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German Pages [582] Year 2010
Die Ära Kohl im Gespräch
Die Ära Kohl im G espräch Eine Zwischenbilanz Herausgegeben von Günter Buchstab Hans-Otto Kleinmann Hanns Jürgen Küsters
2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Herausgeber: Günter Buchstab, Dr. phil., bis Februar 2009 Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin. Hans-Otto Kleinmann, Dr. phil., bis 2002 stv. Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin; apl. Professor für Neuere Geschichte (i. R.), Universität zu Köln. Hanns Jürgen Küsters, Dr. rer. pol., Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/ Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin; apl. Professor für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Helmut Kohl, 7. August 1996 Fotograf: Konrad Rufus Müller © Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20592-8
Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS
Inhalt
V
Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
I. WIRTSCHAFTS-
UND
FINANZPOLITIK 1982–1989/90
Günther Schulz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft und der Regierungswechsel 1982. Eine Zäsur in der Wirtschaftspolitik?
3
Gerhard Stoltenberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 „Die wirtschaftliche Gesamtentwicklung war ermutigend ... “. Eine Bilanz der Wirtschafts- und Finanzpolitik 1982–1990 Werner Zohlnhöfer und Reimut Zohlnhöfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl 1982–1989/90. Eine Wende im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft?
II. DIE MEDIENPOLITIK
DER
1980ER JAHRE
Jürgen Wilke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Einführung Bernhard Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Der Kampf um die neue Medienordnung. Initiativen und Innovationen Christian Schwarz-Schilling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten. Eine Bilanz Klaus von Dohnanyi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Es geht darum, realistische Formen des Konsenses zu finden, auch über Parteigrenzen hinweg Peter Schiwy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Aus der Defensive zum Erfolg. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten im Spiegel des medienpolitischen Wandels Claus Detjen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Das Schwanken der Zeitungsverleger: Zwischen Ablehnung und Engagement
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VI
Inhalt
Beate Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Die Wende auf dem Medienmarkt
III. VON
DER
„EUROSKLEROSE“
ZUM
MAASTRICHTER VERTRAG
Werner Link . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Einführung Andreas Wirsching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Stationen auf dem Weg nach Maastricht Ulrich Lappenküper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die deutsche Europapolitik zwischen der „Genscher-ColomboInitiative“ und der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1981–1986) Hanns Jürgen Küsters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Deutsch-französische Europapolitik in der Phase der Wiedervereinigung
IV. DIE FAMILIEN-, FRAUEN-
UND JUGENDPOLITIK
Hans Günter Hockerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Einführung Walter Hornstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 „Unser Staat braucht die zupackende Mitarbeit der jungen Generation“. Programm und Praxis der Jugendpolitik im Zeichen der „geistigmoralischen Wende“ und der deutschen Einigung Ursula Münch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Gebremste Innovationen und demographische Zwänge – Familien- und Frauenpolitik auf der Suche nach der Balance von Familien- und Erwerbsarbeit
V. KULTURPOLITIK Günter Buchstab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Einführung
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Inhalt
VII
Norbert Lammert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Die Kulturpolitik nach 1982 Anton Pfeifer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Die Kulturpolitik der Bundesregierung unter Helmut Kohl im Zeichen der deutschen und europäischen Einigung Oscar Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Kulturpolitische Schwerpunkte in den 1980er Jahren Matthias Theodor Vogt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Kulturpolitik der Ära Kohl aus Sicht der Wissenschaft
VI. UMWELTPOLITIK Günter Buchstab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Einführung Helmut Weidner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Ein neues Politikfeld – Eine Bilanz aus Sicht der Wissenschaft Gerhard Voss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie Klaus W. Lippold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Im Machtdreieck von Partei, CDU/CSU-Fraktion und Regierung Helmut Röscheisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Die Umweltpolitik 1982–1998 aus der Sicht der Umweltverbände
VII. TRANSATLANTISCHE BEZIEHUNGEN Hans-Peter Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Einführung Andreas Wirsching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Die Beziehungen zu den USA im Kontext der deutschen Außenpolitik 1982–1998
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VIII
Inhalt
Klaus Larres. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls Stefan Fröhlich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Die USA-Politik aus amerikanischer Perspektive in der Ära Kohl Gisela Müller-Brandeck-Bocquet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Wie halten wir es mit Amerika? Die transatlantischen Beziehungen, die Konstruktion Europas und die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Ära Kohl
VIII. DIE SOZIALPOLITIK
VOR UND NACH DER
WIEDERVEREINIGUNG
Hans Günter Hockerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Einführung Manfred G. Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Sozialpolitik 1982–1989 Gerhard A. Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Sozialpolitik im Prozess der Wiedervereinigung
IX. DIE DEUTSCHLANDPOLITIK
VON
1982
BIS
1990
Günter Buchstab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Einführung Andreas Rödder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Die deutsche Frage vor dem Einigungsvertrag: Parteien, Intellektuelle, Massenmedien in der Bundesrepublik Manuela Glaab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Der Honecker-Besuch in der öffentlichen Meinung Michael Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Die Bildung der Allianz für Deutschland Hanns Jürgen Küsters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Die vertragliche Gestaltung der deutschen Einheit
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Inhalt
IX
Dorothee Wilms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Bemerkungen zu Arbeitsschwerpunkten des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen
X. REFORMIMPULSE
IN DEN
1990ER JAHREN
Hans-Peter Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Reformimpulse in den neunziger Jahren oder: Der Reformer Helmut Kohl. Beobachtungen und Fragen
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
MITARBEITER
DES
BANDES . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
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Vorwort
XI
Vorwort Als Helmut Kohl nach 16-jähriger Amtszeit bei den Bundestagswahlen 1998 erneut für die Kanzlerschaft kandidierte, waren die Zweifel groß, ob er es noch einmal schaffen würde. Schon 1994 war das Wahlergebnis für die von ihm geführte Koalition von CDU, CSU und FDP denkbar knapp ausgefallen, und verschiedentlich hatte er Überlegungen über einen Rückzug angestellt. Am 9. Oktober 1994 etwa erklärte er, nicht „über 1998 hinaus erneut für das Amt des Bundeskanzlers zu kandidieren“. Unmittelbar nach dem Leipziger CDUParteitag Mitte Oktober 1997 rief er – für viele völlig überraschend – Wolfgang Schäuble zu seinem Nachfolger aus. Tatsächlich waren die Aussichten, erneut einen Wahlsieg der Unionsparteien zu garantieren, als mäßig zu betrachten. Verluste bei den Landtagswahlen – zuletzt bei den Wahlen zum Landtag in Sachsen-Anhalt –, schlechte Umfragedaten und ein insgesamt eher bescheidenes Erscheinungsbild der Regierung führten nicht nur zu Unruhe in der Partei und der CDU/CSU-Fraktion. Auch beim Koalitionspartner FDP wurde öffentlich über die „Nach-Kohl-Ära“ nachgedacht. In der Bevölkerung war auch die Stimmung verbreitet, „sechzehn Jahre Kohl sind genug“. Nicht zuletzt mehrte sich in der verfassten öffentlichen Meinung – kräftig unterstützt von den Oppositionsparteien – die Rede von Stillstand, ja gar von Rückschritt in der Ära Kohl. „Reformstau“ war das „Wort des Jahres“ 1997. Ähnlich hatte zunächst auch das Urteil über die Ära Adenauer gelautet. Es dauerte viele Jahre, bis das Verdikt von gesellschaftlicher Restauration und kurzsichtiger Außenpolitik, die angeblich „den westlichen Interessen allzu nachgiebig und von reaktionären Kräften des Großkapitals diktiert“ gewesen sei (Hans-Peter Schwarz), aufgebrochen und der Gründungskanzler der Bundesrepublik als großer innen- und außenpolitischer Neuerer angemessen gewürdigt wurde. Ein vergleichbares Schicksal deutete sich nach der verlorenen Bundestagswahl von 1998 auch für den „Kanzler der Einheit“ und seine lange Amtszeit an. Die Kritiker der Kohl-Regierungen sahen sich durch die berühmte „RuckRede“ von Bundespräsident Roman Herzog im Jahr 1997 bestätigt, in der dieser forderte, tatsächliche oder vermeintliche Blockaden in den Gesetzgebungsverfahren, in Bundestag oder Bundesrat, in Wirtschaft und Gesellschaft aufzubrechen und verlorene Dynamik wiederzugewinnen. Der Eindruck des Immobilismus in der Endphase der Regierung Kohl wurde auf die gesamte Amtszeit übertragen. Wie in einer ersten „Bilanz“ festgestellt wurde, sei schwer auszumachen, was die Ära Kohl eigentlich geprägt habe (Göttrik Wewer). Der erste Staatsminister für Kultur und Medien, Michael Naumann, verstieg sich vor seinem Amtsantritt 1998 gar zu dem vernichtenden Urteil, die Bundesrepublik sei in der Regierungszeit Kohls eine „kulturpoliti-
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XII
Vorwort
sche Sahelzone“ gewesen, in der „jahrelang eine phantasiefeindliche, innovationsfeindliche Politik gemacht worden“ wäre. Selbst die Wiedervereinigungspolitik Kohls wurde als „Gnade des unerwarteten Umbruchs“ bezeichnet, unter die „externe Dynamik des Prozesses“ gestellt und so ihrer eigenständigen Bedeutung beraubt (Gilbert Ziebura). Das Bundespresseamt der rot-grünen Regierung vertrieb im Jahr 2000 eine Broschüre „Zehn Jahre vereint“, in deren 100 Seiten kein Foto Kohls erscheint und sein Name nur ein einziges Mal in dem Satz vorkommt: „Mit Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl verlässt eine Generation die politische Bühne, deren Biografien von Krieg und Nachkriegsära geprägt sind.“ Auch das Auswärtige Amt retuschierte im Internet die Leistungen der Kohl-Regierungen weg. „Helmut Kohl? Den gab’s nicht“ titelte dazu ein Journalist in einer überregionalen Tageszeitung Anfang November 2000. Immerhin konzedierte Helmut Schmidt, Vorgänger im Amt des Bundeskanzlers und durchaus in kritischer Distanz zu seinem Nachfolger, Helmut Kohl habe in den Vereinigungsjahren „Großes vollbracht“; die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Europa und auch im weiteren internationalen Zusammenhang politisch abgesichert zu haben, bleibe Kohls Leistung. Man kann den feststellbaren Gedächtnisschwund sicherlich dem herrschenden Zeitgeist und der von ihm erzeugten politischen Stimmungslage anlasten, die in der veröffentlichten Meinung gepflegt wird. Man kann aber ebenso von „Geschichtspolitik“ sprechen, d. h. von zielbewusster Geschichtsdeutung zu dem Zweck, durch Schweigen, Negation und Tilgung das eigene Bild in der tagespolitischen Aktualität positiver erscheinen zu lassen. Man kann von gestaltetem Erinnern durch Ausblendung, von gezielter Demontage, ja sogar von Geschichtsfälschung sprechen, wie sie in extremer Form nur nicht-demokratische Regime kennen. Man denke nur an das berühmte Bild des agitierenden Lenins, auf dem je nach politischer Opportunität Trotzki mal erscheint oder mal wegretuschiert worden ist. In einem pluralistisch-demokratischen Staat ist eine derartige willkürliche Geschichtsgestaltung nicht möglich, aber Versuche der Beeinflussung, Lenkung und Klitterung gibt es auch hier immer wieder. Dies war der Grund, im Jahr 2000 die Tagungsreihe „Die Ära Kohl im Gespräch“ ins Leben zu rufen, die sich mit den Regierungsjahren 1982 bis 1998 befasst. Zu einer vorurteilslosen Würdigung der Ära Kohl bedarf es des Vergleichs mit früheren Regierungen, insbesondere mit der vorausgegangenen SPD/FDP-Koalition, aber auch der 1998 folgenden rot-grünen Regierung. Die Frage ist, ob Deutschland 1998 besser oder schlechter dastand als 1982, auch im Vergleich zu anderen Staaten. Nicht zuletzt bedarf es des Abgleichs, ob die 1982 formulierten politischen Ziele erreicht oder nicht erreicht worden sind. Für die Zeitgeschichtsforschung bedeutet dies, sich den vielfältigen Politikfeldern dieser Zeit, ihren Bedingungszusammenhängen und Entscheidungssituationen im Detail zuzuwenden.
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Vorwort
XIII
Es ging bei dieser Tagungsreihe nicht darum, Leistungen der „Ära Kohl“ zum Denkmal zu erheben, sie kritischer Analyse zu entziehen oder Fehleinschätzungen und Fehlentwicklungen zu ignorieren. Vielmehr sollten erste Schritte zur Historisierung der Kanzlerschaft Kohls gemacht und Fragestellungen, Sichtweisen und Untersuchungen angeregt werden. Und dabei sollte die Chance genutzt werden, Zeitgenossen und Zeitzeugen mit Wissenschaftlern zusammenzubringen und in die Forschungsarbeit einzubeziehen, um so ein möglichst gesichertes Bild von der Regierungszeit und der Persönlichkeit Helmut Kohls zu gewinnen. Zwar stehen die meisten einschlägigen Quellen wegen der archivischen Sperrfristen noch nicht der historischen Auswertung zur Verfügung. Jedoch haben im Medienzeitalter, in dem fast alles Politische öffentlich wird und in Presse, Rundfunk und Fernsehen Verbreitung findet, schriftliche Zeugnisse längst nicht mehr den exklusiven Stellenwert wie in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten. Insofern kommt den Aussagen und Perspektiven der handelnden Protagonisten auch im fachwissenschaftlichen Dialog ein besonderes Gewicht für die Urteilsbildung zu. Zehn Jahre nach der ersten Tagung „Die Ära Kohl im Gespräch“ werden nun die Ergebnisse der bisherigen Gespräche, die seit 2001 jeweils gesondert in der Zeitschrift „Historisch-Politische Mitteilungen“ (HPM) veröffentlicht worden sind, zur Information, Orientierung und Diskussion in einem Sammelband zusammengefasst. Die Beiträge sind für diesen Band nur geringfügig redigiert worden; die Anmerkungen wurden leicht angeglichen und aktualisiert, geben allerdings den Literatur- und Kenntnisstand des jeweiligen Erscheinungsdatums wieder. Aus diesem Grund sind die Beiträge nach ihrem Erscheinen von 2001 an abgedruckt und nicht thematisch gegliedert und einander zugeordnet. Für weiterführende Literatur sei auf die in HPM 14 (2007) und 15 (2008) erschienenen Literaturberichte zur „Ära Kohl“ verwiesen, die fortgesetzt werden. Den Autoren ist zu danken, dass sie bereitwillig die Erlaubnis zum Nachdruck gegeben haben. Dass es sich hier nur um vorläufige Darstellungen und Interpretationen handelt, zumal bei weitem nicht alle Politikfelder behandelt werden konnten, braucht wohl nicht betont zu werden. Die Beiträge zu kommentieren, zu bewerten und zu diskutieren, sei dem Leser überlassen. Günter Buchstab
Hans-Otto Kleinmann
Hanns Jürgen Küsters
Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS
XIV
Vorwort
Böhlau, Beenken, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK
Die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft und der Regierungswechsel 1982. Eine Zäsur in der Wirtschaftspolitik? Von Günther Schulz Zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Die Auswirkungen des Staatsinterventionismus während der Weimarer Republik und der staatlichen Wirtschaftslenkung in der NS-Zeit ließen die Väter der Sozialen Marktwirtschaft nach ordnungspolitischen Möglichkeiten suchen, um den Vorrang der privatwirtschaftlichen Sphäre vor staatlichen Eingriffen wiederherzustellen. Kern der neuen Ordnung sollte ein leistungsorientierter Wettbewerb sein. Der von freien und selbstverantwortlichen Individuen verfolgte Eigennutz sollte eine wirtschaftliche Dynamik zum allgemeinen Nutzen auslösen und tragen. Doch sollte keineswegs das Laissezfaire-Prinzip gelten, vielmehr wies man dem Staat wichtige Aufgaben zu, die die Rahmenbedingungen sichern und sozialen Ausgleich innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems herstellen sollten. Die beiden wichtigsten Ziele – das der Freiheit und das des sozialen Ausgleichs – stehen in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander, oft gibt es mehrere Möglichkeiten, sie umzusetzen. Bereits Alfred Müller-Armack, einer der „Gründerväter“, hat immer wieder betont, dass die Soziale Marktwirtschaft „kein fertiges System, kein Rezept“ ist, das für alle Zeiten gleich angewendet werden kann, sondern „eine evolutive Ordnung, in der es neben dem festen Grundprinzip, daß sich alles im Rahmen einer freien Ordnung zu vollziehen hat, immer wieder nötig ist, Akzente neu zu setzen gemäß den Anforderungen einer sich wandelnden Zeit“1. Entwicklungslinien in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wurde in einer spezifischen historischen Situation entwickelt und in Funktion gesetzt. Seine Fähigkeit, sich Veränderungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeldes anzu-
1
Alfred MÜLLER-ARMACK, Zur Einführung: Zeitgeschichtliche Notizen, in: DERS., Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte, 2. Aufl. Bern–Stuttgart 1981, S. 11–18, hier S. 15. – Für Unterstützung bei Vorarbeiten für den vorliegenden Beitrag danke ich Herrn Thorsten Beckers.
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Günther Schulz
passen, musste die Zukunft erweisen. Dass im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft das Verhältnis von Markt und Staat sowie von Marktwirtschaft und Sozialpolitik nicht dogmatisch festgelegt war, kam dem Regierungsstil des ersten Kanzlers der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, entgegen. Schon in seiner ersten Regierungserklärung machte Adenauer deutlich, dass die politisch Verantwortlichen bei der Umsetzung der neuen Wirtschaftsordnung „starren Doktrinismus“ vermeiden und „sich den ändernden Verhältnissen anpassen“ sollten.2 Dennoch vermochte die praktische Wirtschaftspolitik, die in den ersten Jahren der Bundesrepublik vor allem mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden war, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, der trotz heftiger politischer Auseinandersetzungen den neuen Leitvorstellungen recht nahe kam. Schon mit dem mutig durchgesetzten Leitsätzegesetz von 1948 und später in den langjährigen Auseinandersetzungen um ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wurde der politische Wille sichtbar, trotz der langen Kartelltradition Deutschlands dem Markt entscheidende Bedeutung zuzumessen. Flankiert von stabilitätsorientierter Geldpolitik der Bank deutscher Länder, von Bemühungen um die Freiheit des Außenhandels und um solide Finanzpolitik versuchte man, die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu bewahren: Soziale Probleme sollten in erster Linie dadurch gelöst bzw. verhindert werden, dass das Wirtschaftswachstum Vorrang vor der Umverteilung erhielt. Eingriffe in den Wirtschaftsprozess erfolgten unter Erhard ohne prinzipielle Starrheit ‚mit leichter Hand‘, wenn und solange dies erforderlich schien. Um seine Vorstellungen durchzusetzen, zog der Bundeswirtschaftsminister Überzeugungsarbeit dem umfassenden Einsatz staatlicher Instrumente vor. Ein Beispiel sind seine berühmten, aber vergeblichen Maßhalteappelle zu Beginn der sechziger Jahre. Trotz des weitgehend unbestrittenen Erfolgs der liberal geprägten Wirtschaftspolitik weisen Kritiker darauf hin, dass bereits unter Erhard in mehreren Bereichen von der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft abgewichen wurde. Besonders die Dynamisierung der Renten leitete ihrer Meinung nach eine allmähliche Lösung der Sozialpolitik aus dem ursprünglichen ordnungspolitischen Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik ein. Sie betrachten die Rentenpolitik als Ausgangspunkt für eine Entwicklung, die unter Vernachlässigung des Prinzips der Subsidiarität dahin führte, „daß die Grenze für den sozialpolitischen Auftrag“ an „die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft“ gebunden wurde. Schon Erhard musste feststellen, „daß mit wachsendem Wohlstand der Anspruch an kollektive Leistungen nicht zurückgehe, sondern immer noch größer werde“. Unbestritten ist, dass die wiedererstarkten organisierten Inte-
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Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949. Stenographische Berichte, Band 1, S. 25.
Böhlau, Beenken, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK
Die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft
5
ressengruppen immer mehr Ansprüche an den Staat stellten und damit immer stärkere Interventionen forderten.3 Bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre kündigte sich mit der von der letzten Adenauer-Regierung initiierten Einrichtung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und mit dem Entwurf eines Stabilitätsgesetzes der Erhard-Regierung an, was die Große Koalition bei der ersten Nachkriegsrezession 1966/67 schließlich in die Tat umsetzte: eine Neuakzentuierung der Wirtschaftspolitik im keynesianischen Sinne. In einem stark veränderten gesellschaftlichen Umfeld, das sich an kräftige Zuwachsraten, steigende Löhne und Vollbeschäftigung gewöhnt hatte, wurden die eher angebotsorientierte Politik der Wiederaufbauphase sowie die bewusste Selbstbeschränkung der öffentlichen Hand aufgegeben und von dem Bestreben abgelöst, den Staat stärker aktiv in die gesamtwirtschaftlichen Abläufe einzubinden. Mit den im Stabilitätsgesetz proklamierten gesamtwirtschaftlichen Zielen – Geldwertstabilität, hoher Beschäftigungsstand, stetiges Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht – wurden dem Staat ehrgeizige Aufgaben gestellt. Deren Lösung versprach sich die Regierung von der „Globalsteuerung“, die vor allem mit Hilfe antizyklischer Steuer-, Finanz- und Geldpolitik den Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung bilden sollte.4 Im Schwung des Wiederaufbaus schien nahezu alles „machbar“ und finanzierbar zu sein. Man traute dem Staat zu, die marktwirtschaftlichen Konjunkturschwankungen zu bändigen und das Individuum in allen Lebenslagen großzügig sozial abzusichern. Doch waren der Anstieg der Produktivität und die Dynamik des Wachstums bereits rückläufig, und gleichzeitig verschärften sich die Verteilungskämpfe zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Die Krise der Jahre 1966/67 wurde weniger dadurch überwunden, dass die aufgelegten Konjunkturprogramme Wirkung gezeigt hätten, sondern dadurch, dass die Exportnachfrage wieder ansprang. Die nachfolgende hochkonjunkturelle Phase wurde von hohen Inflationsraten begleitet. Zudem bereitete die erste Ölpreiskrise 1973/74 große Schwierigkeiten. Nun wurden die Grenzen der Globalsteuerung sichtbar, die – so urteilten zeitgenössische Beobachter – vor dem Hintergrund struktureller Anpassungskrisen eher „hektischem Aktionismus“ 3
4
Kurt H. BIEDENKOPF, Kontinuität und Wandel in vier Jahrzehnten deutscher Wirtschaftspolitik, in: Kontinuität und Wandel in vier Jahrzehnten deutscher Wirtschaftspolitik. Ein Symposion der Ludwig-Erhard-Stiftung Bonn am 16. Januar 1986, Stuttgart–New York 1986, S. 5–19, hier S. 13 (Zitate); Manfred E. STREIT, Die Soziale Marktwirtschaft – Auslauf- oder Exportmodell?, in: Historisch-Politische Mitteilungen. Archiv für ChristlichDemokratische Politik, 4 (1997), S. 239–259, hier S. 242ff. Werner MEISSNER/Rainer MARKL, Der Staat in der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Soziale Marktwirtschaft. Bilanz und Perspektive, Darmstadt (1988), S. 29–48, hier S. 32f.
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als planvoller Wirtschaftspolitik geähnelt habe. Andere hingegen beklagten, seit Beginn der siebziger Jahre seien wichtige Prinzipien des Keynesianismus verletzt worden.5 Jedenfalls hatten die Bemühungen der Wirtschaftspolitik besonders bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nur wenig Erfolg. Im übrigen erhöhten sie das Haushaltsdefizit und schränkten die Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung immer weiter ein. In dieser Krisensituation wirkten sich die im Laufe der Jahre fortschreitend ausgebauten Sozialleistungen und Transferzahlungen, etwa im Renten- und Krankenversicherungswesen, fühlbar schmerzhaft auf die öffentlichen Haushalte und auf die Wirtschaftskraft der Unternehmen aus und bewirkten „in der Summe eine zunehmende Erosion der wirtschaftlichen Basis“6. Die Ausrichtung der Sozialpolitik daran, was die Wirtschaft zu leisten im Stande war, drohte eben diese Leistungsfähigkeit zu lähmen. Wenige Zahlen mögen dies demonstrieren: Von 1970 bis 1980 stiegen die Lohnnebenkosten für gesetzliche und tarifliche Sozialleistungen der Unternehmen von 51 Prozent der Lohnaufwendungen auf 75 Prozent. Die negativen Auswirkungen auf die Investitionsbereitschaft ließen nicht lange auf sich warten. Die Sozialleistungsquote erhöhte sich in den siebziger Jahren um sechs Prozentpunkte, während gleichzeitig die öffentliche Investitionsquote in ähnlichem Umfang abnahm. Im selben Zeitraum stieg die Staatsquote von 39 Prozent auf 51 Prozent. Die Verschuldung des Bundes wuchs allein zwischen 1974 und 1980 von 160 auf 240 Mrd. DM.7 Viele Experten prangerten die strukturellen Probleme – neben der Höhe der Sozialleistungsquote insbesondere die Inflexibilität des Arbeitsrechts, die starke Zunahme der konsumtiven öffentlichen Investitionen, der ständige Inflationsdruck und das dichte Subventionsnetz – spätestens seit Mitte der siebziger Jahre an. Sie sahen die Grenzen der Belastbarkeit erreicht, die sich in Stagnation und Arbeitslosigkeit zeigten. Der Sachverständigenrat machte seit Mitte der siebziger Jahre in seinen Jahresgutachten wiederholt darauf aufmerksam, dass die finanz- und steuerpolitischen Konjunkturmaßnahmen nur geringe Wirkung hatten und empfahl, angebotspolitische Mittel einzusetzen, um
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Gerold AMBROSIUS, Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 7), München 1990, S. 112; Karl SCHILLER, Kontinuität und Wandel in vier Jahrzehnten deutscher Wirtschaftspolitik, in: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 3), S. 21–31, hier S. 28f. Martin GRÜNER, Kontinuität und Wandel in vier Jahrzehnten deutscher Wirtschaftspolitik, in: Kontinuität und Wandel (wie Anm. 3), S. 49–64, hier S. 53. Fritz Ullrich FACK/Peter HORT, Soziale Marktwirtschaft. Stationen einer freiheitlichen Ordnung, Freiburg–Würzburg 1985, S. 54, 68ff.; Norbert KLOTEN, Vom Wirtschaftswunder zum Reformstau, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hg.), Die deutsche Wirtschaftsordnung 50 Jahre nach dem Leitsätzegesetz, Bonn 1999, S. 27.
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die Rentabilität von Investitionen zu steigern und die Lohn-Preis-Spirale zu durchbrechen.8 Die veränderten Realitäten drangen jedoch nur langsam in das Bewusstsein der Bevölkerung und der Mehrzahl der Politiker ein, da die Wirtschaftsdaten der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre im internationalen Vergleich weiterhin gut waren und da während des Konjunkturhochs im Jahre 1980 die Stimmung in der Wirtschaft optimistisch war.9 Die Bundesregierung unter Helmut Schmidt traf punktuelle Entscheidungen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und zur Entlastung der Sozialsysteme, vertraute aber im Grundsatz weiterhin auf die Instrumentarien der Schillerschen Globalsteuerung.10 Nach dem Urteil des Sachverständigenrats aus dem Jahr 1984 führte dieser wirtschaftspolitische Kurs der späten siebziger Jahre zu außenwirtschaftlichem Ungleichgewicht, zum Verfall des Wechselkurses und zu zunehmender Verschlechterung der Staatsfinanzen, während das „herkömmliche Instrumentarium der Beschäftigungspolitik“ versagt habe.11 Erst die erneute Stockungsphase der Jahre 1981/82, die überwiegend außenwirtschaftliche Ursachen hatte, aber von den inländischen Strukturproblemen verschärft wurde, entfachte schließlich eine breite, scharfe Diskussion über die Zukunft der Wirtschaftspolitik, ja der Sozialen Marktwirtschaft selbst. Otto Graf Lambsdorff brachte die wichtigsten Argumente in seinem „Wendepapier“ vom 9. September 1982 auf den Punkt.12 Die Auseinandersetzungen fanden ein vorläufiges Ende mit dem Regierungswechsel 1982. Der Regierungswechsel 1982 und die Wirtschaftspolitik Mit welchen Ansprüchen die neue Koalition antrat, belegen die beiden Regierungserklärungen von Helmut Kohl nach seiner Wahl zum Bundeskanzler im Oktober 1982 und nach der Bundestagswahl im Mai 1983.13 Er bezog sich ausdrücklich auf das Erbe der Adenauerzeit und kündigte eine Neugestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik an, die überzogenen Anforderungen an den Staat und die sozialen Sicherungssysteme ein Ende setzen 8 M. GRÜNER, Kontinuität (wie Anm. 6), S. 57. 9 EBD. S. 63. 10 Dietrich THRÄNHARDT, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1996, S. 210ff. 11 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Chancen für einen langen Aufschwung. Jahresgutachten 1984/85, S. 11. 12 Otto Graf LAMBSDORFF, Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wieder abgedruckt u.a. in DERS., Frische Luft für Bonn. Eine liberale Politik mit mehr Markt als Staat, Stuttgart 1987, S. 64–89. 13 Zu folgenden Ausführungen und Zitaten: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 9. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Band 122, S. 7214–7219, 7225f. und 10. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Band 124, S. 56–62.
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solle. Die Vergangenheit habe deutlich gemacht, dass eine Wirtschaftsordnung umso erfolgreicher sei, je mehr sich der Staat zurückhalte und dem einzelnen Freiheit lasse. Zu lange habe der „Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und [...] alle auf Kosten der nachwachsenden Generationen“ gelebt. Der Staat solle auf den „Kern seiner Aufgaben“ zurückgeführt werden. Ansprüche seien an der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Bürger zu orientieren. Das Prinzip der Subsidiarität sollte also wieder in den Vordergrund rücken. Durch „Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft“ wollte die neue Regierung zur Entfaltung von „Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung“ beitragen. Individuelle Leistung und Verantwortung sollten sich wieder lohnen, und der Kanzler erinnerte daran, dass es erforderlich ist, Gewinne zu erwirtschaften, um Investitionen finanzieren zu können. Die Maßnahmen, mit denen diese Ziele erreicht werden sollten, kündigte Kohl bereits im „Dringlichkeitsprogramm“ der Regierung vom Oktober 1982 an: steuerliche Entlastung der Unternehmen, eine rückzahlbare, unverzinsliche „Investitionshilfeabgabe“, Konsolidierung des Bundeshaushalts, eine „Atempause in der Sozialpolitik“, gekennzeichnet durch Kürzungen in der Rentenund Krankenversicherung, Flexibilisierung des Arbeitsrechts und Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen als Ausgleich für Lohnzurückhaltung. Erste Bewertungen Schon kurze Zeit nach dem Regierungswechsel lobte der Sachverständigenrat die „beeindruckenden“ Erfolge der Stabilisierungspolitik, die nach der Expansionspolitik der späten siebziger Jahre „unausweichlich“ gewesen sei. Geldpolitische Maßnahmen und Haushaltskonsolidierung hätten gemeinsam dazu beigetragen, das „schwere außenwirtschaftliche Ungleichgewicht der frühen achtziger Jahre“ zu überwinden und die „dämpfenden Einflüsse, die sich aus einem rasch fortschreitenden Entzug konjunkturstützender staatlicher Ausgabenimpulse“ ergaben, zu bekämpfen. Zwar betonte der Sachverständigenrat, dass die Bewältigung großer Probleme – wie der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen – noch ausstehe. Er vertraute aber auf die langfristig wirkenden Kräfte der Angebotspolitik, deren Fortsetzung er als vorrangige Aufgabe der Regierungspolitik ansah.14 Aus größerer zeitlicher Distanz fällt das Urteil der meisten Ökonomen über die Umsetzung der angestrebten Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft, gemessen an den zeitgenössischen Erwartungen, zurückhaltender aus. Zweifellos
14 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1984/85 (wie Anm. 11), S. 11, 13, 19ff.
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wandte sich die Wirtschaftspolitik der Angebotsorientierung zu. Doch diese wurde – vor allem, wenn man sie mit den gleichzeitigen Entwicklungen in den USA und in Großbritannien vergleicht – nicht so radikal umgesetzt, dass die überkommenen Strukturprobleme nachhaltig gelöst worden wären.15 Mit Blick auf die Politik der vorangegangenen Regierung urteilen viele Ökonomen, dass in einigen Bereichen, z.B. der Haushaltskonsolidierung, lediglich der bereits unter Helmut Schmidt seit Beginn der achtziger Jahre eingeschlagene Weg weiter beschritten worden sei, allerdings in forciertem Tempo. Zwar sei es gelungen, die Staatsquote bis 1989 wieder auf 45,3 Prozent zu senken, aber das Verhältnis von konsumtiven zu investiven Ausgaben habe sich kaum verändert. Zudem stiegen die Lohnnebenkosten bis 1984 weiter auf 80 Pfennig pro 1 DM Lohn an. Die Maßnahmen zur Steuersenkung blieben vergleichsweise bescheiden und ließen die Steuerquote nur langsam sinken. Auch die Deregulierungen durch das Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 gelten als nicht genügend weitreichend; das nur langsame Absinken der Arbeitslosenzahl scheint dies zu bestätigen.16 Man wird also bezweifeln müssen, ob die beabsichtigte Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und freien, mitverantwortlichen Individuen tatsächlich erreicht wurde. Zohlnhöfer macht besonders zwei Sachverhalte für die mangelnde Durchschlagskraft der Wirtschaftspolitik verantwortlich: erstens den Konflikt zwischen dem Arbeitnehmerflügel von CDU/CSU, der weitreichende angebotspolitische Maßnahmen abbremste, auf der einen Seite, und der F.D.P. sowie dem Wirtschaftsflügel der Union auf der anderen Seite, und zweitens die Interessenkonflikte zwischen der Bundesregierung und den unionsgeführten Ländern. War also die wirtschaftliche Erholung nach der politischen Wende ein vorwiegend psychologisches Phänomen, da die Bürger Sparmaßnahmen und Förderung von Unternehmensgewinnen einer unionsgeführten Regierung eher zutrauten bzw. von dieser Regierung eher hinnahmen? War der Wirtschaftsaufschwung nach 1982 in erster Linie nicht auf die Änderung der Wirtschaftspolitik, sondern vor allem auf die Erholung der Weltwirtschaft zurückzuführen? Welche Bedeutung hatte der Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl in der Wirtschafts- und Finanzpolitik? Dominierten Kontinuitäten, war es ein gleitender Übergang, oder war es ein harter Bruch, eine veritable Zäsur? 15 Reimut ZOHLNHÖFER, Rückzug des Staates auf den Kern seiner Aufgaben? Eine Analyse der Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland seit 1982, in: Manfred G. SCHMIDT (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Politik. Institutionen, politischer Prozess und Leistungsprofil, Opladen 2001, S. 227–261, hier S. 235; Norbert KLOTEN, Vom Wirtschaftswunder zum Reformstau, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hg.), Die deutsche Wirtschaftsordnung 50 Jahre nach dem Leitsätzegesetz (41. Symposium der Ludwig-Erhard-Stiftung), Krefeld 1999, S. 15–41, hier S. 31ff. 16 R. ZOHLNHÖFER, Rückzug (wie Anm. 15), S. 236ff.
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Die Bedeutung historischer Zäsuren „Die menschliche Zeit wird sich immer der unerbittlichen Gleichförmigkeit und der starren Segmentierung der Uhrzeit widersetzen. Sie verlangt Maßeinheiten, die der Veränderlichkeit ihres Rhythmus’ angepasst sind.“ Dieses Zitat aus Marc Blochs Schrift „Apologie der Geschichte. Oder: Der Beruf des Historikers“17 lässt erahnen, wie wichtig historische Zäsuren sind. Es sind Bojen im Fluss der Zeit, die über sich hinaus verweisen auf Veränderungen am Grund des Gewässers, die Grenzlinien anzeigen. Historische Zäsuren sind deutend gesetzte Bojen, zugemessene Orientierungen. Die Historiker haben stets die Bedeutung solcher Wendemarken erkannt. Wenn sie über Periodisierungsfragen diskutieren, dann steht dahinter stets auch die Auseinandersetzung über Deutungen. Mit dem Ende der Nachkriegszeit 1989/90 ist der Zeitraum seit dem Zweiten Weltkrieg plötzlich unübersichtlicher geworden als je zuvor. Dies gilt für die Außengrenzen der Nachkriegszeit ebenso wie für ihre Binnengrenzen. In der Geschichtswissenschaft hat eine umfangreiche Diskussion darüber stattgefunden, wie bedeutend das Jahr 1945 als Epochengrenze war. Im Ergebnis wurde die Bedeutung relativiert, die dem Kriegsende als Zäsur auf einer Reihe von Feldern zukommt, vor allem auf den Feldern der Institutionen, der Mentalitäten und überhaupt der gesellschaftlichen Themen. Stattdessen rücken gegenwärtig die späten fünfziger Jahre in den Blick. Sie gewinnen bedeutend an Gewicht, weil man erkennt, dass sie die Inkubationsphase eines Umbruchs der Generationen, insbesondere der Mentalitäten waren, den man bislang an den Sechzigern festmachen zu können glaubte. Nun findet gewissermaßen die Entmystifizierung der 68er statt, und man erkennt zunehmend, dass sie weniger ein Aufbruch aus eigener Kraft waren, vielmehr Ausdruck von tiefer liegenden, und voraufgegangenen Ursachen. Bis zu den Achtzigern ist diese Diskussion zeitlich noch nicht vorgedrungen. Das hat damit zu tun, dass diese Zeit – gewissermaßen die jüngste Zeitgeschichte – noch so frisch ist, dass wir sie jetzt noch nicht überblicken können. Wir sind zu nahe dran. Zwar schauen wir auf ein Gebirge von Informationen, von Fakten und Details; bei vielen wichtigen Ereignissen können wir tageund stundenweise – mitunter ja sogar minutenweise – sagen, was sich ereignet hat – und zwar für jeden der Akteure, zum Beispiel beim Regierungswechsel 1982. Aber vieles, was den Mitlebenden als Gebirge und Fels erscheint, stellt sich für die Nachlebenden nur als Gesteinsbrocken dar, vielleicht gar nur als Sandkorn. Die Schutzfrist von 30 Jahren, in denen die Archive für den forschenden Historiker noch gesperrt sind, liegt wie ein Glacis vor dem Rand 17 Marc BLOCH, Apologie der Geschichte, oder: Der Beruf des Historikers, zuerst Paris 1949. Hier zitiert nach der Übersetzung der 6. Auflage, München 1985, S. 144.
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der Gräben, aus denen das publizistische Sperrfeuer der politischen Bataillone dringt. Aber auch nach Ablauf der 30 Jahre festigt sich erst allmählich das Bild sine ira et studio. Unser Thema ist die Frage, ob beim Regierungswechsel 1982 von der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt zur christlich-liberalen Koalition unter Kanzler Helmut Kohl ein Paradigmawechsel in der Wirtschaftsund Finanzpolitik stattfand. Dies berührt unmittelbar (auch) die Frage, welches Gewicht der Regierungswechsel 1982 für die Nachkriegsgeschichte überhaupt hatte, ob er ein veritabler Kurswechsel war. 1982 – eine Zäsur in der Wirtschaftspolitik? Die Einschätzung in neueren Darstellungen Über unseren Themenbereich ist viel geschrieben worden. Freilich – die Darstellungen über die Person und die Ära Helmut Kohl18 sind vornehmlich vom Interesse an Personen und an Themen der damaligen Tagesaktualität bestimmt bis hin zum Interesse an Personal- und Machtpolitik und an Affären. Langfristige und konzeptionelle Fragen werden dabei bislang kaum angesprochen. Ich kann doch immerhin ansprechen, wie die Autoren von neueren geschichtswissenschaftlichen, insbesondere wirtschaftshistorischen Darstellungen die Zäsuren sehen. Einigkeit herrscht darüber, dass die Regierung Kohl das Ruder in einer wirtschaftlichen Krisensituation ergriff, nachdem die Regierung Schmidt die Wirtschaft eine zeitlang einem Wechselbad von Investitionsprogrammen und Sparmaßnahmen, von Ausweitung und Konsolidierung des Haushalts ausgesetzt hatte. Keine Einigkeit aber herrscht darüber, welches Jahr als einschneidende, veritable Zäsur anzusetzen ist.19 In neueren Überblicksdarstellungen aus der Feder von Historikern und Politologen wird der Regierungswechsel 1982 in der Regel auch als grundlegende wirtschaftspolitische Weichenstellung angesehen. So überschreibt Manfred Görtemaker die Darstellung des politischen Wechsels 1982 mit „Wende in der Wirtschaftspolitik“ und betont, die wirtschaftspolitischen Erfolge der neuen Regierung seien „beträchtlich“ gewesen.20 Der Politologe Peter Graf Kielmannsegg urteilt, mit dem Wechsel von Schmidt zu Kohl sei „die keynesianische Epoche der deutschen Wirtschaftspolitik [...] definitiv beendet“ gewesen. Er bescheinigt der christlich-liberalen Regierung, 18 Stellvertretend seien genannt Klaus DREHER, Helmut Kohl, Leben mit Macht, Stuttgart 1998; Werner MASER, Helmut Kohl. Der deutsche Kanzler, Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 1993; Werner FILMER/Heribert SCHWAN, Helmut Kohl, Düsseldorf–Wien 1985. 19 Siehe zum Folgenden Harm G. SCHRÖTER, Von der Teilung zur Wiedervereinigung (1945– 2000), in: Michael NORTH (Hg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München 2000, S. 351–420, hier S. 391. 20 Manfred GÖRTEMAKER, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 704f.
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sie habe in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik – nachdem die sozial-liberale Koalition bereits Kurskorrekturen eingeleitet hatte – „deutliche Akzente“ gesetzt, eine neue Politik allerdings nicht „mit wirklicher Konsequenz und Entschlossenheit“ realisieren können oder wollen.21 Manche Ökonomen ziehen die zeitlichen Grenzlinien anders. Bundesbankpräsident Otmar Emminger setzte die wichtigste Zäsur nicht 1982 an, sondern 1973. Er weist auf das Ende von Bretton Woods hin und verankert in diesem Jahr auch das Ende der keynesianischen oder – vielleicht besser – Karl Schillerschen Globalsteuerung, und den Beginn des Übergangs zu einer angebotsorientierten Politik. Ähnlich datieren Werner Polster und Klaus Voy, wenn sie das Jahr 1973 als den Beginn einer neuen Phase sehen, in der wirtschaftliches Wachstum als oberstes Ziel der Wirtschaftspolitik allmählich vom Ziel der Stabilität abgelöst wurde. Bei der Formulierung des Wachstumsziels habe die Politik vor allem die unselbständigen und selbständigen Erwerbstätigen im Blick gehabt, bei der Formulierung des Stabilitätsziels hingegen vornehmlich die Interessen der Vermögens- bzw. Kapitaleigner. Eine Konsolidierung durch Abbau der öffentlichen Verschuldung habe Schmidt schon 1981 eingeleitet.22 Hingegen datieren Hermann Adam und andere Autoren eine ökonomische Wende mit dem Regierungsantritt von Helmut Kohl. Sie stützen dies unter anderem darauf, dass die Lohnquote seit 1983 sank und die Unternehmensgewinne entsprechend stiegen.23 Ähnlich sieht es offenbar der Volkswirt Wolfgang Kitterer. Er gab seiner Darstellung der öffentlichen Finanzen und der Notenbank in der Ära Schmidt die Überschrift: „Hoffnungen und Überforderungen der Geld- und Finanzpolitik“. Das Kapitel über die achtziger Jahre hingegen überschreibt er mit „Konsolidierung und Koordination“.24 Dies zeigt die unterschiedlichen Akzente deutlich an.
21 Peter GRAF KIELMANNSEGG, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 474. – Heinrich August WINKLER geht in seiner voluminösen Darstellung Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung (Der lange Weg nach Westen, Band 2), München 2000, auf die Fiskal- und Wirtschaftspolitik der achtziger Jahre nicht näher ein. 22 Werner POLSTER/Klaus VOY, Von der politischen Regulierung zur Selbstregulierung der Märkte. Die Entwicklung von Wirtschafts- und Ordnungspolitik in der Bundesrepublik, in: Klaus VOY/ Werner POLSTER/Claus THOMASBERGER (Hg.), Marktwirtschaft und politische Regulierung. Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1949–1989), Band 1, Marburg 1991, S. 169–226, hier S. 201–205, 211, 216. 23 Hermann ADAM, Wirtschaftspolitik und Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. 3. Aufl. Opladen 1995, S. 141, 150ff., 189ff. 24 Wolfgang KITTERER, Öffentliche Finanzen und Notenbank, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 199–256, hier S. 222–237.
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Thesen: Kontinuitäten – Neuakzentuierung – Erweiterung und Beschleunigung Im Blick auf diese Befunde sollen hier drei Leitthesen für die weitere Diskussion formuliert werden: 1. Das Jahr 1982 markiert keinen Bruch in dem Sinne, dass das bis dahin geltende Paradigma der Wirtschaftspolitik durch ein gänzlich anderes ersetzt oder abgelöst worden wäre. Die Soziale Marktwirtschaft war weiterhin das Leitbild. Die Ära Kohl wies in der Wirtschafts- und Finanzpolitik mehr Kontinuitäten als Brüche gegenüber der Ära Schmidt auf. 2. Allerdings wurde die Soziale Marktwirtschaft seit 1982 anders akzentuiert als zuvor. Es ist, wie eingangs dargelegt, alles andere als statisch. Johann Eekhoff und Mitarbeiter haben sieben ordnungspolitische Dimensionen bzw. „Bausteine“ benannt, auf bzw. mit denen die Politik flexibel auf die jeweiligen zeitgenössischen Erfordernisse reagieren kann. Dies sind die Steuerung der Wirtschaftstätigkeit über den Preis, die Stabilität des Geldwertes, die Vorherrschaft des Wettbewerbs, die Gewährleistung des Eigentums bzw. von Eigentumsrechten, die Vertragsfreiheit, die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln und die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung.25 Durch Variation dieser Instrumente lassen sich, auch wenn man an dem zu Grunde liegenden Leitbild festhält, erhebliche Kursänderungen durchführen. Und in der Tat: Viele zeitgenössische Beobachter sahen in der Politik Kohls eine Neuakzentuierung, die durchaus das Gewicht einer wirtschaftspolitischen Zäsur hatte. Nun wurde die nachfrageorientierte Politik nachhaltig von der angebotsorientierten Politik abgelöst. Das Schwergewicht der politischen Visionen verlagerte sich von der Staatstätigkeit zur Selbsthilfe, von der – fraglos weiterhin praktizierten – staatlichen Planung zur dezentralen Planung der einzelnen Wirtschaftssubjekte. Trifft die These von der Neuakzentuierung des Leitbildes zu? Wenn ja: Welche Wirkungen hatte die wirtschaftliche Entwicklung dabei, welche die Wertorientierung der Politik? Wir dürfen nicht bei der qualitativen, dogmengeschichtlichen Sicht stehen bleiben, sondern müssen zur quantitativen, empirischen, wirkungsgeschichtlichen Realität vordringen.
25 Johann EEKHOFF/Jochen PIMPERTZ, Ordnungspolitik: ein unbequemer, aber erfolgversprechender Weg, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hg.): Ludwig Erhard 1897–1997. Soziale Marktwirtschaft als historische Weichenstellung. Bewertungen und Ausblicke. Eine Festschrift zum hundertsten Geburtstag von Ludwig Erhard, Düsseldorf 1997, S. 23–50, hier S. 28–33.
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3. Neben die erste These vom Weiterbestehen des sozialmarktwirtschaftlichen Leitbildes und die zweite These von der Neuakzentuierung dieses Leitbildes sei als dritte die These von der Beschleunigung marktwirtschaftlicher Ansätze gestellt. Nicht wenige Ansätze, die in der Ära Schmidt inhaltlich angelegt waren, aber nicht zur Entfaltung gelangten, kamen in der Ära Kohl zum Durchbruch. Als Beispiel sei darauf verwiesen, dass die Regierung Schmidt begann, Einkommen aus Unternehmertätigkeit zu entlasten und Arbeitseinkommen zu belasten. Die Abgabenquote der Selbständigen sank, die der unselbständig Beschäftigten nahm zu. Diese Scherenbewegung setzte schon 1977 ein, ist also nicht allein der Regierung Kohl zuzuschreiben.26 War die wirtschaftspolitische Neuorientierung des Regierungswechsels 1982 weniger ein umfassender Paradigmawechsel als vielmehr eine – und wie stark einschneidende – Erweiterung und Akzeleration lange vorhandener Ansätze und latenter marktwirtschaftlichen Trends?
26 SCHRÖTER, Von der Teilung (wie Anm. 19), S. 402.
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„Die wirtschaftliche Gesamtentwicklung war ermutigend ...“. Eine Bilanz der Wirtschafts- und Finanzpolitik 1982–1990 Von Gerhard Stoltenberg Die letzten Jahre der SPD/FDP-Koalition vor dem Regierungswechsel 1982 waren durch wachsende Spannungen unter dem Vorzeichen der Rezession bestimmt. Die Regierung Schmidt entschloss sich mangels einer ernsthaften Alternative zu einer Reihe unpopulärer Kürzungen sowie Steuer- und Abgabenerhöhungen im Bundeshaushalt. Das verstärkte neben dem Streit über die Nachrüstung vor allem in der SPD die Konflikte. Es löste auch eine breite Debatte über strukturelle Fehlentwicklungen seit den Anfängen der Regierung Brandt 1969 aus. Bis 1975 war die Staatsquote von 39 auf 45 Prozent angestiegen. In den folgenden, wirtschaftlich günstigeren Jahren stabilisierte sie sich, wurde allerdings nicht zurückgeführt. Vor allem die Folgen der Rezession bewirkten dann einen erneuten starken Anstieg auf über 50 Prozent. Die dramatische Steigerung der Ausgaben des Staates und der Sozialversicherung, vor allem in der Regierungszeit Brandt, führte erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik zu einer beunruhigend hohen Staatsverschuldung, die auch in den besseren Jahren nach 1974/75 nur geringfügig zurückging. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich beträchtlich. Wenn auch die weltwirtschaftlichen Erschütterungen, vor allem im Gefolge der OPEC-Preisdiktate hierzu beitrugen, waren weit überzogene innenpolitische Verheißungen und ernste Konflikte, wie die maßlose Lohnrunde des ÖTVVorsitzenden Kluncker in der Konfrontation mit Brandt 1973/74, hierfür mit ursächlich. Dem weit überzogenen Glauben an die Machbarkeit, die Steuerbarkeit wirtschaftlicher und sozialer Prozesse, und der Planungseuphorie folgte um 1980 eine verbreitete Ernüchterung. Das war eine wesentliche Voraussetzung für die Mehrheitsfähigkeit alternativer Konzepte der Union und zunehmend der FDP, die wieder stärker an die Prinzipien und Methoden der Sozialen Marktwirtschaft in der Tradition Ludwig Erhards anknüpften. So gewannen in der CDU/CSU in der nicht immer harmonischen Debatte mit den Vertretern einer weitgehend autonomen Sozialpolitik die Wirtschafts- und Finanzpolitiker an Gewicht. In der FDP manifestierte sich der neue Ansatz am eindeutigsten in dem sogenannten Lambsdorff-Papier, das einen Kurswechsel zu einer konsequenten marktwirtschaftlichen Politik forderte.
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Nach dem Zerbrechen der bisherigen Mehrheit mussten Union und FDP unter großem Zeitdruck die Grundsätze und wichtigsten Ziele einer neuen Koalition vereinbaren. Wir erreichten dies in etwa zehn Tagen. Schon am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. In der Koalitionsvereinbarung vom 29. September und der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 13. Oktober standen die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik im Zentrum des neuen Kurses. Als wesentliche mittelfristige Aufgaben wurden die deutliche Verringerung der strukturellen Defizite in den öffentlichen Haushalten, die Umgestaltung des Steuersystems zur Förderung von Investitionen und Beschäftigung sowie die Verringerung der Gesamtbelastung der Betriebe und Arbeitnehmer hervorgehoben. Dies galt auch als wesentliche Voraussetzung für die Rückführung der überhöhten Staatsquote, die dauerhafte Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft und der Ermutigung zu größerer personaler Verantwortung. So wurden kurzfristig schon für 1983 weitere Einsparungen in den öffentlichen Etats von 8,5 Milliarden DM im einzelnen abgesprochen und durchgesetzt, die Erhöhung der Bezüge von Beamten und Rentnern ab 1983 um sechs Monate verschoben; ein Krankenversicherungsbeitrag der Rentner wurde eingeführt, die Eigenbeteiligung in der Krankenversicherung vorsichtig erweitert. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Prozent schuf Spielraum für die Senkung von direkten Steuern vor allem für den Mittelstand. Eine Auflockerung des starren Mietrechts, u.a. durch die Einführung von Staffelmieten, sollte wieder stärker privates Kapital für den rückläufigen Mietwohnungsbau mobilisieren. Trotz der heftigen Kritik der Opposition und des DGB wurde das Ziel, durch schnelles Handeln Vertrauen bei den Investoren und Verbrauchern zu schaffen, weitgehend erreicht. Dies zeigte der große Erfolg vor allem der Union bei der Bundestagswahl am 6. März 1983 und die im Verlauf dieses Jahres einsetzende wirtschaftliche Belebung mit einem nicht erwarteten realen Wachstum von fast zwei Prozent. Der 1982 eingeschlagene Kurs wurde, wie vor der Wahl angekündigt, in den Koalitionsgesprächen bekräftigt und konkretisiert. Für 1984 bis 1986 vereinbarten wir für die öffentliche Hand und die Sozialversicherung weitere Einsparungen von 38 bis 40 Milliarden DM. Es bewährte sich in diesen Wochen die enge Zusammenarbeit zwischen den hauptbeteiligten Ministern für Finanzen, Wirtschaft und Arbeit besonders. Es wurden schärfere Bedingungen für die Bewilligung von Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten festgelegt, die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitslosen-, Kurzarbeiter- und Schlechtwettergeld für Empfänger ohne Kinder abgesenkt. Es ging hierbei nicht nur um fiskalische Entlastungen, vielmehr sollte das Abstandsgebot zwischen den Einkommen der arbeitenden Menschen und dem Empfänger der Sozialleistungen in vergleichbaren Lebenslagen durch die er-
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wähnten Maßnahmen wieder wirksamer werden. Auch diesmal stimmten der Bundestag und Bundesrat den Regierungsvorlagen zu. Allerdings gab es jetzt bei einzelnen unionsregierten Ländern Vorbehalte zu einigen Punkten. Gravierender war, dass bestimmte Folgeentscheidungen nicht mehr getroffen wurden. So kam es auf Grund des Widerstandes von Sozialpolitikern nicht mehr zu der vereinbarten grundlegenden Reform des Systems der Sozialhilfe. Weiterhin bezogen hier vor allem Eltern mit Kindern höhere Einkommen als Arbeitnehmer der unteren Lohngruppen ebenfalls mit Kindern. So war es auch in manchen Gebieten hoher Arbeitslosigkeit unverändert schwierig, freie Arbeitsplätze zu besetzen. Die Mobilität ließ nach, die Schwarzarbeit nahm deutlich zu. Dies war ein Beispiel, dass nicht selten überzogene soziale Leistungen im Ergebnis zu sozialer Ungerechtigkeit führen. Ab 1983 verbesserten sich die wesentlichen makroökonomischen Daten. 1984 senkte die Bundesbank den Diskontsatz von sieben auf vier Prozent; 1987 ging er auf drei Prozent zurück. Dies führte auch zu einem deutlichen Rückgang der Kapitalmarktzinsen. Die Inflationsrate verringerte sich beträchtlich. 1987 sank sie auf weniger als ein Prozent ab. Durch die Sparbeschlüsse und eine restriktive Ausgabenpolitik konnte das jährliche Wachstum der Bundesausgaben von 1983 bis 1987 auf durchschnittlich zwei Prozent begrenzt werden; gegenüber einer Steigerungsrate unter Brandt von mehr als zehn und bei Schmidt von immer noch fast acht von hundert eine grundlegende qualitative Veränderung. Allerdings überschritten die meisten Länder und Kommunen bald wieder den im Finanzplanungsrat vereinbarten Rahmen für die Entwicklung ihrer Haushalte. Trotz der beträchtlichen Stabilisierungsfortschritte verschärften ab 1984 mehrere Gewerkschaften ihren Kurs. Die Forderung der IG-Metall auf Einführung der 35-Stunden-Woche führte 1984 zu einem siebenwöchigen Streik, der mit einem problematischen Kompromiss endete. Jetzt setzte der Bundeskanzler eine Neufassung von § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes durch, um die Finanzierung der indirekt von punktuellen Streiks betroffenen Arbeitnehmer aus den öffentlichen Kassen der Bundesanstalt auszuschließen. Als Alternative zur Arbeitszeitverkürzung beschloss die Bundesregierung für die nächsten fünf Jahre eine Wahlfreiheit der Arbeitnehmer, mit 58 Lebensjahren und mindestens 65 Prozent der letzten Bezüge in Rente gehen zu können. Folgeregelungen verstärkten später noch die Tendenz zur Frühverrentung, mit erheblichen Mehrbelastungen für die Rentenkassen und schließlich Beitragserhöhungen als Ergebnis. Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz wurden der Abschluss befristeter Arbeitsverträge und die Teilzeitarbeit attraktiver, sehr vorsichtige Auflockerungen eines verkrusteten und bürokratisierten Arbeitsmarktes, die von DGB und SPD erbittert bekämpft wurden. 1984 einigte sich die Koalition auf das Konzept für die erste Stufe einer Neuordnung der Einkommensteuer. Es wurde eine Reduzierung von zunächst
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20, später fast 25 Milliarden DM für 1986 und 1988 eingeplant. Die wichtigsten Punkte waren die starke Anhebung des 1983 wieder eingeführten steuerlichen Kinderfreibetrages und eine durchgehende Verbesserung des Tarifs. Die eigentliche Steuerreform mit Einführung des linear-progressiven Tarifs, einer Absenkung auch der Körperschaftssteuer und einer gleichmäßigeren Besteuerung durch den Abbau zahlreicher Vergünstigungen sollte zu Beginn der nächsten Wahlperiode beschlossen werden. Zusätzlich gab es bei den Abschreibungsbedingungen für Wirtschaftsgebäude beträchtliche Verbesserungen. Das selbstgenutzte Wohnungseigentum wurde steuerlich freigestellt und eine neue differenzierte Ausgestaltung der Kraftfahrzeugsteuer zur beschleunigten Einführung des abgasarmen Autos eingeführt. Unbestritten war die Priorität einer stärkeren Förderung der Familien mit Kindern. Für sie hatte sich die Situation seit Mitte der siebziger Jahre verschlechtert. So verständigten wir uns auf die Einführung eines Erziehungsgeldes von 600 DM monatlich für ein Jahr nach der Geburt eines Kindes und eine generelle Erhöhung des Kindergeldes für Mehrkinderfamilien. Einschließlich der bereits erwähnten beträchtlichen Anhebung der steuerlichen Kinderfreibeträge bedeutete dies eine Verbesserung von zwölf Milliarden DM jährlich. Zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung führte kurz darauf die Forderung des Sozialministers nach einem vom Bund zu finanzierenden Erziehungsjahr im Rentenversicherungsrecht. Blüm bezeichnete die gewünschte Neuregelung als wesentliche Voraussetzung für eine Rentenstrukturreform. Auch wenn sein Ausgangsmodell in den ersten Jahren nur geringe Belastungen gebracht hätte, erhöhten sich diese längerfristig auf einen zweistelligen Milliardenbetrag pro Jahr. Ich plädierte in den Koalitionsgesprächen mit Nachdruck für eine Konzentration der begrenzten Mittel auf die Familien, die unmittelbar für ihre heranwachsenden Kinder erhebliche Aufwendungen zu erbringen hatten, so wie es soeben in der Koalition vereinbart worden war. Aber der Bundeskanzler und die Führung der Fraktion unterstützten den Arbeitsminister. Das Ergebnis war, wie von mir befürchtet, dass in der jetzt ausbrechenden emotionalen Diskussion die Einbeziehung aller älteren Frauen in die Neuregelung gefordert wurde. Hier gaben CDU und CSU schließlich nach, mit erheblichen sofortigen Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt. Nach meiner Überzeugung war dies ein falsches Signal für eine nicht mehr an klaren Prioritäten orientierte expansive Sozialpolitik. Die meisten der 84 direkten und fast 1000 mittelbaren Beteiligungen des Bundes an Industrieunternehmen, Banken und Versicherungen waren seit 1969 dem Bundesfinanzministerium zugeordnet. Eine von mir veranlasste Bestandaufnahme zur Geschäftspolitik und Ertragssituation ergab 1983 ein insgesamt recht unbefriedigendes Bild. In den Jahrzehnten seit 1949 hatte der
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Bund ihnen mehr Kapital aus Haushaltsmitteln zuführen müssen als an Dividenden für ihn anfielen. 1984 begannen wir mit einer konsequenten Privatisierungspolitik. Große Unternehmen, wie die VEBA, VIAG, die Industrieanlagengesellschaft und die Deutsche Pfandbriefanstalt, wurden völlig privatisiert, bei anderen der Anteil der öffentlichen Hand in einem ersten Schritt beträchtlich verringert. Wir wünschten eine breite Streuung, wo immer es möglich war. So gab es bei der VIAG rund 400.000 Ersterwerber. Andere Unternehmen mussten durch Strukturveränderungen und eine neue Geschäftspolitik erst aus den roten Zahlen herausgeführt werden. Ein großer Konzern wie die Salzgitter AG verzeichnete 1982 noch 700 Millionen DM Verlust, 1989 konnte er nach Erreichen der Gewinnzone an die Preussag veräußert werden. Trotz heftiger Proteste, vor allem der SPD und des DGB, erwies sich die Privatisierung betriebswirtschaftlich eindeutig als erfolgreich. Das spiegelte sich in Umsätzen, Gewinnen, Beschäftigungszahlen und Aktienkursen der Folgezeit wieder. Mit der grundlegenden Postreform Anfang der neunziger Jahre und der stürmischen Entwicklung des Telekommunikationsmarktes ergab sich für meinen Nachfolger Theo Waigel ein neuer, sehr großer Spielraum für die Fortsetzung dieser Politik. Die Koalition ging mit einem insgesamt recht positiven Datenkranz in die Auseinandersetzung vor der Bundestagswahl 1987: Anhaltendes, fast inflationsfreies, moderates Wachstum, niedrige Zinsen, 800.000 Arbeitsplätze mehr als 1981, freilich aus den schon genannten Gründen kein nennenswerter Rückgang der Erwerbslosigkeit, Erfolge der Konsolidierungspolitik bei Bund, Ländern und Gemeinden, niedrigere Steuern, zusätzliche Leistungen für die Familien waren die wichtigsten Stichworte. Aber vor den Wahlen kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der CSU und FDP über das Asylund Demonstrationsrecht und schließlich auch über die Entspannungspolitik. Hinzu kam die starke Verunsicherung vieler Menschen durch das Reaktorunglück in Tschernobyl. So erreichte die Union nur noch 44,3 Prozent der Stimmen, 4,3 von Hundert weniger als 1981. Auch die Sozialdemokraten verloren, während die FDP und die GRÜNEN zulegten. In der CDU-Führung gab es erkennbare Unruhe und Spannungen, die sich sofort auf die Koalitionsverhandlungen auswirkten. Als ich im Präsidium mein Konzept zur Steuerreform vortrug, gab es vor allem von den Sozialpolitikern Einwände zur Absenkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer. Ich wollte ihn von 56 auf 50 Prozent zurückführen, bei der Körperschaftssteuer etwas stärker auf 47 von Hundert. Der Bundeskanzler vertagte daraufhin diesen Punkt, was ihm und mir bei den folgenden Gesprächen mit der CSU und FDP zunehmend Schwierigkeiten bereitete. Bald bemächtigte sich die Presse dieses Streitthemas, und nach fast drei Wochen griff Strauß in einem stark beachteten Interview Kohl frontal an. Jetzt lenkte die CDU-Führung ein. Die
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Reduzierung erfolgte nunmehr auf 53 bzw. 50 Prozent, was bei den Wirtschaftsverbänden zu zahlreichen Äußerungen des Unmuts führte. In den meisten anderen Punkten akzeptierten Union und FDP meine Vorschläge. Der linear-progressive Tarif fand Zustimmung, der Satz für die untere Proportionalzone wurde abgesenkt, der Grund- und Kinderfreibetrag weiter erhöht. Das Entlastungsvolumen betrug insgesamt fast 45 Milliarden DM, davon sollten etwas über 20 Milliarden durch den Abbau von Steuervergünstigungen ausgeglichen werden. Allerdings wurden die Einzelentscheidungen hierzu auf den Herbst vertagt. Es war kein guter Start in die neue Wahlperiode. Zwar einigten sich die Fraktionen im Oktober schnell auf die Vorschläge der Bundesregierung. Aber jetzt setzte der Proteststurm der betroffenen Verbände ein. Zum Schluss der Beratungen im Juli 1988 mussten wir den finanzschwachen Ländern noch einen Ausgleich von fast jährlich drei Milliarden DM bewilligen, um die Mehrheit im Bundesrat zu sichern. Während sich das Klima in der Koalition verschlechterte, gewann die wirtschaftliche Dynamik 1988 und 1989 sichtbar an Kraft und positiven Wirkungen. Es wurden ökonomisch die besten Jahre seit zwei Jahrzehnten. Das reale Wachstum betrug 1988 3,7, 1989 4 Prozent. Die Ausrüstungsinvestitionen stiegen preisbereinigt um 7,5 bzw. fast 9 Prozent an. Jetzt nahm auch die Zahl der Arbeitsplätze kräftig zu, bis Ende 1989 gegenüber 1983 um mehr als 1,3 Millionen. Es kam auch zu einer spürbaren Reduzierung der Erwerbslosigkeit. Allerdings bereitet im zweiten Jahr der Anstieg der Lebenshaltungskosten auf 2,8 von Hundert Sorgen. Die Bundesbank erhöhte den Diskont- und Lombardsatz. Die starke Konjunktur führte auch zu unerwartet hohen Steuer- und Sozialabgaben. So ging der Finanzierungssaldo von Bund, Ländern und Kommunen jetzt auf 27 Milliarden DM zurück. Da sich für die Sozialversicherung beträchtliche Überschüsse ergaben, verzeichnete der öffentliche Gesamthaushalt erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder einen Überschuss. Zugleich war das innenpolitische Klima rauer geworden. Nach der Steuerreform standen die Gesundheits- und Rentenreformen auf der Tagesordnung und teilweise im Mittelpunkt heftiger Auseinandersetzungen. Blüms sehr weitreichendes Konzept für eine Entlastung der Krankenversicherung sah Festbeträge für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, gewisse Einschränkungen bei Badekuren und Fahrtkosten und eine punktuelle Erweiterung der Selbstbeteiligung, vor allem bei Zahnersatzleistungen, vor. Er begegnete massivem Widerstand bei den Heilberufen und der Industrie ebenso wie bei den Gewerkschaften. In den ersten drei Jahren kam es zu spürbaren Entlastungen. Aber schon 1992 setzte wieder ein kräftiger Anstieg der Ausgaben und Beiträge ein, der zu neuen Reformdebatten führte. Bei der Rentenreform gelang es Blüm demgegenüber, ein Einvernehmen mit der Opposition zu erreichen. Das hatte politische eindeutige Vorteile. Aber
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es bedeutete auch eine Abschwächung des Ausgangskonzepts der Regierung. Dies sah die eindeutige Orientierung der künftigen Erhöhungen an den Nettolöhnen, eine schrittweise Anhebung der Altersgrenze auf 65 Jahre und einen höheren Bundeszuschuss vor, dessen Anteil an den Ausgaben zuvor zurückgegangen war. Die SPD setzte eine spätere und verhaltenere Erhöhung der Altersgrenze, geringe Anreize für eine längere Lebensarbeitszeit sowie die Einführung einer „Teilrente“ durch. 1989 wurde das Jahr der großen friedlichen Transformation in Europa. Die Auflösung zunächst des Sowjetimperiums, dann der Sowjetunion, der Erfolg der Bürgerbewegungen in den Ländern Mittelost- und Osteuropas schuf die Spielräume, die von Helmut Kohl umsichtig und konsequent für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands genutzt wurden. Dabei wurde bereits in den Wintermonaten 1990/91 immer deutlicher erkennbar, dass die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft zuvor im Westen weit überschätzt worden war und die Kosten der Umstrukturierung, des Aufbaus Ost, gegenüber den ersten Annahmen um ein Vielfaches höher sein würden. Das veränderte die Prioritäten und den Umfang staatlichen Handelns gegenüber den achtziger Jahren grundlegend. Zweifellos hat die Finanz- und Wirtschaftspolitik nach 1982 dazu beigetragen, dass überhaupt die Ressourcen mobilisiert werden konnten, um die neuen gewaltigen Aufgaben zu finanzieren. Allerdings stiegen der zuvor deutlich zurückgegangene Staatsanteil, die ebenfalls rückläufige Steuern- und Abgabenquote wieder kräftig an; hinzu kam eine erheblich höhere Neuverschuldung, vor allem des Bundes, der gemeinsam mit der Sozialversicherung die Hauptlasten trug. Die staatlichen Entscheidungen und die Lohnpolitik nach 1990 im einzelnen zu beurteilen, bleibt einer besonderen Betrachtung vorbehalten. In meiner Schilderung der vorhergehenden Zeit sind bereits einige Bewertungen über Erfolge und Versäumnisse angesprochen worden. Auch im internationalen Vergleich konnte sich die bundesdeutsche Entwicklung durchaus sehen lassen. Der qualitative Vorsprung der USA, was Wachstum, Beschäftigung und Entwicklung der öffentlichen Haushalte anbetrifft, war noch nicht gegeben, auch wenn in der Reagan-Ära wichtige Voraussetzungen hierfür geschaffen wurden. Schwachpunkte der deutschen Finanzpolitik waren fehlende nachhaltige Erfolge beim Abbau von Subventionen sowie der weiter rückläufige Anteil des Gesamtstaates an den Steuereinnahmen auf weniger als 50 von Hundert. In der Wirtschaftspolitik hätte die Deregulierung konsequenter vorangebracht werden können. In der Sozialpolitik nahmen im Laufe der Jahre die Entscheidungen zu, die nicht mehr an Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft orientiert waren. Dazu gehörte vor allem die Missachtung des Abstandsgebotes zwischen den arbeitenden Menschen und den Empfängern von Transferleistungen in vergleichbaren Lebenslagen und die Zurückhaltung gegenüber innovativen Entwicklungen in einigen anderen westlichen Staaten, wie die Er-
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gänzung der traditionellen öffentlichen Rentensysteme durch die Förderung des Aufbaus privater Kapitalbildungen für die Alterssicherung. Dennoch – die wirtschaftliche Gesamtentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland von 1982 bis 1989 war ermutigend, die Verbesserung des makroökonomischen Datenkranzes eindeutig. Es hat sich gelohnt, an den wesentlichen finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen jener Zeit mitzuwirken. 1
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Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl 1982–1989/90. Eine Wende im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft? Von Werner Zohlnhöfer und Reimut Zohlnhöfer Einleitung Wenn Politiker der Opposition eine „Wende“ in Aussicht stellen, schlagen sie damit mehrere Fliegen mit einer Klappe: Zum einen distanzieren sie sich mit dieser Aussage – mindestens implizit – von der Politik der amtierenden Regierung. Zum anderen kündigen sie damit – pauschal, aber griffig – an, dass sie selbst sich neuen Wegen und/oder Zielen zuwenden wollen. Sie versuchen auf diese Weise, die Akzeptanz der amtierenden Regierung durch das Wahlvolk zu reduzieren und die unzufriedenen (Wechsel-)Wähler für sich zu gewinnen. Im Interesse einer möglichst großen Wählerwirksamkeit empfehlen sich dafür vergleichsweise vage und inhaltsoffene Aussagen. Allerdings schlägt früher oder später die Stunde der Wahrheit: Spätestens nach der angestrebten Übernahme der Regierungsverantwortung muss die angekündigte „Wende“ programmatisch konkretisiert und in politische Entscheidungen umgesetzt werden. Erst dann wird der den Wählern in Aussicht gestellte Wechsel eingelöst; denn erst dann wird sich zeigen, inwieweit die mit der „Wende-Rhetorik“ geweckten Erwartungen erfüllt werden. Dieses allgemeine Muster eines Regierungswechsels in Demokratien beschreibt – abgesehen von konkreten Einzelheiten – auch den Übergang von der sozial-liberalen Regierungskoalition unter Helmut Schmidt zur christlichliberalen Koalition Helmut Kohls im Jahr 1982. Deshalb erscheint es zweckmäßig, die hier intendierte Untersuchung an diesem Verlaufsmuster zu orientieren. Entsprechend soll die interessierende Thematik in fünf Schritten behandelt werden. In einem ersten Schritt sollen kurz die wirtschaftspolitischen Probleme und deren Genesis vorgestellt werden, die die Regierung Kohl von ihrer Vorgängerin übernommen hatte; denn nur vor diesem Hintergrund kann die Aufgabe, vor der die neue Regierung stand, und die dann praktizierte Politik angemessen bewertet werden. Die sich anschließenden zwei Schritte sind einer Darstellung der Programmatik und der praktizierten Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl gewidmet. In einem vierten Schritt wird dann eine kritische Beurteilung dieser Politik versucht, wobei als Maßstab das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft dient, auf das die christlich-liberale Koalition selbst immer wieder Bezug genommen hat. Im fünften Teil wird abschließend der Frage nachgegangen, worin die Gründe dafür zu sehen sind, dass eine weit-
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reichende Neuorientierung der Wirtschaftspolitik im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft ausgeblieben ist. 1. Das Erbe der Regierung Schmidt Die Regierung Kohl übernahm 1982 von ihrer Vorgängerin ein Erbe, das ein stabilitätspolitisch wenig erfolgreiches Jahrzehnt widerspiegelte. Es markiert die Zäsur zwischen der Wirtschaftspolitik der 50er und 60er Jahre, die stabilitätspolitisch so erfolgreich war, dass sie weltweite Beachtung fand, und einer Wirtschaftspolitik, die ihre stabilitätspolitischen Ziele zunehmend verfehlte. Stand die Arbeitslosenquote im Jahr 1970 noch bei 0,7%, so sprang sie bis 1982 auf 7,2%. Wie unter diesen Bedingungen nicht anders zu erwarten, sank gleichzeitig die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von gut 5% auf bis 1,1%, während die Inflationsrate von 3,4% auf 5,3% zunahm. Schließlich kam es zu einem starken Anstieg der öffentlichen Verschuldung (von 19,7% des BIP 1969 auf 38,7% des BIP 1982). Wie erklärt sich diese ausgeprägte Fehlentwicklung? Dieser Frage kann hier zwar nicht im einzelnen nachgegangen werden, doch sollen wenigstens die Grundzüge eines Erklärungsversuchs kurz skizziert werden; denn nur eine tragfähige Diagnose ermöglicht einerseits die Ableitung einer zielwirksamen, weil ursachenadäquaten Therapie und andererseits eine fundierte Beurteilung der von der Regierung Kohl verfolgten Wirtschaftspolitik, die auf eine Bewältigung der sie konfrontierenden Probleme gerichtet sein musste. Die beschriebene Fehlentwicklung hatte viele Ursachen. Es erscheint zweckmäßig, zwischen internen und externen Ursachen zu unterscheiden: Während die externen Ursachen als Auswirkungen des weltwirtschaftlichen Geschehens gleichsam als Schock von außen auf eine offene Volkswirtschaft zukommen, sind die internen Ursachen „hausgemacht“, d.h., sie stellen Fehlentscheidungen dar und wären daher durch eine sachgerechte Wirtschaftspolitik zu vermeiden gewesen. Anders ausgedrückt: Externe Ursachen sind als solche durch nationalstaatliche Maßnahmen nicht zu vermeiden oder abzuwehren; sie begründen in den betroffenen Volkswirtschaften stets mehr oder weniger großen Anpassungsbedarf. Aufgabe einzelstaatlicher Wirtschaftspolitik kann es daher nur sein, die möglichst rasche und friktionslose Bewältigung des Anpassungsbedarfs zu ermöglichen oder auch gezielt zu fördern. Dadurch werden freilich sonst vorhandene Entscheidungsspielräume nationaler Wirtschaftspolitik eingeengt. Wird dies nicht erkannt oder missachtet, kommt es nicht nur zu extern bedingten, sondern gleichzeitig zu „hausgemachten“ Fehlentwicklungen: Beide Kategorien von (unerwünschten) Auswirkungen schaukeln sich dann – über eine wirtschaftspolitische Interventionsspirale – wechselseitig hoch und resultieren in einer ausgeprägten Beeinträchtigung der wachstums- und stabilitätspolitischen Ziele (Vollbeschäftigung, Geldwertsta-
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bilität, Haushaltsgleichgewicht). Die die 70er Jahre kennzeichnende Entwicklung des wirtschaftlichen Geschehens und der Wirtschaftspolitik in (West-) Deutschland ist ein geradezu klassisches Beispiel für das beschriebene Szenario. Das zeigt schon ein kurzer Blick auf dieses Jahrzehnt. Deutschland sah sich – z.T. mehr noch als andere Länder – in den 70er Jahren mit gravierenden Herausforderungen konfrontiert. Eine massive DMAufwertung dämpfte nicht nur die Auslandsnachfrage, sondern erhöhte auch den Importdruck und damit die Absatzschwierigkeiten verschiedener (traditioneller) Wirtschaftszweige auf dem Binnen- und auf dem Weltmarkt. Diese Entwicklungen wurden durch die allmähliche Erstarkung einer Reihe von Ländern der Dritten Welt noch verstärkt. Hinzu kamen die beiden Ölpreiserhöhungen, die nicht zufällig bis heute als sogenannte Ölpreisschocks bezeichnet werden, sowie Preissteigerungen anderer Rohstoffe, die zu erheblichen Kostenbelastungen der Unternehmen (und Haushalte!) führten. All diese Entwicklungen steigerten nicht nur den Anpassungsbedarf der Unternehmen (vor allem in Form von Kostensenkungen durch Rationalisierung sowie der Entwicklung neuer Produkte und Verfahren), sie engten auch den verteilungspolitischen Spielraum ganz beträchtlich ein. Angesichts des skizzierten extern bedingten Kosten- und Anpassungsdrucks hätte eine verantwortliche Wirtschaftspolitik die dringend erforderliche Bewältigung des Anpassungsbedarfs dadurch ermöglichen können, dass sie zusätzlichen, intern bedingten Kostensteigerungen vorgebeugt und durch Erweiterung der Entscheidungsspielräume der Unternehmen deren Anpassungsflexibilität erhöht hätte. Die damalige wirtschaftspolitische Praxis folgte jedoch nicht diesem Weg. Vielmehr kam es nach wie vor zu Erhöhungen der Lohn- und Lohnnebenkosten, die zum Teil erheblich über dem (durchschnittlichen) Fortschritt der Arbeitsproduktivität lagen und damit die Lohnstückkosten erhöhten. Gleichzeitig trieben die wachsenden Defizite der öffentlichen Haushalte die Zinsen und damit auch die Kapitalkosten in die Höhe. Da die Geldpolitik – spätestens seit 1977 – eine Überwälzung der ständig steigenden (Stück-)Kosten nicht mehr alimentierte, war es nur eine Frage der Zeit, bis „Unternehmensgewinne und Umsatzrenditen nachhaltig fallende Tendenz aufwiesen“1. Das dämpfte nicht nur die private Investitionstätigkeit insgesamt, sondern führte zusätzlich dazu, dass ein steigender Anteil der sinkenden Gesamtinvestitionen Rationalisierungsinvestitionen waren, so dass kontinuierlich weniger Arbeitsplätze geschaffen wurden als durch Rationalisierung und Unternehmenszusammenbrüche verloren gingen. Hinzu kam, dass durch die bis in die 70er Jahre hinein gesetzlich ausgebaute Regulierung des Arbeitsmarktes (Betriebsverfassungsgesetz von 1972; Mit1
Werner ZOHLNHÖFER, Wachstumsminderung und Wirtschaftsordnung, in: DERS. (Hg.), Wachstumsminderung und soziale Gerechtigkeit, Limburg 1982, S. 77–114.
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bestimmungsgesetz von 1976) und vor allem die (zunehmend) arbeitnehmerfreundliche Rechtsprechung der Arbeitsgerichte zum Kündigungsschutz die so dringend erforderliche Anpassungsflexibilität der Unternehmen stark eingeschränkt wurde.2 Dies führte zu einer Verteuerung von Entlassungen durch Abfindungen, die im Rahmen von Sozialplänen ausgehandelt oder gerichtlich festgelegt wurden, machte die Arbeitskosten in weiten Teilen zu Fixkosten und verringerte dadurch nicht nur die Anpassungsflexibilität der Unternehmen, sondern auch deren Bereitschaft zu Neueinstellungen. Daher haben diese Regulierungen vermutlich wesentlich zu dem (weiteren) sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit zu Beginn der 80er Jahre beigetragen. Dieser knappe Versuch einer Genesis der wirtschaftspolitischen Probleme, die die Regierung Kohl bei Amtsantritt übernahm, verdeutlicht den strukturellen Charakter der Fehlentwicklung(en), die zu korrigieren sie angetreten war. Mit eher kosmetischen Korrekturen, ja selbst mit einer konjunkturellen Belebung der Wirtschaftstätigkeit allein war dieser Problematik nicht beizukommen. Um die wirtschaftlichen Abläufe wieder zielkonform zu gestalten, waren deshalb – vor allem in der Finanz- und Haushaltspolitik, in der Steuerpolitik und in der Rahmensetzung für den Arbeitsmarkt – Korrekturen im Sinne neuer Weichenstellungen erforderlich. 2. Die Programmatik der Regierung Kohl Die CDU betonte in der Opposition stets, dass die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft durch die Politik der sozial-liberalen Regierung zunehmend verletzt worden seien, und forderte daher regelmäßig deren Erneuerung.3 Auch in Helmut Kohls Regierungserklärungen spielte diese Forderung eine wichtige Rolle: „Eine Wirtschaftsordnung ist um so erfolgreicher, je mehr sich der Staat zurückhält und dem einzelnen seine Freiheit läßt. Die Soziale Marktwirtschaft ist wie keine andere Ordnung geeignet, Gleichheit der Chancen, Eigentum, Wohlstand und sozialen Fortschritt zu verwirklichen. Wir wollen nicht mehr Staat, sondern weniger; wir wollen nicht weniger, sondern mehr persönliche Freiheit.“ Sowie: „Wir führen den Staat auf den Kern seiner Aufgaben zurück“4. 2
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Zur Entwicklung der gesetzlichen und tarifvertraglichen Grundlagen sowie der Rechtsprechung zum Kündigungsschutz und zu Sozialplänen vgl. Oliver FINK, Die Bedeutung von Lohnnebenkosten für die Arbeitskosten in Deutschland. Empirische Befunde und wirtschaftspolitische Handlungsempfehlungen (Studien des Forschungsinstituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz, Bd. 61), Mainz 1997, S. 244–263. So beispielsweise mit einem Beschluss des Bundesparteitages 1981 in Hamburg: „Die Soziale Marktwirtschaft erneuern“. Christlich Demokratische Union Deutschlands (Hg.), Mit der Jugend. Unser Land braucht einen neuen Anfang, Protokoll 30. Bundesparteitag 2.– 5. November 1981 Hamburg, Bonn o.J., S. 12. So Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung am 4. Mai 1983, Plenarprotokoll der 10. Wahlperiode, 4. Sitzung, S. 57 und S. 56.
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Helmut Kohl kündigte entsprechend „eine neue Wirtschafts- und eine neue Gesellschaftspolitik“ an, mit der ein „historischer Neuanfang“ 5 gesetzt werden sollte. Konkretisiert wurde diese allgemeine Programmatik in den Regierungserklärungen von 1982 und 1983 vor allem durch die Forderungen nach einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und einer Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Mit der Übernahme der Regierung im Oktober 1982 und dem überwältigenden Erfolg bei der Bundestagswahl 1983 erlangte die CDU die Möglichkeit, ihr Programm auch umzusetzen, ja sie geriet unter den Zwang, die zunächst eher allgemein gehaltenen Forderungen zu konkretisieren. Dieser Zwang verstärkte sich noch durch die im Sommer 1983 immer deutlicher in der Öffentlichkeit artikulierte Enttäuschung darüber, dass die Wende weitgehend ausgeblieben war. Ein neuer Anlauf zu einer umfassenden wirtschaftspolitischen Konzeption sollte daher durch ein vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht erarbeitetes Positionspapier initiiert werden. Albrecht setzte bei einer Analyse der Arbeitslosigkeit an, für deren Hartnäckigkeit er fünf strukturelle Gründe verantwortlich machte: Erstens sei die Entlohnung des investierten Kapitals zu gering, was zu einem Verfall der Eigenkapitalausstattung und einem völlig unzureichenden Investitionsvolumen geführt habe. Zweitens habe die Ökonomie die Fähigkeit verloren, auf Veränderungen flexibel zu reagieren. Dafür machte er u.a. die Verpflichtung zu Sozialplänen, den Kündigungsschutz, die Mitbestimmung und die langwierigen Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren verantwortlich. Drittens sei der Faktor Arbeit zu teuer, was in erster Linie an der Höhe der Lohnnebenkosten liege. Viertens sei das soziale System zu kostspielig und unwirtschaftlich und setze, fünftens, die Anreize falsch, weil es finanziell nicht mehr lohne, besondere Anstrengungen zu erbringen. Daraus ergaben sich für ihn die Forderungen, die Unternehmensbesteuerung „spürbar, also etwa um 20 Prozent“ zu senken und den thesaurierten Gewinn gegenüber dem entnommenen besser zu stellen. Auch die Einkommen- und Lohnsteuertarife sollten reformiert werden – allerdings nur in dem Maße, wie es die finanzielle Konsolidierung erlaubte. Eine Erhöhung der Personen- oder Verbrauchssteuern hielt Albrecht u.U. für notwendig, um die Entlastung bei den Unternehmenssteuern finanzieren zu können. Entscheidend für die Verringerung der Arbeitslosigkeit sei daneben, die Arbeitskosten real zu senken, was in erster Linie über die Lohnnebenkosten zu leisten sei. Dafür sollten erstens die Fehlzeiten verringert, zweitens die Beitragssätze zur Sozialversicherung gesenkt und drittens die Finanzierung des sozialen Netzes geändert werden. Es komme darauf an, den Versicherten ein Eigeninteresse an der sparsa5
Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982, Plenarprotokoll der 9. Wahlperiode, 121. Sitzung, S. 7215 und S. 7216.
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men Verwendung der Gelder zu vermitteln; die Senkung der Beiträge sollte durch eine Mehrwertsteuererhöhung finanziert werden. Daneben forderte er eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die den genannten Rigiditäten Rechnung trüge. In eine ähnliche Richtung wiesen die „persönlichen Denkanstöße“ des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der Unionsfraktion, Haimo George. Auch für ihn lag der Schlüssel zur Erklärung und Verringerung der Arbeitslosigkeit in den Lohn- und Lohnnebenkosten sowie den arbeitsrechtlichen Regelungen, die sich – zum Schutz der Beschäftigten gedacht – als Einstellungshindernis erwiesen hätten. Entsprechend schloss George: „Der Schlüssel für die Lösung der heutigen Probleme liegt in den Kosten – vor allem der Arbeit, damit also im Tarifsystem, das aus der heutigen (Besitzstands-)Erstarrung gelöst werden muß.“ Daher schlug er etwa eine an bestimmte Bedingungen geknüpfte Zulassung untertariflicher Löhne und mittelfristig eine Senkung der Reallöhne vor, da der Staat nur Rahmenbedingungen sichern solle und dürfe. Während diese Konzepte vom Wirtschaftsflügel der CDU unterstützt wurden, stießen sie nicht nur beim politischen Gegner, sondern insbesondere auch in der eigenen Partei auf massiven Widerstand; besonders die Sozialausschüsse lehnten die Vorschläge strikt ab. Um diese konträren Standpunkte zu harmonisieren, wurde eine Programmkommission eingesetzt, die ein neues wirtschaftspolitisches Profil der Partei ausarbeiten sollte. Mitglieder dieser Kommission waren Finanzminister Stoltenberg, Generalsekretär Geißler, Arbeitsminister Blüm, die Ministerpräsidenten Albrecht (Niedersachsen) und Späth (Baden-Württemberg) sowie der ehemalige Generalsekretär Biedenkopf. Schon die Besetzung dieser Kommission – Geißler und Blüm als Sozialausschüssler, Stoltenberg, Biedenkopf und Albrecht als Vertreter einer eher liberalen Position – zeigt, dass es hier nicht darum ging, eine bestimmte wirtschaftspolitische Position in der Partei durchzusetzen. Vielmehr sollten (und mussten) alle Flügel der Partei in die Beratungen einbezogen werden. Das Ergebnis, die „Stuttgarter Leitsätze“, die auf dem Bundesparteitag 1984 beschlossen wurden, betrachteten Verfechter einer stärker marktorientierten Wirtschaftspolitik als enttäuschenden Kompromiss, weil dem Markt zu wenig Raum gelassen werde.6 Insgesamt lesen sich die einschlägigen Passagen des Papiers tatsächlich als eine „domestizierte“, nämlich sozial- und verteilungspolitisch entschärfte Fassung der Vorschläge Albrechts. Seine Analyse wurde zwar in wesentlichen Punkten akzeptiert, etwa, wenn gefordert wurde, die Er6
Deutschlands Zukunft als moderne und humane Industrienation, in: Christlich Demokratische Union Deutschlands (Hg.), Tagesprotokoll 32. Bundesparteitag 10. Mai 1984 Stuttgart. 2. Tag, Bonn o.J., S. 341–360. Vgl. z.B. Ernst Günter VETTER, „Eine Sternstunde für die Wirtschaftspolitik“, in: FAZ, 8. März 1984.
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lös-Kosten-Situation der Unternehmen von der Kostenseite her zu verbessern; andererseits wurde auf einschneidende Schritte, etwa auf weitere Kürzungen von Leistungsgesetzen, zusätzliche Senkungen von Unternehmenssteuern oder den Abbau arbeitsrechtlicher Regelungen etwa im Bereich des Kündigungsschutzes verzichtet. Vielmehr trug das Dokument den Charakter eines Kompromisses zwischen beiden Parteiflügeln und war keineswegs das Dokument einer konsequent an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft orientierten wirtschaftspolitischen Wende. Dass unterschiedliche Flügel der CDU und der Koalition, in der die FDP dem Wirtschaftsflügel der Union nahestand, unterschiedlich weitreichende wirtschaftspolitische Reformen favorisierten, war jedoch nicht auf die ersten Jahre der Ära Kohl beschränkt, sondern blieb kennzeichnend für viele Bereiche der Wirtschaftspolitik der Jahre 1982–1989/90. Der Politikwissenschaftler Josef Schmid konstatierte daher, dass es scheine, „als ob über die Sanierung der Staatsfinanzen und eine allgemeine Beschwörung der Kräfte der Marktwirtschaft hinaus kein wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Konzept im Regierungsbündnis konsensfähig gewesen wäre“.7 Im nächsten Schritt dieses Beitrages soll daher geprüft werden, ob die praktische Politik trotz dieser programmatischen Differenzen innerhalb der Koalition eine Wende hin zu einer Neukonzeption der Wirtschaftspolitik im Lichte der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft bewerkstelligte. 3. Die Wirtschaftspolitik der christlich-liberalen Koalition in den Jahren 1982–1989 Deshalb soll nun die Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl in den Jahren 1982 bis 1989/90 untersucht werden.8 Dabei sind im wesentlichen drei Politikfelder 7
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Josef SCHMID, Der Machtwechsel und die Strategie des konservativ-liberalen Bündnisses, in: Werner SÜSS (Hg.), Die Bundesrepublik in den 80er Jahren, Opladen 1991, S. 19–34, hier S. 25. Ähnlich Paul J.J. WELFENS, Theorie und Praxis angebotsorientierter Stabilitätspolitik, Baden-Baden 1985, S. 195. Es liegen eine Reihe von Untersuchungen zur deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik zwischen 1982 und 1989/90 vor. Zunächst ist natürlich auf die jeweiligen Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu verweisen, zusammenfassend JG 1989, Ziffer 151–185. Einen Überblick aus wirtschaftswissenschftlicher Sicht bieten zudem Martin HELLWIG und Manfred J.M. NEUMANN, Economic Policy in Germany: Was There a Turnaround?, in: Economic Policy 5 (1987), S. 103–147 sowie Bernhard MOLITOR, Ist Marktwirtschaft noch gefragt? Eine ordnungspolitische Bilanz der Jahre 1982 bis 1992, Tübingen 1993. Aus politologischer Sicht ist etwa auf die Beiträge von Douglas WEBBER, Kohl’s Wendepolitik after a Decade, in: German Politics 1 (1992), S. 149–180 sowie vergleichend von Gerhard LEHMBRUCH, Marktreformstrategien bei alternierender Parteiregierung: Eine vergleichende institutionelle Analyse, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft Bd. 3 (1989), S. 15–45, zu verweisen. Die ausführlichste Studie zu diesem Thema hat Reimut ZOHLNHÖFER, Die Wirtschafts-
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von Interesse, nämlich die Finanz-, die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs- sowie die Entstaatlichungspolitik, verstanden als der Teil der Wettbewerbspolitik, der in erster Linie auf die Förderung bzw. Wiederherstellung wirtschaftlichen Wettbewerbs gerichtet ist. Andere zentrale Bereiche können bzw. müssen dagegen in diesem Abschnitt weitgehend außer Betracht bleiben, weil sie der Verantwortung anderer Akteure anvertraut sind. Dies gilt einerseits für die Geldpolitik, die von der Bundesbank bestimmt wurde, andererseits für die Lohnpolitik, die aufgrund der Tarifautonomie in die Hände von Arbeitgebern und Gewerkschaften gelegt ist. Sie werden im Folgenden nur insoweit berücksichtigt, wie dies zum Verständnis der hier thematisierten Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl und zur Beurteilung ihrer Zielwirksamkeit erforderlich ist. 3.1 Finanzpolitik: Quantitative Konsolidierung und leicht sinkende Abgabenbelastung „Rückführung des Staates auf den Kern seiner Aufgaben“ konnte in der Finanzpolitik nur bedeuten, dass es zu einer Senkung der Staatsquote, die 1982 nur wenig unter 50% lag, kommen musste.9 Dieses Ziel erreichte die Koalition in erheblichem Umfang. Der Anteil staatlicher Ausgaben am Bruttosozialprodukt sank nach 1982 fast kontinuierlich Jahr für Jahr und erreichte 1989 einen Wert von nur noch 45,3%.10 Dies wurde erreicht durch eine Konsolidierung des Bundeshaushaltes, die vor allem auf der Ausgabenseite ansetzte. Eine solche Rückführung der Neuverschuldung war sogar das oberste und unbestrittene Ziel der Finanzpolitik der christlich-liberalen Koalition in den ersten Jahren nach dem Regierungswechsel. Auch dieses Ziel erreichten die Regierungen unter Helmut Kohl bis 1989 zumindest in quantitativer Hinsicht in der Tat. Insbesondere in den ersten Jahren nach dem Regierungswechsel setzte die neue Regierung mit den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984 eine Reihe bedeutender Sparmaßnahmen, nicht zuletzt im Sozialbereich, und hier besonders bei den Leistungen der passiven Arbeitsmarktpolitik, durch. Diese führten gemeinsam mit der sich wieder verbessernden gesamtwirtschaftlichen Situation zu einer Abnahme des Haushaltsdefizits und insbesondere des „strukturellen Defizits“ im Sinne der Definition des Sachverständigenrates. Ein in der Diskussion häufig wiederkehrendes Argument besagt allerdings, dass die Wende in der Finanzpolitik nicht auf das Jahr 1982, sondern bereits politik der Ära Kohl. Eine Analyse der Schlüsselentscheidungen in den Politikfeldern Finanzen, Arbeit und Entstaatlichung, 1982–1998 (vor allem Kap. 3 und 4), Opladen 2001. Auf diese Arbeit stützt sich der folgende Teil dieses Beitrages vornehmlich. 9 Einen guten Überblick über die Finanzpolitik der Jahre 1982–1989 bietet Ulrich VAN SUNTUM, Finanzpolitik in der Ära Stoltenberg, in: Kredit und Kapital 23 (1990), S. 251–276. 10 Alle Zahlen basieren, soweit nicht anders vermerkt, auf Daten des Statistischen Bundesamtes.
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auf 1975 zu datieren ist, da in diesem Jahr bereits die sozial-liberale Koalition mit dem Haushaltsstrukturgesetz 1975 erste Kürzungsmaßnahmen durchsetzte. Diese Kürzungsmaßnahmen gingen aber nicht mit einer prinzipiellen Abkehr von einer nachfrageorientierten Fiskalpolitik einher, so dass auch in der Einschätzung der Wirtschaftssubjekte die finanzpolitische Wende erst 1982 stattfand,11 wie sich insbesondere an der Zinspolitik der Bundesbank unmittelbar nach dem Regierungswechsel zeigt: Sie senkte nämlich den Diskontund den Lombardsatz in den ersten sechs Monaten nach dem Machtwechsel um jeweils drei Prozentpunkte. Gleichwohl wurde dieser Konsolidierungserfolg auch mit Maßnahmen erreicht, die keineswegs einem Konzept nachhaltiger Haushaltskonsolidierung entsprachen. Zwar mag man die rückzahlbare „Zwangsanleihe für Besserverdienende“, die mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 eingeführt und wenige Jahre später vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurde, eher als symbolische Politik einstufen. Dennoch bleibt ein Makel in der haushaltspolitischen Bilanz jener Jahre, nämlich der ausbleibende Erfolg bei der Umschichtung des Haushaltes von konsumtiven zu investiven Ausgaben. So blieb der Anteil von Subventionszahlungen des Bundes am Sozialprodukt über den gesamten Beobachtungszeitpunkt fast unverändert, nominal nahmen die entsprechenden Ausgaben also deutlich zu. Auf der anderen Seite nahmen die Investitionen des Bundes von vergleichsweise niedrigem Niveau aus noch ab. Neben der Haushaltskonsolidierung strebte die Finanzpolitik nach 1982 auch eine Entlastung der Steuer- und Beitragszahler an. In der Koalition war allerdings unbestritten, dass einer Senkung der Abgabenbelastung eine Konsolidierung der Haushalte des Bundes und der Sozialversicherungen vorangehen müsse. Entsprechend wurden mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 vom Dezember 1982 einerseits zwar einige steuerliche Entlastungen für Unternehmen vorgenommen, andererseits aber die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt sowie die Beitragssätze zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung um 0,6 bzw. 0,5 Prozentpunkte erhöht. Bei den direkten Steuern erfolgte eine Entlastung erst mit der dreistufigen Steuerreform 1986–90, deren Hauptteil auch tatsächlich erst 1990 in Kraft trat, während die beiden ersten Stufen von 1986 und 1988 lediglich die durch die „kalte Progression“ entstandenen zusätzlichen Steuereinnahmen zurückgaben. Die dritte Reformstufe umfasste dann allerdings tatsächlich eine nennenswerte Steuersenkung, die durch einen neuen „linear-progressiven“ Steuertarif vornehmlich mittlere Einkommen entlastete.
11 Vgl. hierzu beispielsweise Bernd ROHWER, Der Konjunkturaufschwung 1983–1986. Ein Erfolg des wirtschaftspolitischen Kurswechsels der christlich-liberalen Koalition? Einige Anmerkungen zur konjunkturtheoretischen Beurteilung des gegenwärtigen Aufschwungs, in: Konjunkturpolitik 32 (1986), S. 325–348, hier S. 326f., sowie M. HELLWIG/M. J. M. NEUMANN (wie Anm. 8), S. 138.
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Gerade im internationalen Vergleich fiel dagegen die Senkung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer sowie der Körperschaftsteuer bemerkenswert gering aus. Der Finanzminister hatte hier eine stärkere Senkung vorgesehen, die aber insbesondere gegen den Widerstand des Arbeitnehmerflügels der CDU nicht durchgesetzt werden konnte. Betrachtet man die Entlastungseffekte quantitativ anhand der Steuer- und der Abgabenquote, fällt ein insgesamt bescheidenes Ergebnis auf: Die Steuerquote, also der Anteil der Steuereinnahmen des Bundes, der Länder und Gemeinden am Bruttosozialprodukt, sank erst 1990 infolge der dritten Stufe der Steuerreform mit 22,7% deutlich unter den Wert von 1982 (23,7%); betrachtet man die Abgabenquote, also den Anteil von Steuern und Sozialversicherungsabgaben am BSP, ist das Ergebnis kaum günstiger: Diese Quote sank zwischen 1982 und 1990 von 42,8 auf 40,7%. 3.2 Entstaatlichungspolitik: Moderate Liberalisierung bei voranschreitender Privatisierung Auch im Bereich der Entstaatlichungspolitik setzte die christlich-liberale Koalition nur eine moderate Wende durch, die zudem erhebliche Zeit in Anspruch nahm. So kam es etwa erst 1989, also sieben Jahre nach Übernahme der Regierungsverantwortung, bei der Deutschen Bundespost (DBP) zu einer ersten Reform, die vor allem den Telekommunikationssektor betraf. Doch blieb dieser Liberalisierungsimpuls begrenzt, denn auch nach dieser Reform konnte die DBP Telekom noch 90% ihres Umsatzes in Bereichen erwirtschaften, die von Monopolschranken geschützt waren. Weder kam es zu einer auch nur formalen Privatisierung des Unternehmens, für die eine Verfassungsänderung notwendig gewesen wäre, die aufgrund der ablehnenden Haltung der Opposition jedoch (noch) nicht zu erreichen war, noch wurde das Netzmonopol oder das Monopol beim Sprachtelefondienst aufgehoben.12 „Insgesamt war die Postreform I kaum mehr als eine Organisationsreform, bei der auch die bescheidenen Liberalisierungsansätze und die Trennung von hoheitlichen und unternehmerischen Zuständigkeiten nur den EG-rechtlichen Vorgaben folgten.“13 Weitere 12 Allerdings ist darauf zu verweisen, dass immerhin Wettbewerb an den (wachstumsstarken) Rändern der Telekommonopole, insbesondere im Bereich des digitalen Mobilfunks, zugelassen wurde. Insbesondere der Vergleich zu den britischen Telekommunikationsreformen der Jahre 1982 und 1984, die u.a. Wettbewerb in allen Bereichen des Telekommunikationsmarktes zuließen und schließlich auch die materielle Privatisierung von British Telecom herbeiführten, macht aber deutlich, wie vorsichtig die deutsche Reform zu diesem Zeitpunkt blieb. Vgl. hierzu Edgar GRANDE, Vom Monopol zum Wettbewerb. Die neokonservative Reform der Telekommunikation in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1989. 13 So Alfred BOSS (Hg.), Deregulierung in Deutschland. Eine empirische Analyse, Tübingen 1996, S. 185.
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nennenswerte Liberalisierungsmaßnahmen lassen sich in der Zeit zwischen 1982 und 1989 kaum feststellen. Die Einführung des Dienstleistungsdonnerstags, der mit kürzeren Ladenöffnungszeiten an Samstagen erkauft werden musste, kann in diesem Zusammenhang ebenso wenig als Schritt in Richtung „Rückzug des Staates auf den Kern seiner Aufgaben“ gesehen werden wie die Einsetzung einer „Deregulierungskommission“. Diese Kommission, der fünf Professoren der Wirtschaftswissenschaften und vier Vertreter der Wirtschaft angehörten, wurde 1987, also nachdem die Koalition bereits fünf Jahre im Amt war, eingesetzt und sollte gemäß der Koalitionsvereinbarung für die 11. Wahlperiode „Möglichkeiten zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch Abbau von marktwidrigen Regulierungen“ aufzeigen. Ihren endgültigen Bericht legte die Kommission sogar erst 1991 vor, so dass er für die Entstaatlichungspolitik der hier untersuchten Periode keine Bedeutung mehr hatte. Auch der Bereich der Privatisierung erlangte in Deutschland keineswegs die große Bedeutung, die er etwa für den Thatcherismus besaß. Dies lag sicherlich zu einem erheblichen Teil daran, dass der staatliche Besitz an Industrieunternehmen in der Bundesrepublik schon zu Beginn der 80er Jahre vergleichsweise klein war; hinzu kam jedoch auch, dass an eine Privatisierung der großen staatlichen Unternehmen Post und Bahn in den 1980er Jahren noch gar nicht ernsthaft gedacht wurde. Immerhin ist jedoch festzuhalten, dass sich die Bundesregierung im Verlauf der 80er Jahre vom Großteil ihrer Beteiligungen an Industriekonzernen trennte, nachdem diese aus der Verlustzone geführt worden waren. Die Privatisierungserlöse des Bundes beliefen sich zwischen 1983 und 1989 auf immerhin etwa 9,4 Mrd. DM.14 3.3 Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik: Wenig Wandel in der Arbeitsmarktpolitik, bescheidener Einstieg in die Liberalisierung des Arbeitsrechts Als dritter Bereich ist noch die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu analysieren. Hier ist zunächst darauf aufmerksam zu machen, dass die christlich-liberale Koalition weitgehend darauf verzichtete, die Fiskalpolitik beschäftigungsorientiert einzusetzen. Auf der anderen Seite gab es auch keine ernsthaften Versuche – sei es in Form korporatistischer Verhandlungssysteme oder auch nur durch „moral suasion“ –, auf eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik hinzuwirken. Insofern machte die Regierung also keinen nennenswerten Versuch, Einfluss auf die Gestaltung dieser für die Beschäftigungsentwicklung maßgeblichen Größe zu nehmen.
14 Vgl. hierzu U. VAN SUNTUM (wie Anm. 9), S. 271–273 sowie B. MOLITOR (wie Anm. 8), S. 22f.
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Betrachtet man dagegen die aktive und passive Arbeitsmarktpolitik, ist in diesem Bereich neben einigem Wandel auch viel Kontinuität zur sozial-liberalen Vorgängerregierung festzustellen. So kam es beispielsweise beim Versuch der Konsolidierung der Finanzen der Arbeitslosenversicherung einerseits zu etwas einschneidenderen Kürzungen bei den passiven Leistungen, als sie in den letzten Jahren der sozial-liberalen Koalition durchgeführt worden waren.15 Andererseits ähnelten sich viele der Konsolidierungsmaßnahmen, von der Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bis zu vorsichtigen Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Zudem waren diese Kürzungen nicht nachhaltig: So kam es auch unter der christlich-liberalen Koalition erneut zu einem Ausbau der Maßnahmen der passiven Arbeitsmarktpolitik; auch die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik nahmen ab 1984 wieder zu, und erreichten 1987/88 ein Niveau, das deutlich über dem in der sozial-liberalen Ära erreichten lag. Den Schwerpunkt setzte die Regierung hier einerseits auf eine „Qualifizierungsoffensive“ und entsprechend auf einen Ausbau vor allem von Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung, andererseits auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Diese Betonung der aktiven Maßnahmen dürfte nicht zuletzt auf wahlpolitische Überlegungen zurückgehen, denn die Ausrufung der „Qualifizierungsoffensive“ z.B. war eine Reaktion auf schlechte Landtagswahlergebnisse im Jahr 1985, vor allem in Nordrhein-Westfalen, die darauf zurückgeführt wurden, dass die Wähler die beschäftigungspolitische Kompetenz der CDU als gering veranschlagten. Eine optische Entlastung des Arbeitsmarktes wurde – und auch hierin ist Kontinuität zur sozial-liberalen Koalition zu sehen – zusätzlich durch eine Politik der Verringerung des Arbeitsangebots angestrebt. Zu denken ist hier etwa an die (allerdings nur befristet implementierte) Politik zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern, vor allem aber an die Politik der Frühverrentung, die ebenfalls über das Niveau der sozial-liberalen Ära hinausging. Mindestens so viel Kontinuität wie Wandel gab es nach 1982 auch im Bereich der Mitbestimmung, die im wesentlichen konsolidiert und nicht – wie es aufgrund branchenstruktureller Entwicklungen möglich gewesen wäre – „kalt“, d.h. durch schlichtes Nicht-Anpassen der einschlägigen Regelungen, abgeschafft wurde. Auch die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes blieb eher vorsichtig, wenngleich hier mit der Einführung von bestimmten Minderheitenrechten bei Betriebsratswahlen und von Sprecherausschüssen für leitende Angestellte auch eigene Vorstellungen durchgesetzt wurden. Dagegen wollte die Koalition im Bereich des Arbeitsrechts neue Wege beschreiten. Insbesondere mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1985 sollten 15 Insbesondere ist hier die Kürzung des Arbeitslosengeldes für Bezieher ohne Kinder sowie die Veränderung des Verhältnisses zwischen beitragspflichtiger Beschäftigung und Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld mit der Wirkung einer Senkung der Anspruchsdauer zu nennen.
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„Einrichtungen und Vorschriften geändert werden, die gestern ihren Zweck erfüllten, heute aber in Gefahr sind, sich ins Gegenteil zu verkehren.“16 Es sollte also zu einer Liberalisierung des Arbeitsrechts kommen mit dem Ziel, durch die Abschaffung von Regulierungen, von denen angenommen wurde, dass sie Arbeitgeber von Einstellungen abhielten, die Beschäftigung zu erhöhen. Betrachtet man allerdings die tatsächlich verabschiedeten Maßnahmen, fällt das Ergebnis eher bescheiden aus, insbesondere blieb das Kündigungsschutzgesetz von Änderungen fast vollständig ausgenommen. Statt dessen setzte die Koalition vor allem auf die Erleichterung des Abschlusses von auf maximal 18 Monate befristeten Arbeitsverträgen, um die Dispositionsfreiheit der Unternehmen in Personalfragen zu erhöhen. Diese Regelung wurde zudem nur befristet eingeführt, allerdings mehrfach verlängert.17 Daneben kam es zu ebenfalls moderaten Änderungen bei Sozialplanregelungen sowie zu einer vorsichtigen Ausweitung der Arbeitnehmerüberlassung. Außerdem wurde angestrebt, Teilzeitarbeit sozialverträglicher und damit attraktiver auszugestalten. Auch in anderen Gesetzen fanden sich Ansätze zu einer Liberalisierung des Arbeitsrechts, so etwa bei den Novellen des Schwerbehinderten- und des Jugendschutzgesetzes sowie beim Gesetz über befristete Arbeitsverträge mit wissenschaftlichem Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Ein weiteres höchst umstrittenes Gesetz im Bereich der Regulierung der Arbeitsmarktverfassung war das „Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen“, mit dem der „Streik-“ oder „Neutralitätsparagraph“ 116 des Arbeitsförderungsgesetzes geändert wurde. Die Bundesregierung wollte mit dieser Neuregelung Schwerpunktstreiks der Gewerkschaften, wie sie vor allem die IG Metall bei der Tarifauseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche im Jahr 1984 benutzt hatte, erschweren. Aufgrund des heftigen Widerstandes des Arbeitnehmerflügels der Union gegen eine zunächst vorgeschlagene einschneidende Änderung18 blieb die Neurege-
16 So Arbeitsminister Blüm bei der ersten Lesung des Gesetzes im Deutschen Bundestag am 18.10.1984, Plenarprotokoll der 10. Wahlperiode, 91. Sitzung, S. 6716. 17 Die begrenzte Wirkung des Beschäftigungsförderungsgesetzes lässt sich auch empirisch belegen: Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung ergab, dass lediglich 7% der befristeten Verträge, die in den ersten beiden Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen wurden, ohne das Gesetz nicht möglich gewesen wären; damit trug es gerade einmal zu 2% aller Neueinstellungen in der Privatwirtschaft in diesem Zeitraum bei; vgl. Christoph F. BÜCHTEMANN, Employment Security and Deregulation: The West German Experience, in: DERS. (Hg.): Employment Security and Labor Market Behavior, Ithaca 1993, S. 272–296. 18 Vgl. zu diesem Gesetzgebungsverfahren Thomas VON WINTER, Die CDU im Interessenkonflikt. Eine Fallstudie zur parteiinternen Auseinandersetzung über den Paragraphen 116 AFG, in: Leviathan 17 (1989), S. 46–84 sowie R. ZOHLNHÖFER, Wirtschaftspolitik der Ära Kohl (wie Anm. 8), Kap. 4.2.2.
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lung des Paragraphen 116 letztlich jedoch ebenfalls eher bescheiden.19 Daher lässt sich auch in der Zusammenschau dieser Maßnahmen Hellwigs und Neumanns Urteil aufrechterhalten: „The Kohl government has not really changed the rules of the game in the labour market.“20 4. Gelungene „Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft“? 4.1 Das Leitbild der „Sozialen Marktwirtschaft“ Nach dieser – notwendigerweise knappen – Darstellung der praktizierten Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl kann und soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit damit die immer wieder in Aussicht gestellte „Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft“ gelungen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt allerdings entscheidend davon ab, was unter Sozialer Marktwirtschaft – als wirtschaftspolitischer Leitvorstellung sui generis – zu verstehen ist.21 Sieht man in diesem Begriff nicht bloß ein Vehikel zur Konsensmobilisierung oder einen Pleonasmus (wie z.B. die Aussage, eine freie Marktwirtschaft sei immanent sozial), bleibt nur der Bezug auf Alfred Müller-Armack: Er hat nicht nur diesen Begriff geprägt, sondern ihn auch wie kein anderer mit Inhalt gefüllt. Deshalb wird hier auf seine Konzeption zurückgegriffen. Danach ist es zentrales Anliegen der Konzeption, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte“ mit einer Politik „des sozialen Ausgleichs zu verbinden“.22 Durch Schaffung und Sicherung einer Wettbewerbsordnung soll mit anderen Worten „die freie Initiative“ und damit das kreative Potential einer Gesellschaft in den Dienst der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes gestellt und „sozialer Fortschritt“ ermöglicht werden. „Wohlstand für alle“ (Ludwig
19 Die Reichweite der Änderung des §116 AFG ist in der Literatur umstritten. Neben der Einschätzung, es habe sich dabei um eine einschneidende Reform gehandelt, wird der Standpunkt vertreten, die Reform habe die Position der Gewerkschaften eher gestärkt als geschwächt; so Hugo SEITER, Das Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen, in: Neue Juristische Wochenschrift 40 (1987), S. 1–8. In jedem Fall ist aber empirisch evident, dass die Gewerkschaften auch nach der Reform noch in der Lage waren, glaubhaft mit Streik zu drohen oder ihn durchzuführen; so Klaus ARMINGEON, Einfluß und Stellung der Gewerkschaften im Wechsel der Regierungen, in: Bernhard BLANKE/Hellmut WOLLMANN (Hg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel, Opladen 1991, S. 271–291, hier S. 275. Auch die Tatsache, dass die 1998 gewählte rot-grüne Regierung die Reform jedenfalls noch nicht rückgängig gemacht hat, spricht dafür, dass ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. 20 M. HELLWIG/M. J. M. NEUMANN (wie Anm. 8), S. 127. 21 Vgl. hierzu ausführlicher Werner ZOHLNHÖFER, Die ordnungspolitischen Grundlagen der Ökologischen und Sozialen Marktwirtschaft, in: Günther RÜTHER (Hg.), Ökologische und Soziale Marktwirtschaft. Entstehung, Grundlagen, Instrumente, Bonn 1997, S. 19–41. 22 Alfred MÜLLER-ARMACK, Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Bd. 9, Tübingen–Göttingen 1956, S. 390–392, hier S. 390.
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Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl 1982–1989/90
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Erhard) kommt daher nicht dadurch zustande, dass möglichst viel Einkommen und Vermögen umverteilt wird, sondern dadurch, dass sich möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft aktiv am Prozess der Leistungserstellung beteiligen (können) und – ihrer Marktleistung entsprechend – am Ergebnis teilhaben. Nur wer aus Gründen, die er nicht selber zu vertreten hat, kein ausreichendes Leistungseinkommen zu erzielen vermag, hat Anspruch auf Unterstützung. Diese Politik des sozialen Ausgleichs soll ihrerseits vor allem zwei Gestaltungsprinzipien genügen: Die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips soll sicherstellen, dass das hilfsbedürftige Individuum nicht staatlich versorgt und (weitgehend) entmündigt, sondern durch Hilfe zur Selbsthilfe in die Lage versetzt wird, möglichst weitgehend selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu handeln. Demgegenüber zielt das Postulat der Marktkonformität auf eine Gestaltung der Politik des sozialen Ausgleichs ab, die den Funktionsbedingungen wettbewerblicher Marktsteuerung Rechnung trägt. Dies ist kein Postulat liberaler Dogmatik, sondern ein Gebot praktischer Vernunft: Nur marktkonforme Interventionen erweisen sich als zielwirksam und bleiben ohne unerwünschte Nebenwirkungen (in größerem Umfang), die ihrerseits in der Regel sehr kostspielige Interventionsspiralen auslösen.23 Für die Beurteilung der dargestellten Wirtschaftspolitik im Lichte der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft erscheint es zweckmäßig, zwischen Wettbewerbsordnung („Freiheit des Marktes“) und Sozialordnung (Politik des „sozialen Ausgleichs“) zu unterscheiden.24 4.2 Zur Umsetzung des Leitbildes Was die Wettbewerbsordnung anlangt, so wurde hier bereits in den ersten Jahrzehnten bundesdeutscher Wirtschaftspolitik buchstäblich grundlegende Arbeit geleistet. Zu nennen ist hier vor allem die Schaffung einer die Freiheit und Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs ermutigenden und sichernden Rahmenordnung, die Liberalisierung des Außenhandels und die institutionelle Verankerung einer von der Regierung unabhängigen Zentralbank. Es waren ganz wesentlich diese ordnungspolitischen „Errungenschaften“, die zum „deutschen Wirtschaftswunder“ beitrugen. Diese „liberale Komponente“ der Sozialen Marktwirtschaft hatte sich so bewährt, dass auch spätere, SPD-geführte Regierungen daran festhielten: So stellt die 1973 eingeführte Fusionskontrolle sogar eine konsequente Weiterentwicklung der Politik zur Sicherung der Wettbewerbsordnung dar, während Versuche, die Geldpolitik für die antizyklische 23 Das bekannteste Beispiel für eine solche Interventionsspirale ist sicherlich die Gemeinsame Agrarpolitik der EU. 24 Da sich dieser Beitrag mit der Wirtschaftspolitik der christlich-liberalen Koalition beschäftigt, wird im folgenden das Hauptaugenmerk auf die Wettbewerbsordnung gelegt werden.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
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Werner Zohlnhöfer und Reimut Zohlnhöfer
Nachfragesteuerung zu vereinnahmen, letztlich an der Autonomie der Bundesbank scheiterten. Dies vermochte freilich die Bundesregierung in den 70er Jahren nicht daran zu hindern, die öffentliche Verschuldung ganz erheblich in die Höhe zu treiben und damit eine für die Leistungsfähigkeit wettbewerblicher Marktsteuerung konstitutive Bedingung zu verletzen – mit negativen Folgen für Geldwertstabilität, Beschäftigung und Wachstum. Es ist deshalb wohl auch kein Zufall, dass die Kohl-Regierung in der Sanierung des Bundeshaushalts und in der konsequenten Rückführung der Verschuldung nicht nur die wichtigste Herausforderung erblickte, sondern hier auch ihren größten Erfolg – im Sinne einer Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft – verbuchen konnte. Weniger überzeugend waren die anderen Beiträge zur Fortentwicklung der Wettbewerbsordnung: Zwar folgt eine Politik der Entstaatlichung durch Privatisierung und Deregulierung klar aus dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft; zur Verwirklichung dieser Ansätze kam es jedoch nur sehr zögerlich. Tabelle 1: Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung in West-Deutschland 1982–1990 1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989 1990*
Staatsquote
49,8
48,7
48,4
47,8
47,2
47,4
47,0
45,3
46,1
Sozialleistungsquote
33,3
32,2
32,0
31,1
31,5
31,4
31,2
30,7
29,3
Inflationsrate
5,3
3,3
2,4
2,2
-0,2
0,2
1,2
2,8
2,7
Investitionsquote
20,0
20,3
19,7
19,4
19,7
19,8
20,0
20,6
21,4
Wirtschaftswachstum
1,1
1,9
3,1
1,8
2,2
1,5
3,7
3,8
4,5
Arbeitslosenquote
7,5
9,1
9,1
9,3
9,0
8,9
8,7
7,9
7,2
46,3
46,4
46,8
47,4
47,8
48,1
48,1
48,0
48,0
Erwerbsquote
* Zahlen für 1990 beziehen sich auf Westdeutschland. Quellen: Statistisches Bundesamt (Staatsquote, Arbeitslosenquote, Erwerbsquote; Wirtschaftswachstum); Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Sozialleistungsquote); OECD (Inflationsrate, Investitionsquote)
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Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl 1982–1989/90
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Insgesamt hat die Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl in den 80er Jahren bei der Gestaltung der Wettbewerbsordnung somit wenigstens Kurs gehalten: Sie hat Bewährtes nicht gefährdet, die Kontrolle über die öffentlichen Finanzen weitgehend wiedererlangt und bescheidene Schritte einer konsequenten Weiterentwicklung in die Wege geleitet. Dies trug vermutlich auch zur im ganzen recht positiven Erfolgsbilanz bei, wie sie sich in den relevanten Indikatoren niederschlägt. Staatsquote, Sozialleistungsquote und vor allem Inflationsrate gingen spürbar zurück, während die Wachstumsrate stieg. Auf der anderen Seite blieb die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote enttäuschend niedrig (vgl. Tab. 1). Weniger günstig fällt das Ergebnis auf dem Arbeitsmarkt – der nun in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt – aus. Zwar nahm die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 1982 und 1990 um knapp zwei Millionen zu, doch zeigt bereits ein Blick auf die Arbeitslosenquoten von 1982 (7,5 %) und 1990 (7,2 %), dass die Arbeitsmarktprobleme auch in der ersten Hälfte der „Ära Kohl“ nicht gelöst werden konnten. Allerdings ist der Vergleich der Zahlen von 1982 und 1990 etwas irreführend, und das aus mindestens drei Gründen: Zum einen liegen zwischen diesen Jahren wesentlich höhere Werte der Arbeitslosenquote, so dass die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt dieses Zeitraums bei 8,5 % lag. Zum zweiten kann man beispielsweise die Arbeitslosenquote des Jahres 1983 noch nicht auf das Konto der Regierung Kohl buchen, da deren wirtschaftspolitische Maßnahmen natürlich Zeit brauchten, um Wirkungen zu zeitigen. Drittens endlich erschließt sich die Dynamik des Geschehens auf dem Arbeitsmarkt in dieser Periode nur einer längerfristigen Betrachtung. Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik 1970-1990 (in Abb. 1: Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik 1970–1990 (in Tsd.) Tsd.) 2500
2000
1500
1000
500
19
70 19 71 19 72 19 73 19 74 19 75 19 76 19 77 19 78 19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90
0
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
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40 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Werner Zohlnhöfer und Reimut Zohlnhöfer
Wie ein Blick auf Abb. 1 zeigt, ist die Arbeitslosigkeit seit 1970 durch ein Verlaufsmuster gekennzeichnet, das vorher nicht beobachtbar war:25 Im Gegensatz zur konjunkturellen Arbeitslosigkeit, die um einen konstanten Mittelwert schwankt, ist dieses Verlaufsmuster dadurch gekennzeichnet, dass die Arbeitslosigkeit treppenartig steigt. Darin manifestiert sich die (seit dem 1973 beginnenden konjunkturellen Abschwung beobachtbare) Tatsache, dass eine konjunkturelle Belebung nicht mehr annähernd zur Vollbeschäftigung führt, so dass der nächste Abschwung stets bereits auf einem Sockel an im Aufschwung nicht abgebauter (struktureller) Arbeitslosigkeit aufbaut. Diese sogenannte Sockelarbeitslosigkeit ist vermutlich auf die Lohnpolitik (zu hohes Niveau und zu geringe Differenzierung der Löhne nach unten) und die hohe Regulierungsdichte auf dem Arbeitsmarkt zurückzuführen, die sich in den 70er Jahren herausgebildet hat. Obwohl die Höhe der Unterbeschäftigung in den 80er Jahren noch ein Novum darstellte, hat eine Arbeitslosenquote von immerhin durchschnittlich 8,5% die Regierung Kohl seiner Zeit augenscheinlich nicht dazu bewegen können, einschneidendere Maßnahmen zur Erreichung eines Arbeitsmarktgleichgewichtes durchzusetzen. Das ist zunächst vor allem deshalb bemerkenswert, weil damit ein grundlegendes Anliegen der Sozialen Marktwirtschaft berührt wird: Wenn „Wohlstand für alle“ vor allem dadurch zu schaffen ist, dass alle arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft ihre wirtschaftliche Existenz durch aktive Beteiligung am Prozess der Leistungserstellung sichern, bedeutet Unterbeschäftigung nicht nur eine massive Verletzung der Postulate der Sozialen Marktwirtschaft als wirtschaftspolitischer Konzeption, sondern auch und vor allem Ressourcenverschwendung und Wohlstandseinbußen. Zudem wird der Arbeitslose nicht nur in seinem Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit erheblich beschränkt, sondern er verliert auch die Chance, seiner Verpflichtung nachzukommen, durch Eigenverantwortung und Selbstvorsorge sein Schicksal wirtschaftlich selbst in die Hand zu nehmen. Was für eine wirkungsvolle Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (mindestens) erforderlich gewesen wäre, zeigen die (beschäftigungsrelevanten) Vorschläge von Albrecht und George, die oben kurz dargelegt wurden. Betrachtet man sie als Maßstab, so wird gleichzeitig deutlich, wie weit die von der Regierung Kohl in Angriff genommenen Maßnahmen von einer beschäftigungspolitisch wirksamen Politik entfernt waren. So blieb die Lockerung des Kündigungsschutzes durch die Erleichterung befristeter Arbeitsverträge weitgehend wirkungslos. Sie war schon für sich betrachtet zu gering, um den personalpolitischen Spielraum der Arbeitgeber spürbar zu erweitern, zumal sie auch noch 25 Vgl. zum Folgenden: Werner ZOHLNHÖFER, Sockelarbeitslosigkeit. Eine Dauererscheinung der Sozialen Marktwirtschaft?, in: Forschungsmagazin der Johannes GutenbergUniversität Mainz 11 (1995) Heft 2, S. 16–25.
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Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl 1982–1989/90
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eng befristet war. Hinzu kam die Ungunst des relevanten Umfeldes: Das Beschäftigungsförderungsgesetz änderte wenig an der Unberechenbarkeit der (arbeitnehmerfreundlichen) Entscheidungspraxis der Arbeitsgerichte, die die Arbeitgeber dauerhaft verunsicherte und sie jedes arbeitsrechtliche Risiko vermeiden ließ. Die Regierung Kohl verzichtete aber nicht nur auf eine einschneidendere Deregulierung des Arbeitsmarktes, sie vermied auch jede nennenswerte Einmischung in tarifpolitische Auseinandersetzungen. Das gilt im Grunde selbst für die wochenlangen Streiks im Zusammenhang mit dem Versuch der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche. Obwohl die Regierung hier mit der Novellierung von §116 AFG auf die Strategie der IG Metall reagierte, die mit Schwerpunktstreiks zum Erfolg zu kommen versucht hatte, betraf diese Reform allenfalls einen „Randbereich der geltenden Arbeitskampfordnung“26 und dürfte letztlich – wie oben schon angesprochen – kaum nennenswerten Einfluss auf die „Waffengleichheit“ der Tarifparteien gehabt haben. Die Zurückhaltung der Regierung Kohl gegenüber lohnpolitischen Auseinandersetzungen entspricht zwar dem landläufigen Verständnis von Tarifautonomie. Da die Bundesregierung gesamtpolitische Verantwortung trägt, kann ihr jedoch selbst die verfassungsrechtliche Verankerung der Tarifautonomie nicht das Recht streitig machen, eine stabilitätskonforme Lohnpolitik einzufordern. Eine Regierung, die sich der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlt, ist politisch dazu sogar gehalten; denn die in diesem Leitbild verankerte Sozialpartnerschaft bindet die Akzeptanz der Tarifautonomie an die (politische) Verpflichtung der Tarifparteien, bei lohnpolitischen Vereinbarungen gesamtwirtschaftlichen Belangen (sprich: der Sicherung von Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung) Rechnung zu tragen. Gefordert ist damit nichts anderes als eine marktkonforme Handhabung der Tarifautonomie, die den Gefährdungen gesamtwirtschaftlicher Stabilität durch die Resultate kollektiver Lohnverhandlungen vorbeugen soll. Ludwig Erhard versuchte mit seinen sprichwörtlich gewordenen Maßhalteappellen an die Sozialpartner in den 50er und 60er Jahren sicherzustellen, dass eine stabilitätsgerechte Wirtschaftspolitik der Regierung nicht durch eine aus dem Ruder laufende Lohnpolitik durchkreuzt wurde. Diese Chance, die Tarifparteien öffentlich an ihre beschäftigungspolitische Verantwortung zu erinnern, haben die Regierungen Kohl kaum genutzt. Angesichts der Sockelarbeitslosigkeit, die sich bereits damals hartnäckig auf hohem Niveau hielt, wirft dieser Befund schwerwiegende Fragen auf, die allerdings so weitreichend sind, dass sie hier nicht erörtert werden können.27
26 Ulrich MÜCKENBERGER, §116 AFG: Stadien eines Gesetzgebungsprozesses, in: Kritische Justiz 19 (1986), S. 166–186, hier S. 168. 27 Vgl. weiterführend hierzu: W. ZOHLNHÖFER, Die ordnungspolitischen Grundlagen (wie Anm. 21), S. 34f. sowie DERS. (Hg.), Die Tarifautonomie auf dem Prüfstand (Schriften
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Werner Zohlnhöfer und Reimut Zohlnhöfer
Insgesamt erlebte der Arbeitsmarkt somit unter der Regierung Kohl keine Entwicklung, die als „Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft“ betrachtet werden kann. Durch die erfolgreiche Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ist es zwar gelungen, den konjunkturell bedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit (bis auf 9,3% im Jahr 1985) in erheblichem Umfang (nämlich auf 7,2% im Jahre 1990) wieder abzubauen. Am weiteren Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit vermochte die Regierung jedoch nichts zu ändern. Abgesehen von den bereits erwähnten zaghaften Maßnahmen gab es auch keine Aktivitäten, die als ein zielwirksamer Versuch, die strukturelle Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, interpretiert werden könnten. Dagegen könnte die praktizierte Arbeitsmarktpolitik unfreiwillig dazu beigetragen haben, die Sockelarbeitslosigkeit zu verfestigen und zu erhöhen. Zu denken ist hier vor allem an die forcierte Politik der Frühverrentung älterer Arbeitnehmer, die zwar statistisch-kosmetisch zu einer „Entlastung des Arbeitsmarktes“ führte, realiter aber tendenziell – nämlich über die Sozialversicherungsbeiträge – die Arbeitskosten und damit auch die Sockelarbeitslosigkeit erhöhte. Alles in allem drängt sich damit folgendes Fazit auf: Die Wirtschaftspolitik der Regierungen Kohl wird in den 80er Jahren nur im Bereich der Haushaltsund Finanzpolitik dem Anspruch, sich am Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft zu orientieren, einigermaßen gerecht. Auch die Politik der Entstaatlichung folgt diesem Konzept, bleibt jedoch (noch) in Ansätzen stecken, insbesondere was die Deregulierung angeht. Durch diese „Sanierung“ und ansatzweise Fortentwicklung der liberalen Komponente der Sozialen Marktwirtschaft gelang es, die Leistungsfähigkeit der Gesamtwirtschaft zu erhöhen. Dagegen gelang es der Regierung nicht, die aus den 70er Jahren überkommene Sockelarbeitslosigkeit abzubauen. Eine erfolgversprechende Korrektur dieser Fehlsteuerung wurde auch nicht ernsthaft in Angriff genommen. Der Anspruch einer Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft wurde hier also nicht eingelöst. Deshalb kann im Hinblick auf die hier interessierende Wirtschaftspolitik der Regierungen Kohl in den 80er Jahren in keinem Fall von einem Paradigmenwechsel die Rede sein; es kann höchstens von einer „partiellen“ oder „halben Wende“ (Josef Schmid) im Sinne einer Erneuerung der Grundpositionen der Sozialen Marktwirtschaft gesprochen werden.
des Vereins für Socialpolitik, Bd. 244), Berlin 1996, und DERS., Wie sozial ist die Soziale Marktwirtschaft?, in: Heidelberger Club für Wirtschaft und Kultur (Hg.), Sozialfall Sozialstaat. Wie sicher ist unsere soziale Sicherung?, Münster–Hamburg 1996, S. 224–237, bes. S. 232ff.
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Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl 1982–1989/90
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5. Gründe für die „halbe Wende“ Vor dem Hintergrund dieses Befundes sollen abschließend noch einige wenige Hinweise darauf gegeben werden, wieso nicht weiterreichende Schritte implementiert wurden. Zwei zentrale Variablen lassen sich hier herausfiltern, nämlich zum einen die mutmaßlichen Wirkungen des Wettbewerbs um Wählerstimmen, zum anderen die mangelnde programmatische Kohärenz der Regierungskoalition.28 Vom Parteienwettbewerb ging ein Anreiz für die christlich-liberale Koalition aus, nur moderate Veränderungen durchzusetzen, da die meisten einschneidenden Reformen – mit der Ausnahme der Sozialkürzungen in den ersten Jahren nach der Übernahme der Regierung, die durchaus auf das Verständnis der Bürger stießen29 – von den Wählern zumindest skeptisch beurteilt wurden. Insbesondere die Änderung von §116 AFG könnte nach Einschätzung von Wahlforschern der CDU bei der Bundestagswahl 1987 geschadet haben.30 Daher überrascht es kaum, dass nach dieser Wahl, die der Union erhebliche Verluste einbrachte, der bisherige wirtschaftspolitische Kurs wenigstens in Teilen wieder in Frage gestellt und in der Folge gerade im Bereich des Arbeitsrechts bis 1990 keine nennenswerten Reformen mehr durchgesetzt wurden. Doch ein solches Infragestellen des eingeschlagenen Kurses angesichts ungünstiger Wahlergebnisse ließ sich bereits früher beobachten, so insbesondere nach der herben Niederlage der CDU bei den nordrhein-westfälischen Landtagswahlen im Mai 1985; in deren Folge wurde nicht nur wie bereits erwähnt die „Qualifizierungsoffensive“ gestartet, sondern sogar wieder über Beschäftigungsprogramme diskutiert. Die zweite Variable, die erklären hilft, warum die wirtschaftspolitische Wende nach 1982 in Ansätzen stecken blieb, war die geringe programmatische Übereinstimmung innerhalb der Koalition, insbesondere innerhalb der CDU. So bildeten einerseits die unionsgeführten Bundesländer eine mitunter bedeutende Hürde für die Durchsetzbarkeit von Reformen. Bei der Steuerreform 1990 etwa konnte eine Reihe von Steuerprivilegien nicht, wie vom Finanzminister ursprünglich geplant, gestrichen werden, weil verschiedene unionsregierte Länder diese Kürzungen nicht mittragen mochten; Niedersachsen tat 28 Vgl. zum Folgenden R. ZOHLNHÖFER, Wirtschaftspolitik der Ära Kohl (wie Anm. 8), Kap. 4. 29 Vgl. Jens ALBER, Der Wohlfahrtsstaat in der Wirtschaftskrise. Eine Bilanz der Sozialpolitik in der Bundesrepublik seit den frühen siebziger Jahren, in: Politische Vierteljahresschrift 27 (1986), S. 28–60, hier S. 50. 30 Vgl. Franz-Urban PAPPI/Thomas KÖNIG/David KNOKE, Entscheidungsprozesse in der Arbeits- und Sozialpolitik. Der Zugang der Interessengruppen zum Regierungssystem über Politikfeldnetze. Ein deutsch-amerikanischer Vergleich, Frankfurt–New York 1995, S. 115.
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Werner Zohlnhöfer und Reimut Zohlnhöfer
sich zudem noch dadurch hervor, dass es seine Zustimmung zur Steuerreform im Bundesrat von großzügigen Finanztransfers des Bundes abhängig machte. Ein anderes Beispiel für die reformbremsende Wirkung der unionsgeführten Länder ist die Postreform von 1989, bei der eine Beseitigung des Netzmonopols der Telekom spätestens am Widerstand Bayerns und anderer der Bundesregierung parteipolitisch nahestehender Länder gescheitert wäre.31 Daneben – und von noch größerer Bedeutung für die Durchsetzbarkeit von marktorientierten Reformen – mussten häufig, wie schon bei der Betrachtung der „Stuttgarter Leitsätze“ gezeigt, Kompromisse zwischen den verschiedenen Flügeln der CDU gefunden werden. Dabei gelang es insbesondere dem Arbeitnehmerflügel der Partei, die Reichweite verschiedener Reformen erheblich zu verringern. Beispiele für diesen Einfluss des Arbeitnehmerflügels waren etwa die Steuerreform 1990, bei der der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer nur um drei Prozentpunkte gesenkt werden konnte, während der Finanzminister und die Koalitionspartner eine wesentlich deutlichere Senkung angestrebt hatten. Ähnliches lässt sich für die Ausweitung der aktiven wie der passiven Arbeitsmarktpolitik ab Mitte der 80er Jahre nachweisen. Außerdem gelang es den Sozialausschüsslern, die Reformen des Beschäftigungsförderungsgesetzes und des §116 AFG zu „verwässern“. Alles in allem reichten somit die Gemeinsamkeiten innerhalb der CDU/CSU nicht aus für eine Neuorientierung in der Wirtschaftspolitik, die als „Wende“ bezeichnet werden könnte. In allen nicht-konsensfähigen Bereichen – und dazu gehörten alle hier diskutierten Politikfelder mit Ausnahme der Haushaltskonsolidierung – besaßen die Gegner weitergehender Reformen, vor allem die Mitglieder des Arbeitnehmerflügels der Union, faktisch eine Vetoposition, die sie auch nutzten. 1
31 Vgl. E. GRANDE (wie Anm. 12).
Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS
Einführung Von Jürgen Wilke Dass sich in den 1980er Jahren ein tiefgreifender Wandel in der deutschen Medienlandschaft vollzog, wird gewiss niemand bestreiten. Er war der weitgehendste seit der Neugestaltung der Medienordnung noch unter maßgeblich alliiertem Einfluss nach 1945. Der Umbruch betraf im wesentlichen zwei Bereiche des Mediensystems. Zum einen wurde das Tor aufgestoßen zur Zulassung privater Rundfunkanbieter. Damit kam es zur Entstehung des dualen Rundfunksystems, wie wir es heute kennen. Zum zweiten waren im Zuge der deutschen Vereinigung auch medienpolitische Entscheidungen gefordert. In beiderlei Hinsicht hat die Ära Kohl nachhaltige Spuren hinterlassen. Allerdings waren dafür der damalige Bundeskanzler und seine Regierung nicht allein verantwortlich. Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 in dieses Amt gewählt wurde, waren die Initiativen, privatwirtschaftlich organisierten Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland zu etablieren, längst im Gange. Da Helmut Kohl zu diesem Zeitpunkt fast ein Jahrzehnt Bundesvorsitzender der CDU war (und seit 1976 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion), waren diese Initiativen auf Parteiebene unter seiner Ägide vorbereitet. Gegenstand Wenn wir von Medienpolitik sprechen, meinen wir jenes politische Handeln, das auf die Durchsetzung von Werten und Zielen in der öffentlichen Kommunikation ausgerichtet ist und sich insbesondere auf die Massenmedien, also Presse, Film, Rundfunk und neue Medien (einschließlich heute das Internet) bezieht. Bei diesen Medien handelt es sich um technische Mittel, die zur massenhaften Verbreitung von Informationen, Meinungen und Unterhaltung an ein breites Publikum geeignet sind. Der Begriff „Medienpolitik“ ist in der alten Bundesrepublik allerdings erst in den 1970er Jahren in Gebrauch gekommen. Wohl hat man schon im 19. Jahrhundert von „Pressepolitik“ gesprochen. Politische Einwirkungen auf die gesellschaftliche Kommunikation reichen insofern weiter zurück. Dennoch indiziert die Karriere des Begriffs „Medienpolitik“ im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, dass sich hier ein eigener, genuiner Politikbereich konstituierte und zu beträchtlicher Bedeutung aufstieg. Allerdings waren dessen Legitimation und Institutionalisierung prekär.
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Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS
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Jürgen Wilke
Kompetenzen Wenn man die in der Bundesrepublik Deutschland betriebene Medienpolitik diskutieren will, muss man sich erst noch einmal klar machen, wie diese legitimiert und die einschlägigen Kompetenzen verteilt sind. Medienpolitik ist in einer liberalen Demokratie im Prinzip eine problematische Angelegenheit. Denn idealerweise soll sich die gesellschaftliche Kommunikation in einer solchen politischen Ordnung unabhängig vom Staat vollziehen. So ist jedenfalls auch das Grundgesetz zu verstehen, das in Art. 5 Meinungs- und Pressefreiheit als Abwehrrechte statuiert. Deshalb hatte Johannes Gross mit seinem oft zitierten Spruch nicht unrecht, die beste Medienpolitik sei gar keine. Dennoch verkennt man mit einem derartigen altliberalen Credo, dass die (technische) Eigenart moderner Medien politische Gestaltungsaufgaben auch für den Staat unausweichlich nach sich zieht. Dies lässt sich auch durch die institutionelle Garantie der Presse- und Rundfunkfreiheit im Art. 5 GG rechtfertigen. Allerdings ist die Sachlage insofern paradox, als dem Staat selbst hier die Aufgabe zufällt, Staatsfreiheit zu organisieren. Ob er dazu bereit ist, ist eine sich in der Medienpolitik permanent stellende Frage. Aus dem Grundgesetz lässt sich nicht nur ein – zumindest mittelbarer – Auftrag zur Medienpolitik ableiten. Die Verfassung enthält vielmehr auch Vorgaben, wer dafür überhaupt zuständig ist. Doch sind diese Vorgaben durchaus umstritten gewesen. Konrad Adenauer stützte seine Bemühungen zur Einführung eines Bundesfernsehens Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre bekanntlich auf den Art. 73 Nr. 7 GG, welcher der Bundesregierung das ausschließliche Gesetzgebungsrecht für das Post- und Fernmeldewesen (heute Telekommunikation) zuspricht. Seiner Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht im Fernsehurteil 1961 widersprochen und die Kompetenzfrage hinsichtlich der Rundfunkorganisation gemäß Art. 70 Abs. 1 zugunsten der Bundesländer entschieden. Grundsätzlich ergab sich daraus für die Folgezeit, dass die Bundesregierung nur über einen begrenzten Spielraum verfügt, selbst Medienpolitik zu betreiben. Das galt auch für die Regierung Kohl. Allerdings war dieser Spielraum auch nicht unerheblich, weil sich medienpolitische Entscheidungsmöglichkeiten in jüngerer Zeit erst auf der Grundlage technischer Vorentscheidungen realisieren ließen. Die Kompetenzfrage blieb im übrigen aktuell, weil durch die neuen Techniken die Grenzen, was eigentlich Rundfunk sei (und damit den Ländern zur Regelung zustehe), fließend wurden.
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Akteure Durch die medienpolitische Kompetenzverteilung sind auch schon die wesentlichen Akteure der Medienpolitik benannt. Wenn man Politik streng als Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen definiert, fallen hier wie anderswo die Letztentscheidungen den Parlamenten zu, in erster Linie den Länderparlamenten, innerhalb des dem Bund verbleibenden Spielraums auch dem Deutschen Bundestag. Die politische Gestaltungsfunktion erfüllten gleichwohl die sich auf parlamentarische Mehrheiten stützenden Regierungen. Sie können jedenfalls auch auf administrativem Wege medienpolitisch agieren. Doch wäre es verkürzt, Medienpolitik auf solche Letztentscheidungen und das Handeln der Administration zu reduzieren. Medienpolitik ist vielmehr ein Diskussions- und Verhandlungszusammenhang, an dem auch andere politische und gesellschaftliche Akteure beteiligt sind. Zunächst die Parteien, denen bei der politischen Willensbildung eine maßgebende Rolle zufällt, ferner gesellschaftliche Gruppierungen wie Kirchen und Gewerkschaften, nicht zuletzt die Medien und die sie tragenden Kräfte. Außer den organisierten Interessenverbänden der Verleger und der Journalisten können gerade die Letztgenannten selbst durch Veröffentlichungen auf den medienpolitischen Diskurs in der Öffentlichkeit einwirken. Dadurch sind die Betroffenen zugleich auch Akteure. Wenn die Bundesregierung dann Ende der 80er Jahre im Zuge der deutschen Vereinigung eine medienpolitische Kompetenz wahrnahm, so geschah dies im Rahmen ihrer deutschlandpolitischen, ja quasi außenpolitischen Zuständigkeit. Mit-Akteure waren hier bis zum Beitritt der DDR deren letzte, aber frei gewählte Regierung bzw. die von ihr geschaffenen einschlägigen Gremien. Erst mit der Gründung der neuen Bundesländer wurde das Prinzip des medienpolitischen Föderalismus auch in Ostdeutschland wirksam. Ziele Wie zu Beginn gesagt, geht es bei der Medienpolitik um die Durchsetzung von Werten und Zielen im Bereich der öffentlichen Kommunikation. Jede Beschäftigung mit der Medienpolitik muss daher nach diesen Zielen fragen. Dabei lassen sich Ziele nach verschiedenen Ebenen und Dimensionen unterscheiden. Sie können implizit bestimmten erstrebten Zuständen innewohnen, aber auch explizit gemacht werden, beispielsweise in Parteiprogrammen oder sogenannten Medienpapieren, wie die deutschen Parteien sie in den 1970er Jahren entwarfen. Unter den Zielen lassen sich damals insbesondere folgende ausmachen: Ordnungspolitische, die sich an der Verfassung und dem Leitbild einer pluralistischen Demokratie orientieren. Das macht publizistische Vielfalt zu einem Leitziel. Zu nennen sind ferner technologiepolitische und ökonomische Ziele, denn
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Medien besitzen mittlerweile ein enormes Wirtschaftspotential. Aber es wäre gewiss blauäugig, wenn man ausklammern wollte, dass Medienpolitik auch ein Teil Machtpolitik ist. Die Medienpolitik der CDU der 80er Jahre war auch motiviert durch negative Erfahrungen mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der Überzeugung, diesem sei in seiner monopolartigen Stellung ein übermäßiges Machtpotential zugewachsen, das nicht immer normkonform eingesetzt werde (mangelnde Ausgewogenheit) und daher eines Gegengewichts bedürfe. Die Interessenlage der SPD war hier eine merklich andere. Ordnungspolitische Überlegungen bestimmten auch den medienpolitischen Teil des deutschen Vereinigungsprozesses. Hier musste es darum gehen, das unter der DDR-Diktatur herrschende gelenkte Mediensystem in ein gemäß den Prinzipien der Bundesrepublik organisiertes zu überführen. Aber daneben spielten wiederum auch wirtschafts- und sozialpolitische Überlegungen hinein, die problematische Folgen hatten. Vorstufen Medienpolitik wurde in der Bundesrepublik Deutschland schon vor der Ära Kohl betrieben. Prägende Grundentscheidungen – Lizenzierung großer Regionalzeitungen und Gründung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten – waren durch die westlichen Besatzungsmächte getroffen worden. Diese Prägung ist von der CDU, zumindest von ihrer Führung, anfangs als ungeliebte Hinterlassenschaft angesehen worden. So ergriffen die Adenauer-Regierungen schon in den 1950er Jahren – wenn auch punktuell – medienpolitische Initiativen: Einerseits zur Schaffung eines Bundespressegesetzes, andererseits zur Einführung eines zweiten Fernsehprogramms unter maßgeblicher Beteiligung des Bundes. Das Scheitern des Projekts der Deutschland Fernsehen GmbH vor dem Bundesverfassungsgericht 1961 war gewiss eine der schmerzlichsten Niederlagen Konrad Adenauers, des sonst so erfolgreichen ersten Bundeskanzlers. In anderen heiß diskutierten medienpolitischen Fragen der 1960er Jahre – der Pressekonzentration und der „inneren Pressefreiheit“ – positionierten sich Unionsparteien und Bundesregierung hingegen durch die Abwehr regulierender Eingriffe. Insgesamt, so zeigt sich im Rückblick, waren die medienpolitischen Initiativen der Adenauerzeit formal noch stark fragmentiert und wenig koordiniert. Und inhaltlich zielten sie, zumindest auf Parteiebene der CDU, auf eine Stärkung von bundesstaatlichen Komponenten in der Medienordnung. Durch die föderalistischen Vorentscheidungen der Alliierten sah man sich auf Seiten der unionsgeführten Bundesregierung benachteiligt, was daher wettgemacht werden sollte. Den Vorteil des medienpolitischen Föderalismus erkannte man erst, als die Partei 1969 in Bonn von den Schalthebeln der Macht verdrängt wurde.
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Denn jetzt blieb den CDU- und CSU-regierten Bundesländern hier immerhin eine Kompetenz erhalten, durch die sie die Entwicklung der Bundesrepublik ordnungspolitisch beeinflussen konnten. Ausgangslage Welches war die Ausgangslage für die Medienpolitik der 80er Jahre? Entscheidend für sie war, dass sich durch Kabel und Satelliten neue Übertragungstechniken einstellten. Damit zeichnete sich ein Ende ab für den Mangel an terrestrischen Frequenzen, der bis dahin die Entfaltung der elektronischen Medien eingeschränkt hatte und auch der wesentliche Grund für die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch das Bundesverfassungsgericht gewesen war. Doch versprachen die hinzutretenden Techniken nicht nur eine Erweiterung des bisherigen Rundfunkspektrums, sondern auch zusätzliche Angebote, die unter dem Begriff „Neue Medien“ firmierten. Eines davon, das vielversprechend schien, war Bildschirmtext. Die damalige sozial-liberale Bundesregierung tat, was Exekutiven gerne tun, wenn sie sich mit einer ungeordneten Gemengelage konfrontiert sehen, also nicht entscheiden können, aber vielleicht auch nicht entscheiden wollen: Man setzt eine Kommission oder einen Rat ein. Die am 2. November 1973 beschlossene Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems (KtK) sollte Vorschläge, wie es hieß, für ein wirtschaftlich vernünftiges und gesellschaftlich wünschenswertes Kommunikationssystem der Zukunft vorlegen. Am 27. Januar 1976 präsentierte sie ihren Bericht. Der Schwerpunkt des sogenannten Telekommunikationsberichts lag auf dem Ausbau des Fernsprechnetzes und seiner Nutzung für neue Kommunikationsformen. Zum Ausbau der Breitbandkommunikation äußerte sich die Kommission zurückhaltend. Sie sprach noch vom „Fehlen eines ausgeprägten drängenden Bedarfs“ und sah auch bei den neuen Inhalten noch nicht klar, so dass sie zunächst Pilotprojekte (Modellversuche) empfahl. Bis diese Empfehlung tatsächlich realisiert wurde, vergingen acht Jahre. Am 11. Mai 1978, mehr als zwei Jahre nach Vorlage des KtK-Berichts, einigten sich die Bundesländer erst einmal auf vier solche Pilotprojekte, und zwar in Dortmund, München, Berlin und Ludwigshafen/Mannheim. Aber auch danach wurde deren Beginn weiter verzögert, wobei insbesondere die hessische Landesregierung auf die Bremse trat. Ungeklärt blieb weiterhin längere Zeit die Finanzierung. Die in der Öffentlichkeit verbreiteten Bedenken schlugen sich in der Forderung nach „Rückholbarkeit“ nieder. Und befürchteten negativen Folgen sollte durch eine breite Begleitforschung begegnet werden. Auch die SPD-geführte Bundesregierung beteiligte sich an der Verschleppung medienpolitischer Weichenstellungen. Am 26. September 1979 verkün-
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dete Bundespostminister Gscheidle den Beschluss, die Verkabelung von elf deutschen Großstädten zu stoppen. Einen Tag später führte der Minister im Bundestag gar aus, die Bundesregierung stelle Überlegungen an, wie die Empfangsmöglichkeiten für Satellitenprogramme der westlichen und südlichen Anrainer-Staaten unterbunden werden könnten – ein unerhörter Gedanke angesichts der damals internationalen Diskussion um den freien Informationsfluss. Trotz dieser Hindernisse gingen die Vorbereitungen zu den Pilotprojekten zumindest in den unionsgeführten Bundesländern weiter, auch nachdem Baden-Württemberg von einer Beteiligung Abstand genommen hatte. Die Landesregierung von Rheinland-Pfalz legte am 4. Dezember 1980 ihren Gesetzentwurf über einen Versuch mit Breitbandkabel vor, der erstmals auch privaten Rundfunkanbietern die Möglichkeit eröffnete, unter der koordinierenden Aufsicht einer öffentlich-rechtlichen Instanz Programm zu veranstalten. Die organisatorischen Voraussetzungen dafür wurden durch die Anstalt für Kabelkommunikation (AKK) seit 1982 geschaffen. Ähnlich liefen die Dinge in Bayern, wo der Ministerrat am 24. Juni 1980 eine Expertenkommission zur Vorbereitung des Kabelpilotprojekts München berief. Dabei war die Situation durch den Art. 111a der Bayerischen Verfassung, demzufolge dort Rundfunk nur in ausschließlich öffentlich-rechtlicher Trägerschaft erlaubt ist, etwas anders gelagert. Derweilen musste sich die CDU auf Bundesebene mit Erklärungen und Forderungen begnügen. Schon am 26. November 1979, zwei Monate nachdem er in Kraft getreten war, hatte das Präsidium der Partei die Aufhebung des Verkabelungsstopps verlangt und kritisiert, dass die Bundespost als „Blockadeinstrument des technischen Fortschritts“ benutzt werde. Der Bund habe technische Dienstleistungen zu erbringen, jedoch keine medienpolitischen Entscheidungen zu treffen. Die Chance, solche Forderungen auch in die Tat umzusetzen, eröffnete der Regierungswechsel im Herbst 1982. Jetzt sollte auch ein medienpolitischer Stillstand überwunden werden. Nicht ohne Grund hatte die Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl, die er am 13. Oktober 1982 im Deutschen Bundestag abgab, einen medienpolitischen Teil: Der Weg zur Anwendung moderner Techniken, so sagte er, sollte freigemacht werden. Die deutsche Bundespost sollte durch den Ausbau der Kabelnetze, die Einführung neuer Dienste und die Einbeziehung der Satellitentechnik wirkungsvolle Anstöße für Investitionen geben. Der Bundeskanzler kündigte eine Beendigung der politischen Blockade des Ausbaus moderner Kommunikationstechniken an. Die Vielfalt der Meinungen, die durch eine Vielzahl von Organisationsformen gewährleistet werde, sei Ingredienz einer freiheitlichen Ordnung. Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung und damit, dass sie den Bundespostminister stellte, gewann die CDU 1982 auch bundesstaatlich eine
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medienpolitische Gestaltungskompetenz wieder. Anders als in den 50er Jahren machte sie davon aber nicht einseitig zugunsten einer Stärkung des bundesstaatlichen Zentralismus Gebrauch, sondern nutzte diese Kompetenz unter Respektierung der föderalen Elemente der deutschen Medienordnung, d. h. der Zuständigkeit und Interessen der Bundesländer. Fragen Wenn wir uns mit der Medienpolitik der 80er Jahre beschäftigen, so geschieht dies zunächst in der Absicht, sich eines wesentlichen Kapitels der politischen Ära unter Helmut Kohl zu vergewissern. Wie kam die medienpolitische Weichenstellung zustande, welche Ziele hatte sie und welche Widerstände gab es dagegen? Wer waren die Akteure und welche Schritte leiteten sie ein? Wie machten sie von ihren Kompetenzen Gebrauch, welchen Überzeugungen folgten sie oder welche Vorbehalte waren zu überwinden? Darüber in einem Rückblick zu sprechen, liegt nicht nur nahe, um Legenden, die sich leicht bilden, zu begegnen. Vielmehr auch um der nachwachsenden Generation, die nichts anderes mehr kennt als die duale Medienordnung, zu vermitteln, unter welchen Geburtswehen es dazu gekommen ist. Nach mehr als zwei Jahrzehnten drängt sich die Frage auf, wie die Initiatoren von damals ihre medienpolitischen Entscheidungen bewerten. Dass sie damit Erfolg hatten, ist kaum zu bestreiten. Aber haben sich alle Erwartungen erfüllt – und zwar nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die publizistischen? Und welche Ziele und Prognosen haben sich vielleicht (zunächst) nicht erfüllt? Und hat es schließlich Versäumnisse oder von heute aus gesehen problematische Entscheidungen gegeben? Eine solch kritische Prüfung braucht die Ära Kohl nicht zu scheuen.
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Der Kampf um die neue Medienordnung. Initiativen und Innovationen Von Bernhard Vogel Im Zusammenhang mit der Neuordnung des Medienbereichs wird in der Literatur und auch in Vorträgen gern von der „Einführung des privaten Rundfunks“ gesprochen. Einführung, das klingt so, als hätte irgend jemand eine Idee gehabt, alle hätten ihr zugestimmt, es sei beschlossen und verkündet und dann eingeführt worden, und der private Rundfunk war da. Davon kann aber keine Rede sein. Es bedurfte vielmehr eines jahrelangen, damals mit großer Erbitterung geführten Kampfes, fast nach der Art eines Glaubenskrieges, bis die Tür für private Veranstalter zunächst einen winzigen Spalt geöffnet war. Im Landtag von Rheinland-Pfalz wurde mir von der verehrten Opposition vorgeworfen, mit Hilfe eines privaten Rundfunks die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zerschlagen zu wollen, ganz zu schweigen vom absoluten kulturellen Niedergang, der allein schon mit dem Beginn der kleinen Versuchsprogramme einhergehen würde. Es gab auf beiden Seiten Schwarz-WeißMalerei. Die einen zeichneten das düstere Bild eines platten Kommerzfunks und sahen die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks massiv bedroht, für die anderen war das öffentlich-rechtliche Rundfunkwesen über jeden Zweifel erhaben und schien in jeder einzelnen seiner Sendeminuten nur Kulturund Informationsprogramm zu sein. Die Gewerkschaften sagten den neuen Medien den Kampf an – „aus Sorge um die Arbeitsplätze“, man muss sich das heute überlegen, „aus Sorge um die Arbeitsplätze“! Teile der Kirchen, ihre offiziellen Mediensprecher zumal, schlossen sich dem an. Die Bundesregierung stoppte aus Sorge um „die humane Demokratie“ die Breitbandverkabelung und der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt warb nachdrücklich für einen fernsehfreien Tag. Zur Erinnerung einige Daten: Im Februar 1974 setzte die Bundesregierung eine unabhängige Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems ein. Ende 1975 schloss die sogenannte KtK (Kommission für den Ausbau der technischen Kommunikationssysteme) ihre Arbeit mit einem umfassenden Telekommunikationsbericht ab. Ein wesentliches Ergebnis war, dass in Zukunft eine schier unbegrenzte Anzahl von Rundfunkprogrammen technisch möglich sein würde. Dies war für mich persönlich und für andere entscheidend: Die technischen Kapazitäten, die Übertragbarkeitskapazitäten, waren nicht mehr knapp und mussten folglich nicht mehr bewirtschaftet werden.
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So wie ich es nach 1945 erlebt hatte, als anfangs das Papier knapp war, und es deswegen nur eine überregionale Zeitung gab, die dreimal in der Woche erschien und bei dem Zigarrenverkäufer abgeholt werden musste. Der Mangel an technischen Kapazitäten, der zur Beschränkung auf zwei öffentlich-rechtliche Programme geführt hatte, war jetzt nicht mehr gegeben. Am 11. Mai 1978 verständigten sich die Länder entsprechend den Empfehlungen dieser Kommission auf vier Versuche mit neuen Medien in zwei Unions-geführten und in zwei SPD-geführten Ländern, und zwar in Berlin, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, wobei aber nur eines dieser Projekte, nur das rheinland-pfälzische, ein privates Ordnungsmodell erproben sollte. Zunächst war von Ludwigshafen/Mannheim die Rede gewesen, aber der bedächtige Filbinger und der stürmische Kohl konnten sich auf die Federführung nicht einigen. Filbinger überließ die Sache damals dem in den Vorverhandlungen vor 1976 noch als Ministerpräsident amtierenden rheinland-pfälzischen Ministerpräsident Kohl. Deswegen ist von dieser Zeit an nur noch von Ludwigshafen und nicht mehr vom baden-württembergischen Mannheim die Rede. Bei einem Treffen vom 12. bis 14. November 1980, zwei Jahre nach der Einigung auf diese Pilotprojekte, kam es endlich zu dem sogenannten Kronberger Beschluss der Ministerpräsidenten, der die gemeinsame Finanzierung der vier Pilotprojekte regeln sollte: Man verständigte sich auf den sogenannten Kabelgroschen, auf 20 Pfennige Aufschlag auf die Gebühren zur Finanzierung dieser vier Projekte. In Wahrheit verständigten sich die Ministerpräsidenten nicht in ihrer offiziellen Sitzung am 12. November, sondern in Wahrheit kam die Vereinbarung in der Bar des Schlosshotels Kronberg in der Nacht vom 12. auf den 13. zustande, indem es gelang, den damaligen hessischen Ministerpräsidenten Börner davon zu überzeugen, dass seine Überzeugung allein die Überzeugung der anderen nicht majorisieren dürfe, und dass er zwar nicht seine Bedenken, aber sein Veto zurückstellen müsse gegen eine gemeinsame Beschlussfassung. Das Pilotprojekt Ludwigshafen war die Keimzelle des dualen Rundfunksystems, auch wenn bei seinem Beginn zwischen den wirtschaftspolitischen Vorstellungen und den kulturpolitischen Vorstellungen noch weit unterschiedliche Meinungen vorhanden waren. Der entscheidende Mann für die Verwirklichung, für die Umsetzung dieses Pilotprojektes wurde Claus Detjen, zunächst als Geschäftsführer des Zeitungsverlegerverbandes eigentlich mehr ein Bedenkenträger, aber durch Hanns-Eberhard Schleyer bekehrt, dann der Verwirklicher dieses Projektes, auf den ich mich auch bei den folgenden Ausführungen beziehe. Auf Seiten der SPD überwog die Ablehnung der privatwirtschaftlichen Öffnung der Märkte von Hörfunk und Fernsehen. Die Gewerkschaften unterstützten Kampagnen gegen den verkabelten Menschen; in der öffentlichen Meinung konnten sich die Gegner des Kabel- und Satellitenfunks erheblich leichter Ge-
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hör verschaffen als die Befürworter einer neuen Rundfunkordnung. Die Auffassung der Gegner, dass es für mehr als zwei oder maximal drei Programme bundesweit keinen Markt gäbe, fand viel leichter öffentliche Zustimmung als die Gegenposition der Befürworter von Privatfunk. Das Design des Pilotprojektes war weitsichtiger angelegt als die von Vorurteilen geprägte Haltung seiner Gegner. Es orientierte sich gemäß den politischen Vorgaben der Landespolitik. Hier muss ich anmerken, dass im Dezember 1980 zum ersten Mal ein Landesgesetz über einen Versuch mit Breitbandkabel im rheinland-pfälzischen Landtag beschlossen wurde, ein Gesetz, das die rechtlichen Grundlagen für private Programmanbieter geschaffen hat und die Zustimmung des Landtages nur fand, weil es verbunden war mit der Einrichtung einer unabhängigen Begleitkommission, die einige Jahre später entscheiden sollte, ob der Versuch fortgesetzt werden könne oder nicht. Es sollte also nach der politischen Vorgabe der Landespolitik eine duale Entwicklung öffentlich-rechtlicher und privater Veranstalter entstehen, und zwar von vornherein unter Einbeziehung von bundesweiter Satellitenübertragung. Knapp drei Monate nach Beginn des Projektes in Ludwigshafen wurde der ECS (European Communication Satellite) – der Arbeitsgemeinschaft ECS 1 Westbeam – der Zuschlag für das erste private deutsche Satelliten-TV-Programm gegeben, und es begann am 1. Januar 1985 unter dem Namen SAT 1. Es war der 1. Januar 1984, als endlich das erste Pilotprojekt mit privater Beteiligung in Ludwigshafen gestartet wurde, der oft zitierte Urknall, der eigentlich darin bestand, dass Christian Schwarz-Schilling und ich auf einen roten Knopf gedrückt haben. Berichtet worden ist, dass eben nicht Köln, nicht München, Berlin oder Düsseldorf, sondern Ludwigshafen der Medienfokus von Deutschland wurde, wenn auch nur für kurze Zeit. In einem Kellerstudio am Rande der Chemiestadt, zwischen einem Friedhof und einem Schlachthof gelegen, startete diese erste Aktion eines Privatfernsehens pünktlich um 10.30 Uhr am Neujahrstag 1984. Unterlegt mit Klängen von Bach begann die erste Sendung und ein Jahr später – wie gerade schon ausgeführt – mit SAT 1 das erste deutsche kommerzielle Fernsehprogramm. Es war also kein dröhnender Urknall, aber ein Urknall mit Wirkung. Ludwigshafen stand am Beginn einer Entwicklung, die politisch wie wirtschaftlich gewollt und von der rasant fortschreitenden Kabel- und Satellitentechnologie beschleunigt wurde. Das duale Rundfunksystem Deutschlands entstand mit den Privatsendern als Gegenpol zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Den Weg ebnete der Regierungswechsel 1982, nachdem jahrelang die vorhergehende Regierung den Privatfunk erfolgreich verhinderte, weil sie ihn nicht wollte. Man fühlte sich von ARD und ZDF gut bedient, und noch 1979 stoppte Bundeskanzler Helmut Schmidt die Verkabelungspläne seines damaligen Postministers Kurt Gscheidle.
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Der „Urknall“ war sicher ein entscheidendes Ereignis, das weitreichende Entwicklungen ausgelöst hat. Allerdings darf dieses Wort nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Tür tatsächlich nur unter vielen Mühen und nur einen kleinen Spalt geöffnet werden konnte. Aber der Fuß war in der Tür, und die Tür war nicht mehr zu schließen, wenngleich es noch harter Mühen und tageund nächtelanger Konferenzen bedurfte, bis endlich 1987 ein Staatsvertrag zustande kam, der die Neuordnung der Medienlandschaft regelte und das duale System, das ein Nebeneinander öffentlich-rechtlicher und privater Angebote darstellt, ermöglichen sollte. Und dass es zu diesem Medienstaatsvertrag kam, das möchte ich ausdrücklich sagen, ist nicht ohne Klaus von Dohnanyi zu erklären. Vom Beginn des Pilotprojektes am 1. Januar 1984 an gab es neben den neuen privaten TV- und Hörfunkprogrammen auch neue öffentlich-rechtliche Angebote, insgesamt 19 Fernseh- und 23 Hörfunkkanäle, etwas, was man sich wenige Jahre vorher noch nicht vorstellen konnte. Die Beiträge der öffentlich-rechtlichen Anstalten, deren verstärkte Anstrengungen, dienten nicht nur als Vielfaltsreserve unter rundfunkverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, sie gaben von vornherein den öffentlich-rechtlichen Anstalten ihre eigenen Entwicklungschancen in neuen Programmbereichen und bei der länderübergreifenden Verbreitung dritter Programme. Das rief natürlich seinerseits wieder unverzüglich die Kritik privater Veranstalter hervor. Das Programmprojekt, das Programmangebot des Pilotprojektes Ludwigshafen, entsprach der dualen Struktur, die heute für jedermann selbstverständlich das Rundfunksystem bestimmt. Die ersten Schritte für die länderübergreifende Verbreitung von dritten Programmen der öffentlich-rechtlichen Anstalten sind getan worden durch die Einspeisung von Bayern 3 in das Kabelpilotprojekt Ludwigshafen schon von Beginn am 1. Januar 1984 an. Das war damals alles andere als selbstverständlich und gelang nur mit Hilfe eines Tricks, indem man nämlich nachweisen konnte, dass Bayern 3 in einem kleinen Zipfel des Projektgebietes – ich glaube, 1.000 bis 2.000 Einwohner wohnten da –, tatsächlich bei Annahme günstiger technischer und meteorologischer Bedingungen dieses Programm örtlich regulär aus der Luft empfangen werden konnte. Und weil man das nachweisen konnte, konnte man es auch bundesweit einspeisen, denn es war ein ortsübliches Programm. Erst später folgte – gegen den Widerstand des Südwestfunks selbstverständlich – die Einspeisung anderer dritter Programme. Eine weitere Innovation war die erste Ausstrahlung von Satelliten-Hörfunk in Europa, die „Voice of America“ erhielt dafür in Ludwigshafen die Genehmigung und damit die Möglichkeit, neue Kooperationsformen mit privaten und öffentlich-rechtlichen Hörfunkveranstaltern zu erproben, wie sie heute auch für die „Deutsche Welle“ selbstverständlich sind. Da sich in Deutschland niemand bereit fand, einen Versuch für die Nutzung von Satellitenkapazitäten
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für Bildungsangebote zu unternehmen und erst recht niemand bereit fand, das auch noch zu finanzieren, richtete die Anstalt für Kabelkommunikation (AKK) eine Zusammenarbeit mit der Boston University ein. Kurse der Bostoner Universität wurden von Heidelberg bzw. von der AKK-Zentrale in Ludwigshafen aus zu ihren Ausbildungsstätten in Deutschland und anderen Ländern Europas übertragen. In keiner anderen politischen und programmlichen Pilotkonzeption war das Design des dualen Systems so angelegt wie eben in Ludwigshafen. Der Begriff „Urknall“ – das will ich noch ergänzen – stammt übrigens aus dem anfänglichen Chaos und ist erstmals 1983 in einem Interview mit Claus Detjen in der „Süddeutschen Zeitung“ verwendet worden. Die „Frankfurter Rundschau“ hat im Dezember 1983, also wenige Tage vor Sendebeginn, geschrieben, ich zitiere: „Ein Meilenstein in der Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Dieser Meilenstein markiert nicht nur die Entstehung des privaten Rundfunks, sondern wie ich ausdrücklich deutlich machen möchte, auch die Öffnung neuer Programmentwicklungen für den öffentlich-rechtlichen Bereich. Das Nebeneinander von öffentlich-rechtlichem und privatem Angebot war mein eigentliches Ziel, nachdem es keinen Zweifel mehr geben konnte, dass mit dem Wegfall der Frequenzknappheit die sachliche, inhaltliche und verfassungsrechtliche Begründung für ein ausschließlich öffentlich-rechtliches Informationszuteilungsmonopol fehlte. Weil die Knappheit der technischen Möglichkeiten zu Ende ging, war es nach meiner Überzeugung an der Zeit, die Strukturen zu ändern. Zu keinem Zeitpunkt war es Ziel, den öffentlichrechtlichen Rundfunk zu zerschlagen, wohl aber war es Ziel, ihn der Konkurrenz und dem Wettbewerb auszusetzen, wie es unserer Verfassung, unserem Ordnungssystem ganz generell entspricht. Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit sind für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend. Die Zulassung freier Veranstalter, die in eigener Verantwortung Programme anbieten, war für mich ein Gebot dieser Meinungs- und Informationsfreiheit. Und darüber hinaus war klar, wenn private Anbieter in Deutschland dafür keine Chance bekämen, würden sie sie im benachbarten Ausland nützen. RTL gab es auch damals schon, allerdings nur in Luxemburg. Pierre Werner, der luxemburgische Ministerpräsident, war entschlossen, dieses Programm nach Deutschland zu übertragen. Er hätte Bitten von Helmut Schmidt, darauf zu verzichten, nie auf Dauer nachgegeben und entsprochen. Es war ganz klar, würden wir nicht in Deutschland die Türe öffnen, würden wir von der Schweiz, von Luxemburg, von Österreich dieselben Programme empfangen können. Insofern gab es auch arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Argumente. Es war notwendig, gemeinsame Regelungen zu schaffen, die privaten Veranstaltern den Aufbau und die Fortentwicklung eines privaten Rundfunksystems ermöglichten, ihnen ausreichend Sendekapazität zur Ver-
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fügung und angemessene Einnahmequellen in Aussicht stellten. Was meine Überlegungen, privaten Rundfunk zu ermöglichen, mit Sicherheit nicht bestimmt hat, will ich auch sagen: Zu keinem Zeitpunkt hatte ich die Illusion, die mir in der politischen Auseinandersetzung damals unterstellt worden ist, die Illusion, mit dem privaten Angebot könne man dem angeblich „roten“ öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine „schwarze“ Konkurrenz entgegenstellen. Das ist immer wieder behauptet worden, weil natürlich die ÖffentlichRechtlichen dagegen waren, und weil die Sozialdemokraten dagegen waren, und weil wir dafür waren. Ich wollte Pluralität, die Risiken selbstverständlich in sich trägt, ich wollte ein Mehr an Auswahlmöglichkeiten, auch mit den Gefahren, die damit verbunden sind, mehr Macht den Nachfragern, weniger Macht den Anbietern. Nun zur Bilanz. Was ist aus den Absichten geworden? Schneller und umfassender, als viele erwarteten oder auch befürchteten, haben sich die privaten Anbieter und der private Rundfunk durchgesetzt. Die anfangs gehörten Gegenargumente, es fänden sich keine Veranstalter, verleiten heute zum Schmunzeln. Man mag fast nicht mehr glauben, dass es solche Argumente gab, aber es hat sie gegeben. Der private Hörfunk schreibt seit langem fast überall, wo er professionell arbeitet, schwarze Zahlen. Er ist zum respektablen Konkurrenten der öffentlich-rechtlichen Anbieter geworden. Und ich füge ausdrücklich hinzu: Wenn es Aufgabe des Staates ist, Rahmenbedingungen zu setzen, wenn es Aufgabe des Staates ist, Oligopole zu durchbrechen, dann war es damals Aufgabe, den Privaten das Recht zu sichern, in die Konkurrenz einzutreten. Und dann ist es jetzt Aufgabe der öffentlichen Hand, die öffentlichrechtlichen Anstalten davor zu schützen, nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. Übrigens bin ich deswegen auch strikt gegen den Gedanken einer Privatisierung des ZDF. Das private Fernsehangebot ist heute nicht mehr wegzudenken. Der Wettbewerb hat sich ohne Frage für alle Beteiligten positiv ausgewirkt. Ich sage das ausdrücklich auch in Bezug auf die öffentlich-rechtlichen Anstalten. Es gibt genügend Beispiele, wo private Anbieter die Nase vorne hatten, wenn es um Informationen für den Zuschauer ging. Und damit meine ich nicht nur den Sport. Die ersten Bilder vom Fall der Berliner Mauer am 9. November habe ich in Warschau im privaten Fernsehprogramm gesehen, und die ersten Schreckensnachrichten über den 11. September haben wir alle über private Sendeanstalten empfangen. Die privaten Anstalten haben sich, wie erwartet, aber im übrigen vor allem den Unterhaltungsprogrammen zugewandt und andere Sparten eher vernachlässigt. Leider haben die öffentlich-rechtlichen Anstalten den Handlungsspielraum, den ihnen die Gebühreneinnahmen einräumen, nicht immer dahingehend genutzt, die Grundversorgung sicherzustellen. Sie schielen meiner Ansicht nach allzu oft auf eine falsch verstandene Konkurrenz zu den Privatanbietern. Die Frage der Einschaltquote droht den ihnen
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ausdrücklich gegebenen Handlungsspielraum aus meiner Sicht zu oft einzuengen. Deshalb ist die Behandlung medienpolitischer Fragen in der Ära Kohl sehr wohl auch der Anlass zu sagen, auch heute sollten medienpolitische Fragen weit oben auf der Tagesordnung der aktuellen Debatten stehen. Es sind ganz andere Fragen, die uns heute beschäftigen. Aber es bleibt richtig: Auch heute ist ein freiheitlicher Staat in hohem Maße von der Leistungsfähigkeit und von der Freiheitsfähigkeit seiner Medienordnung abhängig. Und vielleicht führt die Beschäftigung mit der Vergangenheit auch dazu, über die Gegenwart etwas intensiver nachzudenken.
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Der Neuerer hat Gegner auf allen Seiten. Eine Bilanz Von Christian Schwarz-Schilling Als erstes möchte ich feststellen, dass das, was in den achtziger Jahren an medienpolitischen und medientechnischen Entscheidungen gefällt wurde, sehr sorgfältig in den siebziger Jahren vorbereitet worden war. Diese Entscheidungen wurden nicht rasch aus der Hüfte geschossen, sondern beruhten auf einer langfristig vorbereiteten Strategie, die damit begann, dass Helmut Kohl bestimmte personalpolitische Entscheidungen getroffen und bereits in den siebziger Jahren diesbezüglich programmatische Überlegungen zur Medienpolitik und Informationstechnologie in Gang gesetzt hatte. Monopol der Deutschen Bundespost Ich möchte mich zunächst dem Monopol der Deutschen Bundespost zuwenden. Die Bundespost war ein am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Heinrich von Stephan sehr weitsichtig geformtes Staatsunternehmen mit einer relativ liberalen Handhabung. Das Fernmeldeanlagengesetz aus dem Jahre 1928 erlaubte z.B., dass Nebenstellen des Telefons von Privaten hergestellt, vertrieben und verkauft wurden. Das hat dazu geführt, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Bereich keinen Rückstand bekamen. Da konnten Siemens, Telefonbau & Normalzeit oder Standard-Elektrik-Lorenz bei den Endkunden ihre Telefon-Nebenstellen ungehindert und im fairen Wettbewerb mit der Post anbieten. Das Entscheidende dabei war, dass die Firmen ihre Innovationsmöglichkeiten so mehr und mehr in den Nebenstellen ausprobieren konnten, weil dort durch die Vermittlungstechnik der technische Fortschritt in der Kommunikationstechnologie praktisch angewandt werden konnte. Dies alles war möglich, weil man 1928 ein sehr weitsichtiges, liberales Fernmeldeanlagegesetz geschaffen hatte und neben dem Monopol fernmeldetechnische Regelungen erlaubt waren, die ein einigermaßen erträgliches Verhältnis zwischen dem privaten Wettbewerb und dem Monopol der Post eingeführt hatte. Der liberale Geist, der mit den privaten Nebenstellen zu einem wettbewerbsorientierten Markt geführt hatte, fand in den siebziger Jahren in Deutschland keine Fortsetzung mehr. Im Gegenteil: In den siebziger Jahren verstärkte sich nicht nur die Monopolstellung, sondern gleichzeitig fand eine Monopolisierung des Medienmarktes statt und die Anwendung neuer Innovationen geriet
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damit in die Abhängigkeit staatlicher Genehmigungs- und Erlaubnisszenarien, die den Wettbewerb immer mehr in enge Schranken verwies. Die Kombination von technikfeindlichem Denken und ideologisch-missionarischem Eifern führte zu einer unerhörten Machtfülle der staatlichen Monopole. Diese Kombination brachte das Post- und Fernmeldewesen Deutschlands gegenüber anderen Ländern in den siebziger Jahren mehr und mehr ins Hintertreffen. Man wollte aber nicht einsehen, dass die Rahmendaten und die notwendigen Voraussetzungen für eine leistungs- und serviceorientierte Bewältigung der Anforderungen mit dem dogmatischen Anspruch des Monopols und seiner rigiden Auslegung einfach nicht mehr gegeben waren. Der Einzug der Mikroelektronik im Geräte- wie im Netzbereich löste einen Innovationsschub aus, dessen Geschwindigkeit alle Erwartungen übertroffen hat. Mit riesigen Schritten musste die Netzkapazität für das Telefon, aber auch für Telefax, Datenverkehr und weitere Dienstleistungen ausgebaut werden. Die notwendigen Investitionsmittel konnten praktisch nur durch eine gewaltige Selbstfinanzierungsleistung, welche durch weit überhöhte Tarife generiert worden war, beschafft werden. Da sich die Telekommunikation aber immer mehr internationalisierte, war eine autonome Festsetzung der Tarife immer weniger möglich. Lange glaubte man, dass durch die überproportionale Höhe der Ferntarife noch sehr viel Eigenkapital und damit auch eine Selbstfinanzierung der Investitionen aus den laufenden Einnahmen erwirtschaftet werden könnte. Aber es war absehbar, dass diese Zeiten zu Ende gehen würden, sogar früher als auf dem lokalen und regionalen Markt in Deutschland, da im internationalen Bereich der Wettbewerb bereits unaufhaltsam die Szene beherrschte und immer mehr spürbar wurde. Dennoch zogen die Politiker keinerlei Konsequenzen, um das Eigenkapital aufzustocken, sei es durch Zuweisungen aus Haushaltsmitteln, sei es durch Privatisierung oder sonstige Formen der Kapitalbeschaffung. Ganz im Gegenteil, der Staat hatte selbst seine finanziellen Nöte und betrachtete die Post weiterhin als staatliche Finanzierungsquelle. In den siebziger Jahren wurde die Abgabe an den Staat noch einmal drastisch erhöht, von sechs auf zehn Prozent des Umsatzes, völlig unabhängig von der Produktivität, der Gewinnlage oder der Verlustlage des Unternehmens. Das war eine kameralistische Einstellung, die mit einem im Wettbewerb befindlichen Unternehmen überhaupt nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen war. Wir erinnern uns, wie damals der Wettbewerb in den USA durch die Gerichtsentscheidung im Prozess mit der amerikanischen AT&T und IBM vorangetrieben worden ist; wie die British Telecom dann von Margret Thatcher als erste PTT in Europa in eine private Form überführt worden ist. Doch bei uns wurde nur ein vergeblicher Anlauf zu einer Postreform Anfang der siebziger Jahre unternommen – nach seinem Scheitern tat sich bei uns in dieser Frage nichts mehr.
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Die Politisierung des „öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre spitzte sich die Gesamtsituation mehr und mehr zu. Ich war damals Mitglied des Fernsehrates beim Zweiten Deutschen Fernsehen und Vorsitzender des „Ausschusses für Politik und Zeitgeschehen“. Von daher hatte ich die Aufgabe, die Programme besonders intensiv zu beobachten und Beanstandungen nachzugehen. Im ZDF, so glaube ich zumindest, war damals eine relativ gute „Ausgewogenheit“ feststellbar. Da gab es eben noch das „Deutschland-Magazin“ auf der einen und „Kennzeichen D“ auf der anderen Seite, außerdem „Direkt“ oder andere Magazine, wo man sagen konnte, das ist eben das Meinungsspektrum. Diese Feststellung konnte ich für die ARD so nicht treffen. In der ARD war eine ganz klare Linkslastigkeit feststellbar, und es war höchste Zeit, dass sich die Union mit dieser Tendenz auseinander setzte.1 Neben den personellen Seilschaften wurden immer selbstbewusstere Ideologien im Journalismus sichtbar, die wirklich erstaunliche gesellschaftspolitische Doktrinen zum Vorschein brachten. Dazu ein typisches Beispiel: Dieter Stolte, der spätere ZDF-Intendant, hatte 1976 bei der Formulierung von Zielvorstellungen des Programms für das ZDF die Frage gestellt: „Wo nimmt unsereins das Recht her, das Instrument Fernsehen zu benutzen, um die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen zu verändern?“ Schon diese Fragestellung stieß bei der linken Journalistenseilschaft auf völliges Unverständnis. Peter Christian Hall, damals beim epd-Pressedienst tätig, hatte die Antwort parat: „Das nimmt man her aus dem Bildungs- und Reflexionsvorsprung, den die Programm-Macher vor der großen Mehrheit ihres Publikums haben und vor allem aus der Einsicht in den prozesshaften Charakter eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens.“2 Hier spiegelt sich in nuce die große Auseinandersetzung, die zwischen missionarischen Programm-Machern und dem Publikum in den siebziger Jahren entstanden war. Mir war dabei klar geworden, dass man da, wo einigermaßen
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Währenddessen sich die Union mit den grundsätzlichen Fragen der Rundfunkpolitik und mit der immer stärker ideologisierten Situation in der ersten Hälfte der 70er Jahre in Rundfunk und Fernsehen wenig beschäftigt hat und die These „die beste Medienpolitik ist keine“ als eine besonders kluge Aussage unterstützte, kam in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eine immer kritischere und teilweise sehr scharfe Auseinandersetzung zwischen den Parteien zustande. Besonders hart wurde der Begriff „Ausgewogenheit“ umkämpft, der bei einem großen Teil der immer weiter nach links abdriftenden Journalisten als eine völlige Verfehlung der journalistischen Aufgabe betrachtet wurde und dann auch zu entsprechenden Schlussfolgerungen geführt hat. Vgl. „Rundfunk-Proporz als Notwehr“ – Rundfunk-Interview mit Christian Schwarz-Schilling, in: Rheinischer Merkur vom 25. März 1977. Vgl. „Mit List und mit Leerstellen: respektable Programmkonzeption“, in: epd/Kirche und Rundfunk Nr. 26, 3. April 1976 S. 1f.; „Schwarz-Schilling schneidet ein schwieriges Kernproblem an, der Bildungs- und Reflektionsvorsprung der Redakteure – und der mündige Bürger“, in: epd/Kirche und Rundfunk Nr. 29, 14. April 1976, S. 18f.
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„Ausgewogenheit“ des Meinungsspektrums herrschte, Meinungsvielfalt hergestellt werden konnte; aber man musste immer höllisch aufpassen, um nicht plötzlich einseitige Tendenzen einreißen zu lassen; da aber, wo redaktionelle Seilschaften bereits etabliert waren, verbunden mit öffentlich-rechtlichem Schutzcharakter für die Dauerbeschäftigung der Journalisten, da war nichts mehr zu korrigieren. Deswegen wurde die Überlegung, es müsse zum öffentlich-rechtlichen System der Wettbewerb privater Programme hinzu kommen, immer aktueller. Das habe ich mir dann, nachdem ich zum medienpolitischen Sprecher der CDU ernannt worden bin, als eine der wichtigsten Zielsetzungen fest vorgenommen. Ich nutzte eine medienpolitische Tagung zu Fragen der Rundfunkfreiheit, um diese Zielsetzung zu verkünden. Diese Rede markierte bis November den Wendepunkt der CDU-Medienpolitik.3 Ich erinnere mich noch, dass Peter Glotz, der medienpolitische Experte der SPD, nach meinem Referat hell empört gewesen ist über diese programmatische Kehrtwendung der Union. Der Titel meiner Rede („Ist das öffentlichrechtliche System noch zu retten?“) war zugegebenermaßen (mit Absicht) provokativ gewählt. Peter Glotz hat mir dann auch vorgeworfen, ich hätte mit meinem Vortrag erstmals den medienpolitischen „Verfassungskonsens“ zwischen den beiden großen Parteien aufgehoben und beendet. Nun, so gesehen, hatte er vielleicht sogar Recht. Die neue Medienpolitik der Union Ich richtete nach Übernahme dieses Amtes des medienpolitischen Sprechers der Union gleich einen „Koordinierungsausschuss der CDU und CSU für Medienpolitik“ ein, weil mir natürlich klar war, dass eine Kontroverse zwischen CDU und CSU in der Verfolgung dieses Zukunftsprojektes nicht entstehen dürfe. Wir mussten die neuen Ziele von Anfang an zusammen angehen, vielleicht manchmal getrennt marschieren, aber vereint schlagen. Und deshalb war es auch notwendig, die gerade zwei Jahre vorher unter der Leitung von Friedrich Zimmermann aufgestellten medienpolitischen Leitsätze der beiden Par-
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Christian Schwarz-Schilling: „Ist das öffentlich-rechtliche System zu retten?“. Rede auf der Medienpolitischen Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing vom 26.–28. November 1976. Manuskript. Die Rede wurde in leicht abgewandelter Form veröffentlicht in: Bertelsmann Briefe, Nr. 91, 1977, „Rundfunksystem in der Krise – Medienpolitische Anmerkungen zur Situation der öffentlich-rechtlichen Anstalten“, (S. 3–8). Das Thema löste zwischen Parteien, Journalisten, Publizisten, Politikern und Wissenschaftlern heftige Kontroversen aus. Günter EDERER: „Eine alltägliche Geschichte – Eine kritische Stellungnahme zu Christian Schwarz-Schilling: Rundfunksystem in der Krise“, in: Bertelsmann Briefe, Nr. 93, 1978, S. 27–32. Stellungnahmen von: Gerd BUCERIUS „Eine alltägliche Geschichte“, EBD., Nr. 94, 1978, S. 19; Wolfgang FISCHER: „Parteieneinfluß auf Rundfunk- und Fernsehsender“, EBD. S. 20f.
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teien schnellstens zu überarbeiten, denn bei diesen Leitsätzen war die öffentlich-rechtliche Struktur auch von der Union als Dogma festgeschrieben worden. Und das passte natürlich überhaupt nicht in das neue Konzept, von dem ich hier spreche.4 Da ich Mitglied der Grundsatzprogramm-Kommission der CDU war, die unter der Leitung von Richard von Weizsäcker stand, haben wir in unseren Programm-Beratungen die Ziffer 123 eingefügt, welche die Wende in der Medienpolitik deutlich signalisierte. In diesem neuen Grundsatzprogramm der CDU, welches im Oktober 1978 beschlossen worden ist, lautet der Text des Paragraphen 123 wie folgt: „Einer freien Gesellschaft entspricht die Pluralität der Medien. Unabhängigkeit und Vielfalt der freien Presse sind zu sichern. Öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalten sind in besonderer Weise der Informationsvermittlung und Meinungsvielfalt verpflichtet. Die Ausstrahlung weiterer Hörfunk- und Fernsehprogramme durch andere Veranstalter – auch durch Gesellschaften des privaten Rechts – soll möglich sein. Neue Technologien dürfen nicht dazu benutzt werden, durch Beschränkung des Zugangs bestehende Medienstrukturen zu bevorzugen. Durch Vermehrung des Angebots an Information, Meinung, Bildung und Unterhaltung haben sie in erster Linie dem Bürger zu dienen. Die freiheitliche Gestaltung der Medien und der Zugang zu allen Informationen sind unentbehrlich für die Erhaltung des demokratischen Staates. Sie ermöglichen die Bildung einer öffentlichen Meinung und die wirksame Kontrolle der staatlichen Macht.“5 Nur einen Monat später startete die Union am 7. und 8. November 1978 mit einem „Medientag“ in Bonn die politische Kampagne für eine neue Medienordnung. Der Koordinierungsausschuss für Medienpolitik der CDU/CSU hatte 10 Thesen vorbereitet, die auf dem Medientag durch Reden von Heiner 4
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Die Leitsätze wurden von der CDU/CSU-Medienkommission erarbeitet und etwa Mitte 1976 von den Präsidien und Vorständen der CDU und CSU verabschiedet und unter dem Titel „Freiheitliche Medienpolitik“ von der Bundesgeschäftsstelle veröffentlicht (August 1976). Zwar sind in diesen Leitsätzen auch bereits weiterführende Gedanken enthalten, etwa, „daß die Monopolstellung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine ständige Überprüfung der Vereinbarung mit Artikel 5 des Grundgesetzes notwendig machen“. Auch wird darauf hingewiesen, dass neue technische Kommunikationsmittel eine „Neudefinition des Rundfunksbegriffes notwendig machen“. Aber betreffend der öffentlich-rechtlichen Anstalten entscheidend war die Aussage: „Die öffentlich-rechtliche Struktur soll Grundlage der Organisation von Hörfunk und Fernsehen bleiben. Wenn die technische Entwicklung eine Vielzahl lokaler und regionaler Programme ermöglicht, sind die Voraussetzungen für andere Organisationsformen zu prüfen.“ Hier war also dringend eine Überarbeitung der Grundsatzposition der Unionsparteien erforderlich. Diese Ziffer wurde auf dem 26. Bundesparteitag in Ludwigshafen, 23.–25. Oktober 1978, im Rahmen der Verabschiedung des Grundsatzprogramms beschlossen. Vgl. Christlich Demokratische Union Deutschland (Hg.), Freiheit – Solidarität – Gerechtigkeit. Protokoll 26. Bundesparteitag Ludwigshafen 23.–25. Oktober 1978, Bonn o.J., S. 49.
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Geißler, Helmut Kohl, Friedrich Zimmermann und mir erläutert und beraten bzw. beschlossen worden sind.6 Die politische Wirkung und das Presse-Echo auf diesen Medientag waren überwältigend.7 So kam es, dass die Medienpolitik zu einem heiß umkämpften Feld geworden ist, eigentlich in allen Bereichen der Gesellschaft. Es gab hier auch innerhalb der unionsnahen Kreise sehr differenzierte Stellungnahmen und Positionen. Insbesondere der Intendant des Süddeutschen Rundfunks, Hans Bausch, bekämpfte die Unionspolitik nach Kräften, konnte allerdings den Kurs der Union nicht mehr beeinflussen.8 Die Parteiführungen von CDU und CSU, die Fachgremien für Medienpolitik und die Fraktionen in den Ländern und im Bund hatten sich eine einheitliche Position erarbeitet und ihre Beschlüsse gefasst. Jetzt fehlte nur noch die Umsetzung. Diese Umsetzung erfolgte dann mit Beginn der 80er Jahre während der Regierungszeit von Helmut Kohl. Der politische Kampf um neue Kommunikationstechnologien – Kabel und Satellit, Kupfer und Glasfaser Ich habe bereits am 4. Juli 1978 der Öffentlichkeit ein Memorandum übergeben, in welchem ich darauf hingewiesen habe, dass Kabel und Satellit die Medienlandschaft der Zukunft von Grund auf ändern werden.9 Nach der Regierungsübernahme durch Helmut Kohl als Bundeskanzler und meiner Ernennung zum Minister für Post- und Fernmeldewesen widmete ich mich vor allen Dingen zunächst den technischen Aufgaben, da wir auf fast allen Gebieten in der Gefahr waren, in einen unaufholsamen Rückstand zu
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Der Paragraph 123 des Grundsatzprogramms konnte nur in kurzen Zügen die Wende in der Medienpolitik der Union beschreiben. Auf diesem Medientag in Bonn am 7./8. November 1978 wurde zum ersten Mal durch die zehn Leitsätze, die vom Koordinierungsausschuss sorgfältig vorbereitet worden sind, die umfassende Konzeption der Öffentlichkeit vorgestellt. Durch die Beteiligung des Bundesvorsitzenden Helmut Kohl und seines damaligen Generalsekretärs sowie von Friedrich Zimmermann war sowohl die einheitliche Stoßrichtung beider Unionsparteien deutlich geworden, als auch die Priorität, die die Medienpolitik künftig bei der Union einnehmen würde. Vgl. die Berichte und Kommentare zum Medientag der CDU/CSU in Bonn, 7./8. November 1978, Presseausschnittsammlung der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Hans BAUSCH: „Rundfunk in Deutschland“ schildert ausführlich in fünf Bänden die historische Entwicklung des Rundfunks in Deutschland. Hier beschreibt er auch die Position als Intendant des öffentlich-rechtlichen Rundfunks; Band 4, Rundfunkpolitik nach 1945, Zweiter Teil, München 1980, S. 879ff., S. 988ff. Die verschiedenen Positionen kamen auch sehr gut in einem „Spiegel“-Gespräch zum Ausdruck: „Bonn blockiert 30 FernsehProgramme“, in: Der Spiegel, Nr. 7/1980, S. 35ff. „Kabel und Satelliten werden die Medienlandschaft verändern: Eine pragmatische Antwort auf eine herausfordernde Problemstellung“, in: epd/Kirche und Rundfunk Nr. 51, 8. Juli 1978, S. 1ff.
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geraten.10 Diese technischen Möglichkeiten waren auch eine Voraussetzung, um die Ziele unserer Medienpolitik in die Tat umzusetzen. Es war geradezu ein Glücksfall, dass wir in dieser Zeit über solche technischen Möglichkeiten verfügten. Man musste sie nur ergreifen, um die verfassungsrechtliche Festschreibung des öffentlich-rechtlichen Monopols aufzulockern und beenden zu können. Denn die Knappheit der Frequenzen war ja der verfassungsrechtliche Grund, warum das Bundesverfassungsgericht in Deutschland Rundfunk und Fernsehen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft mit entsprechender „Binnenpluralität“ und mit dem Ausgewogenheitsgebot jeweils in einem Sender festgelegt hat. Gibt es nun mehr Frequenzen, dann kann die Binnenpluralität durch die sehr viel besser funktionierende „Außenpluralität“ d.h. also durch Wettbewerb ersetzt werden, und die Sonderstellung der elektronischen Medien mit ihrem öffentlich-rechtlichen Charakter verliert ihre juristische Grundlage. Noch 1 1⁄2 Jahre vor der Regierungsübernahme kam es zu einer folgenschweren Entscheidung im Deutschen Bundestag: Weil die SPD unbedingt den Vorsitz der „Enquete-Kommission Energiepolitik“ haben wollte, musste eine weitere „Enquete-Kommission“ im Deutschen Bundestag gebildet werden, auf die dann die Union den Zugriff hatte. Diese Kommission hieß: „Enquete-Kommission Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien)“. Ich hatte mich gegen diese Kommission gewendet, weil sie mir nur als ein Mittel erschien, um die überfälligen Entscheidungen für die Fortentwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien in Deutschland aufzuhalten. Aber es half nichts: Die Enquete-Kommission wurde eingerichtet und der damalige Hauptgeschäftsführer der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Philipp Jenninger, bat mich darum, den Vorsitz zu übernehmen. So wurde ich, der diese Kommission bekämpft hatte, ihr Vorsitzender; ich überlegte natürlich wie diese Kommission dennoch dem Fortschritt in der Entwicklung der IuKTechnologien dienstbar gemacht werden könne. Es hatte ja auch den Vorteil, dass ich zusammen mit den SPD-Kollegen des Bundestages in alle Welt reiste, was uns nach Kanada, nach Japan, nach Australien und Neuseeland sowie andere europäische Länder geführt hat, und wo wir dann gemeinsam Erfahrungen sammeln konnten. So bekamen wir in großer Geschwindigkeit einen hervorragenden Überblick über die Situation der IuK-Technologien, der Medien und den jeweiligen Stand der Technik. So gab es auch in dieser Enquete-Kommission einen Lernprozess, der sich auf alle Fraktionen – mit Ausnahme der Grünen – erstreckte und der dann
10 Vgl. Christian SCHWARZ-SCHILLING, Eine überfällige Reform in der Bewährung, in: Post und Telekommunikation – eine Bilanz nach zehn Jahren Reform, hg. von Lutz Michael BÜCHNER, Heidelberg 1999, S. 87–148, bes. S. 93ff.
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auch noch zu einem ganz brauchbaren „Zwischenbericht“ geführt hat.11 Den endgültigen Bericht musste ich nicht mehr zu Ende schreiben, denn im Oktober 1982 kam der Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl. Ich wurde Minister für Post- und Fernmeldewesen und konnte auf diese Weise unsere neuesten Erkenntnisse als Zukunftsprogramm in die Maschinerie der Bundespost einspeisen. Wie in einem Crash-Kurs war ich auf diese Aufgabe durch die Enquete-Kommission vorbereitet worden. Ob man von sozialdemokratischer Seite die Enquete-Kommission, wenn man das vorausgeahnt hätte, tatsächlich geschaffen hätte, weiß ich nicht. Aber so ist es nun einmal gelaufen! Und jetzt kam die Frage: Welche Entscheidungen treffen wir im Hinblick auf die Bundespost?12 Die strategische Zielsetzung für eine Neuordnung des Medienmarktes war klar, die Beschlüsse innerhalb der CDU/CSU waren alle gefasst, die aktuellen Ergebnisse der Enquete-Kommission waren bekannt und unser Koalitionspartner, die FDP machte keine Schwierigkeiten, sondern schwenkte auf die neuen Zielvorstellungen der Union ein. Bereits im Dezember 1982 führte ich einen Beschluss des Verwaltungsrates der Deutschen Bundespost herbei, der das Volumen für die Verkabelung in der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1983 von 250 Millionen auf eine Milliarde D-Mark erhöhte. Wir hatten gerade einmal knapp 2 Prozent verkabelte Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland, während unsere Nachbarländer Belgien, Holland u.a. schon bei rund 60 bis 80 Prozent lagen. Es war eine riskante technologische Wettlaufsituation: wir hatten noch keine Fernmeldesatelliten zur Programmeinspeisung in Kabelnetze – wie etwa in den USA –, währenddessen zwei Direktsatelliten bereits mit den Franzosen zusammen im Bau waren (TV-Sat und TDF 1), die als sogenannte „direkt strahlende“ Satelliten nicht gedacht waren zur Einspeisung in Kabelnetze; aber was die Programmhoheit anging, standen sie als „direkt strahlende Rundfunksatelliten“ unter der Verantwortung der Länder. Uns war klar, dass, wenn wir nicht sehr schnell einen großen Teil der Kabelinfrastruktur und die dazu notwendigen Fernmeldesatelliten zur Programmeinspeisung schaffen würden, diese Alternative einfach verloren ginge. Hinzu kam, dass wir auch über die Direktsatelliten die Frequenzknappheit beibehielten, da diese Direktsatelliten allenfalls 4–5 Fernsehprogramme abstrahlen konnten und diese in der Programmerlaubnis ausschließlich den Ländern unterstanden. Wenn wir uns auf diesen Weg begeben 11 Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken“, Bundestagsdrucksache 9/2442 vom 28. März 1983. 12 Jeder – auch nur etwas – Eingeweihte wusste, dass die Bundespost auch für die Medienentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland eine wichtige, wenn nicht überhaupt zum damaligen Zeitpunkt die wichtigste Rolle spielt. In einer Postpressekonferenz am 4. Juli 1978, habe ich unter dem Thema „Neue Medientechnologien und Bundespost“ dazu Stellung genommen.
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hätten, dann hätten wir eine große Chance für die Infrastruktur und die Neuordnung des Medienmarktes in der Bundesrepublik Deutschland vertan. Und genau das war die Absicht der SPD: Durch Einführung des Rundfunksatelliten mit seinen vier bis fünf Kanälen und der Behinderung der Verkabelung (vergleiche „Kabelstopp durch Kabinettsbeschluß“ vom 26. September 1979) sollte die Frequenzknappheit und damit das öffentlich-rechtliche Monopol erhalten bleiben. So ist es im Übrigen dann auch in Frankreich gelaufen, wo man sich ganz auf die Direktsatelliten verlassen hatte und in der Verkabelung – weil man eine falsche Weichenstellung auf die Glasfasertechnik vorgenommen hatte – gescheitert war. In der damaligen politischen Diskussion war plötzlich die Frage „Kupfer oder Glas“ eine hoch sensible Auseinandersetzung, die der SPD als ein zsätzliches Argument erschien, die Verkabelung zu torpedieren oder wenigstens zu verzögern. Als SPD-Politiker etwas über Glasfaser und Kupfer hörten, hieß es plötzlich mit Emphase, es sei total falsch, die Bundesrepublik zu verkabeln, denn zunächst müsste man erst einmal großflächig die Glasfaser einführen, denn das sei die moderne Technik von morgen. Erst dann dürfe man an die Verkabelung zum Aufbau der Netze für die Programmverteilung herangehen. Auf ihrem Essener Parteitag hat die SPD dann folgendes beschlossen: „Die SPD wird sich in der Zukunft genauso konsequent wie in der Vergangenheit gegen diese ausschließlich medienpolitisch motivierte Verkabelungshysterie zur Wehr setzen und gegen die technologisch und sozial unverantwortliche Subventionspolitik für eine zusätzliche Kupferverkabelung, die schon mittelfristig scheitern muß, in den Kommunen, in den Ländern und im Bund angehen. Sozialdemokraten in landes- wie kommunalpolitischer Verantwortung werden alle ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen und politischen Mittel einsetzen, um die derzeitige Verkabelungspolitik des Bundesministeriums zu stoppen. Den ,großzügigen‘ Angeboten gegenüber den Gemeinden bzw. den ,Lockpreisen‘ für die Bürger werden bei der zu erwartenden geringen Anschlußdichte alsbald Forderungen an die Gemeinden nach einer Beteiligung an den Subventionen und Gebührenerhöhungen gegenüber dem Bürger folgen.“13 Das war nun eine ziemlich heftige Kampfansage, die wir allerdings nachher ganz gut überstanden haben. Und auch die Auseinandersetzung zwischen Ka-
13 Siehe SPD-Vorstand (Hg.), SPD-Parteitag Essen 17.–21. Mai 1984, Bonn o.J. Hier: Anhang: Angenommene und überwiesene Anträge. Antrag 769: „Medienpolitisches Aktionsprogramm der SPD 1984“, S. 835.
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bel und Kupfer haben wir am Ende gut überstanden und hatten hier auf das richtige Pferd gesetzt.14 Ich möchte an dieser Stelle erinnern, dass wir noch heute in der sogenannten vierten Netzebene, dort wo die Wohnungen verkabelt werden, normalerweise nicht mit Glasfaser verkabeln. Damals wäre das pro Wohnung auf etwa 20.000 bis 25.000 D-Mark gekommen. Wir hätten mit einem so hohen Preis einen Massenmarkt nie schaffen können. Bei der Kupferverteiltechnik kostete uns die Verkabelung einer Wohnung zwischen 250 und 800 D-Mark und ich habe oft genug meinen französischen Kollegen davor gewarnt, in der vierten Netzebene auf die Glasfaser zu setzen. Aber er blieb dabei und so hatte er zwar zwei sehr elegante Netze in Pilotprojekten errichtet, nämlich in Biarritz und Paris mit je ein paar hundert Anschlüssen. Aber dabei ist es dann auch geblieben, weil es einfach zu teuer war, in diesem Stil weiter auszubauen. Wir hatten in Deutschland mit unserer Entscheidung sehr bald 4 Millionen, 8 Millionen, 9 Millionen Verkabelungsanschlüsse geschaffen und bis zu meinem Ausscheiden aus dem Amt waren immerhin etwa 60 Prozent aller Haushalte in der Lage, sich ans Kabel anzuschließen. In der ersten Legislaturperiode der Regierung Helmut Kohl haben wir uns zunächst einmal die technische Aufholjagd vorgenommen, denn für die Reform der Bundespost, die ja Voraussetzung auch für Vielfalt auf dem gesamten Gebiet der Telekommunikation war, war die Zeit noch nicht reif gewesen. Reformen müssen sehr gut vorbereitet sein und deshalb setzte ich im Jahr 1984 erst einmal eine Regierungskommission für die Reformierung unseres Telekommunikationsmarktes und der Bundespost ein, die unter der sachkundigen und politisch geschickten Leitung von Professor Eberhard Witte stand. Die Vorschläge dieser Kommission legten den Grundstein für die spätere Postreform. Die Union hatte am 27. und 28. Februar 1985 in Mainz einen weiteren großen Medienkongress abgehalten, der die programmatische Position der Union noch einmal unterstrich und die Entschlossenheit der Union zum Ausdruck brachte, auf dem Weg, der in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eingeschlagen
14 Obwohl die Deutsche Bundespost für 16 Städte der Bundesrepublik Deutschland alle Planungen zum Ausbau von Kabelnetzen vorbereitet hatte, wurde ihr durch Kabinettsbeschluss vom 26. September 1979 dieser Ausbau verboten. Die fadenscheinige Begründung lautete, dass Grundentscheidungen „gegenwärtig mit Rücksicht auf Komplexität und Schwierigkeit der Problematik und ihre noch unzureichende politisch-geistige Durchdringung noch nicht getroffen werden können“, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 121, S.1125, 10. Oktober 1979. Ich als Vorsitzender des Koordinierungsausschusses „Medienpolitik der CDU und CSU“ habe im DUD Nr. 188, S. 1– 3 die medienpolitischen Beschlüsse der Bundesregierung entsprechend kommentiert. Die Union hat sich von den Anwürfen und auch den Unterstellungen, dass das Angebot der Verkabelung seitens der Deutschen Bundespost unseriös ist, nicht beirren lassen.
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worden war, konsequent fortzufahren. Der Kongress mit Beiträgen von Bundeskanzler Helmut Kohl, Ministerpräsident Franz Josef Strauß, Werner Remmers, dem Vorsitzenden des Koordinierungsausschusses für Medienpolitik der CDU und CSU, wie von Ministerpräsident Bernhard Vogel, von Staatssekretär Edmund Stoiber und auch vom Bundesminister des Inneren Friedrich Zimmermann und dem Bundesminister für Post- und Telekommunikation, Christian Schwarz-Schilling fand ein noch größeres Medienecho als der Kongress 1978. Die Auseinandersetzung über die Medien war nun wirklich auch beim Normalbürger angekommen und wurde zu einem Thema, was praktisch nicht mehr aufgehalten werden konnte.15 Die technische Aufholjagd startete sofort Die technische Aufholjagd musste sofort und auf sehr breiter Grundlage vorgenommen werden, da wir auf vielen Gebieten im Rückstand waren und keine Zeit zu verlieren war. Ein Generalthema war die Digitalisierung sowohl im Bereich der Vermittlungstechnik, wie auch im Bereich der Endgeräte. Die Revolution der Mikroelektronik hatte eine ganz besondere Eigenart: Durch den Übergang von der Analog- zur Digitaltechnik in den Vermittlungsstellen wurden die bereits getätigten Hardware-Investitionen der Netze plötzlich um ein Vielfaches angereichert. Durch die gleichen Leitungen bis hin zum doppelgliedrigen Kupferdraht am Telefon flossen auf einmal zehnfache Geschwindigkeiten oder ein Vielfaches der bisherigen Qualitätsanforderungen. So eine Erfindung gibt es in der Geschichte der Technologie selten: dass bereits getätigte Hardware-Investionen nicht obsolet, sondern im Gegenteil durch eine quantitative und qualitative Volumensanreicherung sehr viel kostengünstiger werden und in der Lage sind, ein weitaus höheres Verkehrsvolumen als bisher zu bewältigen. Dadurch entstand mit einem Schlag auch eine völlig neue Lage zur Entwicklung und Marktgängigkeit von Endgeräten, an die man bisher noch gar nicht gedacht hatte. Diese mikroelektronische Revolution hat mehrere Komponenten, die sich auf die einzelnen Dienstleistungen der Bundespost direkt ausgewirkt haben. Wir haben die Glasfaser natürlich sofort eingeführt – dort, wo sie technisch sinnvoll war und auch preislich bereits Vorteile geboten hat. Obwohl gerade auch von der SPD sehr viel von der Glasfaser geredet wurde: Bis Ende 1982 hatte die Bundespost noch nicht einen einzigen Meter verlegt, obwohl in Amerika bereits die Glasfaserproduktion auf vollen Touren lief. Ich hatte dann 1983 sofort die ersten 100.000 Glasfaserkilometer bestellt und in den folgenden Jahren wurde sie mehr und mehr eingesetzt, sowohl für die dritte Netzebene im 15 Medien von Morgen – verabschiedet vom Koordinierungsausschuss für Medienpolitik der CDU/CSU am 5. Oktober 1984, hg. von der CDU-Bundesgeschäftsstelle (1985).
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Fernsehkabelnetz, wie im Telefonnetz bei größeren Kapazitätserweiterungen. So gewannen wir rasch den Anschluss zurück. Wir haben Btx eingeführt, den Vorläufer des heutigen T-Online, damals mit erheblichen Kämpfen. Da wurden falsche Voraussagen gemacht, dass wir innerhalb von zwei bis drei Jahren 800.000 Teilnehmer bekommen würden. Diese Studie, die uns die Firma Diebold angefertigt hatte, sprach in den nächsten zwei Jahren von 800.000 Teilnehmern. Die Ist-Zahlen waren dann kaum bei 10–20 % dieser Zahlen und natürlich brach ein Sturm der Entrüstung aus, als man die große Diskrepanz zwischen Voraussagen und Wirklichkeit festgestellt hatte. Wir haben uns aber mit Erfolg dagegen gewehrt, den Dienst einzustellen, obwohl manches großes Unternehmen damals seine Btx-Seiten wieder zurückgezogen hatte. Ich habe mich gegen diesen Pessimismus gewehrt und so blieb die Bundespost auch eisern bei der Einführung von Btx dabei. Und nur dadurch, dass wir dabeigeblieben sind, ist heute T-Online das größte Online-Netz, das es in Europa überhaupt gibt. Wir haben das Fax eingeführt. Gott sei Dank ging das schneller, wenn auch mit Hindernissen. Ich habe die deutschen Unternehmen damals darauf hingewiesen, sie sollten schnell Faxgeräte bauen. Aber nein, wir mussten sie aus Japan bestellen, weil man in Deutschland nicht rechtzeitig an das Fax geglaubt hat. Ähnlich verhielt es sich mit den schnurlosen Telefonen. Als ich fragte, wie viel Strafgebühren jemand bezahlen muss, der ein sogenanntes „Hongkong“oder „Singapur“-Telefon in Deutschland betreibt, ja was er denn machen müsse, um sich legal zu verhalten, da sagte man mir: „Er darf das zwar kaufen, aber er darf es nicht in Verkehr bringen in Deutschland.“ Ja wozu sollte man es denn dann in Deutschland kaufen? Für den Reexport nach Ostasien oder warum? „Nein, der Betrieb hier ist verboten, das geht nicht.“ Warum ist es verboten? „Ja, weil wir technische Schwierigkeiten bekommen, wenn mehrere Geräte nahe beieinander betrieben werden und die Telefonbenutzer sich gegenseitig Gespräche abhören können und auch, was die Berechnung der Gespräche angeht, Fehler vorkommen, weil die Geräte eben nicht unseren Normen entsprechen.“ Ich sagte, das sei ja alles furchtbar, aber dann möchte man doch dafür sorgen, dass es auch in Deutschland ein Angebot gibt, wo das alles nicht als Nachteil zu vermelden ist, so dass der, der sich legal verhält, auch tatsächlich ein Angebot und einen Service bekommt. Es könnte ja sein, dass auch in Deutschland jemand im Garten oder auf dem Balkon telefonieren möchte. Dabei wurde mir dann noch ein großer Schrecken eingejagt, dass ein solches in Deutschland konstruiertes und gefertigtes Gerät mehrere 100 DMark kosten würde, während Geräte aus Asien nur 60 D-Mark kosteten. Ich sagte: Dann fangen wir eben mit den paar hundert Mark an. Wir werden sehen, wie der Markt reagiert.
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Es war dann eine relativ kleine mittelständische Firma, die Firma Hagenuk aus Kiel, die ein solches Gerät auf Anforderung am schnellsten liefern konnte. Schon nach drei, vier Jahren hatten wir rund vier bis fünf Millionen schnurlose Telefone im Verkehr, die natürlich teurer waren als die Hongkong- oder Singapur-Geräte. Aber sie entsprachen den Serviceanforderungen und erfüllten die fernmeldeanlagetechnischen Vorschriften, so dass auf diese Weise in Deutschland ein „erlaubtes“ Angebot gegeben war und man nunmehr auch in Deutschland „schnurlos“ telefonieren durfte. Natürlich sanken dann bei zunehmenden Stückzahlen auch durch verschiedene Konkurrenzfirmen die Preise. Dann kam etwas ganz Wichtiges: die Mobiltelefontechnik. Sie war bei uns genauso veraltet wie manche andere Dinge. Als ich das Ministerium übernahm, hatten wir noch das B-Netz. Wer ein Autotelefon gekauft hatte, der hatte in seinem Auto, meistens im Kofferraum, einen großen Kasten und telefonierte, wie man damals telefonieren konnte – technisch gar nicht schlecht. Auf meine Frage, wie lange dieses Netz reichen würde – denn wir hatten 23.000 Teilnehmer – erhielt ich die Antwort: „Ja, das reicht bis 25.000 Teilnehmer.“ Also war sofort plausibel, dass wir bald am Ende unserer Kapazität waren. Darauf wurde mir gesagt: „Nein, wir müssen dann nur die Tarife entsprechend erhöhen, dann zieht sich der Zeitraum, bis 25.000 Apparate erreicht oder gar überschritten werden, ganz lange hinaus und dann können wir noch drei, vier Jahre warten.“ Das war so richtig die Mentalität des Monopolisten: Hohe Preise machen, damit die Nachfrage abgebremst wird! Ich bemühte mich, klar zu machen, dass dieses fortan nicht unsere Politik sein kann! Wir haben das natürlich geändert, haben sehr schnell das C-Netz in Gang gesetzt und uns dann gleich auf die Digitaltechnik des D-Netzes gestürzt. Es war nicht ganz einfach, die Franzosen davon zu überzeugen, und wir haben eine Arbeitsgruppe beider Ministerien gebildet; sie erhielt den Namen „Groupe speciale mobil“ (GSM). GSM wurde dann später, nachdem wir die sehr schwierigen Normungsfragen europaweit durchgestanden und durchgesetzt hatten, zu „Global System Mobile“, so wie es eben heute verstanden wird. Aber diese deutsch-französische Arbeitsgruppe war letztlich der Ursprung auch zu dem Kürzel GSM. Und ich glaube, ich muss ihnen nicht erklären, dass unsere digitale Mobilfunktechnologie vielleicht neben dem „Airbus“ eine der erfolgreichsten europäischen Technologien ist, die weltweit heute Hunderte von Millionen von Teilnehmern hat und die in rund 200 Ländern außerhalb Europas praktiziert wird. Nur zwei große Länder haben sich damals verschlossen, die USA und Japan, die den Europäern das wohl nicht zugetraut haben. Man nennt das den sogenannten NIH-Faktor – „Not Invented Here“. Dass aus Europa etwas technisch so Modernes kommen könnte, das glaubten weder die Japaner noch die Ame-
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rikaner. Beide sind auf diese Weise weit ins Hintertreffen geraten und holen jetzt erst durch die neue Generation („UMTS“) wohl ihren Rückstand auf. Dabei haben wir in Deutschland uns besonders ins Knie geschossen, weil wir eine so riesige Lizenzlast auf diese neue Generation gewälzt haben, dass kaum einer in der Lage ist, die Netzinvestitionen zu finanzieren oder gar rechtzeitig, wie vereinbart, mit dem Service zu beginnen. Die „Postreform“ nimmt Gestalt an – die IuK-Technologien verändern unsere Kommunikations- und Medienwelt Wir haben also in der ersten Legislaturperiode die Entscheidungsschlachten für die technischen Innovationen geführt und neue Technologien eingeführt. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre haben wir die Implementierung der strategischen Überlegungen für die Postreform in Gang gesetzt durch eine ganz wichtige Entscheidung. Da war einmal die Regierungskommission unter Leitung von Professor Eberhard Witte, der schon früher einmal der Leiter der sogenannten „KtK“ (Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems) gewesen ist. Dabei war gerade Eberhard Witte ein Glücksfall für uns alle: Witte ist einer der wenigen deutschen technisch und politisch beschlagenen Professoren – Entschuldigung, wenn ich das so frei sage – , deren Wettbewerbseinstellung nicht so pur war, dass seine Vorschläge gleich der Ablehnung unter den aktiven Politikern verfallen wäre; sondern er machte pragmatische Vorschläge, die tatsächlich auch politisch durchsetzbar waren. Diese Art von Kompromissfähigkeit, ohne das Prinzip aufzugeben, gibt es sehr selten. Er hat deshalb von Wirtschaftsminister Werner Müller 2001 zu Recht die Heinrich von Stephan-Medaille bekommen. Ich habe mit voller Überzeugung dem Wirtschaftsminister bei der Verleihungsrede gesagt, dass ich das für die beste Entscheidung halte, die ich bisher von ihm gehört habe. Kommen wir noch zu einem anderen wichtigen Punkt, nämlich der Zusammenarbeit mit den Ländern. Diese Zusammenarbeit wurde enorm behindert durch die Auseinandersetzung zwischen den sogenannten „A-Ländern“ (SPDgefärbt) und „B-Ländern“ (christlich-demokratisch gefärbt). Jahrelange Verzögerungen mit der Folge schlimmer Auswirkungen für die technische Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands waren die Folge. Man denke nur an die Kämpfe um die Standorte von Programmanbietern, wenn sie terrestrische Frequenzen wollten oder man denke an die Satellitenkanäle für die Einführung des Satellitenrundfunks, der letztlich aufgrund der Verzögerungen und der Unkalkulierbarkeit der Zukunft in Deutschland trotz technisch hervorragende Qualität nicht Fuß fassen konnte. Da braucht man sich nicht wundern, wenn man Tricks benutzt, um ein Stück voranzukommen. Da kann ich heute darüber schmunzeln, wie ich mit Claus Detjen, dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger und dann später Geschäftsfüh-
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rer des Pilotprojektes Ludwigshafen, eine Art Geheimbündnis geschlossen habe, um die Satelliteneinspeisung auf den Weg zu bringen. Wir haben uns das mit dem Pilotprojekt in Ludwigshafen/Mannheim genau überlegt und sind, so glaube ich, auf eine sehr gute Idee gekommen: Durch die Ländergenehmigung für das Pilotprojekt konnte nun endlich unser Fernmeldesatellit dazu benutzt werden, die verschiedenen Programme, auch private Produktionen, die legaliter für das Pilotprojekt produziert worden sind, in die Kabelnetze einzuspeisen. Diese Programme waren zwar für das Pilotprojekt vorgesehen, konnten aber technisch durch die Satellitenübertragung nicht auf das Pilotprojekt begrenzt werden; und so waren plötzlich die dritten Programme und auch private Programme, wie sie für das Pilotprojekt produziert worden sind, bundesweit empfangbar. So konnten auch Bundesländer, die die Verkabelung und Programmheranführung wollten, wie z. B. Niedersachsen, der Bundespost die Genehmigung geben, das Mehr an Angeboten auch in ihre Kabelnetze einzuspeisen, was sonst praktisch aufgrund der einheitlichen Länderbeschlüsse überhaupt nicht möglich war. So ist mit einem Schlage etwas gelungen, was die ablehnenden Länder dann nicht mehr aufhalten konnten. Dass wir nämlich Länder hatten, die die Vielfalt wollten und neue Programme einspeisen ließen und andere, die das unbedingt verhindern wollten, war nun einmal politische Realität. Jetzt waren es die Länder selbst, die nur noch über ihre eigene Landschaft entscheiden konnten, aber keine Kollektivblockade mehr ausüben konnten. Die Bundespost konnte, sagen wir, die Investitionen etwas abbremsen und reduzieren dort, wo man die Programmeinspeisung nicht zuließ, zumal wir ja keine Möglichkeit hatten, dann dem Endkunden ein entsprechendes Angebot zu unterbreiten. Dadurch entstand ein Wettlauf der Länder, sich nun doch ans Kabel anzuschließen und den Städten und Gemeinden entsprechende Genehmigungen zu geben. In diesem Kampf sind übrigens die Länder Bremen und Saarland verbissen die Schlusslichter geblieben. Aber auch da half es nichts, die Bevölkerung hatte es satt, zu ihren Verwandten oder Freunden in andere Bundesländer zu fahren, um bestimmte Sendungen sehen zu können, z.B. Fußball. So kam die ganze Situation ins Rollen, und die Länder haben dann am Ende unsere Politik unterstützt, weil die Bevölkerung die Blockadepolitik nicht mehr wollte und ganz simpel mehr Programme forderte. So haben wir immerhin eine ganze Menge erreicht und haben dann das duale System eingeführt. Wir haben da nicht CDU-Sender geschaffen. Das war auch in meinen Augen nie der Sinn der Sache. Aber wir haben die Entautorisierung bestimmter öffentlich-rechtlicher Anstalten durchziehen können und die Außenpluralität wurde entschlossen in Gang gesetzt. Damit war zum ersten Mal eine Wettbewerbssituation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder geschaffen worden. Es war von nun an nicht mehr so, dass man am nächsten Morgen im Betrieb am Produktionsband nur über eine Sache sprach: was in der Tagesschau, an-
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schließend in Kommentaren und dann in der entsprechenden Magazinsendung wiederum in einseitiger Form dargestellt wurde. Die Meinungslage in Deutschland war damals aus dem Gleichgewicht. Da wurden Dinge am Samstag durch Vorab-Exemplare des „Spiegel“, am Montag flächendeckend über dpa in die deutsche Zeitungslandschaft gebracht, am Mittwoch/Donnerstag durch den „Stern“ verstärkt und Freitag/Samstag spielte dann noch meistens die „Frankfurter Rundschau“ oder die „Süddeutsche Zeitung“ ihre eigene Rolle dabei. Das war die Medienlage. Frau Noelle-Neumann hat alle Untersuchungen darüber gemacht. Wir hatten von zehn Leuten, die bei der Schaltkonferenz der ARD waren, neun auf der einen und einen auf der anderen Seite. Und wenn wir die Stellvertretenden Chefredakteure hinzunehmen, dann waren es immer noch sieben zu vier. Und so ging das Woche für Woche, so dass wir die Frage stellen mussten, wie Ausgewogenheit zustande kommen soll in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, wenn solche Konstellationen blieben und nicht durch ein zweites System privater Anbieter ergänzt werden konnten. Da war noch ein Problem: Es gab sogenannte „Schutzzonen“ zwischen ARD und ZDF, eine für mich geradezu unvorstellbare Einrichtung. ARD und ZDF vereinbarten miteinander, bei welchen politischen Sendungen der andere keine Unterhaltungssendung dagegen setzte, damit die deutsche Bevölkerung auch brav gezwungen würde, die politischen Sendungen über sich ergehen zu lassen. Dahinter steckte eine Vorstellung, die wirklich nicht unserer Idee von freiheitlicher Medienvielfalt entsprach, sondern eher eine selbst ernannte, volksbelehrende Pädagogik war, die dann auch abgeschafft wurde. Die sogenannten „Schutzzonenvereinbarungen“ zwischen ARD und ZDF, gehörten nun wirklich nicht mehr in unsere Zeit. Dann kam als zweiter Punkt die Beseitigung der Monopole. Man hat mir zunächst vorgeworfen, ich würde nur beim Fernsehen das öffentlich-rechtliche Monopol beseitigen wollen. Nein, ich habe es auch bei der Bundespost getan, wir haben bei der Bundespost die drei Unternehmen geschaffen. Ich will das hier nicht im Einzelnen darstellen. Wir haben als erstes die Trennung zwischen hoheitlichen Aufgaben und betrieblich-unternehmerischen Aufgaben eingeführt und damit die Weichen gestellt für die Privatisierung. Wir haben eine Regulierungsbehörde geschaffen, so wie in den USA die FCC (Federal Communications Commission) oder in England, das Oftel (Office of Telecommunication), die die Regulierung zwischen den früheren Monopolen und den Wettbewerbern ausübt. Denn bei ehemaligen Monopolen mit Marktanteilen von über 50, 60, ja bis 90 Prozent in den verschiedenen Marktsegmenten, brauchen wir eine entsprechende „asymmetrische“ Regulierung, sonst können sich die zarten Pflanzen des Wettbewerbs gegen die überstarken großen Unternehmen, die ihre Infrastruktur noch aus monopolistischer Zeit besitzen, nicht durchsetzen. Wir haben die Endgeräte aus dem Monopol in den Wettbewerb
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geführt und haben eine Fülle von Dienstleistungen in Gang gesetzt. Die CeBIT ist ein Ausdruck dafür. Wir haben die CeBIT damals zusammen mit der Messeleitung Hannover und der Landesregierung in Niedersachsen ins Werk gesetzt. Heute ist sie die größte Ausstellung der Welt auf diesem Gebiet. Die Produktivität unserer Volkswirtschaft wäre ohne diesen Anschub, der in der IuK-Technik entstanden ist, kaum denkbar. Es war ein schwerer Kampf, ich habe das bereits gesagt. Aber dieser Kampf war erfreulich und ist zu einem guten Ende gekommen. Dennoch stellt man sich die Frage, ob es denn immer so schwierig sein muss, wenn man in Deutschland Reformen einführen will, und es ist ja auch mehr als einmal vorgekommen, dass aufgrund dieser Schwierigkeiten Reformen auf der Strecke geblieben sind: Sei es, dass man auf zu harte Widerstände gestoßen ist oder die Reform nicht genügend vorbereitet hat oder aber, dass einen selbst bei dem Auftauchen der Widerstände der Mut verlassen hat. Offensichtlich ist hier eine generelle Schwierigkeit. Und so darf ich zum Schluss Machiavelli zitieren, der in „Il Principe“ schrieb: „Man muß sich ... vor Augen halten, daß nichts von der Vorbereitung her schwieriger, vom Erfolg her eher zweifelhaft und von der Durchführung her gefährlicher ist, als der Wille sich zum Neuerer aufzuschwingen. Denn wer dies tut, hat die Nutznießer des alten Zustands zu Feinden, während er in den möglichen Nutznießern des neuen Zustands nur laxe Verteidiger findet – eine Laxheit, die teils aus der Furcht vor den Gegnern herrührt, die ja das Gesetz auf ihrer Seite haben, und teils aus dem Mißtrauen der Menschen stammt, die in Wirklichkeit an eine Neuerung erst glauben, wenn sie diese mit eigenen Augen gesehen haben.“16
16 Niccolò MACHIAVELLI, Der Fürst, Kapitel VI.
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Es geht darum, realistische Formen des Konsenses zu finden, auch über Parteigrenzen hinweg Von Klaus von Dohnanyi Das Interessanteste vielleicht ist, wie viel Unsinn manchmal nur wenige Jahrzehnte zurück von verschiedenen Seiten gesprochen worden ist, in diesem Falle in der Medienpolitik und zu einem nicht unerheblichen Teil auch von meiner Partei. Man überlegt, wie konnte man eigentlich vor nur 20 Jahren solche Sachen sagen. Das ist schon ein erstaunlicher Vorgang, ich komme darauf noch zurück. Die historischen Studien zeigen, dass es einerseits sehr unterschiedliche Ausgangspositionen gab und andererseits auch eine kontinuierliche Annäherung der Parteipositionen, und zwar seit Anfang der 70er Jahre und nicht erst in den 80er Jahren. Immer wieder schrittweise Annäherung und Einverständnis, aber es bleiben natürlich doch immer noch bis heute gewisse Unterschiede bestehen. Sie betreffen zum Beispiel den zukünftigen Umgang mit dem Kabelfernsehen da, wo es jetzt Erwerber der Netzebene drei gibt, die auch auf die Netzebene vier hinüberreichen usw. Da gibt es neue Probleme, die immer wieder das alte Kleid und die alten Farben zeigen, nämlich: Wie verhält es sich mit dem Interesse der Gesellschaft, dem Interesse der Bürgerinnen und Bürger, dem Interesse der Information gegenüber dem Kommerz, also der wirtschaftlichen Fragestellung, die dahintersteht. Ich will vier Punkte knapp erläutern und dabei kurz mit der Ausgangslage beginnen, und dann eine paar Worte darüber sagen, was wir strategisch im Auge hatten, was realisiert werden konnte, und was vielleicht zu lernen ist. Ausgangslage Das Postmonopol war bestimmt ein Problem. Das lag natürlich an der gesamten Einschätzung dessen, was die öffentlichen Versorger einem Lande schulden, und das hatte damit nicht nur einen deutschen, sondern einen kontinentaleuropäischen Aspekt. Dann gab es eine Entwicklung der Pressekonzentration in den 70er Jahren, die man nicht außer acht lassen darf, wenn man über das Problem Fernsehen und neue Medien spricht. Es gab damals eine starke Konzentrationsbewegung im Bereich der regionalen Presse, die durch das Zusammenfassen von größeren Einheiten, die Entwicklung von sogenannten Kopfblättern, vorangetrieben wurde.
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Und was man nicht übersehen sollte, wenn man die Mitte der 60er Jahre nimmt und das berühmte Stichjahr 1968, da lagen die Erfahrungen der Weimarer Republik so weit zurück, wie heute für uns das Jahr 68 zurückliegt. Das war also gar nicht so weit weg. Man hatte die Hugenberg-Erfahrung im Kopf und alles, was damit zusammenhängt. Man darf das nicht übersehen, das war ein wichtiger Bestandteil der medienpolitischen Debatte in den 70er Jahren: Was geschieht mit der Medienkonzentration aufgrund wirtschaftlicher Gesichtspunkte, also der Zusammenfassung von Regionalzeitungen und der sich daraus entwickelnden politischen Macht? Dann gab es einen dritten Aspekt, nämlich die Politisierung des Fernsehens. Ich glaube schon, dass es so was gab wie Seilschaften oder wie auch immer das genannt wurde, bei uns im Norden hieß es dann „Rotfunk“. Es gab so was, man muss es einfach ehrlich sagen. Und ich sage mal, das gibt es zum Teil noch heute. Es gab dann Freundeskreise, die machten Vorabsprachen. Diese sogenannten Rundfunkräte bestanden aus den merkwürdigsten Teilgruppierungen, die sich vorher zusammentaten, und ich werde nie vergessen, wie ich im Rundfunkrat des damaligen Deutschlandfunks war, und dort war auch der Kollege Czaja von der CDU/CSU, ein lobenswerter, rechter Ritter. Er kritisierte heftig irgendeine Sendung im Deutschlandfunk (SPD-lastig), und ich sagte dann zu Herrn Czaja: „Warum machen wir nicht Folgendes: In Zukunft kritisieren Sie immer nur, was Einseitiges auf der Seite von CDU/CSU-Leuten in den Rundfunkanstalten verbreitet wird, und ich werde mich dann der SPD annehmen, so dass wir nicht auch noch hier im Rundfunkrat Parteipolitik machen müssen.“ Das wurde aber natürlich nicht realisiert, sondern man stritt sich über Kreuz, jeder mit seinem Entsendungsrecht gewissermaßen, eine dümmliche Situation. Ich habe daraus in Hamburg – ich will kurz vorgreifen – eine Konsequenz gezogen. Das Hamburger Mediengesetz verbietet die Entsendung von Mitgliedern durch die Parteien in den Rundfunkrat. Das hat mir großen Ärger gemacht in Hamburg, unter den Freunden in der Fraktion und auch bei den Freunden der Partei. Das Ergebnis war dann in Hamburg, als wir den ersten Medienrat wählten, dass ein CDU-Mitglied der Vorsitzende wurde, das kam bei der Wahl so zustande. Er war aber ein sehr tüchtiger Mann, und ich hatte auch gar nichts dagegen. Wir hatten uns geeinigt, wir würden die Parteien wenigstens versuchsweise heraushalten. Es gab also eine Politisierung des Fernsehens, und bis heute empfinde ich manchmal die eine oder andere Ansagerin in unseren Fernsehnachrichten oder im Bereich der Nachrichten, nicht bei den Kommentaren, als parteipolitisch ziemlich „frech“. Wenn gesagt und berichtet und gefragt wird, als wüsste man schon vorher, was eigentlich das Ergebnis sein sollte, wünschte ich mir, dass die Rundfunkanstalten und die entsprechenden Rundfunkräte sich solche Leute mal vornehmen und sagen, das gehört sich nicht, jemanden so zu fragen, als
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wisse man genau, dass derjenige in der Tagesschau, der dort sitzt, entweder der einen oder der anderen Partei angehört. Ich finde das unglaublich. Ich nenne die Tagesschau nur beispielhaft, man kann es auch woanders sehen. Also, ich bin der Meinung, man muss schon eine gewisse Politisierung in Deutschland erkennen, und vielleicht war die Privatisierung ein Instrument dagegen. Ich komme darauf zurück. Der vierte Punkt, der uns damals bewegte, war das Sichtbarwerden neuer Kommunikationsmittel, insbesondere natürlich Satellit und Kabel, und der fünfte Punkt war in der Tat die Internationalisierung der Medien in diesem elektronischen Bereich, wobei es das im Rundfunk schon lange gab, wie wir alle wissen. Also, das waren die Gesichtspunkte, und die SPD hatte diese Debatte schon in den 60er Jahren geführt und 1971 einen wichtigen Medienparteitag durchgeführt. Auf diesem Medienparteitag gab es die Forderung nach mehr Mitbestimmung in der Presse, um den Redakteuren mehr Chancen gegenüber den Herausgebern und Eigentümern zu geben, ausgelöst von einer Debatte um die Springer-Presse. Es gab einen Beschluss gegen die Privatisierung der elektronischen Medien, es gab einen eindeutigen Beschluss für die Aufrechterhaltung des öffentlichrechtlichen Hörfunks und des Fernsehens. Das Ganze sozusagen war eine Richtungsbestimmung, die auf dem Hintergrund der genannten Aspekte zu sehen ist, Pressekonzentration, Bedeutung der Medien für die öffentliche Meinung usw. Es war ein Versuch, auf jeden Fall bei denen, die das nicht in erster Linie parteipolitisch gesehen haben, die öffentlich-rechtlichen Anstalten freizuhalten von privaten, kommerziellen Interessen. Das war die Ausgangslage. Ziele Unser strategisches Ziel war logischerweise, das zu sichern und zu bewahren, was bedroht schien. Und bedroht schien einmal die Presse, vorangetrieben durch die Konzentration und durch die technischen Veränderungen. Ein zweites strategisches Ziel war, das öffentlich-rechtliche System aufrechtzuerhalten, um seine Unabhängigkeit zu bewahren. Am Ende, so scheint mir, wurde zwischen den Parteien hier durch viele Gespräche ein ganz vernünftiger Kompromiss gefunden. Die Frage, ob die Meinungsvielfalt durch das private Fernsehen erhöht werden könnte, diese Frage war in der Tat sehr umstritten. Auf dem Essener Parteitag der SPD von 1984 gab es Beschlüsse gegen die Verkabelung, aber es gab zugleich auch Beschlüsse für die Öffnung für privates Fernsehen. Die Verkabelung konnten wir sowieso nicht aufhalten, da konnten wir auch sagen, wir sind dagegen. Aber das offene Fernsehen, das private, das hätten wir auf-
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halten können, und das durften wir nicht aufhalten, aus Gründen, auf die ich gleich eingehe. Deshalb denke ich, der Essener Parteitag war eigentlich eher ein Durchbruch und ein wichtiger Beitrag. Ich will einmal drei Absätze vorlesen aus einer Rede, die ich zu dieser Frage 1983 in Hamburg gehalten habe. Und die nach meiner Meinung das alles enthalten hat, also den strategischen Wechsel in der SPD. Ich habe damals gesagt: „Ich sehe die Risiken der Anwendung neuer Kommunikationstechniken und neuer Medien. Ich verstehe auch die ablehnende Debatte, aber ich sage offen: Ich gebe dieser Debatte keine Chance für ein dauerhaftes Ausscheren der Bundesrepublik aus dieser umstürzenden technisch-wissenschaftlichen Entwicklung. Selbst wenn wir wollten, wir könnten diese Entwicklung nicht aufhalten. Die einzig wirkliche Folge würde wohl sein, dass wir die neuen Systeme kriegen und andere deren Arbeitsplätze. Und so komme ich zu dem Ergebnis, nicht Abwehr, sondern Gestaltung ist die Aufgabe, Gestaltung der Informationsstrukturen, Gestaltung der Arbeitsplatzfolgen und Gestaltung der Industrieund Unternehmensstrukturen und damit auch der Machtstruktur, die mit der Einführung neuer Kommunikations- und Medientechnologien verbunden sein werden. Im technischen Fortschritt, was immer das Wort beinhaltet, in einer offenen Weltgesellschaft, von der wir leben und abhängen, hat kein Land die Wahl zwischen Unschuld und Teilhabe, sondern nur zwischen Partnerschaft und Unterwerfung. Wir haben die Wahl zwischen Medien und Macht oder Medien und Ohnmacht. Die neuen Medien kommen in jedem Falle.“ Umsetzung in Hamburg Das war sozusagen die Ausgangsposition für uns in Hamburg. Dabei spielte – das gebe ich ganz offen zu – natürlich eine erhebliche Rolle auch die wirtschaftliche Struktur der Stadt mit den sehr starken Zeitungsverlagen. Ich habe sehr dafür geworben, dass gerade die Zeitungsverlage berechtigt sein würden, sich auch im Fernsehen zu betätigen, ein sehr streitiger Punkt damals, weil man eine „Doppelmacht“ schaffen könnte. Mein Argument war: Wenn man den Zeitungsverlagen nicht die Möglichkeit gibt, an dem Zuschaueraufkommen teilzuhaben, das ja zum Teil ein Ersatz für das Leseraufkommen ist, werden diese Zeitschriften- und Zeitungsverlage in Zukunft Nachteile haben. Und da das für Hamburg ein ganz wichtiger Wirtschaftsfaktor war, habe ich also gefochten für dieses Zusammengehen. Aber es war alles sehr streitig in der Partei, wurde aber dann schrittweise durchgesetzt. Wir hatten auch ein Interesse am Wettbewerb, aber die Frage war: Ist der Wettbewerb auf diesem Sektor wirklich nur produktiv? Die Öffentlich-Rechtlichen haben ja ein Problem: Sie kriegen Gebühren und können diese Gebühren natürlich nur solange bekommen, als sie für sich in Anspruch nehmen können,
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dass sie wirklich eine breite Verbreitung ihrer Sendungen haben. Und wenn man gewissermaßen den Öffentlich-Rechtlichen eine Konkurrenz entgegenstellt, die ihnen, ich sage einmal, neben Fußball und Entertainment usw. alles nehmen würde, also wenn sie nicht hinschielen würden auf das, was im andern Angebot ist, dann könnte wohl die Gefahr bestehen, dass eines Tages auch das Bundesverfassungsgericht sagt: Bei euren Reichweiten und der geringen Zustimmung, die ihr habt, wie wollt ihr eigentlich weiterhin rechtfertigen, dass ihr diese Gebühren einnehmt? Und was würde aus dem Werbeaufkommen? Diese Fragen werden, glaube ich, wenn ich richtig informiert bin immer wieder diskutiert, und sie sind ein wesentlicher Faktor in der Beurteilung dieses sogenannten Schielens auf den Wettbewerb. Unsere Ausgangslage war also ein Gefühl der Bedrohung der freien Information durch einen zu starken wirtschaftlichen Einfluss. Die ideologische Abwehr in der SPD wurde gebrochen mit Hilfe von Peter Glotz und auch mit meiner Hilfe und meinen Initiativen aus Hamburg, und das führte dann am Ende zu einem Kompromiss, von dem ich glaube, dass er noch heute vernünftig ist. Aber am Ende muss man ja fragen, wie bewährt es sich. Ich denke, dass diese öffentlich-rechtlichen Anstalten heute eine auch im Wettbewerb sehr beachtliche Position besitzen, allerdings mit dem Vorteil der Gebühren, das gebe ich durchaus zu, der aber wiederum auch mit der breiten Versorgung usw. und mit der Pflicht zur Versorgung und auch mit dem öffentlichen Auftrag wohl zu rechtfertigen ist, solange man eben die notwendigen Reichweiten auch nachweisen kann. Es wird im übrigen neue Fragen geben, und wir werden diese Debatte nicht verlassen können, denn wir kommen in neue technische Entwicklungen und damit auch zum Teil in einer Wiederholung vergleichbarer Fragen, in diesem Falle sogar durch erheblichen wirtschaftlichen Einfluss von außerhalb unseres Landes. Was ist zu lernen? Ich komme also zum vierten Punkt: Was ist zu lernen? Ich denke, man muss sich wirklich darüber im Klaren sein, dass es nicht möglich ist, im Wandel einer freien Gesellschaft, also unter Gesichtspunkten der Evolution und nicht der Vorgabe konstruktivistischer Ideen, wie die Welt aussehen sollte, Entwicklungen umfassend zu steuern. Wir müssen hinnehmen, dass die Welt aus einer für uns oft unergründlichen Kraft, menschlicher Neugier, menschlichen Wettbewerbs in der Freiheit, sich aus eigener Kraft entwickelt, einer Kraft, die wir nur sehr begrenzt oder vielleicht, was die wirkliche Kraft der Entwicklung angeht, gar nicht steuern können. Trotzdem dürfen wir uns dieser Entwicklung nicht einfach ergeben.
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Wir können uns ja nicht – und das war auch damals ein Teil unserer sozialdemokratischen Debatte, auf jeden Fall auf meiner Seite – der Tatsache ergeben, dass nun hier privates Fernsehen unter dem Gesichtspunkt des Kommerzes sozusagen die Dinge alleine vorantreiben soll. Man darf die Strömungen der Zeit nicht bagatellisieren, man darf sie auch nicht verachten, denn die Strömungen der Zeit kommen eben aus diesen evolutionären, menschheitlichen Entwicklungen. Aber man muss nachdenken, wie man mit ihnen vernünftig umgeht. Das kontinentaleuropäische Modell ist nicht das angelsächsische. Und bei allem Respekt, den ich habe vor dem, was Amerikaner und Briten, insbesondere Briten, uns kulturell gebracht haben, so denke ich doch, dass wir ein Modell haben in Europa, das vielleicht in Deutschland eine besondere und besonders gute Ausformung gefunden hat, in dem beides miteinander verbunden ist, das Soziale und die Wettbewerbskraft. Und es gilt, dieses Modell unter veränderten Bedingungen immer wieder neu zu gestalten. Und wenn wir dann über Strukturen nachdenken, über Institutionen im Medienbereich, so müssen wir fragen: Wie kann man das machen, dass beides bleibt, dass wir auf der einen Seite in der Lage sind, die Medien in ihrer Freiheit sich entwickeln zu lassen, und auf der anderen Seite auch bestimmte Strukturen zu bewahren, die es uns wert sind. Die SPD hat sicher viele Dinge falsch gesehen damals, aber das ist uns allen gegeben, dass wir Fehler machen und Dinge nicht richtig sehen. Wenn ich mir die Mühe geben würde oder Sie sich die Mühe geben würden, mal nachzulesen, was die 68er nicht nur nach außen getan, sondern geschrieben und geglaubt haben, dann würden wir uns wirklich alle ungeheuer wundern. Ich habe dem nie folgen können. Es ist schon sehr komisch, was man da lesen kann. Was erwachsene Leute damals geglaubt haben. Junge Leute haben natürlich das Recht auf Irrtum, aber die Älteren haben die Pflicht, sie auch durch ihre Erfahrung vor Irrtümern zu bewahren. Und so denke ich: Aus der Geschichte zu lernen, heißt in diesem Zusammenhang, dass man zwar unaufhaltsame Entwicklungen nicht aufhalten kann, sprich technische Entwicklung, technologische Entwicklung, wissenschaftliche Entwicklung der Medien, dass man aber die eigenen Werte nicht ohne weiteres aufgeben muss. Und dass der Kampf, den die SPD damals um die öffentlich-rechtlichen Anstalten, um deren Strukturen usw. geführt hat, nicht vergeblich war, sondern am Ende doch zu vernünftigen Kompromissen geführt hat. Und dass es darum geht, realistische Formen des Konsenses am Ende immer wieder zu finden, auch über die Parteigrenzen hinweg. Es ist vielleicht zuviel verlangt zu erwarten, dass Erfahrung und Ungestüm oder Weisheit und Ungestüm eine gemeinsame Kraft werden. Es ist aber die Hoffnung der Menschheit immer gewesen, dass das eines Tages so sein könnte, und ich meine, wir sollten die Hoffnung auch bei den Medien nicht aufgeben.
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Aus der Defensive zum Erfolg. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten im Spiegel des medienpolitischen Wandels Von Peter Schiwy Böse Kritiker werden meinen, dass sich die Kernbegriffe des Themas Wandel und öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht miteinander vertragen. Das Gegenteil ist der Fall, insbesondere dann, wenn die Jahre der stürmischen Veränderungen auf dem elektronischen Markt in Deutschland in den Blick genommen werden. Die durch die Wiedervereinigung bedingten Änderungen bleiben gesonderter Erörterung vorbehalten. Verbunden mit dem Namen Christian Schwarz-Schilling ist die Entwicklung ganz entscheidend. Die lobende Erwähnung gebührt dem erfolgreichsten Fachminister der verschiedenen Kabinette Kohls. Als er 1983 daran ging, Deutschland zu verkabeln, um – wie es damals hieß – „Milliarden in den Sand zu senken“, initiierte er eine industrielle Innovation, deren Erfolg die einzige bisher unbeantwortete Frage nicht mehr zu stellen erlaubt. Darf der Staat eigentlich so viel an Ordnungspolitik betreiben? Darf er wirtschaftslenkend einen neuen Industriezweig per ordre de mufti aus dem Boden stampfen? Heute ist die private Rundfunklandschaft in Deutschland als Ergebnis dieser Politik – trotz aller gegenwärtigen Sorgen wegen des deutlichen Rückgangs der Werbeeinnahmen – ein blühender Industriezweig mit Milliarden Umsätzen, vielen zehntausend neuen Arbeitsplätzen, die noch dazu – sieht man einmal von unseren Hirnen ab – umweltverträglich sind. Es ist Europas größter Fernsehmarkt und einer der größten der Welt. Dass Schwarz-Schilling gleichwohl zu diesem Thema aus dem Kreuzfeuer der Kritik geraten ist, mag zunächst einmal daran liegen, dass sich in seinem Leben politische Veränderungen noch vor der Abwahl Kohls ergaben, vielleicht aber auch daran, dass seine gewichtigsten Kritiker mit der von ihm eingeleiteten Entwicklung auch nicht schlecht gefahren sind. Und dazu gehört der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Er steht blühender da denn je. Seine Existenz ist bewahrt, Bestand und Entwicklung sind gewährleistet und – was in diesen Tagen besonders gilt – gegen Insolvenz gesichert; mittlerweile selbst auf europäischer Ebene. Die alten Kampflinien zu den Privaten sind längst passierbar geworden. Man tauscht und „klaut“ nicht nur Kassetten, sondern auch Mitarbeiter, Sendeformate und Sportrechte. Die spannungsreichen zehn Jahre von der Mitte der 80er bis zur Mitte der 90er Jahre haben diesen Wandel bewirkt. Aus der Defensive zum Erfolg könnte man das Kapitel dieser historischen Betrachtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks überschreiben.
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Schauen wir zurück. Ende der 70er Jahre befand sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk – verkürzt formuliert – im Mittelpunkt der weitgehend Ideologie behafteten Auseinandersetzung zwischen Rechts und Links in Deutschland. Das hatte gleich mehrere Ursachen. Eigentlich ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk zutiefst bürgerlich in seinem Anspruch, dem Guten und dem Hehren zu dienen, Informationen, Bildung und Unterhaltung qualitätsbewusst zu mischen, die Kultur würdig im Auge zu behalten, schlechthin dem Gemeinwohl zu dienen, integrativ zu wirken. Das alles entstammt der Begriffslyrik des Bundesverfassungsgerichts, das seit über vierzig Jahren zum Schutzherrn des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geworden ist. Bis dahin war er ein Nachlass der damaligen westalliierten Schutzherren, der sich schnell zu Deutschlands beliebtestem Besatzungskind entwickelte. Insoweit ist auch für die Nicht-Juristen in diesem Zusammenhang auf die sehr nachlesenswerten Erläuterungen unserer Verfassungsväter und der wenigen Verfassungsmütter des Parlamentarischen Rates im Jahrbuch des öffentlichen Rechts (Band I Neue Folge) zu verweisen, das im Übrigen vor zwei Jahren aus Anlass des fünfzigsten Geburtstages unseres Grundgesetzes neu aufgelegt worden ist. Der Ernst und die Leidenschaft, mit der diese Damen und Herren den Artikel 5 des Grundgesetzes erörterten, um seine Formulierung rangen und bei aller – gegenüber heute doch viel deutlicheren – politischen Unterschiedlichkeit die Grundlagen unserer Medienfreiheit beschrieben, ist tief beeindruckend. Er ist natürlich geprägt von den bitteren Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur. Nur nebenbei will ich bemerken, da uns ja nachher auch die DDR interessieren wird, dass die 1949 längst installierte Meinungsdiktatur der Sowjets und ihrer deutschen Quislinge bei der Erörterung des Artikels 5 im Parlamentarischen Rat nur eine geringe Rolle spielte. Das verwundert und gibt Betätigungsfeld für Historiker. Das Verfassungsgerichtsurteil von 1961 unterfütterte die von den Alliierten gegründeten öffentlich-rechtlichen Anstalten mit einem juristischen Begriffsgebäude, das von da an in fortdauernder Rechtsprechung die heutige Gestalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks manifestierte. Bei allem guten Willen, der dem Verfassungsgericht nicht abzusprechen ist, hat es ein Bild vom Rundfunk beschrieben, das allenfalls noch Theoretikern demokratischer Grundstrukturen zur Erbauung dient. Der Kampf um Einschaltquoten, der Einsatz des Scheckbuches als journalistischer Investigationshilfe sind nur schwer unter die Begriffsbilder Karlsruhes vom Forum des demokratischen Für und Wider zu subsumieren. Wie weit die Richter in ihren roten Roben von der Medienwirklichkeit entfernt sind, zeigt ein Blick in ihre Zitate. Die Fülle kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnisse über Rezipientenverhalten, über das Geschehen am Medienmarkt findet kaum ein Echo. Sie sind der Vorstellungswelt der Karlsruher Nur-Juristen fremd. Darum haben sie sich allenfalls tech-
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nischen Entwicklungen folgend nur zu geringfügiger Weiterentwicklung ihrer Rechtsprechung veranlasst gesehen. Der Markt als treibendes Element in einer freien Gesellschaft ist ihnen im Bereich des Medienrechts ein weitgehend unbekanntes Wesen, die Begriffe „Käufer“ und „Nachfrage“ gar Fremdworte. Sicher ungewollt haben sie damit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch die Positionen genährt, die die Bemühungen, Konkurrenz zu ermöglichen, Wettbewerb zu eröffnen, in den Intendanzen einst zu Protestgeheul, Klagen und Jammern Anlass gaben. Uns sind die damaligen Frontstellungen weithin bekannt. Die Privaten waren des Teufels und man kam bei manch einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk schon in Acht und Bann, wenn man das eigene Programm „Produkt“ nannte. Der Wandel vollzog sich parallel zu den Geschicklichkeiten, mit denen die meist christdemokratisch bestimmten Landesregierungen privaten Anbietern Zutritt zum Markt verschafften. In Erinnerung ist der Kampf um den NDR, den die Staatsvertragskündigung von Gerhard Stoltenberg und seine Unterstützung durch Ernst Albrecht erst in Bedrängnis und dann in eine mehr oder minder bis heute bewahrte Reform brachte. Diese medienpolitisch heftigen Frontstellungen der späteren 70er Jahre haben dann in den 80er Jahren in SchleswigHolstein und Niedersachsen zu den medienrechtlichen Neuregelungen geführt, die etwa anders als in den süddeutschen Bundesländern von Anbeginn zur Ausbildung einer kraftvollen und wettbewerbsintensiven privaten Rundfunkstruktur geführt haben. Ganz im Gegensatz zu etwa Baden-Württemberg – sonst ein Vorreiter technologischer Entwicklung – das spät, also nach Späth erst die verkorkste private Rundfunkstruktur gesetzlich so umformulierte, dass jetzt auch dort überall wirtschaftlich lebensfähige Gruppierungen tätig werden können. Baden-Württemberg hat im Übrigen die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk begünstigenden Versäumnisse der Späthschen Gesetzgebung bis heute zu bezahlen. Anders als etwa Nordrhein-Westfalen ist es diesem Land trotz seiner Modernität und seines Bekenntnisses zu modernen Technologien nicht gelungen, sich zu einem markanten Medienstandort Deutschlands zu entwickeln. Schließlich folgte auch Hessen. Dass es dort so lange dauerte, hat etwas mit dem Gegensatz zwischen CDU und SPD zu tun, wo jetzt erst Roland Kochs Kabinett einen medienrechtlichen Gleichstand herbeigeführt hat. Im Übrigen ist einer der größten politischen Verhinderer des Privatfunks in Hessen heute Vertreter einer Privatfunkbeteiligungsgesellschaft. So ändern sich die Zeiten und schwemmen die ideologischen Standpunkte gleich mit weg. Die Entwicklungsgeschichte der Regelungen, die die privaten Anbieter begünstigen, zeigt, wie lange die Entwicklung in Deutschland gedauert hat und welche Zeit die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hatten, sich darauf einzurichten. Diejenigen, denen Konkurrenz ins Haus stand, die waren am schnellsten. Das war einmal mit SWF 3 der Südwestfunk, dem Radio Luxemburg über die
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Grenze entgegenschallte, und das waren zum anderen der NDR, wo Gerhard Stoltenberg und mehr noch Ernst Albrecht Feuer unter dem Stuhl entfachten. Schnell begriffen die Verantwortlichen, dass Widerstand zwecklos ist, wo geballte politische Macht Veränderungsdruck erzwang. Sie nutzten die Chance, die die lange gesetzgeberische Zeit des Veränderungsprozesses bot. Sie reformierten, sie passten Programme an und entdeckten einen Programmdirektor, den die Statuten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nur beschreiben, ihn aber nie beim Namen nennen, den Hörer und Zuschauer. Das kann leicht an Beispielen verdeutlicht werden, die heute niemand mehr nervös machen, die damals zu langen und leidenschaftlichen Debatten in den öffentlich-rechtlichen Häusern führten. Der NDR entdeckte sehr zum Erstaunen von Ernst Albrecht, dass er nicht in Hamburg, wo die Zentrale saß, sondern gerade in Niedersachsen am beliebtesten war, dass dies in dieser Form erst nach dem Kriege entstandene Land verschiedener Stämme im NDR u.a. auch etwas Identitätsstiftendes fand. Die Marketingfolge war logisch. Dem Landesprogramm Niedersachsen verpasste man folglich den im Übrigen bis heute mit einer kurzen Unterbrechung gut bewahrten Beinamen „Ihr Heimatsender“. Das ist nur ein kleines Beispiel für eine Fülle von Innovationen und Renovationen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Er hat die Jahre des Wandels – selbstverständlich ständig über die Bedrängnis des Wettbewerbs klagend und insbesondere finanzielle Ressourcen einfordernd – genutzt. Selbst wenn man den durch die Wiedervereinigung bestimmten Zugewinn an Programmen herausrechnet, hat sich die Zahl der Hörfunkprogramme, die von der ARD angeboten werden, um zweistellige Prozentzahlen erhöht. Alle dritten Programme des Fernsehens sind mittlerweile europaweit ausgestrahlte Satellitenkanäle. Von Phoenix, Kinderkanal, Bayern Alpha und ähnlichen soll gar nicht die Rede sein. Längst hat es der öffentlich-rechtliche Rundfunk verstanden, die großflächige Verkabelung für sich zu nutzen. Die dritten Fernsehprogramme profitieren vom Einspeisungsprivileg. Phoenix und Kinderkanal sind ohne diesen Verbreitungsweg nicht denkbar. Was ist versäumt worden? Viel. Die Politik hat den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch an der Stelle im Stich gelassen, an der er als ihr Gewährsträger demokratische Funktionen zu erfüllen hat. Das oben kritisierte Verfassungsgericht hat uns das Begriffskonstrukt der Grundversorgung zugeschrieben. Es entstammt im Übrigen der DDR-Terminologie, hat dort freilich eine andere Bedeutung und ist doch auch Beispiel für erfolgreiches Begriffsmarketing in Deutschland. Soweit festzustellen ist, haben 1975 die Justiziare der ARD dieses Wort der DDR-Terminologie entlehnt und für den Rundfunk umgedeutet. Durch Penetrierung der Wissenschaftsliteratur haben sie genau elf Jahre ge-
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braucht, bis ihre rechtsschöpferische Wortdeutung durch Übernahme in die höchstrichterliche Rechtsprechung Karlsruhes Heiligung erfuhr. Längst hätten die Politiker diesen Begriff konkreter ausfüllen, ihn mit einer Aufgabenbestimmung und -beschreibung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk versehen müssen. Das ist keine Forderung nach einem Programmkorsett, aber das Verlangen nach einer einleuchtenden Formulierung eines Auftrags an und in der Gesellschaft. Darüber ist dringlich zu diskutieren. Man soll aber nicht nur die Politik kritisieren, man soll bei sich anfangen. Für einen Fehler, um auch hier mit einem Beispiel zu dienen, muss der Verzicht auf die Region angesehen werden, umso mehr, seit Deutschland wieder größer geworden ist. Seitdem wir uns anschicken, immer weniger Deutsche und immer mehr Europäer zu sein, gewinnt unser unmittelbares Umfeld, die Region, in der wir leben, immer größere Bedeutung für uns. Das sagen uns nicht nur die Meinungsforscher; es zeigt sich auch am Engagement der Bürger. Wer aber ist in der Region publizistisch so verankert wie die Landesrundfunkanstalten. Von Bad Bentheim bis Stralsund, von Flensburg bis HannoverschMünden hat z.B. der NDR Studios, Korrespondenten, Redaktionsbüros, kurzum, er hat die Region publizistisch im Griff. Wir machen zu wenig daraus, und das gilt für die anderen Länder genauso. Damit sind wir thematisch im Detail und wer daran geht, ist sich seiner Zukunft sicher. Niemand sollte bange sein um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Den Wandel hat er zuerst zu verhindern versucht; dann hat er ihn schnell zu nutzen verstanden. Er hat seine Marktpositionen ausgebaut und seine Plätze gesichert. Längst ist er wieder gehätscheltes Lieblingskind auf dem Schoß der Politik. Ob schwarz oder rot, man verwöhnt ihn, eröffnet ihm neue Spielwiesen, sichert sein Taschengeld und lässt ihn immer wissen, wem er die guten Gaben verdankt. Und wer verstößt schon seine eigene Brut. In Deutschland hat seit dem alliierten Kontrollrat nur der Bundesminister Horst Seehofer etwas Bestehendes abgeschafft, als er das Bundesgesundheitsamt auflöste – und auch das bestärkt uns immer mehr in Zuversicht –, um es allerdings durch gleich drei neue Behörden zu ersetzen.
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Das Schwanken der Zeitungsverleger: Zwischen Ablehnung und Engagement Von Claus Detjen Die Keimzelle des heutigen dualen Rundfunksystems lag in Ludwigshafen/ Rhein in einer kleinen Mietwohnung in der Taubenstraße. Dort nahm vor zwanzig Jahren, im Juli 1982, die Anstalt für Kabelkommunikation des Landes Rheinland-Pfalz ihre Arbeit auf. Ihr Auftrag war es, im eng umgrenzten Kabelnetzgebiet des Pilotprojekts Ludwigshafen/Vorderpfalz neue, erstmals auch von privatwirtschaftlichen Anbietern erzeugte Hörfunk- und Fernsehprogramme zu ermöglichen und zu erproben. Ministerpräsident Vogel gehörte zu den wenigen, die das damals offen aussprachen: Es geht nicht mehr darum, ob es private Rundfunkveranstaltungen geben wird, sondern nur noch um das Wie. Das war auch für die Zeitungen die entscheidende Frage. Vorausgegangen waren viele Jahre medienpolitischer Blockade der in den USA längst in der Praxis eingeführten sogenannten Neuen Medien. Konkret betraf die Blockade die Verbreitung von Hörfunk- und Fernsehprogrammen in breitbandigen Kabelnetzen und via Satellit. SPD und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten waren die Protagonisten des Versuchs, die medienrechtlichen und medienwirtschaftlichen Folgen von technischen Erfindungen und Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Als in Luxemburg Ende der siebziger Jahre die Ausstrahlung eines RTL-Satelliten-Fernsehprogramms reifte und bei deutschen Zeitungsverlagen konkrete Vorbereitungen getroffen wurden, sich daran zu beteiligen, zielte politischer Erfindergeist im Schmidt’schen Kanzleramt und im Gscheidle’schen Postministerium auf die technische und politische Verhinderung des Empfangs in der Bundesrepublik durch einen „Westwall im Äther“. Auf einer Konferenz der internationalen Vereinigung für Kommunikationsforschung „Münchner Kreis“ wurde 1980 festgestellt: „Auch auf diesem Gebiete zeigt sich, daß die Technik der Politik weit voraus ist. Sie hat die nationalen Grenzen überwunden. Der Versuch, der 1977 von der internationalen Satellitenkonferenz unternommen wurde, die Abstrahlungsgebiete möglichst eng auf die nationalen Grenzen zu konzentrieren, erweist sich bereits heute als nicht erfolgreich. Deshalb werden alle Überlegungen, Partizipation zu realisieren, den nationalen Gegebenheiten Rechnung tragen, zugleich jedoch die europäischen Dimensionen einschließen müssen. Die me-
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dienpolitischen, die rechtlichen und die ökonomischen Probleme überlagern sich national und international.“1 Zeitungen und Union waren nicht naturgegebene Verbündete. Auch in der CDU und der CSU gab es viele Jahre lang erhebliche Vorbehalte gegen die Zulassung privater Rundfunkveranstalter. Im Rückblick erscheint es als ein dialektischer Prozess, dass den Unionsparteien vor dem Regierungswechsel vom Herbst 1982 in der Opposition die Rolle erleichtert wurde, die internen Widerstände gegen die Aufhebung des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols zu überwinden und die Forderung nach Partizipation privatwirtschaftlicher Unternehmen an der Nutzung der neuen Kommunikationstechniken zunächst politisch aufzugreifen und dann nach dem Amtsantritt des Kabinetts Kohl zu erfüllen. Mit dem Regierungswechsel 1982 lösten sich die politischadministrativen Fesseln. Bundespostminister Schwarz-Schilling machte aus dem Verhinderungsapparat Bundespost einen Motor technischer und wirtschaftlicher Innovation. Populär waren solche Positionen damals in der allgemeinen Öffentlichkeit nicht. In den öffentlich-rechtlichen Programmen und auch in den meisten Zeitungen dominierten die Gegner der technischen und medienwirtschaftlichen Innovation das Meinungsbild. In der Mehrzahl der Zeitungsredaktionen und in den Gremien des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger überwogen eher die skeptischen Stimmen gegen eine grundsätzliche Aufhebung der gewohnten Grenzen zwischen öffentlich-rechtlichem Rundfunk und privatwirtschaftlicher Presse. Das zunächst auf terrestrische Kabel beschränkte Pilotprojekt Ludwigshafen erhielt, weil es Satellitenprogramme lizenzieren konnte, nach dem Regierungswechsel 1982 eine neue Dimension: Unter Beteiligung der Aktuell Pressefernsehen GmbH, einer Gründung des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger, namhafter Einzelverlage und der von Genossenschaftsorganisationen aus dem DG-Bank-Bereich getragenen Programmgesellschaft für Kabel- und Satellitenrundfunk (PKS), entstand im Ludwigshafener Projekt das erste deutsche Satellitenfernsehprogramm, das später den Namen SAT 1 erhielt. Damit wird zugleich der Übergang der Aktivitäten bei der Nutzung der neuen Kommunikationssysteme von der verbandlich organisierten Gemeinschaft auf die Ebene der Unternehmen markiert. Der Rückblick auf die Haltung der Zeitungsverlage zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen des technisch dynamisierten Medienwandels der Ära Kohl muss auf die vorausgegangenen Erfahrungen, zum Beispiel beim Streit um die Nutzung von Videotext und Bildschirmtext in den siebziger Jahren, bei der Vorgeschichte des ZDF im sogenannten Adenauer-Fernsehen oder weiter zurück bei der Einführung des Rundfunks in 1
Claus DETJEN, Modelle der Partizipation, in: Kommunikation über Satelliten, hg. von Wolfgang KAISER/Ulrich LOHMAR, Berlin u.a. 1981, S. 186–194.
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Deutschland hinweisen, ohne dass hier im einzelnen darauf eingegangen werden soll. Eine visionäre Funktion hatte dabei immer Axel Cäsar Springer, der unablässig vor der Zurückdrängung der Marktspielräume der Zeitungen angesichts der wachsenden Anziehungskraft der elektronischen Medien warnte. Nicht weniger einflussreich war der Verleger Heinrich G. Merkel, der schon 1954 in seinem Blatt, den Nürnberger Nachrichten, schrieb: „ Die Entwicklung des Fernsehens und des Fernhörens hat die Bild und Nachrichtenübermittlung derart revolutioniert, dass die Presse einer Auseinandersetzung mit der entstandenen Lage allmählich nicht mehr ausweichen kann.“2 Die Einsicht, dass nichts mehr bleibt, wie es ist, setzte sich durch. Aber die Konsequenzen daraus gingen bei den Zeitungen auseinander. Die einen glaubten eher an ein Modell der Eindämmung unerwünschter wirtschaftlicher Folgen durch ein Bündnis mit den Blockadekräften und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die anderen drängten auf ungehinderte Öffnung des Rundfunkmarkts für die Zeitungen. Die Ambivalenz im Lager der Zeitungsverlage verlief in den gleichen Mustern wie die Diskussion in der Gesellschaft: Vorbehalte aus Angst vor den unkalkulierbaren Folgen des Wandels auf der einen Seite, Offenheit für technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovation auf der anderen. Dieser Zwiespalt blieb ein zentrales Problem der Medienentwicklung in der Ära des CDU-Vorsitzenden und des Bundeskanzlers Helmut Kohl. Der Wind des Fortschritts blies den Zeitungsverlagen in den Anfangsjahren der Auseinandersetzung um Kabel und Satelliten auch noch aus anderer Richtung ins Gesicht. Die Zeitungen in der Bundesrepublik Deutschland waren noch ganz darauf konzentriert, sich von der gewohnten Technik Gutenbergs zu verabschieden und in ihrer Arbeitsmethodik elektronische Medien zu werden – ein Prozess, der von heftigen Tarifkämpfen einschließlich ungewohnter Streikperioden begleitet war. Die Zeitungsverlage waren in der Auseinandersetzung mit technischer Innovation immer Akteure und Getriebene in gleichen Maßen. Ablehnung und Engagement führten zu internen und externen Spannungen – innerhalb der Zeitungsverlegerverbände in ihrer föderalen Struktur, zwischen kleinen und großen Verlagen, in der publizistischen Haltung zwischen dem Gebot unvoreingenommener journalistischer Pflicht und der Notwendigkeit, auch die eigenen Interessen öffentlich zu vertreten. Damit hatte man Erfahrungen in einem Streit gesammelt, der heute wie eine Polit-Comedy erscheint. Als 1977 die Zeitungen auf der Funkausstellung in Berlin Videotext nutzen wollten, wurde ihnen das vom Senat zunächst untersagt. Es bedurfte eines Beschlusses der Ministerpräsidenten, um die Ausnahmegenehmigung für eine Rundfunkveranstaltung in einem geschlossenen 2
Heinrich G. MERKEL, Anmerkungen zum Rundfunkwesen – eine Auswahl aus 12 Jahren 1952–1964, Nürnberg 1965, S. 17.
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Raum zu erteilen. Es dauerte dann bis in die ersten achtziger Jahre, bis ein Staatsvertrag über Videotext zustande kam, mit einem Zugangsschlitz für Zeitungen. Die öffentlichen Aufregungen um diese heutige Nebensächlichkeit wurden leidenschaftlicher geführt als Auseinandersetzungen um die Rentensicherheit.3 Die ersten breit angelegten Bemühungen der Zeitungen um eine Beteiligung an einem neuen Massenmedium waren die Reaktion auf die Einführung der Rundfunkwerbung. Sie führte 1958 in die Gründung der Pressevereinigung für neue Publikationsmittel e. V. und der Freies Fernsehen GmbH; sie galt als aussichtsreichster Bewerber für die Veranstaltung des zweiten deutschen Fernsehprogramms, scheiterte dann aber in der Auseinandersetzung um das sogenannte Adenauer-Fernsehen. Auch die noch früheren Reaktionen, als zum ersten Mal die gewohnte Position der Zeitung als wirtschaftlich und publizistisch tonangebendes Medium Konkurrenz erhielt, waren defensiv. Dafür ist die Aussage typisch: „Die Tagespresse wird sich jedenfalls mit aller Gewalt dagegen wehren, dass auf ihrem Gebiet, für das sie allein zuständig und das sie auch allein zu beherrschen imstande ist, sich mehr und mehr der Rundfunk einnistet.“ Das erklärte 1924 das Verbandsorgan der Zeitungsverleger. Die damalige Einschätzung des unbekannten Autors, dass nämlich politische und wirtschaftliche Nachrichten im Rundfunk nur ein Notbehelf sein könnten, erwies sich als ein folgenschwerer Irrtum, ebenso wie die Voraussage, man werde es „wahrscheinlich schon in sehr kurzer Zeit miterleben, daß die Kaufmannschaft einsieht, daß die Reklamemöglichkeiten, die der Rundfunk bietet, äußerst beschränkt sind und bleiben müssen“. So kamen die Zeitungsverleger damals zu der gravierendsten Fehleinschätzung: „Ein wirklicher Wettbewerb zwischen Zeitungen und Rundfunk kann sich auf diesem Gebiete überhaupt nicht entwickeln.“ Diese Kurzsichtigkeit geriet in Erinnerung, als die Medienpolitik der CDU das Ende des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols einläutete. Zeitungen geben sich publizistisch gerne fortschrittlich, scheuen aber, wenn sie selbst davon erfasst werden, den Fortschritt oder das, was sich dafür ausgibt, wie gute Winzer die Plastikflasche. Das führte in den siebziger Jahren bis in die achtziger zu ungewohnten politischen Konstellationen. Aus politischen Kontrahenten wurden potentielle Verbündete, von Verbündeten ging Gefahr aus. Ersteres trifft für das Verhältnis der Verlage zur SPD zu, die in presserechtlichen Auseinandersetzungen Gegner, in der Abwehr unerwünschten Wettbewerbs potentieller Verbündeter war.4 Letzteres gilt für die CDU, die im Presserecht die Zeitungspositionen unter3 4
Claus DETJEN, Die Auseinandersetzung um die Bildschirmzeitung, in: Publizistik aus Profession – Festschrift für Johannes Binkowski, Düsseldorf 1978, S. 157–162. Vgl. Karl H. PRUYS/Volker SCHULZE, Macht und Meinung – Aspekte der SPD-Medienpolitik, Köln 1975.
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stützte, aber dann die Zeitungen ungewohntem, medienwirtschaftlichem Wettbewerb aussetzte. Vor dem Wechsel des Jahrzehnts waren gerade die heftigen Auseinandersetzungen um die sogenannte innere Pressefreiheit beendet. Die SPD wollte, assistiert von den Gewerkschaften, die publizistischen und wirtschaftlichen Bestimmungsrechte der Verleger beschränken und den Redakteuren zu Lasten der Verleger weitgehende Selbstbestimmungsrechte in redaktionellen Angelegenheiten einräumen. Die führenden Verleger und der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger stemmten sich mit ihrer Lobbyenergie und mit Gutachten kraftvoll dagegen – und hatten damit Erfolg. Die Unionsparteien und die unionsgeführten Länder standen auf der Verlegerseite – gegen einen Trend, der gesellschaftspolitisch als fortschrittlich galt. Im Rückblick aus heutiger Sicht wird noch deutlicher, als es schon damals erkennbar war, dass neben der technischen Innovation durch Breitbandkabel und Satelliten in der Ära Kohl die zweite tiefgreifende Veränderung in der Medienindustrie nicht minder wichtig war: die schon oben erwähnte Einführung der elektronischen Produktionssysteme in allen Printmedien – gegen den heftigsten Widerstand der damaligen Industriegewerkschaft Medien. Ohne diese Rationalisierung der Zeitungsherstellung durch Elektronik wären Zeitungen heute wirtschaftlich nicht mehr lebensfähig. Sie wären auch ohne Chance geblieben, sich in den heutigen Online-Medien des Internets wirtschaftlich als Medienunternehmen zu betätigen. In den USA hatten die Verantwortlichen der Zeitungsverlage in den siebziger und frühen achtziger Jahren auf ihren Erkundungstouren von den Kollegen erfahren, welche Folgen die Expansion der elektronischen Medien vor allem in den lokalen Märkten hatte: Rückgang der Auflagen, starke Einbrüche im Anzeigengeschäft der Zeitungen, Zersplitterung der Zielgruppen, Kapitalbedarf für Engagements in Radio und Fernsehen, Konzentrationsschübe in den Verlagsstrukturen. Die Verlage zogen daraus nach langen internen Diskussionen die Konsequenz, die über ihre Verbände in der Forderung an die Politik umgesetzt wurde: Wenn neue Techniken für neue Radio-, Fernseh- und Textangebote freigegeben werden, dann müssen die Zeitungen daran teilnehmen können. Offen blieb dabei zunächst, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen. Denn vor der Zustimmung der Verlegerverbände zur Einführung des privaten Rundfunks stand die Versuchung, dass Wunschdenken in Erfüllung geht. Die Verführung ging von der sozialdemokratischen Blockade der Nutzung von Kabel- und Satellitentechniken aus. Eine Koalition mit dem Ziel, das Unerwünschte zu verhindern, bot sich an. Die SPD, die im Ringen um die sogenannte innere Pressefreiheit wenige Jahre zuvor noch Gegner war, hätte jetzt ein Verbündeter im Versuch werden können, die bestehenden Märkte gegen neue Konkurrenz abzuschotten. Insbesondere für die kleineren und mittleren Verlage war das eine attraktive Verlockung; sie verband sich mit der Vorstellung, dass politische Protektion vor neuer elektronischer Konkurrenz indirekt
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auch Schutz vor wirtschaftlicher Expansion der Großverlage einschließt. Die Verschärfung des intramediären Wettbewerbs fürchteten die Kleinverlage mehr als eine Ausweitung der Fernsehangebote. Protektion offerierten auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Das war in besonderem Maße in den süddeutschen Ländern mit ihren zahlreichen kleinen und mittleren Zeitungen Anlass zu intensiven Kontakten, bei denen Kooperationsmöglichkeiten ausgelotet wurden. Sie versprachen eine Zurückhaltung der öffentlich-rechtlichen Anstalten in den lokalen und regionalen Medienmärkten, Verzicht auf Ausdehnung der Werbezeiten und Beteiligung der Zeitungen bei neuen Programmen unter der rechtlichen Verantwortung der Intendanten. Unter dem Intendantenhut erwarteten die Befürworter der Kooperation Schutz vor dem wachsenden Druck von Wirtschaftsverbänden, Technikunternehmen und der immer deutlicher werdenden Absicht der Unionsparteien, gegen den Widerstand der SPD und der Gewerkschaften die neuen technischen Entwicklungen von der Kette zu lassen. Diese Modelle mündeten in heftige Grundsatzdiskussionen in den Landesverbänden und im Bundesverband der Zeitungsverleger. Die Frage hieß: Können es wirtschaftlich und publizistisch freie Zeitungsverlage mit ihrem Selbstverständnis und ihrem Verständnis des Artikels 5 des Grundgesetzes vereinbaren, ihren Anspruch auf unternehmerischen Zugang zu Hörfunk, Fernsehen und anderen neuen elektronischen Betätigungsfeldern einem öffentlich-rechtlichen Vorrang zu unterwerfen? Fast in jedem Land wurden Kooperationsmodelle zwischen Zeitungen und Rundfunkanstalten mehr oder weniger deutlich ausgeformt, unbeschadet vom Anlaufen der Kabelpilotprojekte. Eine einheitliche Linie auf Bundesebene war für den Bundesverband kaum mehr möglich, mit Ausnahme der Entscheidung für eine gemeinschaftliche Beteiligung der Zeitungsverlage am Pilotprojekt Ludwigshafen. Für dieses verbandsgestützte Engagement in Rheinland-Pfalz, das der „Neue Medien GmbH“ des Bundesverbands übertragen wurde, waren vier Faktoren ausschlaggebend: Erstens: Nur das Land Rheinland-Pfalz gab durch die Politik seines Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel den Zeitungen eine Möglichkeit, unter eigener rechtlicher Verantwortung Hörfunk und Fernsehen sowie Kabeltextprogramme zu veranstalten. Diese Möglichkeit wollte aus ordnungspolitischen Gründen niemand im Verband ungenutzt verstreichen lassen. Zweitens: Die Gespräche mit ARD und ZDF über ein Kooperationsmodell für ein deutsches Satellitenfernsehprogramm waren an der Ablehnung der öffentlich-rechtlichen Anstalten gescheitert. Das Modell sah vor, nach dem Vorbild der beim Südwestfunk von einem privatwirtschaftlichen Partner praktizierten Werbeprogramme den Verlagen eigenverantwortete Programmplätze einzuräumen.
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Drittens: Die Verhandlungen mit RTL über eine gemeinsame Nutzung des luxemburgischen Fernsehsatelliten platzten an einer politischen Intervention der Regierung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt beim französischen Präsidenten Giscard d’Estaing. Über den französischen Einfluss bei den Gesellschaftern von RTL wurde das Projekt gestoppt. Viertens: Die Erfahrungen in den USA, dem Vereinigten Königreich und in den Verhandlungen mit RTL führten zu der Einsicht, dass die Nutzung der Kabel- und Satellitentechnik sowie die Erschließung neuer terrestrischer Frequenzen für Hörfunk und Fernsehen nicht zu verhindern ist, auch nicht durch ein Abwehrbündnis mit der SPD und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Die Aufhebung der Technikblockade setzte die zuvor gebremsten Energien der Großverlage frei. Sie hatten, mit Ausnahme des Axel-Springer-Verlags, die Pilotprojekte mit herablassender Geringschätzung behandelt, legten dann aber einen Schnellstart nach Ludwigshafen ein, als dort die erste deutsche Satellitenfrequenz ausgeschrieben wurde. Bertelsmann klagte gegen den Lizenzgeber, als das größte deutsche Medienhaus nicht in das Ludwigshafener Satelliten-Konsortium aufgenommen wurde. Am Beispiel SAT 1 werden die Grenzen des Leistungsvermögens der Zeitungen deutlich. Medienpolitisch war eine starke Beteiligung der Zeitungen am ersten privaten Satellitenprogramm der Bundesrepublik Deutschland erwünscht. Für ein konsequent Zuschauer orientiertes Programm fehlten ihnen jedoch die finanziellen und die programmlichen Ressourcen. Sie konzentrierten ihren Beitrag auf die Nachrichtensendungen der Aktuell Pressefernsehen GmbH – konsequent und ehrenvoll teuer im Bestreben um publizistische Leistung und Qualität, nicht entscheidend jedoch für die Herrschaft über den Erfolg im Markt. Der verlangte nach Stoffen und medialen Erlebnissen, mit denen Zeitungsverlage keine Erfahrungen hatten. Das Kirch-Angebot, den Zeitungen in der Startphase sozusagen für einen symbolischen Preis Filme und Serien zu liefern, war in den Verbandsgremien abgelehnt worden. Mit den fließenden Übergängen der Pilotprojekte in eine – nach Ländergesetzgebung unterschiedliche – Öffnung der Märkte von Hörfunk und Fernsehen für neue Programme von privaten und öffentlich-rechtlichen Veranstaltern setzte sich Mitte der achtziger Jahre der unternehmerische Vorrang gegen den verbandlich gesteuerten Einfluss durch. Dabei konzentrierten sich die Zeitungsverlage – die überregionalen Blätter eingeschlossen – auf ihre lokale und regionale Kernkompetenz. Die meisten zogen sich aus den überregionalen Programmen zurück. Um so mehr engagierten sie sich, so weit es medienrechtlich möglich war, auf lokale und regionale Hörfunk- und Fernsehsender. Die Achtziger waren für die Zeitungen das Jahrzehnt der Transformation vom Verlag, der in der Tradition der Gutenberg-Nachfolge steht, zum Medienunternehmen in hypertrophen Märkten. Das Lehrgeld für die Erfahrung, dass
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ein erfolgreicher Wechsel von einem Medium ins andere unternehmerische, wirtschaftliche und inhaltliche Kompetenzen verlangt, die nicht unbedingt die gewohnten sind, war teuer. Wer heute als diversifiziertes Medienunternehmen, das aus einem Zeitungsverlag hervorgegangen ist, Gewinne in den elektronischen Medienmärkten macht, hat seinen Erfolg in der Regel auf den Humus von Irrtümern und Fehlern anderer und eigener Herkunft gepflanzt. In den achtziger Jahren konnten die Zeitungen lernen, dass sie viel mehr dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen als dass sie ihn beeinflussen oder gar steuern können. Es gab viel mehr Erfahrung mit Medienohnmacht als mit Medienmacht. Was Professor Elisabeth Noelle-Neumann im Abschlussbericht für das Pilotprojekt Ludwigshafen festgestellt hatte, hat sich bis heute fortgesetzt: Immer mehr Menschen glauben, ohne Zeitung auskommen zu können. Die Auflagen sinken. Das spricht nicht gegen die Zeitungen. Denn die haben in der Regel ihre Anstrengungen um Qualität in Inhalt und Form in den neunziger Jahren verstärkt, ebenso ihr Marketing. Vielleicht war ja doch etwas mehr als purer Gruppenegoismus in der Ambivalenz, mit der sich die Zeitungen dem Fortschritt der achtziger Jahre öffneten. In ihrem Wesen sind Zeitungen konservativ, weil sie nicht auf Neuerung, sondern auf der Erfahrung der Kulturtechnik Lesen beruhen. Sie wissen, dass sie nie mehr werden, was sie einmal waren: Synonym für Neuigkeit. Die Zukunft, in der sie vielleicht Synonym für Beständigkeit des Wertvollen sind, liegt noch vor ihnen. P.S: Ein Rückblick auf die Ära Kohl wäre unvollständig, wenn nicht auch ein gravierendes medienpolitisches Defizit registriert würde. Es wurde offenkundig, als 1989 die Revolution die SED stürzte und die Zeitungen der DDR zunächst der ostdeutschen, dann der gesamtdeutschen Treuhandanstalt übereignet wurden. Ein Konzept für die Neuordnung der Printmedien in der DDR, dann in den neuen Ländern, war nirgendwo vorbereitet. Die Treuhandanstalt verkaufte Zeitungen wie andere Wirtschaftsgüter, zum Beispiel Möbelfabriken oder Baustofflager. Die westdeutschen Käufer mussten sich verpflichten, das Personal der ehemaligen SED-Bezirkszeitungen weiterzubeschäftigen. Zu Recht wird heute kritisch nach den gesellschaftlichen und politischen Folgen gefragt. Zur Antwort gehört auch: In der Politik hat dazu keine der demokratischen Parteien eine Alternative rechtzeitig aufgezeigt und verwirklicht.
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Die Wende auf dem Medienmarkt Von Beate Schneider Wenn Ironie gestattet ist, stellen sich der Fall der Mauer und seine Folgen für die Medien als imponierende Erfolgsgeschichte dar. Dies gilt gleichermaßen für den privaten und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie für die Presse, obwohl diese Bereiche mit ganz unterschiedlichem medienpolitischen Elan geregelt und geordnet wurden. Deutlich wird das vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich. Auf kaum einem anderen Gebiet ähneln sich die Systeme in Ost und West gleichermaßen. Nahtlos und glatt geriet der Übergang in der Nacht zum 1. Januar 1992. Der neu gegründete Mitteldeutsche Rundfunk ist ein moderner, leistungsstarker Sender, der zwar wegen exzessiver marktwirtschaftlicher Experimente immer mal ins Gerede kommt, andererseits mit seinem 3. Fernsehprogramm die höchste Zuschauerbindung aller dritten Programme in Deutschland erreicht. Auch Mecklenburg-Vorpommern hat sich mit dem Norddeutschen Rundfunk einen starken Partner gesucht und ist kein Kostgänger im strapazierten System des Finanzausgleichs geworden. Selbst die Neuordnung von ORB und SFB ist inzwischen auf den Weg gebracht. Die neuen Bundesländer zeichnen sich auch durch eine reiche private Rundfunklandschaft aus. Die gleichen Akteure wie im Westen betreiben unter ganz ähnlichen Bedingungen die Radiostationen. Beim privaten Fernsehen allerdings sind die neuen Bundesländer nur ein erweitertes Sendegebiet. Bis auf lokale Fenster wurde kein Sender lizenziert. Die privaten TV-Programme – besonders RTL und Pro 7 – sind hier jedoch höchst erfolgreich und beliebt. Der Pressemarkt kann mit eindrucksvollen Zahlen aufwarten: Geradezu als Musterbeispiel verantwortungsvollen Investments haben sich nach dem Fall der Mauer etwa 60 vorwiegend westdeutsche Verlage dort engagiert und mehr als 80 meist lokale Zeitungen auf den Markt gebracht, Druckereien gebaut, Arbeitsplätze geschaffen.1 Allein mit der Veräußerung der ehemaligen SED-
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Überblicke über die Entwicklung auf dem Pressemarkt nach der Wende geben: Beate SCHNEIDER, Strukturen, Anpassungsprobleme und Entwicklungschancen der Presse auf dem Gebiet der neuen Bundesländer (einschließlich des Gebiets des früheren Berlin-Ost), Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministers des Innern, 4 Bde. Hannover/Leipzig 1992; Dieter STÜRZEBECHER, Publizistische Einheit? Marktstrukturen und Wettbewerbsverhältnisse der Tagespresse in den neuen Ländern seit der Wende. Univ. Diss., Hannover 1997; Beate SCHNEIDER/Dieter STÜRZEBECHER, Wenn das Blatt sich wendet. Die Tagespresse in den neuen Bundesländern, Baden-Baden 1998.
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Zeitungen hat die Treuhand den Rekordbetrag von 1,2 Mrd. DM eingespielt. Sie konnte unter einer Vielzahl von Bewerbern die neuen Eigentümer aussuchen. Dabei erhielten erstmals westdeutsche Zeitschriftenverleger die Möglichkeit zu diversifizieren und sich als Zeitungsverlage zu etablieren. Gruner + Jahr – bisher nur glückloser Herausgeber der „Hamburger Morgenpost“ – wurde durch den Erwerb in Berlin und in Dresden eines der größten deutschen Zeitungshäuser, auch Burda und Bauer sind inzwischen respektable Zeitungsverleger. Auf dem Gebiet des Zeitungswesens haben sich die neuen Bundesländer hervorragend platziert: Unter den zehn auflagenstärksten Zeitungen Deutschlands rangieren 6 Blätter der ehemaligen DDR.2 Zugegeben: Der Zeitschriftenmarkt in den neuen Bundesländern ist kein Ruhmesblatt. Die wenigen ehemaligen DDR-Titel konnten auch erfolgsverwöhnte westdeutsche Verlage nur ausnahmsweise am Leben erhalten. Auf der anderen Seite konnten die Neubürger mit den so zeitgeistnahen, verhältnismäßig teuren, postmodernen Glanztiteln der alten BRD wenig anfangen. Immerhin, das Segment Heimwerker und Ratgeber läuft einigermaßen, und da gibt es ja auch noch die „Superillu“.3 Richtet man schließlich den Blick weiter nach Osten, ist der Erfolg gar grenzenlos. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und dem Ende des Kalten Krieges haben deutsche Medienunternehmen neue Märkte erschlossen und ihre Chance ergriffen: So wurde der Regionalverlag der „Passauer Neuen Presse“ zum wahrscheinlich größten Zeitungsverleger in Polen, der WAZ-Verlag dominiert den Pressemarkt in Bulgarien, vertreibt Zeitungen und Zeitschriften auch in Ungarn, Rumänien, Kroatien. Bauer gibt mehr als 15 Zeitschriftentitel in Polen und eine Hand voll in Ungarn heraus. Holtzbrinck ist in Slowenien und Tschechien aktiv, Springer in Rumänien, Polen, Tschechien und in Ungarn mit acht regionalen Zeitungen und vielen Zeitschriften auf dem Markt. Auch Gruner + Jahr betätigt sich erfolgreich in Ungarn, Rumänien, Tschechien.4 Mit diesen Engagements konnten die Verlage also dort expandieren, wo sie die deutsche Fusionskontrolle nicht behindert und die Marktzutrittsbarrieren nicht unüberwindbar sind. Ähnliches beobachten wir im Rundfunkbereich. Das internationale Beteiligungsunternehmen Eurocast ist z. B. an Radiostationen in Polen und Tsche2 3
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Walter J. SCHÜTZ, Zur Entwicklung des Zeitungsmarktes in den neuen Ländern 1989– 1992, in: Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e.V. (Hg.): Zeitungen ´92, Bonn 1992, S. 270–296. Siehe dazu die umfangreiche Dokumentation von Michael HALLER/Johannes LUDWIG/Hartmut WESSLER, Entwicklungschancen und strukturelle Probleme der Zeitschriftenpresse in den neuen Bundesländern, Forschungsbericht für den Bundesminister des Innern, Leipzig 1994. Horst RÖPER, Formation deutscher Medienmultis 1999/2000. Entwicklungen und Strategien der größten deutschen Medienunternehmen, in: Media Perspektiven, Nr. 1/2001, S. 2–30.
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chien beteiligt, RTL mit Sendern und Beteiligungen überall in Osteuropa, wo ausländische Unternehmen aktiv werden dürfen. Und doch feiert niemand diese Erfolgsgeschichte der Medien nach der Wende in der DDR. Ein in Deutschland schon damals eher zurückhaltendes Interesse bestand noch in den ersten Nachwende-Jahren. Etwa ab Mitte der 90er reißt es dann schlagartig ab. Selten ausdrücklich thematisiert und benannt, äußert sich – ganz gegen den Trend dieser Zahlen – ein eher diffuses Unbehagen, vor allem dann, wenn die PDS wieder Wahlerfolge in den neuen Ländern feiert. Dann wird – oft von gegensätzlichen Positionen aus – über die Medien und deren Einfluss spekuliert. Die Schriftstellerin Monika Maron hat zum 10. Jahrestag der Wiedervereinigung den Medien die Schuld dafür zugeschoben, dass die Mauer in den Köpfen der Menschen fortbestehe: Die (westdeutsche) Presse zeichne ein diskriminierendes Bild vom larmoyanten, dumpfen, rechtsradikalen und demokratieunfähigen Ossi.5 Die Schuld liege im Osten, konstatiert dagegen Elisabeth Noelle-Neumann: Dass sich Ostdeutschland in zahlreichen Punkten bis heute nicht aus der Indoktrination der DDR-Zeit gelöst habe, liege daran, dass ein gesinnungsfestes Mediensystem auch nach der Wende zu einem großen Teil erhalten geblieben sei.6 Wissenschaftliche Untersuchungen zur Medienberichterstattung7 in den neuen Bundesländern liegen längst vor und können die Diskussion versachlichen. Die Ergebnisse der Presseanalysen bestätigen einen engen Zusammenhang von Berichterstattung und den Strukturen des ostdeutschen Mediensystems, das durch medienpolitische Entscheidungen bzw. Enthaltsamkeit geformt wurde und verantwortet werden muss. Und tatsächlich ist das Mediensystem in den neuen Bundesländern bis heute maßgeblich durch strukturelle Faktoren bei der Neuorganisation bestimmt. 5 6 7
Monika MARON, Unüberwindlich? Die Mauer in den Köpfen, Rede anlässlich der Verleihung des Journalistenpreises der deutschen Zeitungen – Theodor-Wolff-Preis – am 16.9.1999 in Leipzig, unveröffentlichtes Redemanuskript. Elisabeth NOELLE-NEUMANN, Die Deutschen haben die Probe als Nation bestanden. Die Wiedervereinigung ist aber noch nicht abgeschlossen, in: FAZ vom 27.9.2000. Untersuchungen zur Berichterstattung von Zeitungen in den neuen Bundesländern liegen vor von: Winfried SCHULZ, Den roten Federn auf der Spur. Ein erster Bericht über eine vergleichende Inhaltsanalyse ost- und westdeutscher Tageszeitungen, in: Beate SCHNEIDER/ Kurt REUMANN/Peter SCHIWY, Publizistik. Festschrift für Walter J. Schütz, Konstanz 1995, S. 287–299; Helmut SCHERER/Lutz M. HAGEN/Theodor ZIPFEL/Harald BERENS, Die Darstellung von Politik in ost- und westdeutschen Tageszeitungen, in: Publizistik 42 (1997), S. 413–438; Beate SCHNEIDER/Wiebke MÖHRING/Dieter STÜRZEBECHER, Lokalzeitungen in Ostdeutschland – Strukturen, Publizistische Leistung und Leserschaft, in: Media Perspektiven, Nr. 7/1997, S. 378–390; Beate SCHNEIDER/Dieter STÜRZEBECHER/Wiebke MÖHRING, Ortsbestimmung. Lokaljournalismus in den neuen Ländern, Konstanz 2000; Wiebke MÖHRING, Die Lokalberichterstattung in den neuen Bundesländern. Orientierung im gesellschaftlichen Wandel, München 2001.
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Hierbei gaben – spätestens mit dem Tag der Wiedervereinigung – zwei durch staatliche Akte berufene Institutionen den Ausschlag: Die Treuhandanstalt, zuständig für die Privatisierung der vormals übermächtigen SED-Presse, und die so genannte „Einrichtung“ für die „Abwicklung“ des ehemaligen DDR-Rundfunks. Beiden Institutionen ist in der Folgezeit Fantasielosigkeit, mangelnde Sensibilität, parteipolitische Schacherei und Versagen vorgeworfen worden. Unerwünschte Nebenwirkungen durch den Rückgriff auf „medienrechtliche Stereotypen“ wurden befürchtet, langfristige „mentale Verwerfungen“ vorhergesagt. Der Verzicht auf Innovationen bei der Medienentwicklung in den neuen Ländern könne sich eines Tages als „historischer Fehler“ erweisen.8 Eine Bestandsaufnahme bestätigt die negativen Folgen: Im Rundfunk kam es zu einer strikten Angleichung der Systeme. Die „Einrichtung“ unter ihrem „Rundfunkbeauftragten“ Rudolf Mühlfenzl agierte als Liquidationsgesellschaft zur Auflösung des DDR-Hörfunks und -Fernsehens und musste dabei nach politischen Vorgaben der Länder handeln. Kennzeichnend dafür ist einerseits die „Abwicklung“ des staatlich-zentralistischen Systems in seinen bis dahin bestehenden Strukturen, Sendeanstalten und Programmangeboten und die Strukturierung eines neuen Systems. Im öffentlich-rechtlichen als auch im privaten Sektor wurde dabei das bundesrepublikanische Modell übertragen. Dieses duale System hatte sich zwar in den Grundzügen bewährt, galt jedoch auch Anfang der 90er Jahre schon in wesentlichen Teilbereichen als nicht mehr zeitgemäß und daher dringend reformbedürftig. Pläne für einen Nordostdeutschen Rundfunk (NORAG) als gemeinsame Anstalt für Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin in der neuen Form einer öffentlich-rechtlichen Holding als schlanke Verwaltungseinheit ohne Programmproduktion wurden zwar entwickelt, aber nicht verwirklicht. Dabei hätte gerade dieses innovative Modell die Strukturschwächen des gesamten öffentlich-rechtlichen Systems überwinden helfen können.9 Mecklenburg-Vorpommern aber entschloss sich für den Verbund mit dem NDR, und Brandenburg verlor daraufhin jedes Interesse an einer gemeinsamen Anstalt mit dem als dominant gefürchteten Berlin und einem schuldenbelasteten, subventionsbedürftigen SFB. Die im Februar 1992 in einem Staatsvertrag in Aussicht genommene enge Zusammenarbeit im Bereich des Rundfunks wurde erst im Jahr 2002 Realität. 8 9
Peter SCHIWY, Versagt, versäumt, verpasst. Die Medienneuordnung in den neuen Bundesländern, in: Bertelsmann Briefe, Nr. 127, 1992, S. 42–46; Beate SCHNEIDER, Die ostdeutsche Tagespresse – eine (traurige) Bilanz, in: Media Perspektiven, Nr. 7/1992, S. 428–441. Vgl. ausführlich Walter J. SCHÜTZ, Der (gescheiterte) Regierungsentwurf für ein Rundfunküberleitungsgesetz der DDR. Chronik und Dokumente, in: Arnulf KUTSCH/Christina HOLTZ-BACHA/Franz R. STUKE (Hg.), Rundfunk im Wandel. Beiträge zur Medienforschung. Festschrift für Winfried B. Lerg, Berlin 1992, S. 263–303; Beate SCHNEIDER, Massenmedien im Prozeß der deutschen Vereinigung, in: Jürgen WILKE (Hg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 602–629.
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Langwierige Verhandlungen zwischen den Regierungschefs der Länder und der Bundesregierung gingen der Gründung des „Deutschlandradios“ voraus. Verbrämt als Rettungsversuch für den „Deutschlandsender Kultur“ aus der DDR-Hinterlassenschaft ging es weit mehr um den Erhalt des „Deutschlandfunks“ und die Integration des ersten Hörfunkprogramms von „RIAS Berlin“. Beide Sender hatten in der Zeit vor der Wende die Aufgabe, mit ihren Programmen ganz Deutschland, also auch die Menschen in der DDR, mit Informationen zu versorgen und auf die Einheit hinzuwirken. Mit der Vollendung dieser Einheit hatten sie eigentlich ihre Existenzberechtigung – gemessen am Programmauftrag – verloren. Der politische Wille bescherte Deutschland stattdessen zwei nationale Hörfunkprogramme, und „DS Kultur“ verdankt seine Existenz politisch teuren Kompromissen, um den Bestand von eigentlich obsolet gewordenen westdeutschen Sendern im neuen Gewand zu legitimieren. Auch die Gestaltung des privaten Rundfunks in ausschließlicher Kompetenz der neuen Länder ist kaum mehr als eine bloße Kopie von West-Standards. Das Ergebnis ist eindrucksvoll: An allen der im neuen Bundesgebiet zugelassenen Sendegesellschaften sind gerade die westdeutschen Unternehmen oder Unternehmensgruppen maßgeblich beteiligt, die bereits über große Beteiligungen in der Rundfunklandschaft der alten Bundesländer verfügen. Ebenso wie in Westdeutschland hält man vorrangig Verlage für die geborenen Radio-Betreiber, obwohl ja gerade sie in den neuen Bundesländern fast ausschließlich Monopolisten in ihrem Verbreitungsgebiet sind und die Konzentration so maßgeblich beschleunigt wird. Auch wenn die elektronischen Medien der ehemaligen DDR grundlegend umstrukturiert wurden: Die Bezeichnung „Neu“-Ordnung haben diese Anstrengungen nur bedingt verdient: Die Chance zur Innovation im wiedervereinigten Deutschland wurde versäumt. War beim Rundfunk der politische Gestaltungswille groß, ist die Entwicklung im Pressewesen vorwiegend durch medienpolitische Abstinenz gekennzeichnet. Die Treuhandanstalt betrieb den spektakulärsten, umstrittensten und folgenreichsten Zeitungsverkauf der deutschen Geschichte. Immerhin ging es um die „Filetstücke“ der ostdeutschen Presse: 14 profitable Regionalzeitungen, wegen ihrer Rolle im SED-Staat zwar politisch diskreditiert, dafür aber mit enorm hohen Auflagen von bis zu 660.000 Exemplaren und, pressewirtschaftlich noch wichtiger, mit einem von den DDR-Machthabern beabsichtigten Monopol in der Lokalberichterstattung. Eher widerwillig waren diese Blätter nach dem Fall der Mauer von der SED/PDS in die Unabhängigkeit entlassen und in Volkseigentum überführt worden. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik lag es gemäß Einigungsvertrag an der Treuhandanstalt, sie „wettbewerblich zu strukturieren und zu privatisieren“.10
10 Vgl. B. SCHNEIDER/D. STÜRZEBECHER (wie Anm. 1), S. 31ff.
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Die Kritik an der Treuhandanstalt konkretisiert sich bis heute auf die Vergabeund Auswahlkriterien beim Verkauf der ehemaligen SED-Zeitungen. Die ausschließliche Orientierung an hohen Erlösen und schnellem Verkauf, vor allem das Ausblenden medienspezifischer Besonderheiten, haben letztlich dazu geführt, dass ausnahmslos große westdeutsche Zeitungs- und Zeitschriftenverlage zum Zuge kamen. So hat sich nicht nur die Kluft zwischen großen und mittleren bzw. kleineren Verlagen vertieft. Am folgenreichsten war die Privilegierung leistungsstarker Konzerne durch die Überlassung etablierter Traditionstitel mit großen Verbreitungsgebieten und hohen Auflagen für die zahlreichen – wirtschaftlich unterlegenen – Neugründungen in Ostdeutschland. Eine Entflechtung – wie in anderen Bereichen der Wirtschaft üblich – wurde nicht einmal erwogen. Die auch in Pressefragen völlig unerfahrenen Treuhandmanager erwiesen sich beratungsresistent. Die seit jeher privilegierten ehemaligen SED-Zeitungen wurden mit ihren überdimensionierten Verbreitungsgebieten, ihren gegenüber Westdeutschland unvergleichbar hohen Auflagen von teilweise über einer halben Million Exemplaren mit allen Liegenschaften und ihren Druckerein verkauft. Damit hatten diese Blätter gegenüber ihrer Konkurrenz einen Wettbewerbsvorspung auf dem in Deutschland traditionell zur Konzentration neigenden Zeitungsmarkt.11 Damit allerdings war die Privatisierung der früheren SED-Presse noch lange nicht abgeschlossen. Galt es doch, die Restitutionsansprüche der SPD abzuklären. In einigen der SED-Blätter sah die Partei unmittelbare Nachfolgeorgane von SPD-Zeitungen, die von den Nationalsozialisten enteignet und 1946 durch die Zwangsvereinigung von KPD und SPD an die SED übergegangen sind. Der Streit endete mit einem Kompromiss: Die SPD erhielt eine stille Beteiligung in Höhe von 40 Prozent an der „Sächsischen Zeitung“ in Dresden zur Abgeltung aller Ansprüche an anderen ehemaligen SED-Titeln. Dass die SPD ihren ohnehin schon ansehnlichen Pressebesitz in Westdeutschland damit noch einmal kräftig aufstocken konnte, hat die Kritik erst im vergangenen Jahr aufgegriffen – mit einer Zeitverzögerung von knapp zehn Jahren. Glücklos blieben die Verkaufspolitik der Treuhand und die Aufsicht der Kartellbehörden auch auf anderen Feldern. Das Ziel, jedem Kaufinteressenten nur eine einzige Zeitung zuzugestehen, wurde schnell unterlaufen. Waren die Verträge erst einmal unterschrieben, kümmerte sich niemand mehr darum, wenn in der Folgezeit Änderungen an den Eigentümerstrukturen erfolgten wie bei den „Lübecker Nachrichten“, die schon bald 50 Prozent der Anteile an ihrer Neuerwerbung „Ostsee-Zeitung“ direkt an den Axel-Springer-Verlag weiterreichten – ohne Murren des Bundeskartellamts.12 Ein beredtes Beispiel 11 EBD. 12 Beate SCHNEIDER/Dieter STÜRZEBECHER, Bilanz der Einheit, in: journalist, Sonderausgabe Dezember 1999, S. 42–44.
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ist auch das trickreiche Agieren des WAZ-Konzerns zur Umgehung des Kartellamts bei den Zeitungsbeteiligungen in Thüringen. Dem Verlag wurde zwar eine Reduzierung der Anteile zugunsten der Mitarbeiter und eines anderen Verlages abgerungen. Fünf Jahre allerdings hat das Kartellamt anschließend gebraucht, um zu merken – und zu untersagen –, dass diese Zusagen schnell wieder unterlaufen worden waren. Manches Versäumnis rächte sich sogar noch später: Ziel der Treuhand war es, beim Verkauf keine zusammenhängenden Verbreitungsgebiete von Zeitungen desselben Verlages in Ost- und Westdeutschland entstehen zu lassen. Und doch erhielt die mehrheitlich zum Süddeutschen Verlag (München) zählende „Neue Presse“ in Coburg den Zuschlag für das unmittelbar im Südthüringer Raum verbreitete „Freie Wort“ in Suhl. Diese günstige Konstellation hat der Verlag dankend angenommen und jüngst zur Rationalisierung genutzt.13 Die „grenzüberschreitende“ redaktionelle Zusammenarbeit dieser Blätter sowie der ebenfalls dem Süddeutschen Verlag gehörenden Hofer „Frankenpost“, dem „Vogtland-Anzeiger“ in Plauen und der „stz Südthüringer Zeitung“ (Bad Salzungen) hat die kärgliche publizistische Vielfalt in dieser Region weiter verringert. Die Zeitungslandschaft im Osten unterscheidet sich deshalb wesentlich von der im Westen: – Die Zahl der Ausgaben ist im Verhältnis deutlich geringer, – die Konkurrenzdichte ist weitaus niedriger, – das lokale Zeitungsmonopol ist die Regel und – der Typ der verlegerisch selbstständigen Lokalzeitung ist nahezu unbekannt. Die Presse-Privatisierung der Treuhand hat überall in den neuen Ländern zu einer Kombination von Marktmacht und Auflagenhöhe mit Know-how und Finanzstärke aus Westdeutschland geführt. Unter diesen Vorzeichen waren nahezu alle der einst 80 nach der Wende neu gegründeten Zeitungen in Ostdeutschland zur Aufgabe gezwungen. Wer den erbitterten Kampf überlebt hat – und das sind einige wenige – kooperiert inzwischen mit einer der großen ehemaligen SED-Bezirkszeitungen. Nur die „Altmark Zeitung“ des Verlegers Dirk Ippen hat es bisher geschafft: In ihrem kleinen Verbreitungsgebiet ist sie unabhängiger Marktführer. Auf die ehemaligen SED-Parteizeitungen entfallen nun fast 95 Prozent der Gesamtauflage der Abonnementpresse in den neuen Ländern. Ihre Marktstellung ist heute unangefochtener denn je und wurde ge-
13 EBD.
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genüber den Tagen der SED noch ausgebaut. Die Staatspartei hatte sich mit einem Anteil von 86 Prozent zufrieden gegeben.14 Außerhalb Berlins herrschen deshalb heute Pressestrukturen vor, die denen längst vergangener DDR-Zeiten weitaus mehr ähneln als denen in Westdeutschland. Die überwiegend konkurrenzlosen Zeitungen sind zwar dicker, bunter und zweifellos informativer als früher, weisen aber dennoch ein Ausmaß an – auch personeller – Kontinuität auf, wie es wohl in keinem anderen Bereich des politischen und gesellschaftlichen Wandels in Ostdeutschland vorzufinden ist. Dass ausgerechnet die alten SED-Organe mit ihrer einst besonderen Rolle im Machtgefüge der DDR und ihrer herausragenden publizistischen Bedeutung in heutiger Zeit fast drei Viertel ihrer früheren Redakteure auch nach der Wende weiterbeschäftigt15 und die neuen (westdeutschen) Verleger auf eine Stasi-Überprüfung weitgehend verzichtet haben,16 gab auch der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit Anlass zur Kritik – und sorgte in den Redaktionen selbst bis in jüngste Vergangenheit für einige unliebsame Enthüllungen „in eigener Sache“. Auch wenn solche Enthüllungen heute gerne instrumentalisiert werden, fällt doch auf, dass bisher nur 35 Journalisten bei privaten Arbeitgebern von der Gauck-Behörde überprüft wurden.17 Das Zeitungsgeschäft ist für die großen Verlage allerdings keineswegs einfacher geworden. Im Gegenteil: Seit der Wende haben die einstigen SED-Bezirksorgane im Durchschnitt mehr als zwei Fünftel ihrer Auflage eingebüßt; allein seit Mitte der 90er Jahre beläuft sich das Minus auf rund 15 bis 20 Prozent, und ein Ende des Leserschwunds ist nicht in Sicht. Diese Entwicklung muss nicht nur eine Folge von Bevölkerungsabwanderungen und knapper Kas-
14 Vgl. B. SCHNEIDER/D. STÜRZEBECHER/W. MÖHRING, Ortsbestimmung (wie Anm. 7), S. 90. 15 Beate SCHNEIDER/Klaus SCHÖNBACH/Dieter STÜRZEBECHER, Journalisten im vereinigten Deutschland. Strukturen, Arbeitsweisen und Einstellungen im Ost-West-Vergleich, in: Publizistik 38 (1993), S. 353–382, hier S. 358f.; Beate SCHNEIDER/Klaus SCHÖNBACH/Dieter STÜRZEBECHER, Ergebnisse einer Repräsentativbefragung zur Struktur, sozialen Lage und zu den Einstellungen von Journalisten in den neuen Bundesländern, in: Frank BÖCKELMANN/Claudia MAST/Beate SCHNEIDER (Hg.), Journalismus in den neuen Ländern. Ein Berufsstand zwischen Aufbruch und Anpassung, Konstanz 1994, S. 145–190. 16 Im Auftrag der „G+J Berliner Zeitung Verlag GmbH & Co.“, der „Märkischen Oderzeitung“ und der „Sächsischen Zeitung“ untersuchte Prof. Dr. Ulrich Kluge „die Absicherung der Berichterstattung der Bezirksparteizeitungen der SED durch das Ministerium für Staatssicherheit“: Ulrich KLUGE/Steffen BIRKEFELD/Silvia MÜLLER, Willfährige Propagandisten. MfS und SED-Bezirkszeitungen: Berliner Zeitung, Sächsische Zeitung, Neuer Tag, Stuttgart 1997. 17 Renate OSCHLIES, Ein Bereich wurde ausgespart. Debatte über die Stasi-Aufarbeitung in den Medien, in: Berliner Zeitung vom 12./13.5.2001; Fast kein Zeitungsjournalist auf Stasi-Mitarbeit überprüft, AP-Meldung vom 11.5.2001.
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sen sein; vielleicht ist es auch eine Reaktion auf als unzureichend empfundene redaktionelle Leistungen. So werden publizistische Monopole auf lokalen Märkten für die Verlage zum Fluch: Leser von Monopolzeitungen beurteilen „ihr“ Blatt deutlich schlechter als jene, die eine Auswahlmöglichkeit haben. Dies hat gute Gründe. Denn tatsächlich sind die redaktionellen Leistungen von Zeitungen ohne örtlichen Wettbewerber – übrigens auch in Westdeutschland – gerade in den Lokalteilen erheblich schwächer. Etliche Leser in den neuen Ländern halten ihrer Zeitung nur der Not gehorchend (noch) die Treue – mangels Alternativen zur lokalen Information.18 Zynisch wäre hier anzumerken, dass es bei aller Nachlässigkeit von Behörden und Managern doch tröstlich ist, wenn wenigstens die Leser wach bleiben und reagieren. Und wen wundert es angesichts dieser Entwicklungen, dass auch die Abschaffung der Pressefusionskontrolle ernsthaft im Gespräch ist. Das Pressestatistikgesetz ist ja bereits vorsorglich in den 90er Jahren abgeschafft worden. Alle diese Fehlentwicklungen lassen sich durch medienpolitisches Handeln, vor allem aber auch durch medienpolitische Abstinenz erklären. Die anfangs geschilderten großen Erfolge aber ebenso. Medienpolitik scheint – das lehren die Ereignisse – immer mehr zum Spielball von Interessen nicht nur der Politiker zu verkommen. Mit Medien, so hat es sich mehr denn je herumgesprochen, lassen sich vielleicht Wahlen gewinnen, mit Medienpolitik sicher nicht. Die Materie ist kompliziert, der Gegenwind stark, die Akteure einflussreich. Vor allem kurzfristige, wählerwirksame Effekte sind nicht zu erwarten, und die langfristigen Folgen müssen andere verantworten.
18 B. SCHNEIDER/D. STÜRZEBECHER, Bilanz (wie Anm. 12), S. 42–44.
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Einführung Von Werner Link Es dürfte einen breiten Konsens in der Öffentlichkeit und in der Geschichtsund Politikwissenschaft darüber geben, dass die Europapolitik in der Regierungszeit Helmut Kohls von zentraler politischer Bedeutung war – vor, während und nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Hans-Peter Schwarz hat zutreffend festgestellt: Während in anderen Politikfeldern „eine epochale Zweiteilung zu vermerken ist, weist Kohls Europapolitik, der von Anfang an sein Herz gehörte, eine durchgehende Geradlinigkeit auf“.1 Indes, so unbestritten diese durchgehende Geradlinigkeit ist, so evident ist zugleich, dass die Europapolitik (wie auch die Politik in anderen Bereichen) nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Bipolarität und dann der Sowjetunion unter fundamental geänderten Bedingungen formuliert und verwirklicht werden musste bzw. muss. Die Machtverteilung und die Mächtebeziehungen im internationalen System haben sich 1990 revolutionär verändert. Nach der Zeitenwende, in der neuen Epoche, stand und steht Europa und die Europapolitik in ganz neuer Art vor der doppelten Herausforderung von Vertiefung und Erweiterung und darüber hinaus vor der Aufgabe, in einer neuen Weltordnung Europas Position, seine Beiträge und seine Rolle zu definieren – „Globalisierung“ ist ein weiteres Stichwort. Rückblickend wird man vielleicht die Epoche der neunziger Jahre als „Übergangszeit“ begreifen – als Übergang zu dem, was dann durch die große Ost-Erweiterung und durch den in Arbeit befindlichen Verfassungsvertrag bestimmt sein wird. Das Ergebnis wird eine Neue EU sein (so wie die erweiterte NATO eine Neue NATO ist bzw. sein wird). Ob die europäische Entwicklung zu einem „bewussten politischen Neugründungsakt“ (Fischer) führt oder ob durch die „Methode Monnet“ (die – wenn ich recht sehe – auch für die Europapolitik Helmut Kohls kennzeichnend war) ihre Fortsetzung findet, ist meines Erachtens eine offene Frage. Ob mit der Neuen EU diejenige Vision Wirklichkeit werden wird, die Helmut Kohl in seiner Ära, ja, Zeit seines politischen Lebens bestimmt hat, ist ebenfalls ungewiss. Man wird freilich nicht unterstellen dürfen, dass diese Zukunftsaspekte der europäischen Integration, die aufgrund der jüngsten Entwicklung von Interesse sind, bereits in früheren Perioden als relevant angesehen wurden. Diejenigen Fragen, die bei der Erörterung der Europapolitik der Jahre 1982 bis 1990/91 – „von der ,Eurosklerose‘ zum Maastrichter Vertrag“ – meines Erachtens besondere Beachtung verdienen, seien einleitend in sieben thesenartigen Punkten angedeutet. 1
Hans-Peter SCHWARZ, „Die Ära Kohl“, in: FAZ, 18.10.2002.
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Führung und Führungspersönlichkeit(en) Als die Regierung Kohl 1982 ihr Amt antrat, war die Europäische Integration bereits dreißig Jahre alt, hatten sich feste Strukturen entwickelt, die – wie manche meinten – zu rigide waren. Diese Strukturen und die strukturellen Entwicklungsmöglichkeiten zu erforschen, ist sicher eine wichtige Aufgabe von Geschichts- und Politikwissenschaft. Ebenso wichtig ist jedoch die Berücksichtigung des Persönlichkeitsfaktors. Die Existenz von Führungspersönlichkeiten ist ein Schlüssel für das Verständnis der europäischen Integration, generell und speziell in den achtziger Jahren. Damit unterstelle ich natürlich nicht, dass das, was europapolitisch in der zu analysierenden Epoche erreicht wurde, das ausschließliche und unbedingte Werk der europäischen Führungspersönlichkeiten oder gar der herausragenden Führungspersönlichkeit Helmut Kohls war. Jedoch ist wohl unbestritten, dass Bundeskanzler Helmut Kohl ein großer Impulsgeber der europäischen Integration war zusammen mit Präsident Mitterrand und Jacques Delors. Entstand auf diese Weise so etwas wie eine informelle „gemeinsame Führung“? Und wenn ja, wie sah in konkreten Fällen der Anteil Helmut Kohls aus und wie ist seine Rolle zu erklären? Ein wichtiger erklärender Faktor war (neben dem Gewicht Deutschlands) Helmut Kohls feste europäische Grundeinstellung. Sein „politischer Kompass“ war gewissermaßen auf Europa „geeicht“. Wenn Reichskanzler Bismarck einst (in einer Marginalie von 1876, die kürzlich Eckart Conze zitiert hat2) notierte: „Wer von Europa spricht, hat Unrecht“, so könnte man Bundeskanzler Kohl geradezu als Gegentypus zum Reichskanzler begreifen, obwohl beide Kanzler der deutschen Einheit waren. Man könnte – wenngleich spätere Historiker in den Archiven wohl kaum entsprechende Belege finden werden – dem Bundeskanzler das Diktum zuschreiben: „Wer von Europa spricht, hat recht.“ Oder wohl besser: „Wer für Europa richtig handelt, hat Recht.“ Richtungskontinuität Die Orientierung der deutschen Politik an Europa, die für Helmut Kohl so charakteristisch war und ist, markierte freilich keine Abkehr von der Politik seiner Vorgänger im Bundeskanzleramt. Im Gegenteil: Die europapolitische Kontinuitätslinie, die bekanntlich bis zu Konrad Adenauer zurückreicht, verbindet auch die Politik der Regierung Kohl/Genscher mit derjenigen der Regierung Schmidt/Genscher, und zwar nicht nur aufgrund der personalen Kontinuität bei der Führung des Auswärtigen Amtes. Die beiden folgenden Referate befassen sich u. a. mit der Genscher-Colombo-Initiative von 1981 und der
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Eckart CONZE, „Wiener Ordnung. Das Europa Metternichs“, in: FAZ, 20.11.2002.
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parallelen Intensivierung der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Hier tritt die Kontinuität in den Monaten vor und nach dem Regierungswechsel augenfällig zu Tage. Nahtlose Richtungskontinuität! Aber auch eine gewisse Neuerung in der Europapolitik ist zu vermerken: Während Bundeskanzler Schmidt – wie er einmal sagte – sich auf die deutsch-französischen Beziehungen konzentrierte und Genscher die multilaterale EG-Politik als „Spielwiese“ überließ, machte Bundeskanzler Kohl, wie Eckart Gaddum gezeigt hat,3 die Europapolitik insgesamt (als Ganzes) zur Chefsache – in einem „Interessengleichklang zwischen Kanzler und Außenminister“. Das hat freilich taktische Meinungsverschiedenheiten keineswegs ausgeschlossen; die folgenden Referate belegen sie. Führung und objektive Bedingungen Selbstverständlich handelten Kohl und Genscher unter objektiven, vorgegebenen Optionen und Begrenzungen. In dem Referat von Andreas Wirsching werden die „strukturellen Zwänge“, die „funktionalen Zwänge“ (oder wie immer man auch das nennen mag) stärker betont; im Referat von Ulrich Lappenküper mehr die politischen Akteure. Beide Sichtweisen sollten meines Erachtens als komplementär verstanden werden. Kontinuität im Wandel durch aktive Anpassung Wie ist die erwähnte Kontinuität der deutschen Europapolitik trotz des offenkundigen Wandels, generell und speziell diejenige der Regierung Kohl zu erklären? Wie ist Kontinuität im Wandel begrifflich zu fassen? „Aktive Anpassung“ scheint mir der geeignete Begriff zu sein. Der Wandel wird mitgestaltet. Und diese aktive Anpassung verbindet dann Wandel mit Kontinuität, wenn die aktive Anpassung gemäß der bisherigen Grundrichtung erfolgt. Neue Fundamentalentscheidungen werden meistens durch „kleine Schritte“ (eine Politik, zu der sich Helmut Kohl wiederholt bekannte) vorbereitet. Sie (die Fundamentalentscheidungen) müssen dann freilich getroffen werden, wobei die Wahl des richtigen Zeitpunkts von großer Bedeutung ist (was im Falle einer Beschleunigung des Wandlungsprozesses besonders schwierig ist). Die Implementierung der Fundamentalentscheidung erfolgt wieder schrittweise.4 Sowohl die aktive Anpassung als auch die Entscheidungsfindung sind meistens von Kompromissen begleitet – innenpolitisch in den Verhandlungen mit Koalitionspartnern, europapolitisch durch kompromisshaftes Aushandeln mit den EG-Partnern. Bundeskanzler Kohl hat sorgsam-klug auch die kleinen Partner 3 4
Eckart GADDUM, Die deutsche Europapolitik in den 80er Jahren, Paderborn u. a. 1994. Vgl. Amitai ETZIONI, The Active Society, London und New York 1968, S. 282ff.
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und deren Interessen berücksichtigt und einbezogen in einem meisterlichen Aushandeln. Aber der Hauptverhandlungspartner war zweifelsohne Frankreich. Dass diese deutsch-französische Zusammenarbeit auch bei der Europapolitik nicht problemlos, häufig sogar konfliktreich war, zeigen die folgenden Referate, vor allem das von Hanns Jürgen Küsters. Die Relation zwischen Europa- und USA-Politik Bundeskanzler Kohl hat immer wieder (z. B. in seinem Gespräch mit dem stellvertretenden US-Außenminister Eagleburger am 30. Januar 19905) folgende Maxime betont: „Gerade angesichts der europäischen Integration, für die wir uns leidenschaftlich einsetzen, gebe es für uns nie das Entweder-oder, sondern nur das Sowohl-als-auch.“ Indes, ein „Spagat“ ist bekanntlich eine unbequeme Stellung und schwierig zudem. Hieß die Maxime nicht doch in Konfliktfällen (wie z. B. bei der strategischen Verteidigungsinitiative, SDI) „in dubio pro America“? Unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts war der an der Systemgrenze gelegene, höchst gefährdete Staat Bundesrepublik Deutschland vom Schutz der USA völlig abhängig, so dass im Zweifel die pro-amerikanische Maxime zwingend war. Gleichwohl hat Bundeskanzler Kohl eine energische Europapolitik betrieben. Überspitzt könnte man sagen: Erst durch die von der Regierung Kohl erreichte Wiederherstellung des Vertrauensverhältnisses zu den USA, durch die Verwirklichung des Nachrüstungsbeschlusses im Jahr 1982/83, war überhaupt eine erfolgreiche Europapolitik möglich. Freilich scheute sich Bundeskanzler Kohl nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und unmittelbar nach der Maastrichter Konferenz nicht, gegen amerikanischen Einspruch europapolitisch zu handeln, so z. B. bei der Vereinbarung mit Präsident Mitterrand in La Rochelle (1991), die militärische Zusammenarbeit mit Frankreich in Angriff zu nehmen (deutsch-französische Brigade als Kern des späteren Eurokorps). Auch Adenauer hatte ja den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag 1963 mit de Gaulle gegen den vehementen Widerstand der US-Regierung und der „Atlantiker“ abgeschlossen. Seinerzeit hatten die „Atlantiker“ in der CDU mit dem parteipolitischen Gegner, der SPD-Opposition, zusammengespielt, um den Elysée-Vertrag zu verwässern. Adenauers Schicksal blieb Bundeskanzler Kohl erspart.
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Protokoll des Gesprächs abgedruckt in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (Dokumente zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs), bearb. von Hanns Jürgen KÜSTERS und Daniel HOFMANN, München 1998, Dok. 153, S. 739–743, hier S. 741.
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„Integratives Gleichgewicht“ statt Hegemonie und Gleichgewicht Bundeskanzler Kohl hat nachdrücklich die europäische Integration als Abkehr und Überwindung von Gleichgewichts- und Hegemoniepolitik bezeichnet. Generell ist in Deutschland eine pejorative Konnotation von „Gleichgewicht“ vorhanden; sie wurde und wird offenbar von Helmut Kohl geteilt. Aber ist nicht auch in der europäischen Integration die Gleichgewichtsproblematik weiterhin existent? Gleichgewicht zur Verhinderung der Hegemonie eines europäischen Staates, vor allem Deutschlands! Die Verhandlungen und der Vertrag von Nizza sind ein vortreffliches Anschauungsbeispiel dafür. „Integratives Gleichgewicht“ wäre m.E. eine zutreffende Bezeichnung der Innovation, die „Europäische Integration“ genannt wird; gleichgewichtige Integration oder integratives Gleichgewicht!6 Die Europäische Währungsunion ist geradezu das Paradebeispiel für eine derartige Politik, nämlich einer Politik zur Verhinderung einer währungspolitischen Hegemonie Deutschlands. Im deutschen Interesse lag dies insofern, als damit eine europäische Gegenmachtbildung gegen Deutschland verhindert, ihr vorgebeugt wurde. War das nicht auch eine der Motivationen Helmut Kohls? Wie anders wäre denn sonst die (leicht missverständliche) Bemerkung des Bundeskanzlers zu US-Außenminister Baker am 12. Dezember 1989 zu verstehen, er habe den Entschluss zur Währungsunion „gegen deutsche Interessen getroffen“; beispielsweise sei der Präsident der Bundesbank gegen die von ihm eingeleitete Entwicklung. „Aber der Schritt sei politisch wichtig, denn Deutschland brauche Freunde“.7 Nur am Rande sei erwähnt, dass durch die Europäische Währungsunion auch und nicht zuletzt eine Balance gegenüber dem Dollar, also ein währungspolitisches kooperatives Gleichgewicht, geschaffen werden sollte. Auch deutscherseits wurde das schon 1988 ausdrücklich formuliert, nämlich im Memorandum Außenminister Genschers vom 26. Februar.8 Das Problem der „Irreversibilität“ Unumkehrbarkeit, Irreversibilität, war ein Schlüsselbegriff der Europapolitik Helmut Kohls, auf den auch Andreas Wirsching in seinem Referat eingeht. Immer wieder, insbesondere im Zusammenhang mit Maastricht und der EWU, hat der Kanzler hervorgehoben, es gehe darum, die Europäische Einigung „unumkehrbar“, „irreversibel“ zu machen. Ist die europäische Einigung in der Ära 6 7 8
Siehe u. a. Werner LINK, Die Entwicklungstendenzen der Europäischen Integration (EG/ EU) und die neo-realistische Theorie, in: Zeitschrift für Politik, 48 (2001), S. 302–321. Protokoll des Gesprächs in: Deutsche Einheit (wie Anm. 5), S. 636–641, hier S. 638. Memorandum für die Schaffung eines europäischen Währungsraumes und einer Europäischen Zentralbank vom 26.2.1988, in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 15, März 1988.
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Kohl unumkehrbar gemacht worden? Gibt es überhaupt so etwas wie Unumkehrbarkeit in der Geschichte? Hat nicht der Zusammenbruch des Warschauer Paktes und der Sowjetunion – wie schon vorher der Zusammenbruch der großen Reiche – gezeigt, dass das, was zusammengefügt wurde, auch wieder zerfallen kann? Wird die erweiterte EU die großen, vielfältigen Heterogenitäten (die bei einem Beitritt der Türkei ins Extrem gesteigert würden) aushalten oder zumindest in verträglicher Weise mildern können? Wie wird sich die nach dem 11. September 2001 neu entstehende Weltordnung auf Europa auswirken? Fragen über Fragen! So geradlinig die Europapolitik in der Ära Kohl war, ob auch die weitere Entwicklung der EU und der europäischen Integration „irreversibel“ sein wird, wird erst in späterer Zukunft von der Geschichte beantwortet werden.
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Stationen auf dem Weg nach Maastricht Andreas Wirsching Wohl nur bekennende Euroskeptiker dürften heute bestreiten, dass die 1980er Jahre einen entscheidenden Fortschritt im Prozess der europäischen Integration hervorgebracht haben. Wer diesem Prozess aufgeschlossen gegenüber steht, könnte sogar von einer Sternstunde Europas sprechen. Der Aufbruch in den Binnenmarkt und dann in die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion lässt sich in seiner Dimension durchaus vergleichen mit anderen „Sternstunden“ der europäischen Integration, etwa dem Jahre 1950 und der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl oder dem Jahre 1957 mit den Römischen Verträgen. Wenn man solche „Sternstunden“ oder, neutraler formuliert, Höhepunkte in den langfristigen Zyklen der europäischen Politik zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse macht, stellt sich natürlich sehr bald die Frage nach den spezifischen, in einer bestimmten Periode zugrunde liegenden Antriebskräften. Zu einfach wäre es, würde man bloß vom intentionalen Handeln der Politiker sprechen, von den „großen Europäern“, die dem noch unklaren Verlauf der Geschichte im richtigen Augenblick die richtige Richtung verliehen haben. Zwar ist keineswegs zu bestreiten, dass es solche großen Europäer gab und gibt; ihre Namen sind geläufig. Aber sie selbst wären wohl die letzten, die leugnen würden, dass es überpersönliche Strukturen und funktionale Zusammenhänge sind, die den Erfolg eines politischen Willens überhaupt erst erlauben. In diesem Zusammenhang ist der Zeitraum von der Mitte der achtziger Jahre bis zum Vertrag von Maastricht ein hochinteressantes Studienobjekt. Die wichtige, vielleicht historische Partnerschaft zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand fiel in diese Phase und ebnete in entscheidender Weise den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion. Wie unten noch näher zu zeigen sein wird, waren sich Kohl und Mitterrand der historischen Dimensionen dieser Partnerschaft in vollem Umfang bewusst; gerade wenn es um die wichtigen Basisentscheidungen auf dem Weg nach Maastricht ging, wurde die historische Erinnerung als Grundlage und Legitimation des politischen Willens regelmäßig evoziert. Darüber hinaus aber gilt es nach den überpersönlichen Strukturzusammenhängen, ja den Zwangslagen zu fragen, die dafür sorgten, dass die vielen ökonomischen, finanziellen und politischen Probleme der Epoche gewissermaßen in einem europäischen guten Willen aufgingen. Wenn man davon ausgeht, dass die spektakuläre relance européenne der achtziger Jahre
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einem spezifischen Ineinandergreifen von strukturell begründeten Zwangslagen und intentionalem Regierungshandeln entsprang, so würde der hier interessierende Zeitraum nicht wenige Parallelen aufweisen mit einem anderen spektakulären Durchbruch zur europäischen Integration: dem Jahr 1950 und dem Schuman-Plan. Damals war aus der schwierigen Zwangslage der französischen Politik, die sich eingeklemmt wähnte zwischen angelsächsischer Deutschlandpolitik, bundesdeutschem Wiederaufbaustreben und eigener Wirtschaftsschwäche, der europäische Quantensprung des Supranationalismus geboren worden.1 Um welche Strukturzusammenhänge und Zwangslagen ging es dagegen in den 1980er Jahren? Wenn man verschiedene Faktoren zusammenfasst, könnte man sich vielleicht auf vier solcher Zwangslagen einigen: die sicherheitspolitische, die wirtschaftliche, die finanzpolitische und schließlich die vereinigungspolitische Zwangslage. In einem letzten Gedankengang soll dann noch die Frage diskutiert werden, inwieweit man von einem europäischen Mythos sprechen kann. 1. Die sicherheitspolitische Zwangslage Zu einem Zeitpunkt, als der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende der Militärblöcke noch überhaupt nicht abzusehen waren, wurde die Abhängigkeit Westeuropas von den Vereinigten Staaten einmal mehr klar erkennbar. Das Ende der Entspannungspolitik, die Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes, schließlich die erbitterte Diskussion um den NATO-Doppelbeschluss hatten dies mehr oder minder drastisch vor Augen gestellt. Der Beginn der 1980er Jahre stand im Zeichen amerikanischer Versuche, in militärischer wie in politischer Hinsicht neue Stärke zu gewinnen. Nicht nur der Sowjetunion damit Paroli zu bieten war das Ziel; vielmehr wollte die Reagan-Administration die USA in die Lage versetzen, unilateral und weltweit ihre Rolle als Führungsmacht zu spielen und gegebenenfalls durchzusetzen.2 Polarisierung zwischen Ost und West bei gleichzeitigen Anzeichen eines US-amerikanischen Unilateralismus – beides zusammen akzentuierte das
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Zu den komplexen Entstehungszusammenhängen des Schuman-Plans siehe Klaus SCHWABE (Hg.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51, Baden-Baden u. a. 1988. Vgl. die umfassende Darstellung von Ulrich LAPPENKÜPER, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, Bd. 1: 1949–1958, München 2001, hier S. 229–276. Vgl. die Beiträge in Helga HAFTENDORN u. Jakob SCHISSLER (Hg.), Rekonstruktion amerikanischer Stärke. Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik der USA während der Reagan-Administration, Berlin 1988. Besonders kritisch in dieser Hinsicht: Jeff MCMAHAN, Reagan and the World. Imperial Policy in the New Cold War, New York 1985, v. a. S. 75–86.
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westeuropäische Bewusstsein von einer Krise im transatlantischen Bündnis und einer potentiell gefährlichen Sicherheitslücke.3 Im Extremfall erschienen Westeuropa – und die Bundesrepublik im besonderen – nur noch als Vorposten oder gar als nukleares Aufmarschgebiet für amerikanische Weltmachtinteressen. Hartnäckig hielten sich jene Gerüchte und Meldungen, in denen Äußerungen des amerikanischen Präsidenten Reagan und seiner Berater kolportiert wurden, ein „begrenzter“ Atomkrieg mit „taktischen“ Nuklearwaffen sei im Prinzip führbar;4 entsprechend wuchsen sich die Zweifel im Hinblick auf den amerikanischen Verhandlungsernst bei den Rüstungskontrollverhandlungen in Genf. Zugleich konnten sich das Engagement gegen die Nachrüstung und das Ressentiment gegen die USA auch – wie in Washington stets mit besonderem Interesse vermerkt wurde – mit nationalen oder gar nationalistischen Tönen verbinden.5 Zwar erkannten die Staats- und Regierungschefs in Europa, dass – wie in der Vergangenheit auch – eine eigenständige Gewährleistung westeuropäischer Sicherheit aus strategischen und geopolitischen Gründen sowie aus Mangel an Ressourcen nicht möglich war. Dementsprechend eindeutig setzten sie sich nach dem Scheitern der Genfer Verhandlungen für den Nachrüstungsbeschluss ein; zugleich aber forderten sie eine engere Abstimmung und Verflechtung europäischer Sicherheitspolitik. Dies betraf im besonderen Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland. Im Zuge der 40. deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Oktober 1982 vereinbarten beide Seiten eine Vertiefung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit. Unter Bezugnahme auf den deutsch-französischen Vertrag von 1963 wurde ein gemeinsamer Ausschuss für Sicherheits- und Verteidigungsfragen begründet, der in der Folgezeit regelmäßig tagen sollte.6 Im Rückblick fällt es nicht schwer, von diesen Initiativen – im Zeichen des europäischen Sicherheitsdilemmas, aber noch inmitten der Zeiten der „Euro-
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Vgl. Dieter DETTKE, Westeuropas Sicherheitspolitik, in: Jahrbuch der Europäischen Integration [JBEI] 1983, Bonn 1984, S. 240–248. Anton-Andreas GUHA, „Der Dritte Weltkrieg findet in Europa statt“, in: Frankfurter Rundschau, 29.4.1981; Michael NAUMANN, „Aufstand der Angst“, in: Die Zeit, 23.4.1982; „USA: Atomkrieg doch führbar?“, in: Der Spiegel, Nr. 35 (1982), S. 104f. Vgl. Kronzeugen gegen die „Nach“-Rüstung. Eine Dokumentation von Franz H. WALDMANN, Stuttgart 1983. Vgl. Kim R. HOLMES, The West German Peace Movement and the National Question, Cambridge/Mass. 1984, hier S. 10ff. Vgl. Valérie GUÉRIN-SENDELBACH, Ein Tandem für Europa? Die deutsch-französische Zusammenarbeit der achtziger Jahre, Bonn 1993, S. 90f. Grundlegend für die deutschfranzösische Sicherheitspolitik in dieser Phase: Karl KAISER u. Pierre LELLOUCHE (Hg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik: auf dem Wege zur Gemeinsamkeit?, 2. Aufl., Bonn 1988; Lothar RÜHL, Der Aufschwung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit seit 1982, in: EBD. S. 27–47; ferner Georges-Henri SOUTOU, L’alliance incertaine. Les rapports politico-stratégiques franco-allemands 1954–1996, Paris 1996, S. 371ff.
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sklerose“ – eine doppelte Entwicklungslinie zu ziehen: zum einen eine Entwicklungslinie, die über die Einheitliche Europäische Akte (EEA) zur Revitalisierung der Westeuropäischen Union (WEU)7 und zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik des Vertrags von Maastricht verläuft; zum anderen freilich eine Entwicklungslinie, die gerade diesem Teilbereich der Europäischen Integration weitgehende Erfolglosigkeit attestiert. Ein unmittelbar vorzeigbares Ergebnis ging aus der deutsch-französischen Sicherheitsinitiative vom Oktober 1982 nicht hervor.8 Scheiterte – und scheitert? – die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht immer wieder – so lässt sich fragen – an den weiterhin tiefgreifenden Differenzen unter den Mitgliedsländern, an der fortbestehenden strategischen Schwäche Europas und an der daraus resultierenden Abhängigkeit von den USA? Tatsächlich zeigte ja die Geschichte des NATO-Doppelbeschlusses, dass der Wunsch nach Stärkung der europäischen Zusammenarbeit die US-amerikanische Prärogative im Hinblick auf die sicherheitspolitischen essentials keineswegs außer Kraft setzte. Kohl und Mitterrand gehörten zu den nachhaltigsten Befürwortern der Nachrüstung. Beschränkten sich die europäischen Aktivitäten daher nicht – so muss weiter gefragt werden – im wesentlichen auf Proklamationen und symbolische Gesten:9 so etwa bei der Einrichtung der deutsch-französischen Brigade in den 1980er Jahren? Oder bei der Einforderung einer eigenständigen „außenpolitischen Identität Europas“ – wie sie die EEA von 1986 proklamierte? Zwar wird man – nicht zuletzt im Lichte der Erfahrungen während der neunziger Jahre, aber auch im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen – alle diese Fragen skeptisch beantworten müssen. Trotzdem dürfte das sicherheitspolitische Dilemma, in dem sich Westeuropa zu Beginn der 1980er Jahre befand, die Europäer darin bestärkt haben, die Fortentwicklung der Integration als schlichte Notwendigkeit zu sehen. Und insofern dürfte es zumindest indirekt auch einen wichtigen Beitrag zur relance européenne geleistet haben, auch wenn sich dies nicht in einer unmittelbar kohärenten europäischen Sicherheitspolitik materialisierte. 2. Die wirtschaftliche Zwangslage Das gilt um so mehr, wenn man die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rückwirkungen berücksichtigt, die sich aus dem sicherheitspolitischen Dilemma der Europäischen Gemeinschaft (EG) während der achtziger Jahre ergaben. 7 8 9
Ausführlich Eberhard BIRK, Der Funktionswandel der Westeuropäischen Union (WEU) im europäischen Integrationsprozeß, Würzburg 1999, S. 113–122. Vgl. die entsprechend kritische Sicht bei Gilbert ZIEBURA, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, 2. Aufl., Stuttgart 1997, S. 340ff. So spricht ZIEBURA für die 1980er Jahre denn auch von „symbolischer Politik“, EBD. S. 328ff.
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Denn sicherheitspolitische Probleme implizieren stets auch rüstungswirtschaftliche und damit technologische Fragen. Und damit ist die zweite, die wirtschaftliche Zwangslage benannt, die dem Weg nach Maastricht Vorschub leistete. Denn als Präsident Reagan am 23. März 1983 eine Strategische Verteidigungsinitiative – das SDI-Projekt – ankündigte, ließ sich das zwar in Teilen der Öffentlichkeit durchaus publikumswirksam als „Krieg der Sterne“ persiflieren; das konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Projekt – so vage es auch sein mochte – einen neuralgischen Punkt im Selbstverständnis der Europäer traf. Tatsächlich bekräftigte SDI schlagartig eine Einsicht, die den Europäern immer schmerzhafter bewusst wurde: dass sie nämlich im Bereich der modernen Hochtechnologien – und hier vor allem im Informations- und Kommunikationswesen – gegenüber den USA und Japan zunehmend in Rückstand gerieten.10 Hieraus – nicht aus seiner verteidigungspolitischen Bedeutung – erklärt sich die langandauernde Präsenz, die SDI auf der Tagesordnung der europäischen Politik eroberte. Vor allem aber provozierte es eine europäische Reaktion: das von Frankreich angestoßene Forschungsprogramm EUREKA. Konzentriert auf die Bereiche Informationstechnologie, Telekommunikation, Laserund Biotechnik, gab es bis 1988 214 geförderte EUREKA-Projekte mit einem Gesamtvolumen von rund vier Mrd. ECU. Dies verschaffte der EG nicht nur Wettbewerbsmöglichkeiten auf dem Weltmarkt; sondern, was langfristig wichtiger war: Das Programm fungierte als ein Schrittmacher des Binnenmarktes. „EUREKA“, so resümierte ein hoher Beamter im Auswärtigen Amt 1986, „gibt einen Impuls in Richtung Abbau von Handelshindernissen im Bereich hochtechnologischer Güter und Dienstleistungen, um einen großen europäischen Binnenmarkt zustande zu bringen und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Industrien auf dem Gebiet fortgeschrittener Technologien zu stärken.“11 Das Thema „Hochtechnologien“ steht stellvertretend für mehrere Problemzonen, die zusammengenommen die wirtschaftliche Zwangslage der Europäischen Gemeinschaft Anfang/Mitte der 1980er Jahre beschreiben. Der Konjunktureinbruch des Jahres 1975 und die Weltwirtschaftskrise von 1979 bis 1982 hatten tiefe Spuren in den europäischen Ökonomien hinterlassen. 1982 standen die Zeichen EG-weit, wenn nicht auf Sturm, so doch auf „Stagflation“: Hohen Inflationsraten von durchschnittlich 9,8 % standen Nullwachstum, negative Leistungsbilanzen, steigende Haushaltsdefizite sowie ein signifikanter Anstieg der Arbeitslosenquoten – auf 10,6 % im Jahre 198312 – gegenüber.
10 Z. B. Bernd MEIER, Moderne Schlüsseltechnologien. Kriterien und Entwicklungspotentiale, Köln 1986, S. 30. 11 Klaus W. GREWLICH, Forschungs- und Technologiepolitik, in: JBEI 1986/87, Bonn 1987, S. 207–214, hier S. 213. Die genannte Zahl nach: DERS., Forschungs- und Technologiepolitik, in: JBEI 1988/89, Bonn 1989, S. 182–191, hier S. 187.
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Zu den entscheidenden historischen Voraussetzungen des Maastricht-Prozesses gehört es nun, dass alle westeuropäischen Regierungen dieser ökonomischen Zwangslage mit mehr oder minder den gleichen Rezepten begegneten und dabei einem weitgehenden wirtschaftspolitischen Konsens folgten. Tatsächlich läutete der Krisenzyklus seit 1975 in ganz Europa das definitive Ende des Keynesianismus und – wenn man so will – des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ ein. An der Spitze und am kompromisslosesten Großbritannien, wandten sich die Europäer monetaristischen, angebotsorientierten und marktwirtschaftlichen Konzepten zu, um die desolate wirtschaftliche Situation zu überwinden. Aus einer Konvergenz der Interessen – die Krise zu bekämpfen – wurde so die Konvergenz der Politik. Im binnenökonomischen Bereich strebte diese Politik nach Haushalts- und Währungsstabilität, und durch Deregulierung suchte sie die Marktkräfte zu mobilisieren. Im internationalen Rahmen bekämpfte sie protektionistische Tendenzen und forderte den Abbau von Handelshemmnissen. Bis Mitte der 1980er Jahre hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass diese Linie den Interessen der beteiligten Länder am besten entsprach und sie am nachhaltigsten für die fortschreitende Internationalisierung der Wirtschaft, der anhebenden „Globalisierung“ zu rüsten versprach. Für exportorientierte Ökonomien wie die deutsche oder die britische galt dies ohnehin. Entscheidend aber wurde, dass sich seit 1983 auch Frankreich unter seiner sozialistischen Regierung dem vorherrschenden Kurs anschloss. Nach dem Scheitern der sozialistischen Experimente in den Anfangsjahren seiner Präsidentschaft optierte Präsident Mitterrand dauerhaft für das Modell der marktwirtschaftlich orientierten Stabilitätspolitik.13 Ein solcher Geist wirtschaftspolitischer Gemeinsamkeit lag an der Basis der EEA und ihres Zieles, bis 1992 den Binnenmarkt – das heißt den freien Verkehr von Personen und Waren, Dienstleistungen und Kapital – zu verwirklichen. 3. Die finanzpolitische Zwangslage Aus dem gemeinsam verfolgten Ansatz zur Lösung der wirtschaftlichen Zwangslage ergab sich jedoch fast notwendig eine neue, nämlich die finanzpolitische Zwangslage. Diese Zwangslage hatte sich schon im 1978 eingeführten Europäischen Währungssystem abgezeichnet. Sie bestand darin, dass die D-Mark als Währung der mit deutlichem Abstand stärksten europäischen Volkswirtschaft in einem zunehmend liberalisierten Europa auch zur wichtigsten, ja zur Leit- oder „Ankerwährung“ werden musste. Sofern die EG-Mitgliedsstaaten das favorisierte marktwirtschaftliche Konzept zur Krisenbe12 JBEI 1983, S. 114. 13 G. ZIEBURA (wie Anm. 8), S. 315f.
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kämpfung und zur Schaffung von Wirtschaftswachstum verfolgen wollten, mussten sie sich währungspolitisch zwangsläufig an der dominanten D-Mark orientieren. Es ist gut bekannt, welche Irritationen dies in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nach sich zog. Dies galt um so mehr im Hinblick auf die Entwicklung der Leistungsbilanz. Tatsächlich öffnete sich hier die Schere zwischen der Bundesrepublik auf der einen und ihren europäischen Partnern auf der anderen Seite immer weiter. Die Bundesrepublik wurde in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mehrfacher „Exportweltmeister“; ihr gegenüber verzeichneten alle EG-Mitgliedsstaaten ein mehr oder minder hohes Handelsdefizit. Gerade gegenüber der EG stieg der Ausfuhrüberschuss während der achtziger Jahren besonders dynamisch an. Wie die folgende Tabelle zeigt, verfünffachte er sich zwischen 1983 und 1989 von ca. 18 auf über 94 Milliarden DM. Ausfuhrüberschuss der Bundesrepublik gegenüber den EG-Ländern 1983– 1989 (in Mrd. DM) 1983
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1985
1986
1987
1988
1989
18.334
26.370
31.600
51.433
62.305
80.833
94.181
Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1990, S. 275.
Ganz offensichtlich war die Bundesrepublik unter allen europäischen Staaten am besten aus der Wirtschaftskrise 1979–1982 herausgekommen. Und beides, die übermächtige deutsche Leistungsbilanz und die daraus resultierende Stärke der D-Mark, verliehen der Bundesbank eine Stellung, die faktisch der einer europäischen Zentralbank bereits nahekam. Insofern offenbarte der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik auf internationaler Ebene eine „gewaltige Kehrseite“: nämlich, wie Helmut Kohl im Oktober 1989 formulierte, „erhebliche, ganz erhebliche psychologische Verwerfungen.“14 Die Bundesrepublik, ihre zunehmend rascher an Fahrt gewinnende Wirtschaft und die Macht ihrer Zentralbank erschienen aus der Sicht der europäischen Partner geradezu bedrohlich. Für alle Beteiligten ergab sich aus dieser Situation eine schwere finanzpolitische Zwangslage: Das überragende Interesse der Bundesrepublik bestand darin, den währungspolitischen Status quo, zugleich aber auch das Wohlwollen und das Vertrauen der europäischen Partner zu bewahren; denn dies war die Voraussetzung für die weitere Liberalisierung des gemeinsamen Marktes, an der die exportorientierte Bundesrepublik ebenfalls ein vitales Interesse hatte. 14 Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin [ACDP], Bestand 08-001091/1, Fraktionssitzung vom 24.10.1989, S. 27.
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Das Interesse der Partner zielte dagegen darauf, die dominante währungspolitische Position der Bundesbank wenn nicht zu brechen, so doch zumindest zu europäisieren. Es war letztlich der Delors-Bericht vom April 1989, der den sich schon schließenden gordischen Knoten durchschlug: Seine Formel – gemeinsame Währung, dies aber zu den Konditionen der deutschen Währungsphilosophie – wurde zur Grundlage des Vertrages von Maastricht. Zugleich wies der Delors-Bericht auch in einem anderen Grundsatzkonflikt den Weg: in der Auseinandersetzung nämlich zwischen sogenannten „Monetaristen“ und „Ökonomisten“, die bereits auf die Diskussionen um den WernerPlan zurückging. In Frankreich dominierten seit Mitte der achtziger Jahre die Monetaristen, die auf eine politisch-institutionelle europäische Währungs- und Zentralbanklösung setzten, um institutionellen Druck auf die Mitgliedsländer auszuüben. In der Bundesrepublik dominierten dagegen die „Ökonomisten“, die zunächst das allmähliche Zusammenwachsen der europäischen Volkswirtschaften einforderten und eine gemeinsame Währung allenfalls als „Krönung“ eines längerfristigen Konvergenzprozesses betrachteten. Gestützt auf den tatsächlichen Konvergenzprozess seit Anfang der 1980er Jahre, schmiedete der Delors-Bericht ein Junktim: Der Prozess der sich fortbildenden Wirtschaftsunion und der zu errichtenden Währungsunion sollte sich parallel und zugleich unwiderruflich vollziehen. Konkret hieß das: Als Voraussetzung für eine gemeinsame Währung forderte der Delors-Bericht „bindende Regeln“ zur Koordinierung und Konvergenz der makroökonomischen Politiken und des Haushaltsgebarens der Mitgliedsstaaten. Als Ziele dieser Regeln nannte der Bericht „Preisstabilität, ein ausgewogenes Wachstum, konvergierende Lebensstandards, einen hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht“.15 Dies entsprach im Kern den deutschen Vorstellungen; und tatsächlich war es in der Delors-Kommission gelungen, so resümierte intern deren deutsches Mitglied, Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl, „unsere Vorstellungen weitgehend durchzusetzen – erstaunlicherweise“, wie er hinzufügte.16 Der Beschluss des Europäischen Rates in Madrid, am 26./27. Juni 1989, die im Delors-Bericht benannte erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion zum 1. Juli 1990 in Kraft zu setzen, verlieh dem europäischen Einigungsprozess eine neue Qualität. Trotzdem müssen die fortbestehenden Divergenzen betont werden.17 Denn wenn es um die Frage ging, wann die entscheidende zweite und dritte Stufe erreicht werden sollte, offenbarten sich die grundle-
15 Delors-Bericht, in: Europa-Archiv [EA] 44 (1989), D 283–304, hier: D 287. Siehe Peter BOFINGER (Hg.), Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion in Europa. Analysen und Dokumente, Wiesbaden 1990, S. 109–146, hier S. 119. 16 ACDP 08-001-1091/1, Fraktionssitzung vom 24.10.1989, S. 21. 17 Werner WEIDENFELD mit Peter M. WAGNER u. Elke BRUCK, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998, S. 140f.
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genden Interessenunterschiede der europäischen Partner. Und es mangelte gerade in der Bundesrepublik nicht an Stimmen, die vor allem die Probleme des Übergangs betonten und dazu tendierten, den Abschluss der Wirtschafts- und Währungsunion im Namen der Stabilität in die vage Zukunft hinein zu datieren. 4. Die vereinigungspolitische Zwangslage Damit tritt die vierte, nämlich die vereinigungspolitische Zwangslage ins Blickfeld. Sie verweist auf eine sensible Diskussion, die auch kontrovers geführt worden ist: War der Euro bereits vor dem 9. November 1989 auf sicherem Wege? Oder handelte es sich um ein Kompensationsgeschäft, mit dem die Zustimmung der europäischen Partner zur Wiedervereinigung gleichsam „erkauft“ wurde? Die Wahrheit dürfte in einer nicht genau definierbaren Mitte liegen: Der Blick auf den Sommer 1989 lehrt zwar, dass alle Einzelteile des europäischen Puzzles spätestens seit dem Delors-Plan auf dem Verhandlungstisch lagen. Aber wie genau sie zusammenpassten und vor allem wann das Gesamtbild fertig werden würde, blieb zunächst offen. Und es dürfte wohl unleugbar sein, dass der deutsche Vereinigungsprozess den Prozess der europäischen Integration massiv beeinflusste und auf die Entstehung der Wirtschafts- und Währungsunion katalytisch wirkte. Die „psychologischen Verwerfungen“, vor denen Helmut Kohl schon im Oktober 1989 gewarnt hatte, konnten sich angesichts einer nahenden Wiedervereinigung nur verstärken. Über die Frage des konkreten Fahrplans zur Währungsunion gab es im November/Dezember 1989 auch zwischen Bonn und Paris erhebliche Verstimmungen.18 Die europäischen Partner trieb die Sorge vor einem deutschen Alleingang um, und um so nachdrücklicher erhob sich die Forderung, den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion durch konkrete Schritte zu sichern und zu beschleunigen. Im Februar 1990 resümierte Jacques Delors in einem vertraulichen Gespräch mit Beamten des Kanzleramtes die kritischen Stimmen: „Angesichts der großen Energie“, so sagte er, „mit der sich die Deutschen derzeit auf die Frage der Wiedervereinigung konzentrierten, verblaßten in den Augen der Kritiker die europäischen Willensbekundungen der Bundesregierung, solange ihnen nicht konkrete Schritte folgten.“19 Umgekehrt freilich bildete die Zustimmung zur Währungsunion für die Bundesregierung ein herausragendes „bargaining chip“ – einsetzbar zur rechten Zeit, um den Vereinigungsprozess außenpolitisch zusätzlich absichern zu kön18 Jacques ATTALI, Verbatim. Bd. 3: Chronique des années 1988–1991, Paris 1995, S. 349ff. 19 Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (Dokumente zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs), bearb. von Hanns Jürgen KÜSTERS und Daniel HOFMANN, München 1998, Dok. 188: Gespräch des Ministerialdirigenten Hartmann und des Ministerialrats Ludewig mit Präsident Delors, Paris 16.2.1990, S. 853.
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nen. Insofern wiederholte sich auf einer anderen Ebene die Situation der fünfziger Jahre: Die Sorge der westlichen Nachbarn vor einem politischen Abdriften der Deutschen mit ihrem überlegenen Wirtschaftspotential gebar die europäische Lösung. Zugleich waren Bundeskanzler Helmut Kohl, Außenminister Hans-Dietrich Genscher und mit ihnen die Mehrheit der Deutschen unumstößlich davon überzeugt, dass gerade ein wiedervereinigtes Deutschland der um so festeren Integration in das westliche Bündnis und in die Europäische Gemeinschaft bedurfte. Die Zwangslage, die sich für alle Beteiligten aus dem Zusammenbruch der DDR und der unvorhergesehenen Dynamik des Vereinigungsprozesses ergab, ließ sich auf diese Weise europäisch auflösen. 5. Europäischer Mythos? Vier Zwangslagen wirkten also seit Beginn der 1980er Jahre zusammen, um den Wegweiser in Richtung auf die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu stellen: die sicherheitspolitische, die wirtschaftliche, die finanzpolitische und schließlich die vereinigungspolitische. Aber auch zusammengenommen reichen sie wohl kaum aus, um die starke europapolitische Intention zu erklären, welche die Akteure auf ihrem Weg nach Maastricht an den Tag legten. Vielmehr musste noch ein wesentliches Element hinzukommen, nämlich ein wirkungsmächtiges historisches Deutungsmuster. Nun wurde und wird ja regelmäßig darüber geklagt, dass es keine europäische „Identität“ gebe, auf der die übernationale Europäische Union ausruhen könne. An dieser Stelle sei eine gegenteilige These vertreten, die lautet: Die Europäische Integration hat bereits längst ihren eigenen „Mythos“ hervorgebracht, einen Mythos, der kollektive Identität stiftet und aus dem die Union selbst wiederum ein hohes Maß an Legitimität zu schöpfen vermag. Im konkreten Fall – wie auf dem Weg nach Maastricht – weist er auch auf politische Ziele hin. Um Missverständnisse auszuschließen: Es geht hier keineswegs um einen negativ besetzten Mythos-Begriff, der jetzt ideologiekritisch auseinanderzunehmen, eben zu entmythologisieren wäre. Vielmehr lässt sich auch im Hinblick auf die Geschichte der europäischen Integration an neuere kulturgeschichtliche Erkenntnisse anknüpfen. So geht die neuere Forschung in Anknüpfung an ethnologische und kulturanthropologische Arbeiten von der logischen Eigenständigkeit mythischer Sinnsysteme aus und gesteht ihnen daher auch ein ernst zu nehmendes historisches Eigenrecht zu.20 Mythen manifestieren sich demzufolge häufig in ikonographischer und symbolischer Verdichtung. In dieser Hinsicht verzeichnet die Europäische Union zweifellos ein 20 Vgl. z. B. Claude LÉVI-STRAUSS, Mythos und Bedeutung, Frankfurt/M. 1980; Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 4. Aufl., München 2002, S. 75–78.
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Defizit, auch wenn abgewartet werden muss, ob nicht der Euro entsprechende Entwicklungspotentiale freisetzt. Wichtiger aber ist – und war in den 1980er Jahren – die andere Form der Mythos-Manifestation: die große Erzählung. Seit den Anfängen der europäischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich diese große Erzählung – ein master narrative gewissermaßen – als ebenso einfach wie vital erwiesen. Sie handelt von einem Europa, das sich aufgrund nationaler Zerrissenheit und nationalistischer Hybris in zwei Kriegen an den Rand der Selbstzerstörung brachte. Vor dem Hintergrund dieser bitteren historischen Erfahrung gab es nur einen Weg, Europa zu retten und ihm die Möglichkeit der Regeneration, des Wiederaufstiegs zu geben und die Freiheit seiner Bürger zu sichern: nämlich die Feindschaften zu überwinden, die Gräben aufzuschütten und sich zur Lösung der Probleme dauerhaft zusammenzuschließen. Unter der Ägide der großen Europäer – von Adenauer bis Schuman, von Monnet bis Spaak – gelang dies seit 1950 erfolgreich: Die Gemeinschaft bildete sich und sie bekannte sich „zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“; sie stärkte „die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen“ und förderte deren „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt“.21 So formulierte es zum Beispiel die Präambel des Vertrages von Maastricht. In ihrem Kern reichte diese Erzählung bereits weit zurück und ist teilweise schon vor 1933/39 antizipiert worden. Während der 1980er Jahre aber erfuhr sie einen neuen Aufschwung. Vor allem bei den bilateralen Treffen zwischen Kohl und Mitterrand wurde sie in geradezu ritueller Form erzählt. So sprach etwa Mitterrand, als er am 20. Januar 1983 seine aufsehenerregende Rede vor dem Bundestag hielt, ausführlich von der Erfahrung des Krieges, aus der Franzosen wie Deutsche gelernt hätten.22 Und für Helmut Kohl war es „ein großartiges Ergebnis von Politik, wenn Erfahrung aus der Geschichte in die Politik gegossen wird“.23 Der Rekurs auf den Krieg, das Lernen aus ihm und die Beschwörung der künftigen, konstruktiv-friedlichen Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen bildete für den Mythos der europäischen Einigung einen wichtigen Baustein. Freilich verhält es sich bei diesem europäischen Mythos wie bei jedem historischen Mythos. Man kann ihn nicht zum Nennwert nehmen. Aber er erfüllte und erfüllt zentral wichtige Funktionen, ohne die eine Weiterentwicklung der 21 Aus der Präambel des Vertrages von Maastricht, vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft C 191 vom 29.7.1992. 22 Verhandlungen des Deutschen Bundestages [BT], Sten. Ber., 9. WP, Bd. 123, S. 8978– 8984. Vgl. zur Entstehung dieser Rede Hélène MIARD-DELACROIX, Ungebrochene Kontinuität. François Mitterrand und die deutschen Kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl 1981–1984, in: VfZ 47 (1999), S. 539–558, hier S. 550ff. 23 Rede Helmut Kohls am 21. Januar 1983, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung [Bulletin PIB] 8 (1983), S. 75.
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europäischen Integration kaum denkbar war und ist. So besteht eine entscheidende Funktion des Mythos in der Reduktion von Komplexität. Denn wie kann der Bürger Europas und erst recht der politisch handelnde Akteur die unendlich komplexe, komplizierte und widerstreitende Realität der sechs, zehn, zwölf oder fünfzehn Mitglieder überhaupt ertragen? Wie kann er sie ertragen, wenn er nicht über griffige Formeln verfügt, die es ihm erlauben, diese Realität im Sinne des herrschenden Deutungsmusters zu vereinfachen? Und hätten die Akteure der 1980er Jahre ohne die komplexitätsreduzierende Kraft des Mythos den Mut aufbringen können, ein politisch, wirtschaftlich und technisch derart kompliziertes, riskantes und unwägbares Unternehmen wie die Wirtschaftsund Währungsunion in Angriff zu nehmen? Eine wichtige Voraussetzung hierfür entsprang freilich einem weiteren Merkmal des lebendigen Mythos der fortschreitenden europäischen Integration. Denn wenn die Akteure der 1980er Jahre über europapolitische Blaupausen sprachen, betonten sie immer wieder, die Entwicklung sei „unumkehrbar“ und alternativlos. Wenn man sich zum Beispiel den Delors-Bericht, aber auch die Verlautbarungen der europäischen Gipfeltreffen ansieht, so wird man rasch erkennen, wie stark dort das Wortfeld „irreversibel“, „unumkehrbar“, „unwiderruflich“ etc. vertreten ist. Reduktion von Komplexität und Irreversibilität bedingen im Mythos einander; beides bildet nämlich die Voraussetzung für seine Weitererzählbarkeit. Tatsächlich unterstreicht es die Lebendigkeit des Mythos von der europäischen Integration, dass er von jeder Generation aufs neue weitererzählt werden konnte. In dem Maße, wie er historische Orientierung setzt und ein mächtiges Deutungsmuster bereitstellt, werden Herkunft und Zukunft Europas transparent. Die strukturierte Erzählung der Vergangenheit erleichtert auch die Vorstellung oder gar Planung der Zukunft. Dabei lässt sich vermuten, dass der Ursprungsmythos der europäischen Integration Handlungsmodelle erzeugte, die auch künftige Wege zu gemeinsamem politischen Handeln ebneten. Im besonderen dürfte dies für die 1980er Jahre gelten. Nicht zufällig sah sich Helmut Kohl gerade auch europapolitisch dezidiert in der Tradition Konrad Adenauers. Und nicht zufällig wurde 1988 in Frankreich das „Europäische Jahr Jean Monnet“ ausgerufen und die Asche des großen Europäers in das Panthéon überführt.24 Schließlich weist die Art und Weise, wie aus den beschriebenen Zwangslagen der 1980er Jahre eine europäische Lösung wurde, nicht wenige Parallelen mit dem „Ursprungsmythos“ von 1950 auf. Der lebendige Mythos half, Zwangslagen zu überwinden und den politischen Willen der Akteure zu beflügeln. 24 Hans-Werner GRAF, Die französische Europapolitik und der europäische Binnenmarkt, in: Mitteilungen des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung Tübingen 18 (1990), S. 1–60, hier S. 21.
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Stationen auf dem Weg nach Maastricht
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Vieles spricht dafür, dass die Akteure der 1980er Jahre, die ja allesamt noch Zeugen des Weltkrieges waren, ein besonderes Bedürfnis entwickelten, ihre historische Erfahrung durch die Weitererzählung des Mythos dem europäischen „Gedächtnis“ unwiderruflich einzuschreiben. Für die Weitervermittlung historischer Erfahrung stellt der Ablauf einer Periode von ca. 40 Jahren eine besonders kritische Schwelle dar. Persönliche Erinnerung beginnt nach diesem Zeitraum zu verlöschen, konkurrierende, von historischer Erfahrung weniger abhängige Deutungsmuster entstehen. Um so mehr musste sich die Generation der damals Handelnden herausgefordert fühlen. „Die Verantwortung unserer Generation für Europa“, so formulierte es Hans-Dietrich Genscher 1988, „liegt in der Vollendung der Europäischen Union.“25 Und in ähnlicher Weise steckte Helmut Kohl bereits 1983 den künftigen Weg ab: „Wir brauchen ... den festen Willen, um uns von unserem Ziel einer Europäischen Union nicht abbringen zu lassen. ... Unser Auftrag ist und bleibt, mit aller Kraft daran mitzuwirken, daß Europa für unsere Kinder und Enkel ein Kontinent bleibt, in dem sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“26 Unter einer entsprechend weitgesteckten, kulturhistorisch angereicherten Perspektive lässt sich Maastricht also durchaus als europäisches Vermächtnis einer Generation begreifen. So verstanden wären die europäische Wirtschaftsunion und der Euro gewissermaßen zur Institution geronnene historische Erfahrung.27 Zwar bleibt abzuwarten, wieweit das in der Kriegserfahrung wurzelnde Deutungsmuster der „großen Erzählung“ künftig noch Wirkung entfaltet, aber auch wenn es, was manche befürchten, für die Nachkriegsgenerationen an Plausibilität und an Prägekraft verlieren sollte, so hat doch die aus der Geschichte legitimierte Schaffung der europäischen Institutionen den „Erfahrungsraum“ der Nachgeborenen grundlegend neu gestaltet. Maastricht hat daher auch den „Erwartungshorizont“ sowie die europäischen Zukunftserwartungen der Mitlebenden verändert.28 Neue Entscheidungen und Entwicklungen sind unwiderruflich auf die Ebene des bereits weit integrierten Europa gestellt worden.
25 Rede von Außenminister Genscher vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, 20.1.1988, in: EA 43 (1988), D 150. 26 Erklärung zum Europäischen Rat in Stuttgart, 22.6.1983, in: Helmut KOHL, Reden 1982– 1984, Bonn 1984, S. 220. 27 Zum Mechanismus solcher Institutionalisierungsprozesse vgl. Peter L. BERGER u. Thomas LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1977, hier S. 49ff. 28 Vgl. Reinhart KOSELLECK, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: DERS., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, S. 349–375.
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Die deutsche Europapolitik zwischen der „Genscher-Colombo-Initiative“ und der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1981–1986) Von Ulrich Lappenküper Zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts verwunderte es in der Europäischen Gemeinschaft wohl niemanden, als ein Zeitungs-Karikaturist das Wort „Europa“ buchstabengetreu so auflöste: E wie Euphorie, U wie Unmut, R wie Resignation, O wie Optimismus, P wie Pessimismus, A wie Apathie. Nimmt man die damals angestoßene europapolitische Entwicklung heute genauer in den Blick, wird deutlich, dass A auch für Aufbruch und Anfang stehen kann. In der Integrationshistoriographie, die sich dieser Epoche erst langsam nähert, betonen sozialwissenschaftliche Arbeiten die Zwänge von Institutionen, untersuchen unter Hinweis auf die Transformation moderner Staatlichkeit die Bedeutung kollektiver Akteure und blenden das Wirken individueller Handlungsträger weitgehend aus.1 Die folgende Analyse der bundesdeutschen Europapolitik von 1981 bis 1986 geht einem anderen Ansatz nach, denn der strukturelle Rahmen, in dem diese Politik sich vollzog, wurde nicht unwesentlich von der staatlichen Ebene, den nationalen Regierungen wie dem Europäischen Rat, bestimmt. Welche Motive und Ziele kennzeichneten sie? Welchen Anteil besaß die Bundesrepublik Deutschland an den errungenen Erfolgen, den erlittenen Fehlschlägen? Welche Rolle spielte Bundeskanzler Helmut Kohl im Einigungsprozess dieses Quinquenniums? „Europa braucht einen neuen politischen Impuls. Es braucht einen sichtbaren Schritt in Richtung auf die Europäische Union. Ich frage: Ist es nicht endlich Zeit für einen Vertrag über die Europäische Union?“ Mit diesen programmatischen Worten rief Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am 6. Januar 1981 dazu auf, der Europäischen Gemeinschaft einen neuen vertraglichen Rahmen zu geben, einen Rahmen, der den Brüsseler „Acquis communautaire“ mit den intergouvernementalen Institutionen zusammenfassen, die Gemeinschaftspolitiken ausbauen sowie die Vergemeinschaftung neuer Gebiete anbahnen sollte.2 Mag Genscher auch 1974 als überzeugter Europäer ins Auswärtige Amt gekommen sein und die Wende seiner diesbezüglich ehedem 1
Wolfgang WESSELS, Hans-Dietrich Genscher: Initiator des interregionalen Dialogs – Architekt einer Zivilmacht Europa, in: Hans-Dieter LUCAS (Hg.), Genscher, Deutschland und Europa, Baden-Baden 2002, S. 185–200, hier S. 185f. mit weiteren Literaturangaben.
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Ulrich Lappenküper
sehr skeptischen Partei dezidiert mitgetragen haben,3 so trat er doch bis 1981 nicht als europapolitischer Impulsgeber hervor. Was veranlasste ihn also auf dem Drei-Königs-Treffen der FDP in Stuttgart zu seinem eindringlichen Appell? Die Antwort lautet: die Lage der EG. Seit Mitte der 1970er Jahre befand sich die von sechs auf zehn Mitglieder anwachsende Gemeinschaft in einem deplorablen Zustand. Weder war ihr die seit Jahren angestrebte Realisierung einer Wirtschafts- und Währungsunion noch die Umwandlung der Beziehungen ihrer Mitglieder in eine Europäische Union gelungen. Nach der Regierungsübernahme der Tories in Großbritannien 1979 und der Aufnahme Griechenlands in die EG 1981 stellte sich in den Brüsseler Organen eine zunehmende Beschlussunfähigkeit ein. Zur Entscheidungsblockade nach innen gesellte sich Handlungsschwäche nach außen, und das, obwohl sich die globalen Konflikte von Afghanistan über Polen bis zu den Falklandinseln türmten.4 In einer Zeit, in der die europapolitische Diskussion in Bonn von den Schlagwörtern „Eurosklerose“ und „Zahlmeister“ beherrscht wurde,5 erhob Genscher die europäische Integration zur „raison d'être“ seiner Außenpolitik.6 Neben dem atlantischen Bündnis war eine sich immer enger zusammenschließende Europäische Gemeinschaft für ihn unverzichtbare Voraussetzung zur Bewahrung des Weltfriedens; sie gab die überzeugendste Antwort auf die nationalistischen Verirrungen des 20. Jahrhunderts und bildete das Modell für die anzustrebende Einigung Gesamteuropas. Da ihn schon seit Monaten die Sorge umtrieb, die EG könnte in dieser weltpolitisch brisanten Phase zu einer reinen „Zollgemeinschaft“ verkümmern,7 zielte er mit seinem Stuttgarter Vorstoß darauf ab, den Primat der Politik gegen die technokratisch-ökonomische 2
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Rede Genschers auf dem Drei-Königs-Treffen der FDP in Stuttgart, 6.1.1981, im Auszug in: DERS., Deutsche Außenpolitik. Ausgewählte Reden und Aufsätze 1974–1985, 2. Aufl., Stuttgart 1985, S. 306–314, hier S. 309; vgl. Niels HANSEN, Plädoyer für eine Europäische Union, in: Europa Archiv [EA] 36 (1981), S. 141–148. Hans-Dieter LUCAS, Politik der kleinen Schritte – Genscher und die deutsche Europapolitik 1974–1983, in: DERS., Genscher (wie Anm. 1), S. 85–113; zur Europapolitik der FDP in den 50er Jahren vgl. Peter JEUTTER, EWG – Kein Weg nach Europa. Die Haltung der Freien Demokratischen Partei zu den Römischen Verträgen, Bonn 1985. Vgl. Pierre GERBET, La construction de l'Europe, überarb. Aufl., Paris 1994, S. 299–401; Andrew MORAVCSIK, The Choice for Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, London 1999, S. 238–313. Rudolf HRBEK/Wolfgang WESSELS (Hg.), EG-Mitgliedschaft: ein vitales Interesse der Bundesrepublik Deutschland?, Bonn 1984; Helgar KÜHLCKE/Bernhard MAY, Zahlmeister oder Nutznießer? Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1986; DERS., Kosten und Nutzen der deutschen EG-Mitgliedschaft, 2. Aufl., Bonn 1985. H.-D. LUCAS, Politik der kleinen Schritte (wie Anm. 3), S. 111. Ansprache Genschers auf der Festveranstaltung zum 25. Jahrestag der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, 20.5.1980, in: DERS., Deutsche Außenpolitik (wie Anm. 2), S. 221–247, hier S. 246.
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Die deutsche Europapolitik (1981–1986)
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Verengung der europäischen Zusammenarbeit zu verteidigen, dem Einigungsgedanken eine Vision zu geben und – wohl auch – seiner Partei ein schärferes Profil zu verleihen.8 Die Reaktionen auf Genschers Versuchsballon fielen im In- und Ausland sehr verhalten aus. Es wurde gar der Vorwurf laut, die Bundesregierung wolle lediglich von ihrer fehlenden Bereitschaft ablenken, an der Behebung der EGFinanzkrise aktiv mitzuwirken. Richtig erwärmen konnte sich an den Ideen des Bundesaußenministers nur sein italienischer Kollege Emilio Colombo, wobei er sie in zweifacher Hinsicht zu modifizieren wünschte. Colombo drängte auf die Einbeziehung der Wirtschafts- und Währungspolitik in die „relance européenne“ und riet dazu, vor dem Abschluss eines neuen Europavertrags die vorhandenen Verträge erst einmal auszuschöpfen.9 Da Bundeskanzler Helmut Schmidt die in den europäischen Kapitalen angemeldeten Bedenken teilte, erhielt Genscher vom Bundeskabinett lediglich die Ermächtigung, mit den EGStaaten eine Grundsatzerklärung, nicht aber einen im Auswärtigen Amt bereits konzipierten Rahmenvertrag auszuhandeln.10 Nach monatelangen bilateralen Beratungen präsentierten Genscher und Colombo ihren europäischen Partnern Anfang November 1981 den Entwurf einer „Europäischen Akte“ und ein Dokument zur wirtschaftlichen Integration.11 Sie bekannten sich darin zum schrittweisen Aufbau einer Europäischen Union, hoben die Bedeutung einer gemeinsamen Außenpolitik einschließlich sicherheitspolitischer Aspekte hervor, ordneten den Europäischen Rat als „politisches Lenkungsorgan“ der Gemeinschaft systematisch ein, verklammerten die EG mit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) und visierten als neue Ziele eine Rechtsunion sowie die Errichtung eines Kultur- und Justizministerrates an.12 8 Gianni BONVICINI, The Genscher-Colombo Plan and the „Solemn Declaration on European Union“ (1981–1983), in: Roy PRYCE (Hg.), The Dynamics of European Union, London u. a. 1987, S. 174–187; Reinhardt RUMMEL/Wolfgang WESSELS, Federal Republic of Germany: new responsibilities, old constraints, in: Christopher HILL (Hg.), National Foreign Policies and European Political Cooperation, London 1983, S. 34–55. 9 G. BONVICINI (wie Anm. 8), S. 177f. 10 Erklärung Kurt Beckers, 18.9.1981, Bulletin PIB, S. 723; Wilfried LOTH, Europa als nationales Interesse? Tendenzen deutscher Europapolitik von Schmidt bis Kohl, in: Integration 17 (1994) S. 149–156, hier S. 151f. 11 Hans-Dietrich GENSCHER, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 363f.; Emilio COLOMBO, Initiative für Europa, in: Klaus KINKEL (Hg.), In der Verantwortung. Hans-Dietrich Genscher zum Siebzigsten, Berlin 1997, S. 477–483. 12 Entwurf einer „Europäischen Akte“ und Entwurf einer „Erklärung zur wirtschaftlichen Integration“, vorgelegt von den Regierungen der Bundesrepublik und Italiens (GenscherColombo-Akte), 6.[sic!]11.1981, in: JBEI 1981, Bonn 1982, S. 519–526, hier S. 521; Joseph WEILER, The Genscher-Colombo Draft European Act: The Politics of Indecision, in: Revue d'intégration européenne/Journal of European Integration 6 (1983), H. 2–3, S. 129– 153.
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Aus der Ex-post-Perspektive stilisierte der Bundesaußenminister die Akte zum Auslöser einer „Dreistufenrakete“, die mit dem Maastrichter Vertrag 1991/92 abgehoben habe.13 Zeitgenössisch gesehen, schien es keineswegs sicher, ob die nun gelegte Lunte nicht schon vor dem Erreichen der ersten Stufe ausgetreten würde. Denn Dänen, Briten und Griechen betrachteten jede Integrationsvertiefung mit Skepsis, lehnten die Abschaffung der Einstimmigkeitspraxis ebenso ab wie die Stärkung des Europäischen Parlaments. Und die Franzosen maßen der Debatte über institutionelle Reformen in der EG weniger Gewicht bei als der Frage nach einer gemeinsamen Sozialpolitik.14 Wenn die Zündschnur nicht verglimmte, so lag das insbesondere am Machtwechsel in Bonn Anfang Oktober 1982. Der neue Bundeskanzler Helmut Kohl gehörte zu jener Generation, die zu Beginn der 50er Jahre idealistisch-bewegt die Grenzpfähle zwischen Deutschland und Frankreich niedergerissen, europäische Lieder gesungen und dann geglaubt hatte, sie baue Europa. Als Hüter der Europapolitik Konrad Adenauers schwebte ihm seit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden der CDU 1973 eine Politische Union vor, die er – wie auch Genscher – stets im größeren Kontext der atlantischen Allianz sah.15 Die Zusammenarbeit mit den Nachbarn müsse unabhängig von deren Größe gepflegt werden, meinte er 1979 und griff damit implizit das Motto Ludwig Erhards vom „Europa der Freien und der Gleichen“ auf.16 Kohl verstand sich aber nicht als Enkel Erhards, sondern Adenauers.
13 H.-D. GENSCHER (wie Anm. 11), S. 368. 14 Wolfgang SCHUMANN, Dänemark, in: JBEI 1981, S. 421–427, hier S. 423–425; Nikolaus WENTURIS, Griechenland, EBD. S. 437–442; Roger MORGAN, Vereinigtes Königreich, EBD. S. 459–467, hier S. 464–467; Memorandum der französischen Regierung über die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, 13.10.1981, in deutscher Übersetzung, EBD. S. 505–518. 15 Rede Kohls auf dem Bundesparteitag der CDU, 12.6.1973, in: DERS., Der Kurs der CDU. Reden und Beiträge des Bundesvorsitzenden 1973–1993, Stuttgart 1993, S. 37–55, hier S. 49f.; Vortrag Genschers vor dem European Management Forum in Davos, 29.1.1982, in: DERS., Deutsche Außenpolitik (wie Anm. 2), S. 315–332. 16 Rede Kohls auf dem Europaparteitag der CDU vom 26./27.3.1979, in: Günter RINSCHE (Hg.), Frei und geeint. Europa in der Politik der Unionsparteien. Darstellungen und Dokumente zum 40. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge, Köln u. a. 1997, S. 236–240, hier S. 239; Hans-Otto KLEINMANN, Die Europapolitik der CDU/CSU 1969– 1982, EBD. S. 60–76. In den einschlägigen Biographien über Kohl findet man zu dessen Europapolitik bemerkenswerterweise kaum ein Wort (Jürgen BUSCHE, Helmut Kohl. Anatomie eines Erfolgs, Berlin 1998; Patricia CLOUGH, Helmut Kohl. Ein Porträt der Macht, München 1998; Klaus DREHER, Helmut Kohl. Leben mit Macht, Stuttgart 1998; Jürgen LEINEMANN, Helmut Kohl. Die Inszenierung einer Karriere, Berlin 1998; Karl Hugo PRUYS, Helmut Kohl. Die Biographie, Berlin 1995). Zu Erhards Europapolitik vgl. Ulrich LAPPENKÜPER, Den Bau des „europäischen Hauses“ vollenden. Die Europapolitik Ludwig Erhards (1963–1966), in: Historisch-Politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratische Politik 7 (2000), S. 239–267.
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Wie für den alten Herrn aus Rhöndorf war für ihn Europa mehr als nur ein geographischer Begriff, mehr als die Summe des Bruttosozialproduktes seiner Staaten; es war eine „Werte- und Kulturgemeinschaft“,17 die nicht nur das „Rumpfeuropa“ des Zehnerclubs, sondern auch die übrigen europäischen Demokratien sowie die DDR, die ostmitteleuropäischen Staaten, ja sogar die Ukraine und Russland umfasste.18 Anders als der Jurist Genscher ließ sich der Historiker Kohl in seinem politischen Agieren stark von geschichtlichen Bezügen leiten. Die Lehren aus der Vergangenheit ziehend, deklarierte er die Europapolitik nach seiner Wahl zum Bundeskanzler zum „Herzstück deutscher Außenpolitik“,19 einer Außenpolitik, die in seinen Augen von drei Bedingungen bestimmt wurde: von der geographischen Lage Deutschlands; vom Ziel, die deutsche und die europäische Teilung mit friedlichen Mitteln zu überwinden; von der Verpflichtung, „den Frieden in Freiheit zu bewahren“.20 Europapolitik und Deutschlandpolitik bildeten demgemäß „zwei Seiten einer Medaille“21: Die europäische Einigung bot die wirksamste Versicherung gegen einen Rückfall in den unheilvollen Chauvinismus des 20. Jahrhunderts; und die deutsche Einheit konnte nur im europäischen Rahmen gewonnen werden. Kohls Ja zur deutschen Nation bedeutete eben auch ein Ja zur europäischen Einigung. Als der Kölner Historiker Andreas Hillgruber ihm einmal entgegenhielt, das Europäische an Europa seien die Nationen, erwiderte Kohl: „Unter Nationalstaat im Sinne des 19. Jahrhunderts verstehe ich den Staat des Zentralismus. Der ist tot.“22 Die „Nation als Verbindung freier Bürger“ sei wichtiger als der „Nationalstaat als territoriale Einheit“. Man müsse über ihn hinausdenken, Europa als „schmerzlich erfahrenes Vaterland“ anstreben.23
17 Rede Kohls auf dem Fachkongress „Kulturgemeinschaft Europas“ der CDU, 31.10.1991, in: DERS., Der Kurs der CDU (wie Anm. 15), S. 371–379, hier S. 372. 18 Rede Kohls vor der Europa-Union Deutschlands, 9.3.1984, Bulletin PIB, S. 253–257, hier S. 256; Bundestagsrede Kohls, 27.6.1985, BT, Sten. Ber. 10. WP, Bd. 133, S. 11093– 11100, hier S. 11095; Ansprache Kohls bei einem Treffen von Gemeinden mit dem Namen St. Martin, 17.5.1986, Archiv für Christlich-Demokratische Politik Sankt Augustin [ACDP], Pressedokumentation, Pressemitteilung PIB Nr. 210/86. 19 EBD., Rede Kohls vor der Außenpolitischen Gesellschaft in Kopenhagen, 24.9.1984, Auszug in: PIB-Pressemitteilung Nr. 491/84. Knapper Überblick über Kohls Europapolitik während seiner Kanzlerschaft: W. LOTH (wie Anm. 10); Melanie PIEPENSCHNEIDER, Die Europapolitik Helmut Kohls 1982–1989, in: G. RINSCHE (wie Anm. 16), S. 77–88. 20 Rede Kohls auf der Interparlamentarischen KSZE-Konferenz, 26.5.1986, in: Bulletin PIB, S. 498–501, hier S. 499. 21 Bericht Kohls zur Lage des geteilten Deutschland, 15.3.1984, in: DERS., Reden 1982–1984, Bonn 1984, S. 359. 22 Interview Kohls mit Andreas Hillgruber, in: Die Welt, 1.10.1986. 23 Artikel Kohls in den Lutherischen Monatsheften 20 (1981), H. 5, abgedr. in: DERS., Der Kurs der CDU (wie Anm. 15), S. 199–204, hier S. 201 u. 204.
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Während Helmut Schmidt integrationspolitisch eine eher defensive Linie fuhr und ein vornehmlich ökonomisch motiviertes Interesse an der EG besaß, verband Helmut Kohl sie stets mit dem Ziel der politischen Einigung. Entsprechend prononciert äußerte er sich in seiner ersten Regierungserklärung am 13. Oktober 1982. Nachdem er die Atlantische Allianz als „Kernpunkt deutscher Staatsräson“ gerühmt hatte, plädierte er für den europäischen Binnenmarkt, die Koordinierung der Wirtschaftspolitik, die Forcierung der Verhandlungen über den Beitritt Spaniens und Portugals zur EG. Dann setzte er den Akzent auf die „Politische Union“ und auf die damit verbundene Reform des institutionellen Gerüsts. Ausdrücklich begrüßte er den von Genscher und Colombo vorgelegten Entwurf einer Europäischen Akte24; die Reibungen mit seinem Außenminister im Vorfeld seiner Rede erwähnte er nicht: Genscher hatte nämlich die Ankündigung einer neuen Europaaktion, wie sie Kohl von Beratern empfohlen worden war, verhindert, um seine Initiative nicht zu gefährden und die europapolitischen Zügel der Bundesregierung nicht aus der Hand zu geben.25 Da es zwischen dem Kanzler und dessen Vize in der Folge über die Ausrichtung der Europapolitik kaum Meinungsverschiedenheiten gab, blieb ein Kompetenzstreit aus. Wenn man dennoch mit Werner Kaltefleiter von einer „Kanzlerdemokratie“ Kohls spricht – verstanden als ein Regierungssystem, in dem der Chef Macht im Sinne Max Webers besaß26 –, darf man die weitgehende Interessenkongruenz zwischen Kohl und Genscher wie zwischen ihren Dienststellen nicht übersehen. Kümmerte sich das Auswärtige Amt in erster Linie um die EG-Erweiterung, den Binnenmarkt und die regionale Kooperation, liefen die Agrarfragen, die Debatte über die institutionellen Reformen und die Diskussion um die Ausformulierung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weitgehend über das Kanzleramt, das seit 1984 sukzessive die Federführung in der Europapolitik übernahm, ohne dass die Einigkeit litt.27 Wie Genscher nahm also auch Kohl das Zielbild der Europäischen Union auf, ohne es mit einem finalen Modell zu verbinden. Beide umgingen den Konflikt zwischen Föderalisten und Konföderalisten, gaben dem Begriff einen eher prozeduralen Charakter. Die Union dürfe keine leere Hülse bleiben, aber auch
24 Regierungserklärung Kohls, 13.10.1982, in: DERS., Reden 1982–1984 (wie Anm. 21), S. 9–48, hier S. 30. 25 Vgl. Karl-Rudolf KORTE, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989, Stuttgart 1998, S. 87. 26 Vgl. Werner KALTEFLEITER, Die Kanzlerdemokratie des Helmut Kohl, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 27 (1996), S. 27–37, bes. S. 27 u. 36f. 27 Vgl. Stefan FRÖHLICH, „Auf den Kanzler kommt es an“: Helmut Kohl und die deutsche Außenpolitik. Persönliches Regiment und Regierungshandeln vom Amtsantritt bis zur Wiedervereinigung, Paderborn u. a. 2001, S. 129–136; Eckart GADDUM, Die deutsche Europapolitik in den 80er Jahren. Interessen, Konflikte und Entscheidungen der Regierung Kohl, Paderborn u. a. 1994, S. 73–75.
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nicht dazu führen, dass „nationale Eigenheiten in einem Melting Pot“ aufgelöst würden,28 beteuerte der Bonner Regierungschef Ende 1985. Im Herbst 1982 diente seine Terminologie einer dreifachen Funktion: der auf Krisenfragen fokussierten europäischen Zusammenarbeit neuen Auftrieb zu geben und den in der Nachrüstungsdebatte geschürten Argwohn an der Verlässlichkeit der Bundesrepublik zu zerstreuen. Überdies reagierte er implizit auf die Aktivitäten des Europäischen Parlaments in Richtung auf eine Europäische Verfassung, sah sich in seiner Regierungserklärung gar veranlasst, zu einer gemeinsamen Arbeit einzuladen.29 Den Reformehrgeiz der Europaparlamentarier machte sich die Bundesregierung gleichwohl nicht zu Eigen. Im Zentrum ihrer europapolitischen Interessen stand vielmehr namentlich die Verbesserung der EG-Entscheidungsstrukturen mit Blick auf das Binnenmarktziel, sodann der Ausbau der gemeinsamen europäischen Außenpolitik, schließlich die Demokratisierung der Gemeinschaft und die Erschließung neuer Politikbereiche. Bezogen auf die prozeduralen Reformvorschläge, räumte sie der Abkehr vom „Luxemburger Kompromiss“30 von 1966 den Vorrang ein. Die Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen in den Organen der EG galt als unverzichtbar, um den Prozess der Binnenmarktvollendung in Bewegung zu bringen; sie bot für die Bundesrepublik zudem den strategischen Vorteil, dass sie bei einem qualifizierten Mehrheitsvotum ihre Stimmenzahl stärker zur Geltung bringen konnte.31 Im Gegensatz zu den Zeiten Adenauers war die Bonner Europapolitik zu Beginn der Ära Kohl im Prinzip nicht umstritten. Die CDU, in ihrem Selbstverständnis die „klassische Europa-Partei“,32 stand programmatisch hinter ihrem Vorsitzenden. Die FDP unterstützte Genschers Position und hoffte auf Profilierung, was ihr aber im Wettstreit mit der Union nur bedingt gelang.33 Die SPD begrüßte die deutsch-italienische Gemeinschaftsaktion, warnte aber
28 Ansprache Kohls vor der Cambridge Union Society und der Cambridge University Conservative Association, 27.11.1985, in: Bulletin PIB S. 1181–1187, hier S. 1183. 29 Regierungserklärung Kohls, 13.10.1982, in: DERS., Reden 1982–1984 (wie Anm. 21), S. 31. 30 Rund-Erlass Lahrs, 31.1.1966, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1966, hg. von Hans-Peter SCHWARZ, bearb. von Matthias PETER und Harald ROSENBACH, München 1997, S. 114–118. 31 Vgl. E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 208f. und S. 221. 32 Ansprache Kohls auf dem Bundesparteitag der CDU, 25.5.1983, in: DERS., Reden 1982– 1984 (wie Anm. 21), S. 194; vgl. Ulrich LAPPENKÜPER, Zwischen „Sammlungsbewegung“ und „Volkspartei“: Die CDU 1945–1969, in: Michael GEHLER/Wolfram KAISER/Helmut WOHNOUT (Hg.), Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien u. a. 2001, S. 385–398, hier S. 390–395. 33 Vgl. Michael REMMERT, Die Europapolitik der FDP in den achtziger Jahren, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 4 (1992), S. 143–164.
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vor „abstrakten Diskussionen über eine wie auch immer geartete europäische Verfassung“.34 Die Verabschiedung der von der Genscher-Colombo-Initiative anvisierten Europäischen Akte konnte, darüber herrschte in Bonn kein Zweifel, nur dann gelingen, wenn die übrigen Gemeinschaftsprobleme – das Haushaltsungleichgewicht, die gemeinsame Agrarpolitik, die Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal, die Verbesserung der Entscheidungsverfahren und die Stärkung des Europäischen Parlaments – vorher beseitigt würden. Nach der Übernahme der Ratspräsidentschaft am 1. Januar 1983 konzentrierte sich die Bundesregierung dazu auf das Treffen der Staats- und Regierungschefs Mitte Juni in Stuttgart. Schmerzhafte Zugeständnisse auch in den Beratungen über die politisch-institutionelle Reform waren vorprogrammiert. Mitte Oktober 1982 hatte eine von den EG-Außenministern eingesetzte Ad-hoc-Gruppe einen Text zur Europäischen Akte vorgelegt, der die Integration fördernde Elemente der Genscher-Colombo-Initiative hinsichtlich der Beschlussverfahren im Rat und der Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments weitgehend überging.35 Anfang März 1983 verkündeten die Außenminister – britischem Drängen nachgebend –, sie beabsichtigten statt einer Akte lediglich eine Deklaration zu verabschieden.36 Die vom Wähler soeben bestätigte Bundesregierung Kohl entwickelte daraufhin ein Konzept, das alle EG-Problemkomplexe miteinander verband und für jedes Mitglied neben unvermeidlichen Konzessionen auch Anreize zur Zustimmung schuf. Dass auch sie sich in die Pflicht nahm, signalisierte ihre grundsätzliche Bereitschaft, ihren bisherigen Widerstand in der besonders strittigen Frage einer Erhöhung der Eigeneinnahmen der Gemeinschaft aufzugeben. Dennoch gelang Kohl in Stuttgart kein Durchbruch. Zum Abschluss heftiger Diskussionen schnürte der Europäische Rat in den materiellen Sachfragen nur ein Paket, das auf seiner nächsten Konferenz unter griechischer Präsidentschaft in Athen gelöst werden sollte.37 Immerhin aber verabschiedete er zum Abschluss der Beratungen über die Genscher-Colombo-Initiative eine „Feierliche Deklaration“, die sich zum schrittweisen Aufbau einer Europäischen Uni-
34 Bundestagsrede Brandts, 25.11.1982, BT, Sten. Ber. 9. WP, Bd. 123, S. 8042–8046, hier S. 8045. 35 Vgl. Rede Genschers vor dem Europäischen Parlament, 14.10.1982, Bulletin PIB, S. 877– 881. 36 Rede Genschers vor dem Europäischen Parlament, 12.4.1983, Auszug in: EA 38 (1983), D253–D255; G. BONVICINI (wie Anm. 8), S. 179–182. 37 Vgl. Pierre FAVIER/Michel MARTIN-ROLAND, La décennie Mitterrand, Bde. 1 u. 2, Paris 1990/1991, hier Bd. 1, S. 443–445; Heinz STADELMANN, Der Europäische Rat, in: JBEI 1983, Bonn 1984, S. 37–45, hier S. 41–43; Erklärung des Europäischen Rats in Stuttgart, 18.6.1983, EBD. S. 414–416.
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on mit vergemeinschafteter Außenpolitik und zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Integration bekannte sowie die Befugnisse des Europäischen Parlaments stärkte. Am ursprünglichen Vorhaben Genschers gemessen, fiel die Erklärung freilich enttäuschend aus. Sein Ziel eines bindenden Vertrags war zugunsten einer reinen Willenserklärung aufgegeben, ein sichtbarer Schritt zur Demokratisierung der EG nicht gesetzt worden; es fehlte ein klares Bekenntnis zum Mehrheitsprinzip im Entscheidungsverfahren der Gemeinschaft; die Aussagen über die außenpolitische Zusammenarbeit gingen nicht über den „Londoner Bericht“ der EG-Außenminister vom Oktober 1981 hinaus.38 Die Bundesregierung gab offen zu, mit dem Erreichten nicht zufrieden zu sein. Skepsis über die Richtigkeit ihrer Politik äußerte sie nicht. Im Gegenteil: Um einen Rückfall ins 19. Jahrhundert zu verhindern, musste der beschrittene Weg fortgesetzt werden, betonte Kohl39 und zitierte deshalb in einer Regierungserklärung zum Stuttgarter Gipfel Mitte Juni aus der Vorlesung Friedrich Schillers zur Universalgeschichte von 1789: „Endlich unsere Staaten – mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie einander verschlungen! Wie viel dauerhafter durch den wohlthätigen Zwang der Noth als vormals durch die feyerlichsten Verträge verbrüdert! Den Frieden hütet jezt ein ewig geharnischter Krieg, und die Selbstliebe eines Staats sezt ihn zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber nicht mehr zerfleischen.“40 Als dann aber der fast zweihundert Jahre später stattfindende Europäische Rat von Athen ihn Lügen strafte und im Dezember 1983 wegen eines offenen Dissenses über die Geschäftsgrundlage der Gemeinschaft, über Milchmengenbegrenzungen, Währungsausgleichszahlungen und Fettsteuern im „Desaster“ endete,41 begann in Bonn doch ein Umdenken. Nicht dass man nun an der eigenen Marschroute zweifelte, nein, aber am guten Willen einiger Partner. Im Sommer 1984 müsse ein neuer Anlauf zur politischen Einigung Europas ge-
38 Feierliche Deklaration des Europäischen Rats zur Europäischen Union, 19.6.1983, EBD. S. 417–424; Bericht der EG-Außenminister über die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ), 13.10.1981, in: JBEI 1981, S. 500–504. 39 Ansprache Kohls in Stuttgart, 19.6.1983, Bulletin PIB, S. 611f. 40 Friedrich SCHILLER, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Antrittsrede an der Universität Jena 1789, Neudruck, Jena 1982, S. 15; vgl. Regierungserklärung Kohls, 22.6.1983, in: DERS., Reden 1982–1984 (wie Anm. 21), S. 208–220, hier S. 219. 41 Ansprache Kohls vor der Europa-Union Deutschlands, 9.3.1984, Bulletin PIB, S. 253– 257, hier S. 255; zum Europäischen Rat in Athen s. die Dokumentation in: EA 39 (1984), D53–D73; H. STADELMANN, Der Europäische Rat 1983 (wie Anm. 37), S. 43f.
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nommen werden, versicherte Kohl vor der Presse und fügte mit erhobenem Zeigefinger hinzu: „Dann werden wir sehen, wer mitmacht und wer nicht.“42 Zumindest einer seiner Kollegen schien ihn erhört zu haben: François Mitterrand. Schon Ende 1982 hatte der französische Staatspräsident die Überzeugung gewonnen, dass er sich intensiver um die europäische Integration kümmern müsse, und zwar im engen Einvernehmen mit Kohl; denn die Beziehungen zwischen Bonn und Paris bildeten für ihn „une pierre angulaire de l'Europe“43. Indem er sich nach dem Scheitern seines sozialistischen „Experiments“ in Frankreich aufmachte, die EG aus ihrem Schlaf aufzurütteln, hoffte Mitterrand, sein ramponiertes Image aufzupolieren, den im Zuge der deutschen Nachrüstung wieder auftauchenden „incertitudes allemandes“ zu begegnen und – vor allem – Europa als starken Mitspieler auf der globalen Bühne zu positionieren.44 Alte Differenzen aus den siebziger Jahren hinter sich lassend, begannen der christdemokratische Bundeskanzler und der sozialistische Präsident 1984 eine Politik des ausgeprägten Bilateralismus mit dem Ziel, politische Schrittmacherdienste in Europa zu leisten und die überfälligen Haushalts- und Agrarreformen der Gemeinschaft endlich auf den Weg zu bringen. Anfang Februar kamen sie abseits der Öffentlichkeit auf Schloss „Villa Ludwigshöhe“ bei Edenkoben in der Pfalz überein, die politische Zusammenarbeit der EG zu vertiefen und die alte Sechser-Gemeinschaft als „neues Kraftzentrum“ aufzubauen.45 Wenige Wochen später warf Kohl bei einem neuerlichen Treffen in Paris intra muros – wie einst Adenauer – die Idee eines deutsch-französischen „Zweibundes“ auf!46 Coram publico signalisierte er wiederholt die Bereitschaft, die EG-Reformen mit deutschen Milliardenbeträgen voranzubringen. Um die ob der Spendierfreude ihres Kanzlers nicht eben glücklichen Landsleute zu beruhigen, führte er ihnen immer wieder den Ertrag solcher Opfer vor Augen: „Motor für die Einigung Europas zu sein, dies ist Teil des nationalen Auftrags, Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an.“47 42 ACDP, Pressedokumentation, Interview Kohls im WDR, 17.12.1983, Nachrichtenabteilung des PIB. 43 Unterredung zwischen Mitterrand und König Khaled von Saudi Arabien, 13.6.1981, zitiert nach: Tilo SCHABERT, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002, S. 92. 44 Vgl. P. FAVIER/M. MARTIN-ROLAND (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 243–245; Elisabeth DU RÉAU, L'engagement européen, in: Serge BERSTEIN/Pierre MILZA/Jean-Louis BIANCO (Hg.), François Mitterrand. Les années du changement 1981–1984, Paris 2001, S. 282–294. 45 Zitiert nach: Der Spiegel (1984), Nr. 13, S. 144; dpa-Meldung 247, 2.2.1984. 46 Zitiert nach: S. FRÖHLICH (wie Anm. 27), S. 224. 47 Bericht Kohls zur Lage des geteilten Deutschland, 15.3.1984, in: DERS., Reden 1982–1984 (wie Anm. 21), S. 344–364, hier S. 359.
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Da die Deutschen sich nicht so einfach überzeugen ließen, klaffte zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Bonner Europapolitik bald eine gewisse Lücke. Die hielt den Kanzler aber nicht davon ab, auf der europäischen Bühne nun energisch aufzutrumpfen. „Wie würden Churchill und Adenauer reagieren, wenn sie an unserer Stelle säßen?“, redete Kohl Margaret Thatcher ins Gewissen, als es Mitte März 1984 im Europäischen Rat zu hitzigen Gefechten über britische Rückzahlungsforderungen kam. Thatcher aber wollte von der Verpflichtung, die Kohl als Enkel Adenauers und als europäischer Politiker im Geiste Churchills verspürte, nichts wissen: Sie sei weder eine Enkelin Churchills noch stehe sie in der Tradition Adenauers und fühle sich dennoch nicht als schlechtere Europäerin als Kohl, erwiderte die Premierministerin schroff. In gewisser Weise war es der Kanzler selbst, der den Widerspruch der Eisernen Lady anstachelte, hatte er doch die Neigung seiner Kollegen torpediert, ihr finanziell weiter entgegenzukommen.48 Trotz der herben Enttäuschung über den Ausgang der mit großer Härte geführten Verhandlungen warnte Kohl in der Öffentlichkeit vor einer Dramatisierung der Krise. Das „Debakel“ habe viele Gründe gehabt, die „heilbar“ seien.49 Die Bundesregierung halte unbeirrt an dem eingeschlagenen Kurs fest, da sie wisse, was auf dem Spiel stehe. Erneut deutete er seine Neigung an, bei fortgesetzter Blockade notfalls mit den integrationsbereiten Staaten voranzugehen, um endlich auf dem Weg zur Politischen Union Fortschritte zu erzielen. Niemandem dürfe die Tür vor der Nase zugeschlagen werden; doch jeder, der durch das Tor hereinkomme, müsse dann auch wirklich mitmachen.50 Die Unterstützung der SPD-Opposition war dem Kanzler gewiss. Alle politischen Kräfte müssten nun darauf gerichtet sein, die Krise zu überwinden und neue Fortschritte zur europäischen Einigung zu erreichen, beteuerte HansJochen Vogel im Deutschen Bundestag.51 Auch Mitterrand gab gegenüber der Presse zu: „Ein Europa der Zehn ist wünschenswert, aber nicht unbedingt erhaltenswert.“52 Kurz darauf konnte in den europäischen Kapitalen ein unüberhörbares Aufatmen vernommen werden. Ende März einigte sich der EG-Agrarministerrat
48 Zitiert nach: P. FAVIER/M. MARTIN-ROLAND (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 246 (Übersetzung U.L.); Der Spiegel (1984), Nr. 13, S. 134; Heinz STADELMANN, Der Europäische Rat, in: JBEI 1984, Bonn 1985, S. 33–41, hier S. 35–37. 49 Ansprache Kohls auf einer Regionalkonferenz der rheinland-pfälzischen CDU in Speyer, zitiert nach: Allgemeine Zeitung Mainz, 31.3.1984. 50 Regierungserklärung Kohls, 28.3.1984, BT, Sten. Ber. 10. WP, Bd. 127, S. 4229–4233; ACDP, Pressedokumentation, Interview Kohls im ZDF, 21.3.1984, Nachrichtenabteilung des PIB. 51 Bundestagsrede Vogels, 28.3.1984, BT, Sten. Ber. 10. WP, Bd. 127, S. 4233–4237. 52 Zitiert nach: Der Spiegel (1984), Nr. 13, S. 135.
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auf eine Quotenregelung für die Milchproduktion, senkte die Agrarpreise für das Wirtschaftsjahr 1984/85 und vereinbarte auf der Basis vorheriger Absprachen zwischen Paris und Bonn einen Abbau des positiven deutschen Währungsausgleichs im Agrarsektor.53 Der finanzielle Kollaps der Gemeinschaft war vorerst abgewendet, die Chance, dass das Stuttgarter Problempaket auf dem kommenden Ratsgipfel, zu dem Präsident Mitterrand ins Schloss von Fontainebleau lud, gelöst werden konnte, stieg. Doch ein in engen deutsch-französischen Konsultationen vorformulierter Beschluss drohte einmal mehr an nationalen Egoismen zu zerschellen. Thatcher, von Mitterrand als „klein-bürgerliche Ideologin“ gescholten,54 pochte auf die Aufrechterhaltung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen und erneuerte ihre Rückzahlungsforderungen. Kohl wiederum machte die Übernahme höherer finanzieller Lasten mit Rücksicht auf die harsche innenpolitische Kritik an den deutschen Zugeständnissen im EG-Agrarrat von strukturellen Reformmaßnahmen in der Landwirtschaftspolitik und der Billigung von Ausgleichsbeträgen an die deutschen Bauern aus dem Bundeshaushalt abhängig. Allem Anschein nach brachte ein Zwiegespräch mit Mitterrand am Rande des Gipfels diesbezüglich eine Einigung, wobei Kohl offenbar im Gegenzug sein Plazet für die Ernennung von Jacques Delors zum nächsten Präsidenten der EG-Kommission gab.55 „Wir wollen Ihnen helfen, aus Fontainebleau einen Erfolg zu machen“, flüsterte der Kanzler dann Roland Dumas zu, als er erfuhr, dass Thatcher ihn unter vier Augen zu sprechen wünsche.56 Und er tat alles, um deren Widerstand gegen die deutsch-französische Kompromisslinie zu brechen. Nachdem das „britische Problem“ dank pekuniärer Konzessionen der Partner bereinigt worden war, willigte die Premierministerin tatsächlich in die Einberufung zweier Adhoc-Ausschüsse zur Fortschreibung der „Stuttgarter Deklaration“ ein. Beflügelt von dieser Verständigung, einigten sich die Staats- und Regierungschefs außerdem auf eine vorläufige Lösung des seit Jahren schwelenden Haushaltskonflikts und bekräftigten die Absicht, die Verhandlungen mit Spanien und Portugal bald abzuschließen.57 Das Tor zur „relance de l'Europe“58 stand offen. 53 Vgl. E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 142–152. 54 Zitiert nach: P. FAVIER/M. MARTIN-ROLAND (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 437 (Übersetzung U.L.). 55 Vgl. Der Spiegel (1984), Nr. 27, S. 99f.; E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 150–152. 56 Zitiert nach: P. FAVIER/M. MARTIN-ROLAND (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 254 (Übersetzung U.L.). 57 Vgl. Roland DUMAS, Le Fil et la Pelote. Mémoires, Paris 1996, S. 329–331; P. FAVIER/ M. MARTIN-ROLAND (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 251–255; H. STADELMANN (wie Anm. 48), S. 37–39; Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zur Tagung vom 25./ 26.6.1984, in: JBEI 1984, S. 434–437. 58 Hubert VÉDRINE, Les mondes de François Mitterrand. A l'Elysée 1981–1995, Paris 1996, S. 275.
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Nicht das Geschick supranationaler Akteure, sondern die Staatskunst der Kabinette zeichnete für den Erfolg von Fontainebleau verantwortlich. Diese Staatskunst ließ die Bundesregierung indes bald darauf in den intergouvernementalen Beratungen über die Zusammensetzung des Ausschusses für institutionelle Fragen arg vermissen. Anders als von Kohl gewünscht, wurde der Vorsitz des Gremiums nicht Alt-Bundespräsident Karl Carstens, sondern dem irischen Senator James Dooge übertragen, weil die reformzögerlichen EGStaaten nur weisungsgebundene Vertreter entsenden wollten und die Entscheidung in die Zeit der irischen Ratspräsidentschaft fiel. Kohl testierte der heterogenen Mischung aus hohen Beamten und Politikern mangelnde „europäische Inspiration“;59 ändern konnte er an der Bestallung aber nichts. Die führende Rolle im „Dooge-Komitee“, das seit Ende September in engem Kontakt zur EG-Kommission wie zum Europäischen Parlament tagte,60 übernahm Maurice Faure, ein alter Fahrensmann der IV. Französischen Republik und Mitunterzeichner der Römischen Verträge. Die Bundesregierung entsandte Staatssekretär Jürgen Ruhfus vom Auswärtigen Amt, dem es mit Hilfe der deutsch-französischen Entente gelang, erheblichen indirekten Einfluss auszuüben. Er agierte zunächst ambitiöser als andere Kollegen, ohne allerdings mit einem konkreten Zielbild deutscher Europapolitik anzutreten. Zu den ersten Amtshandlungen des „Dooge-Komitees“ gehörte die Ablehnung des vom Europäischen Parlament im Februar vorgelegten Entwurfs zur Schaffung einer Europäischen Union61 und die Annahme eines von Faure erstellten Papiers, das zu wesentlichen Teilen dem Schlussbericht entsprechen sollte. In den Beratungen über dieses französische Arbeitsdokument entwickelte sich rasch eine weitgehend mit gleicher Zielsetzung operierende Kerngruppe aus Deutschen, Franzosen und den Vertretern der Benelux-Staaten; ihnen gegenüber standen die Briten, die mehrfach mit dem Abbruch der Diskussionen drohten, und die Italiener, die sich durch das wiederholte Ins-SpielBringen des Parlamentsentwurfs ins Abseits manövrierten. Anfang Dezember übergab Dooge dem Europäischen Rat einen mit etlichen Einwänden einzelner Delegierter versehenen Zwischenrapport. Das Dokument empfahl die Einberufung einer Regierungskonferenz zur Aushandlung eines Vertrags über eine Europäische Union, sah eine engere Verbindung zwischen 59 Bundestagsrede Kohls, 12.9.1984, Bulletin PIB, S. 917–928, hier S. 923. 60 Zu den Beratungen vgl. Jean DE RUYT, L’Acte Unique Européen. Commentaire, Brüssel 1987, S. 51–57; Patrick KEATINGE/Anna MURPHY, The European Council's Ad Hoc Committee on Institutional Affairs (1984–1985), in: R. PRYCE (wie Anm. 8), S. 217–237, hier S. 220–229. 61 Entwurf des Europäischen Parlaments eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union, 14.2.1984, in: Walter LIPGENS (Hg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939–1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, Bonn 1986, S. 711–736.
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EG und EPZ, die Schaffung eines Binnenmarktes und den Ausbau des Europäischen Währungssystems (EWS) vor, räumte dem Europäischen Parlament ein Mitentscheidungsrecht im Gesetzgebungsverfahren ein und wollte das Abstimmungsverfahren des Rats generell auf qualifizierte Mehrheitsabstimmungen fixieren. Nach kurzer Kenntnisnahme des Berichts forderte der Rat das Komitee auf, seine Arbeit bis März mit einem Höchstmaß an Übereinstimmung abzuschließen.62 Die „Stunde der Wahrheit“ sei gekommen, rief Kohl seinen europäischen Kollegen pathetisch zu; der „Bau der Vereinigten Staaten von Europa“ werde beginnen.63 Die Stunde der Wahrheit brach nun auch für die Bundesregierung an. Da sich der „Dooge-Ausschuss“ zu einem regulären intergouvernementalen Verhandlungsforum mauserte, erkämpften sich die am innerdeutschen Entscheidungsprozess bisher nicht beteiligten Bundesministerien das Recht, über den Verlauf seiner Beratungen unterrichtet zu werden. Zwei Themen erwiesen sich in der intragouvernementalen Diskussion als besonders umstritten: die Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments und die in den Vordergrund geratende Frage einer europäischen Währungsintegration. Hatte Ruhfus die Arbeit im „Dooge-Komitee“ bisher aktiv mitgestaltet, musste er aufgrund neuer Weisungen nun mehrfach auf die Bremse treten. Denn die Bundesregierung wollte auf das Einstimmigkeitsprinzip nicht mehr vollständig verzichten und meldete erhebliche Bedenken gegenüber der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion an, da das Bundesfinanzministerium gemäß der von ihm vertretenen „Krönungstheorie“ darauf bestand, dass eine solche Institution über eine allmähliche Annäherung der unterschiedlichen Wirtschaftspolitiken, nicht aber über eine vorzeitige Einigung in der Währungspolitik errichtet werden müsse.64 Noch ehe das „Dooge-Komitee“ Ende März 1985 seinen mit Vorbehalten gespickten Abschlussbericht vorgelegt hatte,65 verständigten sich Kohl und Mitterrand darauf, dem nahenden Europäischen Rat in Mailand einen gemeinsamen Vertrag über eine Europäische Union zu präsentieren.66 Überschattet von bilateralen Dissonanzen über das französische EUREKA-Konzept und die GATT-Verhandlungen, begannen dazu im April streng vertraulich die Bera-
62 Zwischenbericht des Ad-hoc-Ausschusses für institutionelle Fragen, in: EA 40 (1985), S. 96–104; Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats zur Tagung vom 3./ 4.12.1984, in: JBEI 1984 (wie Anm. 48), S. 448–450, hier S. 449. 63 Regierungserklärung Kohls, 7.12.1984, BT, Sten. Ber. 10. WP, Bd. 130, S. 8146–8152, hier S. 8152. 64 Vgl. S. FRÖHLICH (wie Anm. 27), S. 226f.; E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 248f.; P. KEATINGE/A. MURPHY (wie Anm. 60), S. 227f. 65 Bericht des Ad-hoc-Ausschusses für institutionelle Fragen an den Europäischen Rat vom 29./30.3.1985, in: JBEI 1985, Berlin 1986, S. 404–417. 66 Jacques ATTALI, Verbatim. Bd. 1: Chronique des années 1981–1986, Paris 1993, S. 788.
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tungen. Geradezu ins Zwielicht geriet das Engagement der Bundesregierung, als sie Mitte Juni im EG-Agrarministerrat ein Veto gegen eine Senkung der Marktpreise für Getreide und Raps einlegte.67 Dieser Alleingang der Deutschen und der zur selben Zeit lancierte Plan der Briten, die institutionelle Zusammenarbeit der Gemeinschaft ohne neues Abkommen fortzuschreiben, ließen den französischen Erwartungshorizont für den Mailänder EG-Gipfel dramatisch sinken. Mitterrands Interesse an der vom „Dooge-Komitee“ angeregten internationalen Regierungskonferenz nahm rapide ab. Aus Sorge um den Erfolg der Ratstagung ging Kohl, der sein Augenmerk vor allem auf eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik gelegt hatte, auf die Pariser Reserven weit ein. Ende Juni gaben Kanzleramt und Elysée-Palast dem Vertragsentwurf, der Vorschläge zur schrittweisen Entwicklung einer europäischen Außenpolitik machte, eine engere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik sowie im Rahmen der WEU in Aussicht nahm und die Verpflichtung zur Einrichtung eines Generalsekretariats des Rates der Europäischen Union enthielt, den letzten Schliff. Um bei den übrigen EG-Staaten nicht den Anschein eines Diktats zu erwecken, zogen beide Regierungen unmittelbar vor der Konferenz die italienische Ratspräsidentschaft ins Vertrauen, boten ihr gar an, das Papier als eigenes Produkt auszugeben.68 Dann aber zerstörte Kohl die Geheimhaltungsstrategie und gab die Existenz des Textes möglicherweise wegen heftiger Kritik Helmut Schmidts an der Haltung der Bundesregierung zur Währungsunion am 27. Juni im Bundestag bekannt.69 Die Partner reagierten ausgesprochen frostig auf das ihnen tags darauf in der lombardischen Hauptstadt übergebene Schriftstück. Mitterrand, der Kohl intern vorwarf, den Überraschungscoup vereitelt zu haben, spielte das Konzept herunter; ja, er stellte zeitweise sogar – wie Thatcher – die Einberufung der Regierungskonferenz in Frage und schlug in einem zusätzlichen Memorandum vor, eine Aufweichung der Mehrheitsentscheidungen zunächst ohne vertragliche Änderungen zuzulassen. Nur mit Mühe gelang es dem Kanzler, den Präsidenten von einem völlig überraschenden Vorstoß, der Idee einer Übertragung operativer währungspolitischer Entscheidungskompetenzen auf die Europäische Union abzubringen.70
67 Vgl. E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 155–164. 68 J. ATTALI (wie Anm. 66), S. 802, 809f., 814–821 u. 825–828. 69 Bundestagsrede Kohls, 27.6.1985, BT, Sten. Ber. 10. WP, Bd. 133, S. 11093–11100; Artikel Schmidts, in: Handelsblatt, 3.5.1985. 70 Entwurf des Vertrages der Regierungen von Frankreich und der Bundesrepublik über eine Europäische Union, 28./29.6.1985, in: EA 40 (1985), S. 449–451; Memorandum der französischen Regierung, 28./29.6.1985, Ebd. S. 444–449; P. FAVIER/M. MARTIN-ROLAND, (wie Anm. 44), Bd. 2, S. 264–266; S. FRÖHLICH (wie Anm. 27), S. 228f.
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In einer durch die Vorlage weiterer Reformpapiere71 komplizierten Lage gerieten die Delegationen am zweiten Sitzungstag durch immer neue Fassungen und Ergänzungen des deutsch-französischen Vertragskonzepts in die Sackgasse. Den Ausweg wies ihnen ein kurzfristig ausformuliertes Dokument Hans-Dietrich Genschers, das stakkatoartig folgende Zielsetzung formulierte: „Die Europäische Union beginnt; die Mitgliedstaaten werden über die Ausgestaltung einen Vertrag abschließen. Es wird eine Regierungskonferenz eingesetzt, die den Entwurf des Vertrages bis zum 31. Oktober 1985 erarbeitet. Er wird auf dem Europäischen Rat in Luxemburg beraten und beschlossen.“ In bezug auf das strittige Entscheidungsverfahren der Gemeinschaft sah Genschers sog. „Badezimmerpapier“ vor, zum System vor dem „Luxemburger Kompromiss“ zurückzukehren, Mehrheitsbeschlüsse in Binnenmarktfragen zuzulassen und das Vetorecht abzuschaffen.72 Zunächst schienen die Delegationen gegen die Eingebung des Bundesaußenministers immun. Die Briten blieben bei ihrem Nein zur Regierungskonferenz und vertrauten wie die Dänen oder die Griechen darauf, dass ohne ihre Einwilligung ein Beschluss nicht gefasst werden könne. Indem der gewiefte italienische Außenminister Andreotti dann aber erklärte, für die Einberufung einer solchen Konferenz sei die Einstimmigkeit nicht unbedingt erforderlich, öffnete er das Tor zu einer Mehrheitsentscheidung, ohne den Rat zu sprengen.73 Oberflächlich betrachtet, entsprach der Mailänder Gipfel dem altbekannten Ritual der Europapolitik, Entscheidungen zu vertagen und immer neuen Gremien zu übertragen. De facto aber unterschied er sich von früheren Ratstagungen in gravierender Weise, weil erstmals seit vielen Jahren eine entschlossene Führung zur Fortentwicklung der EG praktiziert worden war. Anfang September nahm die in Mailand beschlossene Regierungskonferenz über die Ausarbeitung eines Europäischen Vertrages ihre Tätigkeit auf und tagte bis Dezember sechsmal. Beherrscht wurden ihre Verhandlungen vor dem Hintergrund erheblicher Einflüsterungsbemühungen von nationaler wie transnationaler Seite von einer Fülle sehr präziser Empfehlungen der EG-Kommission. Die Bundesrepublik gab ihre lange wahrgenommene Antreiberrolle auf und ruderte insbesondere in den Beratungen über die Vollendung des Binnenmarktes und die Währungsintegration zurück. Indem sie sich implizit auf die Seite der Briten schlug und deren Widerstand unterstützte, deutete sich ein
71 Arbeitspapier der britischen Regierung zur EPZ, 28./29.6.1985, in: EA 40 (1985), S. 441– 444. 72 Zitiert nach: E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 257; H.-D. GENSCHER (wie Anm. 11), S. 373. 73 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates, 28./29.6.1985, in: JBEI 1985, S. 425–429; E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 258.
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europapolitisches ,renversements des alliances‘ an.74 Irritiert über den von ihm so wahrgenommenen Kohlschen ,Frontwechsel‘, wähnte Mitterrand Briten und Deutsche im Schlepptau der Amerikaner und warf der Bundesrepublik vor, sie wolle die EG in „eine DM-Zone“ umwandeln.75 Die Entscheidung oblag schließlich den Staats- und Regierungschefs, die Anfang Dezember 1985 in Luxemburg über das Ergebnis der Regierungskonferenz – die „Einheitliche Europäische Akte“ – zu befinden hatten. Für die Deutschen erwiesen sich zwei Materien als besonders heikel: die Wirtschaftsund Währungsunion sowie die nationalen Schutzstandards. Kohl musste sorgsam darauf achten, Mitterrand nicht zu verprellen, durfte aber gleichzeitig die Vorbehalte des Bundesfinanzministeriums und der Bundesbank nicht übergehen. Nach achtundzwanzig Stunden zäher Verhandlungen gelang den Delegationen der Durchbruch. Sie stimmten – und das war für den Kanzler entscheidend – einem deutschen Vorschlag zu, der eine formale währungspolitische Kompetenz der Gemeinschaft verhinderte und die weitere Debatte einer neuerlichen Regierungskonferenz übertrug. Zugleich nahm sie auf deutsches Drängen eine Klausel über die Absicherung der Schutzstandards in den Europavertrag auf.76 Mit der Einheitlichen Europäischen Akte, deren abschließende Textredaktion die EG-Außenminister auf einer Sondersitzung am 16./17. Dezember erledigten, wurde nicht der Anfang der 1970er Jahre beschrittene Weg der Schaffung neuer Organisationsformen fortgesetzt, sondern der Versuch unternommen, die bestehenden Institutionen (EG, EPZ, Europäischer Rat) unter einem rechtlichen Dach zu bündeln. Im Mittelpunkt des Vertragswerkes standen die schrittweise Verwirklichung des Binnenmarktes bis zum 31.12.1992 und die Einführung eines neuen Beschlussverfahrens, das qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat vorsah, die Stellung des Europäischen Parlaments stärkte, jedoch zugleich eine Reihe von Ausnahmen formulierte, bei denen Einstimmigkeit gefordert wurde. Ohne schon die Schwelle zu einer Gemeinschaftspolitik zu überschreiten, wurde überdies der EWG-Vertrag um ein Kapitel über die Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik ergänzt, das erst-
74 Vgl. Richard CORBETT, The 1985 Intergovernmental Conference and the Single European Act, in: R. PRYCE (wie Anm. 8), S. 238–272; E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 263–266; J. DE RUYT (wie Anm. 60), S. 69–77. 75 Zitiert nach: P. FAVIER/M. MARTIN-ROLAND (wie Anm. 44), Bd. 2, S. 268 (Übersetzung U.L.). 76 Schlussfolgerungen der Ratspräsidenten zur EG-Regierungskonferenz, 2./3.12.1985, in: EA 41 (1986), S. 157; P. FAVIER/M. MARTIN-ROLAND, (wie Anm. 44), Bd. 2, S. 268f.; J. DE RUYT (wie Anm. 60), S. 77–81 u. 85–87; E. GADDUM (wie Anm. 27), S. 266–269 u. 295–301; Rudolf HRBEK/Thomas LÄUFER, Die Einheitliche Europäische Akte. Das Luxemburger Reformpaket: eine neue Etappe im Integrationsprozeß, in: EA 41 (1986), S. 173–184.
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mals den Begriff der Wirtschafts- und Währungsunion verankerte und eine Methode zu ihrer Bildung festlegte.77 Das Tor zur europäischen Einigung sei weit aufgestoßen, triumphierte Helmut Kohl nach Beendigung der Luxemburger Beratungen im Deutschen Bundestag.78 „Der Untergang des Abendlandes findet nicht statt. Das spukt in den Köpfen irgendwelcher Pseudointellektueller herum, die dabei mit diesen maroden Thesen viel Geld verdienen.“79 Der Kanzler gestand freilich ein, dass ihn der Vertrag nicht vollständig zufrieden stellte. Statt eines weitreichenden und tragfähigen Gesamtkonzepts war eine pragmatische Fortschreibung bestehender Verfahren und Strukturen vereinbart, die Politik der kleinen Schritte abermals fortgesetzt, ein wirklich qualitativer Sprung in Richtung auf die Europäische Union nicht gewagt worden. Grund zur Trauer sah Kohl deshalb nicht; denn der Zusammenschluss des über Jahrhunderte zersplitterten Kontinents konnte eben nur Schritt für Schritt erfolgen.80 In seiner Erwiderung auf die Regierungserklärung des Kanzlers bekannte Helmut Schmidt für die Opposition, er sei mit vielem, was der Regierungschef vorgetragen habe, durchaus einverstanden; in einigen wichtigen Punkten aber sei Kritik angebracht. Schmidt unterstrich die Notwendigkeit des Ausbaus des EWS und äußerte deutliche Skepsis gegenüber der Absicht, einen neuen Europavertrag zu verabschieden.81 Nach der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte durch die zwischenzeitlich auf zwölf Mitglieder angewachsene EG im Februar 198682 begann in Bonn die Stunde der Legislative. Die Regierung war laut Artikel 2 des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag von 1957 verpflichtet, Bundestag und Bundesrat über ihre Europapolitik zu unterrichten. Um eine möglichst breite Unterstützung zu erreichen, hielt sie es für sinnvoll, beide Organe in den Ratifizierungsprozess einzubinden. Die Zustimmung des Bundestags konnte als sicher gelten, da er den Kurs des Kabinetts seit Jahren wohlwollend begleitet hatte. Die Länder hingegen, die bisher in das Entscheidungsverfahren nicht einbezogen worden waren, reagierten ausgesprochen kritisch, weil die
77 Einheitliche Europäische Akte, Februar 1986, in: JBEI 1985, S. 431–452. 78 Regierungserklärung Helmut Kohls, 5.12.1985, BT, Sten. Ber. 10. WP, Bd. 135, S. 13763– 13768. 79 ACDP, Pressedokumentation, Interview mit dem spanischen Fernsehen, 27.12.1985, PIBPressemitteilung Nr. 577/85. 80 ACDP, Pressedokumentation, Ansprache Kohls bei einem Treffen von Gemeinden mit dem Namen St. Martin, 17.5.1986 (wie Anm. 18); Rede Kohls auf der EDU-Parlamentarier-Konferenz, 23.5.1986, Ebd. CDU-Pressemitteilung. 81 Bundestagsrede Schmidts, 5.12.1985, BT, Sten. Ber. 10. WP, Bd. 135, S. 13768–13778. 82 Vgl. R. CORBETT (wie Anm. 74), S. 265–267; Wolfgang WESSELS, Die Einheitliche Europäische Akte – Zementierung des Status quo oder Einstieg in die europäische Union?, in: Integration (1986), S. 65–79.
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Die deutsche Europapolitik (1981–1986)
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Verlagerung nationaler Kompetenzen auf die Gemeinschaftsebene ein grundsätzliches Problemfeld deutscher Integrationspolitik neu auflud: die Konsequenzen der Vergemeinschaftung für den deutschen Föderalismus.83 Als Speerspitze agierte die bayerische Staatsregierung unter Franz Josef Strauß.84 Edmund Stoiber, Leiter der Staatskanzlei, brandmarkte die Akte als „kurzatmiges Machwerk“ und „Gemisch geschwätziger Unverbindlichkeiten“, das die deutschen Länder zu „ferngesteuerten Provinzen“ der Brüsseler Technokraten herabstufe.85 Im Ton weniger polemisch, in der Sache aber ebenso hart, forderte der Bundesrat Ende Februar 1986 per Entschließung die Stärkung seiner europapolitischen Mitwirkungsbefugnisse; Mitte Mai verlangte er eine Ergänzung des vom Kabinett beschlossenen Entwurfs zum Ratifikationsgesetz nach seinem Gusto.86 Die Bundesregierung hielt die Kritik der Länder für überzogen – und ließ sich mit ihrer Antwort viel Zeit. In einer im November vorgelegten Replik akzeptierte sie das Ersuchen des Bundesrates, seine Mitwirkungskompetenz rechtlich zu fixieren; sie war aber nicht bereit, ihre Handlungsautonomie in den EG-Gremien zu beschneiden. Im Gesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte räumte sie der Legislative die Möglichkeit zur Darlegung ihrer Standpunkte ein; eine Weisungsbefugnis gestattete sie ihr nicht.87 Auf dieser Grundlage billigte der Bundestag die Akte am 4. Dezember. Wenngleich Koalition und Opposition einvernehmlich votierten, waren die Parteien in der Einschätzung des Erreichten weit auseinander. Während die Union die EEA als „bedeutendsten Schritt zur Europäischen Union seit dem Abschluss der Römischen Verträge“88 feierte, bezeichnete die SPD sie als „unterste Grenze des Akzeptablen“. Da ein Nein zu dem Vertrag für die Sozialdemokraten nicht in Frage kam, stimmten sie dem Ratifikationsgesetz zu, verlangten aber „unver-
83 Vgl. Eberhard GRABITZ, Die deutschen Länder in der EG-Politik: verfassungsrechtliche Grundlagen, in: Rudolf HRBEK/Uwe THAYSEN (Hg.), Die Deutschen Länder und die Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1986, S. 169–180; Rudolf HRBEK, Doppelte Politikverflechtung: Deutscher Föderalismus und Europäische Integration. Die Deutschen Länder im EG-Entscheidungsprozeß, EBD. S. 17–36, hier S. 24–36; Gebhard ZILLER, Die EG-politische Mitwirkung des Bundesrates, EBD. S. 89–103. 84 Antrag der Bayerischen Staatsregierung für eine Entschließung des Bundesrates, 23.1.1986, EBD. S. 257f. 85 Zitiert nach: Bayern-Kurier, 17.5.1986. 86 Entschließung des Bundesrates, 21.2.1986, in: R. HRBEK/U. THAYSEN (wie Anm. 83), S. 259–261; Entschließung des Bundesrates, 16.5.1985, EBD. S. 276–282; Günther EINERT, EG-Entwicklung unter Ländervorbehalt, EBD. S. 41–49, hier S. 46–48. 87 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, 2.11.1986, EBD. S. 290–294; das Gesetz zur EEA, 19.12.1986, in: JBEI 1986/87, Bonn 1987, S. 425. 88 Bundestagsrede von Heinz Schwarz, 4.12.1986, BT, Sten. Ber. 10. WP, Bd. 140, S. 19717f., hier S. 19717.
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züglich einen neuen und drängenden Anlauf“ zur europäischen Einigung.89 Am 1. Juli 1987 trat das Abkommen in Kraft. Nicht wenige Forscher haben die Ursprünge der Einheitlichen Europäischen Akte der Weisheit der EG-Kommission und ihres Präsidenten Jacques Delors sowie multinationaler Geschäftsleute zugewiesen. Gibt es auch keinen Grund, dieses Urteil vollends zurückzuweisen, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass über weite Strecken nicht die supra- und transnationalen, sondern die nationalen Handlungsträger im Mittelpunkt des Geschehens standen.90 Einen entscheidenden Anteil am letztlich errungenen Ergebnis besaß die Bundesregierung unter der Leitung Helmut Kohls, was sich auch in der Ähnlichkeit zwischen der Genscher-Colombo-Initiative und der EEA manifestiert. Bonn war maßgeblich an der Formulierung der „Stuttgarter Erklärung“ und, in Kooperation mit Paris, an der Bildung des institutionellen Ausschusses beteiligt; es hatte auf die Annahme des „Dooge-Berichts“ gedrängt und die Einberufung der Regierungskonferenz unterstützt. Je detaillierter der Dooge-Ausschuss aber verhandelte, desto defensiver agierte die Bundesregierung, weil die Fachressorts die von Kanzleramt und Auswärtigem Amt formulierte Position nur bedingt mittragen mochten. Fügt man diesem folglich zwiespältigen Befund noch das hier nicht näher beschriebene, ebenfalls ambivalente Bild über die übrigen Bereiche der Kohlschen Europapolitik in der ersten Hälfte der 1980er Jahren hinzu, fällt es schwer, ihr jene „durchgehende Gradlinigkeit“ zuzugestehen, die Hans-Peter Schwarz jüngst testiert hat. Besaß Helmut Kohl, der zweite Ehrenbürger Europas, tatsächlich schon damals den Ehrgeiz, „dass man sich seiner einst nicht bloß als des Gründungskanzlers des mit viel Glück wieder vereinten Deutschlands erinnere, sondern zugleich als des Gründungsvaters eines wahrhaft vereinten Europas“?91
89 Bundestagsrede Vogels, 4.12.1986, EBD. S. 19718–19721, hier S. 19720f. Zwei Wochen später erfolgte die Zustimmung durch den Bundesrat (Beschluss des Bundesrates, 19.12.1986, in: JBEI 1986/87, S. 423f.) 90 Vgl. George ROSS, Jacques Delors and European Integration, New York 1995, S. 3 und S. 12; A. MORAVCSIK (wie Anm. 4), S. 369–378; Thomas PEDERSEN, Germany, France and the Integration of Europe. A realist interpretation, London und New York 1998, S. 119, Anm. 110. 91 Hans-Peter SCHWARZ, „Die Ära Kohl“, in: FAZ, 18.10.2002, S. 6.
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Deutsch-französische Europapolitik in der Phase der Wiedervereinigung Von Hanns Jürgen Küsters Die Funktionstüchtigkeit der deutsch-französischen Achse gab auch in der Ära Kohl oftmals ein ambivalentes Erscheinungsbild ab. Doch an der Bedeutung der europapolitischen Zusammenarbeit mit Paris ließ Bundeskanzler Kohl in der Phase der Wiedervereinigung keinen Zweifel aufkommen. Allerdings stand das Stimmungsbarometer schon seit geraumer Zeit keineswegs auf hoch. In den entscheidenden Monaten vom Frühjahr 1989 bis zum Herbst 1990 wurde das bilaterale Verhältnis von drei Fragen dominiert: Erstens, kommt die Entscheidung über die Einsetzung einer Regierungskonferenz zum Übergang in die zweite Stufe der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zustande? Zweitens, gelingt es der Bundesregierung, mit dieser Entscheidung Verhandlungen über die institutionelle Reform der EG und die Politische Union zu verknüpfen? Und drittens, wie lässt sich die Vertiefung der europäischen Integration mit dem Wiedervereinigungsprozess in Einklang bringen. Über allem schwebte ab Februar 1990 der deutsch-französische Streit um die Frage des Zeitpunktes der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze des wiedervereinten Deutschland. Umreißen wir zunächst die Ausgangslage, wenden uns dann den Interessenpositionen zu, um anschließend Divergenzen und Kompromisse aufzuzeigen. Implementierung Als sich der Europäische Rat im Februar 1988 auf dem Sondergipfel in Brüssel über die Reform des Finanzsystems, der gemeinsamen Agrarpolitik und der Strukturfonds einigte und die Wirtschaftsintegration mit Einführung des Binnenmarktkonzeptes allmählich reaktivierte, wurde dieser Erfolg maßgeblich der deutschen Präsidentschaft zugeschrieben. Mit großer Energie und geschickter Diplomatie hatte der Vorsitzende Kohl die Europäische Gemeinschaft vor der drohenden Zahlungsunfähigkeit bewahrt. Die Beschlüsse wurden weithin als „Befreiungsschlag“ empfunden, mit denen die seit vier Jahren andauernde schwere Finanz- und Verteilungskrise ihre Ende fand und die fast bis zur Bewegungsunfähigkeit erstarrte Gemeinschaft wieder eine Zukunftsperspektive erhielt. Wenige Monate nach Verabschiedung dieses so genannten Delors-I-Paktes setzte der Europäische Rat auf seiner Tagung im Juni 1988 in Hannover einen Ausschuss unter dem Vorsitz von EG-Kommissionspräsi-
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dent Jacques Delors ein, um die Mittel und Wege zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion konkretisieren zu lassen und damit die Diskussionen um die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung einzuleiten.1 Als Delors am 17. April 1989 seinen Bericht zum Aufbau einer Wirtschafts- und Währungsunion vorlegte,2 über den der Europäische Rat im Juni in Madrid Beschluss fassen sollte, stockte das deutsch-französische Tandem an allen Ecken. Mitterrand war über die Deutschen und die Entwicklung des bilateralen Verhältnisses ziemlich verärgert. Das betraf insbesondere das Vorgehen Bonns bei der Zinserhöhung durch die Bundesbank am Tage der deutsch-französischen Konsultationen, die ohne Vorwarnung erfolgte. Je mehr die deutschen Wirtschaftsdaten steigende Tendenz anzeigten, desto größer war das Interesse in Paris, durch Zusammenarbeit im industriellen Bereich – hauptsächlich bei Zukunftstechnologien wie Telekommunikation und Flugzeugbau – nicht den Anschluss zu verlieren. Angesichts des bevorstehenden Besuchs von Gorbatschow Mitte Juni in Bonn kamen Befürchtungen hinzu, Deutschland könnte sich auf die Dauer verstärkt nach Osteuropa orientieren. Die Bereitschaft des Kanzlers zur finanziellen Unterstützung der Reformpolitik in Polen teilte Mitterrand nur halbherzig. Letztlich stand dahinter die Sorge, durch Bushs Parole „partner in leadership“ animiert, beabsichtige die Bundesregierung eine eigenständigere Rolle in der europäischen Politik zu spielen.3 Vor Beginn der französischen EG-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 1989 brauchte der Elysée-Palast einen möglichst engen Schulterschluss mit Bonn. Mitterrand wollte die Einberufung einer Regierungskonferenz zur Prüfung der Vorschläge Delors’ und zur anschließenden Ausarbeitung der Rechtstexte bereits auf dem Madrider Gipfel vorziehen und den Erfolg als krönenden Abschluss unter seiner Präsidentschaft sicherstellen. Einig waren sich Bonn und Paris darüber, die Sachdebatte und Verfahrenseinleitung im Juni zu betreiben und den Dreistufenplan des Delors-Berichts unbedingt einzuhalten, weil man sonst nicht über die erste unverbindliche Stufe hinauskäme. Uneinigkeit herrschte hinsichtlich der Taktik gegenüber Frau Thatcher. Die französische Regierung rechnete mit hartem Widerstand der eisernen Lady und schloss eine Elf-zu-eins-Konstellation in einem Europa der zwei Geschwindigkeiten nicht
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Vgl. Hans TIETMEYER, Währungsstabilität für Europa, Baden-Baden 1996; Gerhard STOLWendepunkte. Stationen deutscher Politik 1947–1990, Berlin 1999, S. 329. Zu der umstrittenen Frage, ob Kohl oder Bundesaußenminister Genscher in der Implementierungsphase der Einsetzung des Delors-Ausschusses zur Erarbeitung eines neuen Plans für die europäische Wirtschafts- und Währungsunion im ersten Halbjahr 1988 die entscheidende Rolle spielte, vgl. Roland VAUBEL, Geschichtsforschungen zu dem Buch von Kenneth Dyson und Kevin Featherstone, The Road to Maastricht, in: Kredit und Kapital, Heft 3 (2002), S. 460–470. James A. BAKER, III, mit Thomas M. DEFRANK, The Politics of Diplomacy. Revolution, War and Peace 1989–1992, New York 1995, S. 159. TENBERG,
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aus. Die Bundesregierung wollte den Bogen nicht überspannen und den Briten zumindest Gelegenheit geben, noch auf den fahrenden Zug aufzuspringen und sich an der Wirtschafts- und Währungsunion zu beteiligen. Mitterrands Forderung, gemeinsam mit Vollendung des europäischen Binnenmarktes 1992 zu Ergebnissen in der Frage der Wirtschafts- und Währungsunion zu kommen,4 scheiterte am Widerstand Thatchers, die jede zeitliche Limitierung ablehnte. Mitterrand reichte eine Verständigung über den zeitlichen Ablauf. Die Festlegung eines konkreten Termins brauche nicht zu erfolgen, deutete er gegenüber dem Kanzler an. Beiden war wichtig, an dem Gesamtprozess festzuhalten. Mit der ersten Stufe am 1. Juli 1990 zu beginnen ohne Engagement für den Übergang zur zweiten und dritten Stufe, schien Mitterrand sinnlos. So erreichte er nicht sein eigentliches Ziel: die Deutsche Mark in eine europäische Währung einzubinden. Schließlich verständigte sich der Europäische Rat darauf, mit Vorarbeiten für die Einberufung einer Regierungskonferenz zur Festlegung der anschließenden Stufen sofort zu beginnen, vermied jedoch die Fixierung eines Datums. Die Konferenz sollte zusammentreten, sobald die erste Stufe begonnen habe. In Aussicht genommen war, im Zusammenhang mit der geplanten Regierungskonferenz über eine mögliche Änderung der Römischen Verträge zu verhandeln, die zur Schaffung der einheitlichen Währung und der notwendigen Organe und Strukturen erforderlich wäre.5 Damit eröffnete sich die Möglichkeit zu Diskussionen über institutionelle Reformen. Für den Kanzler war zunächst ausschlaggebend, dass die Arbeiten an der Wirtschafts- und Währungsunion auf der Grundlage der in der Bundesrepublik „bewährten geld- und währungspolitischen Strukturen erfolgen“ sollten. Die Bundesbank würde Vorbild für die Errichtung einer unabhängigen, der Geldwertstabilität verpflichteten Europäischen Zentralbank sein, verkündete er stolz.6 Weitere Ursachen für die andauernde schlechte deutsch-französische Stimmung waren ausbleibende Erfolge bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Stichwort: Aufbau einer deutsch-französischen Brigade – und der nuklearpolitischen Zusammenarbeit. Nach dem deutsch-französischen Gipfel vom April 1989 fortgesetzte Verhandlungen zur weiteren Konkretisierung der Zusage Mitterrands, vor einem Einsatz französischer prästrategischer Nuklearwaffen den Kanzler zu konsultieren, waren bislang ergebnislos verlaufen. Dementsprechend enttäuscht zeigte sich das Bundeskanzleramt über die ausgebliebenen Fortschritte. Der Grund lag hauptsächlich in den Auffassungs-
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Jacques ATTALI, Verbatim. Bd. 3: Chronique des années 1988–1991, Paris 1995, S. 269f. Europäischer Rat in Madrid, Tagung der Staats- und Regierungschefs der EG am 26./27. Juni 1989, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, in: Bulletin PIB, Nr. 69, 30. Juni 1989, S. 605–612. Erklärung Kohls zur Sitzung des Europäischen Rates in Madrid, 28. Juni 1989, EBD. S. 612.
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unterschieden beider Seiten über die Rolle der Generalstabschefs und Meinungsverschiedenheiten, ob die Vorverlegung französischer prästrategischer Waffen auf deutschem Boden nur nach vorheriger Zustimmung der Bundesregierung erfolgen solle, wie die Deutschen forderten, oder lediglich aufgrund faktisch unverbindlicher Konsultation, wie die Franzosen meinten.7 Zu alledem waren gemeinsame Bemühungen um eine Steuerharmonisierung und andauernde Schwierigkeiten auf dem Weg zur Fusionskontrolle im EG-Rahmen vorläufig gescheitert. Die damalige Stärke der D-Mark erzeugte obendrein einen heftigen Aufwertungsdruck, der in Frankreich den Ruf nach einer expansionistischeren Finanzpolitik laut werden ließ. Jede Aufwertung der D-Mark, so beschwor Ministerpräsident Rocard den Kanzler, werde als Abwertung des Franc angesehen, selbst wenn die Parität des Franc im Verhältnis zu den anderen Währungen des Europäischen Währungssystems unverändert bliebe. Der Kanzler suchte gegenüber Mitterrand die in Paris umlaufenden Gerüchte herunterzuspielen. Denn die Unsicherheit, wie es mit der deutschen Frage weitergehe, schürte vor allem im Quai d’Orsay Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Beteuerungen Kohls zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.8 Interessenlage Was intendierte Mitterrand, und was wollte Kohl erreichen? Das Bundeskanzleramt erhoffte sich von dem bevorstehenden 54. deutsch-französischen Konsultationen am 2./3. November 1989 in Bonn und dem Straßburger EG-Gipfel im Dezember ein klares Signal eines engen bilateralen Zusammenhalts in allen Kernfragen der Europapolitik. Das schloss sowohl das Engagement für die Vertiefung des Integrationsprozesses als auch die koordinierte Hilfe für Osteuropa ein. Kohl wollte Mitterrand mit ins Boot holen. Im Oktober ließ der Kanzler Mitterrand durch Bitterlich mitteilen, der Straßburger Ratsgipfel könne den Beginn der Regierungskonferenz für das zweite Halbjahr 1990 ankündigen, die Ratifizierung der Abkommen solle bis 1992 erfolgen. Dabei wies er auf die Notwendigkeit der Errichtung einer Europäischen Zentralbank hin.9 Darüber aber wollte die französische Regierung tunlichst nicht sprechen, weil die Unabhängigkeit der Nationalbank für sie ein Anathema war. Mitterrand erkannte in der Wirtschafts- und Währungsunion die einmalige Chance, Deutsche Mark und französischen Franc in einen festen Wechselkurs zu bringen und die Entwicklung der französischen Wirtschaft an die der deutschen Wirt-
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Note Hartmann an Kohl betreffend Gesprächsführungsvorschlag für Treffen am 24. Oktober 1989 in Paris, 20. Oktober 1989; Bundeskanzleramt, Registratur [BK], 211-30104 F 2 Fr 24, Paris 24. Okt. 1989. Hans-Dietrich GENSCHER, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 662. J. ATTALI (wie Anm. 4), S. 321.
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schaft zu ketten. Ihm kam es darauf an, möglichst schnell die Bundesregierung zur Aufgabe ihrer starken Währung zugunsten einer gemeinsamen europäischen Währung zu veranlassen.10 Welche Absprachen Kohl und Mitterrand bei ihrem abendlichen Treffen am 24. Oktober 1989 im Hinblick auf den Straßburger Gipfel trafen, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Fest steht jedoch: Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion bedeutete für den Kanzler keineswegs das Endziel der Integration. Die Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion sollten an die Einberufung einer Regierungskonferenz über institutionelle Reformen der EG mit dem Ziel einer Politischen Union gekoppelt und somit die reservierte Haltung des französischen Präsidenten aufgebrochen werden. Schon Ende Mai 1989 hatte der Kanzler Bush11 prophezeit, nach 1992 werde es „die eigentlich große Diskussion geben, ob man bei der wirtschaftlichen Integration stehen bleiben solle oder im Sinn der Römischen Verträge zur staatlichen Integration weitergehen wolle“.12 Kohl suchte den Einstieg in die Diskussion um die Politische Union. Frühestens Ende 1990 sollte eine Regierungskonferenz einberufen werden, die sich mit der institutionellen Weiterentwicklung, vor allem den Rechten des Europäischen Parlaments, befassen würde.13 Mehrere Konferenzen und Ratifizierungsverfahren einzuleiten hatte wenig Sinn, wurde aber im Kanzleramt nicht prinzipiell ausgeschlossen.14 Bei den deutsch-französischen Konsultationen Anfang November pochte der Kanzler darauf, dass der Straßburger Gipfel eine erste Aussprache über die Finalität der Gemeinschaft führen müsse. Zum einen konnten die nächsten Europa-Wahlen 1994 seiner Auffassung nach nicht abgehalten werden, ohne dem Europäischen Parlament mehr Kompetenzen zu übertragen. Zum anderen brauchte der Kanzler den Einstieg in die Diskussionen um institutionelle Reformen zur Ruhigstellung innenpolitischer Kritiker der Wirtschafts- und Wäh10 Joachim BITTERLICH, Frankreichs (und Europas) Weg nach Maastricht im Jahr der Deutschen Einheit, in: Werner ROUGET, Schwierige Nachbarschaft am Rhein. Frankreich– Deutschland, hg. von Joachim BITTERLICH/Ernst WEISENFELD, Bonn 1998, S. 112–123, hier S. 115; Horst TELTSCHIK, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 61. 11 Zu dessen Rolle im Wiedervereinigungsprozess aufgrund ausgewerteter Akten der BushAdministration vgl. Michael COX/Steven HURST, ‘His Finest Hour?’ George Bush and the Diplomacy of German Unification, in: Diplomacy and Statecraft, Bd. 13 (2002) 4, S. 123–150. 12 Aufzeichnung Gespräch Kohl–Bush, 30. Mai 1989, in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (Dokumente zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs), bearb. von Hanns Jürgen KÜSTERS und Daniel HOFMANN, München 1998, S. 271–276, hier S. 275. 13 J. BITTERLICH (wie Anm. 10), S. 114f. 14 Vorlage Hartmann an Kohl, Treffen mit dem französischen Staatspräsidenten am 24. Oktober 1989 in Paris, Gesprächsführungsvorschlag, 20. Oktober 1989; BK, 211-30104 F 2 Fr 24, Paris 24. Okt. 1989.
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rungsunion, die einen Stabilitätsverfall befürchteten.15 Die französische Regierung zeigte aber so gut wie kein Interesse an einer politisch-institutionellen Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften und noch weniger an der Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlaments.16 Der Fall der Mauer engte fortan den Handlungsspielraum des Kanzlers ein. Er musste den Staats- und Regierungschefs der EG die Vereinbarkeit der Veränderungen im innerdeutschen Verhältnis und eine vertiefte Integration plausibel machen. Die Überwindung der Teilung Deutschlands sollte mit der Überwindung der Teilung Europas im Rahmen einer stabilen Friedensordnung einhergehen.17 Dazu galt es, die drei Ziele, europäische Wirtschafts- und Währungsunion, Politische Union und Unterstützung des Reformprozesses in Mittel- und Osteuropa, in Einklang zu bringen. Hinsichtlich der Vereinbarkeit von deutscher Frage und europäischer Integration gab es für Kohl kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch – sowohl das Streben der Deutschen nach der Einheit als auch ihre Integration in die EG.18 Wollte Kohl Zweifel an der westlichen Bündnistreue der Deutschen im Vorhinein ausschalten, kam es nun mehr denn je darauf an, Mitterrand nachzuweisen, dass die Bundesregierung den europäischen Integrationsprozess nicht aus den Augen verliere. Den Präsidenten dagegen plagten erhebliche Zweifel und Ängste, ob ein wiedervereintes Deutschland Mitglied der westeuropäischen Gemeinschaft bleiben würde.19 Dissens Der Briefwechsel des Kanzlers mit Mitterrand Anfang Dezember ließ den eigentlichen deutsch-französischen Dissens erkennen. In seinem Schreiben an Mitterrand am 27. November20 versuchte Kohl, mit der geplanten Regierungskonferenz über die Wirtschafts- und Währungsunion die Diskussion über die politische Finalität des europäischen Einigungsprozesses, insbesondere der Verankerung demokratischer Rechte zur Stärkung des Europäischen Parlaments, weiter voranzutreiben. Letztlich ging es um den Einstieg in echte Verhandlungen über die Politische Union. Für den Erfolg, den der französische Präsident als amtierender Vorsitzender des Europäischen Rates in Straßburg mit dem Beschluss über die Einberufung einer Regierungskonferenz über die 15 54. Deutsch-französische Konsultationen in Bonn, 2./3. November 1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 470–476, hier S. 472f. 16 Vorlage Bitterlich an Kohl, 2./3. Dezember 1989, EBD. S. 596–598, hier S. 597. 17 Vorlage Teltschik (Bitterlich) an Kohl, 17. November 1989, EBD. S. 541–546. 18 Aufzeichnung Gespräch Kohl–Delors in Bonn, 5. Oktober 1989, EBD. S. 443–447. 19 H.-D. GENSCHER (wie Anm. 8), S. 678. 20 Schreiben Kohl an Mitterrand, 27. November 1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 565f.; H. TELTSCHIK (wie Anm. 10), S. 54.
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weiteren Stufen der Wirtschafts- und Währungsunion einheimsen würde, wollte der Kanzler dessen Zustimmung zu einer parallelen Regierungskonferenz über institutionelle Reformen der EG einkaufen. Der beigefügte Entwurf eines Arbeitskalenders für das weitere Vorgehen bis 199321 sah die Entscheidung über die Einsetzung der Regierungskonferenz Mitte Dezember 1990 vor, deren erster Teil mit Arbeiten zur Wirtschafts- und Währungsunion Anfang 1991 beginnen sollte. Punkt 4 enthielt zudem den Vorschlag, für einen zweiten Teil der Regierungskonferenz einen Auftrag „für die weiteren institutionellen Reformvorhaben“ durch den Europäischen Rat „bis Dezember 1991“ zu verabschieden. Beide Teile der Regierungskonferenz sollten ihre Arbeiten im Jahre 1992 abschließen. Der Europäische Rat könnte dann „im Juni 1992 oder spätestens im Dezember 1992“ die Vollendung des Binnenmarktes und die notwendigen „institutionellen Vorkehrungen“ beschließen. Die folgende Ratifizierung der Verträge durch die nationalen Parlamente könnte damit vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai/Juni 1994 abgeschlossen sein und ihnen neue Schubkraft verleihen. Diesem Zeitplan lag ein ausgetüfteltes Timing zugrunde. Das Bundeskanzleramt rechnete damit, einem möglichen französischen Druck nichts entgegensetzen zu können, wenn sich Paris den zeitlichen Vorstellungen des Abschlusses der Regierungskonferenz im Laufe des Jahres 1991 unter luxemburgischer oder niederländischer Präsidentschaft anschlösse. Doch würde sich eine Verzögerung bei der Ratifizierung ab Anfang 1993 für die Franzosen kontraproduktiv auswirken. Dann stünde die Entscheidung über den Übergang in die zweite Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion bevor und bedürfte der Einwilligung der Bundesregierung. Dem deutschen Junktim lagen im Wesentlichen drei Motive zugrunde: Zum einen wollte das Bundeskanzleramt der Wirtschafts- und Währungsunion nur zustimmen, wenn gleichzeitig Klarheit über die institutionellen Voraussetzungen bestünden, sprich: die Errichtung einer von den Regierungen der Mitgliedstaaten unabhängigen Europäischen Zentralbank. Zum anderen knüpfte es daran die Erwartung, den Einstieg in eine substantielle Diskussion über die politische Gestalt der Europäischen Gemeinschaften zu erreichen.22 Kohl legte Mitterrand deshalb nahe, in Straßburg eine erste informelle Aussprache über die institutionellen Konsequenzen zu führen. Doch gingen die Meinungen darüber zwischen Kanzleramt und Elysée-Palast auseinander. Mitterrand zielte auf eine definitive Entscheidung beim Straßburger Gipfel, dass die Regierungskonferenz zur Vorbereitung der zweiten und dritten Stufe im Oktober 1990 unter italienischem Vorsitz ihre Arbeit aufnehmen und damit 21 EG-Gipfel-Konferenz am 8. und 9. Dezember 1989. Arbeitskalender für das weitere Vorgehen bis 1993, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 566f. 22 Aufzeichnung Gespräch Kohl–Delors in Bonn, 5. Oktober 1989, EBD. S. 443–447.
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die Beschlüsse von Madrid konkretisieren würde.23 In dem Vorschlag, institutionelle Reformen in Angriff zu nehmen, vermutete Mitterrand mehr ein Ablenkungsmanöver und eine Verzögerungstaktik der Deutschen, die in seinen Augen zu diesem Schritt vielleicht doch nicht bereit wären.24Angesichts der prekären Lage in Deutschland wäre es jedoch für Kohl töricht gewesen, den Konflikt zu schüren.25 Die Auseinandersetzung darüber, ob am Jahresende 1990 eine Regierungskonferenz eingesetzt würde, war keineswegs nur eine „Symbolfrage“, wie Genscher später behauptete.26 Hinter den Meinungsverschiedenheiten zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt, ob sich die Bundesregierung auf eine solche Erklärung festlegen sollte, verbargen sich offenkundig divergierende Taktiken und Ziele hinsichtlich der weiteren Integrationsfortschritte und deren deutschlandpolitischen Rückwirkungen. Auf dem Straßburger Gipfel am 8. Dezember 1989 erwartete den Kanzler wegen seines Alleingangs bei der Verkündung des Zehn-Punkte-Programms eine „eisige Atmosphäre“.27 Von allen Seiten wurde er mit Fragen nach seinen Vorstellungen über die Wiedervereinigung bombardiert. Sein Engagement für weitere Einigungsschritte, hohe Beitragszahlungen der Deutschen in den EGHaushalt und die nuancierte Abstimmung des deutschen Einigungsprozesses mit den geplanten Fortschritten zur Wirtschafts- und Währungsunion wie zur Politischen Union spielten in diesem Moment keine Rolle. Hinter aller Skepsis Mitterrands, Thatchers und der meisten anderen EG-Regierungschefs stand letztlich die Gretchenfrage: Wie hält das wiedervereinigte Deutschland es mit der Westintegrationspolitik? Obwohl sich Kohl in den Beratungen aufs Neue für die Aufnahme der Diskussion über die Politische Union aussprach,28 enthielt das Schlusskommuniqué lediglich den Hinweis, vor Ende 1990 werde eine Regierungskonferenz einberufen. Tagesordnung und Beratungszeitplan sollte die Konferenz selbst festlegen.29 Mit anderen Worten: Ein genauer Konferenzbeginn stand immer 23 Schreiben Kohl an Mitterrand, 5. Dezember 1989, EBD. S. 614f. Dazu auch H. TELTSCHIK (wie Anm. 10), S. 68f. 24 J. BITTERLICH (wie Anm. 10), S. 115. Zu Mitterrands Misstrauen: H. TELTSCHIK (wie Anm. 10), S. 61. 25 Aufzeichnung Arbeitsfrühstück Kohl mit Mitterrand in Straßburg, 9. Dezember 1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 628–631. 26 Dazu Äußerung Genschers: Roland DUMAS/Hans-Dietrich GENSCHER/Hubert VÉDRINE, Frankreichs Deutschlandpolitik 1989/90 im Rückblick, in: Brigitte SAUZAY/Rudolf VON THADDEN (Hg.), Mitterrand und die Deutschen (Genshagener Gespräche, Bd. I), Göttingen 1998, S. 27. 27 Helmut KOHL, „Ich wollte Deutschlands Einheit“, dargestellt von Kai DIECKMANN und Ralf Georg REUTH, Berlin 1996, S. 194f. 28 J. BITTERLICH (wie Anm. 10), S. 116. 29 Europäischer Rat in Straßburg, Tagung der Staats- und Regierungschefs der EG am 8. und 9. Dezember 1989, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, in: Bulletin PIB, Nr. 147, 19. Dezember 1989, S. 1241–1248, hier S. 1243.
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noch nicht fest, und der Beratungsgegenstand war weiterhin offen. Nach zähen Beratungen30 erreichte Kohl eine gewisse Unterstützung der EG-Partner für das Wiedervereinigungsziel mit dem Bekenntnis, einen Zustand des Friedens in Europa anzustreben, „in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.31 Verschiedentlich wird behauptet, der Kanzler habe als Preis für die Wiedervereinigung nicht nur der deutschen NATO-Mitgliedschaft zugestimmt, sondern auch die D-Mark – das Symbol deutscher Wirtschaftskraft schlechthin – zugunsten einer europäischen Währung hergegeben und damit die Zustimmung Mitterrands eingehandelt. Umgekehrt habe dieser das schnelle Ende der D-Mark als Gegenleistung für die deutsche Einheit erzwungen, und zwar „weit früher und unter anderen Bedingungen, als er je geplant hatte, und nicht einmal für die Wiedervereinigung, sondern für die damals nur vage Aussicht auf eine deutsch-deutsche Konföderation“.32 Als Beleg dient die Äußerung des Kanzlers gegenüber dem amerikanischen Außenminister James Baker am 12. Dezember 1989 in West-Berlin: „Diesen Entschluss“ zur Wirtschafts- und Währungsunion „habe er“, der Bundeskanzler, „gegen deutsche Interessen getroffen“.33 Im Hinterkopf dürfte er hier die kritischen, ja teils ablehnenden Stimmen aus den Reihen der Bundesbank und des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage gehabt haben. Übrigens äußerten sich beide Gremien im Februar/März 1990 nicht weniger kritisch gegenüber der deutsch-deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion.34 Tatsache ist: Der Kanzler war schon lange vor dem Mauerfall und der Entwicklung zur deutschen Einheit fest entschlossen, die D-Mark in eine europäische Währung aufgehen zu lassen. Jedoch wollte er für seine Zustimmung Konzessionen der übrigen EG-Staaten, insbesondere des zögerlichen Mitterrand, einhandeln und die Politische Union voranbringen.
30 Zu den schwierigen Beratungen über das Schlusskommuniqué: Äußerungen Dumas’ und Genschers: DUMAS/GENSCHER/VÉDRINE (wie Anm. 26), S. 23f., 27; J. ATTALI (wie Anm. 4), S. 372; Roland DUMAS, Le Fil et la Pelote. Mémoires, Paris 1996, S. 340. 31 Erklärung zu Mittel- und Osteuropa, in: Bulletin PIB, Nr. 147, 19. Dezember 1989, S. 1245f., hier S. 1246. 32 „Dunkelste Stunden“, in: Der Spiegel, Nr. 18, 27. April 1998, S. 108–112. 33 Aufzeichnung Gespräch Kohl–Baker in Berlin (West), 12. Dezember 1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 638. 34 Schreiben des Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage, Schneider, an Kohl, 9. Januar 1990, EBD. S. 778–781. Schreiben Bundesbankpräsident Pöhl an Kohl, 30. März 1990, EBD. S. 1002f.
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Kompromisssuche Kohl versicherte Mitterrand beim Treffen am 4. Januar 1990 in Latché, auch ein wiedervereinigtes Deutschland werde an der europäischen Integration festhalten. Der Bundeskanzler gab Mitterrand Rückversicherungen: in Form eines gemeinsamen Vorgehens bei der deutschen Einheit, in Fragen der europäischen Einigung und hinsichtlich des Fortbestandes der deutsch-französischen Beziehungen. Beide stimmten überein, nötig sei eine Wiedervereinigungsstrategie und eine Strategie für Europa. Offen fragte Mitterrand nach der EG-Erweiterung. Was solle mit Staaten wie Ungarn, Polen, Tschechoslowakei, Österreich geschehen und was mit der Türkei? „Die EG könne sie nicht alle aufnehmen“, meinte der Präsident. Kohl entgegnete dem nichts.35 Trotz der Wiederannäherung brodelte es unter der Decke weiter. Ausschlaggebend waren hauptsächlich drei Gründe: Erstens machte sich der französische Präsident die Forderung Polens nach Abschluss eines Vertrag über die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze vor Vollendung der Wiedervereinigung zu Eigen und brachte damit den Kanzler in arge Bedrängnis. Zweitens war vollkommen unklar, mit welchen inhaltlichen Fragen sich die Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion und die Politische Union beschäftigen sollten und drittens wie beide aufeinander abgestimmt würden. Mitterrands Zustimmung zur Wiedervereinigung war jedenfalls nur über eine enge bilaterale Zusammenarbeit und Stärkung der EG zu bekommen. Deshalb wollte der Kanzler bei seinem Besuch am 15. Februar in Paris36 mit ihm zunächst einen Sondergipfel des Europäischen Rates nach den freien Wahlen am 18. März in der DDR vereinbaren, auf dem die Beschlüsse von Straßburg und damit beide Projekte – Wirtschafts- und Währungsunion und Verhandlungen über die Politische Union – „gemeinsam“ vorangebracht werden sollten.37 Mitterrand unterstrich die Notwendigkeit einer Stärkung der Europäischen Gemeinschaften und sprach auch von der „Perspektive der Konföderation, die noch gefunden werden müsse“. Doch drängte er, die Regierungskonferenz über die Wirtschafts- und Währungsunion vorzuziehen. Damit wäre das deutsche Junktim aufgebrochen und beide Sujets entkoppelt worden, was der Kanzler ablehnte.38
35 Aufzeichnung Gespräch Kohl–Mitterrand in Latché, 4. Januar 1990, EBD. S. 682–690, hier S. 687. 36 Aufzeichnung Gespräch Kohl–Mitterrand, Paris, 15. Januar 1990, EBD. S. 842–852; TELTSCHIK (wie Anm. 10), S. 151. 37 J. BITTERLICH (wie Anm. 10), S. 118. 38 Aufzeichnung Gespräch Kohl–Mitterrand, Paris, 15. Januar 1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 851.
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Eine wichtige Stütze für Helmut Kohl stellte in diesen Tagen Jacques Delors dar.39 Auch dessen Strategie zielte auf eine möglichst weitgehende Einbindung der DDR.40 Als Ergebnis des EG-Sondergipfels schwebte ihm die neuerliche Bekräftigung der beiden Integrationsziele vor, verbunden mit einem Signal an die Menschen in der DDR, sie würden bald Mitglied der EG sein. Damit sicherte er sich die Unterstützung des Kanzlers und band das vereinte Deutschland eng an die Europäischen Gemeinschaften. Kohl bekräftigte gegenüber Delors am 23. März 1990 in Brüssel, seine Straßburger Initiative zum Ausbau und zur Verstärkung der Politischen Union auf dem Dubliner Gipfel im April weiter zu verfolgen. Ob im Rahmen der Regierungskonferenz oder in einer parallelen zweiten Konferenz ließ er offen. Es sei das beste Instrument, bestehende Ängste der Nachbarn abzubauen und um Vertrauen zu werben, damit Deutschland vom Image der Dampfwalze und dem Gespenst eines heraufziehenden „Vierten Reiches“ wegkomme.41 Institutionelle Umgestaltungen der EG, darüber war man sich im Bundeskanzleramt einig, konnten nur bei vorheriger deutsch-französischer Verständigung Erfolg haben.42 Grundelemente der Initiative zur Politischen Union standen schon seit Februar auf dem Papier.43 Der Kanzler gab Anfang April grünes Licht für weitere Abstimmungen der „Elemente von Schlussfolgerungen“ mit dem Mitarbeiterstab um Mitterrand.44 Je konkreter es aber um Textformulierungen ging, desto deutlicher kristallisierten sich Vorbehalte Mitterrands gegen substantielle Diskussionen über institutionelle Reformen und eine Politische Union heraus. Präsidentenberaterin Mme. Guigou regte an, auf dem Gipfel in Dublin die Außenminister zu beauftragen, einen Bericht vorzulegen, bei dessen Abfassung Bonn und Paris konzertiert vorgehen sollten. Das turnusmäßige EG-Gipfeltreffen Mitte Juni in Dublin würde dann über das Prozedere zur Vorbereitung der Regierungskonferenz entscheiden. Bitterlich vermutete richtig: Die Franzosen suchten sich aus der gemeinsamen Initiative herauszuwinden. Allzu deutlich waren Auffassungsunterschiede, Animositäten und administrative Rivalitäten spürbar. Als Ergebnis der 55. deutsch-französischen Konsultationen richteten Kohl und Mitterrand am 18. April gemeinsam 39 Zu deren Verhältnis vgl. Jacques DELORS, Realist und Visionär. Zur Europapolitik Helmut Kohls, in: Die Politische Meinung, Nr. 389 (2002), S. 71–77. 40 J. BITTERLICH (wie Anm. 10), S. 117. 41 Vermerk, Gespräche Kohl mit Kommissions-Präsident Delors und der Kommission am 23. März 1990, 26. März 1990; Bundesarchiv, B 136/30060. 42 Vorlage Teltschik an Kohl, Vorbereitung Sondertagung Europäischer Rat Dublin 28. April 1990, Deutsch-französische Initiative, 3. April 1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 1005f. 43 J. BITTERLICH (wie Anm. 10), S. 119. 44 Wesentliche Elemente von Schlussfolgerungen der Sondertagung des Europäischen Rates am 28. April 1990 in Dublin zur Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses, 3. April 1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 1006f.
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ein Schreiben an den irischen EG-Ratsvorsitzenden Haughey,45 das von Kompromissen nur so wimmelte. Beide setzten sich für die beschleunigte Vorbereitung der Bildung einer Europäischen Union ein, die gleichzeitig zu der geplanten Regierungskonferenz über die Wirtschafts- und Währungsunion in Angriff genommen werden und zum 1. Januar 1993 in Kraft treten sollte. Damit war der von den Deutschen intendierte Gleichschritt in Bezug auf das Enddatum zwar erhalten geblieben, aber von dem ursprünglichen Ziel, eine Grundsatzdiskussion über die politische Finalität der EG oder gar eine europäische Verfassungsdebatte in Gang zu setzen, hatten die Deutschen Abstand nehmen müssen. Angestrebte Ziele waren reduziert und weitgehend unverbindlich formuliert worden. So sollte die demokratische Legitimation der Union gestärkt, ihr institutionelles System wirksamer ausgestaltet, die Einheit der Union auf den Gebieten Wirtschaft, Währung und Politik gesichert und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Aussicht genommen werden. Von den französischen Überlegungen zur „Europäischen Konföderation“ war keine Rede mehr. Vielmehr hatten die Franzosen ihren Verfahrensvorschlag durchgesetzt, dem Europäischen Rat im Juni 1990 einen Bericht vorzulegen und den Schlussbericht für die Tagung des Europäischen Rates im Dezember in Rom zu erarbeiten. Das Bundeskanzleramt hoffte, sein Junktim Wirtschafts- und Währungsunion und Politische Union mit Hilfe paralleler Regierungskonferenzen noch aufrechtzuerhalten. Hinter den Kulissen des Dubliner Sondergipfels am 28. April 1990 stand jedoch eine ganz andere Frage im Vordergrund: Wie schnell würde das vereinte Deutschland mit der D-Mark in eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion eingebunden? Letztlich waren sich die Teilnehmer nur in einem Punkt weitgehend einig: Deutsche Einheit und europäische Integration mussten eng miteinander verknüpft werden.46 Mit Beginn der ersten Übergangsstufe am 1. Juli war der erste Schritt dazu getan. Nicht zufällig wurde am gleichen Tag die D-Mark in der DDR eingeführt und eine wichtige Etappe auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands erreicht. Als Kompromiss der Bemühungen um die Politische Union kam das besagte Mandat für die Außenminister heraus.47 Am 25./26. Juni sollte dann die institutionelle Reform im Hinblick auf die Entscheidung über die Durchführung einer zweiten Regierungskonferenz, die parallel zur Regierungskonferenz über die Wirtschaftsund Währungsunion und mit gleichem Zeitziel – 31. Dezember 1992 – stattfinden könnte, erörtert werden.
45 Botschaft Kohl und Mitterrand an Haughey, 18. April 1990, in: EA, 45 (1990), D283. 46 H. KOHL (wie Anm. 27), S. 358; H. TELTSCHIK (wie Anm. 10), S. 208. 47 Europäischer Rat in Dublin, Sondertagung der Staats- und Regierungschefs der EG am 28. April 1990, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, in: Bulletin PIB, Nr. 51, 4. Mai 1990, S. 401–404.
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Kohls Zugeständnis bestand in seinem Einverständnis, Entscheidungsoptionen im zweiten Vorbereitungstakt von Juli bis Dezember mit Blick auf den Gipfel am Jahresende in Rom zu erarbeiten und mit der weiteren Vorbereitung die Außenminister zu beauftragen. Faktisch bedeuteten die Vereinbarungen eine Vertagung der Entscheidung über die Einberufung des zweiten Abschnitts der Regierungskonferenz. Zudem blieben weitere Vorbereitungen für die zweite Jahreshälfte offen. Dem deutschen Junktim war somit zu einem gut Teil der Boden entzogen worden. Während die französische Regierung die prozedurale Kontinuität der Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion gesichert hatte, war der parallele Einstieg in die institutionellen Verhandlungen zunächst hinausgezögert worden. Der Bundesregierung kam es deshalb darauf, beim zweiten Dubliner Gipfel die Entscheidung über die Einberufung der zweiten Regierungskonferenz zu treffen bzw. sie zumindest bis Dezember 1990 offen zu halten, wenn über den weiteren Fortgang insgesamt entschieden würde. Bis Ende 1991 die Verfassung von Europa im Sinne einer Endstufe des Ausbaus der EG zu erreichen, rückte in weite Ferne.48 Realistisch betrachtet, konnte es sich nur um einen erneuten Zwischenschritt auf dieses Ziel hin handeln. Eine angepasste Zieldefinition war erforderlich. Aus deutscher Sicht sollte nun zumindest ein neuer wesentlicher Integrationsschritt angepeilt werden, der in einem Vertrag als Ganzes die Römischen Verträge neu fassen oder ergänzen würde. Während die französische Regierung von zwei oder drei Verträgen zur Herausbildung von zwei oder drei Gemeinschaften sprach – also die drei klassischen Europäischen Gemeinschaften neben der Wirtschafts- und Währungsunion sowie einer außen- und sicherheitspolitischen Union, vereint unter dem Dach des Europäischen Rates –, plädierten die Deutschen für einen einzigen Vertrag. Der Kanzler stellte sich nicht vollends gegen die französische Option und hielt damit seine Position geschmeidig. Die Schwerpunkte institutioneller Reformvorstellungen des Kanzlers lagen also vornehmlich bei der Stärkung einiger Rechte des Parlaments und der Kommission. Ein großer Wurf war aber nicht mehr realisierbar. Dafür blieben seine Vorstellungen bei der Lösung konkreter Probleme zu weit hinter den Erfordernissen zurück. Er verhielt sich pragmatisch, strebte zunächst das vermeintlich Realisierbare an, ohne das langfristige Ziel aus den Augen zu verlieren. Zu weitgehende Schritte hätten sowohl die deutsche Bevölkerung wie den französischen Nachbarn überfordert. Das sahen auch glühende Integrationsanhänger im Kanzleramt ein. Wenn die Franzosen nicht für dieses Ziel gewonnen waren, blieben weitere Vorstöße zwecklos.
48 J. BITTERLICH (wie Anm. 10), S. 122.
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Gemeinsame Beschlüsse Nachdem sich nur begrenzt institutionelle Reformen abzeichneten, erzielten Kohl und Mitterrand am 22. Juni während einer Schiffstour auf dem Rhein49 Einvernehmen, eine Entscheidung über die Einberufung einer Regierungskonferenz zur Politischen Union herbeizuführen und den Termin für die Konferenz zu konkretisieren. Der Europäische Rat terminierte am 25./26. Juni50 den Beginn der Regierungskonferenz für die zweite Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion auf den 13. Dezember 1990 mit dem Ziel eines Abschlusses vor Ende 1992. Darüber hinaus fiel die Entscheidung, nach Artikel 236 EG-Vertrag eine Regierungskonferenz über die Politische Union einzuberufen und am 14. Dezember 1990 auf der Grundlage der Vorarbeiten der Außenminister zu eröffnen. Die Konferenz sollte ihre Arbeiten so rechtzeitig abschließen, „damit deren Ergebnisse von den Mitgliedstaaten vor Ende 1992 ratifiziert werden“ könnten. Der Bericht der Außenminister steckte den Arbeitsrahmen ab. Nunmehr lief alles darauf hinaus, die Effizienz und Wirksamkeit der Arbeit der EG und ihrer Organe auf den Prüfstand zu stellen und in Teilen die bisher erreichte funktionale Zusammenarbeit völkerrechtlich festzuschreiben.51 Auf der Sondertagung am 27./28. Oktober 1990 in Rom einigte sich der Europäische Rat zunächst auf den 1. Januar 1994 als Beginn der zweiten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion mit Schaffung einer Europäischen Zentralbank. Dem weiteren Terminplan, spätestens drei Jahre nach dem Beginn der zweiten Stufe bereits den Übergang in die dritte, endgültige Stufe zu prüfen, stimmte lediglich Großbritannien nicht zu.52 Doch auch die französische Regierung machte vornehmlich aus innenpolitischen Gründen deutlich, es werde noch ein langer Weg sein, bis die Nationalstaaten ihr Mitspracherecht in einer Politischen Union aufgäben.53 Vor dem nächsten Ratsgipfel am 14./15. Dezember 1990 in Rom schlug der Kanzler zwar wieder eine deutsch-französische Initiative vor,54 die sich auf die Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen, Stärkung demokratischer Legitimität durch eine europäische Staatsbürgerschaft, mehr Rechte für das
49 Aufzeichnung Gespräche Kohl–Mitterrand in Assmannshausen und auf dem Rhein, 22. Juni 1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 12), S. 1247–1249. 50 Europäischer Rat in Dublin, Tagung der Staats- und Regierungschefs am 25./26. Juni 1990, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, in: Bulletin PIB, Nr. 84, 30. Juni 1990, S. 717–732. 51 Anlage I Politische Union, EBD. S. 723f. 52 Europäischer Rat in Rom, Sondertagung der Staats- und Regierungschefs der EG am 27./ 28. Oktober 1990, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EBD. Nr. 128, 6. November 1990, S. 1333–1339. 53 J. ATTALI (wie Anm. 4), S. 613f. 54 EBD. S. 651.
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Europäische Parlament und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bezogen.55 Von dem großen Durchbruch zur umfassenden institutionellen Reform war aber nur ein auf wenige Punkte begrenztes Mandat für die Regierungskonferenz übrig geblieben. Immerhin stand das Thema nun fest auf der Tagesordnung europäischer Integrationspolitik. Resümee Die Strategie des Kanzlers – Aufgabe der D-Mark gegen Zustimmung Mitterrands zum Durchbruch in Fragen der Politischen Union – ging nur zum Teil auf. Die Bundesregierung war nach Zustimmung der Westmächte zur deutschen Einheit nicht in der Lage, weiter gehende Unterstützung von Frankreich für den Einstieg in umfassende institutionelle Gemeinschaftsreformen zu erwirken. An einer substantiellen politischen Reform zeigte die französische Regierung kein sonderliches Interesse. Sie nutzte die Bestrebungen der Deutschen vielmehr als Vehikel, deren Zustimmung zur Wirtschafts- und Währungsunion zu erlangen. Über kurz oder lang eine Europäische Zentralbank einzurichten, war der Preis, den Mitterrand dafür zahlte. Die Diskussion über die politische Finalität der Europäischen Gemeinschaften wurde jedoch vertagt. Der Kanzler betrieb mit der kontinuierlichen Beteuerung der beschleunigten Fortsetzung der europäischen Integration in der Phase der Wiedervereinigung wichtige Rückversicherungspolitik bei den EG-Partnern. Für Mitterrand war die europäische Einbindung der deutschen Währung und Wirtschaftskraft ein entscheidender, wenn nicht gar der entscheidende Faktor für sein Ja zur Wiedervereinigung.
55 Europäischer Rat in Rom, Tagung der Staats- und Regierungschefs der EG am 14./15. Dezember 1990, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, in: Bulletin PIB, Nr. 144, 11. Dezember 1990, S. 1553–1559.
Böhlau, Fr. Fichtner, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK, MS
Einführung Von Hans Günter Hockerts Ins Blickfeld des Themas tritt zunächst einer der stärksten Bewegungsfaktoren der jüngsten Zeitgeschichte: die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Die Politik der Gleichstellung hat in den späten 70er und frühen 80er Jahren eine Dynamik gewonnen, die weit über die Aktionskerne der Frauenbewegung hinausgriff und den Hauptstrom der Gesellschaft zu erfassen begann. Der von Heiner Geißler angeregte Essener „Frauenparteitag“ der CDU 1985 ist dafür symptomatisch, ebenso die Ergänzung des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit um den Politikbereich „Frauen“ im folgenden Jahr, kurz nach der Übernahme des Ministeriums durch Rita Süssmuth.1 Solche Schritte entsprachen einer Welle gesellschaftlicher Erwartungen und Eigeninitiativen. So erhob zum Beispiel ein Beschluss der HochschulRektoren-Konferenz 1986 den Abbau von Nachteilen für Frauen im Hochschulbereich zum Programm.2 Der in der Bundesrepublik zu beobachtende Drang zur Politisierung sämtlicher Aspekte sozialer Ungleichheit zwischen Männern und Frauen war Teil einer mächtigen inter- und supranationalen Grundströmung. Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft unterstützten den Abbau geschlechtsbedingter sozialer Unterschiede im Arbeitsleben, und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs überwachte diesen Vorgang geradezu mit Argusaugen.3 Eine weitere Perspektive rückt den Vergesellschaftungskern Familie in den Blick und öffnet damit eine Reihe aufschlussreicher Bezugskreise: 1. Auf die Querschnittsaufgabe „Familienpolitik“ wirken sozialmoralische Wertideen stärker ein als auf andere Politikfelder, zumal in einer Zeit, in der die familiären Lebensmuster pluraler und labiler geworden sind.4 Hier gedachten die Unionsparteien, wie Helmut Kohls Regierungserklärung im Oktober 1982 deutlich machte, einen markanten Akzent zu setzen und die Familien nachdrücklicher zu fördern, als es die sozial-liberale Koalition getan hatte.5 Daher liegt hier auch ein Prüfstein, an dem sich zeigen muss, 1 2 3 4 5
Frank BÖSCH, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002, S. 249– 254. Kristina SCHULZ, Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968–1976, Frankfurt/M. 2002, S. 231. Ilona OSTNER, Ausgereizt? Eine kurze Geschichte der EU-Frauenpolitik, in: Berliner Journal für Soziologie 5 (1995), S. 175–192. Christiane KULLER, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München 2003. Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages [BT], Sten.Ber. 9. WP, Bd. 122, S. 7226f.
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was es mit jener „geistig-moralischen Wende“ auf sich hatte, in deren Zeichen die Regierung Kohl bekanntlich begann. Wenn die proklamierte Wertwende etwas bewirkt hat – was ja häufig bezweifelt wird –, dann müssten die Effekte besonders deutlich in der Familienförderung aufzuspüren sein. 2. Mit dem Aspekt des Familienlastenausgleichs kommt zugleich eine traditionelle Schwachstelle des deutschen Sozialstaats in den Blick. Zwar ist neben Kindergeld und Steuerrecht auch das System der Gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht zu ziehen, das eine erhebliche Umverteilung von Versicherten ohne Kinder zu Versicherten mit Kindern bewirkt; aber aufs Ganze gesehen zählen die Aufwendungen für Familienzwecke nicht zu den starken Seiten des westdeutschen Sozialstaatsmodells.6 Familienspezifische Interessen sind im politischen Prozess zumeist schwächer repräsentiert als solche, hinter denen das Drohpotential starker Organisationen steht. Daher schlüpfte das Bundesverfassungsgericht in die Rolle des Hüters der elementaren Belange der Familie und wies insbesondere unter der Ägide Paul Kirchhofs (1987–1999) immer schärfer auf die Benachteiligung der Familien im deutschen Sozialstaat hin.7 3. Der Gesellschaftswandel, der in zunehmender Berufstätigkeit der Mütter zum Ausdruck kam, rüttelte am „Ernährer-Hausfrau-Modell“ herkömmlicher Art und forderte die Familienpolitik heraus, neue Arrangements zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu finden. Das Ziel der Gleichberechtigung der Frauen im Zugang zu Erwerbspositionen verknüpfte sich hier mit der Frage der familiären Rollenverteilung der Geschlechter, aber auch mit einem weiteren Kernproblem: Das Ursprungskonzept der Sozialversicherung war auf das Lohnarbeitsverhältnis zugeschnitten, so dass die von Hausfrauen und Müttern geleistete Arbeit darin keinen Platz fand. Familienarbeit begründete keine eigenständige soziale Sicherung; die Erziehung von Kindern hatte nicht den Rang einer sozialpolitisch erheblichen Qualifikation. Frauen, die sich unter Verzicht auf Erwerbseinkommen der Erziehung von Kindern widmeten, kamen somit auch im Sozialleistungsrecht ins Hintertreffen, insbesondere in der Rentenversicherung. Anders gesagt: Das Rentenrecht prämierte Zwei-Verdiener-Haushalte und benachteiligte die meist kinderreicheren Hausfrauen-Ehen. Wer das ändern wollte, musste nichts Geringeres als eine sozialrechtliche Neudefinition des Ar6
7
Franz-Xaver KAUFMANN, Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd.1: Grundlagen der Sozialpolitik, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und vom Bundesarchiv, BadenBaden 2001, S. 799–989; Hans Günter HOCKERTS (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998; Dagmar NELLESSEN-STRAUCH, Der Kampf um das Kindergeld 1949–1964, Düsseldorf 2003. Irene GERLACH, Politikgestaltung durch das Bundesverfassungsgericht am Beispiel der Familienpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 3–4 (2000), S. 21–31.
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beitsbegriffs anstreben. Dabei erweist sich die Frage der Gleichstellung von Mann und Frau, auf die sich die öffentliche Aufmerksamkeit zumeist konzentriert, nur als die eine Seite der Medaille. Die andere liegt in der Frage der Gleichbehandlung der Frauen untereinander: „der berufstätigen Frauen, der Nur-Hausfrauen, der kindererziehenden Mütter, der Frauen, die häusliche Pflege leisten, der Frauen, die nur eine dieser Rollen einnehmen, der Frauen, die zwei oder mehrere dieser Rollen miteinander verbinden“.8 4. Die Familienverhältnisse sind obendrein aufs engste mit einer Entwicklung verbunden, die man lange etwas verharmlosend „demographischer Wandel“ genannt hat: der mit sinkendem Jugendquotienten und steigendem Altenquotienten einhergehenden Schrumpfung der deutschen Bevölkerung. Der Sozialstaat hat sich von der demographischen Entwicklung so unmittelbar abhängig gemacht, dass die um 1970 einsetzende regressive Bevölkerungsentwicklung ihn mit voller Wucht trifft und langfristig seine eigenen Prämissen bedroht. Kinder-Haben ist seit den 60er Jahren, zugespitzt gesagt, nicht mehr Schicksal, sondern Entscheidung, und auch in diesem Zusammenhang waren und sind institutionelle Regelungen zu überdenken, die – wie die Rentenversicherung – Kinderlosen Vorteile und Eltern Nachteile bringen. Wer „demographischen Fatalismus“ nicht als oberste Bürgerpflicht gelten lassen wollte, musste beginnen, über eine „bevölkerungsbewusste Familienpolitik“ nachzudenken.9 5. „Familie und Frauen“: So ist der 31. Artikel des Einigungsvertrags von August 1990 überschrieben, und da zeigt sich, dass die Herstellung der inneren Einheit auf dem Feld der Frauen- und Familienpolitik beträchtliche Impulse ausgelöst hat. Angesichts „unterschiedlicher rechtlicher und institutioneller Ausgangssituationen“ schrieb der Einigungsvertrag dem gesamtdeutschen Parlament mehrere Aufträge ins Stammbuch: die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiterzuentwickeln, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern und den § 218 StGB in bestimmter Weise zu überprüfen. Der 1992 verankerte Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz war eine der ersten Früchte dieser gesamtdeutschen Dynamik. Die dritte Perspektive ist auf die Jugendpolitik gerichtet. Darunter ist im engeren Sinn der Regelungsbereich des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1961 zu verstehen, das 1990 unter der Ägide der Bundesministerin Ursula Lehr reformiert wurde, wobei diese Reform – bezeichnend für die Verknüpfung von Ju-
8 9
Hans F. ZACHER, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 1 (wie Anm. 6), S. 333–683, hier S. 564. Franz-Xaver KAUFMANN, Gibt es einen Generationenvertrag?, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2003, S. 63–90, eine Formulierung von Max Wingen aufgreifend. Vgl. auch Christian LEIPERT (Hg.), Demographie und Wohlstand. Neuer Stellenwert für Familie in Wirtschaft und Gesellschaft, Opladen 2003.
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gend- und Familienpolitik in der Ära Kohl – „einen Markstein auch für die Weiterentwicklung familienbezogener sozialer Dienste“ darstellt.10 In einem weiteren Sinn ist darunter jene politische Querschnittsaufgabe zu verstehen, die in irgendeiner Form die Lebenschancen von Heranwachsenden – und somit die grundsätzliche Frage nach der Generationengerechtigkeit – berührt. Auch in dieser weiten Version klopften jugendpolitische Herausforderungen an die Tür der Ära Kohl: Das Spektrum reicht von vielfältigen Ausdrucksformen des Jugendprotests über die Stichworte Ausbildungskrise und Jugendarbeitslosigkeit bis hin zu neuartigen Gefährdungen durch die mediale Unterhaltungsindustrie, für die das Stichwort „Horror-Videos“ genügen möge. Zudem schuf die deutsche Einigung auch in jugendpolitischer Hinsicht ein neues Problemund Handlungsfeld. Mit Hilfe solcher Spannungslinien ist das Thema in einigen Umrissen dimensioniert, doch soll es nun noch etwas näher in die Großwetterlage der Ära Kohl eingeordnet werden. Die „Koalition der Mitte“, wie Helmut Kohl sein Regierungsbündnis bezeichnete, startete 1982 mit der Ankündigung, die Staatsfinanzen zu konsolidieren und die Arbeitsteilung zwischen Staat, Markt und Gesellschaft neu zu justieren: weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt, Senkung der Staatsquote und Stärkung gesellschaftlicher Selbsthilfekräfte. Tatsächlich ist die Staatsquote von 50,1 Prozent im Jahr 1982 auf 45,8 Prozent im Jahr 1989 herabgedrückt worden.11 Das entsprach in der Größenordnung durchaus der Verminderung der Staatsquote, die Margaret Thatcher – allerdings viel konfliktreicher und geräuschvoller – in Großbritannien durchsetzte.12 Die sinkende Staatsquote kam hauptsächlich durch ein Absenken der Sozialleistungsquote zustande: Diese schrumpfte von 33 Prozent im Jahr 1982 auf 29 Prozent im Jahr 1990.13 Der langfristige Trend zur Sozialstaatsexpansion war zwar bereits in der Mitte der 70er Jahre gebrochen worden, verbunden mit dem Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt, doch standen die Anfangsjahre der Ära Kohl im Zeichen weiterer Einsparungsoperationen. Der Rotstift wurde auf allen großen Sozialpolitikfeldern angesetzt, insbeson10 Max WINGEN, Vierzig Jahre Familienpolitik in Deutschland – Momentaufnahmen und Entwicklungslinien, Grafschaft 1993, S. 58. 11 Vgl. Die Ära Kohl im Gespräch, I. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik, 1982–1989/90, in: HPM 8 (2001), S. 131–174. 12 Manfred G. SCHMIDT, Sozialstaatliche Politik in der Ära Kohl, in: Göttrik WEWER (Hg.), Bilanz der Ära Kohl, Opladen 1998, S. 59–87, hier S. 64f. (Staatsquote: Staatsausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts in jeweiligen Preisen); Dominik GEPPERT, Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979, München 2002. 13 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), Statistische Übersichten zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band West, Verf. Hermann BERIÉ, Bonn 1999, S. 32 ( Sozialleistungsquote: Anteil der im Sozialbudget erfassten Leistungen am nominalen Bruttoinlandsprodukt).
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dere bei den Altersrenten, im Gesundheitswesen, bei der Arbeitslosenversicherung und der Versorgung der Hinterbliebenen. Der Sparkurs war unter dem Druck einer weltweiten Rezession und in Anbetracht großer Haushaltslöcher ohne Aufschrei der öffentlichen Meinung durchsetzbar, zumal die Kürzungen „recht symmetrisch“ auf verschiedene Programme verteilt waren, so dass es „keine eindeutigen Verlierer und Gewinner der Kürzungspolitik“ gab.14 Allerdings stiegen die Sozialabgaben und somit die Lohnnebenkosten trotz aller Einschnitte weiter an, wenn auch langsamer als bisher.15 Nach der Epochenzäsur von 1990 kam es dann zu einem steilen Anstieg der Sozialleistungsquote: Diese kletterte von 29 Prozent im Jahr 1990 auf 34 bis 35 Prozent 1996/97 und erreichte somit den Rekordstand seit der Gründung der Bundesrepublik. Der Durchschnittswert verdeckt freilich die sehr unterschiedliche Zuordnung in West und Ost: In Westdeutschland verharrte die Sozialleistungsquote (mit 31,7 Prozent 1997) etwa auf dem Niveau der 80er Jahre, während sie in Ostdeutschland rund 55 Prozent erreichte.16 Daran lässt sich ablesen, dass die Finanzierung der deutschen Einheit großenteils über die Sozialkassen geleistet wurde, insbesondere über die Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Demgemäß stiegen auch die Sozialversicherungsbeiträge auf einen neuen Höchststand.17 Kehren wir noch einmal zurück zum Regierungswechsel 1982 und zur Auftaktphase der Ära Kohl. Nimmt man das Gesamtfeld der Konsolidierungs- und Kürzungsmaßnahmen genauer in den Blick, so entdeckt man, dass der Sparkurs nicht nur Rückzugsbereiche, sondern ab 1984 auch Ausbausektoren einschloss, und dabei trat – im Einklang mit der Regierungserklärung von Oktober 1982 – die Familienpolitik besonders hervor. Als Markstein gilt die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub durch das Bundeserziehungsgeldgesetz, das mit Beginn des Jahres 1986 in Kraft trat und im Mittelpunkt des folgenden Beitrags von Ursula Münch steht. Die neue Sozialleistung „Erziehungsgeld“ (zunächst für 10 Monate, ab 1988 für 12 Monate und ab 1989 für 15 Monate nach der Geburt eines Kindes) war als eine familienpolitische Anerkennung der Elternrolle gedacht und richtete sich daher auch an nicht erwerbstätige Mütter (oder Väter). Darin lag ein signifikanter Unterschied zum
14 Jens ALBER, Der deutsche Sozialstaat in der Ära Kohl: Diagnosen und Daten, in: Stephan LEIBFRIED/Uwe WAGSCHAL (Hg.), Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/M. 2000. S. 235–275, hier S. 254. 15 Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag (in Prozent des Bruttoarbeitsentgelts bis zur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze) stieg 1982 bis 1989 von 34 % auf 35,9 %. Vgl. SCHMIDT (wie Anm. 12), S. 65. 16 Sozialbericht 1997, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1998, S. 278f. 17 Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag stieg von 35,9 % im Jahr 1989 auf 42 % im Jahr 1998. Vgl. SCHMIDT (wie Anm. 12), S. 66.
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SPD-Konzept eines Mutterschaftsgeldes, das Leistungen nur für erwerbstätige Mütter vorgesehen hatte. Ein weiterer Durchbruch gelang mit der rentenrechtlichen Anerkennung von Kindererziehungszeiten: Seit 1986 erhielten Mütter (oder Väter) je Kind ein Erziehungsjahr rentensteigernd oder -begründend gutgeschrieben. Damit wurde die lohnarbeitszentrierte Ausrichtung der gesetzlichen Rentenversicherung gelockert: Familienarbeit rückte in den Rang einer rentenrechtlich erheblichen Qualifikation auf. Das war eine bedeutsame und folgenreiche Innovation, auch wenn sie nicht in glänzender Inszenierung, sondern mit Ach und Krach eingeführt und umgesetzt wurde. Denn das im Juli 1985 verabschiedete Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz klammerte erst einmal alle Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 aus – der Kosten halber und nur notdürftig mit dem Argument begründet, dass man den Einstieg in die Reform bei den „Zugangsrenten“ machen wolle. So kam man auf den Jahrgang 1921, der nämlich anno 1986 die gesetzliche Altersgrenze von 65 Jahren erreichte. Natürlich war eine solche „Diskriminierung der Trümmerfrauen“ politisch nicht lange durchzuhalten, und so kam es im Sommer 1987 zur Einbeziehung der annähernd vier Millionen älteren Mütter.18 Die im November 1989 verabschiedete „Rentenreform 1992“ sah dann eine Reihe weiterer frauen- und familienpolitisch intendierter Maßnahmen vor.19 Wollte man die familienpolitisch motivierten Sozialleistungen im Ganzen betrachten, so wären nicht zuletzt auch steuerliche Entlastungen zu beachten, insbesondere die Wiedereinführung (1982) und kräftige Erhöhung (1985) des steuerlichen Kinderfreibetrages, verbunden mit einem Zuschlag zum Kindergeld für Eltern, die den Freibetrag wegen eines zu niedrigen Einkommens nicht ausschöpfen können.20 Es wäre die übergreifende These21 zu erörtern, dass der Regierungswechsel von 1982 als Abkehr von der sozialdemokratischen „Familienmitgliederpolitik“ zu begreifen sei: Welchen Unterschied machte es aus, dass die Familienpolitik nun nicht mehr primär das einzelne Familienmitglied, sondern die „Institution Familie“ zu fördern suchte? Aber auch „nondecisions“ oder Alternativen, die im politischen Prozess erwogen, aber verworfen wurden, zählen zu den Konturen der Ära Kohl. So ist zum Beispiel in den Jahren 1986/88 intensiv über den Vorschlag diskutiert worden, die Ren18 Durch das Kindererziehungsleistungs-Gesetz vom 12. Juli 1987 trat die „Kindererziehungsleistung“ als eine besondere Geldleistung der gesetzlichen Rentenversicherung für Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 an die Stelle der Anrechnung von Kindererziehungszeiten. 19 Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, hg. von Franz RULAND, Neuwied 1990, S. 165f. 20 Peter BLESES/Edgar ROSE, Deutungswandel der Sozialpolitik. Die Arbeitsmarkt- und Familienpolitik im parlamentarischen Diskurs, Frankfurt/M. 1998, S. 149f. 21 EBD. S. 290f.
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tenversicherungsbeiträge nach der Kinderzahl zu staffeln, um auf diese Weise den „generativen Beitrag“ der Eltern zu honorieren. Die Befürworter sprachen von einem „Drei-Generationen-Vertrag“, weil dabei die mittlere, die jüngere und die ältere Generation in einem Solidarsystem zusammengefasst seien. Am Ende scheiterte der Vorschlag auf einem „Kleinen Parteitag“ der CDU im September 1988.22 Heute ist die Debatte über den „generativen Beitrag“ neu entbrannt – nicht nur, weil der Journalismus das „Methusalem-Komplott“ entdeckt hat, sondern auch aufgrund von Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das mehrfach geboten hat, über die generativen Grundlagen unserer Sozialversicherungssysteme neu nachzudenken. Man sieht: Die Ära Kohl ist zwar schon Geschichte, aber Geschichte, die noch qualmt! Man sieht ferner: Die historisch-politische Auseinandersetzung mit der Ära Kohl ist gut beraten, auch und gerade das auf den ersten Blick eher spröde anmutende Thema „Familien-, Frauen- und Jugendpolitik“ ins Auge zu fassen. Denn hier geht es um solche Grundfragen der Gesellschaft wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen und – an Bedeutung gewinnend – das Verhältnis zwischen Kinderhabenden und Kinderlosen.
22 Winfried SCHMÄHL, Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene, in: Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 6), Bd. 7: 1982–1989, Baden-Baden 2005, S. 315–388.
„Unser Staat braucht die zupackende Mitarbeit der jungen Generation“11 Programm und Praxis der Jugendpolitik im Zeichen der „geistig-moralischen Wende“ und der deutschen Einigung Von Walter Hornstein Jugendpolitik – eine Politik mit verschwimmenden Grenzen und auf verschiedenen Ebenen Das Vorhaben, über die Jugendpolitik einer historisch-politischen Epoche zu berichten, steht vor besonderen Schwierigkeiten. Sie ergeben sich daraus, dass sich hinter dem Begriff Jugendpolitik entgegen dem ersten Anschein keinesfalls ein eindeutig abgegrenztes, homogenes, gegenüber anderen Politikbereichen profiliert sich abhebendes Politikfeld verbirgt. In Wirklichkeit ist Jugendpolitik ein Oberbegriff für höchst Heterogenes, ein Klammerbegriff für sehr unterschiedliche Maßnahmen politischer Praxis, die überdies durch verschiedenartige Formen politischer Steuerung gekennzeichnet sind, wo mit den verschiedenen Mitteln und Strategien gearbeitet wird und wo die verschiedensten Akteure (nicht nur staatliche) auf verschiedenen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) tätig sind. Dass dies so ist, hängt am Thema „Jugend“. Insofern Jugend in modernen Gesellschaften in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen vorkommt und von den dort herrschenden Einflussfaktoren bestimmt wird, wird dies alles, wenn es in politische Kategorien gefasst wird, zur Jugendpolitik. Darüber hinaus wird Jugend, insofern mit ihr durch die Generationenproblematik die Zukunft der Gesellschaft zur Debatte steht, immer auch zum Risikosymbol und auch insofern zum Feld der Diskurse über gesellschaftliche Fragen. Mit dem Begriff Jugendpolitik öffnen sich also die verschiedensten Dimensionen und Fragestellungen gesellschaftlicher Praxis – und zugleich stellen sich Ordnungs- und Systematisierungsprobleme der verschiedensten Art. Die wichtigsten bedürfen einer wenn auch knappen Vergegenwärtigung, um das, was über Jugendpolitik in einer bestimmten Ära zu sagen ist, einzuordnen. Es ist schwierig, den Stellenwert, den die Jugendpolitik in der politi1
Bundeskanzler Kohl in der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983, in: Klaus STÜWE (Hg.), Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schröder, Opladen 2002, S. 288–311, hier S. 299.
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schen Programmatik und dann in der Regierungspraxis hat, angemessen zu verstehen, ohne die grundlegende Unterscheidung zwischen Jugendpolitik als einem Teilsystem, als Politik, die von einem bestimmten Ressort wahrgenommen wird, und der Jugendpolitik, die sich als politische Querschnittsaufgabe quer durch alle Politikbereiche zieht, zu bedenken.2 Es gibt einerseits einen im administrativen System eindeutig festgelegten, in einem Ministerium organisierten Zuständigkeitsbereich für Jugendpolitik. Das ist das System der Jugendhilfe, und die Aufgabe besteht hier in der Steuerung dieses Systems, in dem es um die klassischen Aufgaben der Jugendhilfe geht, um Jugendschutz, Jugendförderung, Erziehungshilfe; also um all das, was im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) festgehalten und geregelt ist. Jugendpolitik ist aber andererseits im neueren und allgemein geteilten Verständnis mehr als Jugendhilfepolitik, und dies schon seit den 80er Jahren. Jugendpolitik versteht sich ihrer heute geltenden Idee und Programmatik nach als politische Querschnittsaufgabe und stellt insofern einen Sammelbegriff für alle diejenigen Maßnahmen und Angebote von staatlicher Seite dar, die die gesellschaftliche Organisation der Jugend und damit die Lebenschancen und -möglichkeiten von Heranwachsenden (damit sind auch Kinder gemeint) in irgendeiner Form berühren. Jugendpolitik als Querschnittsaufgabe betrifft deshalb so gut wie alle anderen Politiken, also Arbeitsmarktpolitik ebenso wie Bildungspolitik, Sozialpolitik in gleicher Weise wie Wohnungspolitik, und sie muss sich den dort herrschenden Politikinteressen gegenüber durchsetzen, weil und soweit in diesen Politiken über die Chancen der Heranwachsenden entschieden wird. Es ist also notwendig, sich darüber klar zu sein, ob von Jugendhilfepolitik als ressortgebundener, durch originäre Zuständigkeit eines Ministeriums gestützter Politik die Rede ist oder von Jugendpolitik als politischer Querschnittsaufgabe. Andere Merkmale, die Jugendpolitik kennzeichnen, will ich nur nennen, ohne darauf näher einzugehen: Dazu gehört die Tatsache der außerordentlich begrenzten Zuständigkeit des Bundes – (er verfügt nur über die Kompetenz zur Rahmengesetzgebung, er kann Modelle fördern), Länder und Kommunen haben und machen ihre Jugendpolitik –, wenn hier also von Jugendpolitik nach 1982 die Rede ist, dann von derjenigen des Bundes. Wichtig ist ferner, sich in Erinnerung zu rufen, dass für die Bundesrepublik die Trennung von Bil2
Vgl. Werner SCHEFOLD, Jugendpolitik. Probleme einer adressatenorientierten Gesellschaftspolitik im Individualisierungstrend, in: René BENDIT u. a. (Hg.), Jugend und Gesellschaft. Deutsch-französische Forschungsperspektiven, Baden-Baden 1993, S. 269– 281; ferner Walter HORNSTEIN, Jugendpolitik 1982–1989, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv, Bd. 7: Bundesrepublik Deutschland 1982–1989, Baden-Baden 2005, S. 538–553.
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dungspolitik (Angelegenheit der Länder) und Jugendpolitik charakteristisch ist. Dies hat zur Folge, dass das Phänomen der „Politikverflechtung“ – dass die Aufgaben eines bestimmten Politikfeldes auf verschiedenen Ebenen von verschiedenen Akteuren wahrgenommen werden und dass es auf diese Weise eine spezifische Form der Abhängigkeit und Verflechtung gibt3 – für diesen Bereich in besonders starkem Maße zutrifft. Dies hat die Konsequenz, dass die aus den Interessenlagen der jeweiligen Ebene sich ergebenden Zielsetzungen (z. B. diejenige der Länder oder der Kommunen) das politische Kräftespiel in starkem Maße beeinflussen und die aus allgemeinen politischen und ideologischen Orientierungen stammenden Zielsetzungen (z. B. der Parteien oder sonstiger gesellschaftlicher Gruppen, wie der Gewerkschaften) erheblich relativieren. Schließlich ist darauf zu verweisen, dass der Stellenwert der Jugendpolitik im politisch-administrativen System generell nicht hoch ist, aber vor allem von Konjunkturen der gesellschaftlichen Diskussion über Jugend abhängt, und dass es zum Thema Jugendpolitik nur in begrenzter Hinsicht eine kontinuierliche wissenschaftliche Reflexion und Begleitung gibt, wie dies beispielsweise für die Familienpolitik der Fall ist, die im „Wissenschaftlichen Beirat für Familienpolitik“ über eine kontinuierlich arbeitende Instanz verfügt.4 Einer klärenden Bemerkung bedarf auch die Frage der Altersstufen, wenn von „Jugend“-Politik die Rede ist. Im Alltagsverständnis werden die Heranwachsenden, die Jugendlichen, also die 12- bis 18-jährigen vor Augen stehen. Seit den 80er Jahren gibt es jedoch auch eine Kinderpolitik. Soll sie unter Jugendpolitik subsumiert werden? Die Sache ist etwas verwirrend: Die UNKonvention über die Rechte des Kindes spricht von Kindern und meint die Heranwachsenden von 0 bis 18 Jahren. In der Bundesrepublik wird seit einiger Zeit dem Hinweis, dass auch Kinder gemeint sind, dadurch Ausdruck verliehen, dass die Jugendberichte jetzt Kinder- und Jugendberichte heißen, dass der Bundesjugendplan jetzt Kinder- und Jugendplan des Bundes heißt, dass das Jugendwohlfahrtsgesetz jetzt KJHG, also Kinder- und Jugendhilfegesetz heißt. – Ich denke, dass es sich bei der folgenden Darstellung aus dem Zusammenhang ergibt, ob es sich um Jugendliche oder um Kinder handelt.
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Zum Thema „Politikverflechtung“ vgl. Ursula MÜNCH, Sozialpolitik und Föderalismus. Zur Dynamik der Aufgabenverteilung im sozialen Bundesstaat, Opladen 1997; Fritz Wilhelm SCHARPF u. a., Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg/Ts. 1976. Die im Text ausgesprochene Behauptung beruht auf der Unterscheidung zwischen einem jugendpolitischen Praxis- und Politikdiskurs, den es in den verschiedensten Formen (z. B. in der Institution der Jugendberichte der Bundesregierung, im Bundesjugendkuratorium und in den unzähligen Zusammenschlüssen und Gremien) gibt. Davon zu unterscheiden wäre eine wünschenswerte Form wissenschaftlicher Reflexion. S. dazu Lothar BÖHNISCH u. a. (Hg.), Jugendpolitik im Sozialstaat. Befunde und Perspektiven, München 1980.
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I. Die Ausgangslage: Probleme und Programmatik Es ist zum Verständnis des Nachfolgenden unerlässlich, in kurzen Strichen die Ausgangslage zu charakterisieren, von der die Regierung Kohl 1982 mit ihrer Jugendpolitik gestartet ist, und zwar im Hinblick auf die Probleme, wie sie sich anfangs der 80er Jahre darstellen, zum anderen hinsichtlich der Programmatik, die die Union bis zu diesem Zeitpunkt in vielfältigen Dokumenten zur Lösung dieser Probleme formuliert und zur Diskussion gestellt hat. Der Beginn der 80er Jahre war in Bezug auf die Jugendthematik die Zeit einer neuen Welle und neuer Ausdrucksformen des Jugendprotestes, der sich vor allem in den großen Städten der Bundesrepublik in der aggressiven und radikal gesellschaftskritischen Form der Hausbesetzungen demonstrativ bemerkbar machte, eine, wenn man so will, radikalisierte Form des Jugendprotestes (im Vergleich zum Studentenprotest Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre). Gleichzeitig war dies auch die Epoche der sich mächtig ausbreitenden alternativen Lebensformen, also vor allem der vielfältigen Formen des Rückzugs, der „Selbstausbürgerung“ vor allem junger Menschen in Landkommunen, alternativen Wohn- und Lebensformen.5 Und schließlich war die Situation in starkem Maße bestimmt durch das, was „Ausbildungskrise“ genannt wurde; gemeint war damit das Fehlen der Ausbildungsplätze, was auf das Zusammentreffen von „Geburtenberg“ und wirtschaftlicher Rezession zurückgeführt wurde, und die seit Mitte der 70er Jahre kontinuierlich steigende Jugendarbeitslosigkeit.6 Die politische Reaktion auf die radikalisierten Formen des Jugendprotestes führte zu der von allen Fraktionen unterstützten Etablierung einer EnqueteKommission des Deutschen Bundestages am 26. Mai 1981 mit Matthias Wissmann (CDU) als Vorsitzenden und Rudolf Hauck (SPD) als stv. Vorsitzenden.7 5
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Die neue Qualität, die das Thema des Jugendprotests zu Beginn der 80er Jahre (im Vergleich zu vorausgegangenen Formen) erreicht hat, wird in pointierter Weise herausgearbeitet in der Veröffentlichung des Deutschen Jugendinstituts, Die neue Jugenddebatte. [Was gespielt wird und um was es geht: Schauplätze und Hintergründe], München 1982. Das Spezifische der neuen Situation wird darin gesehen, dass 1. die vielfältigen Ausdrucksformen des Jugendprotests und der Jugendalternativen zum Anlass und Gegenstand einer umfassenden politisch geführten Jugenddebatte wurden und dass 2. die Jugendthematik im Zusammenhang damit sich zunehmend weg von der Generationenproblematik zu allgemein gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen hin bewegte. Friederike MAIER, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland – ein ungelöstes Problem, Berlin 1983. Dokumentiert ist die Arbeit der Enquete-Kommission unter dem Titel Jugendprotest im demokratischen Staat, hg. von Matthias WISSMANN/Rudolf HAUCK, Stuttgart 1983; eine politikwissenschaftliche Analyse bei Christoph BÖHR/Eckart BUSCH, Politischer Protest und parlamentarische Bewältigung. Zu den Beratungen und Ergebnissen der EnqueteKommission „Jugendprotest im demokratischen Staat“, Baden-Baden 1984.
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Es war offensichtlich auf die von allen Parteien und Beteiligten als dramatisch empfundene Situation zurückzuführen, dass der Bericht in großen Teilen konsensuell verabschiedet und auch diskutiert wurde. Die Grundtendenz des Berichtes ging in die Richtung, dass es notwendig sei, Verständnis für die „berechtigten“ Anliegen und Sorgen der jungen Generation aufzubringen; die Frage nach den Gründen für Jugendprotest und Jugendrückzug wurde auf die Unpersönlichkeit der Erziehungsinstitutionen, auf den Vertrauensverlust der Politik zurückgeführt; so gut wie in allen gesellschaftlichen Bereichen gebe es Missstände, die die Heranwachsenden stärker empfänden als die Erwachsenen. Deshalb bezogen sich auch die Empfehlungen der Kommission auf so gut wie alle Lebens- und Politikbereiche – und damit wurde Jugendpolitik als politische Querschnittsaufgabe gleichsam aus der Taufe gehoben. Erstaunlich ist, dass kaum wesentliche Unterschiede in der Beurteilung des Jugendprotests und in den Vorschlägen zur Behebung zu bemerken sind: Es gehe um Verständnis für die Anliegen der Jugend, es sollten ihre Bestrebungen anerkannt werden, der Dialog mit der Jugend sollte gesucht und der Vertrauensverlust, dem die Politik unterliege, aufgefangen werden. Der zweite Problembereich, der im Hinblick auf die Jugend die Öffentlichkeit (neben den unmittelbar Betroffenen: den Heranwachsenden!) in starkem Maße beschäftigte, wurde unter dem bereits erwähnten Stichwort „Ausbildungskrise“ diskutiert. Damit waren die aus dem Zusammentreffen demographischer Entwicklungen („Geburtenberg“, d. h. neue geburtenstarke Jahrgänge drängten auf den Ausbildungsplatz- und Arbeitsmarkt) und der wirtschaftlichen Rezession mit der Verringerung von Ausbildungsplätzen resultierenden „Engpässe“ gemeint, die eine dramatische Verschlechterung der Ausbildungsund Arbeitsmarktsituation mit sich brachten. In einer ganzen Serie von Veranstaltungen, Hearings, Expertenanhörungen, Konferenzen, legte die Union ihre Vorstellungen zur Behebung dieser Problematik vor. Schon 1977 erklärte Helmut Kohl, dass das Thema „Zukunftschancen der jungen Generation ... das zentrale Thema der deutschen Innenpolitik der nächsten Jahre, vielleicht sogar des nächsten Jahrzehnts sein werde“.8 Er wendet sich in diesem Zusammenhang gegen den Verdrängungswettbewerb, fordert die Partnerschaft der Generationen.9
8 9
Siehe „Zukunftschancen der jungen Generation“, Wortprotokoll des Hearings der CDU am 22. Juni 1977 in Bonn, S. 9. Zur Geschichte der Versuche einer Neuordnung des Jugendhilferechts, die aber regelmäßig scheiterten, s. Reinhard WIESNER, Der mühsame Weg zu einem neuen Jugendhilferecht, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 38 (1990), Heft 2, S. 112–125.
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II. Die Jugendpolitik der Regierung Kohl 1. Von der Opposition in die Regierungsverantwortung Regierungserklärungen Es ist klar: Es ist etwas anderes, als Oppositionspartei grundsätzliche Erklärungen abzugeben, die sich als Alternativen zu der Regierungstätigkeit verstehen, als diese in der Regierung umzusetzen. Eine Art Mittelstück dabei stellen die Regierungserklärungen dar. In der Regierungserklärung von Helmut Kohl vom 13. Oktober 1982 nahmen Jugend und Jugendpolitik einen prominenten Platz ein. Die Erklärung wandte sich gegen die weit verbreiteten „Klagen über die Jugend“. Demgegenüber – so Kohl – engagiere sich die Jugend doch in Gruppen und Vereinen – das Bild einer engagementbereiten Jugend wurde entwickelt. Wie vor der Regierungsübernahme wurde den jungen Menschen versprochen, ihre Anliegen ernst zu nehmen, sich mit ihnen „konstruktiv auseinander zu setzen“; die Jugend habe „Anspruch auf Verständnis, aber auch auf Widerspruch“. Vor allem aber werde sich die Regierung um Ausbildungs- und Arbeitsplätze bemühen.10 In der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 findet sich der programmatische Satz: „Unser Staat braucht die zupackende Mitarbeit der jungen Generation.“11 Und dann wird wiederum der jungen Generation versprochen, dass jeder, der „ausbildungsfähig und ausbildungswillig ist“, auch eine Lehrstelle erhalten werde. Im Unterschied zu den genannten Regierungserklärungen finden sich in derjenigen vom 18. März 1987 keine dezidierten Äußerungen zu Jugend und Jugendpolitik; nur wurde in einem Satz erwähnt, „die Neuordnung des Jugendwohlfahrtsgesetzes in Angriff zu nehmen, um neuen Entwicklungen in der Jugendhilfe zu entsprechen“.12 Am Ende ist davon die Rede, dass sich die Regierung für die jungen Menschen einsetzen werde, aber dass diese „mitmachen“ müssten; sie müssten ihre eigene Verantwortung erkennen. Und wiederum wird darauf verwiesen, dass die Jugend gebraucht werde: ihr Idealismus, ihr Mut und ihre Tatkraft; Demokratie hänge von der Zustimmung der jungen Generation ab. Jugendpolitik als Antwort auf die „Integrationsschwäche unserer Gesellschaft“ Wenn man nach Äußerungen sucht, die Auskunft darüber geben, wie die CDU nun innerhalb der Regierungsverantwortung ihre Sicht der Jugendthematik und 10 STÜWE (wie Anm. 1), S. 284f. 11 EBD. S. 299. 12 EBD. S. 324.
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ihre Lösungsvorstellungen durchsetzen und geltend machen wollte, dann stellt eine Rede des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Heiner Geißler, vermutlich vom Dezember 1985, eine aufschlussreiche Quelle dar.13 Zentral für seine Diagnose der Jugendproblematik ist die These von der „Integrationsschwäche“ der Gesellschaft (S. 6) Die Jugendlichen fühlten sich alleingelassen oder gar ausgestoßen (S. 8). Diese Deutung ist deshalb interessant, weil sie das, was man auch das Emanzipationsbestreben der Jugend nennen könnte, als „Alleinsein, Verlassenwerden“ definiert. Konsequenterweise und in völliger Übereinstimmung mit der Generallinie der CDU ergibt sich aus dieser Problemdefinition die politische Aufgabe: Notwendig sei eine Politik der „sozialen Integration“; es könne dabei „nicht nur um Emanzipation“, sondern es müsse auch um „verantwortliche Bildung“ gehen (S. 8). Dafür müssten die traditionellen Erziehungsmächte, Familie, Kirche, Schule, gestärkt werden und die „Destruktion der Familie“, wie sie die SPD betreibe, müsse ein Ende haben. Die Jugendpolitik müsse sich, so Geißler, vor zwei Irrwegen hüten: – Vor einer Jugendpolitik, die sich vom Konzept der grundsätzlichen Opposition der Jugend zur Gesellschaft leiten lasse; Bestrebungen zur Selbstausbürgerung der Jugend dürften von der Bundesregierung keine Unterstützung finden. – Ebenso falsch sei eine Jugendpolitik, die Jugend nur von und mit der Jugend leben lasse; dies führe zu einer Ghettoisierung der Jugend. Stattdessen sei eine Jugendpolitik notwendig, die generationenübergreifend sei und zugleich einen gemeinsamen Verständigungshorizont entwickele. Zwischenbilanz Versucht man, das in den Regierungserklärungen und anderen Äußerungen Gesagte auf seine Grundintention zurückzuführen, dann ergibt sich folgendes Bild: Zentrales Leitbild ist eine integrativ-protektive Jugendpolitik,14 die sich deutlich absetzt von einer emanzipativen Jugendpolitik, die in den Verselb-
13 Das Manuskript (Bundesarchiv, Bestand des BMJFG) enthält kein Jahresdatum, der Inhalt spricht für das Jahr 1985. Auch wenn das Referat „Neue Jugendreligionen – die Freiheit des Einzelnen schützen“ eher eine spezielle Thematik erwarten lässt, so enthält es doch eine der wenigen grundsätzlichen Ausführungen zur Jugendpolitik, die von dem für Jugendfragen zuständigen Minister der Regierung Kohl dokumentiert sind (BA B 189/22379, Bd. II). 14 Siehe dazu die aus einer vergleichenden Analyse der jugendpolitischen Programmatik in verschiedenen europäischen Ländern entwickelte Typologie von René BENDIT u. a., Jugend und Jugendpolitik in Europa. Ergebnisse und Empfehlungen aus dem ersten europäischen Jugendbericht, in: Deutsches Jugendinstitut (Hg.), Das Forschungsjahr 2001, München 2002, S. 30–57.
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ständigungsbestrebungen der Jugend zugleich eine berechtigte Kritik an der Gesellschaft sieht und diese sich zu eigen macht (= SPD Jugendpolitik). Die einzelnen Elemente dieser integrativ-protektiven Jugendpolitik sind dabei: – eine im ganzen positive, Engagement und Gutwilligkeit der Jugend hervorhebende Sichtweise auf die Jugend – der Appell an ihre Selbstverantwortung und Bereitschaft zur Mitarbeit; zur „zupackenden“ Mitarbeit – schließlich: die starke Rolle der traditionellen Erziehungsmächte, vor allem der Familie, der Eltern, der Schule. Die damit umrissene Konzeption der Jugendpolitik unterscheidet sich sehr deutlich und mit weitreichenden Konsequenzen von derjenigen der SPD. Repräsentativ für die Grundelemente des sozialdemokratischen Verständnisses von Jugendpolitik dürften vor allem die verschiedenen Fassungen der Entwürfe für den von einer Kommission 1987/1988 erarbeiteten Leitantrag des Parteivorstands sein.15 Zentrale Orientierungspunkte sozialdemokratischer Jugendpolitik sind demnach die Forderung nach Solidarität mit der nachwachsenden Generation; diese dürfe nicht aufgrund ihres Geburtsjahrgangs benachteiligt werden (weil sie zu einem Zeitpunkt geboren wurde, der ihnen wesentlich weniger berufliche und soziale Chancen eröffne, als dies für Angehörige früherer Generationen der Fall gewesen sei). Abwehr der drohenden Benachteiligung ist also das oberste Ziel sozialdemokratischer Jugendpolitik. Ein zweiter zentraler Zielpunkt muss darüber hinaus die Anerkennung und Förderung der Ansprüche der Heranwachsenden auf Emanzipation und Selbstbestimmung sein. Diese Forderung richtet sich gegen eine Politik, die Jugendpolitik als eine auf die Ansprüche der Heranwachsenden bezogene Politik in der Familienpolitik verschwinden lässt; und schließlich ergibt sich aus der beschriebenen Grundorientierung die Forderung, dass Jugendpolitik vor allem die Aufgabe habe, für die Heranwachsenden, und zwar für alle, Chancen der Lebensgestaltung offen zu halten. Auch die CDU zeigte in diesem Zeitraum verstärkte Aktivitäten auf dem Gebiet der Jugendpolitik. Ein Expertengespräch unter dem (sehr missverständlich formulierten) Motto: „Für Kinder bleibt noch viel zu tun!“16 sollte klären, welche Aufgaben in diesem Feld vordringlich seien; darüber hinaus wurde ein Bundesfachausschuss „Jugendpolitik“ eingerichtet, der sich in verschiedenen Arbeitsgruppen mit den aktuellen Themen der Jugendpolitik, Drogen, Reform
15 Die vom Parteitag der SPD verabschiedete Fassung ist veröffentlicht in: „Parteitag der SPD in Münster 30.8.–2.9.1988“. Service der SPD für Presse, Funk, TV, Teil 3: Jugendpolitik, hg. von Anke FUCHS, Bonn 1988. 16 Schriftliche Stellungnahmen zum Expertengespräch der CDU am 2. Februar 1988 in Bonn, hg. v. d. Bundesgeschäftsstelle der CDU.
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des JWG, den Folgen der demographischen Entwicklung, dem Verhältnis der Jugend zu den Grundwerten und zur Arbeitswelt befasste. Im Gegensatz zur jugendpolitischen Programmatik der SPD, die sich direkt an die Adressatengruppe wandte, vertrat die CDU die Position, dass die beste Jugendpolitik in einer guten Politik für alle, und zwar vor allem in einer guten Wirtschaftspolitik, bestehe. In dem Beschluss des SPD-Parteitages zur Jugendpolitik vom 31. August 1988 wurde ein „verkrampfter Versuch“ gesehen, „Anschluß an Lebensstile und Denkgewohnheiten junger Menschen zu gewinnen“.17 Besonders kritische Aufmerksamkeit fand der Plan der SPD, ihren Einfluss „in Vorfeldorganisationen und Jugendverbänden zu verstärken“. Die JU sah darin „Versuche der Indoktrination und parteipolitischen Instrumentalisierung“. Im Folgenden geht es darum aufzuzeigen, was von diesen Zielsetzungen und Prinzipien in welcher Form, mit welchen Brechungen und Relativierungen in der Regierungsarbeit umgesetzt wurde. Denn Programmatik ist das eine; Umsetzung in einer Regierung, die auch Koalitionspartner hat, das andere. Dabei ist sicherlich zu sehen, dass der Koalitionspartner FDP eine eigene jugendpolitische Linie nicht prononciert vertreten hat; Jugend war nicht das Thema der FDP, so dass für die CDU höchstens galt, z. B. beim Jugendschutz, auf die Arbeitgeber Rücksicht zu nehmen; umgekehrt war die Jugendthematik für eine Partei wie die CDU mit ihrer Programmatik einer geistig-moralischen Wende von zentraler Bedeutung: Gesellschaftliche Erneuerung ist nicht möglich ohne die Jugend; auch deshalb: Ringen um die Jugend! Dabei ist zu bedenken, dass politische Willensbildungsprozesse mit dem Ziel, allgemein anerkannte Regelungen zu finden, neben den üblichen „Mustern“ im Bereich der Jugendpolitik eine spezielle Ausprägung und Note haben (die neben und zugleich mit den Prozeduren der Gesetzgebung und der Subventionspolitik und in den parlamentarischen Prozeduren wirksam sind). Unter diesem Gesichtspunkt sind als besonders „wirkungsvoll“ für den Bereich der Jugendpolitik zu nennen: – die durch den verfassungsmäßigen Rahmen gegebenen Bedingungen für Jugendpolitik;18 dazu gehören die Zuständigkeitsregelungen zwischen Bund (zuständig für Soziales) und Ländern (zuständig für Kultur), der föderale Aufbau der Bundesrepublik, das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen; dies alles verweist die Jugendpolitik des Bundes auf einen eng definierten Rahmen,
17 Pressemitteilung der CDU, hg. v. d. Bundesgeschäftsstelle der CDU, Bonn 09/1988. 18 Fragen der Übereinstimmung von jugendhilfepolitischen Regelungen mit Grundgesetz und Verfassung haben immer wieder eine Rolle gespielt; s. dazu z. B. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juli 1967 zum Verhältnis öffentlicher und freier Träger der Jugendhilfe (BVerfGE 22, 180).
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– das Verhältnis von Staat und Verbänden,19 das im Feld der Jugendpolitik durch die starke Stellung der Verbände bestimmt ist, die dadurch entsteht, dass staatliche Aufgaben an sie delegiert werden und sie an deren Definition beteiligt sind, – eine spezielle Form der Mitwirkung von Experten am politischen Willensbildungsprozess, die durch eine besonders starke und enge Verbindung von Expertentum und Interessenvertretung gekennzeichnet ist,20 – schließlich bringt es die starke Spezialisierung im Bereich der Gesetzgebung mit sich, dass die „Macht des Apparats“ nicht gering zu veranschlagen ist.21 Auch wenn Jugendpolitik, aufs Ganze und über die gesamte Zeit der Regierung Kohl betrachtet, kaum einen herausragenden Stellenwert hatte, so hat sie doch in einer ganzen Reihe von Bereichen ihre nachhaltigen Spuren hinterlassen, die sicherlich keine Eins-zu-eins-Umsetzung der jugendpolitischen Programmatik darstellten, aber doch deren Grundzüge zeigen. Das gilt für eine große Zahl von Themen, die hier nicht im Detail zu behandeln sind, aber auf die hingewiesen werden soll: – Das gilt einmal für die Jugendschutzgesetzgebung. Wenn sie hier nicht ausführlich behandelt wird, ist das zugegebenermaßen problematisch. Denn sie war ein zentrales Anliegen der Regierung Kohl; 1985 wurden zudem Jugendschutzgesetze verabschiedet,22 die Fortschreibungen bedeuteten, und
19 Vgl. Wolfgang STREECK (Hg.), Staat und Verbände, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 25, Opladen 1994; am Fall des deutsch-deutschen Einigungsprozesses entwickelt Gerhard LEHMBRUCH (Einigung und Zerfall. Deutschland und Europa nach den Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1995) eine an der Entgegensetzung von Einflusslogik und Mitgliedschaftslogik orientierte, auch die Rolle des Bundeskanzlers reflektierende Darstellung. Auf den für Jugendhilfe und Jugendpolitik epochalen Wandel der in diesem Feld tätigen Verbände verweist in vielen Einzelstudien Thomas RAUSCHENBACH u. a. (Hg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch, Frankfurt/M. 1995. 20 Vgl. am Beispiel der Rolle der Jugendforschung für die Jugendpolitik Walter HORNSTEIN, Jugendforschung und Jugendpolitik. Entwicklungen und Strukturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Weinheim 1999; dort insbes. den Beitrag „Jugendprobleme, Jugendforschung und politisches Handeln“, S. 113–166. 21 Vgl. die politikwissenschaftliche Literatur zur Rolle der Ministerialverwaltung im Zusammenhang mit Entscheidungsvorbereitung und Programmentwicklung. 22 Die neue gesetzliche Regelung trug vor allem der durch Videoproduktionen entstandenen Lage Rechnung; sie stand in starkem Maße unter dem Druck der Öffentlichkeit angesichts zunehmender gewaltverherrlichender Produktionen. Das sachliche Problem bestand in der Zugänglichkeit von Videos entsprechender Machart; politisch ging es um den Widerstreit zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit und freie Berufsausübung (was die Verleiher von Videos geltend machten) und dem ebenfalls grundgesetzlich verankerten Schutz der Jugend. In den 90er Jahren stellte sich die Problematik des Medien-Jugendschutzes in verschärfter Form wegen des Aufkommens des Privatfernsehens. In den Diskussionen zur Medienschutzgesetzgebung, sowohl im vorparlamentarischen Raum wie auch im Gesetz-
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in den 90er Jahren die Medienschutzgesetze, die einen wichtigen Bestandteil der Regierungsarbeit darstellen. – Darüber hinaus wäre der Bereich der Ausbildungsförderung23 zu nennen: das Bundesgesetz über die individuelle Förderung der Ausbildung (BAföG), die Ausbildungsplatzförderung und das Berufsbildungsgesetz; alles Maßnahmen, die die beruflich-sozialen Lebensperspektiven der Heranwachsenden verbessern sollen. – Und schließlich sind die Regelungen anzuführen, die den Zivildienst24 betreffen. Die wichtigste politische Maßnahme ist dabei die Ausweitung des Zivildienstes auf 20 Monate, damit verbunden die Auseinandersetzung um die Gewissensprüfung. – Schließlich wären die Aktivitäten auf dem Feld der Internationalen Jugendpolitik einer Erörterung wert; das Studium der einschlägigen Materialien (interne Dokumente des zuständigen Ministeriums usw.) zeigt allerdings, dass z. B. im Zusammenhang mit dem Internationalen Jahr des Kindes und dem Internationalen Jahr der Jugend zwar die formellen Mitwirkungs- und nationalen Initiativgremien in Gang gesetzt wurden, dass aber das Engagement und die Bereitschaft, aus dem Anlass politisch etwas zu machen, eher gering war.25
23 gebungsverfahren, lässt sich die Position der Union als Versuch charakterisieren, zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Medienproduzenten und -vertreiber und den Schutznotwendigkeiten ein einigermaßen ausbalanciertes Gleichgewicht herzustellen. Die Kritik der SPD an dieser Strategie betonte, dass dabei die Interessen der Jugend unter die Räder kämen. Zu den Auseinandersetzungen s. HORNSTEIN, Jugendpolitik 1982–1989 und Jugendpolitik 1989–1994, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 7 (wie Anm. 2) und Bd. 11: Sozialpolitk im Zeichen der Vereinigung, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und vom Bundesarchiv, Baden-Baden 2007, S. 831–850. 23 Entsprechend der programmatischen Äußerung von Helmut Kohl, dass „die Fragen, die zusammenhängen mit dem Thema Zukunftschancen der jungen Generation das zentrale Thema der deutschen Innenpolitik der nächsten Jahre, vielleicht sogar des nächsten Jahrzehnts sein werden“ und angesichts der Tatsache, dass diese Chancen entscheidend von der Ausbildung und den Chancen auf dem Arbeitsmarkt abhängen, ist es nahe liegend, dass die entsprechenden Maßnahmen besonders auf Berufs- und Ausbildungsförderung zielten: Neufassung des Berufsbildungsgesetzes, Ausbildungsplatzförderung, Arbeitsförderungsgesetz, Neufassung des Arbeitsschutzgesetzes. Die unterschiedlichen politischen Positionen kommen in den Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck. 24 S. dazu „Gesetz über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer“ (ZDG) i.d.F. vom 31.7.1986 (BGBl I, S. 1205–1370), mit dem das „Gesetz über den zivilen Einsatzdienst“ vom 13.1.1960 (BGBl I, S. 10) abgelöst wurde. 25 Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass sich das Engagement der von der Union geführten Bundesregierung für die europäische Einigung in einem starken Bemühen um Intensivierung und Ausweitung der Programme im Rahmen des europäischen Integrationsprozess niederschlägt. Vgl. Walter HORNSTEIN/Gerd MUTZ, Die europäische Einigung als gesellschaftlicher Prozeß. Soziale Problemlagen, Partizipation und kulturelle Transformation, Baden-Baden 1993. In den Austauschprogrammen mit den Ländern des Ostblocks zeigte die Bundesregierung in der hier behandelten Epoche eher Zurückhaltung; eine heftige Auseinandersetzung ergab sich wegen der finanziellen Förderung der Teilnahme an den kom-
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2. Die jugendpolitische Linie der CDU 1982–1998 Nachfolgend möchte ich einige Themen und Konstellationen, denen man wegen des Aussagewerts, den sie für die Jugendpolitik der Regierung haben, den Charakter von Schlüsselthemen zusprechen könnte, daraufhin befragen, wie sich in ihnen die jugendpolitische Linie der CDU identifizieren lässt. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) Gesamtkonzeption und Ziel des KJHG, das am 1. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern bzw. am 1. Januar 1991 in den westlichen Bundesländern in Kraft trat, war die Ablösung des eingriffsorientierten und ordnungsrechtlichen, in seinen Grundzügen aus der Weimarer Zeit stammenden Jugendhilfegesetzes durch ein modernes, präventiv- und leistungsorientiertes Gesetz. Die „unendliche Geschichte“, die schließlich zu diesem Gesetz geführt hat, ist hier nicht wiederzugeben. Es geht dabei selbstverständlich auch nicht um eine detaillierte Analyse zur Bewertung des Gesetzes, sondern um die Punkte, die die Handschrift der CDU tragen. Das sind:26 – Die starke Familienorientierung des Gesetzes; sie bedeutet: die Leistungsansprüche, die sich aus dem Gesetz ergeben, sind gegenüber den Eltern formuliert; diese können sie geltend machen, nicht die Kinder und Heranwachsenden. – Dem entspricht die schwache Rechtsstellung des jungen Menschen im Vergleich zu derjenigen der Eltern. Dies gilt, auch wenn es – das ist neu gegenüber dem alten JWG – Beteiligungsrechte und Antragsrechte für die Heranwachsenden gibt. – Ein dritter Punkt betrifft die in vielerlei Hinsicht starke Stellung freier Träger; das Gesetz hält daran fest, erweitert allerdings den Kreis derer, die Ansprüche auf Förderung geltend machen können – über gemeinnützige Träger hinaus um gewerbliche, an Marktgesichtspunkten orientierte. Im Ganzen zeigt das Gesetz gerade in zentralen Punkten durchaus Züge der CDU-Programmatik; dies gilt vor allem für seine Familienorientierung; in anderer Hinsicht stellt das Gesetz über weite Strecken hin nichts anderes dar als die Kodifizierung dessen, was zum Zeitpunkt seines In-Kraft-Tretens längst Praxis war.
26 munistischen Weltjugendfestspielen in Moskau. Vgl. HORNSTEIN, Jugendpolitik 1982– 1989 (wie Anm. 2). Eher wenig enthusiastisch erfolgt auch die Mitarbeit der Bundesrepublik bei dem von der UN proklamierten „Jahr der Jugend“ (Belege EBD.). 26 Die unterschiedlichen Positionen von CDU/CSU und SPD fanden ihren Niederschlag sowohl in den Plenumsdiskussionen des Bundestags als vor allem auch in den Debatten der zuständigen Ausschüsse.
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Auswirkungen der deutsch-deutschen Einigung Auch wenn die durch den Einigungsprozess sichtbar gewordenen oder entstandenen Probleme im Bereich Jugend wesentlich in einem singulären Ereignis begründet sind, ist doch zu fragen, ob und in welcher Form die Handschrift der CDU die „Lösungen“ und Bearbeitungsformen dieser Probleme bestimmt hat und welche weiterwirkenden Effekte sich daraus ergeben haben. Entsprechend der These am Ende des Neunten Jugendberichts erwies sich die Tendenz zum Dienstleistungsparadigma, die sich in der ehemaligen DDR aus der säkularisierten Situation ergab, als prototypisch für die alten Bundesländer und förderte dort schubartig die Entwicklung zu diesem Paradigma. Zunächst die Fakten: Die politische Lösung der im Zusammenhang der deutsch-deutschen Einigung sichtbar gewordenen Jugendprobleme ist, was die grundsätzliche und langfristige Dimension betrifft, in der umstandslosen Übertragung des in den westlichen Ländern entstandenen Jugendhilfe-Systems zu sehen. Zur Beförderung dieses Vorgangs wurde das Programm AFT27 ins Leben gerufen. Zu aktuellen Problemen, die sich dramatisch in Ausländerhass und Ausländermord, in fremdenfeindlichen, auch neonazistischen Aktivitäten bemerkbar machten, wurden Modellprogramme entwickelt (AgAG).28 Da es keine geeigneten freien Träger gab, wurde eine eigene Trägerorganisation, die Stiftung „Demokratische Jugend“, gebildet. Die Ein- und Zuordnung in die parteipolitische Programmatik lässt sich schon von der grundsätzlichen, auch nirgends weiter diskutierten oder problematisierten Entscheidung aus vornehmen, ganz auf die Institutionen zu setzen (was durch die Übertragung geschah). Vielleicht kann man diese Institutionenorientierung als typisch für eine Tradition und Politik ansehen, die Jugendpolitik eher als Institutionenpolitik und weniger als eine auf die Adressaten, nämlich Jugend, gerichtete AdressatenPolitik versteht. Mit den Adressaten hat sich die Jugendpolitik in diesem Zusammenhang nur da beschäftigt, wo diese Probleme und Konflikte erzeugten – nicht aber in der Weise, dass sie diesen eine Perspektive, eine Zukunft, Lebenschancen vermittelt hätte. Dass die Jugendpolitik im Zusammenhang der deutsch-deutschen Einigung keine Adressatenpolitik (dies nur im Krisen- und Konfliktfall!) war, hängt auch damit zusammen, dass die öffentliche Meinung eine durch Ergebnisse der Jugendforschung gestützte (aber nur bedingt zutreffende) These verbreitete, wonach die Jugend der östlichen Bundesländer sich längst mentalitätsmäßig dem
27 Jugendpolitisches Programm des Bundes für den Aus- und Aufbau von Trägern der freien Jugendhilfe in den neuen Bundesländern. 28 Ausführlich dokumentiert ist das Programm in: Jürgen FUCHS u. a. (Hg.), Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG), Bd. 1: Dokumentation des Modell-Projektes, Münster 1997.
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Westen zugehörig fühlte, aber dies nur nicht praktisch leben konnte. Das aber war nach der Vereinigung möglich.29 Um die Jugend, so die vorherrschende Meinung, musste man sich, was ihre demokratische Gesinnung betraf, keine Sorge machen – abgesehen von der Minderheit, die durch Gewalt und Fremdenhass Kummer bereitete. Die Diskussion um die Rechtsstellung und Grundrechte der Kinder Es sind vor allem drei Anlässe, die die Frage nach der Rechtsstellung des Kindes virulent werden ließen und zu heftigen politischen Debatten führten: 1. In den Auseinandersetzungen, die im gemeinsamen Ausschuss von Bundestag und Bundesrat zu der Frage geführt wurden, ob und in welcher Richtung das Grundgesetz vor dem Hintergrund der deutschen Einigung und der bisher gemachten Erfahrungen geändert werden sollte, wurden Vorschläge gemacht, die darauf hinausliefen, den Kindern in einem eigenen Artikel eigene Grundrechte zuzusprechen. Kinder sollten im Grundgesetz, so lautete die Forderung einer starken Gruppe im Ausschuss, nicht mehr nur als „Objekte“ elterlicher Rechte und Pflichten (vor allem im Zusammenhang mit dem Recht der Eltern auf Erziehung), sondern mit einem eigenen Anspruch auf Anerkennung und Respektierung in Erscheinung treten. Sie sollten mit einem eigenen Anspruch auf Schutz, Förderung und „kindgerechte Lebensbedingungen“ (so die Jugendminister der Länder in einem Beschluss vom 12. Juni 1992)30 im Grundgesetz vorkommen (nicht nur mit Rechten, die sich aus den Pflichten der Eltern ergeben!), und es sollte im Grundgesetz gesichert sein, dass sie ihren wachsenden Fähigkeiten und Einsichten entsprechend die grundgesetzlich gesicherte Selbstbestimmung auch verwirklichen könnten. Formulierungsvorschläge für den Abs. 4 des Artikel 6 legte ein Gesetzentwurf der Fraktion der SPD vor,31 29 S. dazu Schülerstudie ’90. Jugendliche im Prozeß der Vereinigung, bearb. v. Imbke BEHNKEN/Jürgen ZINNECKER, Weinheim 1991; Schüler an der Schwelle zur deutschen Einheit. Politische und persönliche Orientierungen in Ost und West, hg. v. Deutschen Jugendinstitut, Opladen 1992; Jugend ’92. Ergebnisse der JBM-Jugendstudie. Die selbstbewußte Jugend. Orientierungen und Perspektiven zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, hg. v. Institut für Empirische Psychologie, Köln 1992; Jugend ’92. Lebenslagen, Orientierungen und Entwicklungsperspektiven im vereinigten Deutschland, 4. Bde., hg. v. Jugendwerk der Deutschen Shell, Hamburg 1992 (Zusammenfassung der Ergebnisse in Bd. 1, S. 26–32). Zur Kritik an Ansatz und Vorgehensweise dieser Art von Forschung vgl. Walter HORNSTEIN/Werner SCHEFOLD, „Stimmungsumschwung“. Von den „Pessimisten“ der achtziger Jahre zu den „desengagierten Optimisten“ der neunziger. Anmerkungen zur Shell-Studie ’92, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 27 (1993), S. 73–89. 30 Abgedruckt in: Forum Jugendhilfe, 3 (1992), S. 48; weitere Stellungnahmen, die alle auf eine stärkere Berücksichtigung von Grundrechten für Kinder hinauslaufen, stammen u. a. vom „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder“, vom „Interessenverband Kindheit e.V.“, von der „Arbeitsgemeinschaft Bildung und Lebensgestaltung e.V.“, von der „Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe“ und von der „Bundesleitung der Katholischen Jungen Gemeinde“ – Druck: EBD. S. 46–48.
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in dem es hieß: „Kinder haben ein Recht auf Wahrung und Entfaltung ihrer Grundrechte sowie auf Entwicklung zu selbstbestimmungs- und verantwortungsfähigen Persönlichkeiten.“ In der Begründung wird verlangt, dass zur Verbesserung der Rechtsstellung der Kinder ihr Anspruch „auf Wahrung und Entfaltung ihrer Grundrechte sowie auf Entwicklung verfassungsrechtlich zu akzentuieren“ sei. Dem widersprachen die CDU-Politiker entschieden. Sie blieben damit auf der Linie, dass einerseits der gestiegenen öffentlichen Aufmerksamkeit für Kinder Rechnung getragen wird (indem z. B. das Jugendwohlfahrtsgesetz in Kinder- und Jugendhilfegesetz, die Jugendberichte in Kinder- und Jugendberichte, der Bundesjugendplan in „Kinder- und Jugendplan des Bundes“ umbenannt wurden), andererseits bleibt es aber bei der familialen Definition der Kindheit: Kindheit ist Familienkindheit! Auch in der Diskussion zum elterlichen Sorgerecht ist zu konstatieren, dass die neuen Regelungen der gewachsenen Anerkennung der Rechte der Kinder zwar Rechnung trugen, insofern die Beteiligung der Kinder im Trennungsfall der Eltern verstärkt und indem der Unterschied von biologischer und sozialer Elternschaft anerkannt wurden, womit die Bedürfnisse des Kindes mehr berücksichtigt wurden. Doch blieb das stärkere Gewicht im Spannungsverhältnis von Kinderrechten und Elternrechten eindeutig auf der Seite der Eltern. In der Debatte um die Frage „Grundrechte für Kinder“ wurde diese Linie konsequent mit folgender Argumentation vertreten: – Kinder sind schon nach dem geltenden Grundgesetz verfassungsrechtlich geschützt; das ergibt sich daraus, dass die Grundrechte für alle Menschen gelten, demnach auch für Kinder.32 Kinder genießen darüber hinaus aber auch noch einen besonderen Schutz – so wird weiter argumentiert –, der sich aus dem Jugendschutzparagraphen des Grundgesetzes, also aus Artikel 5, ergibt, der zugunsten des Jugendschutzes sogar ein hochwertiges Verfassungsgut, nämlich das Recht der freien Meinungsäußerung, einschränkt; für den Schutz der Kinder, so die Schlussfolgerung, ist also gesorgt! – Die Festschreibung von Grundrechten für Kinder gehört nicht ins Grundgesetz, sondern in die einfache Gesetzgebung; außerdem wird bezweifelt, ob eine Formulierung im Grundgesetz geeignet ist, die Wirklichkeit im wünschenswerten Sinn zu verändern. – Schließlich wird die Unterscheidung von „grundrechtsfähig“ und „grundrechtsmündig“ herangezogen, um die volle Grundrechtszuordnung zu Kindern relativieren.
31 BT-Drs. 12/6323 vom 1.12.1993, S. 4, 8. 32 In diesem Sinn äußerten sich die Abgeordneten Rahardt-Vahldieck (CDU) und John (CDU) in der 24. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission (S. 59f.), ferner der Sachverständige Steiger in der Öffentlichen Anhörung vom 10. Dezember 1992 (BT, Sten.Ber. 12. WP, S. 49–52).
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Umgekehrt geht es den Verfechtern des Vorhabens, Kindern im Grundgesetz explizit Grundrechte zuzuerkennen, darum, den Kindern einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft durch die Zuordnung von Grundrechten zu geben. Das Ziel ist, das Kind aus seinem „abgeleiteten“ Status (d. h.: es hat alles und ist alles nur durch die Eltern), als einem Objekt-Status zu befreien. 2. Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes33 verstärkte die politischen Auseinandersetzungen über die Rechtsstellung der Kinder. Grundlegend für dieses Dokument ist, dass es die Rechte des Kindes in den Mittelpunkt rückt und von den Staaten fordert, das Recht des Kindes auf Selbstbestimmung zu respektieren. Die Bundesregierung trat zwar der Übereinkunft bei, aber mit einer Vorbehaltsklausel,34 die u. a. festhält, dass aus den Formulierungen des Übereinkommens keine direkten Ansprüche abzuleiten seien, insbesondere dass nicht eine Form von Freizügigkeit, nicht nur von Kindern, herausgelesen werden könne, die dem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Asylrecht widerspräche. In der Parlamentsdebatte darüber wurden die unterschiedlichen Positionen deutlich: Die FDP (Außenminister Kinkel) sah das Problem darin, dass die Länder dem Übereinkommen zustimmen müssten, wenn es für die Bundesrepublik vorbehaltlos Geltung erlangen sollte. Für die CDU aber waren es vor allem die Ausführungen über die starke rechtliche Stellung der Kinder gegenüber den Eltern, die die Vorbehalte begründeten. Die Tatsache, dass allerdings auch unter einer SPD geführten Regierung die Vorbehaltsklausel nicht aufgegeben wurde – und zwar trotz massiven Drängens von vielen Seiten – macht deutlich, dass es sich hier weniger um eine aus einer Parteiprogrammatik resultierende Position als vielmehr um ein aus der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik resultierendes Problem – zumindest auf der offiziellen Ebene – handelt. 3. Ein weiterer Anlass, sich mit der Stellung des Kindes und mit seinen Rechten zu befassen, entstand durch die vor allem von der SPD ausgehenden Bestrebungen, eine Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderkommission) zu etablieren.35 Diese Bestrebungen sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich seit den 70er Jahren die Vorstellung durchsetzte,
33 Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes“ (BT-Drs. 769/90 v. 2.11.1990); das Gesetz ist am 5. April 1992 in Kraft getreten; BGBl II, S. 990. 34 „Denkschrift zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ und (als Anlage) „Wortlaut der Erklärung, welche die Bundesregierung bei Niederlegung der Ratifikationsurkunde abzugeben beabsichtigt“ (BR-Drs. 769/90, S. 29–53). 35 Zur Geschichte der Kommission s. Wilhelm SCHMIDT, Die Bundestags-Kinderkommission – Lobby für Kinder im Parlament, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 41 (1993), Heft 4, S. 462–464; Darstellungen der Vorgeschichte und der Probleme der Etablierung
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dass auch Kinder, nicht nur Jugendliche, einer Politik bedürfen, die sich um günstige Lebensverhältnisse bemüht.36 Die Begeisterung für eine solche Einrichtung hielt sich bei der CDU in Grenzen. In einem internen Papier des zuständigen Ministeriums heißt es, die Forderung nach einer solchen Institution sei zweifellos „populär“, aber das Vorhaben dennoch problematisch. Es bestehe die Gefahr, „daß durch eine solche Einrichtung die Familie als erste und wichtigste Gemeinschaft für die personale Entfaltung des Menschen relativiert und eine staatliche Institution als ,Über-Vater oder Über-Mutter‘ eingesetzt wird“37. Die Kinderkommission wurde 1988 doch eingerichtet, aber in kleinster Besetzung, mit einem unzureichenden administrativen Apparat, mit schwachen Mitwirkungs- und Zuständigkeitsregelungen. In ihren Jahresberichten beklagte die Kinderkommission, dass sie nicht in ausreichender Form von den etablierten Ausschüssen über die Gesetzgebungsvorhaben, die Kinder und ihre Lebensumstände betreffen, informiert würde. Die Einrichtung der Kinderkommission ist ein Beispiel dafür, wie unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Medien zunächst vertretene grundsätzliche Positionen aufweichen. Instrumente, Medien, Strukturen der Jugendpolitik 1982–1998 Für den Bundesjugendplan kann als Ergebnis einer kritischen Betrachtung festgehalten werden, dass er in seiner Grundstruktur als jugendpolitisches Förderinstrument des Bundes in dieser Zeit seiner Idee und Programmatik nach wirksam war; dass er sich aber – und das entspricht seiner Grundidee des flexiblen 36 der Kommission finden sich ferner im Bericht der Kommission über ihre Tätigkeit von 1988–1990, S. 4; dort und im Zwischenbericht über die Tätigkeit 1991–1993, S. 4, auch die Beschreibung der Konflikte und Widerstände, die mit der Einrichtung und der Funktion der Kommission verbunden waren. 36 Der von Kurt LÜSCHER hg. Sammelband Sozialpolitik für das Kind, Stuttgart 1979, dokumentierte erstmals, dass Kinder zum Thema der (Sozial-)Politik wurden; ausführlich informiert der Art. „Kinderpolitik“ von Michael HONIG, in: Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik, hg. v. Hans-Uwe OTTO/Hans THIERSCH, 2. Aufl., Neuwied 2001, S. 936– 949, über Begriffsvarianten und Konzeptionen zum Thema Kind als Objekt der Politik; vgl. die Übersicht bei Manfred MARKEFKA, Kinder: Objekt der Politik, in: Handbuch der Kindheitsforschung, hg. v. Manfred MARKEFKA/Bernhard NAUCK, Neuwied 1993, S. 511– 523. – Einen wesentlichen Beitrag zu dieser neuen Sicht auf Kinder leistet die ab Ende der 70er Jahre sich entfaltende sozialwissenschaftliche Kinderforschung. Zur Kritik vgl. Maria Eleonora KARSTEN, Normale Kindheiten: Über Kindheitsvorstellungen in der bundesrepublikanischen Sozialpolitik, in: Wohl und Wehe der Kinder. Pädagogische Vermittlungen von Kindheitstheorie, Kinderleben und gesellschaftlichen Kindheitsbildern, hg. von Wolfgang MELZER u. a., Weinheim 1989, S. 53–61; Georg NEUBAUER/Heinz SÜNKER (Hg.), Kindheitspolitik international. Problemfelder und Strategien, Opladen 1993. 37 Ein aufschlussreiches Dokument, das die eher ablehnende Haltung des BMJFG, zumindest auf der Referentenebene, widerspiegelt, liegt vor in dem Schreiben von Albert Klein-Reinhardt vom 28. April 1986 an die Bundesministerin (BA B 189/48490), Zitat von KleinReinhardt, Brief S. 5.
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Eingehens auf neue Problemlagen – immerhin in einer Reihe von Punkten veränderten Bedingungen und Aufgabenstellungen im Feld der Jugendarbeit ebenso wie veränderten politischen Zielsetzungen angeglichen hat. Zu diesen Entwicklungen gehören die Verstärkung kompensatorischer Programme38 (gegenüber Bildungs- und Freizeitprogrammen), die Durchsetzung von Effektivitäts- und Wirkungskontrollen in Form wissenschaftlicher Begleitung (Experimentalprogramm), die Auseinandersetzungen, die mit den finanziellen Problemen der öffentlichen Haushalte zu tun haben, und die Konflikte, die sich aus der Frage ergeben, inwieweit staatliche Jugendpolitik den freien Trägern, also Jugendverbänden, Wohlfahrtsverbänden, vorschreiben darf, was zu geschehen hat. Ähnliches gilt für die Institution der Jugendberichte.39 Sie wurden in ihrer Grundstruktur fortgeführt, zeigten aber in den von der Bundesregierung vorgegebenen Themen durchaus politisch gesetzte Schwerpunkte: Das gilt zunächst für den 6. Bericht (1984), der sich mit der Situation von Mädchen in der Jugendhilfe befasst, und für den 7. (1986), der das Thema Familie und Jugendhilfe behandelt. Der 8. (1990) ist ein Gesamtbericht, der 9. (1994) behandelt die Situation in den neuen Bundesländern, der 10. (1998) die Situation der Kinder in der Bundesrepublik. Die Auseinandersetzung mit den Berichten (die von einer Sachverständigenkommission erarbeitet, mit einer Stellungnahme der Bundesregierung dem Bundestag und dem Bundesrat zugeleitet werden) ist von dem Interesse geleitet, die jeweilige eigene Position bestätigt zu sehen, oder die Übereinstimmung mit den eigenen Zielsetzungen dokumentiert zu bekommen, Kritik zu entschärfen und abzuwehren – dies alles gehört zu den generellen Mustern des Umgangs mit den Berichten; eine spezifisch durch die Union und ihre politischen Handlungsweisen geprägte Form des Umgangs lässt sich nicht konstatieren. Auch das Bundesjugendkuratorium zeigte in dem hier behandelten Zeitraum nur Akzentverschiebungen, aber keine grundsätzliche Weiterentwicklung oder Neustrukturierung. Am strukturellen Grundproblem, einerseits ein Beratungsgremium der Bundesregierung zu sein, andererseits zum größten Teil aus Funktionären von Organisationen und Verbänden zu bestehen, die durch eben 38 Siehe vor allem die Auseinandersetzungen um die Richtlinien 1985; vgl. HORNSTEIN, Jugendpolitik 1982–1989 (wie Anm. 2). Ausführliche Darstellung des Bundesjugendplans bei Walter A. STEITZ, Der Bundesjugendplan 1950–1990. Strukturwandlungen eines jugendpolitischen Instrumentariums, in: Jahrbuch für Jugendsozialarbeit, Bd. 14, Köln 1993, S. 49–136. Eine wechselvolle Geschichte. 50 Jahre Kinder- und Jugendplan des Bundes (Schriftenreihe des Deutschen Bundesjugendrings, 34), Berlin 2001, berücksichtigt vor allem die „Zuwendungsempfänger“. 39 Vgl. Walter HORNSTEIN, Jugendpolitik und Jugendforschung im Spiegel der Jugendberichte der Bundesregierung, in: DERS., Jugendforschung (wie Anm. 20), S. 209–241.
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diese Bundesregierung finanziert werden, und auch dass über die Grundsätze dieser Finanzierung in diesem Gremium verhandelt wird,40 änderte sich in dieser Epoche nur wenig. Die Mitglieder des Gremiums treten in verschiedenen Rollen auf: als diejenigen, die die Probleme definieren, und als diejenigen, die über die Kompetenzen verfügen, diese zu lösen, sie sind Problemlöser und Subventionsempfänger zugleich. III. Fazit: Jugend und Jugendpolitik 1982–1998 Das fast völlige Fehlen evaluativer Untersuchungen zur Wirksamkeit der Jugendpolitik in dem hier untersuchten Zeitraum macht es schwierig, die Effekte der Jugendpolitik (also nicht nur ihre Programmatik und ihre Intentionen) generell und dann speziell diejenigen, die der Politik der Union zuzurechnen sind, zu identifizieren. Das generelle Problem der Wirkungsmessung von politischen Maßnahmen stellt sich hier also in verschärfter Form – vor allem dann, wenn es um die Wirkung bei den Adressaten der Politik geht und nicht nur um die Einschätzung und Bewertung der Programme, Aktivitäten und Institutionen. Zwar gibt es im Zusammenhang mit den Jugendberichten41, den Programmen des Bundesjugendplans42 im Kontext der Modellprogramme gegen Aggressivität und Gewalt (AgAG)43 durchaus Diskussionen über die Wirksamkeit, aber diese finden eher mit den Waffen der politischen Auseinandersetzung statt und nur in begrenztem Umfang auf der Basis rationaler wissenschaftlich-objektiver Tatsachenerhebung und -bewertung. So liegt es nahe, die 40 Noch 1995 wies das Bundesjugendkuratorium gemäß der Berufungsliste vom 10. Oktober 1995 folgende Zusammensetzung auf: Von den 19 Mitgliedern waren 18 in leitenden Funktionen in Spitzenverbänden, Bundesorganisationen oder in der öffentlichen Verwaltung (z. B. bei Landesjugendämtern) tätig. Je zwei Mitglieder waren Vertreter der Kommunen und der öffentlichen Jugendhilfe, des Bundesjugendrings bzw. der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege; je ein Mitglied als Vertreter der Arbeitgeber, der Gewerkschaften, dann zahlreiche Vertreter von Fachverbänden bzw. deren Zusammenschlüssen auf Bundesebene (für kulturelle Jugendbildung, für Jugendsozialarbeit, für politische Bildung). Nur eine Person unter den 19 Mitgliedern gehörte keinem Verband an (von denen die meisten finanzielle Mittel vom BMJFG erhalten) und kann insofern als unabhängiger Experte betrachtet werden. Seit Ende der 90er Jahre haben sich die Gewichte in zwei Richtungen verschoben: Die Zahl der verbandsunabhängigen Mitglieder des Kuratoriums hat sich erhöht; zum anderen ist der Zustand beseitigt worden, dass Mitglieder über finanzielle Zuwendungen, die ihre eigenen Organisationen betreffen, beraten können. 41 Vgl. die von der Jugendberichts-Kommission zum 11. Jugendbericht veranlasste Untersuchung zu den Wirkungen des „Mädchenberichts“; s. Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht (Hg.), Mädchen- und Jungenarbeit – eine uneingelöste fachliche Herausforderung, München 2002. 42 Siehe vor allem die seit den 80er Jahren zum Programmpunkt gemachten Formen der wissenschaftlichen Begleitung. 43 Vgl. die in Bd. 4 der Dokumentation von FUCHS (wie Anm. 28) enthaltenen Berichte zur Evaluation.
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Bewertung vor allem auf die Ebene der Programmatik und Intentionen und weniger auf diejenige der Wirkungen bei den Adressaten zu richten. Eine zweite Schwierigkeit für eine zusammenfassende Bewertung der Jugendpolitik ergibt sich aus der großen Heterogenität der jugendpolitischen Felder und Problembereiche und aus der Tatsache, dass hier von der Politik über einen langen Zeitraum die Rede ist. Was auf dem Gebiet der Jugendhilfegesetzgebung (KJHG, Jugendschutzgesetzgebung, Personensorgerecht usw.) zustande kam, lässt sich schwerlich gemeinsam mit den politischen Regelungen bewerten, die im Bereich der Jugendförderung eingeführt wurden, und auch hier gilt es noch einmal zu unterscheiden zwischen Jugendförderung im Rahmen des Bundesjugendplans und Förderungsmaßnahmen im Rahmen von BAföG und anderen Programmen. Drittens, und das ist vielleicht das gravierendste Problem, steht bei jeder Bewertung der politischen Praxis die Frage nach den Maßstäben und Kriterien zur Debatte. Eine Möglichkeit besteht darin, die Beurteilung gleichsam immanent vorzunehmen, also die politische Praxis an der Programmatik zu messen und zu prüfen, ob und wieweit sie den selbstgesetzten und formulierten Ansprüchen gerecht wird. Das kann sie aus bereits genannten Gründen so gut wie nie. Eine sozialwissenschaftliche Analyse und Bewertung – eine weitere Möglichkeit – besteht darin zu prüfen, in welcher Weise die politische Praxis die gesellschaftlichen Thematisierungen aufgreift, bearbeitet, einer Lösung zuführt und wie sie sich von anderen unterscheidet.44 Die unterschiedlichen Positionen Die unterschiedlichen Formen, in denen Jugend in dem hier behandelten Zeitraum thematisiert wird, und die Auseinandersetzungen lassen sich wie folgt darstellen: Im Zeitraum von 1982 bis zum Beginn der 90er Jahre vertraten die maßgebenden Politiker der CDU/CSU eine auf Integration der nachwachsenden Generation gerichtete Politik – im Unterschied zu der am Prinzip der Emanzipation orientierten Politik der SPD. Es wurde das Thema Integration versus Emanzipation verhandelt – sicherlich innerhalb der CDU in unterschiedlicher Pointierung und mit unterschiedlichem Verständnis dessen, was Integration zu bedeuten hat;45 aber maßgebend war, dass hier von der Jugend etwas erwartet wurde. Nicht mehr der „Dialog mit der Jugend“ stand im Vordergrund, wie er von der Enquete-Kommission gefordert und teilweise auch
44 Vgl. Wolfgang VAN DEN DAELE/Friedhelm NEIDHARDT (Hg.), Kommunikation und Entscheidung. Politische Funktionen öffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren, Berlin 1996. 45 So lassen sich die Positionen von Heiner Geißler und Rita Süssmuth einem eher progressivsozialen Spektrum, diejenige von Franz Josef Strauß einer konservativen Vorstellung zuordnen.
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praktiziert wurde, sondern die Forderung nach Mitmachen, Integration gegen die Selbstausbürgerungstendenzen und gegen die emanzipative Unterstützung durch die SPD. Die Unterscheidungen sind auch wichtig für die Frage nach dem Stellenwert und der Funktion der Jugendpolitik in dem hier behandelten Zeitraum der Kohl-Regierung. Der „starken“ Programmatik zu Jugendthemen, die vor 1982 von Seiten der Union zum Ausdruck gebracht wurde, folgte nach der Regierungsübernahme unter den Bedingungen der Finanzknappheit in den 80er Jahren, dass alles, was Geld kostete, zurückgestellt wurde. Dazu gehörte auch das seit Jahrzehnten nach Meinung aller äußerst reformbedürftige JWG. Ein zweites Beispiel dafür, wie die gesellschaftliche Realität zur Revision der Programmatik zwang, war die im Gefolge der deutschen Einheit auftretende Welle von „Jugendgewalt“, von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Dies zwang zu einer jugendpolitischen Antwort, die in wesentlichen Aspekten andere Akzente setzen musste.46 Im deutsch-deutschen Einigungsprozess etwa ab Beginn der 90er Jahre wurde Jugend zu einem ausgesprochenen Krisen- und Problemthema, und zwar für alle politischen Kräfte. Jugend wurde etwas, wovor man sich fürchtete. Jugend war keine positiv zu gestaltende Größe (selbst wenn es dabei nur um Integration ging). Der Unterschied zwischen den 80er und den 90er Jahren liegt auf der Hand: In den 80er Jahren gab es ein Ringen um die Jugend (von Seiten der CDU in unterschiedlich weitreichenden Formen, was die angestrebte Integration betraf); in den 90er Jahren dagegen war eher die Angst vor der Jugend und der „Jugendgewalt“ maßgebend, insbesondere weil Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit dem Ansehen der Bundesrepublik auf der internationalen Ebene erheblich schaden konnten. Allerdings bringt es die eingangs herausgestellte Heterogenität jugendpolitischer Themen und Problembereiche mit sich, dass auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche jugendpolitisch relevante Willensbildungs- und Problemdefinitions-Prozesse ablaufen, die wenig mit den skizzierten zu tun haben. Prozesse der Gesetzgebung im Bereich der Personenfürsorge und der Kinderrechte z. B., die in den Geleisen der Gesetzgebungsprozeduren ablaufen, die relativ unberührt von der gleichzeitigen gesellschaftlichen Diskussion ihren Fortgang nehmen. 46 Wilhelm HEITMEYER, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische Ergebnisse und Erklärungsmuster zur politischen Sozialisation, Weinheim 1987; SinusInstitut (im Auftrag des BMJFG), Jugend privat. Verwöhnt? Bindungslos? Hedonistisch?, Opladen 1985. Elisabeth NOELLE-NEUMANN/Erp RING, Das Extremismus-Potential unter jungen Leuten in der Bundesrepublik Deutschland 1984, hg. v. BMI, Allensbach 1985. 5 Millionen Deutsche: „Wir sollten wieder einen Führer haben…“. Die Sinus-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen, hg. v. Sinus-Institut, Reinbek b. Hamburg 1981, S. 78.
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Die Gründe für diesen Sachverhalt sind vielschichtig. Dass es für das Thema Jugend in seinen verschiedenen Facetten – Bildung, Ausbildung, soziale Aspekte, Freizeit, soziale Infrastruktur, also Faktoren, die die Lebenslage von Jugend bestimmen – keine Zentralinstanz gibt, ist sicherlich von wesentlicher Bedeutung, ebenso die starke Rolle kommunaler, d. h. örtlicher Faktoren, die es von der jeweiligen finanziellen Leistungskraft abhängig macht, was für die Jugend getan werden kann. Auf einer zweiten Ebene jugendpolitischer Praxis, die eingangs als Ebene der Ressortpolitik und als Jugendhilfepolitik klassifiziert wurde, stehen andere Merkmale im Vordergrund. Sie ergeben sich aus der allgemeinen politischen Grundrichtung und Wertorientierung der Unionsparteien und resultieren aus der Wertschätzung von Ehe und Familie als den Bausteinen und unersetzlichen Grundlagen der Gesellschaft. Daraus resultiert die Abhängigkeit der Jugendpolitik von der Familienpolitik. Jugendpolitik ist eine von der Familienpolitik „abhängige Größe“47. Damit unterscheidet sich diese Konzeption der Jugendpolitik, die im Übrigen zum Allgemeingut der politischen Grundorientierungen der Unionspolitiker gehört, prägnant von einer Konzeption von Jugendpolitik, die die Jugendhilfe, vor allem auch die Jugendarbeit, als ein eigenständiges durch Politik zu förderndes und in seinen Rahmenbedingungen zu gestaltendes Sozialisationsfeld neben der Familie und mit eigenen Aufgaben betrachtet – wie dies die SPD in verschiedenen Zusammenhängen vertritt. Im Verständnis der Unionsparteien hat die Jugendpolitik die Familie bei ihren Anstrengungen um die Erziehung der Jugend zu unterstützen – so wie das auch Jugendhilfe und Jugendarbeit zu tun haben. Als weiteres Merkmal, das vor allem die Jugendhilfepolitik und die Diskussion um Eltern- und Kindesrechte bestimmt, ergibt sich aus dieser Grundposition die eindeutige Höherbewertung der Elternrechte gegenüber den Kindesrechten.48 An dieser wie an anderen Stellen wird deutlich, wie sich profilierte Positionen der Kinder- und Jugendpolitik aus den allgemeinen politischen Grundrichtungen ergeben und wie sie das jugendpolitische Handeln bestimmen. Allerdings gilt auch für die Jugendpolitik der Ära Kohl, dass sie keine unmittelbare Eins-zu-eins-Umsetzung der CDU-Programmatik in die politische Praxis darstellt. Eine Rolle spielen dabei: – die Rücksicht auf den Koalitionspartner (die im Fall der Jugendpolitik keine gravierenden Punkte mit sich bringt), – die Kompromissnotwendigkeiten in vielerlei Hinsichten,
47 Vgl. die prägnante Formulierung in: BMJFFG, Stellungnahme zum 7. Jugendbericht, 1986, S. 3. 48 Siehe oben die Diskussion um mögliche Grundgesetzänderungen und um den Beitritt der Bundesrepublik zum Übereinkommen der UN über die Rechte des Kindes.
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– die Macht des administrativen Apparats, – die Macht der Verbände. Allerdings zeigt sich, dass das Ausmaß, in dem Grundpositionen und die daraus resultierenden Regulierungsformen sich durchsetzen, je nach Ebene oder Bereich, in dem sich die Praxis der Politik bewegt, unterschiedlich ist: Auf der Ebene der programmatischen und medial verbreiteten Politik lässt sich am deutlichsten die politische Grundrichtung erkennen und gegenüber derjenigen anderer Parteien unterscheiden. Auf der Ebene gesetzlicher Regelungen, z. B. im KJHG oder im Zusammenhang mit Diskussionen zu Eltern- und Kindesrechten sieht es anders aus. Sie stellen, zumindest bis zu einem gewissen Grad, immer Resultate von Kompromissen und Konsensfindung dar. Es ist unübersehbar, dass die Jugendpolitik in dem hier betrachteten Zeitraum bei allem Auf und Ab und allen Wandlungen doch eine durchgehende Entwicklung nahm: nämlich hin zu einer Jugendpolitik, die sich vorwiegend als Problem- und Krisenbekämpfungspolitik verstand, aber nicht als Politik auftrat, die auf einer reflektierten Funktions- und Rollenbestimmung der Jugend, d. h. auf einer Reflexion darüber beruht, was Jugend im und für den gesellschaftlichen Prozess soll, die also auch nicht darüber reflektiert, was Jugend im gesellschaftlichen Wandel eigentlich soll, wie sie über Kontinuität und Wandel, über Tradition und Fortschritt entscheidet. Das war, zumindest auf der programmatischen Ebene in den 70er Jahren und zu Beginn der 80er Jahre durchaus der Fall. Es war aber bereits in der Wiedervereinigungspolitik keine Perspektive mehr. Es gab in diesem Kontext keine Jugendpolitik, die der Jugend Perspektiven und Aussichten eröffnet hätte. Statt dessen sorgte sich die Politik um die Etablierung von Institutionen, und sie wandte sich gegen Gewalt und Hass, was allerdings eben eine Antwort auf die fehlenden Perspektiven war, die man sich als Aufgabe der Politik hätte denken können. In den 90er Jahren gibt es keine identifizierbaren gestalterischen Prinzipien in der Jugendpolitik, sondern lediglich die Antwort auf aktuelle, problem- und krisenhaft empfundene Sachverhalte. Die Modellprojekte gegen Aggressivität und Gewalt und das Sonderprogramm FTT für die neuen Bundesländer sind die politischen Antworten. Das hängt offensichtlich damit zusammen, dass identifizierbare jugendpolitische Konzeptionen nur unter bestimmten Bedingungen in Erscheinung treten; sie bedürfen eines Rahmens, von dem her der Gegenstand der Jugendpolitik, die heranwachsende Generation, Funktion und Stellenwert bekommt. „Bildung“ kann einen solchen Rahmen darstellen, oder „Sozialstaat“. Das könnte auch die Programmatik einer „geistig-moralischen Wende“ sein. Festzustellen ist allerdings, dass zumindest seit der Mitte der 80er Jahre eine solche, der Jugendpolitik Rahmen und Bezugspunkte gebende Programmatik nicht erkennbar ist. Also keine Zeit für Jugendpolitik. Insofern wird die Grundproblematik einer Form von Jugendpolitik deutlich, die die Fol-
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gen ungelöster gesellschaftlicher Konflikte bekämpft, aber nicht deren Verursachungsbedingungen. Die Dilemmata einer konservativen Jugendpolitik im Zeitalter der radikalisierten Moderne Politik als Veranstaltung zur Lösung von Problemen, die im gesellschaftlichen Prozess entstehen, kann immer unter dem Gesichtspunkt ihrer Problemlösungskapazität betrachtet werden. Erfolgt dies in dem hier behandelten Politikfeld, so lassen sich zwei Punkte identifizieren, an denen Dilemmata oder Probleme konservativer Politik deutlich werden: – Eine durch die generelle politische Programmatik und Zielsetzung der Union bestimmte Jugendpolitik hat – über die Schwierigkeit hinaus, die sich für jede Form von Jugendpolitik aus diesem Sachverhalt ergibt – die spezielle Schwierigkeit, auf die durch bestimmte gesellschaftliche Wandlungsprozesse („sekundäre Modernisierung“, „radikalisierte Moderne“, Erosion soziokultureller geschlossener Milieus) erzeugten und unvermeidlichen Verselbständigungs- und Emanzipationsprozesse der Heranwachsenden (Stichwort: gesellschaftliche Individualisierung) angemessen zu reagieren und die damit verbundenen Vorgänge politisch zu gestalten und zu beantworten – außer durch Rekurs auf die „alten“ (in Wirklichkeit aber nur bedingt funktionsfähigen) Erziehungsmächte: Familie, Schule, Nachbarschaft. Die Entwicklungen generieren ein generelles, für jede Art von Jugendpolitik zutreffendes „Politikdilemma“. Es besteht darin, dass angesichts der Individualisierung der Lebensläufe (jede/r ist für seinen Lebenslauf selbst verantwortlich) jugendpolitische Programme, die auf Jugendliche generell bezogen sind, sich zunehmend als obsolet erweisen. Deshalb ist es folgerichtig, dass der 11. Jugendbericht dafür plädiert, anstelle von Jugendpolitik von „Lebenslagenpolitik“ zu sprechen, weil die tatsächliche Lebenssituation von Heranwachsenden mehr durch Unterschiedlichkeit von Lebenslagen als durch das (abstrakt gewordene) Merkmal Jugend bestimmt ist. Das ist ein Problem für jede Art von Jugendpolitik; verschärft tritt es dann auf, wenn durch die Orientierung an den traditionellen Erziehungsvorstellungen und -kräften die Wahrnehmung der Individualisierungs- und Verselbständigungsvorgänge erschwert wird. Allerdings ist hier eine Differenzierung notwendig: Individualisierung wird ja auch im Rahmen einer konservativen (Jugend-)Politik wahrgenommen, aber mehr unter dem Aspekt der Selbstverantwortlichkeit und weniger unter dem der vorhandenen oder zu beschaffenden und möglicherweise durch die Politik sicherzustellenden Ressourcen. – Ein weiteres Problem wirkt sich für eine auf konservativen Grundüberzeugungen beruhende Jugendpolitik besonders dramatisch aus: Es besteht darin, dass spätestens seit dem Abschlussbericht der Enquete-Kommission
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„Jugendprotest im demokratischen Staat“ die Unterscheidung von Jugendpolitik als Ressortpolitik und als politische Querschnittsaufgabe darauf aufmerksam macht, dass Politik, der es um die Schaffung von positiven Lebensbedingungen für die Heranwachsenden geht, sich nicht auf diejenigen Gebiete beschränken darf, die klassischerweise zur Jugendhilfepolitik gehören (also Schutz, Förderung der Jugend, Erziehungshilfe betreffen), sondern dass sie in den vielen Bereichen tätig werden muss, in denen sich das Aufwachsen wirklich vollzieht, dass die entsprechende Politik also „quer“ über alle Politikbereiche sich erstrecken muss. Im Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat“ (unter CDUBeteiligung verfertigt) wird dieses Konzept mit Nachdruck vertreten und im § 1 des 1989 mit der CDU verabschiedeten KJHG heißt es, dass die Jugendhilfe (und damit die Jugendpolitik!) dazu beitragen solle, „positive Lebensbedingungen … zu erhalten oder zu schaffen“. Die Realisierung dieser Forderung bedürfte einer offensiven, „durchgreifenden“ Jugendpolitik, die über die Möglichkeit verfügen müsste, Veränderungen zugunsten der Heranwachsenden auch da zu bewirken, wo sie sich nicht auf ressortmäßige Zuständigkeit berufen kann. In dieser Richtung haben die 90er Jahre – die Idee einer Jugendpolitik als einer politischen Querschnittsaufgabe lag zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre vor – keine nennenswerte Entwicklung gebracht. Das bedeutete auch, dass die seit jeher problematische Zweiteilung von Jugendpolitik und Bildungspolitik weiter bestehen blieb. Jugendpolitik in ihrer Alltagsgestalt bleibt – und dies gilt bis heute – Jugendhilfepolitik, behandelt also einen Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit junger Menschen.
Gebremste Innovationen und demographische Zwänge – Familien- und Frauenpolitik auf der Suche nach der Balance von Familien- und Erwerbsarbeit Von Ursula Münch Zur Frage der Notwendigkeit einer „bevölkerungsbewussten Familienpolitik“ Wunsch und Wirklichkeit klaffen in vielen Lebensbereichen auseinander, ohne dass deshalb gleich der Ruf nach politischem Handeln laut wird. Anders verhält es sich, wenn es um das so genannte generative Verhalten geht. Seitdem auch einer breiten Öffentlichkeit bewusst ist, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demographisches Problem hat, stößt die Aufgabenbeschreibung der früheren Bundesfamilienministerin Hannelore Rönsch aus dem Jahr 1993 auf breite Zustimmung. Ihr zufolge besteht die zukunftsentscheidende Funktion von Familienpolitik darin, die Diskrepanz zwischen subjektiven Kinderwünschen und den objektiven Daten des generativen Verhaltens zu überwinden.1 Wie groß diese Kluft spätestens seit den 80er Jahren ist, zeigt z. B. eine Befragung aus dem Jahr 1988.2 Damals sprach sich nur eine kleine Minderheit für ein Leben ohne Kinder aus, die Mehrzahl wünschte sich zwei Kinder, und immerhin 27 % der Befragten zwischen 18 und 55 Jahren in den alten Bundesländern erklärten, sie hätten am liebsten drei und mehr Kinder.3 Ginge es allein nach dem subjektiven Kinderwunsch,4 müsste die Bundesrepublik sich also nicht auf schwierige demographische Entwicklungen einstellen. Für das Funktionieren u. a. der sozialen Sicherungssysteme zählt jedoch nicht der Wunsch, sondern dessen Realisierung. Und damit stand es auch in der Ära Kohl nicht zum Besten: Nachdem sich die Zahl der Lebendgeborenen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1980 und 1985 noch von
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Hannelore RÖNSCH, Familienpolitik und Lebenswirklichkeit. Herausforderungen und Perspektiven, in: 40 Jahre Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Rückblick – Ausblick, hg. v. Bundesministerium für Familie und Senioren, Neuwied 1993, S. 169–180, hier S. 173. Henrike LÖHR, Kinderwunsch und Kinderzahl, in: Hans BERTRAM (Hg.), Die Familie in Westdeutschland. Stabilität und Wandel familialer Lebensformen, Opladen 1991, S. 461– 496. In den neuen Ländern dagegen nur 15 %; vgl. Rüdiger PEUCKERT, Familienformen im sozialen Wandel, 3. Aufl., Opladen 1999, S. 110–117, hier S. 114. Für Details vgl. EBD.
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ca. 621.000 auf ca. 586.000 verringert hatte,5 erreichte sie mit 677.000 im Jahr 1988 und 681.000 im Folgejahr ihren höchsten Stand seit 1973. Dennoch lag die Geburtenziffer deutlich unter dem für die „Bestandserhaltung der Bevölkerung“ erforderlichen Niveau6: Während die Geburtenziffer in Westdeutschland im Jahr 1960 noch bei 2,37 gelegen hatte, sank sie auf 1,44 im Jahr 1980 und 1,25 im vereinigten Deutschland.7 Hatte die Fertilität in der DDR im Jahr 1989 noch bei 1,57 Kindern pro Frau gelegen, trug der Zusammenbruch der DDR-Gesellschaft und die damit verbundene Verunsicherung der Menschen8 zur Halbierung der Geburtenziffer auf 0,77 im Jahr 1994 bei. Obwohl sich dieser dramatische Geburtenrückgang teilweise mit dem Phänomen der „aufgeschobenen Geburt“ erklären ließ, fiel der Aufholeffekt in der zweiten Hälfte der 90er Jahre geringer aus als erwartet bzw. erhofft: Die Geburtenziffer in den Beitrittsländern lag auch 1998 erst bei 1,09 und damit deutlich unter der Zahl für das frühere Bundesgebiet (1,41).9 1. Die Herausforderung der Familienpolitik vor allem seit den 80er Jahren Ein Erklärungsansatz für die rückläufigen Geburtenzahlen in der Bundesrepublik,10 zielt auf den Zusammenhang von Frauenerwerbstätigkeit und Geburtenrate ab. Vor einer übereilten Konstruktion von Ursache-WirkungsBeziehungen ist jedoch zu warnen: So begünstigt der Verzicht auf Kinder zwar die Erwerbstätigkeit von Frauen, er muss jedoch nicht durch den Wunsch nach Erwerbsarbeit motiviert sein. Daher wäre es irreführend, die steigende Erwerbsquote von Frauen unbesehen für sinkende Kinderzahlen verantwortlich
5 Vgl. Statistische Übersichten zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 – Band West, verfasst v. Hermann BERIÉ, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1999, S. 19. 6 Henning FLEISCHER, Bevölkerungsentwicklung 1988, in: Wirtschaft und Statistik (1989), S. 774–779, hier S. 774. 7 Vgl. Heribert ENGSTLER/Sonja MENNING, Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland, erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt. Berlin 2003, S. 71. 8 Vgl. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens. Fünfter Familienbericht, BT-Drs. 12/7560, hg. v. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn 1995, S. 114. 9 Vgl. EBD. S. 71. 10 Vgl. Charlotte HÖHN, Einflußfaktoren des generativen Verhaltens. Zwischenbilanz zu den Gründen des Geburtenrückgangs, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 1986, S. 209–232.
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zu machen. Weiterführend dürfte es dagegen sein, veränderte Wertorientierungen11 in die Ursachenanalyse einzubeziehen.12 Die folgenden Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass die Realisierung eines bestehenden Kinderwunsches zwar vor allem von persönlichen Motiven und Werthaltungen bestimmt wird, die gesellschaftlichen Bedingungen, die die einzelnen Paare bzw. vor allem die Mütter vorfinden, jedoch eine wichtige Rolle spielen13: Laufen diese Erfahrungen darauf hinaus, dass es aufgrund der sozialökonomischen Bedingungen und beruflichen Perspektiven unvernünftig ist, sich für (mehrere) Kinder zu entscheiden, kann sich dies negativ auf die Geburtenzahl auswirken.14 An dieser Stelle kommt eine zweite Diskrepanz zum Tragen: Gerade in der Bundesrepublik weichen das gewünschte und das praktizierte Erwerbsmuster deutlich voneinander ab. Hinsichtlich der Verdienerrolle in der Ehe15 gehen Wunsch und Wirklichkeit ebenso auseinander wie über das Ausmaß der Teilzeitbeschäftigung.16 Die damit verbundene Unzufriedenheit der Mütter belastet nicht nur die Partnerschaft,17 sondern wirkt sich u. U. auch darauf aus, ob der Wunsch nach einem zweiten oder dritten Kind realisiert wird. Maßgeblich beeinflusst wird vor allem diese zweite Diskrepanz (indirekt aber auch die erste) durch den Mangel an qualitativ guter Kinderbetreuung in der Bundesrepublik.18 So nahmen in Deutschland im Jahr 2000 zwar ca. 78 % aller Kinder zwischen drei und sechs Jahren Kindergartenbetreuung (öffentlich oder privat) in Anspruch. Seit den 80er Jahren hat sich die Betreuungssituation 11 So Max WINGEN, Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen einer bevölkerungsbewußten Familienpolitik – ein erneutes Plädoyer, in: DERS.: Familienpolitische Denkanstöße – Sieben Abhandlungen, Grafschaft 2001, S. 147–208, hier S. 178. 12 Die Entscheidung für Kinderlosigkeit scheint vor allem aus der Werthaltung der betroffenen Paare zu resultieren; vgl. Klaus A. SCHNEEWIND, Optionen der Lebensgestaltung junger Ehen und Kinderwunsch. Verbundstudie – Endbericht (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Band 128/1), Stuttgart 1996, S. 277. 13 Vgl. EBD. S. 275, 278. 14 Für einen Überblick über den Forschungsstand vgl. Wassilios E. FTHENAKIS/Bernhard KALICKI/Gabriele PEITZ, Paare werden Eltern. Die Ergebnisse der LBS-Familien-Studie, Opladen 2002, S. 198ff. 15 Im Jahr 1998 praktizierten 52,3 % aller Paarhaushalte das Einverdiener-Modell. Gleichzeitig sagten jedoch nur 5,7 % der Befragten aus, dass sie dieses Modell tatsächlich für das beste hielten. 32 % der Haushalte hätten eine Vollzeitberufstätigkeit beider Partner bevorzugt – effektiv war diese jedoch nur in 15,7 % der Haushalte. Vgl. Werner EICHHORST/Eric THODE, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Benchmarking Deutschland Aktuell, hg. v. d. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2002, S. 26ff. 16 Knapp 30 % der teilzeitbeschäftigten Frauen in Deutschland wollen ihre Arbeitszeit verlängern. Gleichzeitig wollen von den vollzeitbeschäftigten Frauen in Westdeutschland 43 % kürzer arbeiten (ca. 30 Stunden); vgl. EBD. S. 28. 17 Vgl. FTHENAKIS u. a., Paare (wie Anm. 14), S. 470f. 18 Vgl. SCHNEEWIND, Optionen (wie Anm. 12), S. 287–291.
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damit vor allem infolge des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz19 verbessert, aber auch im Jahr 2000 wurde nur etwa jedes siebte westdeutsche Kindergartenkind ganztags betreut. Ein Kleinkind außerhalb der Familie betreuen zu lassen, stellt ein noch schwierigeres Unterfangen dar: Nur jedes zehnte Kind unter drei Jahren besucht eine entsprechende Einrichtung (Ostdeutschland ca. 20 %, Westdeutschland ca. 5,2 %).20 Dieses gemessen an der Nachfrage21 geringe Angebot widerspricht schon deshalb den Anforderungen einer „bevölkerungsbewussten Familienpolitik“,22 weil dadurch der Entscheidungs- und Handlungsraum besonders von Müttern stark beeinträchtigt wird. Gleichzeitig lässt es die Bundesrepublik im internationalen Vergleich relativ schlecht dastehen. So deuten die Erfahrungen einiger anderer Staaten nämlich auf die Möglichkeit hin, dass Fertilität und Müttererwerbsquote gleichzeitig steigen. Das kann dann der Fall sein, wenn es erwerbstätigen Müttern durch das Setzen entsprechender Rahmenbedingungen seitens der Unternehmen sowie der öffentlichen Hand erleichtert wird, auch Elternverantwortung zu übernehmen.23 2. Familienpolitik in der Ära Kohl Der bereits in den 80er Jahren fast zur Selbstverständlichkeit gewordene Wunsch vor allem der steigenden Zahl gut ausgebildeter Frauen, Kinder und Erwerbsarbeit miteinander zu vereinbaren, entwickelte sich für die Familienpolitik während der Ära Kohl zu einem besonders wichtigen Thema. Diese stellte sich als eine Politik dar, die zum einen an den Prinzipien Solidarität und Subsidiarität orientiert war und zum anderen das Leitbild einer partnerschaftlichen Ehe und damit der Gleichberechtigung anstrebte. Wahltaktische 19 1992 wurde die Einführung für 1996 beschlossen, aufgrund einer Übergangsregelung trat die volle Wirksamkeit jedoch erst 1999 ein. Vgl. Ursula MÜNCH, Sozialpolitik und Föderalismus. Zur Dynamik der Aufgabenverteilung im sozialen Bundesstaat, Opladen 1997, S. 230f. 20 Die Zahlenangaben basieren auf einer OECD-Studie, vgl. EICHHORST/THODE, Vereinbarkeit (wie Anm. 15), S. 29f.; vgl. auch die Übersichten bei ENGSTLER/MENNING, Statistik (wie Anm. 7), S. 121ff., 253, die die großen regionalen Disparitäten widerspiegeln. 21 Vgl. Renate SCHMIDT, S.O.S. Familie. Ohne Kinder sehen wir alt aus, Berlin 2002, S. 78– 86; SCHNEEWIND, Optionen (wie Anm. 12), S. 158f. 22 Zu den Inhalten dieses von Max WINGEN geprägten Begriffs, vgl. DERS., Familienpolitik (wie Anm. 11). 23 EICHHORST/THODE, Vereinbarkeit (wie Anm. 15), S. 48f. verweisen u. a. auf die positiven Erfahrungen von Frankreich, Schweden, Finnland und den USA; vgl. jedoch den Hinweis Wingens auf die im Verlauf der 90er Jahre um 30 % gesunkene Geburtenrate in Schweden; WINGEN, Familienpolitik (wie Anm. 11), S. 178. Frankreich scheint nicht mehr als Beispiel für eine hohe Vollzeit-Erwerbsbeteiligung von Müttern herangezogen werden zu können; vgl. Silke REUTER, Frankreich: Die vollzeitberufstätige Mutter als Auslaufmodell, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) B 44 (2003), S. 39–46.
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Überlegungen, aber auch das Engagement der frauenpolitisch ambitionierten Familienministerin Rita Süssmuth trugen zur Neubewertung der Erwerbstätigkeit von Müttern bei.24 Ausgangsbedingungen Ausgangsbedingung war eine zunehmende Pluralisierung der Lebensverhältnisse, die mit weitreichenden Veränderungen hinsichtlich des Anteils der verheirateten Frauen, der Zahl der Partnerschaften ohne Trauschein, der Zahl der Alleinerziehenden etc. einherging.25 Auch die Familienpolitik musste auf diese Veränderungen reagieren – ihr wurden immer wieder neue Entscheidungen abverlangt. Sie musste Position beziehen, wie die „nichteheliche“ Familie im Vergleich zur ehebezogenen Familie zu behandeln sei: Sollten sich familienpolitische Entscheidungen und Maßnahmen dem gesellschaftlichen Wandel anpassen oder oblag es der Familienpolitik, einer scheinbaren Beliebigkeit der Lebensformen gezielt entgegen zu wirken? Die Bedeutung des Themas „Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit“ erfuhr in den 90er Jahren aus zwei Quellen noch zusätzliche Dynamisierung. Zum einen steigerte die Ost-West-Konfrontation von Leitbildern und familienunterstützender Infrastruktur die öffentliche Aufmerksamkeit zusätzlich. In der DDR war das Modell der erwerbstätigen Mutter zwar staatlich vermittelt worden, aber die meisten Frauen bevorzugten diese Form der Lebensorganisation auch tatsächlich. Diesem Muster stand das in der früheren Bundesrepublik gültige Drei-Phasen-Modell mit der zeitweiligen Unterbrechung oder sogar dem Abbruch der Erwerbstätigkeit zugunsten Kindererziehung gegenüber. Aus der Disparität der Leitbilder folgte die Disparität der Kinderbetreuungskultur: Die institutionelle Kinderbetreuung war in der DDR fast lückenlos, und das DDR-Arbeitsrecht versuchte die Frauen z. B. durch die Freistellung zur Pflege von Kindern oder den Hausarbeitstag von der Bürde einer meist sehr einseitigen innerfamilialen Arbeitsteilung zu entlasten. Dem konnte die alte Bundesrepublik zwar eine plurale Struktur der Träger entgegensetzen, das Angebot hinkte jedoch weit hinter der Nachfrage her. Der sich daraus entwickelnde Diskurs trug dazu bei, dass in Art. 31 des Einigungsvertrags ein familienpolitischer Auftrag aufgenommen wurde – die Aufforderung an den Gesetzgeber, u. a. Maßnahmen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu treffen. Nicht nur die deutsche Vereinigung stellte die bundesdeutsche Familienpolitik vor neue Herausforderungen. Zusätzlich trug die Debatte um die Reform 24 Vgl. Ursula MÜNCH, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Maßnahmen, Defizite, Organisation familienpolitischer Staatstätigkeit, Freiburg i.Br. 1990, S. 172ff. 25 Vgl. PEUCKERT, Familienformen (wie Anm. 3), S. 43ff.
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des § 218 StGB dazu bei, dass familienpolitische Fragen und hier vor allem die nach der besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit an Bedeutung gewannen. Das Vorhaben, die Strafrechtsreform mit der Gestaltung einer familienfreundlichen Umwelt zu verbinden, wurde vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorangetrieben. Familienpolitische Programmatik der Parteien Im Unterschied zur SPD und den Grünen, deren familienpolitische Programmatik in den 80er und 90er Jahren auch andere Lebensformen neben Ehe und Familie ansprach, war die Familienpolitik der Unionsparteien an der Familie als der „wichtigste(n) Gemeinschaft in unserer Gesellschaft“ ausgerichtet. Ihr wurde eine „unverzichtbare Bedeutung durch ihre verantwortliche Mitwirkung bei wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben“ zugesprochen.26 Die SPD bestand darauf, Familienpolitik ausdrücklich von Bevölkerungspolitik zu trennen, da die Zahl der Kinder in der freien Entscheidung der Eltern liege.27 Dagegen drückte die CDU in ihren „Stuttgarter Leitlinien“ von 1984 die Hoffnung aus, durch den Abbau der „materiellen und sozialen Benachteiligungen“ bei Familien mit Kindern, „die ungünstige demographische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland zu beeinflussen und so auch einen Beitrag zu leisten, um die negativen Konsequenzen für das System der sozialen Sicherung abzumildern“.28 Der parteipolitische Streit um die ideologische Verortung von Familie schwächte sich in den 80er und vor allem den 90er Jahren deutlich ab und wurde im Vergleich zu den 70er Jahren eher auf der kleinen Bühne parteiinterner Veranstaltungen ausgetragen: So nutzte der Generalsekretär der CDU Heiner Geißler, der gleichzeitig Bundesfamilienminister war, das Forum eines Bundesparteitags der CDU zur Polemik nicht allein gegen das „Diktat verklemmter Feministinnen in den öffentlich-rechtlichen Medien“, gegenüber den 75 % bis 80 % der Frauen, die mit ihrer selbstgewählten Aufgabe in der Familie und bei der Kindererziehung zufrieden seien,29 sondern auch zur Abgrenzung des christlich-demokratischen Familienleitbildes vom dem, das er
26 Vgl. die auf dem Parteitag der CDU in Stuttgart 1984 beschlossenen „Stuttgarter Leitsätze für die 80er Jahre“, in: 32. Bundesparteitag der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands. Stuttgart, 9.–11. Mai 1984, [Bonn 1984], S. 341–360, hier S. 358. 27 Antrag S 1 des Parteivorstandes „Die Zukunft sozial gestalten – Sozialpolitisches Programm der SPD“, in: Protokoll vom Parteitag der SPD in Münster 30.8.–2.9.1988, o.O., o.J., S. 779. 28 Stuttgarter Leitsätze (wie Anm. 26), S. 358; vgl. dazu die deutlich relativierende Stellungnahme von MdB Helga Wex auf dem 32. Bundesparteitag (wie Anm. 26), S. 213. 29 Generalsekretär Heiner Geißler unter Berufung auf Forschungsergebnisse der Soziologieprofessorin Helge Pross beim 32. Bundesparteitag, EBD. S. 130.
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beim politischen Gegner wahrnehmen zu können glaubte: Die soziale Schlechterstellung von Familien, die Geißler mit dem „schleichende(n) Prozess der Zerstörung der Familie“ gleichsetzte, diene den Verfechtern einer anderen Gesellschaftsordnung als Mittel zum Zweck.30 Den Unionsparteien gelang es, ihren Ansatz, der ursprünglich nur eine Konzeption von Familie und Familienleben in den Mittelpunkt gestellt und zum Leitbild ihres familienpolitischen Handelns erklärt hatte, den gesellschaftlichen Entwicklungen und der Nachfrage von Wählerinnen und Wählern anzupassen und ihre Position für einen „größeren Teil des Publikums zustimmungsfähig zu gestalten“.31 Zum einen berücksichtigten sie die verschiedenen individuellen Lebenskonzepte stärker als zuvor. Anders als in den 50er Jahren ging es der Union nicht mehr darum, die Institution Familie entsprechend christlich-konservativer Vorstellungen zu garantieren. Stattdessen zog sie aus der Einsicht in die vielfältige strukturelle Benachteiligung von Familien die Schlussfolgerung, dass Familien durch die bisherige, auf die Lohnarbeit zentrierte, Sozialpolitik vernachlässigt worden waren. Sie modernisierte jedoch nicht nur ihr eigenes Familienkonzept. Vielmehr gelang es der Union, sich mit dieser neuen Schwerpunktsetzung gegenüber den Sozialdemokraten zu profilieren. Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, der damit verbundenen Überlastung der sozialen Sicherungssysteme sowie den negativen Begleiterscheinungen der Individualisierung wurde die „Rettung der Familie“ bzw. der familialen Lebensgemeinschaft von den Unionsparteien ab den 70er und vor allem in den 80er Jahren zum „neuen“ sozialpolitischen Thema erkoren.32 Die familienpolitische Positionierung der CSU beruhte auf der Überzeugung, dass die Stärkung der Familie „erste innenpolitische Aufgabe“ sei, „der auch wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Entscheidungen zu dienen haben“.33 Familien, so das CSU-Programm, seien „in besonderem Maße auch Träger und Vermittler unseres kulturellen Erbes sowie von Wertvorstellungen auf der Grundlage des Christentums“.34 Christlich-soziale Politiker stellten einen Zusammenhang her zwischen dem Rückgang in der Zahl der Eheschließungen und Geburten bei gleichzeitigem Anstieg von Scheidungsziffern und nichtehelichen Lebensgemeinschaften sowie dem „Schwinden von Wertvorstellungen“. Als eine „Wurzel des Übels für den Trend weg von Bindung hin
30 Ders., EBD. 31 Peter BLESES/Edgar ROSE, Deutungswandel der Sozialpolitik. Die Arbeitsmarkt- und Familienpolitik im parlamentarischen Diskurs, Frankfurt/M. 1998, S. 257. 32 Vgl. Stuttgarter Leitsätze (wie Anm. 26), S. 293. 33 Familie – Lebensform mit Zukunft. Familienpolitisches Programm der CSU, München o.J. [vermutlich 1984], S. 7. 34 EBD.
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zu Vereinzelung“ galt ihnen die häufig fehlende „Einbindung in eine intakte Familie“.35 Die SPD integrierte zwar familienpolitische Aussagen in das auf dem SPDParteitag in Münster 1988 angenommene Sozialpolitische Programm,36 musste sich dafür aber selbst von eigenen Parteimitgliedern den Vorwurf gefallen lassen, dass das entsprechende Kapitel „erschreckend dürftig ausgefallen“ sei.37 Die geringe familienpolitische Innovationskraft der Partei, die bereits auf dem Essener Parteitag von 1984 kritisiert worden war,38 kam u. a. darin zum Ausdruck, dass die Proklamation, Familienpolitik als Teil einer „umfassenden Gesellschaftspolitik“ betrachten zu wollen,39 die auf eine „Verbesserung der Lebensqualität insgesamt“ ausgerichtet sei, nicht mit konkreten Gestaltungsvorschlägen verbunden wurde. Anstatt Vorstellungen für eine familienfreundliche Ausgestaltung der Wohnungspolitik, der Stadterneuerung oder der Regionalpolitik zu entwickeln,40 beschränkten sich die Sozialdemokraten darauf, den Familienlastenausgleich (FLA) als klassischen Teilbereich der Familienpolitik in den Mittelpunkt zu rücken und die Wiederherstellung des familienpolitischen Leistungskatalogs zu fordern, wie er während der sozial-liberalen Regierungszeit bestanden hatte. Vor allem wollten die Sozialdemokraten die Reform des FLA durch die CDU/CSU/FDP-Regierung wieder rückgängig machen: Die Regierung Kohl hatte im Zuge der Haushaltskonsolidierung, von der familienpolitische Leistungen überproportional betroffen waren,41 mit dem seit der Kindergeldreform von 1975 gültigen monistischen System des FLA gebrochen.42 Da ihr ursprünglicher Plan von einem Familiensplitting43 scheiterte,44 blieb es beim ersten Schritt – also der Wiedereinführung des dualen Systems aus Kindergeld und Steuerfreibetrag. Die Opposition lehnte aufgrund
35 Heinz ROSENBAUER (StS im Bayerischen Innenministerium), in: Miteinander – Füreinander – Familie. Familienpolitischer Kongreß der CSU am 26. Juli 1986 in München. 36 Antrag S 1 des Parteivorstandes (wie Anm. 27), S. 758–806. 37 So die damalige Familienrichterin Margot von Renesse am 1. September 1988 bei dem Parteitag in Münster; vgl. EBD. S. 478. 38 Vgl. den Vorwurf von Dieter Spöri, es gebe keinen Antrag auf dem Parteitag, der zu dem zentralen innenpolitischen Thema Steuerreform und FLA eine „umfassende und hinreichend aktualisierte sozialdemokratische Alternative“ formuliere, in: SPD Parteitag Essen 17.–21. Mai 1984. Protokoll, Bonn 1984, S. 97. 39 So auch Johannes Rau: Sozialdemokratische Politik für die Familien, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Nr. 11 (1986), S. 968–971. 40 Vgl. die Forderung von M. v. Renesse (wie Anm. 37). 41 Vgl. MÜNCH, Familienpolitik (wie Anm. 24), S. 176f. 42 Durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983, BGBl. I vom 20. Dezember 1982, S. 1857. 43 Zu dessen Ankündigung vgl. die Regierungserklärung Kohls (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 4 vom 4. Mai 1983, S. 62). 44 Vgl. Ursula MÜNCH, Familien- und Altenpolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 7: 1982–1989, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv, Baden-Baden 2005, S. 520–537 und S. 554–562.
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der progressiven Wirkung einer steuerlichen Entlastung diese Kinderfreibeträge ebenso ab wie das Ehegattensplitting und warf den Regierungsparteien vor, sie bevorzugten „die Kinder reicher Eltern“.45 Während das sozialdemokratisch geleitete BMJFG in den 70er Jahren ein Erziehungsgeld für nicht finanzierbar gehalten hatte, räumte die Opposition – zwei Jahre nach Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub auch für nicht erwerbstätige Mütter oder Väter durch die bürgerlich-liberale Bundesregierung – den Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf nun großen Stellenwert ein. Gleichzeitig zwang die Popularität des BErzGG die Sozialdemokraten, ihr Konzept eines Mutterschaftsurlaubsgelds, das Leistungen nur für erwerbstätige Mütter vorsah, aufzugeben. Damit schlossen sie sich der von den Unionsparteien eingeleiteten Abkehr von einer in erster Linie lohnarbeitszentrierten Sozialpolitik an. Grundlage für die sozialdemokratische Forderung nach Maßnahmen, die eine „tatsächliche Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf“ gewährleisten, war das Postulat, Frau und Mann hätten einen Anspruch auf „Selbstverwirklichung in Familie und Beruf“. Diese familienpolitische Ausrichtung forderte der Partei einen programmatischen Spagat ab: Schließlich war das Bekenntnis, die Erziehung der Kinder könne „am besten in der Familie geleistet werden“, nur schwer mit der Forderung nach einem Ausbau „gesellschaftlicher Erziehungseinrichtungen“ zu vereinbaren.46 Auch in anderer Hinsicht spiegelte das SPD-Programm von 1988 die an Eindeutigkeit verlierende gesellschaftliche Entwicklung wider: So betonten die Sozialdemokraten zwar, dass Ehe und Familie für sie „tragende Formen menschlichen Zusammenlebens“ seien; gleichzeitig stellten sie jedoch fest, auch die Lebensformen seien „schutzbedürftig“ und deshalb durch familienpolitische Hilfen zu fördern, „die nicht dem traditionellen Familienmuster entsprechen“.47 Diesen Gedanken bauten die Sozialdemokraten in ihrem Grundsatzprogramm von 1989 noch weiter aus, das die Ehe als die „häufigste“ auf Dauer angelegte Bindung bezeichnete. Der Hinweis auf die grundgesetzlich verbürgte besondere Stellung von Ehe und Familie wurde jedoch durch die Feststellung ergänzt, für die SPD hätten „alle Formen von Lebensgemeinschaften Anspruch auf Schutz und Rechtssicherheit“.48 Dezidiert fielen die damaligen Aussagen der Sozialdemokraten zur Notwendigkeit einer tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern aus. Ihre Ablehnung einer Gesellschaft, die gespalten sei in „Menschen mit 45 So z. B. die saarländische Ministerin Peter (SPD), BR, Sten.Ber. 601 vom 2. Juni 1989, S. 235; vgl. auch den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vom 14. Juni 1989 (BT-Drs. 11/4770). 46 Antrag S 1 des Parteivorstandes (wie Anm. 27), S. 780. 47 EBD. S. 779f. 48 Grundsatzprogramm der SPD, Berlin 1989, in: Programme der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 1985, S. 169–243, hier S. 192.
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angeblich weiblichen und angeblich männlichen Denk- und Verhaltensweisen“ mündete in der Feststellung: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden“.49 Im Unterschied dazu plädierten die „Leitsätze der CDU für eine neue Partnerschaft zwischen Mann und Frau“50 von 1985 für ein Verständnis von Gleichberechtigung, wonach Mann und Frau „sich gegenseitig in ihrem Eigenwert anerkennen, für einander verantwortlich sind und ihre Aufgaben innerhalb und außerhalb der Familie gleichberechtigt vereinbaren“.51 Die CDU behauptete von sich, jede Politik abzulehnen, die Frauen und Männer auf bestimmte Rollen festlegen wolle. Zugleich sprachen sich die Christdemokraten gegen eine Politik aus, „die Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht wahrhaben will“.52 Schließlich seien Vater und Mutter „nicht beliebig austauschbar“.53 Damit setzte die CDU ihre im Grundsatzprogramm von 197854 getroffene Festlegung, die notwendige Zuwendung könne Kleinkindern „meist nur dadurch gegeben werden, dass die Mutter in den ersten Lebensjahren ihres Kindes auf die Ausübung eines Erwerbsberufes verzichtet“ prinzipiell fort.55 Christdemokratischen Politikern erschien es „nicht nur humaner, sondern auch ökonomischer, einer Mutter oder einem Vater die Möglichkeit zu geben, das eigene Kind selber zu erziehen, wenn sie es wollen.“ Schließlich gehe es nicht an, „aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen beide zur Berufstätigkeit zu zwingen und dann die eigenen Kinder von Sozialmüttern – möglicherweise mit Universitätsabschluss – in gesellschaftlichen Einrichtungen unter hohen Personalkosten erziehen zu lassen und dann hinterher die schweren seelischen Schäden …, mit noch höheren Kosten – meist vergeblich – in anderen gesellschaftlichen Einrichtungen – Kinderheimen, Sonderschulen bis hin zu den Jugendgefängnissen – wieder reparieren zu müssen.“56 Das Bundesprogramm der Grünen von 1980 verzichtete auf die Begriffe „Familienpolitik“ und „Familie“ und subsumierte die wenigen familienpolitischen Forderungen, die formuliert wurden (z. B. 18 Monate Erziehungsurlaub bei vollem Lohnausgleich und Förderung des „Tages-Mütter-Väter-Modells“) 49 EBD. S. 191. 50 Vgl. 33. Bundesparteitag der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands, Essen 20.– 22. März 1985, Bonn [1985], S. 293–307. Im Rahmen dieses Parteitags wurden in verschiedenen Foren frauenpolitische Themen behandelt, u. a. „Frauen in Beruf und Familie“, EBD. S. 321ff. 51 EBD. S. 293. 52 EBD. S. 294. 53 EBD. S. 294; wörtlich auch Norbert Blüm und Heiner Geißler, EBD. S. 172 und S. 177. 54 Vgl. Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit. Grundsatzprogramm der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands. Beschlossen vom 26. Bundesparteitag in Ludwigshafen, 23.– 25. Oktober 1978, Bonn 1978. 55 EBD. S. 13. 56 Geißler (wie Anm. 50), S. 136f.
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unter dem Abschnitt „Frauen“.57 Obwohl auch die Freien Demokraten ihre familienpolitische Programmatik knapp hielten und die Lebensformen Ehe und Familie in erster Linie mit Blick auf das liberale Credo thematisierten, war ihr Appell, eine Partnerschaft von Mann und Frau „in allen Lebensbereichen“58 zu schaffen, mit familienpolitisch und familienrechtlich relevanten Forderungen verbunden. Sie verlangten die „freie Entscheidung des Einzelnen für die Ehe oder andere Formen des Zusammenlebens“ und traten für den Abbau rechtlicher Diskriminierungen ein59 – setzten sich also auch vom Koalitionspartner im Bund und dessen Rangordnung verschiedener Lebensformen ab. Hinsichtlich der Umverteilungskomponente von Familienpolitik beschränkte sich die FDP in ihren Programmen auf den Hinweis, die „Benachteiligung von Familien mit Kindern“ sei „abzubauen“60 und die Berücksichtigung der durch Kinder bedingten Ausgaben im Steuerrecht und durch Transferleistungen zu verbessern.61 In der politischen Praxis ordneten die Liberalen diese Ziele jedoch ihrer finanzpolitischen Maxime der Haushaltskonsolidierung unter: Im koalitionsinternen Streit zum Jahresbeginn 1989, ob zusätzliche Staatsausgaben im Bereich der Familienpolitik noch in der 11. Legislaturperiode möglich seien, besann sich die FDP-Fraktion im Bundestag mehrheitlich auf ihre Rolle als finanzpolitischer Tugendwächter62 und trat damit der Unionsfraktion entgegen, die sich gegenüber der Bundesregierung für Verbesserungen beim Kinder- und Erziehungsgeld stark machte.63 Während dieser Konflikt durch die programmatische Zurückhaltung bereits vorweggenommen wurde, erhielt die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Beruf, Familie und Gesellschaft in der liberalen Programmatik einen höheren Stellenwert. In der Frage, wie diese im einzelnen zu erreichen sei, unterschieden sie sich deutlich vom Koalitionspartner; während eine Mehrheit in CDU und CSU z. B. dafür eintrat, den Erziehungsurlaub mit einer Beschäftigungsgarantie zu verknüpfen, hielten die Liberalen es für einen „Irrtum zu glauben, dass durch möglichst viele Sonderrechte und Schutzvorschriften die gleichberechtigte
57 Vgl. Die Grünen. Das Bundesprogramm, hg. v. Die Grünen, Bonn o.J. [1980], S. 32–35. 58 Wir wollen die Konzertierte Aktion für Frauen, Beschluss des 37. Bundesparteitages der F.D.P. in Hannover, 23.–25. Mai 1986, in: Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P. 1980 bis 1990, hg. von der Friedrich-Naumann-Stiftung, BadenBaden 1990, S. 457–470, hier S. 458. 59 Zukunftschance Freiheit. Liberales Manifest für eine Gesellschaft im Umbruch, Beschluss des Bundesparteitags der F.D.P. am 23./24. Februar 1985 in Saarbrücken, EBD. S. 291– 314, hier S. 303. 60 EBD. 61 Konzertierte Aktion (wie Anm. 58), S. 457–470, hier S. 459. 62 FDP tagesdienst Nr. 71 vom 23. Januar 1989: Solms: Auf Pfad finanzpolitischer Tugend zurückkehren. 63 FAZ vom 24. Januar 1989: Die Unions-Fraktion will familienpolitische Taten sehen.
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Teilhabe zu verwirklichen sei“.64 Ihnen erschien es sinnvoller, Mütter oder Väter nach der erziehungsbedingten Unterbrechung der Berufstätigkeit mit einer „Wiedereinstiegsausbildung“ zu unterstützen.65 Aktive Familienförderung im Zentrum der Regierungspolitik Den Anspruch der neuen Bundesregierung, eine geistig-moralische Wende ebenso herbeizuführen wie eine institutionelle Reform des Sozialstaates,66 verband Helmut Kohl mit der Ankündigung, den Familien und damit auch der Familienpolitik einen hohen Stellenwert zuzuweisen. Dieser Haltung, die mit der Aufwertung des Subsidiaritätsprinzips verbunden wurde, lag ein Bild von Familie zugrunde, das sich deutlich von dem Familienbild unterschied, welches sich z. B. die Sachverständigenkommission des Zweiten Familienberichts zu Eigen gemacht hatte.67 In den 70er Jahren war es sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch zum Teil in politischen Stellungnahmen darum gegangen, „Funktionsdefizite“ von Familien durch familien- und jugendpolitische Maßnahmen zu kompensieren. Dem setzte die Familienpolitik der neuen Regierungskoalition noch klarer, als dies bereits seit Ende der 70er Jahre von Seiten der sozial-liberalen Bundesregierung geschehen war, ein prinzipiell positiv besetztes Bild von Familie entgegen. Familie wurde als eine Form menschlichen Zusammenlebens verstanden, die sowohl der individuellen als auch der sozialen Dimension menschlicher Daseinsbewältigung in besonderer Weise gerecht werden sollte. Im Unterschied zu einer auf den einzelnen und seine Bedürfnisse ausgerichteten „Familienmitgliederpolitik“, die sich ab Mitte der 60er Jahre auch als Reaktion auf die Bedeutungszunahme emanzipatorischer Leitvorstellungen durchsetzte, lässt sich die Familien- und Frauenpolitik während der Ära Kohl als Versuch charakterisieren, die „auf die Person bezogene Eigenbedeutung“ der Familie mit „gesamtgesellschaftlichen Wertsetzungen möglichst ausgewogen in Verbindung zu bringen“.68 Diese Politik unterschied sich deutlich von der christdemokratischen Familienpolitik, wie sie während der 50er und 60er Jahre von Familienminister Franz-Josef Wuermeling (CDU) vertreten worden war. Die wenigen Maßnahmen dieser Zeit hatten die generative Funktion von Familien betont und prinzipiell die
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Konzertierte Aktion (wie Anm. 58), S. 457–470, hier S. 458. EBD. S. 462. Vgl. BT, Sten.Ber. 9. WP, Bd. 122, 13. Oktober 1982, S. 7215ff. Vgl. BT-Drs. 7/3502 vom 15. April 1975. Max WINGEN, Unterschiedliche Grundmuster von Familienpolitik und gesellschaftlicher Wandel, in: Kurt LÜSCHER/Franz SCHULTHEIS/Michael WEHRSPAUN (Hg.), Die „postmoderne“ Familie. Familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit (Konstanzer Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, 3), Konstanz 1988, S. 353–363, hier S. 360f.
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Aufrechterhaltung hierarchischer Strukturen innerhalb der Familie und damit die tradierte Aufgabenverteilung unterstützt. Dagegen sahen sich die Familienund Frauenpolitiker der Unionsparteien in den 80er Jahre durch die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit und die demographische Entwicklung veranlasst, aktiv auf die gesellschaftlichen Veränderungen seit Ende der 60er Jahre und die Nachfrage der Wählerschaft69 zu reagieren. Nun ging es also auch darum, mittels familienpolitischer Maßnahmen dem Wunsch nach Verwirklichung persönlicher Freiheit und damit der Realisierung individueller Lebenspläne gerecht zu werden. Nach eigenem Bekunden verband die CDU/CSU/FDP-geführte Bundesregierung ihre Orientierung an Solidarität und Subsidiarität mit dem Leitbild einer partnerschaftlichen Ehe zwischen Gleichberechtigten.70 Das von den früheren unionsgeführten Bundesregierungen favorisierte Leitbild der Hausfrauenehe trat angesichts der Argumente der „Gleichheit“ und „Wahlfreiheit“ in den Hintergrund. Im Unterschied zu einer Familien- und Frauenpolitik, die sich bemühte, die (innerfamiliale) Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen durch legislative und administrative Fördermaßnahmen zu überwinden, setzte die bürgerlich-liberale Bundesregierung auf familienpolitische Maßnahmen, die es in erster Linie den Frauen ermöglichen sollten, Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren zu können.71 Trotz des Vorrangs von Familienpolitik stellte die Weiterentwicklung der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern vor allem seit Beginn der 90er Jahre ein weiteres Schwerpunktthema in der Frauen- und Familienpolitik dar. Die unter Claudia Nolte realisierte Ergänzung von Art. 3 Abs. 2 GG war bereits von Familienministerin Hannelore Rönsch vorbereitet worden: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Und in der Amtszeit von Angela Merkel trat im September 1994 das „Zweite Gleichberechtigungsgesetz“ in Kraft, das darauf abzielte, die Frauenförderung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Bundesverwaltung zu verbessern sowie das Gleichbehandlungsgebot für Männer und Frauen am Arbeitsplatz ebenso durchzusetzen wie Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Schließlich reagierte der Gesetzgeber in dieser Phase auch auf den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts vom März 1991, das Famili69 Zu den Ergebnissen einer Repräsentativuntersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach vgl. Renate KÖCHER, Einstellungen zu Ehe und Familie im Wandel der Zeit. Eine Repräsentativuntersuchung im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung Baden-Württemberg, Stuttgart 1985, S. 122ff. und Tabelle A17. 70 Vgl. Jahresbericht der Bundesregierung 1984, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1985, S. 370. 71 Vgl. die damalige Familienministerin Rita SÜSSMUTH: Durch neue Arbeitsformen Freiheit fördern, in: trend. Zeitschrift für soziale Marktwirtschaft 29 (1986), S. 50–52, hier S. 51.
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ennamensrecht dem Gleichberechtigungsgebot des Grundgesetzes anzupassen.72 Diese Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts als familien- bzw. frauenpolitischer Akteur, der Leistungsdefizite der Legislative ausgleicht, kam vor allem auch in seinen Urteilen zum Familienlastenausgleich sowie zur Notwendigkeit einer familiengerechten Ausgestaltung der Gesetzlichen Rentenversicherung zum Tragen.73 Ihre maßgebliche Prägung erhielt die Familien- und Frauenpolitik der Ära Kohl durch den damals eingeleiteten Wandel in den Strukturmerkmalen der deutschen Sozialpolitik.74 Auf das Erscheinungsbild der Familienpolitik wirkte sich vor allem die allmähliche Loslösung von der „Lohnarbeitszentriertheit“ nachhaltig aus,75 der zufolge eine Teilnahme am Arbeitsmarkt als Voraussetzung für Sozialleistungen gilt. Da diejenigen, die nicht am Arbeitsmarkt partizipieren, aus der Sozialversicherung ausgeschlossen bleiben und auf die Leistungen der Sozialhilfe oder private Absicherung angewiesen sind, hatte diese Ausrichtung der deutschen Sozialpolitik zur Verfestigung der Trennung zwischen den Bereichen Produktion und Reproduktion und damit zwischen den Geschlechterrollen beigetragen: So besaß ein Großteil der männlichen Bevölkerung aufgrund von Erwerbstätigkeit einen selbsterworbenen Sozialversicherungsanspruch. Die meisten Frauen dagegen konnten nur auf eine vom Ehemann abgeleitete Absicherung zurückgreifen. Bereits seit Mitte der 70er Jahre signalisierten vor allem die Sozialpolitiker der Unionsparteien beginnende Bereitschaft, für eine stärkere wohlfahrtsstaatliche Verantwortungszunahme bezüglich der Familien bzw. der familialen Lebensgemeinschaften mit Kindern einzutreten. In der Ära Kohl wurde diese sozial- und familienpolitische Neuorientierung fortgeführt. Während die Sozialdemokraten selbst in einem Teilbereich der Familienpolitik, nämlich dem Mutterschaftsurlaubsgeld, zunächst noch an lohnarbeitszentrierten Lösungen festhielten,76 erklärte die neue Bundesregierung die aktive Förderung der Familie zum zentralen sozialpolitischen Interesse des Staates. Zugleich setzte sie den Rückzug der politischen Akteure aus ihrer bisher als umfassend
72 Gesetz zur Neuordnung des Familiennamensrechts vom 16. Dezember 1993, BGBl. I S. 2054. 73 Vgl. Irene GERLACH, Politikgestaltung durch das Bundesverfassungsgericht am Beispiel der Familienpolitik, in: APuZ, B 3–4 (2000), S. 21–31. 74 Vgl. Peter BLESES/Martin SEELEIB-KAISER, Zum Wandel wohlfahrtsstaatlicher Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland: Zwischen Lohnarbeit und Familie, in: Zeitschrift für Soziologie 28 (1999), S. 114–135. 75 Vgl. EBD. S. 121ff. 76 Vgl. dazu Längsschnittthema 10 in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 6, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv BadenBaden 2008; MÜNCH, Familien- und Altenpolitik (wie Anm. 44).
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interpretierten arbeitsmarktpolitischen Verantwortung fort. Dementsprechend veränderte sich die Familienpolitik: Die „vorleistungsbezogenen“ Sicherungen, die auf der Beteiligung am Erwerbsleben basieren, wurden durch aus Familientätigkeit abgeleitete Ansprüche wie Erziehungsurlaub bzw. Erziehungsgeld sowie die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung ergänzt. Dieser Wandel bedeutete zwar nicht das Ende der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ von Gesellschaft und Politik gegenüber der Familie,77 die sich in mehr als nur dem gleichbleibend niedrigen Anteil der Ausgaben für die Familie an den Sozialausgaben äußerte; dennoch waren die Veränderungen in der sozialpolitischen Schwerpunktsetzung offensichtlich. Zur Gestaltung von Familienpolitik genügte das bloße Bekenntnis zur Familie weniger denn je: In den Vordergrund wurde nun die zentrale Stellung der aktiven Förderung von Familien gestellt. Trotz dieses Strukturwandels und der damit verbundenen stärkeren Hinwendung zur familienorientierten Sozialpolitik stellte sich die bundesdeutsche Familienpolitik gemessen an den Kriterien einer „bevölkerungsbewussten Familienpolitik“ defizitär dar. Dies lässt sich am Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) zeigen; es erlaubt Rückschlüsse, warum die Auswirkungen der familienpolitischen Innovationen während der Ära Kohl relativ begrenzt blieben. 3. Das Bundeserziehungsgeldgesetz als Beispiel einer gebremsten familienpolitischen Innovation Das sowohl wichtigste als auch umstrittenste familienpolitische Gesetz der Ära Kohl war das Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, das in der Regierungserklärung vom Mai 1983 angekündigt worden war78 und schließlich zum 1. Januar 1986 in Kraft trat.79 Auf seiner Grundlage erhielten Mütter bzw. Väter zunächst zehn Monate lang, ab 1. Januar 1988 zwölf Monate, ab 1. Juli 1989 fünfzehn Monate sowie ab Juli 1990 achtzehn Monate lang Erziehungsgeld in Höhe von 600 DM monatlich und konnten sich ggf. von ihrem Arbeitsplatz beurlauben lassen. Während der Erziehungs„urlaub“ ab 1. Januar 1992 schließlich auf drei Jahre ausgeweitet wurde, verlängerte man die Zahlung des Erziehungsgelds erst ab 1. Januar 1993 um sechs Monate auf insgesamt zwei Jahre.
77 Franz-Xaver KAUFMANN, Zukunft der Familie. Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der familialen Lebensformen sowie ihre gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, München 1990, S. 132ff. 78 Vgl. BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 4, 4. Mai 1983, S. 62. 79 Gesetz vom 6. Dezember 1985, BGBl. I S. 2154.
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Die regierungsinterne Auseinandersetzung um den Kündigungsschutz Die Befürworter dieser gesetzlichen Neuregelung mussten lange Zeit befürchten, dass es dem BMJFG und den Familienpolitikern innerhalb der Union aufgrund des entschiedenen Widerstandes z. B. der Interessenverbände der Wirtschaft, des kleinen Koalitionspartners sowie der wirtschaftsnahen Gruppen in der CDU nicht gelingen würde, dessen wesentliche Komponenten tatsächlich umzusetzen.80 Dazu gehörte u. a. die zeitliche Ausweitung des Kündigungsschutzes von bisher acht Monaten auf die gesamte Dauer des „Urlaubs“ für zuvor erwerbstätige Mütter und Väter.81 Ebenfalls umstritten war die damit verbundene Abkehr von der seit 1979 gültigen Konzeption des viermonatigen Mutterschaftsurlaubs. Dieser war als arbeitsrechtliche Maßnahme konzipiert und konnte daher ausschließlich von erwerbstätigen oder arbeitslosen Müttern, nicht jedoch von Müttern, die z. B. bereits nach einer früheren Geburt ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben hatten, in Anspruch genommen werden; die bürgerlich-liberale Bundesregierung sprach plakativ und polemisch vom „sozialdemokratischen Zweiklassenrecht“.82 Im Unterschied hierzu basierte das BErzGG auf der Gleichbehandlung von Hausfrauen und erwerbstätigen Müttern (bzw. Vätern). Mit ihrem Gesetzentwurf verfolgte die initiierende Bundesregierung verschiedene, nicht unbedingt konsistente Zielsetzungen: Obwohl es auch darum ging, Eltern nach der Geburt eines Kindes finanziell besser zu stellen als dies vor 1986 der Fall war,83 stand vor allem die Absicht im Vordergrund, die Erziehungsleistung von Eltern anzuerkennen. Schließlich sollte das BErzGG auch ein Beitrag zu dem Bemühen der Unionsparteien sein, durch politische Maßnahmen Schwangerschaftskonflikte zu reduzieren. Noch bevor der Streit um das Vorhaben Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld sogar auf den Titelseiten der bundesdeutschen Tagespresse erschien, boten Details der geplanten Maßnahme – besonders die Qualität und Dauer des Kündigungsschutzes – Anlass für Meinungsverschiedenheiten. Selbst auf der Arbeitsebene des BMJFG, dem mit Heiner Geißler zu diesem Zeitpunkt ein Minister vorstand, der energisch und zielstrebig für eine weitreichende Arbeitsplatzgarantie eintrat, war die Skepsis groß, ob eine der bisherigen Regelung im Mutterschaftsurlaubsgesetz vergleichbare Arbeitsplatzgarantie verankert werden könne. Der zuständige Referent ging davon aus, dass höchstens
80 So die rückblickende Einschätzung von Rita Süssmuth (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 174, 14. November 1985, S. 13052). 81 Nach § 9a MuSchG bestand für die leibliche Mutter im Anschluss an das zweimonatige Beschäftigungsverbot nach der Geburt ein absoluter Kündigungsschutz. 82 Geißler (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 82, 13. September 1984, S. 5983). 83 Aus diesem Grund wurde Erziehungsgeld beim Bezug von Sozialhilfe nicht angerechnet.
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ein „Appell“, Erziehungsgeldbezieher nach Ablauf der zwölf Monate bei der Einstellung besonders zu berücksichtigen, realisierbar sein würde.84 Als weiteres Indiz dafür, dass das Haus hinsichtlich des Stellenwerts der Arbeitsplatzsicherung eine andere Auffassung vertrat als der Ressortchef, kann die Argumentation des BMJFG in der Auseinandersetzung um eine Mitfederführung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) gewertet werden. Dabei spielten zwar auch taktische Überlegungen eine Rolle; die Feststellung, „die arbeitsrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen des Gesetzentwurfs“ seien lediglich „ergänzender und flankierender Art“ und der Anspruch auf Erziehungsurlaub habe nur für die „erwerbstätige Hälfte der Mütter“ Bedeutung, erscheint aber bezeichnend.85 In direktem Zusammenhang zu der Auseinandersetzung über die Reichweite des Kündigungsschutzes stand die sowohl innerhalb des BMJFG als auch mit dem BMA ausgetragene Meinungsverschiedenheit über das künftige Verhältnis von BErzGG und Mutterschutzgesetz.86 Das BMA widersprach der Zielsetzung des BMJFG, die bisherige arbeits- und gesundheitsrechtliche Komponente in das neue familienpolitische Konzept zu integrieren.87 Anders als das BMJFG wollte das BMA also den bisherigen Mutterschaftsurlaub, für dessen gesetzliche Regelung es auch selbst zuständig war, für erwerbstätige Mütter beibehalten; Erziehungsurlaub hätte demnach nur von den anderen Anspruchsberechtigten (Väter, Adoptiveltern, Hausfrauen) sowie von erwerbstätigen Frauen nach dem 7. Lebensmonat des Kindes in Anspruch genommen werden können. Obwohl zu diesem Zeitpunkt die Qualität des Kündigungsschutzes durch das BErzGG noch gar nicht feststand, begründete das BMA die gewünschte Aufteilung damit, dass die familienpolitische Regelung in dieser Hinsicht hinter der bisherigen arbeitsrechtlichen zurückbleiben werde.88 Das BMJFG lehnte es dagegen ab, „zwei Klassen von Erziehungsurlaubsberechtigten“ zu schaffen und hielt allein eine „einheitliche Regelung“ für „politisch transportierbar“.89 Diese wiederum drohte daran zu scheitern, dass sowohl der Koalitionspartner FDP und der Wirtschaftsflügel der Union als auch z. B. die Arbeitgeberverbände
84 Dr. Fricke in seinen konzeptionellen Überlegungen zur gesetzlichen Umsetzung des Erziehungsgeldes vom 3. April 1984, gerichtet an Abt.-Leiter 5, S. 7 (BA, B 189/32389). 85 Schreiben StS Werner Chory an den StS des BMF, Manfred Baden, vom 9. November 1984 (BA, B 189/32391). 86 Vgl. Schreiben Geißler an Blüm vom 20. November 1984 (Ebd.). 87 Diese Position wurde auch vom Bundesvorstand des DGB vertreten; vgl. Schreiben von Irmgard Blättel an Geißler und Blüm vom 27. November 1984 (Ebd.) und 12. März 1985 an dies. (BA, B 189/32383). 88 Vgl. den Vermerk von Ref. 511 (Bearbeiter Dr. Fricke) vom 9. Mai 1985 an den Minister betr. streitige Punkte für Chef-Ebene (BA, B 189/32393). 89 Vermerk Ref. 511 an den Minister vom 26. November 1984 anlässlich des Gesprächs mit Norbert Blüm (BA, B 189/32391).
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einer zeitlichen Ausweitung des Kündigungsschutzes vehement entgegen traten.90 Familienpolitische versus wirtschaftspolitische Interessen Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann (FDP) ließ die Öffentlichkeit wissen, dass zwischen den Ressorts fundamentale Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Einkommensgrenzen sowie der Arbeitsplatzgarantie bestanden.91 Während der FDP-Politiker diese auf die unterschiedlichen ordnungspolitischen Überzeugungen zurückführte, warf ihm die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) „Profilierungswünsche“ angesichts des bevorstehenden Parteitags der FDP vor.92 Nach Bangemanns Einschätzung war der familienpolitische Gesetzentwurf jedoch tatsächlich unvereinbar mit der „dringendsten innenpolitischen Aufgabe“, nämlich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dem Wirtschaftsminister erschien es widersinnig, als Bundesregierung im Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes Vorschläge zur Abschaffung beschäftigungshemmender Faktoren zu unterbreiten93 und gleichzeitig mit dem Kündigungsschutz des BErzGG „die personalwirtschaftliche Flexibilität der Unternehmen erneut“ einzuengen.94 Mit diesem Widerstand bemühte sich der Koalitionspartner vergessen zu machen, dass die FDP schon 1979 der Arbeitsplatzgarantie während des Mutterschaftsurlaubs zur Mehrheit verholfen hatte und sie im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens zum BErzGG der Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub zugestimmt hatte, ohne dabei jedoch über das Ausmaß des Kündigungsschutzes zu sprechen. Dessen ungeachtet brandmarkten FDP-Politiker das Gesetz als Beweis für den „Rückfall“ konservativer Familienpolitiker in überwunden geglaubte „Umverteilungsstrategien“.95
90 Vgl. Schreiben des Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (Paul Schnitker) an Geißler vom 5. März 1985; Schreiben des Hauptgeschäftsführers der IHK Münster (Dr. Altekamp) an Geißler vom 1. März 1985; Hauptgeschäftsstelle der Bundesvereinigung mittelständischer Bauunternehmen e.V. (Herbert Knierim) an Geißler vom 14. März 1985 (jeweils BA, B 189/32393). 91 Schreiben Bangemann an Geißler vom 13. Februar 1985; vgl. dazu auch Freie Demokraten distanzieren sich von Geißlers Entwurf zum Erziehungsurlaub, in: SZ, 14. Februar 1985. 92 Heribert Scharrenbroich in einem Telex an Bangemann vom 15. Februar 1985, zur Kenntnisnahme an das BMJFG übermittelt (BA, B 189/32392). 93 Vgl. Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BR-Drs. 393/84 vom 24. August 1984. 94 Schreiben des BMWi an den Hauptgeschäftsführer der CDA, Heribert Scharrenbroich, vom 6. März 1985 (BA, B 189/32393). 95 Otto Graf Lambsdorff nach: Rückfall in die Umverteilung, in: FAZ, 2. März 1985.
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Geißler hingegen sah im Beschäftigungsförderungsgesetz eine sinnvolle Ergänzung des BErzGG und verwies auf die Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge zu schließen. Ihm zufolge hatte das geplante BErzGG weder negative Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik noch benachteiligte es Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Diese Prognosen beruhten auf Erfahrungen mit dem Gesetz über den Mutterschaftsurlaub, wonach ca. die Hälfte derjenigen, die die Beurlaubung mit dem Ziel in Anspruch genommen hatten, ihre Erwerbstätigkeit anschließend wieder aufzunehmen, doch nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückkehrten.96 Gleichzeitig konnte Geißler sich auf Studien zu vergleichbaren Regelungen in anderen Ländern berufen, die keine Benachteiligung der Frauen aufgrund ihres potentiellen „Mutterschaftsausfalls“ erkennen ließen.97 Die Gegner weitgehender Schutzrechte überzeugte er damit jedoch nicht. So wies der Wirtschaftsrat der CDU ebenso wie die Arbeitgeberverbände darauf hin, dass eine uneingeschränkte Arbeitsplatzgarantie von mindestens einem Jahr gerade für Klein- und Mittelbetriebe „untragbar“ sei und sich insgesamt als eine „neue Beschäftigungssperre für die angeblich Begünstigten“ erweisen würde.98 Verschiedene Frauenverbände verbanden ähnliche Befürchtungen99 mit der Aufforderung an den Gesetzgeber, die Väter durch ein Junktim – Verlängerung des Kündigungsschutzes von sechs auf zwölf Monate nur bei Aufteilung des Erziehungsurlaubs auf beide Elternteile – zur Beteiligung am Erziehungsurlaub zu veranlassen. Auf diese Weise sollte das Beschäftigungsrisiko für Arbeitgeber weniger geschlechtsspezifisch gestaltet werden.100 Die dahinter stehende Problemdiagnose deckte sich mit der Wahrnehmung des
96 Geißler bei der ersten Beratung im Bundestag (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 157, 13. September 1985, S. 11790). 97 Vgl. die Stellungnahme des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zum Entwurf des BErzGG (an das BMJFG übermittelt mit Schreiben vom 22. März 1985), in der eine Untersuchung der Regelungen in Schweden, Finnland, Österreich und Ungarn referiert wird (BA, B 189/32393). 98 Presseerklärung des Wirtschaftsrates der CDU e.V. vom 14. Februar 1985, als Telex übermittelt an das Büro von Geißler (BA, B 189/32392). 99 Vgl. Stellungnahme des Deutschen Landfrauenverbandes e.V. zum Referentenentwurf, übermittelt an den Deutschen Frauenrat mit Schreiben vom 5. März 1985 (BA, B 189/ 32393). 100 Vgl. Stellungnahme des Deutschen Akademikerinnenbundes e.V. zum Referentenentwurf vom 21. Februar 1985 (Ebd.). Auch der Zentralverband der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) hielt es für notwendig, „Bewußtseinsbildungsprozesse bei jungen Männern in Gang zu setzen“, um sie so zur Inanspruchnahme des Elternurlaubs zu motivieren; vgl. auch die gutachtliche Stellungnahme von Prof. Dr. Heide Pfarr, Universität Hamburg, für den BT-Ausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit zur Sitzung vom 17. Oktober 1985, man müsse einen besonderen Anreiz für Männer schaffen (BT / PA, X/182 A 2, Beigabe 3 zu Dok. 49); vgl. Resolution der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen vom 20. März 1985 (BA, B 189/32393).
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Familienministers. Ihm zufolge trug vor allem eine frauen- und familienfeindliche Einstellung „in weiten Teilen unseres Landes“ Schuld daran, dass die Bundesrepublik das geburtenärmste Land der Welt sei. Diese Diagnose verband Geißler mit einer Schuldzuweisung an die Arbeitgeber, von denen einzelne seiner Einschätzung nach „mit einer Diskriminierung der Frauen drohten“.101 Ungeachtet dieser Divergenzen trat Geißler termingerecht zum Essener „Frauen-Parteitag“ der CDU vom 19. bis 22. März 1985 mit einem Referentenentwurf an die breite Öffentlichkeit, der trotz der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ressorts und innerhalb der Koalitionsparteien102 an der Arbeitsplatzgarantie festhielt. Der CDU-Parteivorstand sprach sich in seinen Leitsätzen „für eine neue Partnerschaft zwischen Mann und Frau“, für eine Arbeitsplatzgarantie aus; doch während z. B. Norbert Blüm seinen Kollegen Geißler mit der Feststellung unterstützte, dass Erziehungsgeld ohne „Arbeitsplatzreservierung“ ein „Wagen ohne Räder“ sei,103 setzte der Sprecher der CDU-Mittelstandsvereinigung nach wie vor auf eine „freiwillige Regelung“.104 Das Bemühen der Antragskommission, kompromissfähige Formulierungen zu finden, führte schließlich dazu, dass die Empfehlung des mitgliederstarken Landesverbands Rheinland übernommen wurde, Betriebe unter sechs Beschäftigten von der Verpflichtung zu entbinden. Der in diesem Sinn gefasste Parteitagsbeschluss bildete die Grundlage für eine Formulierung, die das BMA und das BMJFG schließlich in Anlehnung an das Arbeitsplatzschutzgesetz gemeinsam erarbeiteten.105 Diese Einschränkung der faktischen Arbeitsplatzgarantie,106 mit der nur noch die Rückkehr in den Betrieb, jedoch nicht mehr in „dasselbe Zimmer oder denselben Stuhl“ garantiert wurde,107 genügte zwar, um die prinzipielle Zustimmung des Koalitionspartners zum Kabinettsentwurf zu erlan-
101 Geißler in einem Interview mit dpa in den „Sozialpolitischen Nachrichten“, in: Heute in der Presse, hg. vom Pressereferat des BMJFG vom 5. März 1985; Geißler äußerte seine Kritik an den Verbänden auch im Bundestag (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 157, 13. September 1985, S. 11788). 102 Zur Kritik der CSU vgl. Telex des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß an BK Kohl vom 24. Juni 1985; zum Widerstand der FDP vgl. dpa-Meldung vom 18. März 1985; jeweils BA, B 189/32393. 103 33. Bundesparteitag der CDU (wie Anm. 50), S. 200. 104 Gerhard Zeitel, EBD. S. 188. 105 Vgl. Vermerk von Ref. 511 (Dr. Fricke) an den Minister betr. Streitige Punkte BErzGG vom 9. Mai 1985 (BA, B 189/32393). 106 Vgl. Empfehlung der Sozialministerin von Baden-Württemberg, Barbara Schäfer, an Geißler, den „irreführenden“ Begriff der Arbeitsplatzgarantie nicht mehr zu verwenden; Schreiben vom 28. März 1985 (BA, B 189/32394). 107 Geißler zitiert nach: Eine schwere Geburt, in: „Die Zeit“, 5. Juli 1985.
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gen.108 Wirtschaftskreise, wie z. B. die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, hielten die wenigen Ausnahmen vom Kündigungsschutz, die in einer das BErzGG begleitenden Verwaltungsvorschrift aufgenommen werden sollten,109 aber nicht für ausreichend, um die Flexibilität betrieblicher Personalpolitik zu gewährleisten.110 Dieser Streit begleitete deshalb auch das weitere Gesetzgebungsverfahren. Als Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen den Sozial- bzw. Familienpolitikern auf der einen und den Wirtschaftsverbänden bzw. -politikern auf der anderen Seite und im Unterschied zum SPD-Entwurf für ein Elternurlaubsgesetz111 übernahm der Entwurf der Bundesregierung für das BErzGG nicht den weitreichenden Kündigungsschutz aus dem Mutterschutzgesetz;112 dennoch wurde der Kompromiss über die Beschäftigungsgarantie im Zusammenhang mit dem Instrument des befristeten Arbeitsvertrages nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz sowie der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit während des Erziehungsurlaubs von der Regierung als „familienpolitische Wende“113 und von den Familienverbänden als persönliches Verdienst Geißlers gewürdigt.114 Einwände und Gegenkonzepte der Opposition Während wirtschaftsnahe Kreise auch im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens die arbeitsplatzrelevanten Komponenten des BErzGG rügten, konzentrierte die Opposition ihre Kritik in erster Linie auf die Höhe und Verteilung des Erziehungsgeldes sowie auf die frauenpolitischen Auswirkungen des Gesetzesvorhabens. Darin wusste sie sich mit den verschiedenen Sozialverbänden in Übereinstimmung, die u. a. bemängelten, dass das Erziehungsgeld kein angemessenes Äquivalent für den Verlust eines Arbeitsverdienstes darstelle und gleichzeitig durch die relativ niedrige Einkommensgrenze selbst Familien mit geringem Gesamteinkommen ausgeschlossen würden.115 SPD 108 Zur Einschätzung der Position der FDP durch das BMJFG vgl. Vermerk des Referats für Kabinetts- und Parlamentsangelegenheiten für den StS vom 20. Juni 1985 (BA, B 189/ 32424). 109 Vgl. die Ergebnisse der Koalitionsgespräche vom 27. Juni 1985 in einer Zusammenfassung von Geißler an die „Kolleginnen und Kollegen“ vom 28. Juni 1985 (BA, B 189/ 32396). 110 Vgl. Erziehungsurlaub führt zu ernstem Konflikt zwischen Bundesregierung und Wirtschaft, in: SZ, 18. Juli 1985 111 Vgl. BT-Drs. 10/3806 vom 10. September 1985. 112 Vgl. § 18 des Entwurfs und die Begründung auf S. 20f. 113 MdB Roswitha Verhülsdonk, CDU (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 157, 13. September 1985, S. 11807). 114 Schreiben des Präsidenten des Deutschen Familienverbands, Albrecht Hasinger, an Geißler vom 11. Juli 1985 (BA, B 189/32397). 115 Vgl. Stellungnahme des DPWV-Gesamtverbandes zum Regierungsentwurf vom 15. August 1985 (BT / PA, X/182 A 2, Beigabe 1 zu Dok. 49).
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und Grüne bezichtigten die Regierung, mittels BErzGG den Arbeitsmarkt entlasten und einen Verdrängungswettbewerb zum Nachteil für Frauen in Gang setzen zu wollen. Die vermeintliche Wahlmöglichkeit von Vater und Mutter stellte nach ihrer Einschätzung nur einen „scheinbaren Vorteil“ da:116 Da die Erziehungstätigkeit des Vaters aufgrund des normalerweise höheren Einkommensverlusts von der Familie deutlich teurer bezahlt werden musste als die der Mutter,117 schien ihnen das Gesetz nicht geeignet, Neuorientierungen zugunsten einer Familientätigkeit zu unterstützen. Vielmehr zementiere es die traditionelle Rolle der Frau sogar noch.118 Andererseits kam gerade Alleinerziehenden zugute, dass das Erziehungsgeld nicht zu einer Minderung von anderen Sozialleistungen führte, sondern es z. B. möglich war, neben dem Erziehungsgeld auch Zahlungen aus der Stiftung „Mutter und Kind“, das Kindergeld und den Zuschlag zum Kindergeld, Wohngeld, Unterhalt vom Vater und verschiedene Leistungen der Sozialhilfe zu beanspruchen.119 Im Übrigen verbesserte das BErzGG die Lebensbedingungen einkommensschwacher Eltern bzw. Elternteile auch deshalb, weil während des Bezugs von Erziehungsgeld nicht nur der Versicherungsschutz der Gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch der volle Leistungsumfang der Arbeitslosenversicherung beitragsfrei aufrechterhalten wurde. Zur Abgrenzung vom Regierungsentwurf legte die SPD-Fraktion den Entwurf eines Gesetzes „zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ vor,120 der den Mutterschaftsurlaub – und damit auch dessen Kündigungsschutz – sowie das Mutterschaftsurlaubsgeld in Höhe von 750 DM wieder herstellen sollte. Die Sozialdemokraten stimmten mit der Regierung darin überein, einen einjährigen Elternurlaub für alle abhängig beschäftigten Mütter und Väter einführen zu wollen;121 ihr Vorschlag sah als Besonderheit jedoch die Möglichkeit vor, den mit einem einkommensabhängigen Elternurlaubsgeld bis zu 600 DM122 bezuschussten Elternurlaub unbezahlt um weitere zwölf Monate zu ver116 MdB Bueb (Grüne) in der 73. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 2. Oktober 1985, S. 35 (BT / PA, X/182 A 1). 117 Vgl. die unterschiedliche Einkommensverteilung bei Männern und Frauen nach dem Ergebnis des Mikrozensus: Erwerbstätige im Juni 1985, in: Frauen in Familie, Beruf und Gesellschaft, hg. vom Statistischen Bundesamt, Ausgabe 1987, Mainz 1987, S. 85. Nur 35 % aller erwerbstätigen Frauen erreichten ein monatliches Nettoeinkommen von mehr als 1.400 DM; bei den Männern lag dieser Anteil bei mehr als 76 %. 118 Vgl. MdB Beck-Oberdorf (BT, Sten.Ber. 10. WP, 13. September 1984, S. 5994); so auch Prof. Dr. Heide Pfarr in ihrer Stellungnahme gegenüber dem BT-Ausschuss, 25. Oktober 1985, S. 2 (BT / PA, X/182 A 2, Beigabe 3 zu Dok. 49). 119 Vgl. § 8 Abs. 1 BErzGG. 120 Elternurlaubsgesetz, vgl. BT-Drs. 10/3806 vom 10. September 1985. 121 Vgl. MdB Reimann (SPD) in der 73. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 2. Oktober 1985, S. 28 (BT / PA, X/182 A 1). 122 Die Leistungen nach dem Mutterschutzgesetz sollten auf das Elternurlaubsgeld angerechnet werden.
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längern.123 Während diese Komponente ihnen den Vorwurf einbrachte, weiterhin am „Zweiklassenrecht für Frauen“ festzuhalten,124 wurde der Vorschlag, das Elternurlaubsgeld für Alleinerziehende auf 750 DM im Monat zu erhöhen und um drei Monate zu verlängern vom politischen Gegner als nicht finanzierbar eingestuft.125 Dieselbe Beurteilung erfuhr die Idee, durch eine dreimonatige Verlängerung des Elternurlaubs im Falle der Aufteilung zwischen den Eltern, vor allem die Väter für die zeitweise Übernahme der Erziehungsarbeit zu motivieren. Nach Einschätzung der Sozialdemokraten wurde der Entwurf für ein BErzGG den Bedürfnissen von voll erwerbstätigen sowie von alleinerziehenden Müttern nicht gerecht.126 Im Unterschied zu den Regierungsparteien gelang es der SPD jedoch nicht, öffentliches Interesse an ihrer Konzeption eines Elternurlaubs zu wecken. Und obwohl die SPD im weiteren Gesetzgebungsverfahren auf ein Erziehungsgeld für alle einschwenkte, kam sie aufgrund ihres öffentlich leicht zu diskreditierenden früheren Festhaltens an einem Mutterschaftsgeld allein für erwerbstätige Frauen aus der Rolle des „Prügelknaben“127 nicht heraus. Konfligierende Interessen von Ländern und Koalitionspartnern Sowohl bei der Auseinandersetzung um den Vollzug des BErzGG128 als auch beim Streit um die Einkommensgrenzen129 spielten neben den rivalisierenden ordnungspolitischen Konzepten die föderativ motivierten Bedenken einzelner Länder eine Rolle. Der bayerische Sozialminister Franz Neubauer wies Familienminister Geißler darauf hin, dass das Vorhaben, das Erziehungsgeld ab dem 7. Lebensmonat des Kindes einkommensabhängig zu gestalten, einerseits der familienpolitischen Zielsetzung der Bundesregierung in ihrer Gesamtheit Schaden zufüge130 und andererseits gerade für die ausführenden Stellen nicht praktikabel sei: „Nur um etwa 20 Prozent der Antragsteller völlig vom Bezug des Erziehungsgeldes auszuschließen und für etwa 40 Prozent ein gleitend ge-
123 Vgl. BT-Drs. 10/3806 vom 10. September 1985, S. 2. 124 MdB Männle, CSU (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 157, 13. September 1985, S. 11797). 125 Geißler (EBD. S. 11790); vgl. den Bericht des Haushaltsausschusses BT-Drs. 10/4240 vom 13. November 1985. 126 Auch aus diesem Grund wollte die SPD-Fraktion nach dem Scheitern ihres eigenen Gesetzentwurfs durch einen Entschließungsantrag die Bundesregierung auffordern, das BErzGG durch besondere Regelungen für diesen Personenkreis zu ergänzen; vgl. BTDrs. 10/4321 vom 13. November 1985; zur Ablehnung vgl. BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 174, 14. November 1985, S. 13068. 127 BLESES/ROSE, Deutungswandel der Sozialpolitik (wie Anm. 31), S. 255. 128 Vgl. MÜNCH, Familien- und Altenpolitik (wie Anm. 44). 129 Vgl. dazu auch die Stellungnahme von Prof. Alois Oberhauser, Universität Freiburg, vor dem BT-Ausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit, 25. Oktober 1985 (BT / PA, X/ 182 A 2, Beigabe 3 zu Dok. 49). 130 Neubauer in seinem Schreiben an Geißler vom 3. Juni 1985, S. 10 (BA, B 189/32396).
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mindertes Erziehungsgeld von monatlich beispielsweise 51 DM zu gewähren, … erscheint der mit der Einkommensprüfung ausgelöste Verwaltungsaufwand nicht gerechtfertigt.“131 Neubauer verwies stattdessen auf die Möglichkeit, ein Konzept, das die CSU-Familienkommission damals für das Kindergeld entwickelt hatte,132 auf das Erziehungsgeld zu übertragen. Diese hatte eine feste, relativ hoch angesetzte und nach Kinderzahl gestaffelte Einkommensgrenze vorgeschlagen; Bezieher höherer Einkommen hätten danach von vornherein keine Leistung bezogen. Das BMJFG verwies auf die schädliche Wirkung von Einkommensgrenzen sowie auf die Möglichkeiten der EDV, mit deren Hilfe sich die Minderung des Erziehungsgeldes einfach berechnen lasse.133 Familienminister Geißler wollte auf jeden Fall einen Rückschritt gegenüber dem Mutterschaftsurlaubsgeld für erwerbstätige Frauen, das nicht von Einkommensgrenzen abhängig war – und damit eine neue schädliche Diskussion –, verhindern.134 Die FDP begründete ihre Bedenken dagegen ordnungspolitisch und rügte die Leistungsfeindlichkeit, Ungerechtigkeit und den Bürokratismus von Einkommensgrenzen. Die Problemlösung im koalitionsinternen Konflikt um die Einkommensgrenzen gestaltete sich zunächst ähnlich wie beim Kündigungsschutz: Die Koalition behielt sich eine Prüfung der Ausgestaltung der Einkommensgrenzen während des Beratungsverfahrens vor und kündigte gleichzeitig an, eine Entschließung einzubringen. Darin sollte die Bundesregierung aufgefordert werden zu prüfen, ob die Einkommensgrenzen durch das System eines einheitlichen, jedoch zu versteuernden Erziehungsgelds ersetzt werden könnten.135 Gestellt wurde ein solcher Antrag jedoch nicht. Stattdessen sah der Regierungsentwurf und schließlich das Gesetz vor,136 das Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat des Kindes einkommensabhängig zu gewähren, mit der Folge, dass sich die Leistungshöhe schrittweise verringerte. Während die Nichtanpassung der Einkommensgrenzen in der Folgezeit dazu führte, dass 1997 in den alten Bundesländern nur noch 48 % der Eltern den unveränderten Höchstsatz erhielten, passte damals jedoch die große Mehrheit der jungen Familien in die Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld.137 131 Neubauer in seinem Schreiben an Geißler vom 5. März 1985, S. 4 (BA, B 189/32393). 132 Vgl. Ebd. S. 5. 133 Vgl. die Ausarbeitung von Referat 513 zu „Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld“ vom 28. Mai 1986, S. 4 (BA, B 189/32395). 134 Vgl. Schreiben Geißlers an Neubauer, o.D. (vermutlich August oder September 1985), BA, B 189/32398. 135 Vgl. Ergebnis des Koalitionsgesprächs vom 27. Juni 1985 in einer Zusammenfassung des BMJFG; Anlage zu einem Schreiben von Geißler an seine „Kolleginnen und Kollegen“ vom 28. Juni 1985 (BA, B 189/32396). 136 Vgl. § 5 BErzGG. 137 Vgl. Rudolf PETTINGER, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub. Anspruch und Wirklichkeit zweier zentraler familienpolitischen Leistungen für junge Familien, in: Familienwissenschaftliche und familienpolitische Signale. Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Max Wingen, hg. v. Bernhard JANS/André HABISCH/Erich STUTZER, Grafschaft 2000, S. 243– 254, hier S. 246.
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Zur neuen familienpolitischen Rolle der Arbeitgeber Diese veränderte Qualität familienpolitischer Gesetzgebung seit den 80er Jahren stellte eine zwangsläufige Folge der gesellschaftlichen Entwicklung dar: In dem Maße, in dem sich die klassische Rollenverteilung innerhalb der Familie wandelte und die Erwerbstätigkeit auch von Müttern nicht mehr in erster Linie allein mit finanziellen Motiven, sondern mit dem neuen Selbstverständnis von Frauen und der Nachfrage des Arbeitsmarktes erklärt werden konnte, musste sich auch die Zielrichtung familienpolitischen Handelns verändern. Mit Blick auf die Wünsche der Wählerinnen und Wähler einerseits und die demographische Entwicklung andererseits sah sich der Gesetzgeber aufgefordert, Familie und Arbeitswelt in ein anderes – familienfreundlicheres – Verhältnis zu bringen. Die dazu erforderlichen legislativen Schritte provozierten den Widerstand der Arbeitgeber. Sie vertraten den Standpunkt, dass es sich z. B. bei der „Besserstellung der jungen Mütter“ um eine gesellschaftspolitische Aufgabe handele, die „nach unserer Auffassung nur von der Gesamtgesellschaft mit differenzierten Maßnahmen gelöst werden“ könne.138 Eine derartige Argumentation verkannte, dass die politische Herausforderung nicht allein in der materiellen Besserstellung junger Familien bestand, sondern es notwendig war, dem veränderten Erwerbsverhalten von Frauen und Müttern Rechnung zu tragen. Da ein Erziehungsgeld ohne Kündigungsschutz wie eine Geburtenprämie gewirkt und vor allem Mitnahmeeffekte produziert hätte,139 setzte sich der Gesetzgeber über die ordnungspolitischen Bedenken hinweg. Dennoch war das BErzGG aufgrund seiner Ausgestaltung kaum geeignet, die Konflikte zwischen Familie und Erwerbstätigkeit zu lösen. Der Erziehungs„urlaub“ entwickelte sich zwar rasch zum „Hit“,140 seinen (An-)Reizen unterlagen aber fast ausschließlich nur Mütter und von ihnen hatten die meisten ohnehin nicht die Absicht gehabt, gleich nach dem Mutterschutz wieder voll erwerbstätig zu sein.141 Es wurden also in erster Linie bereits beabsichtigte Verhaltensweisen bestärkt, tatsächliche Neuorientierungen zugunsten einer Familientätigkeit fanden jedoch kaum statt: So waren von den insgesamt 521.400 Empfängern im Jahr 1986 nur 7.500 Männer, also knapp 1,5 Pro138 So die Bundesgeschäftsführung des Bundesverbandes der Selbständigen e.V., Deutscher Gewerbeverband, in ihrem Schreiben vom 23. September 1985 an die MdB (BT / PA, X/182 A 2, Dok. 81). 139 So das Forschungsergebnis des DJI in seiner Stellungnahme zum BErzGG unter Bezug auf die Erfahrungen mit dem niedersächsischen Modellprojekt „Erziehungsgeld“, S. 11. 140 So die Einschätzung des Präsidenten des Deutschen Familienverbandes; Günther KOOLMANN, Familien in Deutschland – gesellschaftliche Fehlentwicklung oder Opfer defizitärer Familienpolitik? Ein Rückblick auf 50 Jahre Familie und Familienpolitik, in: Festschrift Wingen (wie Anm. 137), S. 495–507; hier S. 500. 141 Vgl. die Ergebnisse der Untersuchung des DJI und der Zeitschrift „Brigitte“ vom Oktober 1988, in: Familienpolitische Informationen 6 (1988), S. 5.
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zent.142 Der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit kamen Eltern durch das Gesetz also nicht wirklich näher; dieses verschob lediglich das Problem um die Bezugsdauer des Erziehungsgeldes bzw. die Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs. Danach stellte sich die Frage unverändert. Sozialleistung statt familienpolitischen Fortschritts Die Verbesserung der Leistungen des BErzGG ließ länger auf sich warten und fiel bescheidener aus als dies die Familienpolitiker und vor allem die Familien sich wünschten. Zunächst beschloss der CDU-Parteitag in Essen im Frühjahr 1985, die Ausweitung der Leistung langfristig vorantreiben zu wollen,143 und BMJFG Geißler bestätigte diese Zielsetzung in der ersten Lesung des BErzGG im September 1985.144 Nachdem Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987 die Erweiterung der Leistungen angekündigt hatte, hofften die Familienpolitiker in der Union noch, dass es gelingen könnte, sich dem Ziel eines dreijährigen Erziehungsurlaubs in großen Schritten zu nähern.145 So erklärten die Familienminister und -senatoren auf ihrem Treffen im April 1988, die Weiterentwicklung des BErzGG sei das „dringlichste Erfordernis der Familienpolitik“.146 Aufgrund der finanzpolitischen Einwände, die vor allem von der FDP kamen,147 stellte die Koalitionsvereinbarung vom 15. März 1989 jedoch einen deutlich abgeschwächten Kompromiss dar. Als finanzierbar galt lediglich eine zunächst dreimonatige (für nach dem 30. Juni 1989 geborene Kinder) und dann sechsmonatige (für nach dem 30. Juni 1990 geborene Kinder) Verlängerung des Erziehungsurlaubs auf fünfzehn bzw. achtzehn Monate.148 Erst durch das „Zweite Gesetz zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes“ vom Dezember 1991 wurde der Erziehungsurlaub für nach dem 31. Dezember 1991 geborene Kinder auf drei Jahre ausgeweitet. Um die damalige Forderung der Bundestagsopposition abzuwehren, den Erziehungsurlaub noch weiter auszudehnen, verwiesen Regierungsmitglieder auf den neuerlichen Widerstand der Unterneh142 Vgl. Sozialpolitische Umschau Nr. 130 vom 18. April 1988, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung; zur Inanspruchnahme vgl. auch PETTINGER, Erziehungsgeld (wie Anm. 137), S. 243–254. 143 Die Verwirklichung in der nächsten Legislaturperiode wurde in Essen als unrealistisch eingeschätzt; vgl. 33. Bundesparteitag der CDU 1985 (wie Anm. 50), S. 203f. 144 Geißler (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 157, 13. September 1985, S. 11787). 145 Vgl. die Vorschläge des Bundesvorsitzenden der CDA Ulf Fink, nach: CDA: Mehr für Familien tun, in: „Handelsblatt“, 28. Februar 1989. 146 Beschluss vom 21./22. April 1988 zum TOP Erziehungsgeld (BA B 189/32809). 147 Vgl. FDP fühlt sich von der CDU getäuscht, in: SZ, 14. September 1988. Vgl. FDP gegen zusätzliche Leistungen, in: SZ, 11. Januar 1989 148 Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. Mai 1989 (BR-Drs. 261/89 bzw. BTDrs. 11/4687).
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men gegen Verlängerung des Erziehungsurlaubs. So warnte der Staatssekretär im BMFuS angesichts der Probleme vor allem für die kleineren Betriebe davor, das „Schiff“ in diesem Punkt nicht zu „überfrachten“.149 Lediglich der von der Unterstützung der Arbeitgeber unabhängige Teil des Gesetzes, also die Gewährung des Erziehungsgeldes, ließ sich ausbauen: Die Eltern nach dem 31. Dezember 1992 Geborener konnten in Abhängigkeit von ihren Einkommensverhältnissen erstmals zwei Jahre lang das in seiner niedrigen Höhe unveränderte Bundeserziehungsgeld beziehen. Gerade mit Blick auf die Situation in den neuen Bundesländern, wo Anfang der 90er Jahre mehr als ein Drittel aller Kinder nichtehelich geboren wurde,150 schuf der Gesetzgeber die Möglichkeit des Erziehungsgeldbezugs für den nichtehelichen Vater für den Fall, dass die Mutter zustimmt und er das Kind betreut. Außerdem schuf die Gesetzesnovelle vom Dezember 1991 die Möglichkeit, dass Eltern während der Gesamtzeit des Erziehungs“urlaubs“ bis zu dreimal in der Betreuung wechseln. Nicht in allen Teilen der Bundesrepublik mussten sich Eltern mit dieser relativ kurzen Dauer der Bundesleistung begnügen: Mehrere unionsregierte Länder hatten bereits vor dem Bund ein Familien- oder Babygeld eingeführt bzw. sahen sich durch die Bundesleistung veranlasst, im Anschluss an das Erziehungsgeld des Bundes ein Landeserziehungsgeld in der Höhe zwischen 300 und 600 DM monatlich151 zu zahlen. Vorwürfe der Bundestagsopposition, die Bundesleistung falle zu niedrig aus, konnten von der Bundesregierung daher regelmäßig mit dem Hinweis zurückgewiesen werden, auch die SPD-regierten Länder sollten doch solche Leistungen einführen.152 Innovationsbremsen Den Familienpolitikern gelang es nicht, den Erfolg des BErzGG in Sachen Nachfrage in einen Erfolg in Sachen Leistungshöhe und Leistungsdauer umzumünzen. Die familienpolitische Notwendigkeit war den meisten zwar bewusst, und man bemühte sich auch um die zeitliche Ausweitung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub.153 Die entsprechenden Ansätze fielen jedoch relativ beschränkt aus und trugen zu der Einstufung des BErzGGs als Beispiel
149 StS Albrecht Hasinger in der Sitzung des Bundesratsausschusses für Familie und Senioren vom 9. September 1991, S. 50 (BT / PA, XII/28, A , Dok. Nr. 9). 150 Vgl. ENGSTLER/MENNING, Statistik (wie Anm. 7), S. 78. 151 Vgl. die Übersicht bei MÜNCH, Familienpolitik (wie Anm. 24), S. 290f. 152 Vgl. Geißler (BT, Sten.Ber. 10. WP, Bd. 157 vom 13. September 1985, S. 11787). 153 Die Familienministerkonferenz im April 1988 beschloss einstimmig, dass Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub mittelfristig bis zum Kindergartenalter ausgedehnt werden sollten; vgl. die schriftlich abgegebene Erklärung der Berliner Senatorin Heide Pfarr (Sten.Ber. BR 602 vom 30. Juni 1989, S. 296).
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für eine „steckengebliebene“ bzw. „ausgebremste“ Innovation bei.154 Als Bremsklotz lässt sich zum einen der enge finanzpolitische Handlungsspielraum der Regierungskoalition identifizieren. Erneut bekamen die Familien zu spüren, dass es aufgrund der niedrigen Konfliktfähigkeit von Familienpolitik155 zu ihren Gunsten „weniger Bereitwilligkeiten“ gibt und daher „Einsparungen bei Familien eher vorgenommen werden als in anderen Politikbereichen“.156 Bei der Ausgestaltung von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld musste ein Kompromiss zwischen Fördern und Sparen gefunden werden, der die Wirkung der Leistung beeinträchtigte. Damit ist das BErzGG das beste Beispiel für die Feststellung, dass die bundesdeutsche Familienpolitik zwischen zwei Extremen schwankt: Dem Versuch, mit relativ geringem Nutzen für den einzelnen die gesellschaftliche Anerkennung der Erziehungsleistung von Eltern zu erreichen sowie dem Bemühen, die Leistung so zu gestalten, dass sie zumindest sozial Schwachen tatsächlich Hilfe bietet. Als Bremse wirkten außerdem die ordnungs- und arbeitsmarktpolitisch motivierten Bedenken des Koalitionspartners FDP, die sich zum Fürsprecher der Arbeitgeber und Unternehmen machte. Die Schärfe, mit der gerade der Streit um den Kündigungsschutz für Erziehungs-„Urlauber“ ausgetragen wurde,157 ist damit zu erklären, dass es sich beim BErzGG nicht um ein familienpolitisches Leistungsgesetz handelte, dessen Auswirkungen sich, wie dies bis dahin zumeist der Fall gewesen war, auf den Bundeshaushalt beschränkten. Die Arbeitgeber waren zwar bereits beim ersten Kindergeldgesetz Mitte der 50er Jahre, das die Einrichtung sog. „Familienausgleichskassen“ vorsah, gegen ihren Willen zu Trägern einer familienpolitischen Maßnahme geworden, die nach außen hin als berufsständische Leistung deklariert wurde.158 Ihr damaliges Zwangsengagement beschränkte sich jedoch auf einen finanziellen Beitrag. Die Wirkungen des BErzGG hingegen ragten weit in den Gestaltungs- und Entscheidungsraum von Unternehmen und Arbeitgebern hinein und weckten noch mehr Gegenwehr als die bis dahin gültigen arbeitsschutzrechtlichen Regeln des Mutterschutzgesetzes. Doch es waren nicht allein die finanziellen Engpässe und politischen Widerstände, die die innovative Kraft des BErzGG schmälerten. Hemmend wirkte sich vor allem aus, dass bereits bei der Gesetzeseinführung eine klare und kon154 155 156 157
KOOLMANN, Familien (wie Anm. 140), S. 499f. Vgl. MÜNCH, Familienpolitik (wie Anm. 24), S. 182ff. Rita Süssmuth (BT, Sten.Ber. 11. WP, Bd. 92, 9. September 1982, S. 6310). Vgl. z. B. die in ihrer Wortwahl recht harsche Erklärung im Pressedienst der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (PDA) Nr. 32 vom 18. Juli 1985 (BA, B 189/32398). 158 Vgl. Ursula MÜNCH, Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 3: 1949–1957, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv, Baden-Baden 2005, S. 597–651.
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sistente Zielsetzung des Gesetzgebers nicht zu erkennen war,159 und stattdessen verschiedene Einzelziele angestrebt wurden: – Einkommenskompensation zur Erleichterung der Aufgabe oder Reduktion von Erwerbsarbeit zugunsten Familientätigkeit – Gesellschaftliche Anerkennung der Erziehungsleistung von Familien unabhängig vom Erwerbsstatus der Mutter (bzw. des Erziehungsgeld beziehenden Vaters) – Minderung von Schwangerschaftskonflikten – Reaktion auf das veränderte Erwerbsverhalten von Müttern auch kleiner Kinder und damit auch politische Antwort auf den Wandel in der Wertorientierung von Frauen und Männern. Diese Anhäufung inkonsistenter familien-, frauen- und arbeitsmarktpolitischer Ziele erschwerte die Strukturierung und Systematisierung der Leistungen und Angebote des BErzGG. Dadurch, dass das Erziehungsgeld und die Bedingungen für seinen Bezug in den Folgejahren keine Anpassung an die Inflation und die Einkommensentwicklung erfuhren, wurde das politische Ziel der Einkommenskompensation zugunsten einer temporären Reduzierung oder Aufgabe von Erwerbstätigkeit noch unrealistischer. Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in der Kritik Die Kritik am wichtigsten familienpolitischen Gesetz der Kanzlerschaft von Helmut Kohl kommt aus zwei völlig unterschiedlichen Richtungen. Unabhängig von den Finanzierungsproblemen fordern die Befürworter eines „Erziehungsgehalts“ eine deutliche Erhöhung des Erziehungsgelds sowie eine Anpassung der Einkommensgrenzen. Nur durch eine einkommenspolitische Leistung, die nicht in erster Linie an sozialer Bedürftigkeit orientiert ist, sei das Ziel zu erreichen, den Eltern die freie Entscheidung zwischen familialer und außerfamilialer Betreuung zu geben.160 Die andere Position lehnt die Prämisse ab, eine Balance zwischen Erwerbsund Familienarbeit könne durch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Voraussetzungen von Familien erreicht werden. Stattdessen stellen deren Befürworter die Überlegung an, ob es nicht sinnvoller wäre, die Elternzeit zu kürzen und gleichzeitig deutlich besser zu dotieren und zudem mit Anreizen für Väter zu versehen. Zur Begründung dieser These verweisen sie auf Studien, denen zufolge kürzere Freistellungen sich auf das Beschäftigungsniveau der Mütter
159 Vgl. PETTINGER, Erziehungsgeld (wie Anm. 137), S. 244. 160 Als Übersicht zu den verschiedenen Konzepte für ein „Erziehungsgehalt“ vgl. Max WINGEN, Aufwertung der elterlichen Erziehungsarbeit in der Einkommensverteilung. Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen eines „Erziehungseinkommens“, in: APuZ, B 3–4 (2000), S. 3–12, hier S. 5ff.
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sowie deren Arbeitseinkommen positiv auswirken.161 Diese Variante, die zudem den Vorteil hat, Frauen nicht vom Arbeitsmarkt zu verdrängen, wird vor allem auch von den Unternehmen bevorzugt. Fraglich erscheint jedoch, ob sie sich mit den Wünschen der deutschen Mütter und deren notorisch schlechtem Gewissen vereinbaren lässt: Das im alten Bundesgebiet noch vergleichsweise weit verbreitete traditionelle Mutterbild162 fördert einen „Rabenmutter“-Diskurs, der so in vergleichbaren Gesellschaften nicht geführt wird.163 Im Übrigen ist dieses Modell mit der derzeitigen Betreuungssituation für Kleinkinder in Deutschland nicht zu vereinbaren. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Varianten muss den Eltern überlassen bleiben. Tatsächliche Wahlfreiheit besteht jedoch nur dann, wenn die finanzielle Ausstattung und der arbeitsrechtliche Schutz für Familienarbeit zum einen bzw. die Infrastruktur der Kinderbetreuung zum anderen sich deutlich stärker am Bedarf orientieren als dies bislang der Fall ist. Zur Umsetzung dieser Wahlmöglichkeiten bietet sich ein System mit Betreuungsgutscheinen an, das den Eltern die Möglichkeit gibt, je nach ihren Bedürfnissen entweder das Dienstleistungsangebot von Krippen, Kindergärten oder Horten einzutauschen164 oder den Gutschein aufgrund ihrer eigenen Familienarbeit gegen bares Geld einzulösen. 4. Defizite Es gelang der Familienpolitik während der Ära Kohl nicht, der vor allem in den 80er Jahren gewachsenen Pluralität der Lebensformen sowie den Veränderungen in der familialen Aufgabenverteilung angemessen Rechnung zu tragen. Die Balance zwischen Familie und Erwerbsarbeit wurde gesamtgesellschaftlich nicht gefunden, und es ist zu vermuten, dass sie von den politischen Akteuren nicht einmal ernsthaft gesucht wurde. Tatsächlich scheinen viele politisch Verantwortliche die vermeintliche Lösung des Vereinbarkeitsproblems wohl eher im Drei-Phasen-Modell, also der sukzessiven Verknüpfung beider Lebenswelten, gesucht zu haben und lehnten aus ideologischen, d. h. vor allem auch frauenpolitischen Gründen die Gleichzeitigkeit ab. Diese politische Pri-
161 Vgl. EICHHORST/THODE, Vereinbarkeit (wie Anm. 15), S. 13f., S. 48. 162 Vgl. Mechthild VEIL, Kinderbetreuungskulturen in Europa: Schweden, Frankreich, Deutschland, in: APuZ, B 44 (2003), S. 12–22. 163 Vgl. Jürgen GERHARDS/Michael HÖLSCHER, Kulturelle Unterschiede zwischen Mitgliedsund Beitrittsländern der EU. Das Beispiel Familien- und Gleichberechtigungsvorstellungen, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 206–225. 164 Vgl. Michaela KREYENFELD/Katharina C. SPIESS/Gert G. WAGNER, Finanzierungs- und Organisationsmodelle institutioneller Kinderbetreuung, Neuwied 2001, S. 184ff. Die Autoren sehen zweckgebundene Gutscheine vor, die ausschließlich in lizenzierten Tageseinrichtungen eingelöst werden könnten.
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oritätensetzung erschien jedoch der steigenden Zahl gut qualifizierter Frauen angesichts der damit verbundenen hohen Opportunitätskosten unattraktiv. Zusammen mit anderen Faktoren wirkte sich dies auch auf die Bereitschaft aus, einen bestehenden Kinderwunsch zu realisieren. Die inhaltliche Ausrichtung der Familienpolitik während der Regierungszeit Kohl wurde also den veränderten Anforderungen und Wünschen der Familien und vor allem der Mütter höchstens vordergründig gerecht – jenseits der Sonntagsreden konnte oder wollte sie aber nicht ausreichend mit Angeboten zur Lösung der Vereinbarkeitsprobleme aufwarten. Zu diesem phasenspezifischen Manko traten schließlich noch die strukturell bedingten familienpolitischen Defizite hinzu. Zu den Besonderheiten der bundesdeutschen Familienpolitik gehört, dass sie ungewöhnlich stark transferorientiert ist. Die damit verbundene Konzentration auf sozialökonomische Maßnahmen hat zur Folge, dass Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland vor allem als Einkommenspolitik in Erscheinung tritt und weniger als eine die gesellschaftlichen Strukturen gestaltende Querschnittspolitik. Obwohl sich durchaus ein Zusammenhang zwischen öffentlicher Familienunterstützung und der Zahl der Kinder nachweisen lässt,165 zeigt sich im internationalen Vergleich auch, dass Geldtransfers allein nicht genügen, um zur Realisierung eines bestehenden Kinderwunsches beizutragen. Vielmehr scheint der Zugang zu Dienstleistungen, also vor allem zu Betreuungseinrichtungen, eine sehr große Rolle zu spielen, wenn es darum gehen soll, Vereinbarkeitskonflikte zu reduzieren.166 Während die bundesdeutsche Familienpolitik auf viele Aktivposten und positive Elemente verweisen kann – z. B. die Freistellung im Mutterschaftsurlaub und für die Elternzeit, die flexible Arbeitszeitgestaltung insbesondere größerer Unternehmen sowie die materielle Förderung in Form von Kindergeld und Freibeträgen – sind die gravierenden Lücken jedoch nicht zu übersehen. Diese Lücken wiegen deshalb besonders schwer, weil sie sich gerade in den Bereichen finden, denen (zukünftige) Eltern besondere Bedeutung beimessen: So besteht ein im internationalen Vergleich deutlicher Nachholbedarf bei der Betreuung von Kindern unter zwei Jahren sowie der Ganztagsbetreuung von Kindern über drei Jahren. Es lassen sich verschiedene Ursachen für diese familienpolitischen Defizite ausmachen.167 Vollzugsprobleme ergeben sich z. B. daraus, dass ein großer Teil der Familienpolitik zwar auf Bundesebene entschieden und entworfen 165 Während Spanien bzw. Italien (Geburtenziffer 1,22/1,25 für Familien weniger als 1 % ihres Sozialproduktes ausgeben, weist Frankreich mit ca. 3 % die europaweit höchste Geburtenrate (1,89) auf. 166 Vgl. EICHHORST/THODE, Vereinbarkeit (wie Anm. 15), S. 44f. 167 Vgl. dazu auch MÜNCH, Familienpolitik (wie Anm. 24), S. 181ff.; vgl. Max WINGEN, Auf der Suche nach tieferen Ursachen für familienpolitische Strukturfehler und Defizite in staatlichen und gesellschaftlichen Systemen, in: Sozialer Fortschritt 51 (2002), S. 241–254.
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wird, die Umsetzung und Ausführung aber von den Kommunen und Ländern abhängt. Die Entscheidung der deutschen Länder für die Halbtagsschule kann der Bund aufgrund der Länderkulturhoheit höchstens versuchen, durch finanzielle Anreize aufzuweichen. Dass ein großer Teil der Kindergartenplätze im Hinblick auf die Öffnungszeiten nicht den Wünschen der Eltern gerecht wird, hängt nicht nur mit der durch Steuerausfälle bedingten katastrophalen Finanzlage deutscher Kommunen zusammen. Darüber hinaus wird gerade im alten Bundesgebiet eine Vielzahl von Einrichtungen von religiös bzw. weltanschaulich ausgerichteten Trägern der Freien Wohlfahrtspflege unterhalten, deren regional z. T. oligopolistisches Leistungsangebot vor allem aufgrund der oft begrenzten Öffnungszeiten allzu oft an den Bedürfnissen erwerbstätiger Eltern vorbeigeht. Der geringe Erfolg familienpolitischen Handelns ist in erster Linie auf die Durchsetzungsprobleme von Familienministern sowie familienpolitischen Interessen und Belangen zurückzuführen, die auf allen politischen Ebenen zu beobachten ist. Bedingt durch den mit dem Querschnittscharakter von Familienpolitik einhergehenden Mangel an Organisierbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit familienpolitischer Interessen und ihre Abhängigkeit von der Finanzund Arbeitsmarktpolitik standen alle bisherigen bundesdeutschen Familienminister und -ministerinnen vor der Situation, zwar fast immer Verständnis für ihre Forderungen, selten aber das zu deren Realisierung notwendige Geld zu bekommen.168 Nicht zu unterschätzen sind schließlich die negativen Auswirkungen einer Überfrachtung von Familienpolitik durch frauenpolitische Leitbilder: Da Familienpolitik häufig als Vehikel dient, um das jeweilige ideologisch geprägte Frauenbild zu transportieren, fehlt es ihr an Kontinuität, Verlässlichkeit und einer klaren konzeptionellen Ausrichtung. Dieses Defizit wiegt gerade in diesem Bereich staatlichen Handelns besonders schwer. Schließlich handelt es sich bei der Realisierung eines Kinderwunsches um eine individuelle Entscheidung mit sehr langfristigen Auswirkungen.
168 Familienministerin Renate Schmidt (SPD) nennt vier Ausnahmen von dieser Regel: Die Einführung des einheitlichen Kindergelds 1974 unter Katharina Focke, die Durchsetzung des BErzGG durch Heiner Geißler 1986, die Einführung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung 1985 bzw. 1987 sowie die Verankerung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz unter Hannelore Rönsch 1992; vgl. SCHMIDT, S.O.S. Familie (wie Anm. 21), S. 25f.
Einführung Von Günter Buchstab Die Kulturpolitik ist eher ein weiches und nicht eindeutig konturiertes Politikfeld. Von den Historikern wird sie meist nur am Rand wahrgenommen und behandelt. Dies gilt auch für die jüngere Vergangenheit, die Zeit zwischen 1982 und 1998. In der Tat: In einer ersten „Bilanz der Ära Kohl“1 aus dem Jahr 1998, die alle möglichen Politikfelder untersucht, findet sich kein Wort zur Kulturpolitik. Immerhin gibt es inzwischen eine Magisterarbeit, die sich des Themas angenommen hat.2 Bundeskanzler Helmut Kohl zog bei seinem Ausscheiden aus dem Amt eine positive kulturpolitische Bilanz seiner 16-jährigen Amtszeit. Noch nie habe sich ein Bundeskanzler, so führte er in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 17. September 1998 aus, so intensiv mit kulturpolitischen Themen befasst wie er. Als Beispiele für seine Kultur-Initiativen nannte er unter anderem die Museumsmeile in Bonn, die Gründung des Deutschen Historischen Museums und die Gestaltung der Neuen Wache in Berlin. Auch sei es ihm gelungen, nach der Wiedervereinigung alle Bundesländer in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu halten. Zudem und nicht zuletzt sei er in ständigem Gespräch mit vielen Schriftstellern, Musikern, bildenden Künstlern und Intellektuellen. Ganz entgegengesetzt lautete das Fazit der SPD. Sie zog im Jahr der Bundestagswahl eine wesentlich andere Bilanz als „seine Kulturhoheit, der Kanzler“3 und forderte nicht nur „eine Neuordnung der deutschen Kulturpolitik“ und „eine neue kulturpolitische Verfassung“ vor dem Hintergrund eines permanenten Bund-Länder-Konflikts und des deutschen und europäischen Einigungsprozesses. Die rotgrüne Regierung versprach, der Kultur überhaupt einen „neuen Stellenwert“ einzuräumen. Schon vor ihrer Wahl hatten die potentiellen Koalitionspartner einen Bundeskulturminister gefordert, der mit Autorität die Belange von Kunst und Kultur in Deutschland vertreten solle. Ausersehen wurde dafür der Journalist und Verleger Michael Naumann. Er fällte das vernichtende Urteil, die Bundesrepublik sei „eine kulturpolitische Sahelzone“, in der „jahrelang eine fantasiefeindliche, innovationsfeindliche Politik gemacht
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Bilanz der Ära Kohl. Christlich-liberale Politik in Deutschland 1982–1998. Gewidmet Hans-Hermann Hartwich zum 70. Geburtstag, hg. v. Göttrik WEWER, Opladen 1998. Klaus STEMMLER, Kulturpolitik in der Ära Kohl. Eine Kritik von Grundlagen und Diskussionen zur Wahrnahme von Kompetenzen unter der Regierung Helmut Kohl 1982–1998, Bonn 2000. „Süddeutsche Zeitung“, 18.2.1998.
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worden“ sei4, und versprach, alles besser zu machen. Die veröffentlichte Meinung überschlug sich, weil angeblich vorher 16 Jahre lang keiner das Wort „Kultur“ in den Mund genommen hätte. War dies wirklich so? Lassen wir an dieser Stelle nur die nackten Zahlen der Bundeshaushalte der Jahre 1982 bis 1998 sprechen. Tatsächlich hat sich der Etat des Bundeshaushalts für die innerstaatliche Kultur von 1982 bis 1998 mehr als verdreifacht: von 346 Mio. auf fast 1,3 Mrd. DM. In dieser Summe nicht enthalten ist der Etat für auswärtige Kulturpolitik; er allein ist von 692 Mio. auf 1,15 Mrd. gestiegen, und schließlich sind von 1991 bis 1994 rund 3,3 Mrd. DM aufgewandt worden, um die kulturelle Substanz in den neuen Ländern zu erhalten und die kulturelle Infrastruktur zu modernisieren. Angesichts dieser Zahlen reibt man sich verwundert die Augen: Deutschland in der Ära Kohl ein kulturelles Wüstenrandgebiet?
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„Der Tagesspiegel“, 22.7.1998.
Die Kulturpolitik nach 1982 Von Norbert Lammert Es gehört wenig prophetische Begabung zu der Vorhersage, dass über die Ära Kohl noch lange gesprochen werden wird. Das hängt nach meiner Einschätzung weniger mit der hinreichend auffälligen, kaum je wieder erreichbaren, schon gar überbietbaren Länge der Kanzlerschaft von Helmut Kohl zusammen, sondern insbesondere mit den zwei historisch prägenden Ereignissen und Entwicklungen, die diese Kanzlerschaft charakterisieren: die Wiederherstellung der deutschen Einheit und die Einbindung des wiederhergestellten deutschen Nationalstaates in eine große und größer werdende europäische Gemeinschaft, bei gleichzeitiger rechtsverbindlicher und unwiderruflicher Übertragung nationaler Souveränitätsrechte. Einen vergleichbaren Vorgang hat es in der europäischen Geschichte nicht gegeben. Das eine ist ohne das andere nur schwer verständlich. Die deutsche Einheit ist nur im Kontext der europäischen Einigung möglich gewesen und Wirklichkeit geworden. Die doppelte Einigungsbewegung Deutschlands und Europas steht aber bei genauem Hinsehen durchaus im Zusammenhang mit dem scheinbaren Randthema der Kulturpolitik in dieser Ära Kohl. Es versteht sich beinahe von selbst, dass unter dem Eindruck dieser beiden überragenden historischen Erfahrungen und Entwicklungen in dieser Kanzlerzeit jeder einzelne fachpolitische Bereich an Aufmerksamkeit zurücktritt. Insoweit geht es der Kulturpolitik nicht anders als der Finanz- und Steuerpolitik, der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik oder der Infrastrukturpolitik in der Ära Kohl. Dennoch gibt es eine spezifische Beleuchtung für die Kulturpolitik und ganz besonders für die Wahrnehmung bundespolitischer Verantwortung, die mit der jüngeren Entwicklung zusammenhängt, die sich nach Ende dieser Kanzlerschaft und seit Beginn der Regierungsverantwortung einer rot-grünen Koalition ergeben hat. Mit der in vielerlei Hinsicht spektakulären Etablierung eines Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Range eines Staatsministers im Kanzleramt und insbesondere durch die damit verbundenen, zum Teil auch demonstrativ erzeugten Erwartungen, hat die Kulturpolitik in Bundeskompetenz eine bis dahin ungewohnte, für den einen oder anderen offensichtlich auch schwer erträgliche Bedeutung gewonnen. Tatsächlich hat es Phasen gegeben im Prozess der Etablierung dieses neuen Amtes, bei denen man fast den Eindruck haben konnte, als entdecke nun endlich der Bund sein Interesse an Kunst und Kultur. Gut eine Legislaturperiode später haben sich die Erwartungen sehr beruhigt. Auch den Gutwilligsten ist deutlich geworden, dass wir es mit einer bemerkenswerten Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realitäten zu tun haben.
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Mangelnder Wille, mangelnde rechtliche Kompetenz und objektive Haushaltszwänge mögen sicher Teile der Erklärung für diese Schwierigkeiten darstellen. Jedenfalls zieht sich niemand den Vorwurf der Polemik zu, der heute darauf hinweist, dass der deutlich gestiegenen öffentlichen Wahrnehmung der bundespolitischen Rolle im Bereich der Kunst- und Kulturförderung eine vergleichbare Steigerung des Stellenwertes der Kunst- und Kulturförderung im Haushalt des Bundes nicht gegenübersteht. Die vergleichsweise ernüchternde Wahrheit ist vielmehr, dass fünf Jahre nach der Etablierung dieses neuen Amtes der Anteil aller Kulturausgaben am Haushalt des Bundes von nicht übermäßig eindrucksvollen 0,4 % 1998 auf noch weniger eindrucksvolle 0,3 % zurückgegangen ist. Im übrigen ist der spektakulärste einzelne Einbruch an genau der Stelle erfolgt, bei der die originäre Zuständigkeit des Bundes am wenigsten streitig ist, nämlich im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik. Die mit viel Pathos von fast allen Außenministern der jüngeren Zeit beschworene dritte Säule unserer Außenpolitik ähnelt immer mehr einem antiken Pfeiler, der dringender Restaurationsarbeiten bedarf. Besonders auffällig ist die Gegenläufigkeit in der Dotierung der einen und der anderen Aufgabe. Während nämlich die Gesamtausgaben des Auswärtigen Amtes aus vielen nachvollziehbaren, von mir nicht einmal andeutungsweise kritisierten Gründen kontinuierlich gestiegen sind, ist der Etat des Auswärtigen Amtes für kulturpolitische Aufgaben seit 1998 um 12 % zurückgegangen. Das heißt, der relative Anteil für diese dritte Säule eigener Aufgaben ist signifikant gesunken. Nun will ich mich nicht mit der Zeit 1998 bis 2004, sondern der Kulturpolitik in der Ära Kohl 1982 bis 1998 auseinandersetzen. Meine These ist, dass die entscheidende Akzentverschiebung in der Wahrnehmung gesamtstaatlicher Aufgaben für Kunst und Kultur nicht durch die Etablierung einer entsprechenden Funktion im Kanzleramt 1998, sondern in der Ära Kohl stattgefunden hat. Und dass möglicherweise die Unauffälligkeit durch die Vermeidung einer Formalisierung eine der Voraussetzungen für diese faktische Akzentverschiebung war. Es gibt allerdings mindestens eine zweite Voraussetzung für diese Akzentverschiebung, die sich sowohl statistisch wie konzeptionell belegen lässt. Und diese zweite Voraussetzung hat einerseits etwas mit dem merkwürdig ambivalenten Verhältnis der Länder zu ihrer originären Kulturverantwortung und andererseits mit ihrer, ganz freundlich formuliert, Vorsicht im Umgang mit bundespolitischen Ambitionen auf diesem Feld zu tun. Mir ist in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Erklärung der Ständigen Konferenz der Kultusminister in die Hände gefallen, die ich nicht vorenthalten möchte. Die KMK hat am 18. Oktober 1949, kurz nach Gründung
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der Bundesrepublik Deutschland, erklärt, sie sei „aus staatspolitischen und kulturgeschichtlichen Gründen das einzig zuständige und verantwortliche Organ für die Kulturpolitik der Länder, soweit es sich um Angelegenheiten handelt, die mehrere oder alle Länder betreffen und von überregionaler Bedeutung sind“. Dieses Selbstverständnis hat sich nach meiner Beobachtung im Laufe der darauf folgenden gut 50 Jahre nur unwesentlich verändert, aber wahrgenommen haben die Länder und ihre Kultusminister diese selbstgesetzte Aufgabe nie – weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit. Meine zweite These: Erst durch die, wie das Frank Schirrmacher einmal in einem Kommentar Ende der 90er Jahre formuliert hat, merkwürdige Mischung aus Desinteresse und mangelndem Gestaltungswillen bei den Ländern ist die stärkere Wahrnehmung gesamtstaatlicher Aufgaben im Bereich der Kulturpolitik durch den Bund möglich und zugleich nötig geworden. Ich will nicht einmal andeutungsweise das bemerkenswerte Engagement unserer Länder für die Förderung von Kunst und Kultur kritisieren oder in Zweifel ziehen, ganz im Gegenteil. Die meisten Länder der Welt, einschließlich der sog. entwickelten Länder, könnten sich nur beglückwünschen, wenn sie ein ebenso starkes Engagement einer vergleichbaren politischen Ebene im Bereich der Kunst- und Kulturförderung hätten. Dass der Kulturstaat Deutschland so lebendig, so vital und vor allen Dingen so dezentral organisiert ist, wie das nun seit vielen Jahrzehnten, bei genauem Hinsehen eigentlich seit Jahrhunderten der Fall ist, das verdanken wir neben manchen glücklichen Zufällen der deutschen Geschichte auch diesem ausgeprägten Ehrgeiz der Länder in der Wahrnehmung der oft missverstandenen Kulturhoheit. Aber ich glaube, es ist nicht unfair hinzuzufügen, dass hinter diesem Ehrgeiz die Wahrnehmung gesamtstaatlicher Aufgaben im Bereich der Kunst- und Kulturförderung notorisch zurückgeblieben ist. Und zur ganzen Wahrheit gehört, dass der erste Kanzler, der dieses entstandene Defizit durch faktisches Handeln unter gleichzeitiger Vermeidung jeder Theoriedebatte auszugleichen begonnen hat, Helmut Kohl gewesen ist. Die auffälligen Projekte in den 80er wie den 90er Jahren werden noch genannt, bei denen sich im übrigen, weit vor der 98er-Inthronisierung eines Staatsministers in dieser Funktion, die Kompetenzdebatte entzündet hat. Ich erinnere daran, dass damals nicht nur real existierende Kultusminister und Ministerpräsidenten, sondern auch beachtliche Repräsentanten der deutschen Rechtswissenschaft beispielsweise den Bau des Deutschen Historischen Museums in Berlin schlicht als verfassungswidrig bezeichneten. Ja, mehr noch: In luziden juristischen Ausführungen wurde die Auffassung vertreten, dass überhaupt die gesamte Kunstförderung des Bundes rechtlich ohne Grundlage stattfände. Es gibt einen, wie ich glaube, unverdächtigen und zugleich kompetenten Zeugen für diese Akzentverschiebung in der Wahrnehmung kulturpolitischer
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Aufgaben in der Ära Kohl. In einer der wenigen kulturpolitischen Debatten des Deutschen Bundestages in dieser Zeit hat der langjährige damalige bayerische Kultusminister Hans Maier im Deutschen Bundestag festgestellt: „Wer die Verstöße des Bundes auf Länderseite beklagt, der muß auch das Vakuum sehen, das sie ausgelöst hat. Ein Vakuum, nicht nur finanzieller, sondern auch kulturpolitischer Natur.“ Und er hat dann nicht für eine Kompetenzdebatte mit dem Ziel plädiert, ein für allemal die Zuständigkeiten neu zu vermessen, sondern für einen Rahmen vernünftiger Kooperation. Dass es für einen solchen Rahmen, jedenfalls für vernünftige Kooperation, zwingenden Bedarf gab und gibt, das wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Denn eine Republik, die sich wie diese ausdrücklich als Kulturstaat versteht und dieses Selbstverständnis als Kulturstaat mit der gleichen Nachdrücklichkeit wie das Selbstverständnis als Rechtsstaat oder als Bundesstaat oder als Sozialstaat zu Protokoll gegeben und im Einigungsvertrag auch ausdrücklich so formuliert hat, wird die Förderung von Kunst und Kultur nicht im allgemeinen für eine öffentliche Aufgabe halten können und zugleich die völlige Abstinenz ausgerechnet des Bundes bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe postulieren wollen. Es kann überhaupt nicht darum gehen, ob der Bund hier eine Verantwortung hat, sondern nur darüber, wie er sie ausübt. Und da haben wir in der Ära Kohl eine erste, auffällig veränderte Wahrnehmung dieser Rolle mit der allerdings bemerkenswerten Zögerlichkeit bei der Formalisierung dieser Akzentveränderung. Auch statistisch lässt sich diese Akzentveränderung belegen. In dieser Zeit, von Anfang der 80er bis Ende der 90er Jahre, hat es nicht nur die weithin übersehene Veränderung in der faktischen Aufgabenwahrnehmung durch den Bund in diesem Bereich gegeben, sondern es hat eine auch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis dahin und bis heute beispiellose Veränderung in der finanziellen Dotierung der Kunst- und Kulturförderung gegeben. Im Jahre 1982 betrugen die Ausgaben des Bundes, die innerstaatlichen Ausgaben des Bundes für die Kunst- und Kulturförderung 346 Mio. DM. Im Jahr 1998 betrugen die Ausgaben des Bundes für die Förderung von Kunst und Kultur, ohne die auswärtige Kulturpolitik, 1,25 Mrd. DM. In dieser Zeit haben sich die Ausgaben des Bundes für Kunst- und Kulturförderung also beinahe vervierfacht. Auch wenn man die spektakulären Spitzen zu Beginn der 90er Jahre im unmittelbaren Kontext der Wiedervereinigung herausrechnet, um einen angemessenen Vergleich zu ermöglichen, ergeben sich im Durchschnitt dieser Jahre Steigerungsraten für die Kunst- und Kulturförderung des Bundes von 9,7 % pro Jahr. Es gibt keinen anderen Einzeletat des Bundes, der auch nur annährend vergleichbare Steigerungsraten aufwies. Wären diese Zahlen nur bekannt! Dann würde selbst in der durch die Veränderung formaler Rahmenbedingungen enthusiasmierten und chloroformier-
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ten deutschen Kunst- und Kulturszene neues Nachdenken darüber einsetzen, worauf es eigentlich ankommt, wenn sich ein Staat für die Förderung von Kunst und Kultur verantwortlich fühlt: Um die Schaffung neuer Ämter? Oder um die Verbesserung von Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Kunst und Kultur? Für die Ära Kohl jedenfalls kann dieser Nachweis geführt werden: Die Rahmenbedingungen haben sich in diesen Jahren nachhaltig verbessert.
Die Kulturpolitik der Bundesregierung unter Helmut Kohl im Zeichen der deutschen und europäischen Einigung Von Anton Pfeifer Eine umfassende Darstellung der Kulturpolitik des Bundes in der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl liegt bisher nicht vor. Sie ist auch nicht das Ziel dieses Beitrages. Er konzentriert sich vielmehr auf einige die Kulturpolitik des Bundes kennzeichnenden und prägenden Segmente in den Jahren, in denen die Wiederherstellung der Deutschen Einheit Wirklichkeit geworden ist. Dies bedeutet: Viele zum Teil sehr wesentliche Bereiche aus dem breiten Feld der Kulturpolitik bleiben unberücksichtigt, obgleich sie einer vertieften Darstellung Wert wären und bei einer anderen Gelegenheit auch dargestellt werden sollen. Dazu gehört beispielsweise die von der Bundesregierung in dieser Zeit neu entwickelte Politik im Bereich der neuen Medien und der modernen Kommunikationstechnologien, die sich in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit großer Schnelligkeit und Dynamik entwickelt haben. Aus ihnen haben sich neue Chancen für wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze ergeben aber auch reiche Chancen für neue kulturelle Entwicklungen und für kulturrelevante gesellschaftliche Veränderungen. Für sie wurde, soweit es die neuen Medien betraf, in schwierigen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern ein erster rechtlicher Ordnungsrahmen durch den Bundesgesetzgeber und durch eine staatsvertragliche Regelung der Länder geschaffen, ein Ordnungsrahmen, der auch die Mediengesetzgebung in anderen europäischen Ländern und in der Europäischen Union beeinflusst hat. Außen vor bleiben muss auch die Neuordnung der Rundfunklandschaft nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit, die zwar in erster Linie Aufgabe der Länder gewesen ist, an welcher der Bund aber insofern beteiligt war, als die beiden Rundfunkanstalten, die in der Zeit der deutschen Teilung entstanden sind und die in der Kompetenz des Bundes lagen, der Deutschlandfunk und RIAS Berlin in diese neue Rundfundlandschaft eingefügt und in die Kompetenz der Länder übergeben werden mussten, wobei die Bundesregierung vor allem das Ziel hatte, dass diese von hoher Programm- und Informationsqualität geprägten und im Gebiet der ehemaligen DDR vielgehörten Anstalten nicht einfach von der Bildfläche verschwanden und vor allem auch ihre kulturelle Ausstrahlung erhalten blieb. Nicht zuletzt ging es dabei auch um den Fortbestand ganzer Orchester, Chöre und musikalischer Klangkörper von hohem und weit über Berlin hinausragendem Rang. Auch hier waren langwierige Verhandlungen des Bundes mit den Ländern und den Rundfunkanstalten erforderlich, ehe es durch einen Staatsvertrag des Bundes mit den Ländern und durch einen Staatsvertrag, den die Länder untereinander abschlossen, zur
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Gründung des Deutschlandradios mit zwei Funkhäusern in Köln und Berlin kam. Es war ursprünglich auch eine andere Lösung im Raum gestanden, in welcher das Zweite Deutsche Fernsehen aus einer reinen Fernsehanstalt hätte eine Rundfunk- und Fernsehanstalt werden können. In der Bundesregierung gab es Sympathie für eine solche Lösung, die den beiden Rundfunkprogrammen eine rechtliche und wirtschaftliche Basis geschaffen hätte. Aber gegen diese Lösung ist vor allem aus der ARD Front gemacht worden, und so gab es von vorneherein keine Chance für eine entsprechende konsensuale staatsvertragliche Lösung. Immerhin kam es im Zuge dieser Verhandlungen aber zur Gründung einer neuen „Rundfunk Orchester und Chöre GmbH“, welche Träger von fünf bedeutenden Orchestern und Chören in Berlin wurde und damit deren Existenz wieder auf eine feste Grundlage stellte. Auch die Länder stimmten zu, dass der Bund sich an dieser GmbH beteiligte. Eine spätere ins Einzelne gehende Darstellung verdient auch die Förderung von Musik und Literatur, für die der Bundeskanzler sich immer wieder nachhaltig und ganz persönlich engagiert hat, verdient die Filmförderung und die dabei in Gang gesetzte Novellierung des Filmförderungsgesetzes, um dem Deutschen Film neue Zukunftschancen zu öffnen. Und eine ins Einzelne gehende Darstellung verdient bei anderer Gelegenheit z. B. auch die Jungendkulturpolitik mit den vielen für die Heranbildung eines qualifizierten künstlerischen Nachwuchses segensreichen Einrichtungen wie der Deutsche Musikwettbewerb, der Wettbewerb „Jugend musiziert“, der Bundeswettbewerb Gesang, der Deutsche Jugendvideopreis, das Theatertreffen der Schülertheater in Berlin, das Treffen junger Autoren, der Bundeswettbewerb „Kunststudenten stellen aus“, das Theatertreffen deutschsprachiger Schauspielschüler, das Bundesjugendorchester, das Bundesjazzorchester der Jugend. Alles Initiativen, die in der Regierungszeit von Helmut Kohl entweder entstanden sind oder alle eine zuvor nicht gekannte intensive Förderung und Blüte erlebten, die ein hohes Maß an Motivation in fast alle Bereiche der kulturellen Jugendbildung ausstrahlten und in die nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit die neuen Länder einbezogen wurden, einschließlich des Rundfunkmusikschulorchesters als ehemaliges Jugendorchester der DDR, das als permanente innerdeutsche Begegnungsmaßnahme, als „Deutsches Musikschulorchester“ in der Trägerschaft der Deutschen Musikschulen weitergeführt wurde. Zum Thema selbst als erstes eine grundlegende Feststellung: Es geht um Kulturpolitik. Eine Grundmaxime der Kulturpolitik in der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl war: Die Kultur und das kulturelle Leben selbst, seine Inhalte und die Ergebnisse künstlerischen Schaffens bestimmen ausschließlich die Künstler und die Kulturschaffenden in aller Freiheit, die das
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Grundgesetz garantiert. Dieses Verfassungsgebot war konstitutiv für die Regierung von Helmut Kohl. Das immer wieder bewusst zu machen, war ihr in dieser Zeit deshalb besonders wichtig, weil die Wiedervereinigung ja mit einem Staat erfolgte, der künstlerisches Schaffen dem Leitbild des sogenannten „sozialistischen Menschen“ unterwerfen wollte und der mit der Ideologie des „sozialistischen Realismus“ den Künstlern, der Kultur und den Kultureinrichtungen über 40 Jahre hindurch inhaltliche Vorgaben aufzwang. Das hat Spuren hinterlassen und auch bei den Kulturschaffenden vielfach zu Erwartungen an den Staat geführt, für die es in einer von der Freiheit der Kunst geprägten Kulturpolitik keine Legitimation gibt. Aus dem gleichen Grund konnte und wollte die Kulturpolitik in der Regierungszeit von Helmut Kohl sich nicht für einen sogenannten „neuen kulturellen Aufbruch“ im Sinne jener in der alten Bundesrepublik hergeben, die glaubten, in den neuen Ländern ein freies Experimentierfeld für solche Kulturentwicklungen zur Verfügung zu haben, für die sie in der alten Bundesrepublik nie einen Boden gefunden haben und die später frustriert über eine Regierung herzogen, die sich ihre Sichtweise nicht zu eigen machte. Auf der anderen Seite hat die Bundesregierung in den 16 Jahren der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl auch kontinuierlich zum Ausdruck gebracht, dass Kunst und Kultur signifikant und formend für die Identität des Gemeinwesens sind, dass in der Kunst und Kultur Werte und Wertvorstellungen entwickelt werden, die für den einzelnen wie für das Zusammenleben in der Gemeinschaft gleichermaßen bedeutsam sind, und dass Kunst und Kultur wesentlich nicht nur zur ästhetischen Bildung, sondern auch zu Kreativität, Selbstfindung, individuellem Entfaltungs- und Gestaltungsvermögen und zur individuellen Lebensqualität beitragen. Deshalb war es gerade um der Freiheit, der Vielfalt, der Pluralität und der Freisetzung von Kreativität willen ein wichtiges Anliegen der Regierung, immer wieder dafür zu werben, dass sich möglichst viele als Einzelpersonen oder zusammen mit anderen in Vereinen, Stiftungen und Verbänden in der Kultur und für die Kulturförderung engagieren. Und deshalb sah die Regierung es als ihre Aufgabe an, die Kulturförderung und die Kulturpflege als identitätsstiftende und sinnstiftende Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft einerseits nicht nur wie Regierungen vor ihr und nach ihr verbal, sondern tatsächlich mit besonderer Priorität zu versehen, andererseits aber auch insbesondere durch kulturfreundliche und kulturfördernde Rahmenbedingungen in erster Linie subsidiär zu unterstützen und jeder Staatsabhängigkeit entgegenzuwirken. Auf dieser Grundlage hat die Regierung insgesamt, nicht nur das für die Kulturpolitik im Inland federführende Bundesinnenministerium und das für die auswärtige Kulturpolitik zuständige Auswärtige Amt, sondern im Rahmen ihrer Ressortzuständigkeiten auch das Städtebauministerium, das Bildungsministerium, das Wirtschaftsministerium mit mehreren wichtigen
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Programmen, das Entwicklungsministerium oder das Jugendministerium kulturpolitische Initiativen, Projekte und Programme entwickelt und realisiert. Natürlich ist immer versucht worden, diese Kulturförderung zu koordinieren, mit unterschiedlichem Erfolg. Vielleicht hätte die Koordinierungsfunktion des Auswärtigen Amtes in der auswärtigen Kulturpolitik etwas robuster sein können, aber gegen eine Bündelung der Kulturpolitik des Bundes in zwei oder einem Ministerium, oder gar in einer „Behörde“ des Bundes, dagegen hat das Bundeskanzleramt immer Front gemacht. Denn einmal gilt: Vielfalt in der Förderung sichert auch dem Kulturleben Vielfalt, Buntheit, Farbigkeit, und zum zweiten kann es für die Kulturförderung nur gut sein, wenn möglichst viele Ressortchefs beim Finanzminister für ihre „Kulturtöpfe“ streiten und wenn es nicht nur einer oder zwei tun. Die nachfolgende Regierung ist einen anderen Weg gegangen und hat für die Kulturpolitik der Bundesregierung eine neue Behörde eingerichtet. Ins Gewicht fallende Vorteile hat das der Kulturförderung des Bundes nicht gebracht, eher das Gegenteil. Bedacht werden muss bei der Betrachtung der Kulturpolitik der Ära Kohl schließlich: Kulturpolitik ist ohne Zweifel zwar eine gesamtstaatliche Aufgabe, aber die Zuständigkeit liegt grundsätzlich bei den Ländern und Gemeinden, sie leisten weit über 90 % der staatlichen Kulturfinanzierung. Die Regierung von Helmut Kohl hat diese durch den Kulturföderalismus des Grundgesetzes und die darauf beruhende Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern stets als einen integralen Bestandteil der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und vor allem als einen Garanten für die Pluralität, die Vielfalt, den kreativen Wettbewerb und die Freiheit der Kultur gesehen, der unserer Kulturlandschaft ihr unverwechselbares Gepräge gibt und dessen Leistungsfähigkeit beeindruckend ist, wie allein folgende Zahlen belegen: In Deutschland bestanden Mitte der neunziger Jahre ca. 4 900 Museen und Ausstellungshallen mit jährlich ca. 110 Mio. Besuchern, ca. 380 öffentliche und private Theater und Festspielhäuser mit jährlich über 33 Mio. Besuchern und über 200 Symphonie und Kammerorchester. Rund eine Mio. Schülerinnen und Schüler besuchten eine Musikschule. Für viele in Deutschland sind Chöre ein Ort aktiver musikalischer Teilhabe. In der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände waren 35 000 Chöre mit ca. 1,3 Mio. Sängerinnen und Sängern zusammengeschlossen. In Deutschland bestanden ca. 16 000 öffentliche Bibliotheken mit ca. 370 Mio. Buchausleihen pro Jahr. Diese Liste ließe sich um Vieles verlängern. Als eine „kulturpolitische Sahelzone“ bezeichnete der erste Kulturbeauftragter des derzeitigen Bundeskanzlers 1998 unser Land. Dabei gab es, wie diese Zahlen belegen, nichts Vergleichbares in Europa. Es ist die föderale Ausprägung unseres Landes, die das zustande brachte, und deshalb hat die Bundesregierung in der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl bei allen Differenzen mit den Ländern in Einzelbereichen den in Deutsch-
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land gewachsenen Kulturföderalismus immer als eine Grundbedingung ihrer eigenen Kulturpolitik gesehen und akzeptiert. Ihre Kulturpolitik war deshalb vor allem konzentriert auf die Bereiche, für die der Bund kompetent ist: Auf die auswärtige Kulturpolitik, und im innerstaatlichen Bereich auf die Entwicklung günstiger Rahmenbedingungen durch die Bundesgesetzgebung im Sozialrecht, Urheberrecht, Steuerrecht oder in der Wirtschaftsförderung, im Städtebau und Denkmalschutz, um Beispiele zu nennen, und sie konzentrierte sich auf die Bewahrung des kulturellen Erbes und auf den Ausbau und die Förderung gesamtstaatlich bedeutsamer kultureller Einrichtungen sowie auf die gesamtstaatliche Repräsentation, eine Kompetenz freilich, die dort, wo sie regionale Bezüge aufweist, erfolgreich nur im Zusammenwirken mit dem jeweiligen Bundesland im Rahmen des sog. kooperativen Föderalismus wahrgenommen werden konnte. In diesem Kontext der gesamtstaatlichen Verantwortung hat es die Regierung immer auch als ihre Aufgabe angesehen, durch ihre Kulturpolitik zu einem generell kulturfreundlichen Klima beizutragen und zu verdeutlichen, dass individuelle Lebensqualität und die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen zu einem wesentlichen Teil auch vom kulturellen Reichtum eines Landes bestimmt werden, dass Kunst und Kultur eine immer größer werdende Bedeutung für das Ansehen unseres Landes nach außen gewinnen und dass Kunst und Kultur immer wichtigere Faktoren für die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland sind. Die Bundesregierung hat Mitte der neunziger Jahre als erste Regierung in ihrem vom Kabinett verabschiedeten Regierungsprogramm zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland diesen Zusammenhang beschrieben und daraus konkrete Ziele auch für die Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt und formuliert. Ihre besondere Bedeutung erhielt diese in der Kulturpolitik von der Bundesregierung wahrzunehmende gesamtstaatliche Verantwortung im deutschen Einigungsprozess. Die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl sah schon in den Jahren der deutschen Teilung die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Geschichte und die gemeinsame Kultur als eine Klammer für den Zusammenhalt der in zwei Staaten geteilten Nation. Und in der Tat waren Kunst und Kultur in den Jahrzehnten der Teilung sowohl im Bewusstsein der Deutschen als auch im Bewusstsein der Europäer eine gewichtige Basis dafür, dass die deutsche Nation trotz der Zugehörigkeit der deutschen Teilstaaten zu zwei grundverschiedenen Gesellschaftssystemen fortbestand. Die Bundesregierung hat in dieser Zeit sorgsam darauf geachtet, die kulturelle Einheit des geteilten Deutschlands, wo immer möglich, zu behaupten und alles zu unterstützen, was dazu beitragen konnte, dass die Menschen im geteilten Deutschland, vor allem die Menschen in der DDR, ihre kulturelle Identität und Orientierung weiter aus der gemeinsamen Sprache, aus der gemeinsamen deutschen und europäischen Geschichte und aus dem gemeinsamen kulturellen Erbe bezogen. Diese
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Kulturpolitik hat damit am Ende erfolgreich den Zielen der SED-Politik entgegengewirkt, die über „eine eigenständige sozialistische Nationalkultur der DDR“ ihren Teilstaat von der Bundesrepublik und von der kulturellen Einheit der Nation abgrenzen wollte. Es entsprach der Logik dieser Politik, dass im Vertrag zur Deutschen Einheit der Kulturbereich in Art. 35 eine besondere Ausgestaltung erhielt. Der Vertrag sah in Kunst und Kultur eine große Chance, im inneren Einigungsprozess das in den Jahren der Teilung unterschiedliche gewachsene Selbstwertgefühl der Menschen und die mit dem Leben in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen entstandenen unterschiedlichen Bindungen und Erfahrungen wechselseitig zu verstehen und dadurch die Menschen einander näher zu bringen. Dem gemäß ist in Art. 35 des Einigungsvertrages die kulturelle Dimension für den Prozess der inneren Einheit ausdrücklich verankert und als kulturpolitische Aufgabe mit einem besonderen Stellenwert formuliert worden. Die kulturpolitische Herausforderung war insgesamt groß. Die Kulturlandschaft der DDR war vom Staatszentralismus geprägt und der Staat war, wie wir heute viel genauer als damals wissen, ökonomisch und finanziell am Ende. Viele prognostizierten damals den Zusammenbruch der Kultureinrichtungen in der DDR, zumal die kulturelle Infrastruktur, also z. B. die von den Kultureinrichtungen genutzte Bausubstanz, von einigen Prestigeobjekten abgesehen, vielfach verschlissen und desolat war. Beispielsweise wurde nur ein neues Kunstmuseum und nur ein neuer großer, bedeutender Konzertsaal in der gesamten Geschichte der DDR gebaut. Viele befürchteten damals 1990 einen kulturellen Kahlschlag. Geradezu dramatisch war die Situation in der Denkmalpflege. Einzelnen Prestigeobjekten stand landesweit ein jahrzehntelanger Verfall zahlreicher bedeutender Baudenkmäler, ja ganzer historischer Stadtkerne und Bauensembles gegenüber. Das alles sind einige wenige skizzenhafte Beispiele, welche die Größe und die Kompliziertheit der Aufgabe zeigen. Einerseits ging es um die Erhaltung der kulturellen Substanz in den neuen Ländern, andererseits aber gleichzeitig um die Einleitung zukunftsweisender Strukturveränderungen, also um den Aufbau pluraler Strukturen einschließlich notwendiger Privatisierungen in der Kulturlandschaft der neuen Länder. Die im Nachhinein gelegentlich kritisch gestellte Frage, warum die Bundesregierung in dieser Situation nicht auf eine Neuordnung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern einschließlich eines grundlegenden Ausbaus der Kompetenzen des Bundes in der Kulturpolitik gedrängt hat, lässt sich klar beantworten: Es wäre der Sache, um die es ging, unverantwortlich und in keiner Weise dienlich gewesen, bei der Dimension und Dringlichkeit dieser Aufgaben einen Streit über den Kulturföderalismus zu beginnen, zumal es ja gar keine Chance gab, an der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes etwas grundlegend zu verändern. Bekanntlich haben Bundestag und Bundesrat
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nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit einen gemeinsamen Ausschuss eingesetzt, der im Hinblick auf die Herstellung der inneren Einheit und den sich aus der Wiedervereinigung ergebenden neuen Aufgaben Vorschläge für Grundgesetzänderungen erarbeiten und unterbreiten sollte. Diesem Ausschuss lag als Ergebnis einer Enquete-Kommission des Bundestages aus der Zeit lange vor der Wiederherstellung der deutschen Einheit der Vorschlag vor, im Rahmen der Bestimmung zusätzlicher Staatsziele das Kulturstaatsgebot im Grundgesetz zu verankern. Die Länder lehnten es ab, selbst über eine solche Grundgesetzänderung auch nur zu diskutieren. Für die Bundesregierung war also klar: Die Herausforderungen des Einigungsprozesses waren im Bereich der Kultur nur zu lösen auf einem Weg, der den Zentralismus der DDR ablöste durch ein neu aufzubauendes föderatives System, in welchem auch die neuen Länder in die Lage versetzt wurden, ihre Verantwortung für die Kulturpolitik zu übernehmen und ihr gerecht zu werden. Dazu allerdings war Hilfe notwendig. Nachdem der Bundeskanzler zusammen mit dem Bundesinnenminister anfängliche verfassungsrechtliche Einwendungen einzelner Kultusminister bei den Ministerpräsidenten der Länder überwinden konnte, einigte man sich darauf, dass der Bund durch eine „Übergangsfinanzierung Kultur“ diese Hilfe leisten sollte. Im Grunde reichte diese Übergangsfinanzierung im Bereich der Kultur weit über den Kompetenzrahmen des Bundes hinaus. Sie konnte deshalb von vornherein nur zeitlich befristet sein und wurde in dieser Weise dann auch im Einigungsvertrag vereinbart. Auf dieser Grundlage handelte die Bundesregierung dann aber entschlossen, schnell und flexibel. Sie stellte für diese Übergangsfinanzierung Kultur in den Jahren 1991–1993 insgesamt ca. 3 Mrd. DM zur Verfügung und beschloss im Kabinett bereits im November 1990 ein Substanzerhaltungsprogramm und ein Infrastrukturprogramm mit in der Regel ganz unbürokratischen Verfahrensweisen bei der Mittelzuweisung und vor allem mit dem Erfolg, dass komplementär zu den Bundesmitteln weitere Finanzmittel aus den unterschiedlichsten Quellen, auch aus bedeutsamen Beträgen aus privaten Stiftungen zusätzlich mobilisiert wurden. Das Ergebnis war: Zu dem befürchteten und prognostizierten kulturellen Kahlschlag kam es in den neuen Ländern nicht. Gemeinsam mit den Ländern und den Gemeinden sowie vielen privaten Stiftungen wurde in großem Ausmaß wertvolle kulturelle Substanz erhalten, vor allem blieben die in dieser Substanz liegenden und für die Menschen angesichts der totalen Systemveränderung haltgebenden Identifikations- und Orientierungsmöglichkeiten erhalten, und zugleich wurde Zeit gewonnen, damit die neuen Länder im Kulturbereich für die Zukunft dauerhaft tragfähige Strukturen aufbauen konnten, die nicht von Programmen des Bundes vorgegeben wurden, sondern Struktu-
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ren, über die sie in eigener Kompetenz entscheiden konnten. Das Substanzerhaltungsprogramm und das Infrastrukturprogramm haben also ganz nachhaltig bewirkt, dass die neuen Länder in einem Kernbereich ihrer Zuständigkeit trotz schwierigster Wirtschafts- und Finanzprobleme handlungsfähig wurden. Beide Programme wurden zu wichtigen Meilensteinen auf dem Weg zur inneren Einheit. Von großer Bedeutung war dabei auch ein besonderes Qualifizierungsprogramm des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, mit welchem das Recht, die Betriebsformen, die Finanzierungswege und das Management in die neuen Länder transferiert wurden, ohne welche die Strukturreform mit der damit verbundenen Übernahme zahlreicher Kultureinrichtungen in nichtstaatliche Trägerschaft gar nicht möglich gewesen wäre. 1993 schlossen dann Bund und Länder unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers einen Solidaritätspakt, mit dem durch die Neuordnung des Finanzausgleichs und durch die Einbeziehung der neuen Länder in den Finanzausgleich der Bund insgesamt 35 Mrd. DM jährlich den neuen Ländern zusätzlich zur Verfügung stellte. Der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen stellte damals in einer Regierungserklärung im Landtag fest, damit sei für die neuen Länder die finanzielle Basis gegeben, auf der sie ihre Aufgaben grundsätzlich eigenständig wahrnehmen könnten. Damit hatte die Übergangsfinanzierung Kultur ihr Ziel erreicht. Die Mitverantwortung des Bundes konzentrierte sich danach in den neuen Ländern ähnlich wie in den alten Ländern auf die dauerhafte Finanzierung von Kultureinrichtungen und Veranstaltungen von nationaler Bedeutung. Die Bundesregierung hatte schon 1991 damit begonnen, in ihr schon lange vor Wiederherstellung der deutschen Einheit entwickeltes und erfolgreiches Programm der dauerhaften Förderung von Kultureinrichtung von nationaler Bedeutung auch Einrichtungen aus der ehemaligen DDR einzubeziehen: die Stiftung Preußische Gärten und Schlösser, das Bundesarchiv in Leipzig, die Stiftung Bauhaus in Dessau, die Stiftung Weimarer Klassik, die Gedenkstätte Buchenwald und ausgesuchte Kultureinrichtungen der Sorben. Diese Liste wurde 1995 erheblich ausgeweitet und zu einer neuen gesamtdeutschen Liste ausgestaltet. Nicht ohne Friktionen in den alten Ländern dort, wo solche Einrichtungen im Hinblick auf die durch die Wiedervereinigung notwendig gewordenen Bestimmung neuer Prioritäten, z. T. erhebliche Einbußen erlitten oder ganz aus der Bundesförderung gestrichen wurden. Aber die Bundesregierung wollte auch bei der dauerhaften Förderung dieser Kultureinrichtungen von nationaler Bedeutung ein besonderes Zeichen für die neuen Länder setzen und zugleich in der alten Bundesrepublik das Denken in eingefahrenen, alten Denkschemata überwinden. Als drittes großes Programm nach der Wiedervereinigung beschloss das Bundeskabinett im Januar 1991 zur Sicherung, Erhaltung und Restaurierung von Kulturdenkmälern und wertvollen historischen Bauten in den neuen Län-
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dern ein Sonderprogramm für den Denkmalschutz für die Jahre 1991–1993. Auch hier ist die Bundesregierung für eine Übergangszeit weit über ihren Kompetenzbereich hinausgegangen, denn Denkmalschutz ist ja in erster Linie Aufgabe der Länder. Diesem Sonderprogramm folgte nach 1995 ein Denkmalschutzsonderprogramm „Dach und Fach“ für Baudenkmäler von besonderer regionaler Bedeutung, die akut vom Verfall bedroht waren und die in ihrem baulichen Bestand bis zu einer späteren Sanierung dringend gesichert und erhalten werden mussten. Diese Programme brachten zusammen mit den Komplementärmitteln Dritter bis 1997 insgesamt 3,3 Mrd. DM auf. Mit ihnen wurden insgesamt ca. 4000 Gebäude gesichert, ganze bereits im Verfall befindliche historische Altstädte und Stadtkerne erhalten, über 400 Kirchen, alte Pfarrhäuser und kirchliche Einrichtungen saniert und ca. 630 Plätze und Straßenensembles von geschichtlichem, künstlerischem und städtebaulichem besonderem Rang instand gesetzt. Die historische Baukultur im Gebiet der ehemaligen DDR wurde nach 1990 gewissermaßen in letzter Minute gerettet, sie wäre ohne die Wiedervereinigung heute in Mitteldeutschland nicht mehr existent. Zu einer besonderen Herausforderung wurde für die Kulturpolitik der Bundesregierung die Hauptstadt Berlin. Dabei war eine Prämisse von vornherein klar: es ging nicht um eine zentrale Kulturhauptstadt Berlin. Eine zentrale Kulturhauptstadt hätte nicht den Vorstellungen der Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl vom Föderalismus mit mehreren gewachsenen Kulturzentren und – man denke an das Beispiel München – Kulturhauptstädten entsprochen. Die Regierung hat nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit nachhaltig die Entwicklung solcher Kulturstädte gefördert. Die Kultureinrichtungen der Bundesstadt Bonn wurden z. B. auch nach der Hauptstadtentscheidung für Berlin mit erheblichen Mitteln des Bundes weiter finanziert, und die Bundesregierung war dazu bereit, nach dem Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin die Förderung von Kultureinrichtungen in Bonn mit der Stadt und dem Land Nordrhein-Westfalen auf eine vertragliche Grundlage zu stellen. Der Bundeskanzler hat, um ein zweites Beispiel zu nennen, dem Wiederaufbau von Dresden einschließlich seiner glanzvollen kulturellen Ausstrahlung immer wieder Unterstützung gegeben und er hat – und das sei als drittes Beispiel genannt – in den europäischen Gremien mit starkem persönlichen Einsatz durchgesetzt, dass Weimar für 1999 zur Kulturhauptstadt Europas erklärt wurde. Es ist ärgerlich, dass die Nachfolgeregierung die damit verbundene Chance, diese traditionsreiche und historisch gewachsene Kulturstadt und Kulturlandschaft im Herzen Mitteldeutschlands sowie den eindrucksvollen kulturellen Wiederaufbau in den neuen Ländern in den zehn Jahren nach der Wiedervereinigung überall in Europa zu vermitteln und darzustellen, alles andere als ausreichend wahrgenommen hat.
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In Berlin ging es also nicht um die Errichtung der deutschen Kulturhauptstadt, sondern es ging darum, dass Berlin als Hauptstadt eine für die Kultur des wiedervereinigten Deutschland repräsentative Ausstrahlung weit über die Grenzen unseres Landes entwickeln und dabei zu einer der großen europäischen Kulturmetropolen werden sollte, nach der Osterweiterung der EU gewissermaßen ein kultureller Kristallisationsort von europäischem Rang für die Kulturentwicklung in Mittel und Osteuropa. Viele hatten es ja in den Jahren der europäischen Teilung vergessen, dass die Grenze zu Polen nur 80 km von Berlin entfernt liegt, dass Krakau keine osteuropäische, sondern eine mitteleuropäische Kulturstadt ist, dass Bonn als das politische Zentrum der alten Bundesrepublik geographisch weiter von Berlin entfernt liegt, als die große mitteleuropäische Kulturstadt Prag. Eine Aufgabe von dieser Dimension konnte und kann Berlin nicht alleine erfüllen. Sie ist eine kulturpolitische Aufgabe des Bundes, die ebenfalls in Art. 35 des Einigungsvertrages festgehalten wurde. Die Bundesregierung hätte sich damals gerne auch ein breites Engagement der gesamten föderativen Bundesrepublik, also auch der Länder, für diese große kulturelle Aufgabe der deutschen Hauptstadt gewünscht. Das ließ sich leider nicht realisieren. Die Bundesregierung hat alleine aus der „Übergangsfinanzierung Kultur“ von 1991–1993 mehr als eine halbe Milliarde DM für Ost-Berlin, u. a. in einem Sonderprogramm für die repräsentativen Kultureinrichtungen in der Berliner Mitte bereitgestellt. Dazu kamen unter der Rubrik „gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes“ Bundesmittel in Höhe von ca. 400 Mio. DM jährlich nach Berlin, größtenteils für Einrichtungen der Stiftung preußischer Kulturbesitz. Zählt man die massiven Bundeshilfen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im kulturellen Bereich hinzu, so ist zu keiner Zeit so viel Geld des Bundes in die Kultur Berlins geflossen wie in diesen Jahren. In Berlin entwickelte und entwickelt sich in den Jahren nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit und der Einheit Berlins ein reiches, vielfältiges, buntes, jeden Vergleich mit dem Niveau anderer Kulturmetropolen in Europa und in der Welt standhaltendes spannendes, attraktives und modernes Kulturleben, in dem Tradition und Avantgarde, Klassisches, Modernes und Experimentelles Platz haben und lebendig sind. Nach der Übergangszeit 1991–1993 hat die Bundesregierung mit Berlin einen Hauptstadtvertrag mit zwei kulturpolitischen Schwerpunkten geschlossen: Einmal wurde ein Kulturfonds eingerichtet, aus dem jährlich immer wieder neue, für die Kultur in Deutschland markante Kulturereignisse nach Berlin geholt werden, vor allem auch innovative Kulturinitiativen oder Veranstaltungen in Berlin gefördert oder experimentierende und neuartige Kulturevents in Berlin finanziert werden sollen. Um jeden Gedanken an Staatskunst auszuschließen, wurde dieser Fonds autonom verwaltet. In der Startphase wurde dieser Fonds zunächst mit 5 Mio. DM ausgestattet, aber nach den Vorstellungen des Bundeskanzlers sollte er nach einem gelun-
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genen Start nach dem Umzug von Parlament und Regierung in einen neuen, im Jahr 2000 abzuschließenden Hauptstadtvertrag auf mindestens 20 Mio. DM jährlich aufgestockt werden. Zum zweiten beteiligte sich der Bund an der Finanzierung einzelner für die kulturelle Ausstrahlung Berlins und für die Kultur in Deutschland repräsentativer Einrichtungen wie der Staatsoper unter den Linden, dem Deutschen Theater, der Deutschen Oper, dem Schauspielhaus, zweier Berliner Orchester, um ihnen ein im europäischen und Weltmaßstab absolutes Spitzenniveau zu sichern. Dieses Konzept hätte nach den Vorstellungen der Bundesregierung in einem neuen Hauptstadtvertrag nach 2000 allerdings nicht ohne eine grundlegende Veränderung in der Struktur der Bundesbeteiligung fortgesetzt werden können. Ein ausgesprochenes Ärgernis war nämlich, dass das Land Berlin diese für die genannten Einrichtungen aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellten Mittel in seinem Landeshaushalt den Einrichtungen in gleicher Höhe kürzte, so dass sie gar keine zusätzlichen Finanzmittel erhielten. Das war inakzeptabel. Denn auf diese Weise kamen die Mittel des Bundes nicht der Kultur in Berlin zu Gute, sondern sie wurden in Wahrheit vom Berliner Senat zur Defizitabdeckung im Berliner Landeshaushalt verwendet. Im Bundeskanzleramt wurde deshalb die Überlegung entwickelt, dass in dem neuen Vertrag der Bund und das Land Berlin eine gemeinsame Institution als Träger dieser Orchester und Theater gründen sollte, die vom Bund, von Berlin und möglichst auch noch von Dritten finanziert werden sollte. Die nach der Auflösung von Deutschlandradio, RIAS und dem DDR-Rundfunk für deren Chöre und Orchester gegründete GmbH hätte als Modell dienen können. Berlin hätte dann in seiner Verantwortung für die anderen städtischen Kultureinrichtungen und Kulturaufgaben noch eine eigenständige Berliner Kulturpolitik entwickeln können, was ganz im Interesse von Vielfalt, Buntheit und Pluralität gewesen wäre. Die nachfolgende Bundesregierung hat einen anderen Weg eingeschlagen und einige wenige Kultureinrichtungen in Berlin in die ausschließliche Regie des Bundes genommen. Viele hielten das von Anfang an für einen Fehler. Nicht vergessen werden dürfen schließlich bei der Darstellung der Hauptstadtkultur nach der Wiedervereinigung die Beiträge des Bundes zur Architektur beim Aufbau der Bundeshauptstadt. Das Konzept für den künftigen Sitz der Verfassungsorgane im Spreebogen einschließlich der Bestimmung des Reichstagsgebäudes als Sitz des Bundestags war ein Konzept des Bundeskanzlers, für das er zuerst den Regierenden Bürgermeister und dann das Präsidium und den Ältestenrat des Bundestags gewann. Es war die Grundlage für einen städtebaulichen Wettbewerb, in dem sich das Planungskonzept der Berliner Architekten Schultes und Frank durchsetzte, die später auch die Architekten des neuen Kanzleramtes wurden.
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Ein sehr persönliches Engagement des Bundeskanzlers war sein Eintreten für die Ausgestaltung der Neuen Wache als zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland zum Gedenken an die Toten von Krieg und Gewaltherrschaft. Der Vorschlag von Bundeskanzler Helmut Kohl, eine Skulptur von Käthe Kollwitz, die eine trauernde Mutter ihren toten Sohn in den Armen haltend darstellt, zu vergrößern und in die Mitte der Neuen Wache zu stellen, löste in den Feuilletons einen Sturm der Entrüstung und in Teilen der sogenannten „Kulturszene“ vehemente Widerstände und Ablehnung aus. Der Bundeskanzler setzte seinen Vorschlag gegen alle Widerstände durch. Inzwischen ist die Neue Wache einer der am häufigsten aufgesuchten Orte in Berlin, immer wieder legen Menschen dort Blumen und Kränze nieder. Seither ist die Kritik verstummt. Auch das Mahnmal zum Gedenken an die ermordeten Juden Europas verdankt Bundeskanzler Helmut Kohl seinen konzeptionellen Durchbruch. Jahrelang war über diverse Entwürfe für dieses Mahnmal ergebnislos diskutiert und gestritten worden, die Diskussion drohte zu kollabieren, und nicht wenige empfahlen dem Bundeskanzler, die Entscheidung zu verschieben. Für Bundeskanzler Helmut Kohl wäre eine solche Verschiebung der Entscheidung auf künftige Generationen eine Flucht seiner Generation vor der Verantwortung und der Erinnerung an die Opfer des einzigartigen Menschenrechtsverbrechens an den Juden Europas gewesen. Sie hätte auch dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland geschadet, und so sprach sich Helmut Kohl nach mehreren sehr intensiven und umfassenden Gesprächen mit Peter Eisenman für dessen Entwurf aus, auf den sich in der Folgezeit alle Beteiligten im Grundsatz einigen konnten. Nachdem der Bundeskanzler in den Jahren vor der Wiederherstellung der deutschen Einheit den Plan zur Errichtung einer Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn, über die jahrelang diskutiert wurde, zum Regierungsprogramm erklärt hatte, was ihre umgehende Realisierung zur Folge hatte, und nachdem auf seine Initiative hin ebenfalls vor 1990 mit dem Bau und der Errichtung eines Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn begonnen wurde, war ihm nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit ein drittes Projekt besonders wichtig: die Errichtung eines Deutschen Historischen Museums in Berlin. Natürlich haben die Länder bei allen drei Vorhaben die Frage aufgeworfen, ob für sie überhaupt eine Kompetenz des Bundes gegeben ist. In langwierigen Gesprächen vor allem mit den Ministerpräsidenten der Länder gelang es, diese von der Notwendigkeit dieser kulturpolitischen Initiativen zu überzeugen, wobei von ganz entscheidender Bedeutung die Entwicklung von Trägermodellen war, die den Ländern vielfältige, vor allem inhaltliche Mitwirkungsrechte einräumten, ohne dass sie dafür aber finanziell in Anspruch genommen wurden.
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Mit großer Entschiedenheit ist der Bundeskanzler der anfänglichen Kritik entgegengetreten, mit diesen Museen eine Art regierungsamtliche Geschichtsschreibung initiieren zu wollen. Diese Kritik ist schnell verstummt, nachdem es den Museen mehr und mehr gelang, durch ihre vorbildlichen, teilweise mit internationalen Preisen gewürdigten museumspädagogischen Konzepte, durch äußerst erfolgreiche zeithistorische Arbeiten und durch Ausstellungen, welche immer neue Besucherrekorde und Besucherströme anzogen, breite internationale Anerkennung zu finden. Das Deutsche Historische Museum in Berlin bezog das Zeughaus unter den Linden, welches sich aber bald als zu klein erwies. Es ist der Überzeugungskraft von Bundeskanzler Helmut Kohl zu verdanken, dass der deutsch-amerikanische Architekt I. M. Pei für die Gestaltung eines Erweiterungsbaus und damit überhaupt für ein bedeutendes architektonisches Werk in Berlin gewonnen werden konnte, wobei es auch einer eigenen Kraftanstrengung des Bundeskanzlers und seines Bundesbauministers bedurfte, dass dies nicht am Ende an bestehenden Vorgabeordnungen und Richtlinien scheiterte. Bei diesem persönlichen Engagement ging es dem Bundeskanzler nicht darum, einem leblosen Historismus das Wort zu reden. Es ging ihm um die Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln unseres Landes, auf das Gewinnen der für die innere Einheit so wichtigen einigenden Kraft des kulturellen Erbes, es ging ihm um die Förderung von Geschichtsbewusstsein und von Geschichtswissen, das dem Bundeskanzler auch und gerade nach der Wiedervereinigung ein zentrales Anliegen in der Kulturpolitik war, was in zahlreichen einzelnen Initiativen und Projekten konkret wurde. Die beiden genannten Mahnmale in Berlin sollten die Erinnerung daran wach halten, dass unser Volk im Angesicht der Unmenschlichkeit und systematischen Menschenvernichtung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Pflicht steht, bedingungslos für die Unverletzbarkeit der personalen Würde des einzelnen einzutreten und sich stetig dessen bewusst zu sein, dass dies der Kern aller geistigen, philosophischen und religiösen Traditionen unserer abendländischen Kultur ist. Die Bewahrung des kulturellen Erbes als ein Erbe, das Menschlichkeit stiftet. Und deshalb lehnte der Bundeskanzler auch eine Gestaltung dieser Mahnmale von der Art ab, dass von ihnen letztlich nur ein Zeichen der Leere oder der Hoffnungslosigkeit ausgegangen wäre. Sie sollten auch eine Botschaft der Hoffnung sein auf die unzerstörbare Humanität, wie dies insbesondere in der Diskussion um die Gestaltung der Neuen Wache eindrucksvoll zum Ausdruck kam. Die Bewahrung des kulturellen Erbes der Deutschen sollte aber auch ganz zentral die demokratischen und freiheitlichen Traditionen in der deutschen Geschichte und Kultur umfassen, welche die Wirklichkeit des heutigen Deutschland und vor allem seine Zukunft bestimmen.
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Als Teil des kulturellen Erbes, das es zu bewahren galt, betrachtete die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl insbesondere auch das kulturelle Erbe und die geistige Substanz der deutschen Kulturlandschaft im Osten. Angesichts ihrer Bedeutung für die deutsche und europäische Kultur insgesamt sah die Regierung in der Pflege und in der lebendigen Fortentwicklung der kulturellen Leistungen, welche Deutsche in Jahrhunderten im Osten Europas erbracht haben, eine verpflichtende kulturpolitische Aufgabe der gesamten deutschen Kulturnation. Nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit stellten sich auch hier für die Kulturpolitik des Bundes und der Länder neue Aufgaben, die der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 31. Januar 1991 wie folgt beschrieb: „Die Öffnung unserer östlichen Nachbarländer für Europa und ihr Bekenntnis zur gesamteuropäischen Kultur schaffen eine neue, vielversprechende Grundlage für ein wesentliches Anliegen. Dort haben Deutsche in vielen Jahrhunderten ein unverlierbares Kulturerbe und geschichtliches Erbe aufgebaut. Dies wollen wir gemeinsam mit unseren Nachbarn erforschen, pflegen und erhalten. Wir wollen dabei den Reichtum unserer Kultur in einen schöpferischen Dialog mit unseren europäischen Nachbarn im Osten einbringen.“ Diese neuen Chancen wurden genutzt. Beispielsweise sind in Oppeln, Hermannstadt, Königsberg und St. Petersburg in einer harmonischen Kooperation mit den dortigen Regierungsstellen und Kommunalverwaltungen deutsche Kulturzentren entstanden. In diese Anstrengungen einbezogen wurden auch die neuen Bundesländer, wo die Tabuisierung des Vertreibungs- und Umsiedlungsthemas in der ehemaligen DDR bis heute nachwirkt und Anstrengungen zu ihrer Überwindung in Gang gesetzt wurden: Die Einrichtung eines zentralen schlesischen Museums in Görlitz, das „Kulturforum östliches Europa“ in Potsdam und die Errichtung von Stiftungsprofessuren für die Geschichte Mitteleuropas sind hierfür einige Beispiele. Nicht nur mit neuen Akzenten versehen, sondern in großen Teilen inhaltlich und in den Prioritäten neu konzipiert werden musste nach 1990 die auswärtige Kulturpolitik. Das Bild von Deutschland im Ausland wurde am Beginn der neunziger Jahre weithin bestimmt durch das gewachsene politische Gewicht des wiedervereinigten Deutschlands und seines Bundeskanzlers, und es wurde bestimmt von der technologischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Potenz des Landes. Für die Bundesregierung, den Bundeskanzler und die Außenminister HansDietrich Genscher und Klaus Kinkel nicht minder gewichtig war allerdings, dass sich mit Deutschland im Ausland das Bild einer demokratischen Kulturnation verbindet und dass sich unsere Nachbarn, Freunde und Partner darauf verlassen können: Deutschland ist offen für Dialog und Zusammenarbeit, die Deutschen treten ein für ihre demokratischen, rechtsstaatlichen und von Hu-
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manität geprägten, den Menschenrechten verpflichteten Wertvorstellungen, und es wirbt für sie, aber Deutschland ist auch bereit, von anderen zu lernen, sich auszutauschen und sich gegenseitig zu verstehen. Die auswärtige Kulturpolitik sollte ein Deutschlandbild vermitteln, das der Wirklichkeit gerecht wird, geprägt von geistiger Offenheit, von unterschiedlichen und oft auch kontroversen geistigen Strömungen, geprägt auch von einer breiten, vielfältigen kulturellen Entwicklung im Innern. Deshalb war die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl auch immer davon überzeugt, dass es falsch sei, ja für die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der auswärtigen Kulturpolitik geradezu schädlich wäre, wenn sie der Versuchung nachgeben würde, propagandistische Elemente in die Kulturarbeit im Ausland einzubringen. Dies alles stand auch in der Kontinuität der Ziele der auswärtigen Kulturpolitik aus der Zeit vor der Wiederherstellung der deutschen Einheit. Hinzugekommen war inzwischen in der in Gang gekommenen Globalisierung und dem sich damit verschärfenden Wettbewerb auf den Weltmärkten die Erkenntnis, dass die kulturelle Ausstrahlung und Präsenz mehr denn je zu entscheidenden Faktoren auch für den wirtschaftlichen Erfolg, ja auch für eine außenpolitisch erfolgreiche Regierungsarbeit geworden sind. Aus diesem Grund hat beispielsweise die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl die Weltausstellung „Expo 2000“ in Hannover als ein Weltereignis gesehen, welches dem wiedervereinigten Deutschland als gastgebendem Land eine große, einmalige Chance gibt, für diese Ausstellung einen kulturellen Teil zu konzipieren, der für die Besucher aus der ganzen Welt genauso wie für die Besucher aus Deutschland nicht nur das reiche und vielfältige kulturelle Erbe Deutschlands, sondern auch und vor allem die auf die Zukunft hin orientierte kulturelle und künstlerische Kreativität unseres Landes in ganzer Breite darstellen sollte. Die Weltöffentlichkeit sollte Deutschland als ein Land erleben, in welchem Kunst und Kultur Kennzeichen für eine freie, plurale, auch sozial denkende und sozial engagierte Gesellschaft, sowie für einen demokratischen und föderativen Staat sind. Dabei sollte auch die Darstellung der kulturellen Aufbauleistungen in den neuen Ländern während der zehn Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit ihren Platz erhalten. Auswärtige Kulturpolitik war also in der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl alles andere als eine Arabeske der Außenpolitik. Die Bundesregierung von Bundeskanzler Helmut Kohl sah in der auswärtigen Kulturpolitik einen ganz entscheidenden Pfeiler der Außenpolitik insgesamt, zu deren Fundament Vertrauenswürdigkeit, Berechenbarkeit, die Fähigkeit zum Dialog und zur Partnerschaft gehörten. Das alles bestimmte die auswärtige Kulturpolitik auch in den Jahren vor der Wiederherstellung der deutschen Einheit. Eine entscheidende Veränderung lag aber im Umbruch des Jahres 1990. Die Zeit davor war davon gekennzeich-
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net, dass die kommunistischen Staatsführungen im östlichen Teil Europas ihre Länder von einer Politik des Dialogs und des kulturellen Austausches mit dem Westen weitestgehend abschotteten. Sie fürchteten die freie Entfaltung von Kultur und Wissenschaft. Kulturaustausch mit dem Westen war für sie eine latente Quelle ideologischer Diversion und wurde deshalb nur in engen Grenzen zugelassen, streng überwacht und strikt kontrolliert. Alle Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise mit der DDR zu einem Kulturabkommen zu kommen, wurden von den Machthabern in der DDR über Jahre hinweg entschieden abgelehnt. Und dem Goethe-Institut wurde es, um ein anderes Beispiel zu nennen, in keinem Staat des Warschauer Paktes erlaubt, ein Kulturinstitut zu errichten. Insgesamt war es schwer möglich, geistige Brücken über den eisernen Vorhang zu schlagen und aufrecht zu erhalten oder kulturelle Bindungen und Verbindungen zu den Menschen im östlichen Teil Europas dauerhaft zu pflegen. Nach 1990 war der Weg wieder frei für eine breit angelegte auswärtige Kulturpolitik auch in Mittel und Osteuropa. Die Erwartungen dort waren groß, ganz besonders die Erwartungen an Deutschland. Sie lagen jenseits aller Finanzierungsmöglichkeiten des Landes. Dies machte neue Prioritäten unausweichlich. Beispielsweise konnte das Goethe-Institut ca. 20 neue Institute in Ländern einrichten, die ihm bis 1990 verschlossen waren. Aber das ging nur, wenn anderswo Institute geschlossen wurden, und jede einzelne Schließung machte Ärger. Riesig war von allem die Nachfrage nach Sprachkursen in der deutschen Sprache. Die Bundesregierung sah in der Zeit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl in der Vermittlung und Pflege der deutschen Sprache im Ausland eine Kernaufgabe von erster Priorität in der Auswärtigen Kulturpolitik. Denn die Sprache ist letztlich der Schlüssel zum Verstehen der jeweiligen Kultur. Mehr als eine halbe Milliarde DM jährlich ging in den neunziger Jahren in die Förderung der deutschen Sprache im Ausland. Die Auslandsschulen, die in erster Linie der schulischen Versorgung von Kindern aus vorübergehend im Ausland lebenden deutschen Familien dienten, die sog. Expertenschulen, wurden vergleichbar den sog. Begegnungsschulen mehr und mehr auch für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache geöffnet. Sie wurden dadurch wie die bikulturellen Begegnungsschulen mehr und mehr Kristallisationsorte für eine kulturelle Brückenfunktion zum Gastland. Zur Förderung der deutschen Sprache in Osteuropa beschloss die Bundesregierung 1995 ein Sonderprogramm, das mit 50 Mio. DM jährlich ausgestattet und 1997 verlängert wurde. Mitte der neunziger Jahre waren fast 550 Lehrerinnen und Lehrer nach Mittel- und Osteuropa entsandt worden. Fast 180 000 Teilnehmer waren Mitte der neunziger Jahre weltweit allein in den Deutschkursen des Goethe-Instituts eingeschrieben.
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Und dennoch, es wäre mehr möglich gewesen. Insbesondere wäre es im deutschen Interesse gewesen, ca. 900 weitere Lehrkräfte vor allem nach Mittelund Osteuropa zu entsenden. Der Bundeskanzler hat in dieser Zeit zweimal versucht, die Ministerpräsidenten der Länder für eine Ausweitung dieser Entsendeprogramme zu gewinnen. Bei einzelnen Ländern ist das gelungen, bei den Ländern insgesamt aber ohne Erfolg geblieben. Zu einem vollkommen neuen Feld in der Regierungszeit von Helmut Kohl wurden im Zuge der fortschreitenden politischen Union Europas die Kulturförderungsmaßnahmen der Europäischen Union. Im Vertrag von Maastricht wurde erstmals eine Grundlage für kulturelle Aufgaben der Europäischen Union geschaffen, die auf einen deutschen Formulierungsvorschlag zurückgeht. Dabei achtete die Bundesregierung sorgsam darauf, dass die Verantwortung für die Kulturpolitik bei den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verblieb. Aber die Europäische Union sollte subsidiär und komplementär einen Beitrag zur Entfaltung der Kultur unter Wahrung der nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes leisten können (Art. 128 des Vertrages von Maastricht). Als Ziele dieser Kulturförderung durch die Europäische Union betrachtete die Bundesregierung insbesondere die Förderung europäisch geprägter kultureller Initiativen, der kulturellen Zusammenarbeit, des Kulturaustausches und der Kooperation von Künstlern und Kulturinstitutionen. Noch in der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl sind auf der Grundlage des Vertrages von Maastricht einige bemerkenswerte Vorschläge der Europäischen Kommission entwickelt worden. Als Beispiele genannt seien das Programm KALEIDOSKOP mit dem Ziel, europäisch ausgerichtete kulturelle und künstlerische Initiativen zu fördern, das Programm RAPHAEL zum Schutz des europäischen Kulturerbes und das Programm ARIANE, durch welches das Buch und das Lesen durch Unterstützungsmaßnahmen im Bereich der Übersetzung gefördert werden sollten. Das alles war aber nur ein erstes vorsichtiges Beginnen auf dem neuen Feld der Kulturförderung durch die Europäische Union. Helmut Kohl ging es um mehr. Er wusste um die Verschiedenheit der Völker Europas, aber er sah gerade in dieser großen Verschiedenartigkeit in Kunst und Kultur eine – wie er es einmal formulierte – „phantastische Chance. Denn aus dem Spannungsverhältnis zwischen Einheit und lebendiger Vielfalt können wir ein friedliches, freies und kulturell reiches Europa schaffen.“ Für Helmut Kohl und seine Politik war die europäische Einigung bei aller Bedeutung ökonomischer Fragen mehr als die Summe ökonomischer und politischer Erfordernisse. „Es geht vor allem auch“ – so formulierte er am 10. Juni 1996 bei der Eröffnung einer Ausstellung des Europarates „Kunst und Macht im Europa der Diktaturen 1930 bis 1945“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin – „um die Vergegenwärtigung unseres gemeinsamen euro-
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päischen Kulturerbes. Ich meine damit nicht nur die einzigartigen Kulturdenkmäler, sondern unser gemeinsames geistig kulturelles Erbe, die Philosophie der Antike, die Ideen des Humanismus und der Aufklärung und nicht zuletzt die Kraft des Christentums. Dieses Erbe ist wie ein einigendes Band, das uns Europäer miteinander verbindet, über alle Länder, Sprachgrenzen und kulturelle Verschiedenheiten hinweg; es bestimmt unsere europäische Identität.“ Die auswärtige Kulturpolitik hat also in der Regierungszeit von Helmut Kohl eine politische Priorität und Dynamik erhalten wie – von den ersten Jahren der Regierungszeit von Willy Brandt abgesehen – bei keiner Regierung vorher. Dies wurde vor allem auch deshalb möglich, weil der Bundeskanzler genauso wie seine beiden Außenminister weit über das normale Maß hinaus die Kulturpolitik zu ihrem persönlichen Anliegen gemacht haben und weil die beiden Bundesfinanzminister in der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl, die Bundesminister Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel, bereit waren, aus eigenem Engagement diese hohe Priorität zu unterstützen. Das kommt u. a. auch in folgenden Zahlen zum Ausdruck: Die Ausgaben des Auswärtigen Amtes für die auswärtige Kulturpolitik betrugen 1982 am Beginn der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl ca. 700 Mio. DM. Sie sind bis Mitte der neunziger Jahre auf 1,2 Mrd. DM, also um fast 70 % gestiegen. Rechnet man die Ausgaben anderer Ressorts hinzu, so betrugen die Gesamtausgaben der Bundesregierung für Kulturarbeit im Ausland Mitte der neunziger Jahre mehr als 3,5 Mrd. DM. Diese Zahlen belegen die hohe Priorität der auswärtigen Kulturpolitik in der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl eindrucksvoll und sprechen für sich. Dass bei solchen weit überdurchschnittlichen und zuvor auch nicht ansatzweise erreichten finanziellen Kraftakten die Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen zur Förderung von Kunst und Kultur in anderen Bereichen bescheidener bleiben mussten, kann niemanden verwundern. So wurden im Steuerrecht zwar durch das Stiftungsförderungsgesetz von 1990 und durch die Änderung des sogenannten Sponsoringerlasses 1998 auch nach 1990 einige Verbesserungen erreicht. Dennoch, es war nicht ausreichend, um dem privaten Mäzenatentum nachhaltige neue Impulse zu geben und dem Ziel näher zu kommen, einen größeren Anteil der Kulturfinanzierung in Deutschland über privates Sponsoring aufzubringen. Das ist um so bedauerlicher, weil es auch zu den kulturpolitischen Erfolgen in der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl gehört, dass es durchaus gelungen ist, die ideologische Diffamierung dieser privaten Kulturfinanzierung weitestgehend zu überwinden. Aber eine grundlegende Neugestaltung des Stiftungssteuerrechtes wurde auf die angekündigte große Steuerreform verschoben und kam deshalb bis 1998 ebenso wenig zustande wie eine Reform des Stiftungsrechts.
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So konnten im Bundestagswahlkampf 1998 SPD und Grüne gerade hier große Erwartungen in der Kulturszene wecken. Ob und inwieweit sich diese Erwartungen erfüllten, mag dahingestellt bleiben. Anders war es allerdings bei der sozialen Absicherung der Künstler und Angehörigen von künstlerischen Berufen. Das Künstlersozialversicherungsgesetz ist in der Regierungszeit von Helmut Kohl zu einem allgemein anerkannten und nicht mehr wegzudenkenden Teil des Sozialversicherungssystems ausgebaut worden. Es wurde kontinuierlich verbessert und konsolidiert, und es hat mit im Durchschnitt niedrigeren Beitragssätzen als in der allgemeinen Sozialversicherung der Besonderheit künstlerischen Schaffens durchaus in angemessener Weise Rechnung getragen. Die Künstler waren auch von Anfang an in die Pflegeversicherung einbezogen. Das alles war für die Künstler überaus segensreich und beruhte auf einem von der Regierung sorgsam gepflegten Grundkonsens aller Parteien in diesem Feld. Es kam deshalb für alle völlig unerwartet, dass die Nachfolgeregierung 1999 diesen seit der Kanzlerschaft von Willy Brandt bestehenden Grundkonsens verließ und mit einer erheblichen Kürzung des Bundeszuschusses zur Künstlersozialkasse ein fatales Zeichen für die Zukunft der sozialen Absicherung von Künstlern setzte. Der Sozialabbau in der Regierungszeit nach dem Regierungswechsel von 1998 begann bei der Künstlersozialversicherung. Insgesamt sind die innerstaatlichen Kulturausgaben des Bundes in der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl zwischen 1983 und 1997 von ca. 340 Mio. auf 1,27 Mrd. DM im Jahr gestiegen. Das ist über 15 Jahre hinweg eine kontinuierliche durchschnittliche Steigerungsrate von 9,7 % jährlich und mehr als 350 % auf die gesamte Regierungszeit gerechnet, wobei die Übergangsfinanzierung Kultur zwischen 1991 und 1993 nicht einbezogen ist. Und im Gegensatz zu den meisten Bundesländern haben diese Etatansätze im Bundeshaushalt auch nach 1997 keine Schmälerung erfahren. Es verdient also festgehalten zu werden: Alle Vorhaltungen, der Bund habe in der Ära Kohl seine finanzielle Verantwortung für die Kultur nicht oder nur unzureichend wahrgenommen und die Bundesregierung habe vorrangig im Kulturbereich eingespart, sind haltlos und falsch. Das Gegenteil ist richtig. Die Fakten belegen, dass die Kulturpolitik zu keiner Zeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in der Kulturförderung des Bundes und beim Bundeskanzler persönlich eine vergleichbar hohe Priorität besessen hat, wie in der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl. Dies ist vor allem deshalb möglich geworden, weil Kulturpolitik für Helmut Kohl nie nur Rhetorik für Sonntagsreden oder schmückendes Beiwerk gewesen ist. Die Kulturstaatlichkeit Deutschlands war für ihn eine fundamentale Gestaltungsaufgabe seiner Politik, für die er sich persönlich engagiert hat und der immer sein besonderes Augenmerk galt. Er hat mit dieser Politik kulturpolitische Marksteine gesetzt, die Deutschland verändert haben.
Kulturpolitische Schwerpunkte in den 1980er Jahren Von Oscar Schneider I. Die Ära Kohl brachte dem deutschen Volk die staatliche Einheit und die Überwindung der europäischen Teilung. Sie war auch kulturpolitisch außerordentlich fortschrittlich, durchaus modern, wagnisbereit, auf Entwicklung und Dauer angelegt. An ihren historischen Folgen erst kann ermessen werden, was sich zwischen 1982 und 1998 in Deutschland und Europa ereignet hat. Man greift nicht zu hoch, wenn man an Friedrich Nietzsche erinnert, der die Deutschen zu lehren versuchte: „Jeder große Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Waage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln – hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt. Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!“ (Die fröhliche Wissenschaft). Alle kulturpolitischen Entscheidungen Helmut Kohls stehen in einem erkennbaren Zusammenhang zur Deutschen Einheit, zur erhofften und zur realisierten. Diese Entscheidungen fielen alle im ersten Jahr seiner Kanzlerschaft: in seinen Regierungserklärungen der Jahre 1982 und 1983 hat er sie verkündet. Zu dieser Zeit stand der Zeiger auf der Weltuhr noch auf Trennung und Teilung. Bundeskanzler Helmut Kohl hat über sein Eintreten für die Deutsche Einheit und Berlin als deutsche Hauptstadt die Bedeutung Bonns nicht unterschätzt. Er wollte Bonn mit allen notwendigen Regierungsinfrastrukturen ausstatten. Diesem Ziele diente auch der fast totale Neubau des Hotels auf dem Petersberg zur hochoffiziellen Staatsherberge. Die Regierung Helmut Schmidt hatte das Grundstück gekauft, es aber nicht ausbauen lassen. Wenn sich die Grünen in dieser Sache durchgesetzt hätten, wäre aus diesem für die europäische Geschichte so bedeutsamen Ort ein Waldbiotop auf historischem Grund geworden. In Zusammenarbeit mit der Stadt Bonn wurden im Bundesbauministerium bis 1989 Pläne zur städtebaulichen Gestaltung des Regierungsviertels entwickelt. Auch die Anbindung der Bundeshauptstadt an das internationale Autobahnnetz sollte verbessert und erweitert werden. Im Bauministerium wurde ein Referat für Baukultur eingerichtet. Kultur hatte einen primären Stellenwert. Der Bundeskanzler sah alle politischen Verhältnisse und Tatsachen in ihren geschichtlichen Perspektiven, weshalb er denn auch in den meisten seiner Reden den historischen Bezug eines Vorgangs ins Bewusstsein seiner Zuhörer rückte. Wer tiefer sieht und darum bemüht ist, Kohls historisches Denken zu
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erfassen, wird erkennen, dass für ihn alle in der Geschichte wirksamen Kräfte und Interessen durch die jeweils handelnden Personen verkörpert sind. II. Die Demokratie gilt allgemein als schlechte Sachwalterin in kulturellen Angelegenheiten des Volkes: „Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.“ Zwischen der politischen Entscheidung, dass ein Museum, ein Parlamentsgebäude, ein Kanzleramt gebaut werden soll und dessen Fertigstellung können mehr als zehn Jahre liegen. Die Wahlperioden des Bundestages dauern nur vier Jahre. Eine langjährige Regierungszeit ist also politische Voraussetzung für ein erfolgreiches demokratisches Bauwesen. Das wusste auch Helmut Kohl. Deshalb kündigte er schon in seiner ersten Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 an, dass in Bonn ein Haus der Geschichte entstehen solle. Diese Ankündigung und alle folgenden für die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland und das Deutsche Historische Museum in Berlin beweisen, dass Helmut Kohl sich über die wesentlichen Ziele und Inhalte seiner künftigen Regierungspolitik im klaren war, als er zum Bundeskanzler gewählt wurde. Über die Bundeskunsthalle wurde seit 1949 gesprochen, aber nichts entschieden; über das Deutsche Historische Museum in Berlin hatte es unverbindliche Überlegungen und folgenlose politische Absichten gegeben. Im Jahre 1982 fehlte jeder Ansatz einer inhaltlichen Konzeption und eines zeitlichen Planes zur Realisierung: Das Haus der Geschichte, das nur in Bonn entstehen konnte, hielt Kohl für die dringlichste Aufgabe. Hier sollte dokumentiert werden, auf welchen Fundamenten die Bundesrepublik Deutschland, der freie Teil der deutschen Nation, nach 1949 aufgebaut wurde. Helmut Kohl ist der erste Bundeskanzler, der die Kulturstaatlichkeit des Bundes politisch thematisierte. Eine 16-jährige Amtszeit schuf den zeitlichen Rahmen dafür, dass er als der bedeutendste Bauherr des Bundes in die Geschichte eingeht. Der Staatsmann Helmut Kohl pflegte, wie Jakob Burckhardt es für notwendig hielt, „ein bewusstes Verhältnis“ zum Geistigen, zur Kultur seiner Zeit. So sehr alle seine Entscheidungen politisch gewollt und kulturell angelegt waren, so sehr legte der Kanzler allergrößten Wert darauf, dass jede ideologische Verfremdung und jede parteipolitische Verengung vermieden wurde. Die Historiker, die Wissenschaftler hatten das erste Wort, sie wurden gebeten, eine Grundkonzeption zu erarbeiten. Die wissenschaftliche Fachwelt konnte jeden Schritt verfolgen, die politische Öffentlichkeit wurde umfänglich unterrichtet, alle gesellschaftlichen Kreise wurden in die Planung und weitere Führung des Hauses mit einbezogen. Selbstverständlich war das Haus der Geschichte eine Institution der Bundesregierung! Der Bund bezahlte alles; im Kuratorium, das über alle Grundfragen und die konzeptionelle Ausrichtung des Museums zu
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entscheiden hatte und hat, sitzen Vertreter der Bundesregierung, des Bundesrates und des Bundestages. Helmut Kohl sah in den von ihm angestoßenen Institutionen in Bonn und Berlin notwendige und unverzichtbare Infrastrukturen des Kulturstaates Deutschland. Der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz brauchte über unsere föderale Verfassungsstruktur nicht belehrt zu werden. Der Bund hat das Recht, ist sogar dazu verpflichtet, in seiner Hauptstadt und überall dort, wo er für die gesamte deutsche Nation repräsentativ in Erscheinung tritt, äußere Formen der Repräsentation, ein staatliches Erscheinungsbild sicherzustellen, die aus dem demokratischen Geist unserer Verfassung und aus der Notwendigkeit des internationalen Staatenverkehrs sich herleiten. Das deutsche Volk hatte im 20. Jahrhundert mehrere Staatsformen zu erdulden und diese überlebt: Das deutsche Volk ist aber nicht untergegangen; nicht untergegangen ist die deutsche Geschichte, die deutsche Kultur und das Recht der Deutschen, sich in Frieden und Freiheit die verlorengegangene nationale Einheit wieder zu erkämpfen. Dieses Denken entspricht dem Geist der Verfassungsgeber und den Buchstaben des Grundgesetzes. Der Kulturstaat Deutschland wollte in Bonn und Berlin Zeichen setzen. Der Bundeskanzler lud Repräsentanten des deutschen Kultur- und Geisteslebens zu Gesprächsrunden in den Kanzlerbungalow ein. Die Auswahl der einzuladenden Gäste orientierte sich ausschließlich am Rang und an der Bedeutung der Persönlichkeiten. Die deutsche Demokratie hatte dies bisher weder in Bonn, noch in Berlin getan. Die Deutschen hatten zunächst fürs nackte Leben zu sorgen. Die ersten Nachkriegsjahrzehnte waren dem Wiederaufbau gewidmet, der Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungskraft, dem internationalen Wettbewerb und der Sicherung unserer sozialstaatlichen Lebensbedingungen. III. Die kulturpolitischen Initiativen des neuen Bundeskanzlers lösten bei den Parteien und in der deutschen Öffentlichkeit eher Überraschung als Zustimmung aus. Im Vordergrund stand die Außenpolitik: die Durchführung des NATODoppelbeschlusses, weitere Schritte zur Einigung Europas, die Deutschlandpolitik, die erkennbar einer Krise entgegentrieb. Die ersten Kabinettsbeschlüsse befassten sich mit dem NATO-Doppelbeschluss, dem Fortbau des MainDonau-Kanals und mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten an der Saar. So konnte es nicht verwundern, dass es erst nach langwierigen Gesprächen mit den Ministerpräsidenten gelang, die Länder von der Notwendigkeit dieser kulturstaatlichen Initiative des Bundes zu überzeugen. Jetzt hatte sich das Modell eines kooperativen Föderalismus zu bewähren. Die Länder sollten in den Aufsichtsorganen der drei neuen Bundesinstitutionen mitwirken, ohne dafür
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zur Mitfinanzierung verpflichtet zu sein. Dieses Modell steht im Einklang mit dem Geist des Grundgesetzes, das zwar die Kulturhoheit der Länder kodifiziert, die andererseits aber auch der Idee der Bundesstaatlichkeit verpflichtet ist. Bundesstaatlichkeit hier bedeutet Vernetzung, meint Vielfalt und Vielförmigkeit, Subsidiarität und föderale Struktur. Erst nach langen Verhandlungen und unter Verzicht auf eine öffentlichrechtliche Verankerung war die Zustimmung der Länder für diese Institution zu gewinnen gewesen. Ich erinnere mich an viele Gespräche, die ich damals mit Franz Josef Strauß, dem bayerischen Ministerpräsidenten, in dieser Sache zu führen hatte. Es waren zunächst politische, staats- und verfassungsrechtliche Hindernisse zu überwinden. Kulturstaatliche Argumente, gesamtstaatliche Notwendigkeit und hauptstädtische Kriterien mussten geltend gemacht werden. Vor allem aber mussten Vorurteile beim politischen Gegner und skeptische Vorbehalte in den unionsgeführten Bundesländern widerlegt und ausgeräumt werden. Am 7. Juni 1984 erklärten die Regierungschefs der Länder: „Im Zusammenhang mit der Errichtung der Kulturstiftung sind sich die Regierungschefs von Bund und Ländern einig, daß in der Bundeshauptstadt Bonn ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und eine Kunst- und Ausstellungshalle errichtet werden. Die Länder werden über die Kulturstiftung an diesen Vorhaben mitwirken.“ Am 4. Juni 1987 unterzeichneten die Regierungschefs von Bund und Ländern in Bonn das „Abkommen über die Mitwirkung des Bundes an der Kulturstiftung der Länder“. Unter diesen Rahmenbedingungen war es möglich, alle weiteren Einzelentscheidungen, die das Verhältnis des Bundes zu den Ländern anging, zu treffen. Zunächst galt es, die Zusammenarbeit mit den Ländern zu institutionalisieren, für die genannten Häuser Organisationsstrukturen zu schaffen, durch die gewährleistet werden konnte, dass Bundesregierung und Bundestag und Bundesrat bei den weiteren Entscheidungen angemessen vertreten wurden. In zahlreichen Gesprächen und bei Anhörungen, durch Berufung von Beiräten und Planungsräten und eine umfassende Unterrichtung der Öffentlichkeit gelang es bald, das erforderliche öffentliche Vertrauen zu finden, das für den Erfolg unverzichtbar erschien. Kohl erwies sich in der kulturpolitischen Kontroverse mit den Ländern als pragmatischer Finalist: Er kannte das Ziel seiner Politik sehr genau, er wollte den Erfolg und ließ sich durch rechtliche und tatsächliche Nebensächlichkeiten von seinem Kurs nicht abbringen. Deshalb war er damit einverstanden, dass zwar das Haus der Geschichte den Status einer öffentlich rechtlichen Körperschaft erhielt, während die Bundeskunsthalle und das Deutsche Historische Museum in der Rechtsform einer GmbH gegründet wurden und geführt werden. Schon am 15. November 1983 war eine verbindliche wissenschaftliche Grundlage für das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geschaffen. Der Bundeskanzler ließ sich über alle Einzelheiten und Entwick-
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lungsschritte unterrichten. Seine Weisungen an den federführenden Bundesminister waren folgende: Im Haus der Geschichte sollen und müssen sich alle Deutschen vertreten sehen können: – Parteipolitische Erwägungen sind unter allen Umständen zu vermeiden. – Anlage, Konzeption, Realisierung und Leitung des Hauses müssen so geartet sein, dass sie unter jeder demokratischen Regierung maßgeblich und verbindlich bleiben können. – Das Haus der Geschichte muss ein wissenschaftlich geführtes und zeitgeschichtliches Museum sein, in dem die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Fülle nachgezeichnet werden soll. – Das Prinzip der Wissenschaftlichkeit muss nicht nur für die Dauerausstellung, sondern auch für die Wechselausstellungen verbindlich bleiben. 1986 konstituierten sich die Gremien der Stiftung des Hauses der Geschichte: Kuratorium, wissenschaftlicher Beirat und Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen. Die Stiftung erhielt den Rechtsstatus einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Am 12. November 1986 empfahl das Preisgericht für den Architektenwettbewerb, den Architekten Ingeborg und Hartmut Rüdiger aus Braunschweig den Bauauftrag zu erteilen. Am 1. Juli 1987 trat Prof. Hermann Schäfer als Direktor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sein Amt an. Am 21. September 1989 folgte der „Erste Spatenstich“ für den Neubau des Hauses der Geschichte. Am 14. Juni 1994 konnte Helmut Kohl das Haus der Geschichte eröffnen. Am 6. Dezember 1994 beschloss der Kulturausschuss des Europarates, dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland den Museumspreis des Europarates 1995 zu verleihen. Grundlage dazu war die Empfehlung einer international besetzten Fachjury aus Museumsspezialisten unter Vorsitz des Briten Kenneth Hudson. Das Bonner Geschichtsmuseum hat inzwischen seinen internationalen Rang gefestigt und seine Anziehungskraft für Besucher aus ganz Deutschland und Europa dauerhaft gesichert. Auch die kritischen Stimmen aus den Reihen der damaligen Opposition sind verstummt. Das Haus der Geschichte, das nur in Bonn errichtet werden konnte, hat seine Bedeutung nach dem Umzug der Verfassungsorgane von Bonn nach Berlin noch steigern können. Helmut Kohl hat sich auch in diesem Falle als weitschauender und von Geschichtsbewusstsein geprägter Staatsmann erwiesen. So muss es auch an dieser Stelle noch erlaubt sein, an die skeptischen, kritischen und teilweise polemisch gehässigen Stimmen gegen Kohls Museumspläne zu erinnern. In der Kulturdebatte des Deutschen Bundestages Ende 1986 äußerte sich der SPD-Abgeordnete Freimut Duve wie folgt: „Als nationale Aufgabe von europäischem Rang hat der Bundeskanzler die geplanten Geschichtsmuseen in Bonn und Berlin bezeichnet. Was sollen eigentlich solche Sprechblasen? Wer verleiht europäische Ränge? Wer stiftet nationale Aufgaben? Geschichtliche Identität sei den Deutschen
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abhanden gekommen – so heißt es –, sie müsse rasch wiedergefunden werden oder gestiftet werden, sonst drohe uns Unheil.“ IV. Waren für das Haus der Geschichte historische Perspektiven und zeitgeschichtliche Notwendigkeiten maßgebend, so beruhte die Entscheidung für die Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland auf der Erfahrung, dass eine politische Hauptstadt immer auch ein kulturelles Zentrum sein muss. Bonn, die alte Kurfürsten- und Universitätsstadt, war 1949 nur unter Hinnahme äußerster räumlicher Beschränkungen und schwieriger Provisorien im Stande, die Verfassungsorgane des Bundes unterzubringen. Kulturelle Institutionen einer Hauptstadt fehlten und waren auch nur sehr schwer zu schaffen. Einmal war Bonn nur als vorübergehende Hauptstadt gedacht, was allen Plänen, in Bonn kulturstaatliche Einrichtungen zu errichten, natürlicherweise nicht förderlich war. Die Präambel des Grundgesetzes brachte zum Ausdruck, dass die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit das oberste Ziel der Bundesrepublik sein muss. Es war ebenso sicher und eindeutig und durch wiederholte Beschlüsse und Bekundungen des Bundestages klargestellt, dass Berlin die deutsche Hauptstadt ist und auch wieder Sitz der Bundesorgane werden muss. Diese gemeinsame Überzeugung galt für viele freilich dann nicht mehr, als die Deutsche Einheit nach dem 9. November 1989 tatsächlich eingetreten war. Am 7. Oktober 1989 hatte man mit dem Bau der Bundeskunsthalle begonnen. Niemand machte den Versuch, die begonnenen Baumaßnahmen zu stoppen. Bundeskanzler Helmut Kohl hätte sich solchen Versuchungen gewiss auch mit aller Entschiedenheit widersetzt. Die Bundeskunsthalle war jahrzehntelang ein kulturelles Desiderium der Bonner Bevölkerung geworden. Die Eröffnung konnte am 17. Juni 1992 erfolgen. Im Rahmen eines feierlichen Staatsaktes, in Anwesenheit des Bundespräsidenten und der Bundestagspräsidentin übergab Helmut Kohl den Kunsttempel seiner Bestimmung. Prof. Gustav Peichl, Wien, hatte Wort gehalten: die berechneten Baukosten wurden unterschritten, alle Termine eingehalten. Am gleichen Tag übrigens, an dem das Bonner Kunstmuseum mit erheblichen Fördermitteln des Bundes eröffnet werden konnte. Beide Häuser in einer wohl proportionierten städtebaulichen Nachbarschaft haben ihre Notwendigkeit bewiesen und ihre Anziehungskraft im rheinischen Kulturraum zwischen Mainz und Düsseldorf erhalten und vielfach sogar noch gesteigert. Alle unter Helmut Kohls Kanzlerschaft ausgeschriebenen Architekturwettbewerbe waren internationalen Charakters. Den Wettbewerb für die Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland gewann der österreichische Architekt Prof. Gustav Peichl. Aus dem Wettbewerb für das Deut-
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sche Historische Museum in Berlin ging der italienische Stararchitekt Aldo Rossi hervor. Wo immer er politischen Einfluss als Bauherr zu nehmen hatte, entschied er sich für funktionale Lösungen, die sich durch architektonische und städtebauliche Qualitäten auszeichneten. Der Kanzler zeigte sich durchaus offen für andere Auffassungen und gegensätzliche Argumente, sie mussten nur fachlich überzeugen und in ihren langfristigen Konsequenzen bis zu Ende gedacht sein. Helmut Kohl hielt sich auch im Bereich der Kulturpolitik an die Richtlinienbefugnis des Bundeskanzlers: Er schöpfte sie voll aus. Seine Entscheidungen traf er erst nach gründlichen Prüfungen des Sachverhalts. Das gilt für alle Projekte, aber insbesondere im Falle des Kanzleramts im Spreebogen, die Neue Wache als zentrale Gedenkstätte und das Holocaust-Denkmal. Während seiner 16-jährigen Kanzlerschaft war Helmut Kohl davon überzeugt, dass in einer „offenen Gesellschaft“ auch Kulturfragen offene Fragen bleiben müssen. Offen bedeutet hier vor allem, dass niemand in der Politik die letzte Wahrheit für sich reklamieren darf, am wenigsten in Fragen der Kulturpolitik. Unter diesen politischen und geistigen Aspekten konnten alle Gremien von Sachverständigen unbeeinflusst arbeiten, was Zeit sparte, die Zusammenarbeit förderte und schließlich den gemeinsamen Erfolg möglich machte. V. Die meisten und hartnäckigsten Widerstände regten sich gegen Kohls Plan, in Berlin das Deutsche Historische Museum zu errichten. Seine Notwendigkeit wurde vielfach verneint, seine inhaltliche Ausrichtung und Gestaltung für undurchführbar gehalten. Helmut Kohl sah in diesem Museum keine Teilung der deutschen Geschichte in die Zeit vor und nach 1945, wie dies von mancherlei Historikern behauptet wurde. Kohl dachte auch in diesem Zusammenhang historisch. „Wer historisch denkt, wird die Gegenwart aus der Geschichte und die Geschichte von der Gegenwart her erhellen.“ (A. Demandt) Das Deutsche Historische Museum stand von der ersten Gründungsidee an in einem offenen und bewussten Widerspruch zum „Museum für Deutsche Geschichte“, das die Machthaber der DDR im Zeughaus in Ost-Berlin eingerichtet hatten. Die ganze deutsche Geschichte sollte im Deutschen Historischen Museum präsentiert werden, die politische Geschichte, nicht in erster Linie die deutsche Kulturgeschichte, die im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg eine einzigartige Präsentation erfährt und der gesamten deutschen Nation gewidmet ist. Für Helmut Kohl war klar: Die ganze deutsche Geschichte öffnet auch den Blick für die europäischen Perspektiven unserer Nationalgeschichte. In seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 führte der Bundeskanzler dazu aus: „Wir, die Deutschen, müssen uns unserer Geschichte stellen, mit ihrer Größe und ihrem Elend, nichts wegnehmen, nichts hinzufügen. Wir müssen
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unsere Geschichte nehmen, wie sie war und ist: ein Kernstück europäischer Existenz in der Mitte des Kontinents.“ Am 21. April 1985 veranstalteten die Grünen im Berliner Reichstagsgebäude eine öffentliche Diskussion zur Frage: „Warum soll die deutsche Geschichte in ein Deutsches Historisches Museum eingesperrt werden?“ Dabei führte Bernhard Strecker u. a. aus: „Kohl und die Wenderegierung wollen diese Stadt wieder zu dem Zentrum Deutschlands machen. Der Museumsbau erscheint als eine zu Stein verfestigte Unterstreichung der konservativen Staatsdoktrin der Bundesrepublik, die sich als alleinigen und rechtmäßigen Vertreter des deutschen Volkes, als Erben nationaler Traditionen und als Garanten für ein wiedervereinigtes Deutschland nach westlichem Zuschnitt begreift. Sie bekommt angesichts der offensiven Außenpolitik der Reagan-Administration eine aggressive Aktualisierung.“ Und an späterer Stelle behauptet Bernhard Strecker: „Wer baut, muß wissen, was er will. Wo nicht nachgedacht wurde, sollte weiter Gras wachsen. Doch wer ein Denkmal nationalen Wahnsinns dorthin im Spreebogen plazieren will, wo Konzepte zum Leben nötig sind, dem gebührt entschieden Widerstand.“ Bei einer Anhörung zum Deutschen Historischen Museum, veranstaltet von der SPD-Bundestagsfraktion in Bonn am 2. Juli 1986, erklärte der Abgeordnete Freimut Duve: „Geschichte gehört nicht der Regierung. Und sie gehört auch nicht der Politik. In der Demokratie kann und darf die Exekutive kein Geschichtsmuseum bauen wie der Feudalherr alter Zeiten.“ Bei der Anhörung zum Gutachten der Konzeption für ein Deutsches Historisches Museum in Berlin am 8. und 9. Dezember 1986 in Bonn erklärte Prof. Christian Meier: „Ich habe mich bisher noch immer nicht zu der Überzeugung durchringen können, daß es eigentlich ein Glück sei, daß dieses Museum gegründet werden soll ... Meines Wissens kommen historische Museen mit diesem Anspruch, nämlich die ganze Geschichte eines ganzen Staates musealiter darzustellen, nur in Entwicklungsländern und Volksdemokratien vor. Und nicht ohne Grund, denn die Idee ist dort natürlich heute am ehesten zu verwirklichen, wo eine Instrumentalisierung der Geschichte leicht, ja erwünscht ist. Dort ergeben sich die Bedingungen, unter denen ein historisches Museum die Einheit seiner Aussage gewinnt, und das erleichtert jedenfalls das Geschäft.“ Hans-Christian Ströbele veröffentlichte im Dezember 1986 eine Streitschrift der Grünen im Bundestag gegen die geplanten historischen Museen in Berlin und Bonn. Ströbele polemisiert in den Vorbemerkungen gegen Helmut Kohl, unterstellt dem Kanzler, er wollte die NS-Täter in die Normalität zurückholen, sie wieder salonfähig machen wie beim Staatsakt an den Gräbern der WaffenSS in Bitburg. In der Presse erschienen zwischen 1983 und 1987, bis zur rechtsförmlichen Gründung des Deutschen Historischen Museums, zahlreiche Artikel namhafter Politiker und Historiker, die gegen Kohls „Geschichtspolitik“ polemisierten. Diese Attacken gegen das erste deutsche Geschichtsmuseum waren umso
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unberechtigter, als der Kanzler und die Bundesregierung jede Anstrengung unternahmen, die Öffentlichkeit über die Museumspläne sorgfältig zu unterrichten. So fand im März 1987 eine zweite Anhörung zum Gutachten der Konzeption für ein deutsches historisches Museum in Berlin statt. Zum zweiten Mal stellten sich die historischen Experten der Kritik und dem Urteil ihrer Fachkollegen wie der gesamten Öffentlichkeit. Bei dieser Anhörung stellte Werner Knopp, der Vorsitzende der Wissenschaftlichen Sachverständigenkommission fest: „Die Regierung hat keinerlei inhaltliche Vorgaben gemacht. Sie hat auch keine Einflußnahmen in dieser Richtung versucht, und ich glaube wirklich, daß man eine solche Färbung unseres Konzepts aus ihm nicht herauslesen kann. Die Debatte müßte sich dann schon, wenn sie fruchtbar sein soll, konzentrieren auf die anderen Aspekte... Wir sind Kinder dieser Demokratie und leben mit ihr und müssen diese Auseinandersetzung auch bestehen, aber ich bitte auch, unseren Ansatz zu verstehen. Wir stehen zu unserer Arbeit und möchten sie natürlich auch in einer Diskussion, die uns in Zusammenhänge stellt, die wir selbst nicht sehen, verteidigen und behaupten.“ Der zur Diskussion eingeladene grüne Abgeordnete Hans-Christian Ströbele kritisierte, dass dem Standort des Museumsgebäudes nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Der Standort im Spreebogen, in unmittelbarer Nähe des Reichstages, sei „ein eminent historisches, geschichtsträchtiges, heute noch ungeheuer problematisches Gelände“. Es sei ein Gelände in der Mitte von Berlin, aber am Rande von West-Berlin. Ströbele fragte, ob diese Standortwahl nicht eine Aufwertung der Berliner Mitte sei. Für Helmut Kohl war es nie eine Frage, wo das Deutsche Historische Museum seine kulturpolitische Wirkung gewinnen und seine staatspolitische Bedeutung zur Geltung bringen sollte. Der Ort konnte nur Berlin sein, und in Berlin eben die Berliner Mitte. VI. Zur gleichen Zeit, als die letzten wissenschaftlichen Kontroversen über das Gesamtkonzept für die Dauerausstellung ausgetragen wurden, hatte Helmut Kohl mich beauftragt, eine Konzeption für den Umbau des Reichstagsgebäudes erstellen zu lassen. Diese Weisung blieb zunächst ein Dienstgeheimnis. Selbst im Bauministerium wussten nur die damit beauftragten Beamten davon. Der Kölner Architekt Gottfried Böhm stellte im Oktober 1988 sein Modell vor. Helmut Kohl wollte die parlamentarische Nutzbarkeit des Reichstagsgebäudes wiederherstellen, die durch die Wiederaufbaumaßnahmen unter Paul Baumgarten in den 60er Jahren verfehlt worden war. Der Bundeskanzler der Einheit hatte als erster, lange vor dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990, das Reichstagsgebäude als Sitz des Deutschen Bundestages zum Ziele seiner Politik gemacht. Eine mächtige Kuppel sollte das Parlamentsgebäude
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wieder bekrönen; das Dach des Gebäudes sollte als gesamtdeutsche Plattform dienen. Von hier aus sollte den West-Berlinern und den Westdeutschen Gelegenheit gegeben werden, nach Osten zu blicken. Die Kuppel sollte ein Zeichen der Deutschen Einheit sein. Sie sollte Berlins republikanische und demokratische Mitte gegenständlich den Ost-Berlinern ins Bewusstsein rufen, die Kuppel sollte an den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes erinnern: die staatliche Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit wiederherzustellen. Lange bevor der Deutsche Bundestag durch eine unzureichende, mangelhafte und bewusst mehrdeutige Auslobung des Architektenwettbewerbs den Streit über die Wiederherstellung der Wallot'schen Architekturform für das Reichstagsgebäude auslöste, hatte Helmut Kohl seine Entscheidung schon getroffen: Es war eine Entscheidung für Berlin als Sitz der Verfassungsorgane und eine Entscheidung für das Reichstagsgebäude mit Kuppel als Sitz für den Bundestag. Daran heute zu erinnern, scheint mir die historische Wahrheit zu gebieten und die politische Redlichkeit zu fordern. Es gehört zu Helmut Kohls politischen Handlungsgrundsätzen, dass alle Staatsgewalt und jede handelnde Regierung sich nicht nur rechtlich legitimieren, sondern auch kulturell definieren muss. Deshalb hat er in vielen Reden und mit großem Ernst und erkennbarer Leidenschaft darauf hingewiesen, wie sehr es notwendig sei, dass sich Deutschland als Kulturstaat präsentieren muss. Kultur öffnet die Grenzen, weitet den Horizont des politischen Denkens, Kultur verbindet Zeiten und stiftet Frieden zwischen den Völkern. VII. Der Historiker Helmut Kohl hat den Sinn für Formen, die Werte in sich bergen und Ausdruck einer geistig kulturellen Haltung sind. Für ihn war das staatliche Zeremoniell zum Volkstrauertag, der vom Bundespräsidenten gesprochene Nekrolog eine notwendige und selbstverständliche Form der Trauer, der Erinnerung und Mahnung, des Dankes und der Gewissenserforschung. Deshalb wollte er sich in Bonn mit den dortigen Provisorien nicht mehr zufrieden geben. Als Bundskanzler und Staatsmann hat er als Gast in anderen Ländern unmittelbar und persönlich erlebt, wie man dort ein nationales Selbstbewusstsein zu kultivieren weiß, wie es möglich ist, einer militärischen Zeremonie eine demokratische Sinnhaftigkeit und kulturelle Substanz zu verleihen. Dies freilich kann nur dann gelingen, wo der Politiker weiß, dass es spirituelle Grundlagen gibt, ohne die kein Staat, keine Gesellschaft leben und handeln kann. Wer die Toten der Kriege und der Gewaltherrschaft ehrt, steht in der Tradition der europäischen Metaphysik der philosophia perennis. Diese reicht von Perikles' Rede auf die Toten des Peloponnesischen Krieges bis zum Nekrolog, den seit Theodor Heuss die deutschen Bundespräsidenten am Volkstrauertag zu sprechen bereit sind. Deshalb gab Helmut Kohl mir als zuständigem Mi-
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nister den Auftrag zu prüfen, wo in Bonn und unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form ein zentrales Mahnmal für die Opfer der Kriege und Gewaltherrschaft errichtet werden könne. Wir einigten uns auf einen Standort zwischen Rhein und Gronau, nahe dem Abgeordneten-Hochhaus. Als am 3. Oktober 1990 die staatliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt war, gab es für Kohl nicht den geringsten Zweifel, dass die zentrale Mahn- und Gedenkstätte, an der am Volkstrauertag das nationale Totengedenken stattfindet, nur dort sein könne, wo sie der erste demokratische Staat bereits errichtet hatte, nämlich in der Neuen Wache Schinkels neben dem Zeughaus. Auch hierzu gab Kohl wieder den entscheidenden Anstoß für die künstlerische Form der Raumgestaltung und die Symbolisierung der Trauer und des Traueraktes durch das Aufstellen der vergrößerten „Pieta“ von Käthe Kollwitz. VIII. Am 750. Geburtstag Berlins, am 28. Oktober 1987, setzte der Bundeskanzler die „Stiftungstafel“ für das Deutsche Historische Museum im Spreebogen an die Stelle, an der heute das Bundeskanzleramt errichtet ist. Gegen die Anbringung der Stiftungstafel demonstrierte eine Gruppe der Grünen und Alternativen: Auf den Bildern der Presseberichte ist Hans-Christian Ströbele zu sehen: Er hält ein Transparent mit der Aufschrift in den Händen: „Das ist die Berliner Gruft, Gruft, Gruft ...“ Die Grünen stellten sich gegen den Rossi-Entwurf. Sie richteten sich vor allem gegen den Standort im Spreebogen, den musealen Charakter der Architektur und gegen jede Form von Repräsentationskultur. An den GründungsGeneraldirektor des Deutschen Historischen Museums, Christoph Stölzl, übergab Kohl einen Erstdruck der Nationalhymne von Hoffmann von Fallersleben. Stölzl wies in seiner Dankadresse an den Bundeskanzler auf den europäischen Ausgangspunkt der Hymne von Joseph Haydn hin. Beim Festakt im Reichstagsgebäude führte der Bundeskanzler aus: „Als wir dieses Projekt vorbereiteten, waren wir uns darüber im Klaren, daß wir vor einer ganz außergewöhnlichen Aufgabe standen. Ich selbst habe immer wieder hervorgehoben, daß es sich nach meiner Überzeugung um eine nationale Aufgabe von europäischem Rang und europäischer Dimension handelt. Die Errichtung eines solchen Museums ist ein notwendiges, ein überfälliges politisches und kulturelles Vorhaben – von Bedeutung für unsere geteilte Nation und von Bedeutung für unsere Nachbarn.“ Kohls dreifaches Handlungsmotiv klingt wieder an: das nationale, das europäische und das kulturelle. Für ihn gehört historisches Wissen und Geschichtsbewusstsein zu einem aufgeklärten Denken eines jeden Menschen. Der Kanzler der Einheit zitierte an Berlins 750. Geburtstag den Gründungskanzler Konrad Adenauer, der am 5. Mai 1955 erklärte: „Es gibt für uns in der Welt nur einen Platz: an der Seite der freien
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Völker. Unser Ziel: in einem freien und geeinten Europa ein freies geeintes Deutschland.“ Niemand wusste, wie nahe wir diesem Ziel damals schon standen. Helmut Kohl verband den Gründungsakt für das Deutsche Historische Museum mit einem erneuten Bekenntnis zur Deutschen Einheit, indem er ausführte: „Wer die Stadt besucht, wer Mauer und Stacheldraht vor Augen hat, für den gibt es keinen Zweifel: dieses abstoßende Bauwerk wird nicht Bestand haben. Das letzte Wort der Geschichte ist mit der Teilung Berlins, mit der Teilung Deutschlands, mit der Teilung Europas nicht gesprochen. Auf keinen Fall kann die Mauer Berlin daran hindern, Modell und geistige Brücke für die Idee der Freiheit zu sein.“ Im Frühjahr 1989 bildete die SPD unter Walter Momper in Berlin mit den Grünen und Alternativen eine neue Senatskoalition. In der Koalitionsvereinbarung wurde festgelegt, das Museumsgeschenk des Bundes zu überprüfen, speziell die Standortwahl und die Folgekosten. Die Sprecherin der Alternativen, Sabine Weißler, stellte dazu fest: Die Realisierung des Rossi-Planes könne sie sich „auf keinen Fall vorstellen“. Neben der Architektur seien die museale Konzeption, die Größe und der Standort in Frage zu stellen – also eigentlich das Ganze. Die mit der SPD vereinbarte Überprüfung des Projektes könne auch Jahre dauern. Es dauerte noch Jahre, bis das Zeughaus von Grund auf baulich erneuert wurde. 2005 kann die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums eröffnet werden. Kohls kulturpolitische Folgewirkungen haben seine Kanzlerschaft acht Jahre überdauert. Für Helmut Kohl waren staatliche Baumaßnahmen keine ideologisch motivierten Versuche, die Architektur der Hauptstadt nach politischen Motiven zu instrumentieren. Helmut Kohls Kulturbegriff ist offen, von keiner Ideologie beeinflusst, er orientiert sich an der Würde des Menschen und an dem Menschenbild der Genesis. Für Kohl ist Kultur das Fundament des Staates; er ließ sich bei seinen politischen Entscheidungen, bei seinem ganzen Handeln als Kanzler von einem immergültigen Kulturbegriff leiten: Kultur ist die edelste Form zweckfreien Strebens des Menschen, sie dient der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Persönlichkeit. Kultur schließt unser religiöses und philosophisches Streben in sich, sie ist der Raum der Sieben freien Künste, der Ort der Wissenschaften; Kultur kann nur in Freiheit gedeihen, unter dem Schutz des Staates, der seinen Bürgern die Grundrechte unserer Verfassung zu schützen und zu gewährleisten hat.
Kulturpolitik der Ära Kohl aus Sicht der Wissenschaft Von Matthias Theodor Vogt „Stellen Sie sich einmal vor, die Grünen würden ein botanisches Museum errichten, und zwar mitten in einem absterbenden Wald.“1 Mit dieser Aufforderung an das Publikum wandte sich Bruno Schindler bei einer „Öffentlichen Diskussion zum Projekt eines Deutschen Historischen Museums“, zu der die Fraktion der Grünen im Bundestag gemeinsam mit der Alternativen Liste Berlin im April 1985 in das Reichstagsgebäude eingeladen hatte, gegen die Errichtung des DHM. Schindler fährt fort: „Da haben Sie genau die Situation: Hier vor dem alten Reichstag ... ein Museum für Deutsche Geschichte zu errichten, so, als ob der sterbende Wald nicht deutlich genug wäre. Das ist eine perfide Zumutung für West-Berlin und ein abstruser Vorwurf für die Welt!“2 Die Metapher erfasst, soweit ich sehe, recht genau das Umfeld der Kulturpolitik Helmut Kohls Anfang der 80er Jahre. Die deutsche Geschichte wird von seinen Kritikern als „sterbender Wald“ wahrgenommen. Sich ihrer in Form eines Museums zu erinnern wird als „perfide Zumutung“ und „abstrus“ angesehen. Im Hintergrund steht ein dumpfes Unbehagen an Geschichte, zumal der deutschen. Dass jemand sich erdreistet, zur Beschäftigung mit ihr aufzurufen, weckt bereits die Vermutung, hier sei aus sog. national-konservativer Warte eine Umschreibung der Geschichte geplant.3 Vordergründig aber ging es bei den meisten dieser Diskussionen um eine Argumentationslinie, die sich in der deutschen Geistesgeschichte leicht zurückverfolgen läßt, bis hinab in den Vormärz: Den Protest derer, die sich als aufrechte Demokraten verstehen, gegen einen „Herrschaftsanspruch“.4 Diese Protesthaltung verführt zu Wahrnehmungsverschiebung. Berühmt dafür wurde die Standortentscheidung Kohls für das DHM in der Fassung der „Bild-Zeitung“. Ich zitiere das Original vom 13. Juni 1985: „Bundeskanzler Helmut Kohl (55) stand gestern Nachmittag im blauen Anzug am Fenster des Reichstags, streckte den rechten Arm aus ... und sagte dann zu ... Eberhard Diepgen: ‚Hier soll das Deutsche Historische Museum hin.‘ Damit steht der Standort fest.“ 1
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Bruno SCHINDLER, Redebeitrag, in: Warum soll die deutsche Geschichte in ein Museum eingesperrt werden? (Protokoll einer öffentlichen Diskussion, veranstaltet durch „Die Grünen“ im Deutschen Bundestag und die Fraktion der Alternativen Liste Berlin im Reichstagsgebäude in Berlin am 21. April 1985), in: Christoph STÖLZL (Hg.), Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt/M. 1988, S. 253–257, hier S. 253. EBD. S. 253f. Entsprechende Forschungsbemühungen, der sog. Revisionismus, wurden 1986 von Ernst Nolte verteidigt, was zum Ausbruch des Historikerstreites führte. Zit. nach SCHINDLER (wie Anm. 1), S. 254.
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Eingeprägt jedoch hat sich eine ganz andere Fassung, jene mit dem verschobenen Abführungszeichen, etwa bei Mathias Greffrath in der „Zeit“ vom 11. Oktober 1985: „... und sagte ...: ‚Hier soll das Deutsche Historische Museum hin. Damit steht der Standort jetzt fest.‘“5 Was ist der Unterschied? Die Anekdote – im übrigen von der „Bild-Zeitung“ wohl eher im Sinne einer guten Geschichte erfunden – steht, philologisch gesprochen, im Optativus Conœssivus der vorgestellten oder gewünschten Wirklichkeit, vielleicht einem Conjunktivis Prospectivus der erwogenen oder erstrebten Wirklichkeit („Hier soll“). Nach der Verschiebung des Abführungszeichens findet sich das vorgebliche Zitat, immer noch philologisch gesprochen, in einem Positiv geradezu imperialen Charakters („Steht fest“). Man hört förmlich das Dixi, das Ich habe gesprochen, das Was scheren mich parlamentarische Diskussionen! Dieses, wie gesagt, durch Wahrnehmungsverschiebungen entstandene und das Kraftvolle seiner Erscheinung in einen negativen Kontext hineininterpretierende Bild des Kulturpolitikers Kohl ist in der Zwischenzeit in die kollektive Erinnerung der Bundesrepublik eingegangen. * Dieses Bild ist für mich ein Problem. Es führte nämlich dazu, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kulturpolitik der Ära Kohl noch nicht als Herausforderung erkannt wurde: Es gibt dazu kaum einschlägige Beiträge, und von diesen wenigen Titeln wie von einem schmalen Bändchen, einer Diplomarbeit aus Ludwigsburg6, gäbe es wenig Substantielles zu berichten, das nicht dem eben genannten Bild zutiefst verhaftet wäre. Das gilt auch für den recht amüsant geschriebenen, aber eher am persönlichen Kunstgeschmack deutscher Bundeskanzler interessierten Beitrag von Norbert Seitz „Die Kanzler und die Künste“.7 Diese vorläufige Bilanz hat sicher strukturelle Gründe. Die SPD verfügt über zahlreiche regionale Kulturforen, ihr Nahestehende haben eine höchst aktive „Kulturpolitische Gesellschaft“ gegründet, ein „Institut für Kulturforschung“ in Bonn und nun ein Institut für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim aufgebaut. In der CDU dagegen gibt es eher Einzelpersönlichkeiten, die sich mit kulturpolitischen Fragen auseinandersetzen.
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Vgl. Karl-Heinz KRÜGER, „Wir finden dann auch was, was reinkommt“, in: „Der Spiegel“, 44 (1987), S. 97–103. Klaus STEMMLER, Kulturpolitik in der Ära Kohl. Eine Kritik von Grundlagen und Diskussionen zur Wahrnahme von Kompetenzen unter der Regierung Helmut Kohl 1982–1998, Bonn 2000. Norbert SEITZ, Die Kanzler und die Künste. Die Geschichte einer schwierigen Beziehung, München/Berlin 2005, zu Helmut Kohl vgl. S. 117ff.
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Man hat mich gebeten, zur Kulturpolitik der Ära Kohl nicht aus Sicht der Parteipolitik zu räsonieren, sondern die Sicht der Wissenschaft im allgemeinen zu referieren. Da ich Forschungsergebnisse der Zunft mangels Masse schlecht beitragen kann, will ich diese Gelegenheit nutzen, um einige Prolegomena einer künftigen Forschung vorzutragen, also Vorüberlegungen anzustellen in der Form von Lemmata, von Lexikon-Stichworten. Vielleicht erwächst daraus ein Anstoß für eine weiterführende Forschungsarbeit. Lemma I: Eröffnung. Die Situation zu Beginn der Ära Kohl Kulturpolitisch ist die Ära von Kohls Vorvorgänger Willy Brandt wesentlich als Angebot einer positiven Identifikation mit diesem Land und seiner Politik zu betrachten. Ein Angebot, das von dem gelernten Journalisten gut vermittelt und das dann auch angenommen wurde. Beeindruckend wirkten sowohl seine Vita wie seine Absagen, damals noch als Vizekanzler der Großen Koalition, an Gewalt und Drohung als Mittel der Politik auf der Genfer Konferenz der nicht-nuklearen Mächte (3. September 1968) und besonders auf der UNESCOGeneralkonferenz am 6. November 1968 in Paris. Das Ergebnis war ein in der deutschen Geschichte eher seltenes positives Verhältnis von Geist und Macht, das freilich den durch die Guillaume-Affäre erzwungenen Rücktritt Brandts 1974 nur wenig überdauerte. Ganz anders die kulturpolitische Wertung der Ära von Kohls unmittelbarem Vorgänger Helmut Schmidt, wohlgemerkt einem ausgewiesenen Kunstliebhaber und Kenner. „Wer Visionen hat“, so das Bonmot, das sich dem Intellektuellen tief eingeprägt hat, „wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“.8 Kennzeichnend für die Situation dieser Jahre ist „Deutschland im Herbst“, entstanden 1977/78 9. Elf deutsche Regisseure reagieren hier auf den SchleyerMord, die Flugzeugentführung von Mogadischu und den Selbstmord der gefangenen RAF-Terroristen in Stammheim mit dem Versuch, in elffacher Perspektive die Befindlichkeit in Deutschland zu beschreiben. Die Abwehrmaßnahmen des Staates gegen den Terrorismus wurden wesentlich als Überreaktion wahrgenommen; wie im bekannten Unterschied zwischen Hiobs-Botschaft, die dem Empfänger gilt, und Urias-Brief, in dem der Überbringer der
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Quelle unsicher. „Deutschland im Herbst“ (1977/78), Regie: Alf Brustellin, Bernhard Sinkel, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Peter Schubert, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz; Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Hans-Peter Cloos. Kommentar: Alexander Kluge, Alf Brustellin, Bernhard Sinkel, Maximiliane Mainka, Peter Schubert. Produktion: Pro-ject, Filmverlag der Autoren, Kairos, Hallelujah, Alexander Kluge, Volker Schlöndorff. Kamera: Jörg Schmidt-Reitwein, Werner Lüring, Jürgen Jürges, Bodo Kessler, Dietrich Lohmann, Colon Mounier. Musik: Wolf Biermann, Joan Baez. Länge: 123 Minuten. Genre: Politischer Episodenfilm.
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Botschaft getötet werden soll, richtete sich die Aggression nicht gegen die auslösende RAF-Fraktion und den harten Kern ihrer Sympathisanten, sondern gegen den Staat und seine Organe. Das Anti-Terror-Konzept wurde bekanntlich bei der Generalbundesanwaltschaft ausgearbeitet, und zwar von dem Juristen Wolfgang Pfaff. Die kulturelle Wirkung war nicht mitbedacht worden – eine eklatante Folge des damaligen und auch heute noch keineswegs ganz überwundenen Juristenmonopols der Staatsverwaltung. Für die Beschreibung der Ära Schmidt und ihrer Folgewirkungen wäre vielleicht der Begriff einer „negativen Kulturpolitik“ zutreffend, um die Entfremdung in jenen Jahren adäquat zu beschreiben, die Entfremdung zwischen dem Staat und einem wichtigen Teil der Intellektuellen, speziell der Jüngeren und der für Moralisches Sensiblen. Damit ist nicht das Fehlen von Angeboten für eine positive Identifikation gemeint, sondern die Wahrnehmung des staatlichen Agierens als Angebote zu einer Nicht-Identifikation. Diese Situation zu Beginn der Ära Kohl wäre zu analysieren, um die vielen diffusen, ja dumpfen Reaktionen gerade Mitte der 80er Jahre auf seine Kulturpolitik angemessen zu verstehen. In Kohls Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 heißt es: „Der jungen Generation muß die deutsche Geschichte ... wieder geistige Heimat werden.“10 Das dahinter stehende politische Problem – der Begriff Geschichte ist hier nur eine Metapher – war: „Der jungen Generation muß Deutschland wieder geistige Heimat werden.“ Der Blick auf die zeitgleichen Vorgänge in Polen zeigt, dass dort im entscheidenden Punkt die Vorgänge einfacher abgelaufen sind: Die Ausrufung des Kriegsrechtes im Dezember 1981 führte nicht zu einer Abwendung der polnischen Bevölkerung und insbesondere ihrer Intellektuellen von ihrem Land und ihrer Nation. Vielmehr wurden Jaruzelski und sein Regime als unrechtmäßige Usurpatoren der Symbole des Landes betrachtet. Die besondere Schwierigkeit dieser Teil-Untersuchung besteht darin, die historische Entfremdung der jeweils jüngeren Generation in Deutschland, durchaus beginnend mit den offiziellen Reaktionen auf das Wartburg-Fest, in den historischen Kontext auch der Nachbarländer zu setzen, um den präzisen Ort der Vorwürfe gegen Kohl bestimmen und einordnen zu können. Lemma II: Grundbegriffe. Hier: Würde Es gibt Begriffe, die spielen in unserer Alltagssprache keine Rolle mehr. Wann spricht man noch von „Güte“, um einen Menschen zu charakterisieren? Wann spricht man noch von Erbarmen oder Gnade in einem nicht-juristischen Kontext?
10 Zit. nach STEMMLER (wie Anm. 6), S. 33.
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Einer dieser Begriffe, die in unserer Sprachwelt anmuten wie ein Quastenflosser vor den Küsten Madagaskars, ist der Eingangsbegriff des Grundgesetzes, das erste Substantiv aus Artikel 1, die „Würde“. Dort wird er auf die Würde des Einzelmenschen angewandt, und in diesem Sinne ist er eine der Grundvoraussetzungen unserer Annahmen über uns selbst. Nur gelegentlich jedoch wird er angewandt auf die Würde eines Amtes, das es auszuüben gilt. Auf das Gemeinwesen höchst selten. Geradezu als „Zumutung“ musste es im Lichte der oben erwähnten Haltung weiter Teile der deutschen Intelligenzia gelten, von der „Würde des Landes“11 (Helmut Kohl) zu sprechen. Aus diesem Begriff von der „Würde des Landes“ kommt das vielleicht Selbstverständlichste der kulturpolitischen Vorhaben Kohls, „ein würdiges zentrales Mahnmal zur Erinnerung an die Toten von Krieg und Gewaltherrschaft“. Für den Bonner Zentralfriedhof geplant, sollte es jedoch in Bonn mangels politischer Durchsetzbarkeit scheitern. Erst in Berlin, in der Neuen Wache, sollte es realisiert werden. Für eine Wertung der Kulturpolitik Kohls erforderlich wäre eine Untersuchung der Grundbegriffe, die sein Handeln geleitet haben. Gerade beim Begriff der Würde zu berücksichtigen wäre der Einfluss seines politischen Ziehvaters, Dekan Johannes Finck, noch vor Kriegsende 1945 einer der Vordenker eines überkonfessionellen Neuanfangs. Auch wenn bei Kohl von der einzigen Kulturpolitik, mit der sich die Väter des Grundgesetzes auseinandersetzten, nämlich der konfessionellen Kulturpolitik, keine Spur mehr erscheint, ist es offensichtlich, dass er in seinen Begrifflichkeiten doch von diesen Anfängen geprägt bleibt. Lemma III: Ästhetik. Das Maß der Très Grands Projets In Schinkels Neuer Wache läßt Helmut Kohl 1993 die Kollwitz-Plastik „Mutter mit totem Sohn“ (1937/38) in einem vierfach vergrößerten Bronzeabguss aufstellen, nach, wie er vor dem Bundestag ausführt, „eingehenden Gesprächen mit den Erben von Käthe Kollwitz“12. Der Rückgriff auf Kollwitz hat Tradition: 1959 ließ Theodor Heuss einen Abguss (allerdings in Originalgröße) der „Trauernden Eltern“ in der Kölner Ruine St. Alban aufstellen; das Original befindet sich beim Grab ihres Sohnes Peter auf dem Soldatenfriedhof Diksmuide-Vladslo. Das Ungenügen Kohls an der Originalgröße der Plastik gibt einen Hinweis auf eine zentrale Vergleichsbestimmung seiner Kulturpolitik, die Grands Projets der Ära François Mitterrands 1981–1995. Diese sind 1. die Arche de la Défense, 2. die Glas-Pyramide am Eingang zum Louvre von Ieoh Ming Pei, 11 EBD. S. 55. 12 EBD.
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3. die neue Opera de la Bastille, 4. das Museum für Wissenschaft und Technologie La Villette, 5. das Institut du Monde Arabe und schließlich 6. der Neubau der Bibliothèque Nationale (1988–1998) mit dem Spitznamen „La Très Grande Bibliothèque“, TGB, in Anlehnung an den Train à Grande Vitesse, TGV. Die Bauprojekte der Ära Kohl sind nicht groß; sie sind sogar deutlich kleiner als die französischen Parallelprojekte und auch nicht entfernt vergleichbar mit denen eines Karl IV. für Prag oder wen immer man als Vergleich heranziehen will. Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit sind sie durch die schon zitierte Wahrnehmungsverschiebung, bei der sich körperliche Merkmale des Urhebers und politisches Ressentiment mischten, als Très Grands Projets eingegangen. Eine Würdigung der Kulturpolitik der Ära Kohl müsste daher versuchen, auch im Vergleich zu den entsprechenden Bauten Frankreichs, Englands, Russlands etc. das Maß zu bestimmen, von dem her ihre wesentlichen Bauten konzipiert wurden: 1. die Kollwitz-Plastik in der Neuen Wache als der Zentralen Gedenkstelle der Bundesrepublik Deutschland, von Schinkel errichtet in der Doppelfunktion als Wachgebäude und als Gedenkstätte für die Taten und Opfer der Befreiungskriege, 2. das erst aus der kontroversen Diskussion um die Zentrale Gedenkstätte heraus Unterstützung erfahrende Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas, 3. die noch auf die sozial-liberale Koalition zurückgehende Bonner Kunstund Ausstellungshalle als „geistig-kulturelles Zentrum“ im Rahmen des Hauptstadtkonzeptes (Kabinettserklärung vom 25. Mai 1977), 4. das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, ebenfalls in Bonn, 5. das Deutsche Historische Museum in Berlin im Zeughaus einschließlich des Erweiterungsbaues von I. M. Pei und schließlich 6. das Berliner Regierungsviertel, insbesondere das Kanzleramt. Hier hat die Wissenschaft bereits geforscht und geurteilt, ich zitiere Max Welch Guerra: „Helmut Kohl hat das Ost-West-Band und das Kanzleramtsgebäude systematisch als ein Symbol der Deutschen Einheit präsentiert. Dies erscheint als Teil einer Strategie, welche die Spaltung und Wiedervereinigung als bestimmende Ereignisse der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu interpretieren versuchte.“13 Aus ökonomischer Sicht sind die 20 Milliarden DM des Umzugs nach Berlin eine vernünftige, ja moderate Größe, wenn man eine bloß 25-jährige Nutzung unterstellt. 13 Max Welch GUERRA, Politische Macht am Spreebogen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 34–35 (2001), S. 5. Vgl. auch DERS., Hauptstadt Einig Vaterland. Planung und Politik zwischen Bonn und Berlin, Berlin 1999.
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Außer im Fall der Kollwitz-Plastik und der Eisenmann-Auswahl sind die vorgegebenen politischen Prozeduren auch eingehalten worden, besonders überraschend im Fall des Kanzleramtes, so dass die entsprechenden Vorwürfe (man erinnere sich an das Falschzitat: „Damit ist der Fall entschieden“) weitgehend haltlos sind. Aus ästhetischer Sicht ist ein Fortschritt gegenüber den Bonner Bauten nicht zu verkennen; dass die Berliner Neubauten auch außerhalb des Regierungsviertels den Geist der Zeit und nicht den Geist der Schönheit atmen, steht außerhalb der potentiellen Verantwortung eines demokratisch gewählten Regierungschefs. Worum es Kulturpolitik im engeren Sinne bei dieser Teiluntersuchung gehen könnte, das wäre das Maß der genannten sechs Bauten, die unmittelbar in der Verantwortung Kohls, seiner Regierung, des Parlamentes lagen. Die sog. Berliner Republik hat sich selbst Maßstäbe für die Wahrnehmung von außen und innen gegeben, die in einer historischen Abfolge stehen. Dabei sind eben mit zu berücksichtigen: das Wort vom „Paria“, das Nachkriegs-Deutschland lange anhaftete, so dass 1954 das „Wunder von Bern“ empfunden wurde, bis hin zu Henry Kissingers Wort von Deutschland als „an economy in search of political purpose“14. Lemma IV: Der Ort der Bundeskulturpolitik – Das Museum als Ort der Ausbildung historischer Phantasie Nach zwischenzeitlich gut 25 Jahren Erfolgsgeschichte historischer Ausstellungen in Deutschland und Debatten, die weit über die Fachwelt hinaus ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind, läßt sich heute nur noch schwer ermessen, dass mit der Ära Kohl eine durchaus historisch zu nennende Umwertung des Museums-Begriffs einherging. Der Generaldirektor der Staatlichen Museen Berlin Stephan Waetzoldt urteilte noch 1981 apodiktisch: „Es ist doch wohl so, daß sich dem Medium Ausstellung das Thema ‚Geschichte‘ grundsätzlich verweigert.“15 Gottfried Korff resümiert: „Pointiert ließe sich formulieren, daß die Geschichte des Museums in Deutschland die Geschichte der Verdrängung des historischen Prinzips ist.“16 Diese Verdrängungsgeschichte oder umgekehrt formuliert: Die Geschichte einseitiger Ästhetisierung und der Verkürzung von Museum auf Kunstmuseum hat einen recht präzis zu benennenden Einstieg, der mit dem Aufblühen der bürgerlichen Kultur zusammenfällt. Wilhelm von Humboldt 14 Zit. nach STEMMLER (wie Anm. 6), S. 38. Original-Quelle nicht überprüfbar. 15 In: „Der Tagesspiegel“ (Berlin), 30.8.1981. Zit. nach Gottfried KORFF, Museumsdinge: deponieren – exponieren, hg. v. Martina EBERSPÄCHER, Köln u. a. 2002, S. 123. 16 KORFF (wie Anm. 15), S. 113.
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war ja in Berlin nicht nur als Universitäts-Gründer, sondern auch als MuseumsGründer tätig. 1833 ist ihm Hauptzweck von Museen die „Beförderung der Kunst“, die „Verbreitung des Geschmacks an der selben“ und „die Gewährung ihres Genusses“.17 Der gleiche Humboldt hatte sich noch 1799 gegenüber Goethe am Beispiel von Lenoirs Geschichtsmuseum ganz anders geäußert, mit einem „fast überschwenglichen Plädoyer für die historischen Erfahrungsmöglichkeiten, die das Arrangement authentischer Sachzeugen im Museum zu bieten imstande ist“ (Korff).18 Kohls Insistieren auf der „historischen Erinnerung, die den Menschen Halt und Orientierung geben kann – gerade in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird“19, auf Jacob Burckhardts Einsicht: „Nur aus der Betrachtung der Vergangenheit gewinnen wir einen Maßstab für die Geschwindigkeit und Kraft der Bewegung, in welcher wir leben“20, und sein Eintreten für das Museum als Ort solcher Erinnerung korrelierte also nicht mit der gängigen Verwendung des Begriffes Museum. Die Fachleute, insbesondere die Kunsthistoriker, konnten mit der Vorstellung eines „Semiophor“, wie der französische Museumstheoretiker Krysztof Pomian es ausdrückt, eines Zeichen- und Bedeutungsträgers, wenig anfangen. Rückblickend läßt sich sagen, dass Helmut Kohl jedenfalls, ob bewusst, sei hier nicht beurteilt, an der Spitze der neuen Museumsbewegung stand. Nur an einer Stelle hat die Geschichte in den Museen immer ihren Ort gehabt, in den Dorf- und Stadtmuseen – gerne als Heimatmuseen belächelt. Hier wurden schon im 19. Jahrhundert und eben das ganze 20. Jahrhundert hindurch die Artefakte aller Generationen und aller Lebensbereiche mit Liebe gesammelt und bewahrt. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Name des „Hauses der Geschichte“, wie wir ihn heute im Namen des Bonner „HdG der Bundesrepublik Deutschland“ wiederfinden, auf eine Diskussion im Bayerischen Landtag 1961 zurückgeht,21 also einer ganz bewusst Heimatverbundenheit und Modernisierung verschränkenden Region Deutschlands. Es ist kein Zufall, dass die erste erfolgreiche Landesausstellung – ein Jahr vor den Stuttgarter „Staufern“ – 1976 in Bayern stattfand: „Max Emanuel“ mit einem fähigen Kurator. Es ist kein Zufall, dass das Münchner Stadtmuseum in den 80er Jahren unter
17 Wilhelm von HUMBOLDT, Gegen Änderung des Museumsstatuts (14. Juni 1833), in: EBD. S. 115. 18 KORFF (wie Anm. 15), S. 116. 19 Helmut KOHL, Erinnerungen 1930–1982, München 2004 S. 100. 20 EBD. 21 1.12.1961. Nach Korff möglicherweise angeregt vom 1936 in Köln projektierten „Haus der Rheinischen Geschichte“, KORFF (wie Anm. 15) S. 27. Welche strukturellen Aufgaben von einer Bundeskulturpolitik zu bewältigen wären, habe ich 1998/99 für die Konrad-Adenauer-Stiftung einmal zusammengefasst, vgl. Zur aktuellen Diskussion um einen „Bundeskulturminister“, in: Kulturpolitische Umschau „Im Gespräch“ Hefte 2/3 und 3/4 (Juni 1998/März 1999), S. 74–84 und S. 90–105.
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einem fähigen Direktor schichtenübergreifend die Bevölkerung anzusprechen vermochte. Es ist kein Zufall, daß das DHM an diesem Stadtmuseums- und Landesgeschichte-Konzept anknüpfen konnte – denn dreimal handelt es sich um Christoph Stölzl. Kulturpolitisch daher bemerkenswert ist die hier zu beobachtende Verschränkung von Kommunal- und Bundesperspektive. Man macht Kohls Kulturpolitik den zentralen Vorwurf, sie sei nicht systematisch gebaut. Das ist richtig, sie ist vielmehr organisch gewachsen und hat ganz erstaunliche Verästelungen erfahren. Der Blick auf die (vom Grundgesetz bekanntlich nicht vorgesehene) KMK (die zwar so heißt, aber kaum über Kultur debattiert) macht deutlich, welchen Friktionen Kulturpolitik in Deutschland unterliegt. Welche strukturellen Aufgaben von einer Bundeskulturpolitik daher zu bewältigen wären, ist hier nicht weiter auszuführen. Aber diese Aufgaben, die unabhängig von der Trägerschaft zu beurteilen sind, erfordern in jedem Fall ein Zusammenwirken des Bundes mit den Ländern und eben den Kommunen, die nach wie vor einen überwiegenden Anteil der Kulturausgaben tragen. Wo genau eigentlich, wäre zu fragen, liegt der systematische Ort einer Bundeskulturpolitik im Verfassungszusammenhang unserer staatlichen und gemeindlichen Ebenen? Wäre ein Konnex zwischen Bundes- und Gemeindeebene möglicherweise – mit einem Verfassungsterminus gesprochen – ein Sachzusammenhang? Lemma V: Ära Kohl – Eine „Sahelzone“? Um das Bild wenigstens im Ansatz zu vervollständigen, abschließend noch einige kursorische Bemerkungen zu Themen, die ebenfalls hier einbezogen werden müssen: 1. Emanzipation von § 96 Bundeskulturpolitik (Förderung ostdeutscher Kultur) vor der Ära Kohl war wesentlich beschränkt auf den § 96 des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes (BVFG). Erst im Laufe der 80er Jahre kamen so viele neue Aufgaben dazu, dass eine Abspaltung (K II) von der K-Abteilung im BMI notwendig wurde, die ihrerseits auf das Bundesvertriebenen-Ministerium zurückgeht. Diese Emanzipation von § 96 war ein langer, noch heute institutionell nicht vollständig abgeschlossener Prozess. 2. Übergangsfinanzierung Ost Die zweitgrößte (warum zweitgrößte führe ich noch aus) Leistung der Ära Kohl war die Übergangsfinanzierung Ost im Gefolge des Einigungsvertrages. Angeregt durch Freimut Duve, August Everding und Kurt Masur (in einem noch zu klärenden Prioritätsverhältnis) wurde sie von Kohl persönlich aufge-
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griffen und führte zu einem Transfer von rund 3 Milliarden DM, eine historisch, soweit ich sehe, einmalige Leistung in der Kulturpolitik. Auf der Empfängerseite wurde dieser Transfer allerdings nur in einem einzigen Land für eine Neustrukturierung genutzt, im Freistaat Sachsen, ganz genau gesagt, von seinen Kommunen. Das von mir konzipierte und politisch durchgebrachte Gesetz über die Kulturräume in Sachsen vom 20. Januar 1994 hat die vom Einigungsvertrag empfohlene Verhinderung eines Abbruchs der Kulturstrukturen ermöglicht. 3. Die Konsequenzen der Wiedervereinigung Es lässt sich mit gutem Grund sagen, dass die Bedeutung der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in ihren kulturpolitischen Konsequenzen nicht hinreichend bedacht und zur Grundlage weiterführender Konzepte gemacht wurde. Ob etwa nach 1990 hinreichend viel getan wurde, um die Pflege der deutschen Sprache in Mitteleuropa nachhaltig zu fördern, erscheint aus heutiger Sicht zweifelhaft. Konsequenzen gäbe es z. B. für das 1959 aus einer Notlage entstandene Konstrukt der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Weniger durch den Einigungsvertrag als durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag und das entsprechende deutsch-polnische Abkommen ist hier eine grundsätzlich neue Situation für die Interpretation von Art. 135, 4 GG entstanden. Im Zusammenwirken mit der Republik Polen könnte sich der Bund, würde er dies wünschen, möglicherweise der Mitwirkung der Länder elegant entledigen. Das allerdings setzt eine grundsätzliche Neubestimmung des Begriffes der „Nation“ voraus. Hier ist nach wie vor ein simplifizierender Umgang zu konstatieren. Dies hat auch unmittelbare Auswirkungen auf den Begriff eines Deutschen Historischen Museums. Ich habe volles Verständnis, dass man nach rund zehnjähriger Debatte nicht den mühsam gefundenen Titel überdenken wollte. Aber nach der Erledigung der DDR war ein zentraler Impetus für die Gründung entfallen, und man hätte über die Schwierigkeit nachdenken können, dass „deutsch“ vor 1800 und „deutsch“ seit 1800 ganz unterschiedliche Dinge bedeuten. Als wichtigste kulturpolitische Leistung der Ära Kohl – und insofern stellt sie in der Tat eine Ära dar – aber ist die Verdreifachung der innerdeutschen Kulturausgaben von 1982 bis 1998, die einigungsbedingten Sonderausgaben gar nicht mitgerechnet, zu verzeichnen. Auf dem gleichen Blatt zu verzeichnen wäre, dass in eben dieser Ära ganz erstaunliche Kultur-Diskurse stattgefunden haben. Wenn Richard Wagner einmal sagte „Der Deutsche baue seine Tempel nur im Geist“, so gilt das mit Sicherheit für die Berliner: statt energisch zu bauen, diskutieren sie lieber mit noch größerer Energie. Die „Topographie des Terrors“ ist so gesehen längst gebaut. Niklas Maak hat anlässlich der Eröffnung des DHM 2003 treffend
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bemerkt: „Aber immerhin wurde es gebaut – das unterscheidet Helmut Kohls Grands Projets von Gerhard Schröders einzigem Großprojekt, dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, bei dessen Planung man sich so gründlich verrechnet hat wie Hans Eichel beim Bundeshaushalt.“22 Wenn wir zusammenfassend bewerten, wie Helmut Kohl diese Diskurse befördert hat, muss festgehalten werden, dass er im weitgehend von seinen politischen Gegnern bestimmten Diskurs seine Position beibehalten hat, wobei man allerdings zwischen der Periode von der Amtsübernahme 1982 bis zum Bremer Parteitag im September 1989 und der eher von Außenpolitik, Vereinigung und Finanzproblemen bestimmten Periode von den Montagsdemonstrationen im Oktober 1989 bis zur Wahlniederlage 1998 unterscheiden müsste. Wie er aber in diesen Diskursen standgehalten hat, das erinnert mich unwillkürlich an eine Geschichte, die man von Arnold Schönberg erzählt: Schönberg wurde eingezogen, ein General kommt zu Besuch, die Truppe steht stramm. Der General bleibt vor ihm stehen und fragt: „Schönberg. Schönberg. Sind Sie der..., der..., der Komponist?“ „Gestatten, Herr General, einer hat’s sein müssen.“ Der erste Staatsminister für Kultur der rot-grünen Koalition nach 1998, Michael Naumann, hat das Wort von der „Sahelzone“ geprägt, in die die Kultur in der Ära Kohl angeblich geraten sei. Das Gegenteil gilt: Die Kulturpolitik der Ära Kohl hält einer kritischen Beurteilung durchaus Stand.
22 FAZ, 25.5.2003.
Einführung Von Günter Buchstab Die Umweltpolitik in den Jahren 1982 bis 1998 führt als Gegenstand kritisch prüfender Geschichtsforschung bisher ein Schattendasein. Im Vordergrund vor allem politikwissenschaftlicher Analysen stehen „die Erarbeitung und Analyse von Zielen, Prinzipien und Steuerungsformen der Umweltpolitik sowie die Bewertung implementierter umweltpolitischer Maßnahmen“1. Umfassende Untersuchungen unter historischer Perspektive, die die Voraussetzungen, Konfliktlinien, Inhalte, Ergebnisse, aber auch mögliche Versäumnisse der im Oktober 1982 ins Amt gekommenen Bundesregierung bis 1998 systematisch behandeln, liegen nicht vor, sieht man von einigen „vorläufigen Bilanzen“ ab.2 So sicher heute ist, dass 1945 keine „Stunde Null“ war, bei der Geschichte von Grund auf neu begann, wie die Zeitgenossen vielleicht glauben mochten, so sicher ist, dass auch 1982 nicht die Umweltpolitik neu erfunden worden ist. Auch hier reichen die Kontinuitätslinien in die Vergangenheit zurück, hat doch schon der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Franz Meyers Anfang der 60er Jahre den blauen Himmel über der Ruhr gefordert, bevor dieses Diktum Willy Brandt zugeschrieben wurde. Die SPD/FDP-Regierung hatte 1969 durchaus mit einem umweltpolitischen „Feuerwerk“ begonnen und u. a. 1971 einen Sachverständigenrat für Umweltfragen berufen und 1974 das Umweltbundesamt eingerichtet. Doch mit der ersten Ölpreiskrise und der anschwellenden Arbeitslosigkeit verpuffte dieses Feuerwerk der Reformlust erst einmal. Die Bevölkerung zeigte sich bei Befragungen extrem unzufrieden mit der damaligen Umweltpolitik. Auch in der Union grummelte es vernehmlich. Erinnert sei nur an Herbert Gruhl, der sich schon Ende 1970 in einer ersten großen Debatte im Bundestag zum Umweltschutz zu Wort meldete. Zwar hatte Bayern bereits 1970 als erstes Land ein Umweltministerium eingerichtet und sich 1971 in der CDU/CSU-Fraktion eine Parlamentariergruppe für Umweltfragen sowie im gleichen Jahr ein Unterausschuss „Umweltfragen“ im CDU-Bundesfachausschuss Strukturpolitik konstituiert, auch hatten CDU und SPD 1979 Umweltprogramme verabschiedet. Das gesellschaftliche Un1 2
So Jürgen GROS, Politikgestaltung im Machtdreieck Partei, Fraktionen, Regierung. Zum Verhältnis von CDU-Parteiführungsgremien, Unionsfraktion und Bundesregierung 1982– 1989 an den Beispielen der Finanz-, Deutschland- und Umweltpolitik, Berlin 1998, S. 60. Z.B. Helmut WEIDNER, Die Umweltpolitik der konservativ-liberalen Regierung. Eine vorläufige Bilanz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 47–48 (1989), S. 16–28; Helmut WEIDNER/Martin JÄNICKE, Vom Niedergang eines Vorreiters. Eine umweltpolitische Bilanz der Ära Kohl, in: Göttrik WEWER (Hg.), Bilanz der Ära Kohl, Opladen 1998, S. 201–228. Neuerdings Andreas WIRSCHING, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 361–392.
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behagen ließ sich damit aber nicht dämpfen. Es wurde bestärkt durch eine Reihe von Umweltkatastrophen und artikulierte sich vor allem in Bürgerinitiativen und jenem Teil der ökologischen Bewegung, der zu militantem Protest neigte. Die Unzufriedenheit führte auch zur Gründung neuer Parteien – wie der GRÜNEN, die bald in den Landtagen vertreten waren und 1983 in den Bundestag einzogen, oder der 1981 entstandenen, aber weniger erfolgreichen ÖDP –, die sich diesem Politikfeld annahmen. Festgehalten werden muss allerdings vor dem Hintergrund der Aktivitäten der Regierungen in Bund und Ländern, dass die „ökologische Frage“ keineswegs nur ein Reservat einer alternativen Bewegung war. Als die Regierung Kohl 1982 ihr Amt antrat, bezeichneten der Bund Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) dennoch den Regierungswechsel als „Schwarzen Freitag der Umweltpolitik“. Allerdings strafte der neue Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann derartige Unkenrufe Lügen, bezeichnete er doch unmittelbar nach dem Regierungswechsel am 14. Oktober 1982 im Bundestag den Schutz der Umwelt neben der Sicherung des Friedens als die wichtigste Aufgabe unserer Zeit und ging diese Aufgabe mit großem Elan an. Schon 1983 paukte er mit der Großfeuerungsanlage die europaweit schärfsten Vorschriften zur Entstickung und Entschwefelung der Abgase aus hohen Schornsteinen durch. 1985 folgte die Abgasentgiftung durch Katalysatoren. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986 war für Bundeskanzler Helmut Kohl der Grund, die bisher auf das Innen-, Landwirtschaftsund Gesundheitsministerium verteilten Umweltkompetenzen zu bündeln. Sie wurden am 6. Juni 1986 im neueingerichteten Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zusammengefasst. Noch im Dezember dieses Jahres wurde das Strahlenschutzvorsorgegesetz erlassen, 1989 die Einleitung von Dünnsäure in die Nordsee verboten, 1990 die Abfallverbrennung auf hoher See eingestellt, 1990 – zwei Jahre vor Rio – Maßnahmen gegen den Treibhauseffekt, die Erwärmung der Erdatmosphäre, getroffen, 1991 die Deutsche Bundesstiftung Umwelt eingerichtet; 1994 erfolgte schließlich die Einführung des Umweltschutzes als Staatszielbestimmung in das Grundgesetz, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine besondere Herausforderung stellte schließlich die ökologische Sanierung der neuen Bundesländer dar; sie wurde viel schneller erreicht, als man dies angesichts katastrophaler Ausgangsbedingungen erwarten konnte. Entgegen aller Erwartungen war also die Umweltpolitik doch wohl ein Aktivposten der Kohl-Ära.
Ein neues Politikfeld – Eine Bilanz aus Sicht der Wissenschaft11 Von Helmut Weidner Die moderne deutsche Umweltpolitik – im Sinne eines eigenständigen, institutionalisierten Politikfeldes – ist ein Kind der sozial-liberalen Regierungskoalition. Insofern hatte sie schon eine rund 13-jährige Entwicklungsgeschichte hinter sich, als die so genannte Ära Kohl im Jahr 1982 begann. Verglichen mit anderen Politikressorts war sie demnach „blutjung“. Ihr Profil hatte die Umweltpolitik durch das damals zuständige FDP-geführte Innenministerium bekommen, wo sich eine kleine Gruppe hoch engagierter und kompetenter Mitarbeiter der neuen Thematik annahm. Wesentliche Impulse zur Politikgestaltung kamen aber auch aus dem parlamentarischen Bereich, so insbesondere von der bereits 1952 gegründeten „Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft für naturgemäße Wirtschaftsweise“ (IPA), einem Zusammenschluss von Länder- und Bundesparlamentariern. Einige Eckpfeiler der Umweltpolitik, etwa das „Sofortprogramm“ von 1970, waren sogar das Werk einer „Allparteien-Koalition“. Eine Umweltbewegung im eigentlichen Sinn gab es damals noch nicht, der Einfluss von Naturschutzverbänden auf die Politikgestaltung war eher gering; wichtiger waren Anregungen von damaligen umweltpolitischen Pionierländern wie USA, Schweden, teilweise auch Japan. Einen gewissen Einfluss hatte auch die „Systemkonkurrenz“ mit der DDR, wo schon 1968 der Schutz der Umwelt Verfassungsrang erhalten hatte, im Jahr 1970 ein Umweltrahmengesetz erlassen und 1971 eine Art Umweltministerium gegründet worden war. Der weitgehend bloße Symbolcharakter dieser Institutionen braucht hier nicht näher erläutert zu werden. 1. Die umweltpolitische Ausgangslage Die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl trat ihr Amt in einer umweltpolitisch höchst turbulenten Zeit an. Sie war insbesondere durch einen weit verbreiteten Verlust an Vertrauen in den Problemlösungswillen der staatlichen Umweltpolitik geprägt. Auch ihre Problemlösungskapazität wurde stark bezweifelt. Obgleich in den vergangenen Jahren, und teils in beeindruckender Geschwindigkeit, ein auch international anerkannter breiter institutionellrechtlicher Sockel geschaffen worden war, erschien vielen der Grundansatz („Politikstil“) weitgehend verfehlt, um drängende Umweltprobleme zufrie-
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Belegende und weiterführende Literatur enthält die abschließende Literaturliste, darunter insbesondere eigene Veröffentlichungen zum Thema.
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denstellend lösen zu können. Dieser Politikstil wurde, besonders aus Kreisen der Wissenschaft, als hierarchisch, bürokratisch-regulativ, medial-selektiv, kurativ-„entsorgungstechnisch“ und im Ergebnis als ineffizient kritisiert. Während in der Gesellschaft die Meinung vorherrschte, dass die staatliche Umweltpolitik von wirtschaftlichen Interessen dominiert sei, kam aus Wirtschaftskreisen massive Kritik an vermeintlich wirtschaftsschädigenden umwelt-politischen Überreaktionen des Staates und gegen sein unökonomisches Instrumentarium. Diese schwierige Ausgangslage muss berücksichtigt werden, um die Leistungen der neuen Regierung angemessen beurteilen zu können. Die „umweltpolitische Großwetterlage“ zu Beginn der Ära Kohl war noch von weiteren Faktoren beeinflusst, von denen hier nur die wichtigsten stichwortartig genannt werden: – Die öffentliche Debatte zum sauren Regen und „Waldsterben“, verbunden mit Themen wie etwa der Gesundheitsschädigung durch innerstädtische Umweltbelastungen (beispielsweise Pseudokrup), hatte einen solchen Höhepunkt erreicht, dass Deutschland im Ausland verschiedentlich als „Weltmeister in Umweltangst“ bezeichnet wurde. – Wenngleich wirtschaftliche Aufschwungzeichen zu sehen waren, gab es doch noch starke Nachwirkungen der Ölpreiskrise von 1973/74, die es vor allem erschwerten, strengere Emissionsgrenzwerte im Industrie- und Kraftwerksbereich durchzusetzen. – In den öffentlichen Medien waren Umweltprobleme ein zentrales Thema, wobei in der Tendenz Katastrophenmeldungen überwogen und sehr kritisch über staatliche Umweltpolitik berichtet wurde. – Aus der häufig in die öffentliche Umweltdebatte eingreifenden „scientific community“ kamen zunehmend kontroverse Problemanalysen und -lösungsvorschläge, die zum wachsenden Misstrauen in die Objektivität und Neutralität wissenschaftlicher Experten, ja zur generellen Infragestellung der ökologischen Kompetenz etablierter Wissenschaft beitrugen. Im Konfliktfeld hatte die Umwelt- und Antikernenergie-Bewegung einen großen Aufschwung erlebt, zahlreiche Bürgerinitiativen und Umweltorganisationen waren entstanden, und vormals eher „bedächtige“ Naturschutzorganisationen politisierten sich; insgesamt kam es zu einer breiten Organisation gesellschaftlicher Umweltinteressen. Die etablierten Parteien bekamen parteipolitische Konkurrenz, zunächst auf der Kommunal- und Landesebene, dann auf Bundesebene. Die „Grüne Partei“ bekam in der Bundestagswahl 1980 nur 1,5 Prozent der Stimmen, doch Ende 1982 waren Abgeordnete von „Grünen Parteien“ in sechs Landtagen vertreten, und 1983 zogen sie schließlich in den Bundestag ein. Insgesamt war die umweltpolitische Großwetterlage in den achtziger Jahren unübersichtlicher, konfliktiver, teils militanter geworden. Das Spannungsver-
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hältnis zwischen Ökologie und Ökonomie wurde nunmehr von relevanten Teilen der Umweltbewegung als ein struktur- und systemimmanenter Konflikt thematisiert, der nur durch radikale Systemänderung und nicht durch eine „Versöhnung“ zugunsten des Umweltschutzes gelöst werden könne. 2. Umweltpolitik unter der Regierung Kohl In dieser politisch aufgeheizten, sich radikalisierenden Situation kam nun eine konservative, wirtschaftsnahe Regierung ins Amt. Vielen schien ausgemacht, dass in der Umweltpolitik nun noch mehr gebremst würde. Diese Befürchtungen schienen sich erst einmal zu bestätigen: Für den Umweltschutz zuständig wurde der als erzkonservativ wahrgenommene CSU-Abgeordnete Friedrich Zimmermann, und in der Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 streifte Bundeskanzler Kohl nur kurz den Umweltschutz, dabei betonend, dass seine Regierung das „Eigeninteresse der Wirtschaft am Umweltschutz stärken“ wolle.2 2.1 Ein verheißungsvoller Auftakt Doch schon die Rede von Innenminister Zimmermann im Bundestag am 14. Oktober ließ nicht nur Umweltbewegte aufhorchen, ganz besonders der Satz: „Umweltschutz ist neben der Vermeidung kriegerischer Konflikte die wichtigste Aufgabe der Menschheit in den nächsten Jahren.“ Und ganz anders, als man es gemeinhin von der staatlichen Umweltrhetorik erwartete, folgten dieser Rede rasch Taten, die wie Paukenschläge wirkten, im Inland wie im Ausland. Der Schwerpunkt der Aktivitäten lag zunächst auf dem Bereich der besonders strittigen Luftreinhaltepolitik. Zwei Maßnahmen ragten heraus: Schon wenige Monate nach Amtsantritt wurde die so genannte Großfeuerungsanlagen-Verordnung erlassen. Sie enthielt die europaweit strengsten Vorschriften zur Emissionsbegrenzung für Kraftwerke und große Industriefeuerungsanlagen. Etliche Länder, und dann auch die Europäische Gemeinschaft, haben diese Regelungen später übernommen. Bei der überaus schnellen Behandlung der äußerst komplizierten Materie kamen dem Innenminister die mehr als fünfjährigen Vorarbeiten der Umweltadministration zugute, die mangels politischer Unterstützung „schubladisiert“ worden waren. Im Juli 1983 machte der Innenminister einen überraschenden Vorstoß, die in den USA geltenden PKW-Abgasgrenzwerte als EG-Richtlinie durchzusetzen. Damit löste er großen Wirbel in der deutschen Automobilindustrie und 2
Heute gilt die Stärkung des Eigeninteresses der Wirtschaft am Umweltschutz als conditio sine qua non für eine erfolgreiche Umweltpolitik, in der damaligen politischen Atmosphäre wurde diese Aussage hingegen als Rückzug des Staates aus seinen umweltpolitischen Pflichten zugunsten wirtschaftlicher Interessen interpretiert.
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in anderen EG-Mitgliedsländern aus. Nicht zuletzt aufgrund strategischer Ungeschicklichkeiten des Innenministers verzögerte sich die Umsetzung, doch letztlich wurde mit dieser „Hauruck-Strategie“ der Weg für die Einführung des Abgaskatalysators in Europa geebnet, und zwar gegen eine große, machtvolle Interessenkoalition aus Automobilindustrie, Automobilverbänden und ihren Unterstützern in Politik und Wissenschaft in Deutschland und in anderen automobilproduzierenden europäischen Ländern. Die einschneidenden Maßnahmen gegen zwei Mitglieder aus der Gruppe der mächtigsten und „umweltpolitikresistentesten“ Industriebranchen brachten dem Innenminister im Lande viel Anerkennung, auch von politischen Gegnern. Die Maßnahmen trugen nicht nur zur Umweltentlastung bei, sondern auch entscheidend zur Dynamisierung der EG-Umweltpolitik. Deutschlands umweltpolitische Reputation stieg im Ausland erheblich an, andere Länder, die eine fortschrittliche Umweltpolitik betreiben wollten, beriefen sich nunmehr neben den USA und Japan immer mehr auf die Bundesrepublik. Bahnbrechende Zeichen wurden auch in der internationalen Umweltpolitik gesetzt: Im Juni 1984 richtete die Bundesregierung in München eine multilaterale Umweltkonferenz aus, die wesentlich dazu beitrug, dass es zu international koordinierten und wirkungsvollen Maßnahmen gegen den „sauren Regen“ kam, an denen sich nun auch mittel- und osteuropäische Staaten beteiligten. Dies galt als eine beachtenswerte und umweltpolitisch höchst dringliche Leistung, wenn man die bis dahin sehr heftigen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West auf den verschiedenen internationalen Umweltbühnen bedenkt. Diesem verheißungsvollen Auftakt und der bis heute bestehenden Vorreiterrolle in wichtigen Bereichen der Luftreinhaltepolitik standen aber auch erhebliche Defizite gegenüber, die im Zeitablauf an Bedeutung in der umweltpolitischen Diskussion gewannen. Exemplarisch hierfür seien genannt: Die Ablehnung einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen entgegen dem klaren internationalen Trend; im Natur- und Bodenschutz gab es nur schwache Regelungen, die eine Situationsverschlechterung nicht aufhalten konnten, behindernd wirkte hierbei insbesondere die so genannte Landwirtschaftsklausel; und schließlich verfolgte die Regierung einen konsequent „atomfreundlichen“ Kurs, der zur gesellschaftlichen Polarisierung beitrug. Letzteres führte nach der Tschernobyl-Katastrophe Ende April 1986 zu einem rapiden Verlust des Vertrauens in die umweltpolitische Kompetenz des Innenministers, der für Strahlenvorsorge zuständig war. Hierauf reagierte die Regierung mit recht großem politischen Raffinement: Schon rund einen Monat nach der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl, am 5. Juni 1986, wurde das Bundesministerium für Umwelt, Natur und Reaktorsicherheit (BMU) gegründet, womit symbolisch ein umweltpolitischer Neuanfang signalisiert wurde. Sicherlich hatten die unmittelbar bevorstehende Landtagswahl in Niedersach-
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sen und die für Januar 1987 anstehende Bundestagswahl ebenfalls Einfluss auf diese Entscheidung. Mit Walter Wallmann wurde allerdings ein nicht in Umweltfragen ausgewiesener Politiker zum ersten Bundesumweltminister ernannt. Dessen kurze und insgesamt wenig bemerkenswerte Amtsperiode ging zu Ende, als er hessischer Ministerpräsident wurde. Im Mai 1987 wurde Klaus Töpfer zum Bundesumweltminister ernannt. Er war Umweltminister von Rheinland-Pfalz gewesen, Inhaber eines Lehrstuhls für Raumordnung und Landesplanung und Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen – mithin ein ausgesprochener und bekannter Umweltexperte. Mit seiner Amtsübernahme kam wieder frischer Wind in die Umweltpolitik. Er trat von Anbeginn sehr aktiv und medienorientiert auf. In seiner Amtszeit bis 1994 wurden wichtige Durchbrüche in der Umweltpolitik erzielt. Besonders hervorhebenswert sind die Konzepte zum Schutz von Nord- und Ostsee, die Erweiterung des Umwelthaftungsrechts, die Störfallverordnung, die steuerliche Förderung schadstoffarmer Automobile, die Einstellung der Abfallverbrennung auf hoher See sowie der Einleitung von Dünnsäure in die Nordsee, die FCKW-Ausstiegsregelung (Deutschland war das erste Land weltweit, das Produktion und Verwendung des die Ozonschicht schädigenden FCKW einstellte), das Verbot von bleihaltigem Benzin, die Verpackungsverordnung und vor allem das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, das „Blaupause“ für Regelungen in etlichen anderen Ländern wurde. Einige der Regelungen und Maßnahmen in der Amtszeit Töpfers hatten das Potenzial, den einengenden konventionellen Handlungsrahmen der Umweltpolitik zu sprengen und neue Wege für eine effektivere Umweltpolitik zu öffnen. Das 1990 vorgelegte Konzept zur Verminderung von CO2-Emissionen enthielt im internationalen Vergleich die mit am weitestgehenden Zielsetzungen. Die Ost-West-Umweltaktivitäten wurden ausgebaut: Nach dem Honecker-Staatsbesuch in Bonn intensivierte sich (ab 1987) die deutsch-deutsche Umweltkooperation, später auch mit anderen Ländern wie Cˇ SSR, Ungarn, Bulgarien und UdSSR. 2.2 Umweltpolitik nach der Vereinigung Der deutsche Vereinigungsprozess nach 1989 dominierte verständlicherweise die Regierungspolitik in der Anfangsphase, gleichwohl kam es zunächst nicht zu einem umweltpolitischen Rückschlag oder Stillstand. Im Rahmen der „Umweltunion“ (1. Juli 1990) wurden trotz der teilweise desaströsen Umweltzustände in der ehemaligen DDR sehr weitreichende Ziele gesetzt. Der Einigungsvertrag strebte an, die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, mindestens jedoch auf dem in der Bundesrepublik erreichten Niveau zu fördern. Diese Programmatik wurde von großen Finanzmitteltrans-
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fers und vielfältigen Fördermaßnahmen gestützt, beispielsweise durch die Ausrichtung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) auf Umweltsanierungsaufgaben, wofür zeitweilig rund 100.000 ABM-Stellen zur Verfügung standen. Ein Teil der hohen Sanierungskosten war selbstverschuldet, gab es doch bis dahin einen regen Müllexport von West nach Ost, obwohl das niedrige entsorgungstechnische Niveau in der DDR allgemein bekannt war. Auf breiter Ebene wurden Umweltqualitätsverbesserungen erzielt, wenn auch häufig in ineffizienter Weise. Hierzu trug bei, dass das bundesdeutsche Umweltrecht den fünf neuen Bundesländern weitgehend „übergestülpt“ worden war. Damit wurde nicht zuletzt die Chance vertan, im Zuge des Vereinigungsprozesses die umweltpolitischen Verkrustungen, die allseits bekannt waren, systematisch zu beheben – stattdessen wurden durch so genannte Beschleunigungsgesetze die ökonomischen gegenüber ökologischen Interessen gestärkt. Hierzu gehört auch der Stromvertrag von 1990, durch den der Einfluss von drei westdeutschen Energieversorgungsunternehmen auf die gesamte Stromerzeugung und -verteilung im Beitrittsgebiet gesichert und eine politisch gesteuerte energiepolitische Wende nicht mehr realisierbar schien. Auf das Ergebnis der Bundestagswahl von 1994 wirkte sich dies alles jedoch nicht weiter hinderlich aus, was großenteils auf neue Prioritäten in der politisch-gesellschaftlichen Debatte zurückgeführt werden kann. Die Nachfolge von Klaus Töpfer trat Angela Merkel an. Wenn im Rückblick die Amtszeit von Minister Töpfer – insbesondere wegen seiner Leistungen auf der internationalen Umweltpolitikebene – manchmal in einem etwas verklärten Licht gesehen wird, darf darüber nicht vergessen werden, dass es auch erhebliche Defizite gab, so etwa beim Vollzug des Chemikaliengesetzes, beim Bodenschutz und bezüglich der Sanierung von Altlasten. Die Kernenergiepolitik blieb weiterhin stark strittig. Minister Töpfer beherrschte auch die Klaviatur der symbolischen Umweltpolitik, wie sich u. a. bei der Diskussion um die Einführung ökonomischer Instrumente schon 1989 zeigte: Im Sommer 1989, kurz vor der saarländischen Landtagswahl, startete eine hitzige Debatte um ökonomische Instrumente (speziell Öko-Steuern und Umweltabgaben), ausgelöst durch einen entsprechenden Vorschlag des saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine. In diese Debatte stieg Umweltminister Töpfer als damaliger CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl unverzüglich ein und erklärte Abgabensysteme zu einem Muss für eine rationale Umweltpolitik. In der Folgezeit hatte das aber keine politisch-praktischen Konsequenzen. Als bei der öffentlichen Präsentation des Umweltgutachtens des Sachverständigenrates für Umweltfragen im Jahr 1994 der Ratsvorsitzende ein allmähliches Ansteigen des Benzinpreises bis zum Jahr 2005 auf 4 bis 5 DM befürwortete und es hierauf äußerst heftige Kritik von Wirtschaftsverbänden und Medienschelte gab, distanzierte sich Minister Töpfer rasch von diesem Vorschlag. Es wurde in diesem Zusammenhang kolportiert,
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dass Bundeskanzler Kohl den Wirtschaftsverbänden zugesichert hatte, eine Öko-Steuer nicht einzuführen. Aufgrund zunehmenden Widerspruchs zwischen vollmundigen umweltpolitischen Ankündigungen und schwacher Realisierung gab es besonders in den Medien eine zunehmend skeptische Sichtweise auf Umweltminister Töpfer, der u. a. als „Ankündigungsminister“ bezeichnet wurde. Diese Kritik war in ihrer Schärfe überzogen. Sie deutet auf eine unberechtigte Geringschätzung bzw. auf Unverständnis wichtiger Funktionen symbolischer politischer Handlungen hin. Diese sind manchmal das adäquate Mittel, fehlende parlamentarische oder parteipolitische Hausmacht zu kompensieren oder den Einfluss machtvoller Interessenorganisationen zu konterkarieren, um brisante Umweltthemen auf die politische Agenda zu bekommen. (Das spätere Beispiel des Konzeptes der „nachhaltigen Entwicklung“ zeigt recht deutlich die Defizite einer fehlenden öffentlichkeitswirksamen Kommunikationsstrategie: Bis zum heutigen Tag geht vom Konzept der nachhaltigen Entwicklung, trotz seiner staatlichen Institutionalisierung – und ähnlich wie im Falle des Konzeptes der „Lokalen Agenda 21“ – eine negierbar geringe öffentliche Mobilisierungswirkung aus.) 2.3 Umweltpolitik seit 1994 unter Angela Merkel Die Amtszeit von Umweltministerin Merkel fand im Schatten neuer politischer Prioritäten statt, geprägt durch Massenarbeitslosigkeit, öffentliche Verschuldung und die so genannte Standortdiskussion. Es gewann eine breite Globalisierungsdebatte an Gewicht, die sich gegen den Umweltschutz richtete. Auch in der Gesellschaft sank der Stellenwert von Umweltschutz, blieb aber auf hohem Niveau. Im Unterschied zur erheblichen Verlangsamung des umweltpolitischen Weiterentwicklungsprozesses und zu restriktiven Teilmaßnahmen auf nationaler Ebene wurde jedoch weiterhin eine progressive internationale Umweltpolitik betrieben. Diese unterstützte, wenn große Hürden im Wege standen, der Bundeskanzler politisch und medienbezogen sehr wirksam: Es war beispielsweise Helmut Kohl, der 1988 auf der Toronto-Konferenz den Klimawandel zum politischen Problem Nummer eins erklärte und ebenfalls das sehr anspruchsvolle Ziel der Absenkung der CO2-Emissionen um 25 Prozent unterstützte. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1989 setzte er durch, dass Umweltschutz als ein vorrangiges Ziel auf die Tagungsagenda gesetzt wurde. Dem Umwelt-Weltgipfel in Rio de Janeiro 1992 gab er politisch Gewicht, mehr als jeder andere der zahlreichen anwesenden Regierungschefs. Dort betonte Bundeskanzler Kohl insbesondere die Notwendigkeit von Generationengerechtigkeit, indem er darauf verwies, dass unsere Kinder und Enkel unser Handeln in erster Linie daran messen würden, ob wir heute unseren Verpflichtungen zur Bewahrung der Schöpfung nachkommen. Selbst die stark regierungskri-
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tische Tageszeitung taz schrieb anlässlich der wichtigen Klimakonferenz in Berlin 1995 (die den Weg frei machte für das so genannte Kyoto-Protokoll zwei Jahre später), der Kanzler habe „die richtige Rede mit richtigen Zielen an die richtige Adresse“ gehalten und lobte die gute Zusammenarbeit zwischen Umweltministerin und Umweltaktivisten. Michaele Hustedt, die damalige Umweltsprecherin der Bündnisgrünen, hob später den „kämpferischen Einsatz“ von Umweltministerin Merkel auf der wichtigen Klimasitzung in Kyoto 1997 hervor; diesem Tenor schlossen sich die deutschen Umweltverbände weitgehend an. Gleichwohl muss in diesem Zusammenhang auch die schon erwähnte Rolle des Bundeskanzlers bei der Verhinderung einer CO2-/Klimaabgabe genannt werden. Im Übrigen weist die harte Ablehnung von Umweltsteuern oder -abgaben gerade in Wirtschaftskreisen auf ein generelles Muster in der deutschen Umweltpolitik hin: Zwar gehörte die scharfe Kritik an der „regulativen Umweltpolitik“ zum Standardrepertoire von vielen Wirtschaftsvertretern, doch richtete sich der härteste Widerstand in aller Regel gegen staatliche Vorstöße, ökonomische Instrumente einzuführen. Insgesamt kann man, stark zusammenfassend, zur Amtszeit von Ministerin Merkel sagen: Trotz des vom Sachverständigenrat für Umweltfragen festgestellten „scharfen Gegenwindes“, der seit der tiefen Wirtschaftsrezession der Umweltpolitik ins Gesicht blies, kam es zu keinen fundamentalen Rückzügen, die etwa dem unter US-Präsident Reagan stattgefundenen umweltpolitischen Kapazitätsabbau vergleichbar wären. Die Umweltministerin förderte hingegen mit persönlichem Engagement eine anspruchsvolle Weiterentwicklung des Konzeptes der nachhaltigen Entwicklung, doch blieben diese Bemühungen institutionell weitgehend erfolglos. Zum Ende ihrer Amtszeit war es aber doch zu einer erheblichen Verlangsamung des Prozesses umweltpolitischer Weiterentwicklung gekommen, und eine systematisch-strategische Fundierung der internationalen Umweltpolitik im nationalen Politikrahmen war trotz der bemerkenswerten und international hoch anerkannten „Umweltaußenpolitik“ nicht erreicht worden. Hierauf werde ich noch kurz zurückkommen. 3. Beurteilung und Charakterisierung der Umweltpolitik Die Bewertung dieses komplexen Politikgebietes muss hier ein wenig knapp und holzschnittartig ausfallen. Es gibt viele wissenschaftlich abgesicherte und anerkannte Bewertungskriterien für umweltpolitische Leistungen, die alle ihre Berechtigung haben, doch steht an vorderster Stelle in aller Regel die Frage nach den erzielten Effekten. Hier sei nur auf einige der wichtigsten Punkte hingewiesen: Es war, anders als in vielen anderen Industrieländern, eine Entkopplung des Energieverbrauchs vom Wirtschaftswachstum erzielt worden, und in zahlreichen Bereichen der konventionellen Umweltpolitik (etwa Luftreinhaltung, Abfallbeseitigung, Gewässerschutz) gehörte die Bundesrepublik
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zur Gruppe der Vorreiterländer im internationalen Vergleich. Bei allen für eine erfolgreiche Umweltpolitik wichtigen Kapazitätselementen (institutionellrechtlichen, technologischen und kognitiv-informationellen Kapazitäten) war ein Entwicklungsstand erreicht worden, der im internationalen Vergleich weit vorne rangierte. Hierzu gehört beispielsweise auch die 1990 gegründete deutsche Bundesstiftung Umwelt, die mit einem Stiftungskapital von über 1 Mrd. Euro europaweit die größte Stiftung ist. Die gute Platzierung im internationalen Vergleich kann allerdings nur partiell der staatlichen Umweltpolitik zugeschrieben werden: Einen guten Anteil daran hatten direkt und indirekt gesellschaftliche Akteursgruppen, Wissenschaft, umweltpolitisch progressive Kommunen, Bundesländer und „grüne Unternehmen“. Schließlich ist auch der Einfluss der politischen Opposition nicht unerheblich gewesen: SPD und „Grüne“ profilierten sich als ökologische Modernisierungsparteien und trugen damit zur Belebung der umweltpolitischen Konkurrenz bei. Im Bereich des umweltpolitischen Instrumentariums sind ambivalente Ergebnisse zu verzeichnen: Es wurden zwar moderne, vor allem kooperationsorientierte Regelungssysteme gefördert (Umweltvereinbarungen, Selbstverpflichtungen der Industrie), doch mit der notwendigen systematischen Überprüfung oder gar Sanktionierung im Rahmen dieses flexiblen Instrumentariums haperte es stark. Hinsichtlich ökonomisch flexibler und effizienter Instrumente wurde kein eigentlicher Durchbruch erzielt. Im Wesentlichen dominierte weiterhin das hierarchisch-regulative Instrumentarium, darunter befinden sich auch Regelungen, die später aus der Oppositionsrolle heraus stark kritisiert werden, z. B. die hohen öffentlichen Fördermittel für alternative Energien sowie die Einführung der so genannten Fremdstromeinspeisung, die mit lukrativen Festpreisen zu einem Boom der Windenergie beitrug (Deutschland wurde 1997 Welt-Spitzenreiter auf diesem Gebiet).3 Es fand keine grundlegende Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes statt, wie überhaupt die so genannten schleichenden, komplexen Probleme, für die keine technischen Lösungen verfügbar waren (etwa Biodiversitäts- und Naturflächenschwund) politisch weitgehend unbearbeitet blieben. Aus einer ökologischen Perspektive kann man sagen, dass die Umweltpolitik vorrangig die niedrig hängenden Früchte geerntet hatte, was dennoch politisch mit erheblichen Konflikten verbunden gewesen war. Der regulative, medial und technikorientierte Ansatz wurde nicht zu einem integrativen, d. h. insbesondere die verschiedenen, funktional zusammenhängenden Politikfelder verbindenden Ansatz weiterentwickelt; dem Umweltministerium waren hierfür wichtige Kompetenzen nicht gegeben worden (etwa in der Chemie- und Energiepolitik sowie im Naturschutz). 3
Anders als die meisten anderen Gesetzesvorlagen war das Stromeinspeisungsgesetz von 1991 vom Parlament eingebracht und von einer parteiübergreifenden Mehrheit verabschiedet worden.
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In gewisser Weise erstaunlich ist, dass sich weltweit rasch verbreitende neue umweltpolitische Paradigmen (insbesondere „nachhaltige Entwicklung“ und „Lokale Agenda 21“) von der Regierungspolitik nicht effektvoll aufgegriffen wurden, trotz der überaus großen Unterstützung des so genannten Rio-Prozesses durch Umweltminister und Bundeskanzler. Deutschland wurde damit ganz klar zu einem Nachzügler in der Nachhaltigkeitspolitik, was übrigens für geraume Zeit unter der nachfolgenden „rot-grünen Regierung“ so blieb. Und schließlich wurden in der gesellschaftspolarisierenden Kernenergiepolitik, vor allem zur Frage der langfristigen Entsorgungssicherheit, keine Durchbrüche oder stabile soziale Befriedungen erzielt. Die Leistungen auf dem Gebiet der internationalen Umweltpolitik in der Ära Kohl sind als ambivalent zu bezeichnen. Es gab, wie erwähnt, sehr wichtige Anstöße sowohl für die internationale Umweltpolitik (auch der Einbezug von Umweltthemen auf den so genannten Gipfeltreffen der Staatsführer der Industrieländer war weitgehend dem Drängen des deutschen Bundeskanzlers zu verdanken) als auch zur Weiterentwicklung der Umweltpolitik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft. Beides wurde aber nicht zu einer systematischen supranationalen bzw. globalen Umweltpolitikstrategie ausgebaut. Darüber hinaus gehörte die Bundesrepublik in manchen Bereichen der EG-Umweltpolitik zu den Bremsern oder Nachzüglern, dies betrifft beispielsweise die Umweltverträglichkeitsprüfung, das Umweltinformationsgesetz und das Umwelt-Audit-Gesetz. Man kann deshalb von einem gewichtigen umweltpolitischen internationalen Strategiedefizit sprechen. Das ist besonders bemerkenswert, denn die Bundesrepublik war und ist aufgrund ihres ökologischen und wirtschaftlichen Verflechtungsgrades sowie ihrer Exportorientierung stärker als viele andere Länder von umweltrelevanten internationalen oder EG-Entscheidungen betroffen. Die von ihr maßgeblich angestoßene Dynamik nutzt die Regierung nicht im Sinne der so genannten „first mover advantages“. Andere Länder, die längst nicht das „umweltpolitische Schwergewicht“ der Bundesrepublik hatten, taten dies viel gezielter zur Gestaltung der internationalen Umweltpolitik in ihrem Sinne; das gilt etwa für Großbritannien im Falle der „Konkurrenz der Regulierungssysteme“ auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft. 4. Ein kurzes Fazit Entgegen allen Erwartungen ist die Umweltpolitik insgesamt ein Aktivposten der Regierung Kohl geworden. Doch vom Niedergang, der die späte Ära Kohl kennzeichnet, blieb auch die Umweltpolitik nicht unberührt. Sie war in den letzten Jahren hochgradig von wirtschaftlichen Erwägungen geprägt – ohne dass die wirtschaftlichen Mechanismen zugleich zu einer effektvollen Vitalisierung der ökonomischen Anreizstrukturen genutzt wurden, beispielsweise
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durch erhöhte Transparenz- oder Partizipationsregelungen. Hierzu gehört auch die allen Proklamationen zum Trotz erfolgte Ausklammerung der Umweltfrage in der Steuerreformdebatte, obgleich die OECD immer nachdrücklicher eine „Ökologisierung der Steuersysteme“ forderte. Weiterhin hat die Bundesrepublik als einziges Land auf der gesamteuropäischen Umweltministerkonferenz in Aarhus (Dänemark) im Juni 1998 die Aarhus-Konvention nicht unterzeichnet, durch die der Zugang zu Umweltinformationen verbessert und eine Ausweitung der Bürgerbeteiligung ermöglicht würde. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen äußerte dementsprechend in seinem Gutachten von 1998 harte Kritik an einem „weitgehend erstarrten Umweltkonzept“. In den letzten Jahren der Regierungszeit von Bundeskanzler Kohl wurde mithin zunehmend eine Politik der Verminderung staatlicher Problemlösungsfähigkeit betrieben, indem vorhandene Kapazitäten, die von der Regierung selbst und häufig gegen die Erwartungen ihrer Kritiker geschaffen worden waren, nicht ausgeschöpft oder sogar begrenzt wurden. Man kann deshalb, bezogen auf die Umweltpolitik der letzten Jahre der Ära Kohl, eher von einem „Pragmatismus des Durchwurstelns“ als von einer von vielen Akteursgruppen gewünschten und aus globaler Sicht für rational und notwendig gehaltenen „Strategie des visionären Pragmatismus“ sprechen. Literaturauswahl BMU (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit): Zehn Jahre Bundesumweltministerium. Wegmarken der Umweltpolitik 1986 bis 1996. Beilage zu Umwelt (BMU) Nr. 6. Bonn 1996. BMU: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit. Herstellung der ökologischen Einheit. Beilage zu Umwelt (BMU) Nr. 10. Bonn 1997. BMU: 2. Nationalbericht 1997: Klimaschutz in Deutschland. Zweiter Bericht der Regierung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen. Bonn 1997. BMU: Schritte zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Entwicklung. Berichte der Arbeitskreise anläßlich der Zwischenbilanzveranstaltung am 13. Juni 1997. Bonn 1997. BMU: Nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Entwurf eines umweltpolitischen Schwerpunktprogramms. Bonn 1998. DIERKES, M./ZIMMERMANN, K.: Umweltpolitik zwischen Erstarrung, Innovation und Überforderung. In: Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht, H. 3 (1988), S. 197–208. HARTKOPF, G./BOHNE, E.: Umweltpolitik. Bd. 1: Grundlagen, Analysen und Perspektiven. Opladen 1983.
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Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie Von Gerhard Voss Die Umweltpolitik ist seit jeher von einem Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie geprägt. Dieses angespannte Verhältnis wird auch als widersprüchlich empfunden, denn die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ist für die Menschen eine Überlebensfrage: Die Natur kann ohne die Menschen bestehen, die Menschen sind aber auf die natürlichen Ressourcen der Erde angewiesen. Leben, vor allem aber auch der Lebensstil in der industrialisierten Welt, ist unweigerlich mit Stoffverbrauch, mit der Nutzung der Energie- und Rohstoffvorräte verbunden, was Veränderungen und Belastungen für die Umwelt mit sich bringt. Während der Jahre 1982 bis 1998, also in der Ära Kohl, hat die Umweltpolitik auf Bundesebene einen eigenen Stellenwert erhalten. Durch den wirtschaftlichen Strukturwandel und eine umfangreiche Gesetzgebung im Umweltschutz kam es zu einer deutlichen Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Umweltverbrauch. Bezüglich der ordnungspolitischen Einordnung des Umweltschutzes in die Soziale Marktwirtschaft sind allerdings auch in der Ära Kohl viele Fragen offen geblieben. 1. Einführung Die Umweltpolitik der zurückliegenden drei Jahrzehnte stand unter der großen Überschrift: Grenzen des Wachstums. Dabei ging es allerdings weniger um die Bändigung ungezügelter Wachstumsprozesse, wie es noch in dem Bestseller von Dennis Meadows1 prognostiziert wurde, sondern um die gesellschaftliche Akzeptanz mehr oder weniger rentabler Investitionen zur Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Umweltverbrauch. Das war und ist nicht allein eine Herausforderung an grüne oder linke Politik, sondern gerade auch an eine wertekonservative Wirtschafts- und Umweltpolitik, die nicht die Konfrontation, sondern den nachhaltigen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie sucht. Auf die wachstumspolitischen Hintergründe des Umweltschutzes hat schon der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen in seinem Umweltgutachten von 1978 hingewiesen: „Die Umweltpolitik ist zu Beginn der siebziger Jahre von einem Konsens getragen worden, der teilweise auf einer Unkenntnis der Zielkonflikte und Kosten einer konsequenten Umweltsicherung beruhte. Seitdem sich dieser Konsens als trügerisch herausgestellt hat, gerät das Interesse am Umweltschutz häufig in Widerspruch zum Wunsch, das Wirtschaftswachs1
Dennis MEADOWS, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972 (Orig.: The limits to growth).
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tum wie gewohnt zu steigern.“2 Der Erfahrungshintergrund zu dieser Erkenntnis war die Wachstumsschwäche während der 70er Jahre, durch die die Umweltpolitik unter dem Vorgänger von Helmut Kohl, in der Ära Helmut Schmidt, immer mehr in die Defensive geriet. Die Diskussion um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Umweltpolitik fand unter Helmut Schmidt einen politischen Höhepunkt in dem legendären Gymnicher Gespräch,3 zu dem im Juni 1975 Bundeskanzler Helmut Schmidt die Gewerkschaften, die Umweltverbände, die Wirtschaft und die Politik eingeladen hatte, um die Umweltziele, die Anfang der 70er Jahre im Zuge der Reformprogrammatik der sozial-liberalen Koalition formuliert wurden, auf ein wirtschaftsverträgliches Maß zurückzuschrauben. Argumentiert wurde damals, Investitionen in Höhe von 50 Milliarden DM seien aufgrund zu anspruchsvoller Umweltziele, zu strenger Umweltauflagen und zu starrer Genehmigungsverfahren blockiert. In der Folge dieses Gesprächs wurden Ökonomie und Ökologie durch abgeschwächtere Gesetzesvorlagen politisch in ein besseres Gleichgewicht gebracht. Zudem wurde versucht, mit dem dort angestoßenen 16 Milliarden DM teuren keynesianisch ausgerichteten „Zukunftsinvestionsprogramm“ (ZIP) von 1977 eine Verbindung von Wachstum und Umweltschutz herzustellen. Beispiel Klimapolitik Dieser politische Wettstreit zwischen Ökonomie und Ökologie ist heute noch genauso aktuell wie damals. Ein Beispiel des aktuellen Konflikts zwischen Wirtschaft und Umwelt ist die Klimapolitik. Sie befindet sich in einem regelrechten Dilemma: Ein wünschenswertes Wirtschaftswachstum steht in Konkurrenz zu der im Kyoto-Protokoll4 geforderten absoluten Senkung der Emissionen von klimarelevanten Gasen. Das gilt für Deutschland ebenso wie für die anderen Mitgliedsstaaten der EU, ja weltweit, wenn die Situation in den Schwellenländern und den armen Ländern der Dritten Welt betrachtet wird. Ein konsequenter, weltweit vorsorgender Klimaschutz ist bisher an den wirtschaftlichen Herausforderungen gescheitert. Die Bekämpfung von Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit in vielen Industrieländern, aber auch von Hunger und Armut in den Ländern der Dritten Welt, rangiert politisch vor dem vorsorgenden Klimaschutz. 2 3 4
Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (Hg.), Gutachten 1987, BT-Drs. 11/1568, Ziffer 1386. Vgl. Edda MÜLLER, Sozial-liberale Umweltpolitik. Von der Karriere eines neuen Politikbereichs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47–48/89 (1989), S. 8. Bei diesem im japanischen Kyoto verabschiedeten Protokoll handelt es sich um eine Ergänzung der Klimarahmenkonvention, in dem die Reduktionsziele der Teilnehmerstaaten festgelegt sind.
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Wie real der klimapolitische Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie ist, zeigt nicht zuletzt das Beispiel USA. Bekanntlich ist die amerikanische Regierung aus dem Kyoto-Protokoll mit der Begründung ausgestiegen, dass die Einhaltung der Klimaschutzziele dem energiehungrigen US-Bürger wirtschaftlich nicht zugemutet werden könnte. Die kritischen Kommentare zu dieser amerikanischen Klimapolitik, die vor allem aus den EU-Ländern kommen, sind allerdings auch nicht besonders überzeugend, weil sie den auch dort schwelenden Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie ignorieren. Ein Indikator dafür sind die Entwicklungen bei den Klimagasemissionen. Die Stagnation dieser Emissionen während der 90er Jahre in der EU ist nicht etwa die Folge einer konsequenten Klimapolitik, sondern das Ergebnis der akuten Wachstumsschwäche, die überwunden werden müsste. Wären allerdings schon während der 90er Jahre in der EU die Wachstumsraten realisiert worden, wie sie in dieser Zeit in den USA beobachtet werden konnten, dann sähe die klimapolitische Bilanz in der EU viel schlechter aus. Umgekehrt läge das Niveau der klimarelevanten Emissionen in den USA viel niedriger, wenn sie die schwache Wachstumsdynamik der EU in den 90er Jahren kopiert hätten. Umweltpolitische Abstinenz der Parteien Die politischen Herausforderungen, die hinter dem Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie stehen, haben die politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit unterschätzt. Das gilt auch für den Stellenwert der Umweltpolitik in den Unionsparteien. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl, der von 1970 bis 1976 Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Umweltvorsorge“ in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war, galt vor allem wegen seiner schonungslosen Analyse5 eher als ein Außenseiter in seiner Fraktion. 1978 verließ er die Partei und rief die „Grüne Aktion Zukunft“ (GAZ) ins Leben, die sich 1979 mit der entstehenden Partei „Die Grünen“ zusammenschloss. Wegen der dominierenden Linkstendenzen trennte sich Herbert Gruhl 1981 von den „Grünen“, versuchte aber mit der Gründung der „Ökologisch-Demokratischen Partei“ (ÖDP) einen konservativen parteipolitischen Arm der Umweltbewegung aufzubauen, was aber ebenfalls gescheitert ist. Denn auch diese Gruppierung besetzte letztlich zu sehr systemkritische Positionen. Die Soziale Marktwirtschaft mit ihrer auch umweltschonenden Wachstumsdynamik sowie dem technischen Fortschritt hat Herbert Gruhl seinerseits falsch einschätzt. Das programmatische Defizit konservativer Politik in Deutschland, das Herbert Gruhl hinterlassen hat, konnte auch in der Regierungszeit von Hel5
Herbert GRUHL, Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt/M. 1975.
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mut Kohl, in der der Umweltschutz eine starke politische Aufwertung erfuhr, nicht wirklich ausgeglichen werden. Die Umweltpolitik war in dieser Zeit situationsbedingt weniger ordnungspolitisch als vielmehr reagierend und pragmatisch angelegt. Bis heute wird Umweltschutz in der politischen Auseinandersetzung eher mit linker und grüner Politik identifiziert, die interventionistisch gegen ökonomische Interessen gerichtet ist, als mit einer konservativen Programmatik, die auf einen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie zielt. Konfliktfelder Die wichtigsten Themenfelder, auf denen während der Ära Kohl der Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie ausgetragen werden musste, waren: – Luftreinhaltung und Gewässerschutz. – Steuerung von Stoffströmen insbesondere durch die Abfallpolitik und die Chemiepolitik. – Instrumentendiskussion. Streitobjekt waren vor allem fiskalische Instrumente (Umweltabgaben, Ökosteuern, Umweltzertifikate), die zu einer effizienten Minderung von Emissionen beitragen sollten. – Gefährdung des Industriestandorts Deutschland. Gestritten wurde immer wieder darüber, wieweit eine Vorreiterrolle Deutschlands im Umweltschutz auch auf Kosten der Arbeitsplätze in den umwelt- und energieintensiven Industrien vertretbar ist. – Nachhaltigkeitsstrategie. Im Vordergrund stand die Frage, wie langfristige Perspektiven, wie die Endlichkeit der Energie- und Rohstoffvorkommen, stärker das politische und wirtschaftliche Handeln bestimmen können. Bei der Moderation dieser Konfliktfelder wurde in der Regierungszeit von Helmut Kohl auf die konzeptionellen Grundlagen zurückgegriffen, die von den Vorgängerregierungen entwickelt worden waren. 2. Das programmatische Gerüst Den konzeptionellen Hintergrund der Umweltpolitik in Deutschland bildet eine Ziel- und Prinzipientrias, die allerdings eher in einem abstrakten, technokratischen Raum als vor dem Hintergrund eines realen Konflikts zwischen Ökonomie und Ökologie entwickelt wurde. Diese Ziele und Prinzipien sind im ersten Umweltprogramm der Bundesregierung6 von 1971 enthalten, das den Reformkatalog der sozial-liberalen Koalition7 von 1969 konkretisieren 6 7
Bundesminister des Innern (Hg.), Umweltschutz. Das Umweltprogramm der Bundesregierung 1971, Stuttgart 1972. Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969; Reformschwerpunkteprogramm vom Oktober 1970.
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sollte. Ausgearbeitet wurde dieses Konzept von den Experten der Ministerialbürokratie, voran von dem Staatssekretär im Bundesinnenministerium Günter Hartkopf, und von den Sachverständigen einer umweltpolitisch ausgerichteten Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft8. Das damalige Zielbündel der Umweltpolitik lautete: – dem Menschen eine Umwelt sichern, wie er sie für seine Gesundheit und für ein menschenwürdiges Dasein braucht, – Luft, Wasser Boden, Pflanzenwelt und Tierwelt vor nachteiligen Wirkungen menschlicher Eingriffe schützen, – Schäden oder Nachteile aus menschlichen Eingriffen beseitigen. Diese Ziele sollten auf der Grundlage der Prinzipientrias a) Vorsorgeprinzip, b) Verursacherprinzip, c) Kooperationsprinzip verwirklicht werden. Im Grundsatz gilt dieses umweltpolitische Konzept mit der Ziel- und Prinzipientrias heute noch. Allerdings wurden gerade auch in der Ära Kohl Anpassungen an aktuelle Problemlagen sowie Zeitströmungen vorgenommen. Das zeigt sich besonders deutlich in der Umweltbilanz 19879 des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die unter der Regie von Klaus Töpfer erstellt wurde. Nach dem dort enthaltenen, erweiterten Zielkatalog dient die Umweltpolitik dem Schutz und der Erhaltung – von Leben und Gesundheit des Menschen als oberste Verpflichtung jeden staatlichen Handelns, – von Tieren, Pflanzen, Ökosystemen als natürliche Existenzgrundlagen des Menschen, wie auch um ihrer selbst willen, – von Luft, Wasser, Boden, Klima als den natürlichen Ressourcen für vielfältige Nutzungsansprüche des Menschen, – von Sachgütern als kulturelle und wirtschaftliche Werte des einzelnen und der Gemeinschaft. Die wichtigste Erweiterung und Anpassung dieses Zielkatalogs besteht darin, dass der Natur und Umwelt ein Eigenwert zugewiesen wird und damit die Umweltpolitik nicht nur dem Leben und der Gesundheit der Menschen verpflichtet ist. Umweltschutz in der Verfassung Diese Zielerweiterung hat dann in der Regierungszeit von Helmut Kohl auch zu einer entsprechenden Grundgesetzänderung geführt. Mit der Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994 (BGBl I S. 3146) wurde der Umwelt8 9
Schon während der 60er Jahre hatten sich einige Bundestagsabgeordnete mit Spezialkenntnissen auf dem Gebiet des Umweltschutzes in einer Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit [BMU] (Hg.), Bilanz des BMU, Bonn 1987, S. 11.
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schutz in die Verfassung aufgenommen. „Der Staat“, so heißt es in dem eingefügten Artikel 20a, „schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Die rot-grüne Koalition hat mit einer Verfassungsänderung vom 26. Juli 2002 (BGBl I S. 2862) diesen Artikel noch um den Tierschutz erweitert. Der vollständige Artikel 20a GG lautet heute: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für künftige Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Damit gehört der Umwelt- und Tierschutz zu den Staatszielen. Mit der Einfügung des Artikel 20a in das Grundgesetz wird aber in der Regierungszeit von Helmut Kohl nicht nur der „Eigenwert“ der Natur hervorgehoben, sondern mit Blick auf den Umweltschutz auch die Verantwortung für künftige Generationen postuliert. Damit wurde das umweltpolitische Vorsorgeprinzip herausgestellt und die aufkommende Diskussion um das Nachhaltigkeitsprinz aufgegriffen, die gegen Ende der Ära Kohl immer mehr die umweltpolitische Szene bestimmte.10 Die programmatische Erweiterung, wie sie in Artikel 20a GG zum Ausdruck kommt, hat aber nicht zu einer grundsätzlich anderen umweltpolitischen Ausrichtung geführt. Allerdings wurde unter Berufung auf Artikel 20a GG und auf das Vorsorgeprinzip die Umweltpolitik immer weniger fachlich eingrenzbar. Der praktische Umweltschutz konzentrierte sich dennoch während der 80er und 90er Jahre auf Programme und Maßnahmen, mit denen bestimmte Emissionen bei den jeweiligen Verursachern (Industrie, Verkehr, Haushalte) reduziert werden sollten. Tendenziell ging es dabei immer weniger um die Lösung akuter Umweltprobleme, sondern um die vorsorgliche Verringerung der Belastung von Luft, Wasser und Boden mit Schadstoffen. Dieses eher interventionistisch angelegte Handlungskonzept wurde auch immer mehr auf den gesamten Ressourceneinsatz in der Volkswirtschaft ausgedehnt, was mit den Stichworten Stoffpolitik oder Effizienzstrategien umschrieben werden kann. Primat der Politik Die Umsetzung der verschiedenen Programme und Maßnahmen hat zu mehr oder weniger heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Politik und den betroffenen Bereichen, insbesondere mit der Wirtschaft geführt. Die Auseinandersetzungen wurden häufig mit Hilfe von Gutachtern geführt, die entweder
10 Vgl. Gerhard VOSS, Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung. Darstellung und Kritik (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln 237), Köln 1997.
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die externen Kosten11 der jeweils betroffenen Emission bezifferten oder die Kosten der politisch geforderten Emissionsminderung im Sinne von Opportunitätskosten12 in Wachstums- oder Arbeitsplatzverlusten umrechneten. Der eine Gutachter widersprach der anderen Expertise. Die Erfahrungen mit dem wissenschaftlichen Wettstreiten zwischen dem ökologisch oder ökonomisch ausgerichteten Wissenschaftler haben gezeigt, dass gerade auch in der Umweltpolitik, die sich zwar technokratisch und wissenschaftsnah artikuliert, über Ziele und das Design von Maßnahmen letztlich politisch entschieden werden muss. Die Umweltpolitik in der Ära Kohl zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie sich nicht im Streit der Wissenschaftler über die ökologischen Notwendigkeiten oder die ökonomischen Folgen des Umweltschutzes verlor, sondern sich auf den Primat der Politik besonnen hat. Der Primat der Politik wurde gleich zu Beginn der Ära Kohl Richtschnur der Umweltpolitik. Deutlich kommt das in der innenpolitischen Leistungsbilanz 1982–198613 zum Ausdruck, die vom damaligen für den Umweltschutz zuständigen Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) veröffentlicht wurde. In dieser Bilanz rangiert die Umweltpolitik an erster Stelle. Unter seiner Regie wurde vor allem in der Luftreinhaltepolitik der Streit zwischen Ökonomie und Ökologie politisch entschieden. So wurde das Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) dahingehend geändert, dass für konkrete Programme und Maßnahmen nicht mehr die wirtschaftliche Vertretbarkeit für den Anlagenbetreiber, sondern der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit ausschlaggebend war. Auch Bundesumweltminister Klaus Töpfer hat in seiner Zeit als Umweltminister den Primat der Politik in Anspruch genommen und sich gegen Interessen nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Gewerkschaften und Umweltverbände durchgesetzt. Ordnungspolitisches Defizit Allerdings hat diese neue Ausrichtung in der Ära Kohl keineswegs zu mehr ordnungspolitischer Klarheit in der Umweltpolitik geführt. In der 10. und 11. Legislaturperiode, also von 1983 bis 1990, wurden rund 70 umweltrelevante Gesetze und Verordnungen verabschiedet, die den Handlungsspielraum für die Wirtschaft und für den einzelnen Bürger einengten und bis hin zu technischen Einzelheiten regelten, wie der Umweltschutz praktiziert werden soll. Eine ord11 Die externen Kosten beschreiben die finanziellen Belastungen, die der Allgemeinheit bei der Umweltnutzung entstehen, wenn sie nicht in die Kalkulation des Verursachers einfließen. Dazu gehören beispielsweise Schäden an Gebäuden oder Pflanzen (Waldschäden). 12 Die Opportunitätskosten beschreiben die Kosten, die alternativ für den Umweltschutz aufgewendet werden müssen. 13 Bundesminister des Innern (Hg.), Innenpolitische Leistungsbilanz 1982–1986, Bonn 1986.
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nungspolitische Sünde in der Ära Kohl, die Festlegung von Recyclingquoten in Kombination mit Pflichtpfandregelungen in der Verpackungsverordnung (VerpackV) von 1991 hat bis heute umweltpolitische und ökonomische Spuren hinterlassen. Aus ordnungspolitischer Sicht fehlt dem Umwelt- und Ressourcenschutz bis heute die konsequente Einbindung in die Soziale Marktwirtschaft. So war auch die Umweltpolitik in der Regierungszeit von Helmut Kohl an der Entwicklung eines ökologischen Ordnungsrahmens in Deutschland beteiligt, der als starr, bürokratisch und ökonomisch wenig effizient eingestuft wird und das Spannungsverhältnis von Ökonomie und Ökologie eher noch verschärft als abgebaut hat. Allerdings ist dieses Defizit auch in der Ära Kohl erkannt worden, und es wurden Versuche gestartet, gegenzusteuern. Eines der wichtigsten Projekte in diesem Zusammenhang war die Einsetzung einer Unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch im Jahr 1992 durch Bundesumweltminister Klaus Töpfer. Die Kommission erhielt den Auftrag, innerhalb von fünf Jahren ein Umweltgesetzbuch zu erarbeiten, das die Zersplitterung des deutschen Umweltrechts beseitigen und die Grundlagen für eine effizientere Umweltpolitik schaffen sollte. Die Kommission legte ihren Entwurf im September 1997 vor, der politisch allerdings aus den verschiedensten Gründen, die hier nicht erläutert werden können, nicht umsetzbar war.14 Zu den umweltpolitischen Vorhaben der Großen Koalition unter Angela Merkel gehört nun wieder die Schaffung eines Umweltgesetzbuches. 3. Institutionelle Verankerungen Die Zuständigkeit für die Umweltpolitik innerhalb der Bundesregierung war ursprünglich auf die Ressorts von Innen-, Landwirtschafts- und Gesundheitsministerium verteilt. Nach Bildung der sozial-liberalen Koalition wurde Anfang der 70er Jahre unter dem damaligen Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher im Bundesinnenministerium die Umweltabteilung ausgebaut, in der das Reformprojekt Umweltschutz programmatisch betreut und mehrere grundlegende Umweltgesetzte wie das Abfallbeseitigungsgesetz und das Bundes-Immissionsschutzgesetz vorbereitet wurden. Bis zum Ende der sozial-liberalen Koalition im Jahr 1982 wurde das Innenministerium von Ministern besetzt, die der FDP angehörten. Dazu zählten neben Hans-Dietrich Genscher die Bundesinnenminister Werner Maihofer und Gerhart Baum, die dem Umweltschutz
14 Einen ausführlichen Bericht über dieses Vorhaben bietet Eberhard BOHNE, Das Umweltgesetzbuch als Motor oder Bremse der Innovationsfähigkeit in Wirtschaft und Verwaltung? Vorträge und Diskussionsbeiträge auf der Tagung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer vom 22. bis 24. Oktober 1997 (Schriften der Hochschule Speyer 131), Berlin 1999.
Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie
317
hohe Priorität einräumten, aber wegen zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten in ihrer Regierungszeit nur wenig Reformvorhaben durchsetzen konnten. Auch in der Regierungszeit von Helmut Kohl gehörte der Umweltschutz von 1982 bis 1986 in die Zuständigkeit des Bundesinnenministeriums, das damals Friedrich Zimmermann (CSU) leitete. Kurz nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl wurde am 6. Juni 1986 das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) gegründet. Institutionell blieb die Zuständigkeit für den Umweltschutz aber zwischen Bund und Ländern aufgeteilt, was auch zu einer immer größeren Zersplitterung des Umweltrechts in Deutschland geführt hat. Von der Gründung des BMU an bis 1998 lag die Zuständigkeit für den Umweltschutz dann kontinuierlich bei einem CDU-Minister. Der erste Bundesumweltminister, Walter Wallmann, leitete das Ministerium allerdings nur knapp ein Jahr, bis er hessischer Ministerpräsident wurde. Insbesondere sein Nachfolger, Klaus Töpfer, der das Ressort vom 7. Mai 1987 bis zum 17. November 1994 leitete, hat die Umweltpolitik in der Ära Kohl geprägt. Vom 17. November 1994 bis zum 27. Oktober 1998 war Angela Merkel in der Regierung Kohl verantwortlich für die Umweltpolitik, die wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten immer mehr in die Defensive gelangte. Umweltpolitisch kam die Ära Kohl in die gleiche Situation, in die Helmut Schmidt am Ende seiner Regierungszeit geraten war: Wegen des schwachen Wirtschaftswachstums verlor der Umweltschutz an Akzeptanz. Sachverständige Beratung Die Umweltpolitik ist seit jeher aber auch ein Politikfeld, das stark durch wissenschaftliche Institutionen der politischen Beratung geprägt ist. Vor allem hat der 1971 von der Bundesregierung eingerichtete „Rat von Sachverständigen für Umweltfragen“ mit seinen vielen Gutachten der Umweltpolitik wichtige Impulse gegeben. Dieses ursprünglich beim Bundesminister des Innern angesiedelte Gremium ist seit der Gründung des BMU dem Bundesumweltminister zugeordnet. 1974 wurde mit dem Gesetz über die Errichtung eines Umweltbundesamtes (BGBl I S. 1505) eine Einrichtung gegründet, die folgende Aufgaben wahrnehmen sollte: – die wissenschaftliche Unterstützung des Bundesumweltministeriums, – die Einbringung wissenschaftlichen Sachverstandes in den Vollzug von Gesetzen, – die Sammlung und Bereitstellung von Umweltdaten, – die Information der Öffentlichkeit in Fragen des Umweltschutzes.
318
Gerhard Voss
Diese Berliner Behörde, die inzwischen mehr als 1.000 Beschäftigte zählt, von denen die Hälfte über eine Ausbildung an Hochschulen oder Fachhochschulen aus allen wissenschaftlichen Disziplinen verfügt, ist praktisch in alle umweltpolitische Belange einbezogen, wobei die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Beratung und politischer Einflussnahme oft verschwommen sind. Geleitet wurde das Amt bis 1995 von Heinrich von Lersner, der sich der sozial-liberalen Koalition verbunden fühlte und sein Amt auf die umweltpolitischen Reformideen dieser Koalition eingeschworen hatte. Seit 1995 wird das Amt von Andreas Troge (CDU) geleitet. Noch während der Regierungszeit von Helmut Kohl wurde 1992 zudem ein „Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) berufen, der jährlich ein Gutachten zur Lage der globalen Umweltveränderungen und ihrer Folgen erarbeitet. Die Gründung dieses Beratergremiums spiegelt die inhaltliche Verschiebung umweltpolitischer Problemlagen wider. In den 90er Jahren traten, abgesehen von der ökologischen Sanierung der Neuen Bundesländer, die globalen Umweltprobleme, voran der Klimaschutz, immer mehr in den Vordergrund. Einfluss auf die Umweltpolitik haben in der Regierungszeit von Helmut Kohl auch Enquete-Kommissionen genommen. Dabei handelt es sich um Einrichtungen der Politikberatung, in denen Sachverständige, die nicht dem Bundestag angehören, gemeinsam und gleichberechtigt mit Mitgliedern des Deutschen Bundestages ein vom Bundestag übertragenes Thema bearbeiten. Vor allem die Klimapolitik sowie die Diskussionen um die Stoffpolitik (Chemiepolitik) und das Nachhaltigkeitsprinzip wurden von Enquete-Kommissionen begleitet. In die Ära Kohl fallen folgende umweltpolitische Kommissionen, deren Beratungsergebnisse in umfangreichen Bundestagsdrucksachen festgehalten sind: – 10. Wahlperiode 1993–1987: „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ (Drs. 10/1581), – 11. Wahlperiode 1987–1990: „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ (Drs. 11/310), – 12. Wahlperiode 1990–1994: „Schutz der Erdatmosphäre“ (Drs. 12/302, 12/419, 12/8600) sowie „Schutz des Menschen und der Umwelt – Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft“ (Drs. 12/1290, 12/1951). In diesen Kommissionen wurden insbesondere für die Klimapolitik, die Chemiepolitik sowie die Erarbeitung einer Nachhaltigkeitsstrategie für die Bundesrepublik Deutschland wichtige Weichen gestellt. Beispielsweise geht das klimapolitische Ziel, die Kohlendioxidemissionen um 25 Prozent zu reduzieren, auf die erste Klimaenquete zurück.
Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie
319
4. Erfolge Die ökologischen Erfolge der Umweltpolitik in den zurückliegenden 30 Jahren sind beeindruckend. Praktisch alle umweltpolitisch relevanten Emissionen sind seit den 70er Jahren drastisch zurückgegangen. Auch der Ressourcenverbrauch in der gesamten Volkwirtschaft ist effizienter geworden. Wurden 1960 noch 840 kg Rohstoffe und Energieträger eingesetzt, um einen Wert von 1.000 DM des Bruttoinlandsproduktes zu erstellen, so waren es im Jahr 2000 gerade noch die Hälfte. Große Fortschritte wurden auch während der 80er Jahre gemacht, in denen vor allen Dingen auch die Gesetze zur Luftreinhaltung und für den Gewässerschutz verschärft wurden. Während der 80er Jahre wurden durch die Gesetzgebung die Emissionen soweit reduziert, dass sich die Umweltpolitik immer mehr von der akuten Gefahrenabwehr hin zur ökologischen Vorsorge bewegte. Der Prozess der Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Umweltverbrauch konnte auch in den 90er Jahren fortgesetzt werden, die umweltpolitisch von der ökologischen Sanierung der Neuen Bundesländer geprägt waren. Auch in dieser Zeit konnten vor allem die Luftemissionen weiter reduziert werden, was allerdings auch auf den Strukturwandel in den Neuen Bundesländern mit der Schließung vieler energieintensiver Industriebetriebe zurückzuführen ist. Die Erfolge sind aber zugleich das Ergebnis einer konsequenten Übertragung des deutschen ökologischen Ordnungsrahmens auf das Gebiet der ehemaligen DDR.
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Gerhard Voss
Ressourcenintensität1) der deutschen Volkswirtschaft I 1960
1970
1980
1990
1991
1995
20006)
Rohstoffe und Energieträger – kg je 1.000 DM BIP 840,0
737,4
607,0
466,6
517,7
493,9
446,8
211,5
218,2
193,4
155,6
169,7
157,6
147,8
145,6
149,0
127,3
100,6
107,6
102,7
96,5
Wasserverbrauch m3
20,3
21,1
22,04)
17,35)
17,4
15,8
14,2
Abwasser m3
17,5
18,93)
19,44)
15,36)
15,0
13,2
12,2
341,4
298,7
274,3
Primärenergieverbrauch im Inland (Mio. t SKE) – kg je 1.000 DM BIP Endenergieverbrauch (Mio. t SKE) – kg je 1.000 DM BIP
Luftemissionen – kg je 1.000 DM BIP 567,9
1)
502,5
407,5
287,7
Verbrauch je 1.000 DM reales BIP in Preisen von 1991. Steinkohleneinheiten. 3) 1975. 4) 1983. 5) 1983. 6) Schätzung des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln. Quelle: Ursprungsdaten Umweltökonomische Gesamtrechungen. 2)
Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie
321
Ressourcenintensität1) der deutschen Volkswirtschaft II 1991
1995
2000
2002
2003
Veränderg. 2002/2003 zu 1991 in %
498,5
485,6
490,0
488,7
489,1
-1,9
291,5
269,9
248,7
245,8
246,3
-15,5
1.435 838,6
1.454 807,3
1.410 715,7
1.328 668,0
1.311 660,4
-8,6 -21,2
1.194
1.099
1.014
1.026
1.015
-15,0
697,8
610,2
514,7
516
511,8
-26,7
3.996
1.937
636
611
–
-84,7
2,3
1,1
0,32
0,31
–
-86,5
Stickoxide (Mio. t NOx) – kg NOx je 1.000 Euro BIP
2.610
2.000
1.639
1.499
–
-42,6
1,5
1,1
0,8
0,8
–
-46,7
Wasserabgabe (Mio. m3) – m3 je 1.000 Euro BIP
51.041 29,8
48.642 27,0
44.766 22,7
43.727 21,9
– –
-14,3 -26,5
Siedlungs- u. Verkehrsfläche (km2) – m2 je 1.000 Euro BIP
40.3053) 23,5
42.0524) 23,3
43.459 22,1
44.367 22,3
44.750 22,5
+11,0 -4,3
Primärenergieverbrauch im Inland (Mio. t SKE) – kg SKE je 1.000 Euro BIP Rohstoffentnahme und Import2) (Mio. t) – kg je 1.000 Euro BIP Treibhausgase (Mio. t CO2-Äquivalent) – kg CO2 je 1.000 Euro BIP Schwefeldioxid (Mio. t SO2) – kg SO2 je 1.000 Euro BIP
1)
Ressourcenverbrauch je 1.000 Euro Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Preisen von 1995. Verwendete Entnahme abiotischer Rohstoffe und importierter abiotischer Rohstoffe. 1993. 4) 1997. Quelle: Ursprungsdaten Umweltökonomische Gesamtrechnungen 2004. 2) 3)
322
Gerhard Voss
Einen entscheidenden Anteil an der Reduktion von Emissionen und des Ressourcenverbrauchs haben auch die strukturellen, marktbedingten Entwicklungen in der Wirtschaft. Der Rückgang des industriellen Sektors, die Verlagerung der umwelt- und energieintensiven Produktionen sowie der allgemeine technische Fortschritt haben die Umweltbelastungen in den zurückliegenden Jahrzehnten spürbar verringert. 5. Die Rolle der ökonomischen Instrumente Die ökologischen Erfolge der Umweltpolitik sind aber keineswegs ein Beleg für ihre ökonomische Effizienz. Denn ordnungspolitisch haben sich die Umweltpolitiker auch in der Ära Kohl bei der ökologischen Steuerung mehr auf das wenig effiziente Ordnungsrecht gestützt. Der ökologische Instrumentenkatalog reicht von der marktwirtschaftlichen Rahmensteuerung bis hin zu detaillierten ordnungsrechtlichen Vorgaben, die allerdings umweltökonomisch als wenig effizient eingeordnet werden: Allgemeine Rahmensteuerung Marktsteuerung Mengensteuerung Preissteuerung Kooperationslösungen Spezielle Rahmensteuerung
Information, Beratung, Förderung des Umweltbewusstseins Privatisierung von Umweltgütern, Gefährdungshaftung Emissionshandel Abgaben, Ökosteuern, Subventionen Kompensationen, Freiwillige Selbstverpflichtungen detaillierte ordnungsrechtliche Vorgaben
Aus instrumenteller Sicht gehen die Erfolge im Umweltschutz hauptsächlich auf die vielen detaillierten ordnungsrechtlichen Vorgaben des Staates bezüglich der Nutzung der Umweltmedien zurück. Allerdings ist eine quantitative Zuordnung der Erfolge zu bestimmten umweltpolitischen Instrumenten schwierig. Sicher ist aber, dass die Verbesserung der Qualität von Luft, Wasser, Boden und der Abfallentsorgung, soweit sie auf den Einsatz bestimmter umweltökonomischer Instrumente und umweltpolitischer Gesetze zurückzuführen sind, hauptsächlich durch die ökonomisch wenig effizienten ordnungsrechtlichen Vorgaben erreicht und damit relativ teuer erkauft wurden. Diskussionen über Ökosteuern Bezüglich der Instrumente wurde in der Ära Kohl besonders über die Ökosteuer gestritten. Während der 90er Jahre kam es zu einem regelrechten programmatischen Wettlauf der politischen Parteien zur Einführung von Öko-
Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie
323
steuern oder der Durchführung einer ökologischen Steuerreform.15 Die Rolle des Vorreiters hatte dabei die Partei Bündnis 90/Die Grünen übernommen. Sie hatte die ausgefeiltesten Vorschläge gemacht. Die anderen Parteien segelten sozusagen im Schlepptau der grünen Programmatik mit, wobei aber typische Akzente gesetzt wurden: – Bündnis 90/Die Grünen standen für eine Programmatik, die mit Hilfe von Ökosteuern den Umbau der Industriegesellschaft zu einer ökologisch angepassten Gesellschaft gestalten wollte. – Die SPD wollte eine Ökosteuerreform in erster Linie mit beschäftigungspolitischen Zielen verknüpfen. Ihre Programmatik war geprägt von den Hoffnungen auf eine doppelte Dividende der Ökosteuer – mehr Umweltschutz und Arbeitsplätze. – Die Unionsparteien aber auch die FDP standen für Ökosteuern, die in erster Linie ganz bestimmte ökologische Lenkungsziele erfüllen sollten. Dabei standen die Ziele des Klimaschutzes im Vordergrund. In der Regierungszeit von Helmut Kohl stand allerdings die Einführung einer Kohlendioxidabgabe oder einer Ökosteuer nicht wirklich zur Diskussion. Vielmehr war die regierungsamtliche Position mehr oder weniger zwiespältig. Auf der einen Seite wurden insbesondere von Bundesumweltminister Klaus Töpfer ökologische Lenkungssteuern als ein richtiges Instrument favorisiert, auf der anderen Seite wurde von einer Einführung wegen der Gefahr einer Schwächung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft am Standort Deutschland abgesehen. Aber auch dort, wo inzwischen die marktnäheren Instrumente im Umweltschutz, die Preis- oder Mengensteuerung, zur Anwendung gekommen sind, ist die Bilanz ernüchternd. So haben sich die Kompensationsregelungen im Anlagengenehmigungsrecht wenig bewährt, und die spätere Einführung von Ökosteuern sowie des Emissionshandels hat kaum zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Die nur punktuelle Anwendung sowie die ungenügende Wirksamkeit der ökonomischen Instrumente im Umweltschutz haben die verschiedensten Ursachen. Sie liegen weniger bei der konzeptionellen, theoretischen Fundierung dieser Instrumente als vielmehr bei den Problemen, die sich bei der Umsetzung in der Praxis stellen. Vor allem zwei Problemfelder können beschrieben werden, die in der Ära Kohl wie auch heute einer konsequenten Anwendung der ökonomischen Instrumente im praktischen Umweltschutz im Wege stehen: Die widersprüchliche Ausgangslage bei der Implementie-
15 Vgl. Gerhard VOSS, Die ökologische Steuerreform. Anspruch und Praxis (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln 253), Köln 1999.
324
Gerhard Voss
rung der Instrumente, sowie die unscharfen Ziele, die von der Politik vorgegeben werden. Widersprüchliche Ausgangslage Ein grundsätzliches Problem der mangelnden Wirksamkeit der ökonomischen Instrumente im praktizierten Umweltschutz liegt darin, dass für den Einsatz dieser Instrumente meistens nur geringe Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten bestehen. Das gilt in mehrer Hinsicht: 1) Zunächst ergeben sich oft Überschneidungen zwischen den gewollten Wirkungen der Instrumente und den realen Markt- und Strukturtrends in der Volkswirtschaft. Ein Beispiel dafür ist die Ökosteuer als Anreiz zum Energiesparen oder zur Senkung klimarelevanter Emissionen. Denn Energiesteuern können, wie die Schwankungen der Energiepreise immer wieder gezeigt haben, nur sehr begrenzt Einfluss auf die Preisentwicklungen bei den einzelnen Energieträgern nehmen. So sind einer ökologisch motivierten Steuerung des Energieverbrauchs mit fiskalischen Instrumenten enge Grenzen gesetzt. Vor dem Hintergrund schwankender Energiepreise führt die fiskalische Belastung des Energieverbrauchs eher zu einer Behinderung als zu einer Förderung des ökonomisch und ökologisch erwünschten Strukturtrends in der Wirtschaft. 2) Zudem ist die Wirksamkeit der ökonomischen Instrumente in der Praxis auch dadurch sehr eingeengt, als dass sie, wenn sie zur Anwendung kommen, auf ein dichtes Netz ordnungsrechtlicher Regelungen aufgesattelt werden müssen. Denn die Erfahrungen auch in der Ära Kohl haben gezeigt, dass die Politiker zur Lösung drängender umweltpolitischer Problemlagen eher zu den überschaubaren ordnungsrechtlichen Vorgaben als zu den schwerer zu handhabenden ökonomischen Instrumenten greifen. So wurden vor allem unter Bundesumweltminister Klaus Töpfer zahllose ordnungsrechtliche Programme und Maßnahmen, die auf die Struktur und Entwicklung des Energieverbrauchs und der damit verbundenen Klimagasemissionen Einfluss nehmen, verabschiedet. Dazu gehören beispielsweise Maßnahmen zur Wärmedämmung von Gebäuden, Verordnungen zur Emissionsminderung von Kraftfahrzeugen oder zur Begrenzung der Emissionen industrieller Anlagen. Sie schränken heute wie damals den Einsatz der ökonomischen Instrumente ein, weil ein größeres Reduktionspotential gar nicht vorhanden ist, es sei denn, man würde auf die ordnungsrechtlichen Regelungen verzichten. 3) Schließlich führt das unkoordinierte Nebeneinander von Strukturtrends, ordnungsrechtlichen Interventionen und ökonomischen Instrumenten leicht zu einer Überregulierung. Das wiederum hat bei der additiven Implementierung der ökonomischen Instrumente in der Regel einen Korrekturbedarf zur Folge, durch den die gewollten Lenkungswirkungen von vorne herein abgeschwächt werden. Auch diese Problematik kann am Beispiel der Ökosteuer demonstriert
Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie
325
werden: Was macht es für einen Sinn, wenn heute durch eine Ökosteuer die Klimagase reduziert werden sollen, aber die wichtigsten Emittenten wie die energieintensiven Industrien oder die Energieträger mit dem höchsten Kohlendioxidgehalt von der Ökosteuer weitgehend verschont bleiben? Dafür gibt es vor dem Hintergrund der gegebenen Strukturtrends und des bestehenden ökologischen Ordnungsrahmens gute industrie- und energiepolitische Gründe. So ist ein wirkungsvoller Einsatz der ökonomischen Instrumente im Umweltschutz auch immer eine Frage klarer politischer Ziele. Unscharfe Ziele Eine wirksame Anwendung der ökonomischen Instrumente im Umweltschutz wird grundsätzlich auch dadurch infrage gestellt, weil die Politik nur sehr begrenzt in der Lage ist, für die notwendige Klarheit bei den umweltpolitischen Zielen zu sorgen. Eine entscheidende Voraussetzung für den wirkungsvollen Einsatz der ökonomischen Instrumente im Umweltschutz ist jedoch die Festlegung auf klare, möglichst auch quantitativ formulierte Ziele. Ohne genaue Zielfixierung sind die ökonomischen Instrumente orientierungslos, und ihre Implementierung fällt diffus aus. Beispiel: Es genügt eben nicht, eine ökologische Steuerreform mit der eher moralisierenden Zielvorgabe einzuführen, die Energiepreise sollen die „ökologische Wahrheit“ sagen. Es muss zumindest ein Preisband vorgegeben werden, an dem sich die Höhe der Lenkungssteuer für die verschiedenen Emittenten orientieren kann. Selbst Bündnis 90/Die Grünen sind letztlich aber davor zurückgeschreckt, sich auf entsprechende Zielfixierungen bei der Implementierung der ökologischen Steuerreform festzulegen. Noch zielgenauer müssen die politischen Vorgaben sein, wenn der Königsweg der ökologischen Steuerung, der Handel mit Emissionsrechten, beschritten werden soll. So lässt sich beispielsweise ein Markt für Klimagasemissionen nur dann organisieren, wenn die Menge der Emissionsrechte gemessen an einer genaueren klimapolitischen Zielsetzung festgelegt werden kann. Welche praktischen Probleme sich dabei stellen, hat die aktuelle Diskussion um die Einführung des Emissionshandels in den europäischen Ländern gezeigt. Flexibilität durch Freiwillige Selbstverpflichtungen Allerdings wurde in der Ära Kohl für den Umweltschutz auch ein instrumenteller Sonderweg erschlossen, der die Möglichkeit bot, mehr Effizienz in den Umweltschutz zu tragen und das Kooperationsprinzip zur Anwendung zu bringen. Es handelt sich dabei um das Instrument der Freiwilligen Selbstverpflichtungen, das – richtig genutzt – auch das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie mildern kann.
326
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Bei den Freiwilligen Selbstverpflichtungen handelt es sich um eine pragmatische Variante der ökologischen Steuerung, die sich insbesondere vom starren und wenig effizienten Ordnungsrecht abgrenzt. Sie nehmen die konkreten Entscheidungsprozesse in den Unternehmen und beim Staat über umweltpolitische Maßnahmen ins Visier und nutzen über eine institutionelle Zusammenarbeit zwischen staatlichen Instanzen und der Wirtschaft bei der Zielformulierung und der Mittelwahl die Kompetenz der Betroffenen. Sie spiegeln also weniger eine umweltökonomisch begründete Ziel-Mittel-Kombination wider, sondern sie sind das Ergebnis der umweltpolitischen Praxis und des Zusammenspiels zwischen Politik und Wirtschaft. Die Partner Freiwilliger Selbstverpflichtungen sind ständig auf der Suche nach besseren Problemlösungen. Der Weg ist hier sozusagen das Ziel.16 Diese konzeptionelle Ausrichtung hat den Freiwilligen Selbstverpflichtungen allerdings das Stigma des Korporatismus eingebracht, weil die Verantwortlichkeiten von Staat und Wirtschaft verwässert werden. Der marktwirtschaftliche Suchprozess, nach dem der Staat die Ziele und die Maßnahmen autonom festlegt und die Wirtschaftssubjekte ihre Entscheidungen daran ausrichten, wird verfälscht. Diese ordnungspolitische Kritik ist berechtigt. Allerdings gibt es Konstellationen, in denen diese Kritik nicht greift. Dazu gehören auch Entscheidungssituationen im vorsorgenden Umweltschutz. Sie sind oft so komplex, dass der Staat weder die Zielformulierung noch das Instrumentendesign ohne die Einbeziehung externen Wissens sowie der konkreten Entscheidungssituation bei den Betroffenen festlegen kann. Das heißt, der Staat ist gerade auch bei der Entwicklung ökonomisch, ökologisch und sozial ausgewogener versorgender Umweltschutzprogramme auf die Mitwirkung der betroffenen Akteure angewiesen. Freiwillige Selbstverpflichtungen sind deshalb auch als Weg zur Lösung des Konflikts zwischen Ökonomie und Ökologie geeignet. Die Vorteile: – Flexibilität: Im Vergleich zum Ordnungsrecht wird den betroffenen Akteuren mehr Handlungsfreiheit geboten: Die Unternehmen können ihre Maßnahmen dort ansetzen, wo sie technisch erfolgreiche Lösungen realisieren können und wo die Wirksamkeit gesichert ist. – Leicht umsetzbar: Vielfach ist es notwendig, schnell eine Maßnahme durchzuführen. Ein reguläres Gesetzgebungsverfahren braucht Zeit. Freiwillige Selbstverpflichtungen können dagegen direkt ohne parlamentarische Abstimmung und EU-rechtliche Prüfung vereinbart und umgesetzt werden. 16 Vgl. Gerhard VOSS, Freiwillige Selbstverpflichtungen. Reichweite, Effektivität und strategische Bedeutung. Referat zum Symposium „Marktwirtschaftliche Instrumente für den Klima- und Ressourcenschutz“ in der Evangelischen Akademie Loccum vom 28. bis 30. Oktober 2002.
Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie
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– Dynamik: Hier liegt ein großer Vorteil gegenüber der gesamten Palette der alternativen umweltökonomischen Instrumente. Durch eine konsequente Erfolgskontrolle können die Maßnahmen unbürokratisch an neue Gegebenheiten angepasst werden. – Anreize für Eigeninitiative: Selbstverpflichtungen, die von einem regelmäßigen Monitoring begleitet werden, spornen auch dazu an, aus eigener Initiative den besten Weg zur Erreichung des gesetzten Ziels einzuschlagen. Die Kritiker von Selbstverpflichtungen stellen dagegen folgende Nachteile heraus: – Rechtliche Unverbindlichkeit, – Mitwirkung der Parlamente wird beschnitten, – Staat verzichtet auf Handeln, – Konsensbildung auf niedrigem Niveau, – Einigung zu Lasten Dritter. In der praktischen Umsetzung sind aber durchaus auch die Vorteile zum Tragen gekommen, wobei Erfolge vor allem dann erzielt wurden, wenn drei Voraussetzungen gegeben waren: Quantifizierbare und messbare Ziele, unabhängiges und regelmäßiges Monitoring sowie spürbare Sanktionen bei Verfehlung der Ziele. Praktische Varianten Drei Typen von Selbstverpflichtungen haben sich in der umweltpolitischen Praxis herausgebildet:17 a) branchenübergreifende Lösungen, b) branchenspezifische Lösungen, c) Einhaltung standardisierter Regelungen. Die meisten Erfahrungen konnten bisher mit den brachenspezifischen Lösungen im Umweltschutz gesammelt werden, wobei die Chemische Industrie im Vordergrund steht.18 Schon in den siebziger Jahren wurden mit Hilfe dieses Instruments eine Reihe von Umweltproblemen in Kooperation zwischen Wirtschaft und Staat umgesetzt. Die meisten Selbstverpflichtungen wurden jedoch während der achtziger und neunziger Jahre abgeschlossen. Eine Evaluation19 hat ergeben, dass die meisten Selbstverpflichtungen erfolgreich durchgeführt wurden.
17 Bundesverband der Deutschen Industrie, Bestandsaufnahme freiwilliger Selbstverpflichtungen und Vereinbarungen im Umweltschutz, Berlin 2005. 18 Paschen VON FLOTOW/Johannes SCHMIDT, Evaluation von Selbstverpflichtungen der Verbände der Chemischen Industrie. Studie im Auftrag des Verbandes der Chemischen Industrie e.V., Abschlussbericht, Oestrich-Winkel 2001. 19 Vgl. Jürgen KNEBEL/Lutz WICKE, Selbstverpflichtungen und normensetzende Umweltverträge als Instrument des Umweltschutzes (Berichte des Umweltbundesamtes 5/99), Berlin 1999.
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In den neunziger Jahren bestimmten auch immer mehr die branchenübergreifenden Lösungen die Diskussion über Selbstverpflichtungen. Zu nennen ist hier vor allem die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft zur Klimavorsorge, die in Kooperation von Staat und Wirtschaft noch in der Ära Kohl entwickelt wurde. Nach der Fassung vom 9. November 2002 hat sich die deutsche Wirtschaft dazu verpflichtet, – die spezifischen Kohlendioxidemissionen von 1990 bis 2005 um 28 Prozent zu reduzieren, – die spezifischen Emissionen aller sechs im Kyoto-Protokoll genannten Treibhausgase von 1990 bis 2012 um 35 Prozent zu verringern. Im Gegenzug hat die Bundesregierung zugesagt, kein verbindliches Energieaudit einzuführen, auf ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Energieeinsparung oder zur Reduktion von klimarelevanten Gasen zu verzichten und auf dem Gebiet der Umweltsteuern weiterhin auf die wirtschaftliche Situation der energieintensiven Industrie Rücksicht zu nehmen. Wirksamkeit und Sinn dieser Vereinbarung ist inzwischen allerdings durch die additive Einführung des Emissionshandels, der gerade die Emittenten betrifft, die der Freiwilligen Selbstverpflichtung beigetreten sind, infrage gestellt.20 6. Umweltpolitische Besonderheiten in der Ära Kohl Im Zeitraum von 1982 bis 1998 hat sich die Umweltpolitik programmatisch und institutionell zu einem eigenständigen Politikbereich entwickelt. Dabei konnte anfangs auf den umweltpolitischen Eckpfeilern aufgebaut werden, die von den Vorgängerregierungen entwickelt worden waren. Später musste aber auch auf politische Herausforderungen reagiert werden, die ganz neue Akzente in der Umweltpolitik notwendig machten. Phasen der Umweltpolitik Die Entwicklung der Umweltpolitik lässt sich in vier Phasen einteilen, von denen die beiden letzten Phasen von der Ära Kohl geprägt sind:21 – Technokratische Phase (50er und 60er Jahre). Umweltschutz war eine mehr oder weniger unpolitische Aufgabe von Experten aus den Behörden der Wasserwirtschaft und des Immissionsschutzes.
20 Vgl. Gerhard VOSS, Klimapolitik und Emissionshandel. Die Ökonomie im vorsorgenden Klimaschutz. (IW-Positionen 6, Beiträge zur Ordnungspolitik des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln), Köln 2003. 21 Vgl. DERS., Die veröffentlichte Umweltpolitik. Ein sozio-ökologisches Lehrstück, Köln 1990, S. 68ff.
Das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie
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– Konzeptionelle Phase (70er Jahre). Umweltschutz gehörte zu den wichtigsten Reformprojekten, die im Reformkatalog der sozial-liberalen Koalition enthalten waren. In dieser Zeit wurden unter der Regie liberaler Politiker und der Experten die umweltpolitischen Eckpfeiler (Ziele- und Prinzipientrias) und der grundlegende rechtliche Rahmen entwickelt, auf denen die Umweltpolitik der folgenden Jahrzehnte aufgebaut hat. – Phase der politischen Aufwertung (80er Jahre). Die Umweltpolitik entwickelte sich vor dem Hintergrund besonderer Einflussfaktoren zu einem zentralen Politikfeld auf der Ebene des Bundes. Die Umweltpolitik erhielt in dieser Phase mit der Gründung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ein eigenes Ressort auf Bundesebene. – Phase der Integration und Globalisierung (90er Jahre). Im Vordergrund standen die Sanierung der Neuen Bundesländer sowie globale Umweltprobleme wie der Klimaschutz. Mit der politischen Aufwertung der Umweltpolitik in den 80er Jahren hat sich auch die Gangart der Umweltpolitik verschärft, was sich auch in dem Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie spiegelte. Gesetze und Verordnungen wurden an anspruchsvollere Zielsetzungen angepasst, wobei auch die Wirtschaft stärker in die Pflicht genommen wurde. Neue Rahmenbedingungen Im Vergleich zu den späteren siebziger Jahren, die umweltpolitisch wegen der wirtschaftlichen Schwächen eher restriktiv angelegt waren, wurde auf einen expansiven Kurs umgeschwenkt. Ausschlaggebend dafür waren völlig veränderte Rahmenbedingungen: 1) Konjunktureller Aufschwung: Das Wachstum der Wirtschaft kam wieder in Schwung, so dass von dem Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie weniger Bremswirkungen auf die Umweltpolitik ausgingen. Vor dem Hintergrund besserer wirtschaftlicher Aussichten engagierte sich die Wirtschaft auch immer mehr in Eigenregie für einen besseren Umweltschutz. 2) Wachsendes Umweltbewusstsein: Parallel zu dem lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwung seit dem Regierungswechsel 1982 traten in der Bevölkerung die wirtschaftlichen Existenzsorgen zurück und qualitative Komponenten wie der Umweltschutz traten im Anspruchsdenken der Menschen mehr in den Vordergrund. Das gewachsene Umweltbewusstsein ging allerdings einher mit einer geringen „Opferbereitschaft“: Mehr Umweltschutz, aber zum Nulltarif, war gefragt. 3) Erstarken einer „grünen Opposition“: Grundsätzliche Fragen nach den Grenzen des Wirtschafts- und Energiewachstums und den Risiken der modernen Technik wurden am Umweltschutz festgemacht, so dass die Umweltpolitik zum populärsten gesellschaftspolitischen Thema wurde. 1980 wurde die Partei
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„Die Grünen“ gegründet, die bereits Ende 1982 in sechs Landtagen vertreten war, 1983 mit 5,6 Prozent in den Bundestag einzog und bei der Bundestagswahl 1987 gut 8 Prozent der Stimmen erzielte. 4) Krisenmanagement: Ins Zentrum der allgemeinen Politik rückten die Fragen des Umweltschutzes aber auch durch außergewöhnliche Ereignisse wie die Diagnose des Waldsterbens oder den Reaktorunfall in Tschernobyl. Vor allen Dingen nach 1986 stand die Umweltpolitik aufgrund von Störfällen in Industrieanlagen, Kernkraftwerken und Skandalen, aber auch infolge von Entwicklungen, die den Eindruck von katastrophalen Zuspitzungen der Umweltbelastungen (Robbensterben, Ozonloch, Klimaveränderungen) erweckten, im Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen. 5) Umweltberichterstattung in den Medien: In den Printmedien und den elektronischen Medien wurde das Umweltthema in Form einer sensationellen Berichterstattung22 immer öfter aufgegriffen, was auch erhebliche Rückwirkungen auf die Umweltpolitik hatte. Wegen des gewachsenen Interesses der Medien erschöpfte sich Umweltpolitik insbesondere in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in Öffentlichkeitsarbeit. Vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingung geriet die Umweltpolitik in der Ära Kohl während der 80er Jahre in eine mehr oder weniger hektische gesetzgeberische Tätigkeit. Zunächst musste sie nach dem Regierungswechsel im Herbst 1982 das von der sozial-liberalen Koalition hinterlassene ökologische Aktionsprogramm mit der Entwicklung neuer oder der Novellierung bestehender Gesetze und Verordnungen zu Ende bringen. Dazu gehörte vor allem auch die Abfallpolitik. 1986 wurde mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen (BGBl I S. 1410), kurz Abfallgesetz (AbfG 1986) genannt, der qualitative Sprung von der reinen Ordnung der Abfallbeseitigung zu einer umfassenden Rahmengesetzgebung für die Abfallwirtschaft gemacht. Die Rahmenordnung für die Abfallwirtschaft wurde in der Ära Kohl kontinuierlich weiter entwickelt. Vor allem wurde versucht, die Idee der Kreislaufwirtschaft in die Realität umzusetzen. Das geschah durch die Verabschiedung der Verpackungsverordnung (VerpackV) von 1991 und mit der Novellierung des AbfG von 1986 durch das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz (KrW-AbfG), das am 7. Oktober 1996 in Kraft getreten ist. Waldsterben und Luftreinhaltung Ein erster Anpassungszwang an ganz neue Herausforderungen stellte sich für die Umweltpolitik in der Ära Kohl mit dem Aufkommen der wachsenden Sorge der Bevölkerung um den Gesundheitszustand der Wälder. Besonders dramatisch erschien die Situation, als nach den Ergebnissen der Waldschadenser22 Vgl. EBD.
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hebung von 1984 die geschädigte Waldfläche im Vergleich zum Vorjahr von 34,4 Prozent auf 50,2 Prozent angestiegen war, was allerdings weitgehend messtechnische Ursachen hatte. Als Auslöser wurden von der Politik und der Wissenschaft die Luftschadstoffe angesehen, womit die Luftreinhaltepolitik in den Brennpunkt der öffentlichen Diskussion geriet. Die Reaktion: Es wurde mit höchster politischer Priorität von der Bundesregierung im September 1983 ein Aktionsprogramm „Rettet den Wald“ beschlossen, das dreimal fortgeschrieben wurde und eine drastische Verschärfung der gesetzlichen Grundlagen für die Luftreinhaltung mit sich brachte. Die Konzentration der Umweltpolitik auf die Luftreinhaltung ging aber keineswegs einher mit einer verlangsamten Gangart bei den bereits auf den Weg gebrachten vielfältigen anderen gesetzgeberischen Vorhaben. Vielmehr wurden auch diese Vorhaben wegen der allgemein wachsenden Priorität der Umweltpolitik mit Nachdruck verfolgt. So wurden zwischen 1982 und 1986 praktisch in allen Bereichen des Umweltschutzes neue Gesetze und Verordnungen erlassen, bestehende verändert oder verschärft. Dabei wurde in der Regel instrumentell das Ordnungsrecht eingesetzt. Dieses neue Politikmuster, Bündelung der politischen Aktivitäten auf einzelne Bereiche bei Fortführung der begonnenen Vorhaben, wurde auch in den Folgejahren bei den anderen umweltpolitischen Herausforderungen angewendet. Mit diesem politischen Management versuchte die Umweltpolitik in der Ära Kohl, den Erwartungen in der Bevölkerung bei der Sicherung und Verbesserung der Umweltqualität gerecht zu werden. Durch die Ankündigung und Erarbeitung immer neuer Maßnahmen und Programme wurden die umweltpolitischen Ziele immer anspruchsvoller und das Gesetzgebungsprogramm ständig erweitert, was kostspielige Investitionen insbesondere in der Wirtschaft zur Folge hatte. Auch die Spannungen von Ökonomie und Ökologie wuchsen. Ausstiegsdiskussion und Gewässerschutz Im Mittelpunkt der Umweltpolitik standen nach 1986, sozusagen in Ablösung des Schwerpunktes Waldsterben und Luftreinhaltung, zwei neue große Aktionsfelder. Zum einen ging es um die Risiko- und Ausstiegsdiskussion, die nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl und dem Chemieunfall in Basel aufkam. Nach dem oben beschriebenen Politikmuster wurde die politische Aufmerksamkeit ganz auf den Aufbau einer „Sicherheitskultur der modernen Industriegesellschaft“ verlegt und eine Vielzahl von neuen Gesetzen und Verordnungen angekündigt und durchgesetzt. Sie betrafen vor allem Maßnahmen zur weiteren Strahlenschutzvorsorge sowie zur Begrenzung der Risiken, die von der Nutzung chemischer Stoffe und von Industrieanlagen ausgehen können.
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Das zweite große Aktionsfeld war der Gewässerschutz, der infolge des Robbensterbens in der Nord- und Ostsee während des Sommers 1988 in den Mittelpunkt des politischen Interesses trat. Die Bündelung der politischen Aufmerksamkeit wurde hier – ganz nach dem Vorbild des Aktionsprogramms „Rettet den Wald“ – in einem „10-Punkte-Programm zum Schutz von Nordund Ostsee“ festgelegt. Die Festlegung der Umweltpolitik nach 1986 auf Fragen der Risiko-Minimierung im industriellen Bereich und bei der Kernenergie sowie auf den Gewässerschutz wurde auch noch unterstützt von Ereignissen, die in der Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit erhalten hatten. Dazu gehörte der „Transnuklearskandal“ bezüglich der Entsorgung radioaktiver Abfälle im Dezember 1987, die nachträgliche Bekanntgabe eines Störfalls im Kernkraftwerk Biblis im Dezember 1988, die Havarie des Öltankers in Alaska im April 1989 sowie mehrere Abstürze von Militärflugzeugen in der Nähe von Kernkraftwerken. Ökologische Sanierung der Neuen Bundesländer Zu Beginn der 90er Jahre normalisierte sich das umweltpolitische Geschehen, jedenfalls soweit es die nationalen Belange betraf. Das gilt allerdings mit einer Ausnahme: Die Umweltbilanz, die für Ostdeutschland zu Beginn der Wiedervereinigung aufgemacht werden musste, war katastrophal. Unüberschaubare Altlasten auf gewerblichen Standorten und auf Liegenschaften der Sowjetarmee, verunreinigte Gewässer und ökologisch belastete Flüsse sowie eine atemberaubende Luftverschmutzung gehörten zum Alltagsbild der ehemaligen DDR. Vor diesem Hintergrund wurde in den Verträgen zur Wiedervereinigung der Umweltschutz als eine besondere Aufgabe herausgestellt. Schon in der Präambel des Staatsvertrages wird er als ein zentrales Ziel genannt und in Artikel 16 näher beschrieben. Im Prinzip wurde mit Artikel 16 des Staatsvertrages das bundesdeutsche Umweltrecht vollständig auf das Gebiet der DDR übertragen, was im Einigungsvertrag mit Artikel 34 durch die Verpflichtung, ökologische Sanierungs- und Entwicklungsprogramme aufzustellen, ergänzt wird. Es gehört zu den großen Verdiensten der Ära Kohl und von Bundesumweltminister Klaus Töpfer, dass innerhalb eines Jahrzehnts die großen ökologischen Probleme gelöst wurden, die von einer mehrere Jahrzehnte dauernden verfehlten Wirtschafts- und Umweltpolitik in der DDR verursacht wurden.23
23 Vgl. Steffen HENTRICH/Walter KOMAR/Gerhard VOSS/Martin WEISHEIMER, Umweltschutz in Deutschland. Der Aufholprozess des Ostens, in: IW-Umwelt-Service-Themen Nr. 2 (2001).
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Globale Umweltprobleme Neben der ökologischen Sanierung der Neuen Bundesländer verschoben sich die umweltpolitischen Prioritäten während der 90er Jahre immer mehr auf die internationale Zusammenarbeit, insbesondere auf dem Gebiet des Klimaschutzes. In der Ära Kohl wurden unter der Verantwortung von Klaus Töpfer und Angela Merkel sowohl die programmatischen als auch die institutionellen Grundlagen der heute praktizierten Klimapolitik gelegt. Nach dem Beschluss der Bundesregierung vom 13. Juni 1990 wurde eine Interministerielle Arbeitsgruppe CO2-Reduktion (IMA CO2-Reduktion) eingesetzt. Unter dem Vorsitz des Bundesumweltministers wurde in dieser Gruppe unter Mitwirkung der Ressorts Wirtschaft, Verkehr, Bau, Forschung und Landwirtschaft das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung erarbeitet. Am Ende der Ära Kohl umfasste dieses Programm rund 150 Maßnahmen mit dem Ziel, die Kohlendioxidemissionen bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Zugleich sollten die Emissionen der anderen Treibhausgase reduziert werden. Die Schwerpunkte dieses Programms haben sich selbst in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung wenig verändert. In dem von Angela Merkel verantworteten Umweltbericht 199824 sind folgende Schwerpunkte genannt: – KfW-Förderprogramm zur Energieeinsparung bei Altbauten – Wärmeschutzverordnung zur Begrenzung des Heizwärmebedarfs an Neubauten – Energieeinsparverordnung, die die beiden zuvor genannten Punkte zusammenfassen sollte – Kleinfeuerungsanlagenverordnung – 50.000-Dächer-Initiative der Deutschen Ausgleichsbank – Neuregelung der steuerlichen Wohnungseigentumsförderung – Information und Beratung – Energieverbrauchskennzeichnung – Energiespar-Contracting – Selbstverpflichtung der Deutschen Wirtschaft – Selbstverpflichtung der Automobilindustrie Klimapolitisch trat die Bundesregierung unter Helmut Kohl auch für die Einführung einer EU-weiten CO2-/Energiesteuer ein, allerdings unter dem Vorbehalt, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht darunter leidet.
24 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hg.), Umweltbericht 1998, BT-Drs. 13/10735.
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Neue Programmdiskussion Gegen Ende der Ära Kohl mündete die Umweltpolitik in eine neue Programmdiskussion ein, die sich an dem Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung orientierte. Der Umweltbericht 1994 stand unter dem Titel „Politik für eine nachhaltige Entwicklung“25 und enthielt neben einer Dokumentation der umweltpolitischen Situation, insbesondere auch in den Neuen Bundesländern, umfangreiche programmatische Ausführungen. Unter der großen Überschrift „Fortentwicklung der Umweltvorsorgepolitik“ werden detailliert die umweltpolitischen Maßnahmen und Programme beschrieben, die bis heute das Profil der Umweltpolitik bestimmen, auch wenn insbesondere in der rot-grünen Regierungszeit andere politische Prioritäten gesetzt wurden. Wieweit aber die damaligen Programmansätze bis in die heutige Zeit ausstrahlen, zeigt das Beispiel Klimapolitik. Sowohl die klimapolitischen Ziele als auch die Klimaschutzprogramme, die nach der Regierungszeit von Helmut Kohl umgesetzt wurden, waren in ihren wesentlichen Teilen in der Zeit auf den Weg gebracht worden, als Klaus Töpfer und Angela Merkel die Verantwortung für die Umweltpolitik getragen haben. Die Idee, das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung zur programmatischen Basis der Umweltpolitik zu machen, wurde insbesondere von Bundesumweltministerin Angela Merkel verfolgt. Mitte 1996 initiierte sie auf der Grundlage des Diskussionspapiers „Schritte zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Entwicklung: Umweltziele und Handlungsschwerpunkte in Deutschland“26 einen Diskussionsprozess, an dem alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt wurden. In sechs Arbeitskreisen wurden folgende Themenbereiche diskutiert: Schutz des Klimas; Schutz des Naturhaushalts; Ressourcenschonung; Schutz der menschlichen Gesundheit; Umweltschonende Mobilität; Umweltethik. Die Ergebnisse dieses Diskurses wurden als Zwischenbilanz 1997 der Öffentlichkeit vorgelegt und dienten als Orientierung für den „Entwurf eines umweltpolitischen Schwerpunktprogramms“27, das von Bundesumweltministerin Angela Merkel am 28. April 1998 vorgelegt wurde und sozusagen den Endpunkt der umweltpolitischen Ära Kohl markierte.
25 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hg.), Umweltbericht 1994, BR-Drs. 849/94. 26 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hg.), Schritte zu einer nachhaltigen, umweltgereichten Entwicklung: Umweltziele und Handlungsschwerpunkte in Deutschland, Bonn 1996. 27 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hg.), Nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Entwurf eines umweltpolitischen Schwerpunktprogramms, Bonn, April 1998.
Im Machtdreieck von Partei, CDU/CSU-Fraktion und Regierung Von Klaus W. Lippold Wenn ich kurz resümiere, hatten wir in den 70er Jahren eine Situation, in der der Umweltschutz sehr plakativ in den Vordergrund gestellt worden ist. Auf der einen Seite erschien Dennis Meadows, „Die Grenzen des Wachstums“1, also die Frage, inwieweit diese Erde für ein weiteres kräftiges Wachstum überhaupt tragfähig bleibt, inwieweit das Wachstum mit Nachhaltigkeit – dieser Begriff war damals noch nicht geläufig – zu vereinbaren ist, verbunden auch mit einem Akzent von Wachstumspessimismus. Die Diskussion reichte auch in die damalige Fraktion hinein. Ich erinnere an Herbert Gruhl, der Mitglied der Unionsfraktion war.2 Ich habe mich immer gefragt – ich bin ja erst wesentlich später dazugekommen –, warum wir es nicht geschafft haben, die Spannbreite in der Union so weit zu halten, dass auch Gruhl seinen Platz in der CDU hätte finden können. Später fragte ich Philipp Jenninger, der als Parlamentarischer Geschäftsführer in den 70er Jahren die verschiedenen Strömungen in der Fraktion hätte integrieren müssen, und er hat geantwortet: Das war keine Antihaltung gegenüber Umweltschutzfragen, auch keine Antihaltung gegenüber einer Entwicklung, die wir auch gesehen haben, die wir aufnehmen und an der wir arbeiten mussten, aber als der Kollege Gruhl definitiv gefordert hat, die Unionsfraktion möge die Waschmaschinen in der Bundesrepublik Deutschland verbieten, da sei Schluss der Fahnenstange gewesen. Man sieht, die Positionen gingen damals in einer anderen Weise auseinander, als es heute der Fall ist. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass das Buch von Gruhl „Ein Planet wird geplündert“3 damals sehr zum Nachdenken angeregt hat, lesenswert war, lesenswert ist und in die gleiche Reihe gehört wie Dennis Meadows’ Veröffentlichung. Wir hatten damals eine Situation, die den Umweltschutzgedanken in weiterer Form sehr klar in den Vordergrund gerückt hat, nämlich das Waldsterben, das in einer beispiellosen Art und Weise in der Bundesrepublik emotional den Umweltschutzgedanken aufgearbeitet hat. Es war mit einer der Gründe, dass die Grünen, die das geschickt aufgegriffen hatten, es als Vehikel nutzen konnten, um in den Bundestag zu gelangen. Es war eine Zeit, in der die Bilder der 1 2 3
Dennis MEADOWS, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972 (Orig.: The limits to growth). Herbert Gruhl, MdB 1969–1980, 1978 aus der CDU ausgetreten; Lippold war MdB von 1983–2009. Herbert GRUHL, Ein Planet wird geplündert. Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt/ M. 1975.
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sterbenden Wälder die Bundestagsfraktion natürlich nachhaltig beeindruckt haben. Das war auch ein Punkt für uns zu sagen, dass wir diese Herausforderung annehmen. Die damalige Bundesregierung hat mitgemacht. Wir haben dann das Aktionsprogramm „Rettet den Wald“ aufgelegt, noch im Wesentlichen gekennzeichnet von ordnungsrechtlichen Ansätzen.4 Ich komme später darauf zurück, dass wir die Ansätze dann verändert haben, zu flexiblen, zu marktwirtschaftlichen Instrumenten, aber noch sehr stark geprägt vom Ordnungsrecht. Wir haben auch den Waldschadensbericht beschlossen, aus dem wir dann später den Waldzustandsbericht gemacht haben.5 Aber das, was wir in Angriff genommen haben, hat nach meinem Dafürhalten zentral dazu beigetragen, Probleme an der Wurzel zu packen, nicht an Symptomen zu kurieren, und das war der eigentliche Erfolg. In wenigen Jahren setzten wir die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, die Novelle des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, die Einführung des schadstoffarmen Autos und des bleifreien Benzins durch.6 Der Beschluss all dieser Gesetze und Verordnungen war eine ganz erhebliche Kraftanstrengung, die freilich in eine Zeit fiel, als wir uns das wirtschaftlich leisten konnten. In späteren Zeiten ist deutlich geworden, dass Umweltschutzpolitik, wenn sie nicht diese wirtschaftliche Rückendeckung hat, schwieriger zu verwirklichen ist. Bei der Großfeuerungsanlagen-Verordnung ist deutlich geworden, dass wir mit dieser Maßnahme eine Vorreiterrolle in Europa übernommen haben. Wir regelten innerhalb kürzester Zeit Dinge, die, wenn ich zum Vergleich Großbritannien heranziehe, bis weit in das Jahr 2000 und folgende hineinreichen. Wir haben die Schwefeldioxyd-Emission in einem drastischen Umfang reduziert und damit einen hervorragenden Beitrag geleistet zur Gesundung der Wälder, aber nicht nur zur Gesundung der Wälder, sondern auch für die menschliche Gesundheit. Damals bestand auf diesem Feld eine enge Zusammenarbeit zwischen der Fraktion auf der einen und der Bundesregierung auf der anderen Seite. Und ich meine, dass man dem damaligen Innenminister Fritz Zimmermann durchaus Dank schuldet für das, was er hier auf den Weg gebracht hat. Wir haben lange Diskussionen gehabt, ob es sinnvoll ist, Innenministerien mit Umweltschutzaufgaben zu verbinden oder ob es sinnvoller ist, ein eigenes Umweltschutzministerium zu errichten. Ich will den Gedanken nicht vertiefen, alles 4 5 6
Minderung der Luftschadstoffe: 1983 Großfeuerungsanlagen-Verordnung; ab 1985 Einführung des geregelten Katalysators, 1986 Technische Anleitung Luft. Bundeswaldgesetz vom 27. Juli 1984, BGBl I 1984 Nr. 34; Waldschadensbericht ab 1986; Waldzustandsbericht ab 1994. 1990 umfassende Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG); 1994 Verschärfung der Abgasgrenzwerte bei Pkw, 1997 emissionsbezogene Kfz-Steuer, als Anreiz zum Kauf schadstoffarmer Autos.
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ist längst abgeschlossen, und heute ohne Umweltministerium zu leben, wäre gar nicht mehr denkbar. Aber seinerzeit war es nicht falsch, dass die Stärke des Innenministeriums den Initiativen eine Stoßkraft gegeben hat, die sie ansonsten nicht gehabt hätten. Wir haben damals die zweite Novelle des Bundes-Immissionsschutzgesetzes mit der Sanierung der Altanlagen beschlossen und dafür gesorgt, dass die Anforderungen dynamisiert wurden. Das war ebenso ein wichtiger und erfolgreicher Schritt. Er hat uns erspart, später in ständige Grenzwertdiskussionen einzutreten, und gleichzeitig ermöglicht, Umweltschutz dynamisch zu gestalten und diese dynamische Gestaltung zum Erfolg zu führen. Meiner Meinung nach war auch der Aspekt, über eine Kompensationsregelung nachzudenken, ausgesprochen positiv. Das war einer der ersten Akzente, wo wir neben reinem Atmungsrecht gleichzeitig geprüft haben, wie man wirtschaftliche Aspekte zur Beschleunigung von Erfolgen im Umweltschutz einsetzen kann. Wir hatten in der damaligen Zeit eine zentrale Diskussion um die Frage: Wie reduziere ich die Schadstoffemission bei den Autos, nehme ich ein festes Instrument, den Katalysator, oder gebe ich einen Zielwert vor. Das ist seinerzeit etwas falsch interpretiert worden, weil zu diesem Zeitpunkt der Zielwert, den wir erreichen wollten, nur mit Katalysator erreichbar war. Er wäre auch mit Änderungen am Motor selbst erreichbar gewesen, wäre dann aber in Grenzbereichen geblieben, und das hätte bedeutet, dass es gelegentlich Überschreitungen der Grenzwerte gegeben hätte. Selbst die Automobilindustrie wollte dies nicht. In der Diskussion mit der Hauptgeschäftsführung der Automobilindustrie, die der damalige Staatssekretär Rudolf Sprung und ich geführt haben, mussten wir deutlich machen, dass wir nicht den Ruin der Automobilindustrie wollten, sondern dass es darum ging, ein sinnvolles Instrument zu finden, das schlussendlich auch Akzeptanz schaffen würde für den motorisierten Verkehr. Wir haben versucht zu verdeutlichen, dass, wer für Mobilität ist, gleichzeitig auch dafür sorgen muss, den Menschen die Sorge zu nehmen, zunehmende Mobilität führe über Schadstoffemissionen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Wir haben das in einer akzeptablen Form erreicht. Ich erinnere mich noch – die Diskussionen sind ja heute teilweise ähnlich –, wie wir in der Fraktion darüber sprachen, ob die Dinge richtig dargestellt werden. Für die Automobilindustrie ging es damals um eine Größenordnung von gut 6.000 DM pro Katalysator nach ihren Angaben. Wir haben das bezweifelt, für überhöht und lediglich für eine Form von Abwehrstrategie gehalten, die wir so nicht akzeptierten. Die Realität hat hinterher bewiesen, dass der Katalysator wesentlich preiswerter einzusetzen war. Er wurde ein absolutes Erfolgsinstrument, eine der positivsten Umweltschutzmaßnahmen überhaupt.
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Wir haben aber auch im Verlauf dieser Diskussionen den Versuchungen widerstanden, statt an der Ursache an den Symptomen zu kurieren. Es gab ja damals auch in Teilen der Union eine gewisse Sympathie für die Sommersmogverordnung.7 Wir diskutierten sehr intensiv darüber, ob wir z. B. mit Fahrverboten oder mit Tempolimits etwas erreichen konnten. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es besser ist – siehe das Beispiel Katalysatorregelung –, hier Positionen zu schaffen, die an der Quelle die Emissionen reduzieren, statt über Symbolmaßnahmen etwas anzustreben, was letztendlich keine Verbesserung bringt. Abgesehen davon, dass bei der Ozonverordnung wegen des Sommersmogs die Frage gewesen wäre, wie wir die Gebietsabgrenzung machen. Ich erinnere mich noch, wie ein bayerischer Umweltminister nicht damit zufrieden war, dass man Bundesländer als Größenordnung nimmt, sondern innerhalb des Bundeslandes Bayern auch noch die verschiedenen bayerischen Bezirke als Grenzbereiche abgegrenzt haben wollte. Dass das in der Praxis nicht umzusetzen gewesen wäre, insbesondere wenn an einem schönen Feriensommertag Millionen von deutschen Urlaubern aus dem nördlichen Italien zurückgekommen wären, müssen wir nicht vertiefen. Deutlich ist jedoch, dass der Weg, nicht über Symbolpolitik zu gehen, nicht über Fahrverbote, nicht über Sommersmogverordnungen, ein durchaus richtiger Weg gewesen ist und wir dadurch ein ganz entscheidendes Stück weitergekommen sind. Sicherlich könnten wir heute in der Diskussion über den Feinstaub die gleiche Situation haben. Ich glaube nicht, dass wir durch den Filter bei den Autos einen entscheidenden Beitrag leisten, aber was die deutsche Automobilindustrie in dieser Frage an Ruf verspielt hat, ist schon ganz erheblich, und das zeigt auch, dass es im Grunde keine Weiterentwicklung im Denken gegeben hat, was ich ausgesprochen bedauere. Wenn ich im Vergleich dazu sehe, welche Entwicklung die chemische Industrie von Anfang der 80er Jahre bis heute genommen hat, die sicherlich auch Interessenvertretung betreibt, dann macht das gleichzeitig deutlich, dass hier ein ganz anderer Ansatz gefahren wurde. 1986 kam die Tschernobyl-Diskussion mit der Forderung der Grünen nach dem Ausstieg aus der Kernenergie. Wir haben dagegen argumentiert, dass wir die Sicherheitsstandards hochhalten wollen, sie verschärfen werden – was wir gemacht haben –, aber dass wir von der Verantwortbarkeit unserer Kraftwerke überzeugt sind und deshalb dazu stehen, Kernkraft zu nutzen, Kernkraft im Energiemix zu behalten mit sehr strengen Auflagen. Wir hatten damals bestimmte Grenzwertfestlegungen, die im Grunde genommen etwas überzogen waren und – wie wir hinterher festgestellt haben – so nicht notwendig waren. Dennoch kamen wir zum Ergebnis, wenn man einen solchen Grenzwert fest-
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Ozon-Verordnung vom 18. Juli 1991, BGBl I 1991, S. 1587.
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gelegt hat, muss man sich auch daran halten und die Überschreitung notfalls sanktionieren. Denn zu sagen, dieser Grenzwert ist falsch festgelegt, ist wiederum nicht darstellbar. Als Fraktion und Bundesregierung sind wir m. E. seinerzeit einen richtigen Weg gegangen. Wir haben unsere Vorreiterrolle im Bereich der Umweltinnenpolitik und der Chemiepolitik wahrgenommen. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland auf die Ereignisse in Bhopal (Giftgasexplosion, 1984), auf die Ereignisse bei Sandoz (Brand in der Chemiefabrik bei Basel, 1986) reagiert, die betroffenen Länder haben dies nicht getan. Aber wir sind dazu übergegangen, mit einer umfassenden, in sich geschlossenen konzeptionellen Chemiepolitik die Voraussetzungen zu schaffen, dass chemische Produktion in der Bundesrepublik Deutschland in gesicherter Form erfolgen kann. Die Störfallverordnung sei nur am Rande erwähnt.8 Aber nicht nur im Binnenbereich haben wir Hervorragendes geleistet, sondern wir haben uns in der Fraktion auch den großen internationalen Fragestellungen zugewandt. Ich erwähne das Montrealer Protokoll (1987/1989), die stufenweise Reduzierung des Verbrauchs von FCKW und Halonen, die drohende Zerstörung der Ozonschicht. Es war unser Umweltminister Klaus Töpfer, der hier als Motor der Entwicklung dafür gesorgt hat, dass wir dieses Problem in der Bundesrepublik Deutschland wesentlich schneller angingen. Er hat unbeirrbar an dieser Zielsetzung festgehalten und deutlich gemacht, dieses Ziel – wenn man es will – auch zu erreichen, ohne dass wirtschaftliche Schäden auftreten. Das war eine grandiose Leistung und ein hervorragender Einstieg in den internationalen Umweltschutz. Wir haben unsere Rolle im internationalen Umweltschutz auch in der Frage des Klimaschutzes zentral gesehen und gefestigt. Auch hierbei spielte Klaus Töpfer eine herausragende Rolle. In diesem Zusammenhang haben wir als Fraktion der Bundesregierung hervorragend zugearbeitet in der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ (11. Wahlperiode) und „Schutz der Erdatmosphäre“ (Fortsetzung in der 12. Wahlperiode), wo wir ein Spektrum von Maßnahmen und Aktivitäten aufgelistet haben, d. h. als Instrumentenkasten, der für die Bundesregierung durchaus in Frage gekommen ist. Es ist einer der Erfolgspunkte der damaligen Zeit, dass die Bundesregierung die Empfehlungen der Enquete-Kommission in wesentlichen Teilbereichen entschlossen aufgegriffen und umgesetzt hat. Wir erreichten, dass wir sowohl in der Frage der Energieeinsparung, wie der Verbesserung der Energieeffizienz, wie in der Frage des Energiemixes und der Frage, wie muss Energiepolitik angelegt sein, um zum Klimaschutz beizutragen, konzeptionell in einer Art und Weise vorgearbeitet haben, dass wir 8
Störfall-Verordnung vom 9. Mai 1985, vom 20. September 1991 (= Neufassung der 12. VO zu BImSchG), BGBl 1991 I Nr. 54.
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noch heute von den Ergebnissen, die damals erzielt worden sind, durchaus leben können. Der ganze Instrumentenmix, den wir seinerzeit abgearbeitet haben, ist heute noch nicht umgesetzt. Da bleiben noch Positionen, die damals vorgedacht wurden und die wir heute noch in Angriff nehmen könnten, so wie sie ehedem konzipiert waren. Wir haben Erfolge erzielt, aber sicherlich auch Fehler gemacht. Da ist z. B. der Schutz der Tropenwälder. Wir hätten uns von vorne herein nicht nur dem Schutz der tropischen Regenwälder widmen sollen, um damit Ressentiments insbesondere bei den Entwicklungsländern zu wecken, die sagten: Warum werden ausgerechnet unsere tropischen Wälder herausgegriffen, warum geht man nicht an die Waldeinschläge in Kanada, in der Sowjetunion usw. Diese Ressentiments haben wir ausgeräumt, in dem wir später sagten, ein wesentlicher Beitrag ist der Schutz der Wälder generell, aber der Ansatzpunkt unter klimatischen Aspekten war natürlich, die Brandrodung – die einen wesentlichen Beitrag zur CO2-Emission und damit zur Klimaproblematik geleistet hat – in den Griff zu bekommen. Wobei uns in der Fraktion im Laufe der Diskussion deutlich wurde, dass nicht die Frage der CO2-Emissionen die eigentlich entscheidende ist, sondern entscheidend ist die Frage der Vernichtung von Arten, des ungeheueren Artenverlustes, der dadurch eintritt, dass man auf großen Flächen des tropischen Regenwalds den großen Artenreichtum vernichtet und damit Erbgut, das sich in Millionen Jahren angesammelt hat, unwiederbringlich zerstört. Das war einer der Gründe, dass wir gesagt haben, wir müssen zu einer Bewusstseinsänderung auch unter dem Aspekt kommen, nicht nur Brandrodung wegen der CO2-Emission, sondern auch Artenschutz als eine zentrale Frage zu behandeln. Wir erfuhren bis in die Spitze der Bundesregierung hinein – nicht nur durch Klaus Töpfer, sondern auch durch Bundeskanzler Helmut Kohl – eine Unterstützung, wie sie nach meinem Dafürhalten einmalig ist. Der Kanzler hat sich ausgesprochen intensiv der Diskussion um den Klimaschutz weltweit angenommen, und er hat sich in diese weltweite Diskussion führend eingeschaltet. Etwas, das wir in der derzeitigen Situation immer wieder vermissen. Wenn ich daran denke, wie er Brücken geschlagen hat nach Singapur, nach Brasilien, ins südliche Afrika, um bei diesen Völkern und Staaten um Verständnis zu werben für unsere Vorgehensweise im Klimaschutz, dann war das kongenial. Nicht alles konnten wir durchsetzen. Unser großartiger Plan, den tropischen Regenwald zu schützen in einer Größenordnung von 20 Milliarden DM, war genial gedacht. Doch wurde das von einigen von uns in internen Diskussionen für nicht realistisch gehalten. Wir haben das Projekt dann umgewandelt in ein Crashprogramm zum Schutz der Regenwälder und es mit 500 Mio. DM dotiert. Das ist der größte Brocken, den wir jemals in der Bundesrepublik zum Schutze der tropischen Regenwälder beschlossen und umgesetzt haben.
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Die eigentliche Problematik lag aber darin, dass wir zur Hilfe auch kongeniale Partner finden mussten, um mit unserem idealistischen Denken nicht gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, andere bevormunden zu wollen. Dieses Projekt, das in Brasilien realisiert werden sollte, hat dort ganz erhebliche Widerstände gefunden, die über eine lange Zeitspanne hinweg erst einmal ausgeräumt werden mussten, damit das Programm in dem Umfang wirksam werden konnte, wie wir uns das vorgestellt haben. Es hat darüber hinaus in einem breiten Bereich, insbesondere in den Jahren 1980 bis 1992, Initiativen zum Gewässerschutz gegeben: Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes, Novelle des Waschmittelgesetzes, Novelle des Abwasserabgabengesetzes.9 Hilfreich hierbei war zu der Zeit das Robbensterben an der Küste, das medienwirksam als Transportvehikel dazu diente, all diese Gesetze durchzusetzen, obgleich sich später herausstellte, dass es weniger an mehr Mitteleintrag oder an anderen Stoffen lag, die wir ins Wasser eingeleitet haben, sondern die Ursache ein schlichter Virus war; aber wir hatten die Gesetze durch, dank der Initiative unseres Umweltministers Klaus Töpfer. Das heißt also, man muss ggf. auch die Dinge, wenn sie sich so anbieten, nutzen, um etwas Vernünftiges daraus zu machen. In dieser Zeit widerstanden wir der Versuchung, wie die Grünen Umweltpolitik über Angst zu gestalten. Wir suchten nicht den Schadstoff der Woche oder den des Monats, sondern wir sind durch systematische Arbeit an die Positionen herangegangen. Ich will eine Position nicht vergessen, die nach meinem Dafürhalten beispielhaft ist. Dass wir mit der Wiedervereinigung unsere Vorstellungen vom Umweltweltschutz auf die ehemalige DDR übertragen haben und wir dort mit den gleichen Maßstäben an die gewaltigen Probleme herangegangen sind, ist meiner Meinung nach eine hervorragende Leistung. Wenn ich sehe, was wir im Kläranlagenbau in der ehemaligen DDR innerhalb kürzester Zeit geleistet haben, und daran denke, dass es europäische Staaten gibt, deren Hauptstädte heute noch nicht über entsprechende Kläranlagen verfügen, wie die, die wir in der DDR aus dem Boden gestampft haben, dann ist das ein ganz zentraler Aspekt. Wenn man sieht, wie die Leute im damaligen Chemiedreieck unter den Emissionen der Industrie gelitten haben, und wenn man sieht, mit welchem Umweltstandard heute in den neuen Bundesländern gearbeitet wird, selbst wenn es noch nicht den Industriebesatz gibt, wie ich ihn mir wünsche, aber es immer mehr und immer bessere Ansätze gibt – man denke nur an das BMWWerk in Leipzig –, ferner, dass wir die Probleme der Altablagerung, Bodenverseuchung, Flammseen, Silberseen, auch die Frage des Uranerzbergbaus und alles andere weitgehend in den Griff bekommen haben, dann ist hier sicherlich
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Wasserhaushaltsgesetz, Novelle vom 11. November 1996; Abwasserabgabengesetz.
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eine ganze Menge im Zusammenhang mit der deutschen Einheit geleistet worden. Wenn wir heute sagen können, dass wir in den neuen Bundesländern vom Grunde her eine ökologisch vernünftige Situation haben und der ehemalige Grenzgürtel heute in besonderer Weise für den Naturschutz genutzt werden kann, ist dieses auch ein wesentlicher Erfolg der Union, den sie geschlossen erreicht hat. Allmählich mussten wir feststellen, dass mehr und mehr Widerstände eintraten, da wir nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne nach der Wiedervereinigung die Dinge wirtschaftlich nicht mehr so günstig zusammenbinden konnten wie vorher. Die Situation, dass die finanziellen Mittel nicht mehr im gleichen Maße flossen wie früher, hat natürlich die Widerstände gegen die Umweltpolitik verstärkt. Unsere Reaktion darauf, nicht nur mit dem klassischen Ordnungsrecht vorzugehen, sondern nach Lösungen zu suchen, wie wir mit flexiblen, marktwirtschaftlichen Instrumenten die Dinge bewerkstelligen könnten, war eine gute und passende Antwort. Ich erinnere daran, dass wir seinerzeit über Emission trading noch in anderer Form gesprochen haben, Zertifikatslösung, dass wir aber insbesondere die Selbstverpflichtung als Instrument in der Bundesrepublik Deutschland zur Blüte gebracht haben. Es gab damals ca. 100 Selbstverpflichtungen zwischen Regierung und Wirtschaft, davon waren 99 erfolgreich. Wenn wir überall eine solche Trefferquote erzielt hätten, wären wir mehr als glücklich, auch wenn wir die Diskussion heute sehen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Selbstverpflichtung der entscheidende Faktor war in der Frage der Reduktion von CO2. Die Selbstverpflichtung, auch wenn sie heute nicht mehