Erreichung dieser Ziele einen maßgeblichen Beitrag leisten. Ein Schlaglicht auf den Zustand der UN und die Weiterverfolgung der Millenniums-Entwicklungsziele wirft der im Juli 2002 von Generalsekretär Annan vorgelegte Zwischenbericht über die Umsetzung der Millenniums-Erklärung vom September 2000.14 Annan stellt darin fest, dass die Weltorganisation zwar schnell auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 reagiert und inzwischen Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus mit allen zu Gebote stehenden Mitteln ergriffen habe. Im Hinblick auf die Verwirklichung der Millenniums-Entwicklungsziele konnte der Generalsekretär dagegen bestenfalls nur eine gemischte Bilanz vorlegen. Die Staatengemeinschaft war von einer Realisierung der ehrgeizigen Zielvorgaben der Millenniums-Erklärung noch weit entfernt. Annan ließ sich von diesem kargen Zwischenergebnis nicht entmutigen und bereitete unverdrossen einen neuen Anlauf zur Durchsetzung einer umfassenden Reform-Agenda vor. Einen vielversprechenden Anlass für eine neue Runde zur Erneuerung der Vereinten Nationen bot das herannahende Jubiläum zum 60jährigen Bestehen der Weltorganisation im Jahre 2005. Der Generalsekretär hatte bereits 2003 eine hochrangige Expertengruppe berufen, die einen grundlegenden Bericht zum Entwicklungsstand und zur Fortentwicklung der UN ausarbeiten
13
Ebenda, 125 f. K. Annan, Umsetzung der Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen. Bericht des Generalsekretärs vom 31.07.2002 (A/57/270). 14
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sollte. Der im Dezember 2004 vorgelegte Bericht15 der „Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ mit dem Titel „Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung“ diente dem Generalsekretär als Grundlage für seinen eigenen Bericht, den er am 21. März 2005 unter dem Titel „In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“ den Mitgliedstaaten in Weiterverfolgung der Ergebnisse des Millenniums-Gipfels und zur Vorbereitung des Treffens aus Anlass des 60-jährigen Gründungsjubiläums der Weltorganisation vorlegte.16 Annan wollte mit dieser Vorlage nicht nur seiner Berichtspflicht zur Weiterverfolgung der MillenniumsEntwicklungsziele („Millennium+5“) genügen, sondern damit dezidiert auch ein umfassendes Konzept zur Reform der Vereinten Nationen vorlegen. Das von Annan vorgestellte Reform-Programm umfasst sechs Kapitel und einen Anhang, der als Entscheidungsvorlage für die Staats- und Regierungschefs auf dem Jubiläumstreffen im September 2005 gedacht war. Nachdem er im einleitenden ersten Kapitel die Mitgliedstaaten beschworen hat, die Aufgaben und Herausforderungen der Staatengemeinschaft mit neuem Elan anzugehen und die weitreichendsten Reformen in der Geschichte der Vereinten Nationen einzuleiten, kommt er im mit „Freiheit von Not“ überschriebenen zweiten Kapitel auf die vielfältigen Aufgaben der Entwicklungspolitik zu sprechen. Hier geht es ihm um die Auslösung neuer Impulse zur Weiterverfolgung der Millenniums-Entwicklungsziele. Das dritte Kapitel („Freiheit von Furcht“) befasst sich mit den sicherheitspolitischen Aufgaben der UN, wobei der Generalsekretär explizit auch auf die neuen Bedrohungen und Gefahren (u.a. Terrorismus) zu Beginn des 21. Jahrhunderts eingeht und eine „Vision“ von den neuen Dimensionen der kollektiven Sicherheit darlegt. Ein eigenes Kapitel (Kapitel vier, „Freiheit in Würde zu leben“) ist dem Komplex des weltweiten Menschenrechtsschutzes gewidmet. Im fünften Kapitel, das mit „Stärkung der Vereinten Nationen“ überschrieben ist, geht er auf Grundfragen einer Strukturreform der UN ein. In diesem Abschnitt beschäftigt er sich unter anderem mit der kontroversen Problematik einer Erweiterung des Sicher15
Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung. Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel, 02.12.2004 (A/59/565), hrsg. v. der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), Blaue Reihe Nr. 89. Dazu auch Süddeutsche Zeitung, 02.12.2004, 2. 16 K. Annan, In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle. Bericht des Generalsekretärs, 21.03.2005 (A/59/2005). Dazu auch FAZ, 22.03.2005, 1, 5. Annan stützte sich in seinem Bericht „In größerer Freiheit“ außer auf den Bericht der Hochrangigen Gruppe (Anm.15) auch auf einen weiteren Bericht einer Expertengruppe (unter der Leitung von Jeffrey D. Sachs) des Millenniums-Projekts, welche die Aufgabe hatte, einen Aktionsplan zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele auszuarbeiten; dieser Bericht wurde ihm im Januar 2005 übergeben.
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heitsrats, wobei er zwei Alternativmodelle zur Wahl stellt und die Empfehlung ausspricht, dass die Mitgliedstaaten bereits vor dem Gipfel im September 2005 „in dieser wichtigen Frage“ eine Entscheidung treffen sollten. In der Schlussbemerkung betont Annan, dass sich sein Reform-Programm auf Entscheidungen beschränke, die seiner Meinung nach im Jahr 2005 erreichbar seien. Die Reaktion der Mitgliedstaaten auf die umfassenden Reformvorschläge Annans waren unterschiedlich. Viele Regierungen, darunter auch die deutsche Bundesregierung, begrüßten grundsätzlich die Reforminitiativen des Generalsekretärs. Andere wiederum waren mit einzelnen Punkten der Reform-Agenda unzufrieden. Vor allem die Regierung der USA ließ erkennen, dass sie an Annans Reformvorlage viel auszusetzen hatte. Zu später Stunde, wenige Wochen vor Beginn des für September 2005 anberaumten Gipfeltreffens, legte die Bush-Administration ein ganzes Konvolut mit Ergänzungsvorschlägen und Änderungsforderungen vor, welche die weiteren Vorbereitungen für eine verabschiedungsreife Gipfelerklärung belasteten.17 Die Verhandlungen über eine Sicherheitsratsreform waren schon im Vorfeld des Gipfels wegen der Uneinigkeit der interessierten Staaten zum Stillstand gekommen. Das Ringen um ein gemeinsames Abschlussdokument endete schließlich mit einem verwässerten Minimalkonsens.18 Das Ergebnisdokument19 des Weltgipfels 2005 enthält folgende wesentliche Punkte:20 Entwicklung: In der Abschlusserklärung werden die Millenniums-Entwicklungsziele bekräftigt: Halbierung der extremen Armut auf der Welt bis 2015, Verbesserung der Bildungschancen für alle. Die Ausbreitung von Infektionskrankheiten (u. a. AIDS) soll gestoppt werden. Die reichen Staaten werden (wieder einmal) aufgerufen, ihre Leistungen für Entwicklungshilfe schrittweise auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen. Menschenrechtsschutz: Die umstrittene Menschenrechtskommission soll durch einen verkleinerten, ständigen Menschenrechtsrat ersetzt werden, dessen Mitglieder voraussichtlich von der Generalversammlung bestimmt werden. Friedenssicherung: Eine neue Kommission für Friedenskonsolidierung soll als zwischenstaatliches Beratungsorgan eingesetzt werden, um Staaten in der Konfliktfolgezeit bei der Konsolidierung eines dauerhaften Friedens zu unterstützen. Diese Kommission wurde sodann im Dezember 2005 von der Generalversammlung beschlossen. Schutz gegen Völker17
Vgl. B. Wagner, Verpasste Gelegenheit. Vor allem die USA haben den UN-Reformgipfel torpediert, IP 60 (10/2005), 76-83. 18 Süddeutsche Zeitung, 14.09.2005, 2; 15.09.2005, 1, 6; FAZ, 15.09.2005, 1; 16.09. 2005, 1, 16. 19 Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005, 15.09.2005 (A/60/L.1), publiziert von der DGVN, Blaue Reihe Nr. 93. 20 Süddeutsche Zeitung, 15.09.2005, 6; 19.09.2005, 7.
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mord: Es wird vereinbart, gegebenenfalls alle Maßnahmen zur Verhinderung von Völkermord und Kriegsverbrechen zu ergreifen. Terrorismus: Das Dokument verurteilt nachdrücklich den Terrorismus „in allen seinen Arten und Erscheinungsformen, gleichviel von wem, wo und zu welchem Zweck er begangen wird“. Es enthält jedoch keine Definition von Terrorismus. Nicht-Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen/Abrüstung: Das Thema wird in der Abschlusserklärung ausgespart. UN-Verwaltungsreform: Es sollen Kontrollinstanzen eingeführt sowie externe Überprüfungsverfahren erleichtert werden. Entscheidungen über größere Befugnisse des Generalsekretärs werden zurückgestellt. Die geplante Reform des Sicherheitsrats wird lediglich erwähnt; eine baldige Lösung dieses Problems ist nicht in Sicht. Im Hinblick auf die Ergebnisse des Gipfels vom September 2005 ist das Fazit zu ziehen: Trotz einiger beachtlicher Neuerungen war eine große, umfassende Reform der Vereinten Nationen wiederum nicht zustande gekommen.
C. Typologie der Reformkonzeptionen Die langwierigen Reformdiskussionen und nicht zuletzt das Scheitern der als „Reform-Gipfel“ angekündigten Jubiläumsveranstaltung im September 2005 geben Anlass, über die Reformproblematik der UN einige systematische Überlegungen anzustellen. Zunächst geht es um eine genauere Definition dessen, was als „Reform“ der Vereinten Nationen verstanden werden soll. Der Begriff „Reform“ bezieht sich auf Maßnahmen und Entwicklungen, durch welche die Weltorganisation als Gesamtheit oder Teile des UN-Systems umgestaltet, neu geordnet oder im Sinne einer gezielten Verbesserung der bestehenden Institutionen und der den Vereinten Nationen zugewiesenen Aufgabenbereiche verändert werden. Es liegt auf der Hand, dass „Reform“ ausgehend vom Gründungszustand der Weltorganisation, ein weites Spektrum unterschiedlicher Veränderungen umfasst. Für eine genauere Beschreibung und Differenzierung der Reformmaßnahmen und Reformprozesse ist es sinnvoll, zwischen „kleinen“ und „großen“ Reformen beziehungsweise einer „großen“ Reform der UN zu unterscheiden. Wichtig ist dabei die Trennlinie zwischen den zahlreichen „kleinen“ Reformen und einer grundlegenden „großen“ Reform. Von einer „großen“ Reform der Weltorganisation ist nur dann zu sprechen, wenn die Vereinten Nationen von Grund auf umgestaltet werden, so dass in den ihr gemäß Gründungsvertrag überwiesenen Aufgaben und Zielsetzungen und in der dem UN-System inhärenten Machtkonstellation (besonders in der privilegierten Stellung der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder) signifikante Ver-
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änderungen eintreten. Es ist evident, dass „große“ Reformen oder eine „große“ UN-Reform nicht ohne eine Revision der Charta vollzogen werden können. Ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Weltorganisation zeigt, dass es bisher (im Sinne der hier vorgeschlagenen Definition) noch keine große UN-Reform gegeben hat. Wohl aber wurden während des 60-jährigen Bestehens der UN zahlreiche, durchaus wichtige kleinere Reformen vorgenommen, wodurch die in den Vereinten Nationen kooperierende Staatengemeinschaft die Weltorganisation an die im Laufe der Zeit veränderten Aufgabenstellungen und an neue Herausforderungen anzupassen suchte. Unter den hier sog. kleineren Reformen sind zwei Typen oder Kategorien zu unterscheiden, zwischen denen offensichtlich Zusammenhänge bestehen. Der erste Typus der Reformen umfasst alle administrativ-institutionellen Umorganisationen im Aufbau der Vereinten Nationen. Der zweite Typus bezieht sich auf die zum Teil beträchtlichen Veränderungen in den Aufgabenbereichen und Handlungsfeldern der Weltorganisation. Beispiele für den ersten Typus der „kleinen“ Reformen sind die von Generalsekretär Annan seit 1997 ergriffenen Reorganisationsmaßnahmen im UN-Sekretariat (etwa die Einführung einer kabinettsähnlichen Leitungsstruktur in der Spitze der UN-Verwaltung) oder die von der Generalversammlung Ende 1997 beschlossene Schaffung des Postens eines Stellvertretenden Generalsekretärs,21 eines Amtes, mit dem Anfang 1998 die kanadische Diplomatin Louise Fréchette betraut wurde. Bereits im Jahr 1994 wurde das Amt für das Interne Aufsichtswesen geschaffen, für das (bis Ende 1999) der deutsche Diplomat Karl Theodor Paschke im Range eines UN-Untergeneralsekretärs bestellt wurde. Die bisher innerhalb der Hauptorgane durchgeführten Veränderungen verblieben allesamt im Bereich der „kleinen“ Reformen. Das gilt für die überladene Geschäftsordnung der Generalversammlung ebenso wie für die obsolete Zusammensetzung des Sicherheitsrats, auch kann der überkommene Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) unter Reformgesichtspunkten nur als Reform-Wüste bezeichnet werden. Mehr oder weniger große Neuerungen sind dagegen in der Entwicklungsgeschichte der Vereinten Nationen auf allen Haupttätigkeitsfeldern eingetreten, also in der Friedenssicherung, im Wirtschafts- und Sozialbereich einschließlich der Entwicklungszusammenarbeit, im Menschenrechtsschutz und im Umweltschutz. Einige illustrative Beispiele belegen auf diesen Aktionsfeldern die allgemeine Reformfähigkeit der UN, wenngleich diese Innovationen entsprechend der hier zu Grunde gelegten Definition in die Kategorie der „kleinen“ Reformen fallen.
21
GV-Res. 52/12 B vom 19.12.1997.
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Markantestes Reformbeispiel auf dem Felde der Friedenssicherung ist seit 1956 die „Erfindung“ des Instrumentes des Peacekeeping (Friedenserhaltende Maßnahmen). Trotz aller Rückschläge und Fehlentwicklungen beim Einsatz dieses Instruments hat es die Staatengemeinschaft vermocht, durch die Weiterentwicklung, Modifikation und Ausweitung des ursprünglichen Peacekeeping unter der Ägide der UN ein nützliches Instrumentarium bereitzuhalten, mit dem in Konfliktsituationen dem Friedenssicherungsauftrag gedient werden kann. Die positive Aufnahme, welche die Reformvorschläge der Brahimi-Kommission zur Verbesserung der UN-Friedenseinsätze gefunden haben, zeigt, dass auf diesem wichtigen Aktionsfeld künftig noch ein großes Innovationspotenzial vorhanden zu sein scheint.22 Ein weiteres Beispiel für die prinzipielle Reformfähigkeit der UN zeigte sich auch darin, dass der Sicherheitsrat nach dem zweiten Irak-Krieg mit der Verabschiedung der Resolution 688 am 5. April 1991 Neuland zu betreten entschlossen war, indem er in Situationen gravierender akuter Menschenrechtsverletzungen den Grundsatz der Staatensouveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates (Art. 2,7) zugunsten einer Intervention der Staatengemeinschaft relativierte.23 Im Wirtschafts- und Sozialbereich suchten die UN in der Vergangenheit den vor allem von den Entwicklungsländern verfolgten Anliegen und Forderungen zur Besserung ihrer Situation durch eine Reihe institutioneller Neugründungen zu entsprechen. Einrichtungen wie die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD, 1964), das United Nations Development Programme (UNDP, 1965) oder die United Nations Industrial Development Organization (UNIDO, 1966, 1985/86) verdanken diesem Bestreben ihre Entstehung. Darüber hinaus konnten die Entwicklungsländer ihre unerfüllten Bedürfnisse wenigstens mit der deklarativen Verabschiedung der Agenda für Entwicklung (1967) auf der Tagesordnung der Weltorganisation halten.24 Wenngleich sich die Bestrebungen der Länder der armen Welt in der Reformagenda der UN nur mühsam Gehör verschaffen konnten, so zeigte doch die Verabschiedung der sogenannten Millenniums-Entwicklungsziele im September 2000, dass die Vereinten Nationen
22 W. Kühne, UN-Friedenseinsätze verbessern – Die Empfehlungen der BrahimiKommission, in: S. v. Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO. Die Vereinten Nationen im Lichte globaler Herausforderungen, Heidelberg 2003, 715-731. 23 M. Pape, Humanitäre Intervention. Zur Bedeutung der Menschenrechte in den Vereinten Nationen, Baden-Baden 1997. 24 United Nations, Department of Public Information (ed.), Agenda for Development, New York 1997. Hierzu auch J. Martens, Kompendium der Gemeinplätze. Die „Agenda für die Entwicklung“: Chronologie eines gescheiterten Verhandlungsprozesses, Vereinte Nationen (VN) 46 (2/1998), 47-52.
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die Milderung der Not und die Verringerung des Massen-Elends in der Welt nicht gänzlich in ihren Reformprogrammen ausgeklammert haben. Überaus beachtliche Reformfortschritte erzielten die Vereinten Nationen in den vergangenen Jahren im Bereich der Normierung und Durchsetzung der Menschenrechte. Die Einrichtung des Amtes eines Hochkommissars für Menschenrechte durch die Generalversammlung im Dezember 1993 verdient hier ebenso Erwähnung wie das im Jahre 1993 vom Sicherheitsrat eingesetzte Ad-hoc-Straftribunal (mit Sitz in Den Haag) zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die für schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien verantwortlich gemacht werden; im Jahre 1994 schuf er ein Straftribunal (mit Sitz in Arusha/Tansania), um Verbrechen im Zusammenhang mit dem 1994 in Ruanda verübten Völkermord ahnden zu können. Die langjährigen Bestrebungen zur Schaffung einer permanenten internationalen Strafgerichtsbarkeit zur Verfolgung schwerer Verbrechen und schwerster Menschenrechtsverletzungen erzielten einen Durchbruch im Juli 1998, als Vertreter von 120 Staaten in Rom das Statut für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) verabschiedeten. Mit dem Inkrafttreten des Statuts am 1. Juli 2002 wurde erstmals die Möglichkeit geschaffen, schwerwiegende Verbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, später gegebenenfalls auch Verbrechen der Aggression) durch ein internationales Strafgericht zu verfolgen.25 Wenngleich der Strafgerichtshof durch einen separaten internationalen Vertrag geschaffen wurde, so belegt seine Einrichtung doch den fortbestehenden Reformimpetus zur Verbesserung des internationalen Menschenrechtsschutzes im Rahmen der Vereinten Nationen. Auch die geplante Ersetzung der diskreditierten Menschenrechtskommission durch einen neuen, verkleinerten Menschenrechtsrat demonstriert die partielle Erneuerungsfähigkeit des UN-Systems. Eine Reformbereitschaft durch die Aufnahme neuer Aufgabenbereiche zeigte sich auch in den in letzter Zeit im UN-Rahmen verstärkten Aktivitäten zur Beförderung einer globalen Umweltschutzpolitik. Bereits 1972 ist UNEP, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, ins Leben gerufen worden. Von der im Juni 1992 in Rio de Janeiro von den Vereinten Nationen veranstalteten Weltkonferenz über Umwelt und Entwicklung sind seitdem fortwirkende, wenn auch immer noch unzureichende Impulse (z.B. Verabschiedung des Kyoto-Protokolls im Dezember 1997) für die inzwischen gewachsene Einsicht ausgegangen, dass Maßnahmen zum weltweiten Umweltschutz und zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundla25
B. Fassbender, Der Internationale Strafgerichtshof: Auf dem Weg zu einem „Weltinnenrecht“?, Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 27-28/2002, 08.07.2002, 32-38.
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gen der Menschheit zu den unabweisbaren Aufgaben einer modernisierten Weltorganisation zu rechnen sind. Der kursorische Rückblick auf das Reformgeschehen innerhalb der Vereinten Nationen weist auf die Tatsache hin, dass sich die Weltorganisation in den sechs Jahrzehnten ihres Bestehens mit zahlreichen – kleineren – Reformen durchaus fortentwickelt und verändert hat. Eine tiefgreifende, umfassende Reform konnte dagegen bis heute nicht herbeigeführt werden. Gründe für die offensichtlich bestehende Resistenz gegenüber einer „großen“ Reform sind gravierende Reformhindernisse, die nur schwer, wenn überhaupt, von der internationalen Staatengemeinschaft zu überwinden sind. Sie sollen im nächsten Abschnitt kurz beleuchtet werden.
D. Gravierende Reformhindernisse Dass die Vereinten Nationen bisher noch nicht einer tiefgreifenden, „großen“ Reform unterzogen werden konnten, ist auf eine Reihe schwerwiegender Gründe zurückzuführen. In erster Näherung können drei verschiedene Kategorien gravierender Reformhindernisse angeführt werden. An erster Stelle ist das statutarische Beharrungsvermögen der Charta zu nennen, das eine grundlegende Veränderung der Weltorganisation zumindest erschwert. Die (wichtigere) zweite Kategorie der Reformhindernisse liegt in den unterschiedlichen, schwer überbrückbaren Reformvorstellungen und Interessenlagen einflussreicher UN-Mitglieder. Die dritte Kategorie bedeutender Reformhindernisse bezieht sich auf die strukturelle Diskrepanz zwischen der Aufgabenfülle und dem politischen Regelungsbedarf der Staaten- und Gesellschaftswelt und dem Leistungsvermögen einer universellen internationalen Organisation. In der Vergangenheit stieß die Reformdiskussion immer wieder an die großen Hürden, die das Gründungsdokument der Weltorganisation jeder weitergehenden UN-Reform entgegenstellt. Zwar sind in der Charta Änderungen (Art. 108 und 109) vorgesehen, doch können diese nur in Kraft treten, wenn sie mit Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalversammlung angenommen und von zwei Dritteln der Mitglieder der Vereinten Nationen einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats ratifiziert worden sind. Nach den geltenden Bestimmungen der Charta kann also jedes der ständigen, vetoberechtigten Sicherheitsratsmitglieder eine Revision der Charta verhindern, zu der im Übrigen eine hohe Stimmenmehrheit von (derzeit) 128 Staaten erforderlich ist. Auch wenn man das Konsensverfahren nicht um jeden Preis beibehalten muss, ist angesichts des
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hohen Quorums eine Charta-Revision ohne Zustimmung der unterschiedlichen Staatengruppen schwer vorstellbar. Die größten Hindernisse für eine „große“ UN-Reform liegen jedoch eindeutig bei den Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Vorstellungen und divergierende Interessen in den wesentlichen Fragen über die vorrangigen Aufgabenstellungen, die institutionell-organisatorische Gestalt und die Rolle, welche die Vereinten Nationen als Instrument, Forum und Akteur in den internationalen Beziehungen spielen sollen. Die offensichtlich uneinheitlichen, auseinander strebenden Interessenschwerpunkte und Prioritätsziele der Staaten können von keinem noch so starken Generalsekretär zu einem einheitlichen Reformkonzept zusammengeschweißt werden. Ausgangspunkt für eine kurze Betrachtung dieser von den Mitgliedstaaten abhängigen Hinderniskategorie ist die einzigartige Stellung, welche die USA als mächtigster Mitgliedstaat in den UN einnehmen. Die USA beteiligten sich schon seit Beginn an den Diskussionen und Auseinandersetzungen über eine zeitgemäße Reform der Vereinten Nationen. Mehrfach war Washington, US-Regierung und Kongress, als schärfster Kritiker tatsächlicher oder vermeintlicher Missstände der Weltorganisation hervorgetreten. Mehrere Male bis in die jüngste Zeit suchten die USA durch Zurückhaltung ihrer Pflichtbeiträge Veränderungen im Verwaltungsapparat der UN und in einzelnen operativen Programmen (satzungswidrig) zu erzwingen. Im Vorfeld des Jubiläumsgipfels zum 60-jährigen Bestehen hatte die US-Vertretung bei den Vereinten Nationen die UN-Dienststellen und die Vorbereitungsgremien für den Gipfel mit Reformforderungen geradezu bombardiert,26 wobei insbesondere der seit Anfang August 2005 amtierende neue US-Botschafter, John R. Bolton, mit forschem Auftreten die amerikanischen Änderungswünsche durchzusetzen trachtete.27 Wieder einmal wurde deutlich, dass die USA tatsächlich für eine reformierte Weltorganisation eintreten, allerdings vertraten sie dabei höchst eigene Reformkonzeptionen und Prioritäten. Die Änderung der Zusammensetzung des Sicherheitsrats stand dabei gewiss nicht auf ihrer Prioritätenliste. Aber auch mit einigen ihrer anderen Programmpunkte fanden die USA nicht die Zustimmung anderer Mitgliedstaaten. Die notorische Weigerung Washingtons, sich im Sinne der Entwicklungsländer auf konkrete Entwicklungshilfeleistungen 26
Vgl. z.B. das Statement by Ambassador Anne W. Patterson, Deputy U.S. Permanent Representative to the United Nations, on United Nations Reform, August 2, 2005, gerichtet an den Präsidenten der 59. Generalversammlung (www.usunnewyork.usmission.gov/05 print _147.htm). 27 Vgl. z.B. den Brief von Botschafter John R. Bolton vom 26.08.2005 an seine Kollegen betr. „Millennium Development Goals“.
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festlegen zu lassen und dafür UN-Einrichtungen als Verteilungsagenturen zu nutzen, war ein kontroverser Punkt, der sie in einen eklatanten Gegensatz zu dieser zahlenmäßig starken Staatengruppe brachte. Das schroffe Auftreten gegenüber den Forderungen und Erwartungen der Entwicklungsländer in den UN ist freilich kein Novum der Außenpolitik des Präsidenten George W. Bush. Auch unter seinem Amtsvorgänger war die Haltung der USA zu den Vereinten Nationen trotz der anfänglichen Beteuerungen eines „assertive multilateralism“ (Madeleine K. Albright) durch Distanzierung, gelegentliche Brüskierung und in kritischen Situationen durch selbstherrlichen Unilateralismus gekennzeichnet.28 Die UN-Politik der USA lässt schon seit vielen Jahren den Schluss zu, dass Washington den Vereinten Nationen nur eine Rolle als weltpolitisches Hilfsinstrument einzuräumen gewillt ist, das die außenpolitische Handlungsfreiheit der einzigen Supermacht keinesfalls einschränken darf. Eine Unterordnung unter die Maßgaben einer UN-basierten kollektiven Sicherheit kommt für Washington jedenfalls nicht in Betracht. Auch wenn einige andere einflussreiche UN-Mitgliedstaaten der Rolle der Vereinten Nationen keine so engen Grenzen setzen wollen, reicht deren Einfluss bei weitem nicht aus, um eine tiefgreifende UN-Reform herbeizuführen. Auch diese Staaten verfolgen in den UN ihre eigenen Interessen und können sich schon deshalb nicht auf ein gemeinsames, tragfähiges Reformkonzept einigen. Dies zeigte sich beispielsweise bei den jüngsten Vorstößen zur Reform des Sicherheitsrats, als einige EU-Staaten, darunter Deutschland, unterschiedlichen ReformGruppen angehörten und sich dabei gegenseitig behinderten. Da verwundert es nicht, wenn inzwischen Japan aus der einstigen Gruppe der G-4 wieder ausgeschert ist und nun im Windschatten der USA seine eigenen Wege geht.29 Die unterschiedlichen Interessen einflussreicher UN-Mitgliedstaaten und die mühsam zusammengeführten Wunschvorstellungen einzelner innerhalb der Weltorganisation agierender Staatengruppen haben bisher verhindert, dass ein hinreichend großer Reformimpetus innerhalb der heterogenen UN-Mitgliedschaft zu Stande gekommen ist, um eine „große“ Reform der Vereinten Nationen zu erreichen. Auch die hier nur kurz erwähnte dritte Kategorie von Reformhindernissen trug dazu bei, dass trotz aller beschwörender Appelle und Absichtserklärungen die „große“ UN-Reform bisher noch nicht verwirklicht werden konnte. Die Forderungen nach einer „großen“ Reform werden immer mit der stillschweigenden Erwar28
M. Knapp, Die Macht der USA und die Moral der Staatengemeinschaft: Zur UNPolitik der Clinton-Administration, in: M. Berg u. a. (Hrsg.), Macht und Moral. Beiträge zur Ideologie und Praxis amerikanischer Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Festschrift für Knud Krakau zu seinem 65. Geburtstag, Münster 1999, 295-318. 29 Süddeutsche Zeitung, 07./08.01.2006, 1, 6.
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tung vertreten, dass eine grundlegend reformierte UN wesentlich besser als die alte Organisation die Fülle der Aufgaben bewältigen könne, die ihr von der Staatengemeinschaft gestellt werden. Da jedoch die Staaten- und Gesellschaftswelt zu Beginn des 21. Jahrhunderts zahllose Aufgaben zu lösen und Herausforderungen auf allen denkbaren Politikfeldern zu bestehen hat, ist es auch schon vom theoretischen Standpunkt aus schwer vorstellbar, wie eine ganzheitlich reformierte, modernisierte Organisation dieser überwältigenden Aufgabenfülle besser als die graduell verbesserte alte Organisation Herr werden soll.
E. Die prinzipielle Offenheit der UN-Reformen Die bisherigen Beobachtungen und Überlegungen führten zu dem Ergebnis, dass die Problematik einer Reform der Weltorganisation eine Reihe offener Fragen aufwirft, auf die keine definitiven Antworten gegeben werden können. UN-Reformen sind langwierige, prinzipiell ergebnisoffene Prozesse. Die UN-Reform ist, wie dies ein sachkundiger Insider der Vereinten Nationen zutreffend nannte, eine „unendliche Geschichte“.30 Bezeichnenderweise wurde in den bisherigen Reformdiskussionen immer wieder eine tiefgreifende Reform des gesamten UN-Systems, eine umfassende Reform an Haupt und Gliedern gefordert. Allerdings wurde in diesen Forderungen selten einmal genauer ausgeführt, wie eine runderneuerte Weltorganisation „aus einem Guss“ tatsächlich aussehen sollte. Die Bemühungen um eine Erneuerung und Anpassung der Vereinten Nationen an die veränderte Weltlage haben bis heute zu einer Vielzahl durchaus bedeutender Veränderungen im organisatorischen Aufbau und auch in den operativen Arbeitsfeldern der UN geführt, die man im Sinne der hier vorgeschlagenen Unterscheidung jedoch allesamt zu den „kleineren“ Reformen rechnen muss. Eine „große“ Reform im Sinne eines grundlegenden Umbaus der Weltorganisation ist zwar theoretisch denkbar, praktisch jedoch wegen entgegenstehender und fortbestehender Reformhindernisse wenig wahrscheinlich. Wenn dieser Befund richtig ist, so heißt dies für die weiteren Reformbemühungen ständige Weiterarbeit an der Einführung schrittweiser Veränderungen, um die Vereinten Nationen trotz aller notorischer Schwächen und Unzulänglichkeiten weiterhin als eine unverzichtbare Dienstleistungsagentur der internationalen Staatengemeinschaft nutzen zu können. Um noch einmal den früheren hochrangigen UN-Bediensteten zu zitieren: „Wer immer nur von den Reformdefiziten redet, 30
K. T. Paschke, UN-Reform – die unendliche Geschichte, VN 53 (5/2005), 170-173.
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wird den UN nicht gerecht, denn auch ohne spektakuläre Reform erbringen die UN heute Arbeitsergebnisse, ohne die es auf der Welt sehr viel schlimmer aussähe.“31
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Ebenda, 173.
Chancen für die Umsetzung der Reformvorschläge des UN-Generalsekretärs Von Sabine von Schorlemer
A. Grundlagen Generalsekretär Kofi Annan hat sich wie bislang kaum einer seiner Vorgänger um eine grundlegende Reform der Vereinten Nationen bemüht und eigene Vorschläge zur künftigen Gestaltung der Weltorganisation eingebracht. Dieses besondere Engagement des Generalsekretärs soll im Folgenden anhand der Fragestellung gewürdigt werden, welche Umsetzungschancen seine Reformvorschläge haben.
I. Einführung Seit der Vorlage der persönlichen Reformvorschläge von Generalsekretär Kofi Annan in seinem Bericht „In Larger Freedom“ am 21. März 2005,1 die ihrerseits auf mehreren vorangegangenen Reformberichten von Experten basierten – u.a. auf dem weithin beachteten Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel2 und in geringerem Maße auf dem sog. „CardosoBericht“3 – hegten viele Menschen die Hoffnung, dass die Vereinten Nationen für die Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben Sicherheit, Menschenrechte, Umwelt und Entwicklung grundlegend gestärkt würden. 1
Bericht des Generalsekretärs, In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle, UN Doc. A/59/2005, 21. März 2005; näher Jens Martens, In größerer Freiheit. Der Bericht des UN-Generalsekretärs zum Millennium+5Gipfel 2005, FES Briefing Paper April 2005. 2 Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel, UN Doc. A/59/565, 2. Dez. 2004. 3 Report of the Panel of Eminent Persons on United Nations-Civil Society Relations: We the Peoples: Civil Society, the United Nations and Global Governance, UN Doc. A/58/817, 11. Juni 2004.
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Nicht annähernd alle Reformziele konnten jedoch erreicht werden, wie der Weltgipfel vom 14.-16. September 2005 in New York zeigte. Dieses ernüchternde vorläufige Ergebnis zeichnete sich bereits mit der Vorlage des rund 35-seitigen Kompromisspapiers, des sog. Draft Outcome Document vom 13. September 2005 ab, das den rund 175 Staats- und Regierungschefs auf dem großen Gipfeltreffen der Vereinten Nationen als Entwurf für ihre Abschlusserklärung diente. Das Draft Outcome Document hatte den erwähnten Reformbericht von Generalsekretär Kofi Annan vom März 2001 und den darauf aufbauenden Entwurf des Präsidenten der Generalversammlung, Jean Ping, vom 5. August 2005 überarbeitet und inhaltlich stark abgeschwächt.4 So fehlte im Entwurf für die Gipfelkonferenz eine Definition von Terrorismus ebenso wie der Vorschlag zur Reform der umstrittenen UN-Menschenrechtskommission. Der Grundsatz der Nichtverbreitung von Atomwaffen wurde nicht erwähnt, und auch im Bereich der Entwicklungspolitik gab es nicht die erhoffte, auf Verbindlichkeit zielende Selbstverpflichtung der Regierungen, ausreichend Ressourcen für die Verwirklichung der UN-Millenniums-Entwicklungsziele bereit zu stellen. Erwähnt wurde lediglich der „Wunsch vieler entwickelter Staaten“, 0,7 % ihres Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe zu erübrigen.
II. Das Ergebnisdokument des Weltgipfels, September 2005: Überblick Nur in einem großen Kraftakt gelang es, dem Schlussdokument des Gipfels (World Summit Outcome Document (WSOD)) erneut klarere Konturen zu verleihen und sich den ursprünglichen Vorschlägen Kofi Annans wieder anzunähern.5 Einige wichtige Entscheidungen konnten getroffen werden, etwa in Hinblick auf die Einrichtung einer Kommission für Friedenskonsolidierung (Ziff. 97-105), die grundlegende Stärkung des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (Ziff. 124) und des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) (Ziff. 155). Daneben wurden die Schaffung eines UN-Menschenrechtsrates in Ablösung der UN-Menschenrechtskommission (Ziff. 157 ff.)) sowie die überfällige Beseitigung der sog. „Feindstaatenklauseln“ in der UN-Charta (Ziff. 177) vorgenommen. Hinsichtlich des notwendigen Eingreifens der Weltgemeinschaft in Situationen 4
Revised Draft Outcome Document of the High-level Plenary Meeting of the General Assembly of September 2005 submitted by the President of the General Assembly, UN Doc. A/59/HLPM/CRP.1/Rev.2, 5. Aug. 2005. 5 DGVN, Blaue Reihe Nr. 93, Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005, UN Doc. A/60/L.1, 15. Sept. 2005.
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schwerster Menschenrechtsverletzungen und ethnischer Säuberungen wurde zwar der Wille bestätigt, „rechtzeitig und entschieden“ kollektiv Maßnahmen im Rahmen des Sicherheitsrates zu ergreifen, doch wurden bezüglich der Modalitäten der humanitären Interventionen, insbesondere im Falle einer Blockade des Sicherheitsrates, keine zukunftsweisenden Aussagen getroffen.6 Andere wichtige Ziele, wie die Reform des UN-Sicherheitsrates, Fortschritte bei der Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen oder auch die Schaffung alternativer Finanzierungsinstrumente zur fristgerechten Umsetzung der UNMillenniums-Entwicklungsziele konnten (vorerst) nicht erreicht werden. War Kofi Annans Beschlussvorlage „In Larger Freedom“ für den Reformgipfel noch als „Meisterwerk“ gepriesen worden,7 so wurde das Ergebnisdokument des UN-Reformgipfels vom September 2005 von zahlreichen Kommentatoren als Zeugnis verpasster Chancen wahrgenommen.8 Für den Generalsekretär persönlich enttäuschend war zweifelsohne, dass es ihm nicht gelang, die von ihm angestrebte Stärkung der Exekutivgewalt, angesiedelt im Sekretariat der Vereinten Nationen, zu erreichen. Der Erhalt größerer Befugnisse innerhalb der UN-Bürokratie, etwa in Personalfragen, wurde ihm versagt. Im Ergebnis wurde er lediglich aufgefordert, der Generalversammlung Vorschläge vorzulegen, „on the conditions and measures necessary for him to carry out his managerial responsibilities“9 sowie Vorschläge „for implementing management reforms“.10 Dennoch ist der Reformgipfel, so lautet die These der Verfasserin des vorliegenden Beitrags, ein wichtiger Schritt zur graduellen Stärkung der Vereinten Nationen – gewissermaßen ein Mosaikstein im Gefüge eines langfristig angelegten und sich seit Jahrzehnten in Teilschritten vollziehenden Reformprozesses der Vereinten Nationen. Bereits in der Vergangenheit hat sich die Weltorganisation mehrfach erfolgreich Teil-Reformprozessen, vielfach informeller Natur, unterworfen. Immer wieder gelang es in Zeiten des Umbruchs, die Struktur der Vereinten Nationen an neue Herausforderungen anzupassen, sei es im Zuge des Entkolonialisierungsprozesses, der Beendigung des Kalten Krieges oder anderer Großereignisse, wie etwa des 11. Septembers 2001. Nicht große, Chartaänderungen erfordernde Reformentwürfe, sondern inkrementelle Reformschritte, vielfach in Gestalt von de facto-Revisionen, so wird im 6
UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 139. Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung 04 (April 2005). 8 Vgl. nur WEED-Stellungnahme zum UN-Millennium+5-Gipfel, 14.-16. September 2005 in New York, „Diese Reform ist keine Reform“. 9 UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 162. 10 UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 163. 7
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Folgenden argumentiert werden, sind prägend für die Gestalt der Vereinten Nationen. Dies gilt umso mehr, als es, wie im folgenden Abschnitt dargelegt wird, eine Reihe von strukturellen Gründen gibt, welche die Chancen für eine grundlegende Neustrukturierung der Weltorganisation auf dem Wege einer förmlichen Chartaänderung gering erscheinen lassen.
III. Grenzen der Neustrukturierung des UN-Systems Art. 108 UN-Charta sieht vor, dass Änderungen der Charta in Kraft treten, „wenn sie mit Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalversammlung angenommen und von zwei Dritteln der Mitglieder der Vereinten Nationen einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts ratifiziert worden sind.“ Sobald alle erforderlichen Ratifikationsurkunden hinterlegt sind, bindet die Chartaänderung nicht nur die Mitglieder, die ratifiziert haben, sondern auch die, die dies nicht tun. Der Wortlaut von Art. 108 setzt die Existenz einer Zweidrittelmehrheit voraus, spezifiziert aber nicht, ob dafür – wie in Art. 18 Abs. 2 UN-Charta – auch die Mehrheit der „anwesenden und abstimmenden Mitglieder“ ausreicht oder ob die tatsächliche Mitgliederzahl maßgeblich sein soll. Ausgehend von dem Umstand, dass eine Abänderung der UN-Charta ein Höchstmaß an Legitimation verdient, ist im Ergebnis wohl der herrschenden Meinung zuzustimmen, die in Abweichung von Art. 18 Abs. 2 UNCharta auf das strengere Erfordernis der tatsächlichen Mitgliederzahl abstellt (derzeit 148, Stand 1.1.2006). Selbst in der das Quorum reduzierenden Lesart jedoch könnten Dutzende von Mitgliedstaaten überstimmt werden, und das, obwohl die Chartaänderungen künftig ohne jede Ausnahme auch für sie gelten würden. Theoretisch bliebe ihnen zwar die Möglichkeit des Austritts, doch selbst diese Option ist umstritten, da die UN-Charta, anders als die Völkerbundsatzung, formell keine Austrittsmöglichkeit vorsieht. Änderungsverfahren nach Art. 108 UN-Charta haben somit eine weit reichende Wirkung, da sie, zumindest potenziell, das Problem der Überstimmung einer nicht unbeträchtlichen „Minderheit“ von Mitgliedstaaten aufwerfen. Die Wirkung einer förmlichen Chartaänderung ist ähnlich der eines Gesetzes mit abstrakt-genereller Wirkung, welches auch für diejenigen Wirkung entfaltet, die ihm nicht zugestimmt haben. Entsprechendes gilt für Art. 109 UN-Charta, der ein umfassenderes Reformvorhaben im Zuge einer eigens einzuberufenden „Revisionskonferenz“ regelt. Auch hier ist es eine „Zweidrittelmehrheit“, welche die Änderung der Charta empfiehlt, auch hier kann also gegebenenfalls eine „Ein-Drittel-Minderheit“ überstimmt werden. Der „quasi-legislative“ Charakter der in Art. 108, 109
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getroffenen Regelungen11 ist zweifelsohne mitverantwortlich für die harten Kämpfe, die im Vorfeld des Weltgipfels vom September 2005 ausgefochten wurden. Ein weiterer struktureller Grund, der die Chancen für eine mit einer UN-Chartaänderung einhergehende, grundlegende Neustrukturierung des Systems der Vereinten Nationen, etwa im Bereich des Sicherheitsrates, erschwert, liegt in der in der UN-Charta vorgesehenen Privilegierung der ständigen Sicherheitsratsmitglieder. Chartaänderungen nach Art. 108 und 109 Abs. 2 UN-Charta werden als neue Elemente des UN-Rechts erst wirksam, wenn zwei Drittel der Mitglieder der Vereinten Nationen unter Einschluss aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates diese Änderung gemäß dem nach ihren jeweiligen Verfassungen üblichen Verfahren ratifiziert haben. Damit birgt die Stellung der P-5 von vornherein ein hohes Risiko: Sowohl die USA, China, Russland, Frankreich und Großbritannien können als ständige Mitglieder nach Belieben – und zeitlich im Prinzip unbefristet – ein bereits beschlossenes Reformverfahren durch Nichtratifizierung zu Fall bringen. Nach wohl herrschender Ansicht kann das nach Art. 108 und Art. 109 mögliche Veto auch (anders als beim Zustandekommen von Beschlüssen über Nicht-Verfahrensfragen gemäß Art. 27 Abs. 3 UN-Charta, bei der sich diese Praxis eingebürgert hat) nicht durch eine Enthaltung überwunden werden. Die erstgenannten Vorschriften sind insofern Sondervorschriften, für die sich, anders als im Falle von Art. 27 Abs. 3 UN-Charta, keine ständige, die Enthaltung für das Zustandekommen von Beschlüssen tolerierende Praxis entwickeln konnte, da sie in der Geschichte der Vereinten Nationen bislang kaum jemals angerufen wurden. Dies bedeutet im Ergebnis, dass im Prinzip jede Chartaänderung unterbleiben muss, die nicht die ausdrückliche Billigung der P-5 erhält. Eine Abänderung dieser manchem als unbefriedigend erscheinenden Völkerrechtsregeln wird kaum möglich sein, da auch eine Änderung der strengen Voraussetzungen von Art. 108, 109 UNCharta diesen Bestimmungen unterliegt. Die hier zum Ausdruck kommende Rigidität der UN-Charta, welche förmliche Chartaänderungen nur in Ausnahmefällen wahrscheinlich macht, wurde von Völkerrechtlern stets so gesehen. In der Kommentierung von Georg Ress im Kommentar der UN-Charta (Bruno Simma) heißt es bereits 1991 in der deutschen Version, eine Revision der Charta sei „auf absehbare Zeit unwahrscheinlich.“12 11
Näher M. Schröder, Revision der Charta, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen (1991), 702; zum Ganzen K. Mützelburg/G. Witschel, Kommentierung von Art. 108 und 109 UN-Charta, in: B. Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary (2002), Second Edition, Vol. II, 1341 ff. 12 G. Ress, in: B. Simma et al. (Hrsg.), Die UN-Charta, Kommentar (1991), S. LXV, Rn. 39.
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Auch die deutsche Außenpolitik war sich, speziell in Hinblick auf die Reform des Sicherheitsrates, der Schwierigkeiten einer Einbeziehung der ständigen Sicherheitsratsmitglieder stets bewusst,13 sah diese aber als überwindbar an. Vor diesem Hintergrund soll die Behandlung, welche die Reformvorschläge von Generalsekretär Kofi Annan auf dem Weltgipfel in New York vom 14.-16. September 2005 gefunden haben, näher analysiert werden.
B. Einordnung der Reformvorschläge Die von UN-Generalsekretär Kofi Annan im Jahre 2005 persönlich gemachten Reformvorschläge lassen sich in drei Kategorien unterteilen.
I. Reformvorschläge des Generalsekretärs zu Chartaänderungen „technischer Natur“ Als eine erste Kategorie sind Vorschläge des Generalsekretärs zu nennen, die zwar eine förmliche Chartamodifikation erforderlich machen, inhaltlich aber nicht kontrovers und daher verhältnismäßig unproblematisch realisierbar sind. Sie betreffen überwiegend technische Fragen, wie die Abschaffung funktionslos gewordener Organe oder die Streichung obsoleter Chartabestimmungen. Zu dieser Kategorie gehört der Wegfall des Treuhandrats in Kapitel XIII der UN-Charta, wie sie bereits vom UN-Generalsekretär selbst in seinem Reformbericht „In Larger Freedom“ vorgeschlagen wurde.14 Aufgabe des Treuhandrates war es, den Prozess der Entkolonialisierung zu fördern, seine Tätigkeit ist jedoch mit der Entlassung Palaus in die Unabhängigkeit vor gut einem Jahrzehnt abgeschlossen.15 Daher wurde auf dem Weltgipfel im September 2005 seine Streichung beschlossen.16 Auch die Streichung des UN-Generalstabsausschusses fällt in die Kategorie der relativ unproblematisch umzusetzenden Reformvorschläge. Der Vorschlag Kofi Annans hatte zunächst vorgesehen, Artikel 47 und alle Hinweise auf ihn in Arti13 Vgl. G. Pleuger, Die Reform des UN-Sicherheitsrates, in: Sonderheft, Zeitschrift für Politik (2006) (i.E.). 14 Vgl. UN Doc. A/59/2005, Ziff. 218. 15 Vgl. S. von Schorlemer, Entkolonialisierung und Treuhandfragen, in: Vereinte Nationen 43 Nr. 2 (April 1995), 74-75. 16 UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 176.
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kel 26, 45, 46 der UN-Charta entfernen zu lassen.17 In der Sache wurde auf dem New Yorker Weltgipfel im September 2005 lediglich eine Überprüfung beschlossen: „We request the Security Council to consider the composition, mandate and working methods of the Military Staff Committee“.18 Der Vorschlag des Generalsekretärs wurde also nicht unmittelbar übernommen, wenngleich zu erwarten steht, dass die Überprüfung durch den Sicherheitsrat, wie vorgeschlagen, zur Auflösung dieses Gremiums führt. Die nunmehr beschlossene Abschaffung der Feindstaatenklauseln in Art. 53 und 107 UN-Charta ist gleichfalls einfach zu verwirklichen.19 Wie der Generalsekretär es formuliert hatte, „ist es höchste Zeit, die anachronistischen Feind-Klauseln aus den Artikeln 53 und 107 der Charta zu streichen.“20 Nicht mehr zeitgemäß erscheinen Regelungen, die ein Vorgehen, notfalls auch mit militärischen Mitteln, gegen Staaten wie Deutschland, Japan und andere vorsehen, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Siegermächte bzw. UN-Gründerstaaten gekämpft hatten, zumal hier der Grundsatz der souveränen Gleichheit aller UN-Mitglieder (Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta) durchbrochen wird. Obwohl die Feindstaatenklauseln in der jüngeren Vergangenheit nicht von allen Staaten als obsolet angesehen worden waren,21 gab es hier auf dem Reformgipfel keinen Widerstand.
II. Reformvorschläge des UN-Generalsekretärs zu Chartaänderungen mit Auswirkungen auf das Völkerrecht Ein anderer Teil der von Kofi Annan im März 2005 in seinem Bericht „In Larger Freedom“ gemachten Reformvorschläge betrifft Bereiche, in denen eine förmliche Chartaänderung nur schwerlich zu bewerkstelligen ist, und zwar aus systemimmanenten Gründen. In der völkerrechtlichen Literatur wird darauf hingewiesen, dass es eine Rolle spielt, ob eine geplante Chartamodifikation eher technischer Natur ist oder ob sie materiell bedeutsame Folgewirkungen mit sich bringt; nach vertretener Ansicht sind Revisionen besonders schwierig, wenn „der Funktions- und Strukturwandel 17
UN Doc. A/59/2005 Ziff. 219. UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 178. 19 Jetzt: UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 177. 20 UN Doc. A/59/2005, Ziff. 217. 21 S. von Schorlemer, Stolen Art, in: German Yearbook of International Law 41 (1998), 327 f.; vgl. auch die Ausführungen von T. Eitel in diesem Band und ders., Beutekunst – Die letzten deutschen Kriegsgefangenen, in: Dicke/Hobe/Meyn/Peters/Riedel/Schütz/Tietje (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber Amicorum Jost Delbrück (2005), 202. 18
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zugleich Auswirkungen auf die Grundlagen des Völkerrechts hat.“22 Reformvorschläge von Generalsekretär Kofi Annan, welche die Streichung des Generalstabsausschusses nach Art. 47 UN-Charta oder die Streichung des inzwischen funktionslos gewordenen Treuhandrates zum Gegenstand hatten, gehören wohl in die erstgenannte Kategorie der Änderungen technischer Natur, und konnten, wie dargelegt, tatsächlich ohne Probleme realisiert werden. Anders beispielsweise die geplante Reform des UN-Sicherheitsrates: Sie stellt, speziell im Kontext der diskutierten Veränderung des Vetorechts, grundlegende völkerrechtliche Postulate der Souveränität, Gleichheit und Nichteinmischung in Frage. Sämtliche der geplanten Modelle zur Reform des UN-Sicherheitsrates23 betrafen Fragen der „Gleichheit“, und dies gleich auf mehreren Ebenen: – im Verhältnis der derzeit im Sicherheitsrat vertretenen ständigen Vertreter (P-5) zu den neuen Aspiranten für einen ständigen Sitz; – im Verhältnis derjenigen Staaten, die neuerdings nach einem ständigen Sitz streben, zu allen jetzt und künftig in der Funktion nicht-ständiger Vertreter im Sicherheitsrat anwesenden Staaten; sowie – im Verhältnis aller künftig im Sicherheitsrat vertretenen Sicherheitsratsmitglieder (ständige und nicht-ständige) zu den nicht im Sicherheitsrat vertretenen Staaten. Daneben, und eng damit verbunden, wirft die Reform des Sicherheitsrates auch Fragen der völkerrechtlichen Souveränität auf. Zentrale Beschlüsse des UNSicherheitsrates sind bekanntlich im Rahmen von Art. 25 UN-Charta als bindend zu akzeptieren, selbst dann, wenn sie von den Regierungen im Einzelnen nicht gebilligt werden. Dies kann in besonderem Maße virulent werden, wenn es um eine Intervention im Krisenfall geht. Dann nämlich sind Regierungen gehalten zu akzeptieren, dass sich der Sicherheitsrat unter Umständen auch in innere Angelegenheiten einmischt. Art. 2 (7) letzter Halbsatz der UN-Charta sieht als Korrelat des Souveränitätsgrundsatzes vor, dass „die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII [...] durch diesen Grundsatz (Nichteinmischung; Anm. d. Verf.) nicht berührt“ wird. Damit wird das an die Vereinten Nationen gerichtete Verbot, sich in die inneren Angelegenheiten von Mitgliedstaaten einzumischen, in dem Moment durchbrochen, in dem der Sicherheitsrat – im Falle einer Friedensgefährdung, eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung – einen entsprechenden Beschluss fasst. Dies zu vermeiden, ist naturgemäß das Bestreben derjenigen sich (potenziell) nicht rechtstreu verhaltenden Staaten. 22
M. Schröder, Revision der Charta, in: R. Wolfrum (Hrsg.), (Anm. 11), 702. Einen Überblick über die gemachten Reformvorschläge geben M. Fröhlich/K.Hüfner/ A. Märker, Reform des UN-Sicherheitsrates, DGVN, Blaue Reihe Nr. 94 (2005). 23
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Geht man von der hier vertretenen These aus, dass Chartamodifikationen mit Ausstrahlungswirkung auf die Grundlagen des Völkerrechts unwahrscheinlich sind, dann waren die politischen Probleme im Umfeld des New Yorker Weltgipfels im September 2005, speziell in Hinblick auf die Sicherheitsratsreform, in gewisser Weise absehbar. Zwar unterstützt das New Yorker Ergebnisdokument eine Reform des Sicherheitsrates, doch blieben Details umstritten und eine Einigung wurde vertagt.24 Die Generalversammlung wurde lediglich ersucht, die Fortschritte der Reform zu überprüfen.
III. De facto-Revisionen Die meisten der vom UN-Generalsekretär in seinem Bericht „In Larger Freedom“ im März 2005 gemachten und von dem Reformgipfel in New York gebilligten Reformvorschläge gehören einer dritten Kategorie an, die untechnisch als „de facto-Revisionen“ bezeichnet werden könnte. Sie sind Teil derjenigen Instrumentarien, die, ohne förmliche Chartamodifikationen nach Art. 108, 109 UNCharta, eine fortlaufende Strukturoptimierung des UN-Systems erlauben. Im Rahmen der im Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005 vorgesehenen zahlreichen Modifikationen dieser Kategorie kann danach unterschieden werden, ob Beschlüsse bereits gefasst wurden („beschließen wir“) oder ob ein solcher Beschluss nur vorbereitet wurde. In den meisten Fällen ist das Zeittableau flexibel. Zur genannten Kategorie gehört beispielsweise der Beschluss zur Einrichtung einer Friedenskonsolidierungskommission als zwischenstaatliches Gremium und eines integralen, aus freiwilligen Beiträgen gespeisten Friedenskonsolidierungsfonds. Ihre Aufgabe soll es sein, den Wiederaufbau in Postkonfliktgesellschaften zu unterstützen und zu koordinieren.25 Obwohl der Friedenskonsolidierungskommission auch Vertreter des Sicherheitsrates und des Wirtschafts- und Sozialrates angehören werden (neben weiteren Akteuren, vgl. Ziff. 100), sie also organisatorisch zwischen beiden UN-Hauptorganen angesiedelt ist, wird sie nicht deren Rang erhalten. Sie ist als eine funktionale Kommission im Sinne von Art. 68 UNCharta geplant, der dafür die erforderliche Rechtsgrundlage enthält.
24
UN Doc. A/60/L.1. Ziff. 153. Vgl. UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 97 ff. Außerdem wird der Generalsekretär ersucht, innerhalb des Sekretariats und aus vorhandenen Mitteln, ein kleines, mit Fachleuten besetztes Büro zur Unterstützung der Friedenskonsolidierung einzurichten (Ziff. 104). 25
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Jedoch anders als von Annan empfohlen,26 ist die Friedenskonsolidierungskommission organisatorisch nicht zwischen dem Wirtschafts- und Sozialrat und dem Sicherheitsrat, sondern zwischen der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat angesiedelt. Dies lässt sich der Gründungsresolution entnehmen, da sich dort die Generalversammlung auf die Artikel 7, 22 und 29 der UN-Charta beruft;27 allerdings gehören ihr – neben weiteren Akteuren – sieben Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialrats an.28 Auch die geplante Aufwertung des Wirtschafts- und Sozialrates, die ihn befähigen soll, wirksamer seine Aufgaben der Koordinierung und Politiküberprüfung wahrzunehmen sowie zu der Umsetzung der internationalen Entwicklungsziele beizutragen, gehört zu den ohne förmliche Rechtsänderung zu verwirklichenden Reformen. Der ECOSOC soll künftig nicht nur alle zwei Jahre ein Forum für Entwicklungszusammenarbeit auf hoher Ebene abhalten und jährlich die Ergebnisse der Weltkonferenzen und Gipfeltreffen der Vereinten Nationen auf Ministerebene überprüfen, sondern auch seinen Arbeitsplan, die Tagesordnung und die Arbeitsmethoden anpassen, damit er seinen Aufgaben vollständig gerecht werden kann.29 Eine strukturelle Neuerung, die gleichfalls ohne förmliche Chartaänderung zu bewerkstelligen ist, besteht in der Schaffung eines Menschenrechtsrates. Dieser soll künftig die durch „schwindende Glaubwürdigkeit und abnehmende Professionalität“30 in Misskredit geratene UN-Menschenrechtskommission ersetzen.31 Anders als Kofi Annan vorgeschlagen hatte, erfolgten in New York allerdings keine Aussagen hinsichtlich des Wahlmodus. Speziell der von ihm gemachte, zentrale Vorschlag, die in den Rat gewählten Mitglieder sollten sich zur Einhaltung der höchsten Normen auf dem Gebiet der Menschenrechte verpflichten, wurde bedauerlicherweise nicht aufgegriffen.32 Um das prolongierte Gründungs26 „I believe that such a body would best combine efficiency with legitimacy if it were to report to the Security Council and the Economic and Social Council in sequence, depending on the phase of the conflict. [...]“, UN Doc. A/59/2005, 21. März 2005, Ziff. 116. 27 „The General Assembly, [...] decides, acting concurrently with the Security Council, in accordance with Articles 7, 22 and 29 of the Charter of the United Nations, with a view to operationalizing the decisions by the 2005 World Summit, to establish the Peacebuilding Commission as an intergovernmental advisory body.“ UN Doc. A/Res./60/180, 30. Dez. 2005, Ziff. 1. 28 UN Doc. A/Res./60/180 vom 30.12.2005, Ziff. 4 lit. b. 29 UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 155 und 156. 30 UN Doc. A/59/2005 Ziff. 182. 31 UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 157. 32 UN Doc. A/59/2005 Ziff. 183.
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verfahren voranzubringen, wurde der Präsident der Generalversammlung gebeten, Verhandlungen bezüglich Mandat, Modalitäten, Funktionen, Zusammensetzung, Mitglieder und Arbeitsverfahren durchzuführen.33 Bereits sechs Monate später errichtete die Vollversammlung mit Resolution 60/251 vom 15. März 2006 den Menschenrechtsrat, bestehend aus 47 Mitgliedern,34 die mit einfacher Mehrheit in das Gremium für die Amtszeit von drei Jahren mit der Möglichkeit einer Wiederwahl in den Rat gewählt werden. Dem Einsatz Annans35 ist es zu verdanken, dass „members elected to the Council shall uphold the highest standards in the promotion and protection of human rights, fully cooperate with the Council, and be reviewed under the universal review mechanism, during their term of membership.“36
Auch weitere Reformmaßnahmen wie die ins Auge gefasste „Unterstützergruppe Rechtsstaatlichkeit“ innerhalb des UN-Sekretariats (Ziff. 134 e), die Schaffung eines Fonds für Demokratie, der denjenigen Ländern, die ein demokratisches System schaffen wollen, Hilfe gewähren soll (Ziff. 136), sowie der Beschluss zur Stärkung des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (Ziff. 124) sind als Reformvorschläge anzusehen, die keine Chartamodifikation erfordern. Sie können problemlos umgesetzt werden, wenn der politische Wille und die notwendigen Ressourcen aufgebracht werden.
IV. Kritische Würdigung Es fällt auf, dass es für kleinere Reformen in den Vereinten Nationen keine geregelten Verfahren gibt. Die UN-Charta enthält zum Beispiel kein vereinfachtes Verfahren für geringfügige Änderungen und auch keine Vorkehrungen für eine authentische Interpretation. Auch eine Vorschrift nach dem Vorbild von Artikel 19 Völkerbundsatzung, wonach das Plenarorgan „von Zeit zu Zeit“ die Mitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Vertragsvorschriften auffordern kann, fehlt. 33
UN Doc. A/60/L.1 Ziff. 160. Die Zusammensetzung des Rats richtet sich nach den zugesprochenen Sitzen der jeweiligen Regionalgruppen. Die Verteilung ist wie folgt: Afrika: 13 Sitze, Osteuropa: 6 Sitze, Lateinamerika und die Karibik: 8 Sitze, Westeuropa und andere Staaten: 7 Sitze. 35 Ein zentrales Anliegen Annans war, dass „those elected to the Council should undertake to abide by the highest human rights standards“, UN Doc. A/59/2005 vom 21.03.2005, Ziff. 183. Zwar fand diese Passage keinen Einzug in das Abschlussdokument des Weltgipfels, wurde jedoch später in den Resolutionsentwurf aufgenommen, UN Doc. A/60/L.48, 24. Febr. 2006, Ziff. 9. 36 UN Doc. A/10449 vom 15.03.2006; vgl. Den Resolutionsentwurf, vorgelegt vom Präsidenten der Generalversammlung, UN Doc. A/60/L.48, 24. Febr. 2006, Ziff. 9. 34
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Dennoch ist – losgelöst von den förmlichen Verfahren zur Chartaänderung und entgegen vielfacher Wahrnehmung in der Weltöffentlichkeit – die den Vereinten Nationen innewohnende Reformkraft groß. Wie Gareis/Varwick hervorhoben: „Die Organisation der Vereinten Nationen blickt auf eine Geschichte zurück, die auch als ein permanenter Prozess des Wandels und der Reformen beschrieben werden kann“.37 In der Praxis hat sich über die Jahrzehnte hinweg ein permanent sich selbst, in diesem Sinne auto-reformierendes System entwickelt, in dem inkrementelle, stetig voranschreitende Reformprozesse stattfinden. Dies erlaubt es, Spielräume zur Strukturanpassung intensiv zu nutzen. Für diese Annahme sprechen einige grundlegende Neuerungen der Vereinten Nationen in der Vergangenheit, die inhaltlich durchaus substanziell waren, doch allesamt keine Chartaänderung erforderten. Dazu gehört die radikale Erweiterung der Mitgliedschaft38 und die Einführung von Dutzenden neuen UN-Organen im Verlaufe des 60-jährigen Bestehens der Organisation.39 Auch die im Zuge der Bearbeitung neuer Themenfelder – abhängig von der internationalen Politikentwicklung – neu verabschiedeten Mandate und Arbeitsaufträge sind in diesem Kontext zu erwähnen. Nicht nur unter dem Eindruck der Entkolonialisierung, des Ost-West-Gegensatzes bzw. dessen Beendigung, auch 37 S. B. Gareis/J. Varwick, Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen (2. Aufl., 2002), 258. 38 Diese hat sich seit Bestehen der Vereinten Nationen in nunmehr sechs Jahrzehnten nahezu vervierfacht (von 50 resp. 51 (Polen) im Jahr 1945 auf 191 Mitgliedstaaten im Jahr 2005). Hier ist zu beobachten, dass die Kriterien des die Neuaufnahme regelnden Art. 4 der UN-Charta, der vorsieht, dass Mitglied der Vereinten Nationen „alle sonstigen friedliebenden Staaten“ werden können, „welche die Verpflichtungen aus dieser Charta übernehmen und nach dem Urteil der Organisation fähig und willens sind, diese Verpflichtungen zu übernehmen“, zunehmend weiter, bis hin zur Bedeutungslosigkeit ausgelegt wurde. 39 Hier wurden von Anbeginn an existierende Blankovorschriften (vgl. Art. 7 (2); Art. 22; Art. 29 UN-Charta; vgl. auch gem. Art. 68 die Möglichkeit des ECOSOC zur Einsetzung von Kommissionen) der UN-Charta genutzt, um neuen Schwerpunktsetzungen (Entwicklung; Umwelt; Terrorismusbekämpfung etc.) gerecht zu werden. Dabei lässt sich in organisatorischer Hinsicht nicht nur eine vertikale Vertiefung beobachten, sondern auch eine horizontale Verflechtung. So wurde mit der United Nations Development Group (UNDG) beispielsweise ein neuer Koordinationsmechanismus für die Umsetzung des Reformprogramms des UN-Generalsekretärs gemäß Res. 52/12 B geschaffen (Dez. 1997). Die UNDG umfasst heute alle Institutionen mit „resident missions“ in den Ländern, u.a. UNFPA; UNICEF; WFP; UNDP; OCCHR; WHO; UNESCO; FAO; UNIDO; ILO; DESA; UNDPI; UNOPS; UNAIDS; UNCTAD; UN-Habitat; UNIFEM; UNODOC; UNHCR; UNEP; OHRLLS; IFAD; UNFIP; OCHA; Spokesman for the Secretary-General, DirectorOffice of the Deputy Secretary-General; Weltbank. Dies zeigt, wie flexibel die Schaffung neuer Organisationsstrukturen im Einzelfall gehandhabt wird.
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unter dem Eindruck von Kriegen, Krisen und Naturkatastrophen kam es wiederholt zu einer Neuausrichtung von Aufgaben und Funktionen der Vereinten Nationen. Einzigartig dürfte indes die Leistung des UN-Sekretariats sein, über die Jahre hinweg interne Strukturanpassungs- und Wandlungsprozesse zu initiieren und durchzuführen. In dem Bemühen um effiziente Koordination und Steuerung wurden u.a. Organe geschaffen, die der Verbesserung der Kontrolle des Managements dienen. Zu erwähnen sind in diesem Kontext etwa die Einrichtung der Joint Inspection Unit (JIU, 1968/78); die Einrichtung einer International Civil Service Commission (ISC, 1972/74) oder auch die Einrichtung des Amtes eines Inspektors für internes Aufsichtswesen (Office of Internal Oversight Services, OIOS) im Jahre 1994. Angesichts des Umstandes, dass insbesondere das UN-Sekretariat „lange Jahrzehnte als nahezu unsteuerbar galt“, wurde vor allem die von Generalsekretär Kofi Annan durchgeführte Sekretariatsreform von Volger als eine wahrhaftige „Revolution“ gewürdigt.40 Im Gegensatz zu der Wahrnehmung der Medien, die vielfach das Bild eines „unbeweglichen“ und „erstarrten, reformunfähigen Kolosses der VN“ evozieren, sind die Vereinten Nationen eine sowohl von ihrer Mitgliedschaft, ihren Organen, wie ihren Aufgaben her dynamische und durchaus reformfähige Organisation. Reformen sind, wie bereits dargelegt, unabhängig von den förmlichen Verfahren nach Artikel 108 und 109 UN-Charta jederzeit möglich, vorausgesetzt, sie sind von allgemeinem Konsens der Mitgliedstaaten getragen. Psychologisch gesehen bieten diese „weichen“ Reforminstrumentarien, die sich auch der UN-Generalsekretär zunutze machte, gegenüber den skizzierten förmlichen Änderungsverfahren den Vorteil, dass sie leichter zu akzeptieren sind als die erstgenannten. Jede förmliche Änderung der Chartavorschriften (also eine explizite Textmodifikation auf der Grundlage der dafür vorgesehenen Verfahren) ist ein sichtbarer und nur schwer revidierbarer Eingriff in das bestehende Normengefüge. Inkrementelle Veränderungen mögen hingegen in der Sache durchaus weit reichend sein – wie etwa die vom New Yorker Reformgipfel im September 2005 beschlossene Neugründung eines Menschenrechtsrates (Human Rights Council) in Ablösung der UN-Menschenrechtskommission. Da sie jedoch keine Neuformulierung geltenden Chartarechts erforderlich machen – Artikel 22 UN-Charta ist
40
H. Volger, UN-Reform ohne Charta-Revision? Der Stand der Reformbemühungen nach dem Millenniums-Gipfel, in: S. von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO. Die Vereinten Nationen im Lichte globaler Herausforderungen (2003), 742.
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insofern weit genug gefasst41 – erwecken sie den Eindruck der Unversehrtheit geltenden Rechts. Anders als förmliche Chartamodifikationen können jegliche formlos vorgenommenen Änderungen – und darin mag man einen Nachteil sehen – verhältnismäßig leicht wieder rückgängig gemacht werden, und zwar auf demselben Weg, in dem sie vorgenommen wurden. In der Sache ist der Bestand einer de facto-Revision somit unsicherer, da sie jederzeit durch eine Praxis geändert werden kann, die sich an den ursprünglichen Wortlaut und Sinn der UN-Charta hält. Den an Flexibilität in der Außenpolitik interessierten Regierungen kommen diese Instrumentarien jedoch, wie dargelegt, im Allgemeinen entgegen.
C. Chancen für die Umsetzung: Die Stärkung der Vereinten Nationen als „auto-reformierendes System“ Im Folgenden sollen einige Überlegungen dazu angestellt werden, was jenseits der offiziellen Reformagenda dafür getan werden könnte, um die in der Praxis wichtigen „Auto-Reformpotentiale“ zu stärken, also jene Elemente, die stetig auf das System einwirken, Strukturoptimierungen vorzunehmen und so einen stetig fortlaufenden Wandel der Gesamtstruktur befördern.
I. „Friends of the UN“ Ohne Zweifel wäre es wichtig, einer sich abzeichnenden Reformmüdigkeit vorzubeugen, wie sie nach der Hektik im Vorfeld des großen Reformgipfels im September 2005 nur nachvollziehbar ist. Es könnten einige unterstützende Maßnahmen ergriffen werden, um die stetige Weiterführung eingeleiteter oder noch ausstehender Reformen zu fördern und dafür ein geeignetes Klima (enabling environment) zu schaffen. Geeignet erschiene unter Umständen ein informeller Zusammenschluss von prinzipiell reformwilligen, die Reformvorschläge des UN-Generalsekretärs unterstützenden Staaten (friends of the UN). Es könnte sich ein neues Bündnis formieren und versuchen, im Wege der kleinen Schritte weitere Fortschritte auf der Reformebene zu erzielen. In der Praxis arbeiten einige Regierungen ohnehin 41
„Die Generalversammlung, [...] beschließt, als Ersatz für die Menschenrechtskommission den Menschenrechtsrat als ein Nebenorgan der Generalversammlung mit Sitz in Genf einzurichten, [...].“ UN Doc. A/60/l.48, 28. Febr. 2006, Ziff. 1.
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zusammen, um die Ergebnisse des Weltgipfels in die Praxis umzusetzen bzw. weiterzuentwickeln (Friedenskonsolidierungskommission; Menschenrechtsrat, Sicherheitsrat, etc.). Sie könnten jedoch deutlicher machen, dass sie dies mit der Zielsetzung tun, die Grundsätze der UN-Charta und die Vereinten Nationen zu stärken. Dabei sollten – im wohlverstandenen Eigeninteresse liegend – wichtige Impulse von den EU-Staaten ausgehen, nicht nur, weil die Ziele der Gemeinsamen Außenund Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union kongruent mit den in der UN-Charta verkörperten Grundsätzen sind,42 sondern auch, weil sich in der Praxis die EU in der vergangenen Dekade bereits zum erfolgreichen Unterstützer der Vereinten Nationen entwickelt hat. Vor dem Hintergrund der heranreifenden Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, die Vereinten Nationen verstärkt auch im Rahmen von UN-Missionen und somit im operativen Bereich zu unterstützen,43 wäre es nahe liegend, die auf eine Stärkung der Vereinten Nationen zielenden Reformbemühungen in Zukunft explizit zu unterstützen. Auch bei der im Rahmen von Anpassungsnotwendigkeiten erforderlichen Interessenabwägung zwischen reformwilligen und -unwilligen Kräften sollte künftig, so das Plädoyer der Verfasserin, in jedem Fall eine stärkere Gewichtung der Interessen der Internationalen Organisation44 erfolgen. Dafür zu sorgen könnte insbesondere Aufgabe der skizzierten Gruppe der friends of the UN sein.
II. Einrichtung eines Inventars der Reformvorschläge Damit der Reformprozess der Vereinten Nationen auch in Zukunft eine kontinuierliche Fortsetzung findet, erscheint es sinnvoll, dafür zu sorgen, dass einige interessante und gehaltvolle Reformberichte, die in der Vergangenheit erstellt wurden, aber bislang nicht oder nicht hinreichend umgesetzt wurden, nicht in Vergessenheit geraten. Dazu zählt nicht nur der bereits mehrfach erwähnte Reformbericht Kofi Annans „In Larger Freedom“, sondern auch einige Reformberichte aus der jüngeren Zeit,
42
Vgl. nur Art. 11 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union, der die Ziele der Europäischen Union umreißt. 43 Kritisch H. Arnold, Die Politik der EU in der UNO als Möglichkeit und Maßstab für ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und ihre Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik (ESVP), in: S. von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO. Die Vereinten Nationen im Lichte globaler Herausforderungen (2003), 156 ff., 175. 44 Näher Punkt C. III.
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wie der sog. „Brahimi-Bericht“,45 der sog. „Cardoso-Bericht“,46 der „Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“47 sowie der sog. „Sachs-Report“ (Millennium Project).48 Wertvolle Anregungen, die in den fortlaufenden Reformprozess einfließen sollten, finden sich auch in einigen älteren Reformdokumenten, die im Laufe der Zeit in den Hintergrund traten, so etwa im sog. „L.B. Pearson Report“ von 1968.49 Nur in Teilen verwirklicht wurden auch die Vorschläge des sog. „Jackson Report“ von 1969 (A Study of the Capacity of the United Nations Development System), der eine Rationalisierung der UN-Entwicklungsaktivitäten empfohlen hatte.50 Der sog. „Gardner Report“ von 1975 (A New United Nations Structure for Global Economic Cooperation) hatte eine Art internationale Entwicklungsbehörde gefordert, um Gelder für technische Kooperation zu bündeln.51 Auch der sog. „Brandt-Bericht“ von 1979 (North-South: A Programme for Survival), hervorgegangen aus der Independent Commission on International Development Issues, enthält wesentliche Anregungen zur Reform, nicht anders als der „WeizsäckerQureshi Report“.52 Aufgrund der Qualität dieser und anderer Studien sowie aufgrund des Umstandes, dass erstaunlich viele Empfehlungen unverändert aktuell sind, hat die Joint Inspection Unit jüngst empfohlen, eine Art kollektives Gedächtnis der Vereinten Nationen zu schaffen. Inspektorin Doris Bertrand hatte in ihrem 2005 veröffentlichten Bericht hervorgehoben: „As can be seen, many of the issues raised and the recommendations made continue to be very relevant and merit reconsideration. At present this is difficult as the institutional memory in this field is weak and information scattered. There is at present no single 45 Report of the Panel on United Nations Peace Operations, UN Doc. A/55/305– S/2000/809, August 2000. 46 Siehe oben Anm. 3. 47 Siehe oben Anm. 2. 48 UN Millennium Project. Investing in Development: A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals, UNDP, New York, 2005; http://www.unmillennium project.org/reports/fullreport.htm (Zugriff am 10.1.06 14h). 49 L. Pearson et al., Partners in Development: Report of the Commission on International Development, New York/Prag 1968. 50 Sir R. Jackson, A Study of the Capacity of the United Nations Development System, Genf 1969. 51 United Nations Group of Experts on the Structure of the United Nations System, A New United Nations Structure for Global Economic Co-operation, New York 1975, xvii, 112 p. E/AC.62/9; Sales No. E.75.II.A.7. 52 The United Nations in its Second Half-Century: A Report of the Independent Working Group on the Future of the United Nations, New York 1995.
Chancen für die Umsetzung der Reformvorschläge des UN-Generalsekretärs 309 source available from which information can be easily retrieved. […] It would thus also be a matter of good management to keep a comprehensive inventory of the related work and its result.“53
Die vorgeschlagene Einrichtung eines „Inventars aller Reformvorschläge“ durch den Generalsekretär, eventuell als Teil eines „UN Intellectual History Projects“, würde nicht nur die Transparenz im Reformsektor erhöhen, sondern auch die Chancen der Umsetzung sinnvoller Reformvorschläge, diejenigen des UN-Generalsekretärs eingeschlossen, verbessern. Zum ersten Mal gäbe es, auch systemintern, einen systematischen Zugriff auf vorhandene Informationen.
III. Die Begründung einer mitgliedstaatlichen „Pflicht“ zur Unterstützung von Reformen Künftige Reformvorhaben würden zweifelsohne erleichtert, gäbe es eine mitgliedstaatliche „Pflicht“ zur Unterstützung derselben. Zwar könnte aufgrund der völkerrechtlichen Vertragsfreiheit eine Pflicht zur Mitwirkung an Reformverträgen ipso facto nicht begründet werden. Jedoch erscheint es auf völkerrechtlich gesicherter Grundlage möglich, eine Pflicht zur Mitwirkung nach Treu und Glauben innerhalb von Reformverhandlungen bzw., damit verwandt, eine Art „Schadensabwendungspflicht“ zum Wohle der Organisation einzufordern. Die Argumentation in Richtung einer solchen „Reformunterstützungspflicht“ der Mitgliedstaaten einer Internationalen Organisation könnte ihren Ausgangspunkt von dem Gedanken nehmen, dass jede Rechtsordnung in einer Spannung lebt zwischen den gesetzten Regeln (lex lata), die diese Ordnung bzw. dieses System konstituieren, und den neu entstehenden, sich de lege ferenda entwickelnden Rechtsregeln, aus der eine eigene Dynamik sozialen Wandels und sozialer Interaktion erwächst. Um das Spannungsverhältnis zwischen status quo und Wandel positiv aufzulösen, stehen die bereits erwähnten Instrumentarien förmlicher und nicht-förmlicher Natur zur Verfügung. Voraussetzung ist allerdings die Bereitschaft der Staaten, sich auf die Anwendung der verschiedenen Mittel und Methoden einzulassen. Auch die UN-Charta reflektiert das erwähnte Spannungsfeld zwischen gesetzten und neu entstehenden Rechtsregeln: Einerseits wird kein Zweifel daran gelassen, dass die Mitgliedstaaten alle Verpflichtungen aus der Charta nach Treu und Glauben zu erfüllen haben (Art. 2 Ziff. 2 UN-Charta). Auf der anderen Seite 53
D. Bertrand, Some Measures to Improve Overall Performance of the United Nations System at the Country Level, Part I., A Short History of the United Nations Reform in Development, Joint Inspection Unit, JIU/REP/2005/2 (Part 1), S. 6, Ziff. 28.
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spiegelt die Präambel den Willen zum Ausgleich und zur Weiterentwicklung des gesetzten Rechts: Die Mitgliedstaaten zeigen sich danach „fest entschlossen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus den Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können.“ Das heißt, es ist einerseits getreu dem Grundsatz pacta sunt servanda dem geltenden Recht Tribut zu zollen, andererseits aber sollen neue Wege beschritten werden, um Gerechtigkeit zu verwirklichen. Dass der Weg des Wandels in der UN-Charta selbst bereits angelegt ist, wird im Übrigen auch in den Zielbestimmungen des Art. 1 UN-Charta deutlich. Die Mitgliedstaaten in den Vereinten Nationen verfolgen gemeinschaftlich das Ziel, freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zu entwickeln (Art. 1 Ziff 2). Darüber hinaus sind sie gewillt, eine internationale Zusammenarbeit auf verschiedenen Politikfeldern herbeizuführen (Art. 1 Ziff. 3). Schließlich wollen sie auch Kollektivmaßnahmen treffen, um Bedrohungen zu verhüten und zu beseitigen (Art. 1 Ziff. 1). Diese auf zukünftiges Verhalten gerichteten Passagen im UNGründungsstatut machen nicht nur deutlich, dass die Vereinten Nationen eine auf Wandel und Reform angelegte Organisation sind, sondern dass es darüber hinaus den UN-Mitgliedstaaten obliegt, für die Herbeiführung des Wandels Verantwortung zu tragen.54 Wie ist es nun einzuordnen, wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten Reformen kategorisch ablehnen oder – wie im Fall der von US-Vertreter John Bolton kurz vor dem Reformgipfel vorgelegten Hunderten von Änderungsvorschlägen55 – darauf zielen, den eingeleiteten und mit engen Fristen versehenen Reformprozess zu unterminieren? Anknüpfend an das normative Konzept des friedlichen Wandels und immanente Reformnotwendigkeiten einer Internationalen Organisation stellt sich hier in der Tat die Frage eines völkerrechtlichen Gebots zur Mitwirkung an eingeleiteten Reformen. Aus dem Konzept des friedlichen Wandels lässt sich grundsätzlich die Notwendigkeit einer Bereitschaft zur friedlichen Anpassung oder Veränderung bestehender Rechtszustände ableiten. In seiner den status quo verändernden Funk54
Nach herrschender Ansicht richtet sich der Zielkatalog von Art. 1 UN-Charta sowohl an die Vereinten Nationen als auch an die UN-Mitgliedstaaten, vgl. R. Wolfrum, Art. 1, in: B. Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, 1. Aufl., Oxford 2002, Ziff. 1, S. 40. 55 Revised draft outcome document of the High-level Plenary Meeting of the General Assembly of September 2005 (Future document A/59/HLPM/CRP/.1/Rev.2), mit USÄnderungsvorschlägen gefunden auf http://www.epo.de/index.php?option=com_ content &task=view&id=879&Itemid=84 (Zugriff am 10.1.06 14h).
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tion ist friedlicher Wandel nach Ansicht von Delbrück nicht nur „ein eminent politisches Ordnungsprinzip und -verfahren im Bereich der internationalen Beziehungen“, sondern es ist zugleich, durch seine normativen Elemente und rechtlichen Verfahrensregelungen, „auch in den Bereich des Völkerrechts einzuordnen.“56 Daneben lässt sich der Grundsatz von Treu und Glauben – im Völkerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt – fruchtbar machen, um eine solche Pflicht der Mitglieder einer Internationalen Organisation zur Mitwirkung an Reformen zu begründen. Art. 2 Ziff. 2 UN-Charta sieht vor, dass alle UN-Mitglieder „nach Treu und Glauben die Verpflichtungen“ erfüllen, „die sie mit dieser Charta übernehmen.“ Nach herrschender Ansicht liegt dem in der Charta formulierten Grundsatz von Treu und Glauben kein formaljuristisches Begriffsverständnis zugrunde, sondern es geht um den „Modus der Erfüllung von Pflichten“ bzw. eine „rechtlich verbindliche methodische Anweisung für die Ermittlung konkreter Mitgliedschaftspflichten im Rahmen der Charta“.57 Dazu sind grundsätzlich auch Reformvorhaben betreffende Mitgliedschaftspflichten zu rechnen. Ein an die USA gerichtetes, völkerrechtliches Verhaltensgebot, den durch gründliche Vorarbeiten in Gang gesetzten und in wichtigen Fragen von breitem Konsens getragenen Reformprozess nicht durch kurzfristig (wenige Tage vor dem Reformgipfel!) eingebrachte, unilaterale Handlungen zu unterminieren, lässt sich auch aus der besonderen Nähe der Beziehung der ständigen Sicherheitsratsmitglieder – zu denen die USA zählen – ableiten. Mit Hinweis auf Rechtsprechung von Gerichten wird davon ausgegangen, dass der Grundsatz von Treu und Glauben eine besondere rechtliche Wirkung entfaltet, wenn Staaten in einem besonderen Vertrauensverhältnis zueinander stehen; als ein solches qualifiziertes Vertrauensverhältnis, aus dem sich verstärkte Pflichten zu gegenseitiger Rücksichtnahme und erhöhte Verantwortung ergeben, gilt ausdrücklich auch die Beziehung zwischen Mitgliedern einer Internationalen Organisation.58 Ausgehend davon, dass den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates eine besondere Verantwortung für die Geschicke der Vereinten Nationen zukommt (u.a. entrichten die ständigen Sicherheitsratsmitglieder einen größeren Beitrag zur Friedenssicherung; sie besitzen das Vetorecht und können Chartaänderungen blockieren; sie tragen die „Hauptverantwortung für den Weltfrieden“, etc.). ließe sich argumentieren, dass das besondere Näheverhältnis der ständigen Sicherheitsratsmitglieder auch auf die Organisation selbst und ihre Grundlagen ausstrahlt. Wie Fassbender es formulier56
J. Delbrück in: R. Wolfrum (Hrsg.) (Anm. 11), 198. J. P. Müller, in: B. Simma et al. (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Kommentar (1991), in: Art. 2 Ziff. 2, 52, Ziff. 5 und 6. 58 J. P. Müller, ebd. 54, Ziff. 15. 57
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te: „The Council represents a centerpiece of the post-1945 constitution of the international community.“59 Es erscheint daher möglich, aus dem Grundsatz von Treu und Glauben eine besondere Verantwortung der Mitgliedstaaten, speziell der P-5, für Reformprozesse abzuleiten. Gestützt wird diese Ansicht durch den aus der Völkerrechtspraxis abgeleiteten Umstand, dass zeitnahe Reform- und Anpassungsprozesse überlebenswichtig für Internationale Organisationen sein können. Besteht kontinuierlich eine Diskrepanz zwischen Kräften der Beharrung und Kräften des Wandels, wird es versäumt oder misslingt es, einen Ausgleich zwischen den gesetzten Regeln und den Kräften des Wandels herbeizuführen, führt dies vielfach zu nicht unerheblichen Folgewirkungen für das System einer Internationalen Organisation. Wie sich am Beispiel des Völkerbundes ablesen lässt, kann es zu dysfunktionaler Abweichung einzelner Mitglieder von regelgerechtem Verhalten und einer Schwächung der Autorität der betreffenden Organisation kommen. Am Beispiel der UNESCO in den frühen 1980er Jahren war zu beobachten, dass Reformdefizite derselben zu einem Glaubwürdigkeitsverlust der Organisation und zur Frustration der Mitglieder bis hin zu deren Rückzug führten (vgl. Austritt der USA mit Wirkung zum 31.12.1984; Austritt Großbritanniens und Singapurs mit Wirkung zum 31.12.1985). Im weitest reichenden Fall, wenn sich eine internationale Organisation über einen längeren Zeitraum strukturell reformunfähig zeigt, kann es zu massiven Schwierigkeiten bis hin zum Untergang der Internationalen Organisation kommen (z.B. Warschauer Pakt). Es ist darüber hinaus unzweifelhaft, dass die Ziele der Vereinten Nationen, wie sie in Art. 1 genannt sind, nur verwirklicht werden können, wenn alle Mitglieder ihre Chartapflichten nach Treu und Glauben erfüllen. Wie oben dargelegt, haben die Regierungen der Mitgliedstaaten sich mit dem Eintritt in die Vereinten Nationen zur Übernahme der Pflicht zur Zielverwirklichung gemäß Art. 1 UN-Charta bereit erklärt; da diese Zielverwirklichung, wie oben dargelegt, in die Zukunft gerichtetes Handeln erfordert und vielfach nur im Wege einer Abänderung des status quo erreicht werden kann, muss – so lässt sich argumentieren – auch der Wandlungsprozess zur Zielerreichung nach Treu und Glauben unterstützt werden.
59
B. Fassbender, All Illusions Shattered? Looking Back on a Decade of Failed Attempts to Reform the UN Security Council, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law, 7 (2003), 217; zur Konstitutionalisierung der Sicherheitsbeziehungen unter dem Dach der Vereinten Nationen vgl. auch S. von Schorlemer, Verrechtlichung contra Entrechtlichung: die internationalen Sicherheitsbeziehungen, in: B. Zangl/M. Zürn (Hrsg.), Verrechtlichung – Baustein für Global Governance? (Stiftung Entwicklung und Frieden, 2004), 76 ff.
Chancen für die Umsetzung der Reformvorschläge des UN-Generalsekretärs 313
Folgt man dieser Argumentation, so lässt sich die konstruktive Mitwirkung an Reformprozessen, die dazu dienen, die Ziele der internationalen Organisation zu erreichen, als ein aus der Mitgliedschaft der Staaten abgeleitetes Gebot ansehen.
D. Schlussfolgerung Angesichts des jahrelangen und durch mehrere aufeinander folgende Reformberichte detailliert geplanten Vorbereitungsprozesses, der zum „Reformgipfel“ im September 2005 hinführte und den krönenden Abschluss der Amtszeit von Generalsekretär Kofi Annan darstellen sollte, wurden hohe Erwartungen in Hinblick auf die Fortschreibung der UN-Gemeinschaftsziele geweckt, die nur zum Teil erfüllt wurden. Die Chancen für die Umsetzung der bislang beschlossenen Reformvorschläge könnten erheblich verbessert werden, wenn die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sich einzeln und gemeinschaftlich ihrer besonderen, auch aus Treu und Glauben abzuleitenden Verantwortung für das erfolgreiche Wirken – Reformvorhaben eingeschlossen – der Weltorganisation bewusst würden, die sie mit Eintritt in die Organisation übernommen haben. Zugleich sollte anerkannt werden, dass es eines dauerhaften, auf Kontinuität angelegten Reformprozesses bedarf, um längerfristig den Erfolg einer Internationalen Organisation wie den der Vereinten Nationen zu sichern.
Bedeutung und Tragweite der vorgeschlagenen Charta-Änderungen Von Tono Eitel
A. Die Charta der Vereinten Nationen Die VN-Charta zu ändern, ist ein mühsames Geschäft. Die Charta der Vereinten Nationen ist zunächst einmal ein mehrseitiger Vertrag. Ein solcher Vertrag gleicht einem Calder’schen Mobile, dessen Teile unterschiedliches Gewicht haben, aber durch entsprechende Hängung an dem jeweiligen Waagebalken und Aufwiegen eines schwereren durch mehrere leichtere Anhängsel in eine kunstvolle Balance gebracht worden sind. Die Entfernung oder Hinzufügung auch nur eines Teiles bringt das Ganze in eine deutliche Schieflage; soll diese nicht als Ausdruck eines neuen Zustandes beibehalten werden, muss sie durch Korrektur(en) am anderen Orte ausgeglichen werden. Die Charta hat zudem eine nahezu unüberschaubare Zahl von Vertragsparteien, nämlich derzeit, und wohl bis auf weiteres, 191 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen. Sie alle wollen vom Sinn einer Charta-Änderung überzeugt werden und sich und ihre Interessen in ihr wiederfinden. Sofern manche von einer ChartaÄnderung, z.B. hinsichtlich der sog. Feindstaatenklauseln (Art. 53, 77 und 107)1, nicht berührt würden, erwarten sie vielleicht immer noch ein Entgelt für ihre Zustimmung, etwa andernorts in dem Vertrags-Mobile eine für sie interessante Gewichtsverschiebung (die dann ihrerseits wieder ausbalanciert werden müsste). So dürfte wie bisher auch in absehbarer Zukunft für sehr wenig von dem, was derzeit an Änderungsplänen diskutiert wird, eine Einstimmigkeit zu erreichen sein. Diese ist, Gottseidank, auch nicht erforderlich: Gemäß Art. 108 genügt eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung, immerhin noch 128 der 191 Mit1
Ohne weitere Angaben zitierte Artikel sind solche der VN-Charta. Ich danke herzlich Herrn Vortragenden Legationsrat Holger Mahnicke und Herrn Botschafter Dr. Ingo Winkelmann für die Beschaffung einer Reihe von UN-Dokumenten. Teile dieses Aufsatzes habe ich bei dem Symposium zu Ehren von Staatssekretär a.D. Prof. Dr. Klaus Otto Nass in der Universität Hannover am 24.03.2006 vorgetragen.
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Tono Eitel
gliedstaaten. (Mögliche Stimmrechtsverluste wegen Beitragsrückständen, Art. 19, lasse ich hier unberücksichtigt). Es ist selbstverständlich, dass eine Charta-Änderung erst dann in Kraft treten kann, wenn sie von der entsprechenden Anzahl der Mitgliedstaaten, also 128, auch ratifiziert wurde. Überhaupt nicht selbstverständlich, aber leider bei den Charta-Verhandlungen 1945 von den für einen Ständigen Sicherheitsratssitz vorgesehenen Mächten durchgesetzt, ist das zusätzliche Erfordernis, dass sich unter den ratifiziert habenden Mitgliedstaaten alle 5 Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats befinden müssen (Art. 108). Und schließlich ist die Charta nicht irgendein Vertrag! Selbst ein in diesem Zusammenhang entlegener Text wie das „Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge“ stützt sich in seiner Präambel auf die „in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen völkerrechtlichen Grundsätze […] der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, der souveränen Gleichheit und Unabhängigkeit aller Staaten, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten, des Verbots der Androhung oder Anwendung von Gewalt sowie der allgemeinen Achtung und Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle“. Mit dieser Agenda und ihrer quasi-universalen Mitgliedschaft ist die Charta der Vereinten Nationen das Gefüge der heutigen Staatenwelt, ja, oberhalb aller partikularen Gruppierungen und Systeme die Weltordnung! Manche Balken in diesem Gefüge mögen unter ungünstiger Witterung leiden oder gar morsch sein, Nutzer wie Schutzsuchende mögen Vieles auszusetzen haben – die Charta ist immer noch der Rahmen, der, um Goethe zu paraphrasieren, die Welt im Äußeren zusammenhält. So nimmt es denn auch nicht Wunder, dass der Charta der Status einer Verfassung der Staatengemeinschaft zuzuwachsen scheint.2 Damit wird den Schwierigkeiten, die aus der Interdependenz eines multilateralen Verbundes und aus der Zahl und Interessenvielfalt der Vertragsparteien erwachsen, eine weitere hinzugefügt, der hohe Rang, den dieses völkerrechtliche Vertragswerk vor allen anderen beansprucht (Art. 103).
B. Charta-Änderungen Solche Komplexität mag erklären, warum es in der über 60-jährigen Geschichte der Vereinten Nationen mit beinahe einer Vervierfachung der ursprünglichen 2
Vgl. z.B. Thomas Franck, Is the U.N.Charter a Constitution?, in: Frowein/Scharioth/ Winkelmann/Wolfrum (Hrsg.), Verhandeln für den Frieden, Liber Amicorum Tono Eitel, 94 ff.; ferner Bardo Fassbender, The United Nations Charter as Constitution of the International Community, in: Columbia Journal of Transnational Law 36 (1998), 529 ff. (532-538, 555-561).
Bedeutung und Tragweite der vorgeschlagenen Charta-Änderungen
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Mitgliederzahl zu bislang nicht mehr als drei Charta-Änderungen gekommen ist: Geändert wurde die Zahl der nicht-ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats (mit nachgeholter Anpassung des entsprechenden Quorums für die Einberufung einer Allgemeinen Revisionskonferenz) (einmal) und die Mitgliederzahl des Wirtschafts- und Sozialrats (zweimal), in insgesamt 4 Artikeln, nämlich Art. 23, 27, 61, 109.
I. Vorbereitungen Über eine Reform der Vereinten Nationen wurde schon seit langem geredet, aber offenbar bedurfte es des Schocks der amerikanisch geführten Invasion des Iraks, um diesem Anliegen größere Aufmerksamkeit zu sichern. In einer energischen Rede ging im September 2003 der VN-Generalsekretär Kofi Annan vor der Generalversammlung auf Missstände und Notwendigkeiten ein und kündigte die Einsetzung einer „Hochrangigen Gruppe angesehener Persönlichkeiten“ an, die – auch radikale – Reformen prüfen und vorschlagen solle; er selbst schlug keine konkreten Charta-Änderungen vor.3 Das „High-Level Panel on Threats, Challenges and Change“ legte ein gutes Jahr später seinen Bericht „A More Secure World: Our Shared Responsibility“ vor.4 Auf diesen Bericht und einen weiteren zu den Millennium-Entwicklungszielen5 reagierte der Generalsekretär im März 2005 mit einer eigenen, allgemeiner gehaltenen Beschlussvorlage – „In Larger Freedom. Towards Development, Security and Human Rights for All.“6 Für den Weltgipfel der Staats- und Regierungschefs (13.-16.9.2005), der fünf Jahre nach dem Millenniums-Gipfel (2000) die Fortschritte evaluieren und die Ziele fortschreiben sollte, hat dann schließlich die Generalversammlung unter weitgehender Federführung der USA aus den vorgenannten Dokumenten das „Ergebnisdokument“ destilliert, das unverändert verabschiedet wurde.7 Es enthält 178 nummerierte Paragraphen (Absätze), von denen die letzten drei unter der Überschrift „Charter of the United Nations“ sich über Charta-Änderungen verhalten. Sie werden wir im Folgenden in erster Linie betrachten. Weitere Charta-Änderungen sind von Staatengruppen vorgeschlagen 3 Rede vom 23.9.2003, United Nations General Assembly, 58th Session, 7th Plenary Meeting Dok.A/58 PV. 7, 23.9.2003. 4 Report of December 2, 2004, Dok. A/59/565. 5 Investing in Development. A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals. Report to the UN Secretary General, UNDP (New York 2005). 6 Dok.A/59/2005 vom 21.3.2005. 7 „2005 World Summit Outcome Document“ Dok. A/RES/60/1.
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worden, die sich für eine Erweiterung des Sicherheitsrats einsetzen, also, in zeitlicher Reihenfolge, die bisher sogenannte „G 4“ (Brasilien, Deutschland, Indien, Japan und weitere 23 Staaten),8 43 Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union (Algerien, Angola u.a.)9 sowie Italien, Pakistan und weitere 10 Staaten.10 Schließlich hat eine Staatengruppe um die Schweiz und Tschechien einen Vorschlag nur zu Verfahrensänderungen eingebracht.11 Auch auf diese Vorschläge werde ich kurz eingehen. Die – wenig beneidenswerte – Zuständigkeit für die Ausführung der auf höchstem Niveau beschlossenen Maßnahmen liegt, sofern nicht ein anderes Hauptorgan angesprochen wird, bei der Generalversammlung, bei Charta-Änderungen, wie oben gesagt, unter Mitwirkung der zur Ratifizierung von (noch zu beschließenden) förmlichen Änderungsresolutionen aufgerufenen Mitgliedstaaten. Da die Generalversammlung recht schwerfällig und selber Gegenstand von Reformvorschlägen – unterhalb der Ebene von Charta-Änderungen – ist, scheint nicht selbstverständlich, dass sie die zu ratifizierenden förmlichen Resolutionen überhaupt zustande bringt. Diese Ungewissheit soll uns aber nicht davon abhalten, uns die folgenden Gedanken über unseren Gegenstand zu machen.
II. Der Treuhandrat Der schon erwähnte Endabschnitt „Charter of the United Nations“ des „Ergebnisdokuments“ des Weltgipfels von 2005 beginnt mit Paragraph (Absatz) 176. Dieser lautet: „Considering that the Trusteeship Council no longer meets and has no remaining functions, we should delete Chapter XIII of the Charter and references to the Council in Chapter XII.“
Der Treuhandrat wird zwar in Art. 7 unter die „Hauptorgane“ der Vereinten Nationen gezählt, aber nicht nur wurde er erst ein Jahr nach Gründung der Vereinten Nationen eingesetzt (zuvor mussten zunächst die sog. Treuhandabkommen abgeschlossen werden), sondern, anders als die beiden anderen Räte (Sicherheitsrat und Wirtschafts- und Sozialrat) nimmt er seine Aufgaben „unter der Autorität“ der Generalversammlung, also eines anderen Hauptorgans, wahr (Art. 85, 87). Diese Aufgaben bestanden hauptsächlich darin, den Verwaltungsmächten bei der „Verwaltung und Beaufsichtigung“ der Treuhandgebiete behilflich zu sein (Art. 87 8
Dok. A/59/L.64 vom 6.7.2005. Zum Ausscheiden Japans vgl. unten zu Anm. 22. Dok. A/59/L.67 vom 14.7.2005. 10 Sog. „Uniting for Consensus“-Gruppe, Dok. A/59/L.68 vom 21.7.2005. 11 Dok. A/60/L.49. 9
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i.V.m. Art. 75). Schon für sog. „Strategische Zonen“, die ein ganzes Treuhandgebiet oder auch nur einen Teil desselben umfassen konnten, wanderte die Zuständigkeit von Treuhandrat und Generalversammlung an den Sicherheitsrat (Art. 83). Treuhandgebiete waren der Gegenstand des „Treuhandsystems“, das in Kapitel XII geschaffen wurde. Sie umfassten vornehmlich Gebiete, die den Verlierern der beiden Weltkriege abgenommen und einer Mandats- oder Verwaltungsmacht unterstellt worden waren. Als 1994 das letzte Treuhandgebiet (der pazifische Archipel Palau) in die Unabhängigkeit entlassen wurde, war der Treuhandrat arbeitslos geworden. Er suspendierte daraufhin bis auf weiteres seine Sitzungen. Bemühungen des Generalsekretärs und in der Generalversammlung, den Treuhandrat aufzulösen oder ihm neue Aufgaben zuzuweisen, etwa im Zusammenhang mit dem „Gemeinsamen Erbe der Menschheit“ (vornehmlich auf dem Tiefseeboden) oder dem Umweltschutz, führten nicht zum Ziele.12 Seitdem ist er eine Satzungsleiche. Die „Hochrangige Gruppe“13 hatte da angeknüpft, wo der Generalsekretär Boutros-Ghali sich 1994 vergeblich bemüht hatte – bei der entsprechenden Bereinigung der Charta. Im XX. Kapitel ihres Berichts, ebenfalls überschrieben „The Charter of the United Nations“, rühmte sie den Treuhandrat in ihrem Paragraphen (Absatz) 299 („[…] erfüllte eine wichtige Aufgabe, indem er der Welt half, die Kolonialzeit zu überwinden […]“) und ermahnte bei dieser Gelegenheit die Vereinten Nationen, ([…] sich von jedem Versuch ab(zu)wenden, zu den Einstellungen und Erscheinungsformen des Kolonialismus zurückzukehren.“). Die konkrete Empfehlung lautete: „Kapitel XIII (Der Treuhandrat) sollte gestrichen werden.“ Hier scheint in der „Hochrangigen Gruppe“ der politische Impetus hinsichtlich des überwundenen Kolonialismus etwas die Oberhand über kautelarjuristische Professionalität gewonnen zu haben. Da operiert später das oben zitierte „Ergebnisdokument“ nüchterner. Es gibt ohne begleitende Belobigung oder Ermahnung allein den Grund für die empfohlene Streichung des Kapitels XIII an (Fehlen von Beschäftigung und Aufgaben) und empfiehlt sofort zusammen mit der Streichung des Kapitels XIII auch die entsprechende Bereinigung des vorhergehenden Kapitels XII (Berechtigung von Sicherheitsrat und Generalversammlung, die Unterstützung des Treuhandrates in Anspruch zu nehmen – Art. 83, 85). Auffälligerweise bleibt aber auch im „Ergebnisdokument“ eine weitere Charta-Erwähnung des Treuhandrates unerledigt, nämlich die in Art. 7 erfolgte Einreihung unter die „Hauptorgane der Vereinten Nationen“. Ob es sich hier um ein Versehen oder um 12 Siehe zum Vorstehenden Geiger, Rn. 1 und 2 zu Art. 86 in: Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, A Commentary, 2. Aufl. (2002). 13 Ihr Bericht (vgl. oben Anm. 4) wird auch im Folgenden noch zitiert werden.
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die Absicht handelt, die Geburtsurkunde eines Hauptorgans zu seinem bleibenden Grabstein zu machen, kann ich nicht erkennen. Während die „Hochrangige Gruppe“ verständlicherweise auch im Übrigen nur Empfehlungen gab („sollte“, „sollten“), geht das „Ergebnisdokument“ im gleich folgenden Falle so weit, einen Beschluss mitzuteilen; hinsichtlich des Treuhandrates aber bleibt es ebenfalls nur bei einer Empfehlung. Der Umgang mit Hauptorganen verlangt offenbar Umsicht.
III. Die Feindstaatenklauseln Der schon gerade angesprochene (folgende) Paragraph (Absatz) 177 des Ergebnisdokuments befasst sich mit den Feindstaatenklauseln. Er lautet: „Taking into account the General Assembly Resolution 50/52 and recalling the related discussions conducted in the General Assembly, bearing in mind the profound cause for founding the United Nations, and looking into our common future, we resolve to delete references to ,enemy States in Articles 53, 77, and 107 of the Charter of the United Nations.“
Gleich den vorerwähnten „Treuhandgebieten“ haben auch die „Feindstaaten“ eine grundlegende Wandlung zu geachteten Mitgliedern der Staatengemeinschaft durchgemacht. In der Charta werden die „Feindstaaten“ in den aufgeführten drei Artikeln genannt. Art. 53 Abs. 2 definiert den Feindstaat als „jeden Staat, der während des zweiten Weltkrieges Feind eines Unterzeichners dieser Charta war“. Dies sind, von Zweifelsfällen wie Thailand (wegen Unklarheiten über seinen Kriegseintritt) einmal abgesehen, die drei Achsenmächte Deutschland (ab 1949 BRD und DDR), Italien und Japan sowie die Verbündeten Bulgarien, Finnland, Rumänien und Ungarn. Korea und Österreich zählen wohl eher zu den befreiten Staaten. Die Feindstaatenartikel bezweckten, die Siegermächte in ihrem Verhalten gegenüber den besiegten Staaten von dem Rechtsschutz freizustellen, den letztere aus einschlägigen Chartavorschriften hätten ziehen können, etwa aus dem Gewaltverbot (Art. 2 Abs. 4) oder der Zuständigkeit des Sicherheitsrates für Maßnahmen der Friedenssicherung (z.B. Art. 24, 51 Abs. 1 oder Art. 53 Abs. 1). So sagt Art. 107, dass Maßnahmen gegen einen Feindstaat unter zwei Voraussetzungen „durch diese Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt“ werden; diese Voraussetzungen sind, dass erstens „die hierfür verantwortlichen Regierungen“ die fraglichen Maßnahmen „ergreifen oder genehmigen“ und dies zweitens „als Folge des zweiten Weltkrieges“. Art. 53 Abs. 1 weist die entsprechende Befugnis auch regionalen Einrichtungen zu, sofern sie „gegen die Wiederaufnahme der Angriffspolitik“ eines Feindstaates einschreiten. Art. 77 Abs. 1b) schließlich unterstellt dem oben genannten Treuhandsystem u.a. solche „Hoheitsgebiete, die infolge des
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zweiten Weltkrieges von Feindstaaten abgetrennt werden“, sofern über sie Treuhandabkommen abgeschlossen worden sind. Dies war etwa für die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie verständlicherweise nicht der Fall, aber die Vorschrift stellt klar, dass die Charta „Gebietsabtrennungen“ für möglich hielt. Auch die Übernahme der „Supreme Authority“ in Deutschland durch die Vier Mächte mit ihrer Erklärung vom 5. Juni 194514 war damit in Organen der Vereinten Nationen nicht überprüfbar. Bis heute ist viel darüber gerechtet worden, wie weit der chartafreie Raum reicht, in den die Feindstaatenartikel die besiegten Mächte gestellt haben und wie lange der Ausschluss des Rekurses zu VN-Organen dauern kann.15 Wie schon bemerkt scheint sicher, dass die Feindstaatenartikel keine eigene Rechtsgrundlage für irgendwelche Maßnahmen dargestellt, sondern nur den Beschwerdeweg zu VN-Organen gesperrt haben.16 Von den Siegermächten getroffene Maßnahmen hatten also außerhalb der Charta liegendem Völkerrecht entsprechen müssen, etwa der Haager Landkriegsordnung oder Völkergewohnheitsrecht. Auf die insoweit entstandenen Rechtsfragen braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Einzuräumen ist, dass wegen der deutscherseits verübten Verbrechen deutsche Interessen nicht zur Berücksichtigung einluden. Zudem war für eine lange Zeit die faktische Möglichkeit zu beachtlichen Remonstrationen gar nicht gegeben. Weil hier die Rede von einer Aufhebung der fraglichen Artikel oder Artikelteile sein soll, ist aber die oben gestellte Frage nach der Dauer des Feindstaatenstigmas relevant. Der oben zitierte Absatz 177 des „Ergebnisdokuments“ verweist zunächst auf die Resolution A/RES/50/52; mit ihr hatte die Generalversammlung vor mittlerweile mehr als 10 Jahren (11.12.1995) mit 155 zu 0 Stimmen bei 3 Enthaltungen ohne Diskussion beschlossen, das Charta-Änderungsverfahren wegen der Feindstaatenklauseln gemäß Art. 108 „at its earliest appropriate future session“ in Gang zu setzen. Der Entwurf dieser Resolution war aus dem Charta-Ausschuss an die Generalversammlung gelangt.17 Eine Fußnote zu dem Entwurf lässt den Grund für die seitherige Verzögerung erkennen: Einige Delegationen „stressed that this 14
UNTS Bd. 68, 189 ff. Vgl. z. B. A. Albano-Müller, Die Deutschland-Artikel in der Satzung der Vereinten Nationen, 1967; D. Blumenwitz, Enemy States Clause in the United Nations Charter, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Band I (1992), 90-95. 16 Vgl. neben Blumenwitz, a.a.O., etwa G. Ress/J. Bröhmer, Rn. 38-95 zu Art. 53 in: Simma (Anm. 12) und Ress, Rn. 1 zu Art. 107 in: Simma (Anm. 12). 17 Report of the Special Committee on the Charter of the United Nations and on the Strengthening of the Role of the Organization, GAOR, Fiftieth Session, Suppl. No. 33 (A/50/33), Para. 65. 15
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question could not be taken in isolation, but should be viewed as an integral part of the broad process of reforms of the Charter […]“– ein deutlicher Hinweis auf noch unerledigte eigene Wünsche, wie sie eingangs beschrieben worden sind. Sie werden auch im letzten Präambelabsatz verschämt angesprochen, der in Erinnerung ruft, dass Charta-Änderung ein „complex process“ sei. Diese also seitdem auf Eis liegende Resolution enthält jedoch in ihrer Präambel zwei weitere, in unserem Kontext wichtige Feststellungen: „… Recognizing that, having regard to the substantial changes that have taken place in the world, the ‚enemy State‘ clauses in Articles 53, 77 and 107 of the Charter of the United Nations have become obsolete, Noting that the States to which those clauses were directed are Members of the United Nations and represent a valuable asset in all the endeavours of the Organization, …“.
Demnach hat die Generalversammlung schon damals einstimmig die Feststellung getroffen, dass die „Feindstaatenklauseln“ in den fraglichen Artikeln „obsolete“ geworden seien. Sie bezieht sich dabei, ohne ausdrücklichen Kausalnexus, auf die „substantiellen Veränderungen, die in der Welt stattgefunden haben“. Ich meine, dass die angesprochenen Veränderungen spätestens die im Gefolge der Dismembration der Sowjetunion eingetretenen sind. Aber, wenn man das Jahr 1945 als Kulisse nimmt, dann könnten auch frühere Ereignisse die Feindstaatenqualität beeinflusst haben, für Deutschland etwa 1954 der Beitritt zur NATO (BRD) und dem Warschauer Pakt (DDR), verstärkt durch die Zusicherungen der Sowjetunion im Rahmen des Moskauer Vertrages von 197018 oder der Beitritt der beiden deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen (1973). Aus dem letzteren Anlass indes gaben die Vier Mächte, also das Vereinigte Königreich, Frankreich, USA und Sowjetunion, eine gemeinsame Erklärung ab, wonach „diese Mitgliedschaft die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die entsprechenden diesbezüglichen Viermächte-Vereinbarungen, -Beschlüsse und -Praktiken in keiner Weise berührt“. Hier dürften die Siegermächte auch ihre Freistellung gegenüber Feindstaaten aus den entsprechenden Artikeln im Auge gehabt haben.19 Im vorliegenden Fall mag genügen, dass jedenfalls 1995 155 Staaten, darunter alle Vier Mächte, den Feindstaaten-Status für obsolet gehalten haben. Eine Charta-Änderung sollte insoweit nur die förmliche Anpassung der Charta an einen anerkannten Zustand bringen. Der zweite oben zitierte Absatz trägt dem schon Rechnung, indem der Zweck der Feindstaatenartikel bereits im Präteritum Erwähnung findet: „[…] States to which those clauses were directed […]“. Auffällig ist, dass in dem anschließenden 18 19
Vgl. hierzu B. Zündorf, Die Ostverträge, München 1979, 35 f. Einzelheiten vgl. bei Zündorf, (Anm. 18), 287 ff.
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Kompliment („valuable asset in all the endeavours“) die Friedensliebe, die in der deutschen Diskussion häufig als von den Feindstaaten zu demonstrierende neu erworbene Tugend gehandelt wird, nicht auftaucht. Sie dürfte als durch die Mitgliedschaft hinreichend nachgewiesene Qualifikation (Art. 4) angesehen worden sein und scheint auch seither durch den ohne Sicherheitsratsmandat begonnenen Luftkrieg gegen das frühere Jugoslawien (1999, Deutschland und Italien mit anderen NATO-Staaten)20 oder die gleichfalls nicht durch den Sicherheitsrat autorisierte Invasion des Irak (2003, Italien und Japan mit den USA und anderen Alliierten) nicht verloren gegangen zu sein. Der Umstand, dass die Obsoleszenz ihrer Natur nach ab Eintritt nicht mit Rückwirkung versehen sein kann, wurde im operativen Teil der Resolution von 1995 nur mit drei Wörtern festgehalten, nämlich „[…] to amend the Charter, with prospective effect, by the deletion […]“. Der „Hochrangigen Gruppe“ (2004) schien diese knappe Angabe nicht ausreichend. In ihrem Absatz 298 heißt es, „Die Artikel 53 und 107 (Bezugnahmen auf Feindstaaten) sind überholt“ („outdated“). Dies scheint mir weniger umfassend zu sein als „obsolete“. Solcher Anschein wird bestärkt durch den Vorschlag, nicht die betreffenden Artikel zu streichen, sondern sie zu „ändern“ („should be revised“); dann folgt auch noch eine umständliche Empfehlung für die Revision („revision should be appropriately drafted to avoid retroactively undermining the legal provisions of these articles [...]“) Wie um nicht völlig rückwärtsgewandt dazustehen, folgt dann noch ein eher feuilletonistischer Wunsch: „The Charter should reflect the hopes and aspirations of today, not the fears of 1945.“ Schwer verständlich ist, dass darüber hinaus Artikel 77 Abs.1.b) aus den Regelungen des Treuhandsystems unerwähnt bleibt. Insgesamt hat sich die „Hochrangige Gruppe“ von dem Beschluss der Generalversammlung von 1995, obsolete Artikel bzw. Artikelteile zu streichen, recht weit entfernt. Die Obsoleszenz verliert sich in dem Bemühen um Bestandsgarantien. In den Verhandlungen, die auf dieser Basis zur Abfassung des Ergebnisdokuments im September 2005 geführt wurden, hat sich dieser Trend noch verstärkt. Vor allen Dingen Russland hielt an seinem schon von der Sowjetunion bis zu deren Auflösung verfolgten politischen Ziel fest, den durch den Zweiten Weltkrieg erreichten territorialen und sonstigen Besitzstand immer wieder abzusichern, ja jegliche auch nur denkbare Gefährdung dieses Bestandes aus manchmal unverständlich weit vorgeschobenen Stellungen heraus zu bekämpfen. So verlangte es jetzt in den Verhandlungen der Generalversammlung eine ausdrückliche Anerkennung der Unumkehrbarkeit der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und eine 20 Vgl. hierzu den detailreichen Bericht des ehemaligen Präsidenten der BundesSicherheitsakademie G. Joetze, Der letzte Krieg in Europa? Das Kosovo und die deutsche Politik, Stuttgart/München 2001.
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Beschränkung möglicher Änderungen nur auf die Zukunft. Damit würde schon einmal die Zeit etwa seit der Resolution von 1995 bis zum möglichen Inkrafttreten der Charta-Änderungen unter den Tisch fallen. Die Generalversammlung hat sich auf so weitgehende Forderungen nicht eingelassen, aber in dem endgültigen, oben zitierten Text haben sie als Auslegungshilfen für die Arbeit an der förmlichen Änderungsresolution ihre Spuren hinterlassen: „The profound cause for founding of the United Nations“ ist eine deutliche Anspielung auf die Charta-Präambel und insbesondere deren ersten Satz „[…] fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]“. Auch der folgende Passus: „[…] and looking into our common future […]“ nimmt die „hopes and aspirations“ der „Hochrangigen Gruppe“ ebenso auf wie den russischen Wunsch nach einer Beschränkung auf die Zukunft. Letzteres war ab dem Zeitpunkt des Eintretens der Obsoleszenz, also spätestens seit der Annahme der Resolution aus dem Jahre 1995, schon in dem Begriff „obsolet“ enthalten, aber es fragt sich, was jetzt, 10 Jahre später, noch alles, möglicherweise sogar ausdrücklich, von dieser Obsoleszenz ausgenommen werden soll. Schließlich wird im „Ergebnisdokument“ den drei schon erwähnten Auslegungshilfen („profound cause“, „looking into our future“ und der ersten und wichtigsten, „General Assembly Resolution 50/52“) noch eine vierte und letzte hinzugefügt, nämlich die „related discussions in the General Assembly“. Damit wird der gesamte Diskussionsstand, also auch die russische Position, zum möglichen Gegenstand des noch zu findenden Textes der förmlichen Änderungsresolution. Der Beschluss der versammelten Staats- und Regierungschefs („we resolve“), Erwähnungen der „Feindstaaten“ in den betreffenden Artikeln zu streichen, ist auf diese Weise mit Maßgaben ummantelt worden, die für die noch ausstehende förmliche Streichungsresolution recht komplizierte Verhandlungen erwarten lassen. Was ist zum Beispiel von dem russischen Gesetz zu halten, das noch 1998 Kulturgüter der ehemaligen Feindstaaten, die im Anschluss an den letzten Weltkrieg in das heutige Russland verbracht worden sind, als nunmehr russisches Staatseigentum beansprucht und sich hierfür unter anderem ausdrücklich auf Art. 107 beruft?21 Dabei wird Art. 107 nicht einmal im Hinblick auf die in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsmonaten erfolgte völkerrechtswidrige Verbringung, sondern für den für 1998 reklamierten Eigentumsübergang angeführt. Drei Jahre zuvor hatte Russland noch, wie oben gesagt, zusammen mit 154 anderen Staaten die Feindstaatenklauseln für „obsolet“ erklärt. 21 Hierzu ausführlicher T. Eitel, Beutekunst – die letzten deutschen Kriegsgefangenen, in: K. Dicke u.a. (Hrsg.), Weltinnenrecht, Liber amicorum Jost Delbrück, Berlin 2005, 189 ff, insbes. 196 ff.
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Im Hinblick auf solche, mit großem politischen Einsatz verteidigte Ungereimtheiten stellt sich die Frage, ob der Versuch noch sinnvoll ist, das über der Obsoleszenz aufgetürmte Papiergebirge von dem Mäuslein einer Umformulierung der Feindstaatenartikel zu entbinden. Quieta non movere könnte, je nach dem Gang der New Yorker Verhandlungen, eine bedenkenswerte Alternative sein. Sie würde immer noch gestatten, sich auf die 1995 in der Generalversammlung einstimmig festgestellte Obsoleszenz der einschlägigen Vorschriften zu berufen.
IV. Der Generalstabsausschuss Der hier erörterte Endabschnitt des „Ergebnisdokuments“ „Charter of the United Nations“ schließt mit dem dritten und letzten Paragraphen (Absatz) 178, welcher den „Generalstabsausschuss“ behandelt, der gemäß Art. 47 den Sicherheitsrat „beraten“ und „unterstützen“ soll. Der Absatz 178 hat folgenden Wortlaut: „We request the Security Council to consider the composition, mandate and working methods of the Military Staff Committee.“ Hier wenden sich die Staats- und Regierungschefs ausdrücklich und ausschließlich an den Sicherheitsrat, also ein Hauptorgan, das als solches im Verfahren einer Charta-Änderung keine Rolle spielt: Art. 108 verlangt ja für Charta-Änderungen eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung! Das „Ergebnisdokument“ fasst also nur Änderungen unterhalb des Charta-Textes ins Auge. Der entsprechende Paragraph (Absatz) 300 des Berichts der „Hochrangigen Gruppe“ hatte noch den „Artikel 47 (Generalstabsausschuss) […] ebenso wie alle Bezugnahmen auf dieses Organ in den Artikeln 26, 45 und 46“ streichen wollen. Obwohl mithin jetzt von einer Charta-Änderung nicht mehr die Rede ist, seien hier ein paar Bemerkungen zu möglichen Anpassungen der Praxis angehängt. Gedacht gewesen war der Generalstabsausschuss als ein den Sicherheitsrat in allen militärischen Fragen unterstützendes Organ, insbesondere im Hinblick auf die dem Sicherheitsrat „nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen“ zur Verfügung gestellten Streitkräfte (Art. 43, 47) oder die von den Mitgliedstaaten für ihn „zur Durchführung dringender militärischer Maßnahmen“ bereit gehaltenen „Kontingente ihrer Luftstreitkräfte“ (Art. 45). Es ist jedoch nie zum Abschluss von Sonderabkommen betreffend Streitkräfte oder das Bereithalten von Luftstreitkräften gekommen; der Sicherheitsrat, genauer, seine ständigen Mitglieder haben es vorgezogen, militärische Maßnahmen ad hoc-Koalitionen zu übertragen. Auch „Rüstungsregelung und eine etwaige Abrüstung“ (Art. 47) haben nicht zu einer Zusammenarbeit von (dem gesamten) Sicherheitsrat und Generalstabsausschuss geführt. So ist Letzterer bis heute im Wesentlichen auf regelmäßige Mittagessen
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beschränkt und Gegenstand gutmütiger Scherze geblieben. Er befindet sich, beinahe seit seiner Einrichtung, im Wartestand. Anstatt ihn aufzulösen haben offenbar ständige Mitglieder des Sicherheitsrats, insbesondere die USA, es für richtiger gehalten, ihn durch Umbau fruchtbar zu machen, und sie haben sich mit dieser Auffassung im Ergebnisdokument durchgesetzt. Geändert werden sollen also bei unverändertem Charta-Text seine Zusammensetzung, sein Mandat und seine Arbeitsmethoden. Was die Zusammensetzung angeht, so sind ständige Mitglieder des Ausschusses die Generalstabschefs der fünf ständigen Ratsmitglieder oder deren Vertreter (Art. 47 Abs. 2). Die Vorschrift sieht weiter vor, dass der Ausschuss „ein nicht ständig im Ausschuss vertretenes Mitglied der Vereinten Nationen“ einladen kann, „sich ihm zu assoziieren, wenn die Mitarbeit dieses Mitglieds […] erforderlich ist“. Es ist abzusehen, dass, sollte der Sicherheitsrat die an ihn gerichtete Anregung aufnehmen, künftig neben die Generalstabsoffiziere der fünf ständigen Ratsmitglieder „assoziierte“ Ausschussmitglieder treten, entweder für unbestimmte Zeit oder ad hoc. Hinsichtlich des Mandats könnten erstens die in der Charta dem Sicherheitsrat und seinem Generalstabsausschuss zugewiesenen speziellen Aufgaben der Art. 26 i.V.m. 47 („Errichtung eines Systems der Rüstungsregelung“), 45 („Luftstreitkräfte […] im Rahmen der […] Sonderabkommen“) und 47 („zur Verfügung gestellte Streitkräfte […] und eine etwaige Abrüstung“) aufgenommen werden, die der Generalstabsausschuss bislang nicht, jedenfalls nicht für den Sicherheitsrat in corpore, bearbeitet hat. Alternativ oder zusätzlich könnte auch endlich die allgemeine und umfassende Zuständigkeit wahrgenommen werden, „den Sicherheitsrat in allen Fragen zu beraten und zu unterstützen, die dessen militärische Bedürfnisse zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit […] betreffen“ (Art. 47). All dies würde in der Tat auch eine Änderung der Arbeitsmethoden erfordern, weil diese Aufgaben, zudem mit „assoziierten“ Mitgliedern, sich nicht ausschließlich am Mittagstisch lösen lassen würden. So wenig der Generalstabsausschuss in seiner bisherigen Verfassung die Aufmerksamkeit der großen Zahl der VN-Mitgliedstaaten auf sich gezogen hat, so sehr könnte diese Nichtbeachtung sich in ihr Gegenteil verkehren, wenn der Ausschuss wirklich aktiviert, näher an den Sicherheitsrat angeschlossen und vor allem erweitert würde: Für manchen möchte unter solchen Umständen die ständige Assoziierung im Generalstabsausschuss ein willkommener Ersatz für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat selbst sein.
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C. Die Sicherheitsratserweiterung Damit sind die drei Paragraphen (Absätze) des Ergebnisdokuments, die ChartaÄnderungen vorsehen (176, 177) oder umgehen (178), abgehandelt. Die „Hochrangige Gruppe“ hatte aber noch in einem weiteren Paragraphen (Abs. 297), und zwar am Anfang ihres Charta-Kapitels, festgestellt: „Unsere Empfehlungen zur Reform des Sicherheitsrats werden die Änderung des Artikels 23 der Charta der Vereinten Nationen erfordern.“ Artikel 23 nennt namentlich die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates sowie die Gesamtzahl der Mitglieder und müsste um die Namen von neuen Ständigen ergänzt oder in der Gesamtzahl korrigiert werden. Das Ergebnisdokoment schweigt sich über eine Reform des Sicherheitsrates, die zu einer Charta-Änderung führen müsste, völlig aus, nicht, weil die Mehrheit mit dem jetzigen Sicherheitsrat zufrieden wäre – das Gegenteil dürfte der Fall sein – sondern weil keine Einigkeit unter den Mitgliedstaaten, insbesondere den oben erwähnten Staatengruppen mit eigenen Resolutionsentwürfen, zu erzielen war. Die erste Staatengruppe, deren Kern die sog. „G 4“ bestehend aus Deutschland, Indien, Japan und Brasilien war, ging gemeinsam davon aus, dass der Sicherheitsrat von den Ständigen Mitgliedern dirigiert wird und die Nicht-Ständigen einen vergleichsweise geringen Einfluss haben. Sie hielten es daher für nötig, dass etwa vier Staaten des Südens, also aus den Regionen der Dritten Welt, in denen der Sicherheitsrat sozusagen ausschließlich operiert,22 Sitze auf der Ständigen-Bank erhalten. Sie glaubten, dass nur so die Legitimität und Autorität des Sicherheitsrates wiederhergestellt und gesichert werden könne. Nur, wenn die Dritte Welt in dieser Form berücksichtigt würde, würden Staaten wie Deutschland und Japan, die zwar nicht zur Dritten Welt gehören, aber 1945 ebenfalls noch nicht vertreten waren und seither ihre erheblichen Beiträge jeglicher Art für die Arbeit des Sicherheitsrates und der Vereinten Nationen überhaupt leisten, ihren Hut in den Ring geworfen und für die beiden Sitze kandidiert haben, welche dies gemäß dem Bericht der „Hochrangigen Gruppe“ gestatten. Das Gleiche könnte dann jeder andere Mitgliedstaat tun, allerdings sind Deutschland und Japan bislang die einzigen erklärten Kandidaten, die nicht aus der Dritten Welt kommen. Der deutsche und der japanische ständige Sitz würden also von den entsprechenden Drittweltsitzen abgehangen haben, sie wären insoweit akzessorisch. Sollte eine solche Charta-Änderung in der Generalversammlung förmlich beschlossen worden sein, so bestand die Hoffnung, dass auch diejenigen der fünf Ständigen Mitglieder, die sie, wie die USA, energisch bekämpft hatten, sich auf Dauer nicht gegen die 22
Die einzige Ausnahme ist das ehemalige Jugoslawien.
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überwältigende Mehrheit der VN-Mitgliedstaaten stellen, sondern auch ihrerseits die beschlossenen Änderungen ratifizieren und damit in Kraft setzen würden. Dieses Szenario hat sich nun im Januar 2006 insoweit verändert, als sich Japan, in dem Verbund immer schon etwas zögerlicher als die drei anderen G 4-Mitglieder und seine Ambitionen vornehmlich in bilateralen Verhandlungen mit den USA verfolgend, aus dem engeren G 4 -Kreis verabschiedet hat: Es hat sich nicht mehr an der notwendigen neuerlichen Einbringung, in der 60. Generalversammlung, des G 4-Resolutionsentwurfs beteiligt, der ja erstmals im Juli 2005 in der 59. Generalversammlung, eingebracht worden war.23 Während Deutschland an der dargestellten Akzessorietät festhält, mag Japan das heute anders sehen und Hoffnungen nähren, es mit amerikanischer Hilfe eher im Alleingang zu schaffen. Immerhin hatten sich die USA zuvor für eine Erweiterung der Ständigen-Bank des Sicherheitsrates um Japan und einen Drittweltstaat ausgesprochen. Die Interessen der – bisher ohnehin uneinigen – Dritten Welt würden dann großenteils auf der Strecke bleiben. In dem Resolutionsentwurf der nunmehrigen G 3 wird nach wie vor u.a. die Erweiterung des Sicherheitsrates um 6 Ständige (je 2 für Afrika und Asien – davon möglicherweise 1 für ein islamisches Land, 1 für Lateinamerika einschließlich Karibik und 1 weiterer für Westeuropa einschließlich der zur gleichen Gruppe gehörenden anderen Staaten) sowie um 4 Nicht-Ständige Mitglieder (je 1 für Afrika, Asien, Osteuropa und Lateinamerika einschließlich Karibik) vorgesehen. Außerdem soll nach 15 Jahren eine Überprüfung der durch Wahlen erreichten Sitzverteilung und des vorläufigen Verzichts der neuen Ständigen auf die Ausübung des Vetorechts stattfinden. Die für diese und weitere prozedurale Neuerungen erforderlichen Charta-Änderungen werden in dem Resolutionsentwurf noch nicht ausformuliert, sondern einer förmlichen Änderungsresolution überlassen. Die zweite Staatengruppe, die aus 43 afrikanischen Staaten besteht, will in ihrem Resolutionsentwurf24 ebenso wie die vorige Staatengruppe die Dritte Welt auf die Ständigen-Bank bringen, aber sie geht noch weiter: Sie will u.a. nicht für die ersten 15 Jahre auf die Ausübung des Vetorechts durch die neuen Ständigen verzichten, ferner für Afrika nicht einen, sondern zwei zusätzliche Nicht-Ständige Sitze haben und schließlich auch keine Überprüfung nach 15 Jahren. Sie lehnt also, jedenfalls bis zum heutigen Tag, die Kompromisse ab, zu welchen die G 423
Vgl. oben Anm. 8; der am 5. Januar 2006 von den verbliebenen G 4-Mitgliedern Brasilien, Deutschland und Indien bis auf einen ausgelassenen prozeduralen Präambelsatz wortgleich wieder eingebrachte Resolutionsentwurf trägt die Dokumentennummer A/60/ L.46. 24 Vgl. oben Anm. 9; der Entwurf vom 14. 12. 2005 trägt nunmehr die Dokumentennummer A/60/L.41.
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Gruppe nach schwierigen Verhandlungen sich bereit gefunden hatte. Wieder einmal ist hier das Bessere der Feind des Guten! Auch die afrikanische Gruppe hat durch die Staaten Ghana, Nigeria, Senegal und Südafrika ihren Resolutionsentwurf aus der 59. Generalversammlung, ebenfalls unter Auslassung eines prozeduralen Präambelabsatzes, in der 60. Generalversammlung wortgleich wieder einbringen lassen. Die dritte Gruppe endlich, deren Kern Italien und Pakistan bilden, hat unter ihren Mitgliedern Staaten, die sich nicht trauen, selbst für einen Ständigen Sitz zu kandidieren, einen solchen aber auch keinesfalls anderen Staaten zukommen lassen möchten, insbesondere nicht solchen, mit denen sie sich in einem Konkurrenzverhältnis empfinden. Anders als die beiden ersten Gruppen lehnt diese Staatengruppe neue Ständige Sitze, auch für die Dritte Welt, grundsätzlich ab. Sie ist wohl deshalb die kleinste, was ihrem selbstgegebenen Namen „Uniting for Consensus“ eine gewisse Dringlichkeit verleiht. Dafür forderte sie in ihrem Resolutionsentwurf25 10 neue Nicht-Ständige Sitze, für jeden Nicht-Ständigen Sitz ließ sie im Einzelfall, wenn die zuständige Regionalgruppe so entscheiden würde, unmittelbare Wiederwahl zu. Ihr Entwurf sah als einziger der drei die entsprechenden Charta-Änderungen ausformuliert vor; er ist allerdings bislang noch nicht wieder eingebracht worden und damit vorläufig noch nicht wieder auf dem Tisch. Schließlich ist von einer weiteren Staatengruppe, die aus der Schweiz, Costa Rica, Jordanien, Liechtenstein und Singapur besteht (sog. S – für small – 5), der Entwurf einer Resolution26 eingebracht worden. Dieser Entwurf befasst sich nicht mit einer Erweiterung des Rates sondern nur mit einer Verbesserung seiner Arbeitsmethoden. Insofern steht er, wenn auch allein durch Auslassung, gegen den G 3- und den (noch nicht wieder eingebrachten) „Uniting for Consensus“-Entwurf, die ja auch ihrerseits Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsmethoden enthalten, wie auch gegen die Ständigen Mitglieder, die an die Arbeitsmethoden nicht rühren lassen wollen. Insbesondere eine Regulierung des bisher in Nicht-Verfahrensfragen völlig freien Vetos wird von ihnen, unter energischem Vorantritt der USA, abgelehnt. Damit bieten die Bemühungen um eine Sicherheitsratsreform, in erster Linie um seine Erweiterung, ein recht trauriges Bild. Der Gegenstand ist seit einem Dutzend Jahren so durchgehechelt worden wie selten eine die Staaten beschäftigende Frage. Aber kein Staat findet allein oder mit anderen Staaten den Mut, einen Vorschlag zur Abstimmung zu stellen. Es ist so, als wenn in einer Fußballmannschaft aus Furcht vor einem Versagen keiner den befreienden Schuss auf das Tor 25 26
Vgl. oben Anm. 10. Vgl. oben Anm. 11.
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Tono Eitel
wagt und der Ball immer nur gedribbelt, zugespielt, verloren und zurückgewonnen wird. Wer die Vereinten Nationen von diesem Thema für die nächste Generation durch Herbeiführung einer Entscheidung befreit, würde, auch wenn sie zu seinen Ungunsten ausfällt, meines Erachtens mehr Sympathie und Achtung gewinnen als derjenige, der aus Angst vor dem Fallen stehen bleibt. Allerdings würde in Deutschland ein Misserfolg gerade in dieser Frage mit mehr Häme bedacht werden als in jedem anderen Land. Politik und Medien haben bei uns den nur mäßig Unterrichteten in dem Glauben gelassen, es gehe vornehmlich um eine Aufbesserung der deutschen Position. Dass es, wie oben gesagt, in erster Linie um die Wiederherstellung der Autorität, ja Legitimität, des wichtigsten Organs der weltweiten Friedenswahrung geht, hat man hier von keinem Politiker gehört.
D. Schlussfolgerungen Der vorstehende Überblick über die Behandlung der vom „Ergebnisdokument“ des Weltgipfels und von einzelnen Staatengruppen ins Auge gefassten ChartaÄnderungen lässt solche kaum erwarten, sofern nicht die Änderungswilligen sich zu größerer Kompromissbereitschaft durchringen. Die Ablehnungsfront demgegenüber braucht keine konstruktiven Kompromisse zu schließen; ihr genügt die Zurückhaltung eines Drittels der Stimmen plus einer, also 65 Stimmen, um jegliche Charta-Änderung zu verhindern. Wie stünde es um die Vereinten Nationen, wenn die vom Weltgipfel in seinem „Ergebnisdokument“ beschlossenen Charta-Änderungen nicht zustande kämen? Der Treuhandrat würde nicht bestattet, sondern bliebe eine Satzungsleiche. „To be or not to be“ ist in seinem Fall keine wichtige Frage. Er würde de iure, aber nicht de facto weiter existieren; ein Schaden wäre mit der Fortdauer oder der Beendigung seiner papiernen Existenz nicht verbunden. Nicht so einfach steht es mit den „Feindstaaten“-Klauseln. Zwar sind sie genauso obsolet wie der Treuhandrat; wie oben bemerkt, ist es ihnen sogar von der Generalversammlung attestiert worden. Wenn indessen ihre Streichung mit einem Sinn aufgeladen werden soll, der nicht auf die Beseitigung überholter Zustände, sondern eher auf ihre – wenigstens teilweise – Perpetuierung zielt, dann werden die letzten Dinge schlimmer als die ersten, und die ehemaligen Feindstaaten sollten sich einfach mit dem einstimmigen Obsoleszenz-Verdikt der Generalversammlung begnügen. Was den Generalstabsausschuss angeht, so ist seine Aktivierung und Öffnung sicher hilfreicher als seine Abschaffung. Sollte es jedoch zu seiner Reaktivierung
Bedeutung und Tragweite der vorgeschlagenen Charta-Änderungen
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nicht kommen, dann tut seine Fortexistenz als Lunch-Ausschuss auch niemandem weh. So viel zu den Beschlüssen des Weltgipfels. Demgegenüber haben die von den verschiedenen Staatengruppen ins Auge gefassten Charta-Änderungen im Zusammenhang mit einer Erweiterung des Sicherheitsrates oder auch nur einer Reform seiner Arbeitsweise ein ganz anderes Gewicht. Eine Erweiterung des Rates schon um Drittweltstaaten (eventuell auch um Deutschland und Japan) auf der Ständigen-Bank würde seine Glaubwürdigkeit und Autorität, die beide Schaden genommen haben, ganz beträchtlich stärken. Ohne den afrikanischen Block, der mit 53 Mitgliedern ja allein schon beinahe die Sperrminorität erreicht, ist keine Charta-Änderung möglich. Sollte er auf seinen weitgehenden Forderungen beharren, kann diese Reparatur des Rates nicht gelingen. Ob man dann wenigstens für eine Verbesserung der Arbeitsmethoden eine Mehrheit zustande brächte, bliebe abzuwarten. Eine Reform der Vereinten Nationen, die diesen Namen verdient, ist – werde sie vom Weltgipfel oder von Staatengruppen betrieben – jedenfalls in puncto Friedenssicherung mit Charta-Änderungen verbunden. Lassen sich solche nicht erreichen, dann nimmt zwar auch die Agenda der beteiligten Staaten und Regionen Schaden, vor allem aber wird die allseits beklagte Sklerotisierung der Organisation selbst nicht aufgehalten. In dem Maße, in dem sich die Welt seit 1945 verändert hat und künftig weiter verändert, bleiben ohne eine Anpassung die Charta dem natürlichen Fossilierungsprozess ausgeliefert und die Vereinten Nationen auf dem Weg alles Irdischen.
Autorenverzeichnis Heiko Baumgärtner, M.A., Institut für Politikwissenschaft, Eberhard Karls Universität, Tübingen Thorsten Benner, M.A., MPA (Harvard), Global Public Policy Institute, Berlin Prof. Dr. Oliver Dörr, LL.M. (London), European Legal Studies Institute, Universität Osnabrück Prof. Dr. Tono Eitel, Botschafter a.D., Münster Prof. Dr. Manuel Fröhlich, Institut für Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Sven Bernhard Gareis, Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg Dr. Thomas Helfen, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bonn Prof. Dr. Peter Hilpold, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Dr. Jan C. Irlenkaeuser, Institut für Politische Wissenschaft, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Adolf Kloke-Lesch, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bonn Prof. Dr. Manfred Knapp, Institut für internationale Politik, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, Hamburg Dr. Alfredo Märker, Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Berlin Dipl. Volkswirt Jens Martens, Global Policy Forum Europe, Bonn Christian Much, Leiter des Arbeitsstabes Globale Fragen, Auswärtiges Amt, Berlin Prof. Dr. Volker Rittberger, Institut für Politikwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen Prof. Dr. Beate Rudolf, Fachbereich Rechtswissenschaft, Freie Universität Berlin Mario Sander von Torklus, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Berlin Prof. Dr. Dr. Udo E. Simonis, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) Prof. Dr. Dr. Sabine von Schorlemer, Juristische Fakultät, Zentrum für Internationale Studien, Technische Universität Dresden
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Johannes Varwick, Institut für Politische Wissenschaft, Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel Dr. Ingo Winkelmann, a.u.b. Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Angola, Luanda Prof. Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard), Walther-Schücking Institut für internationales Recht, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel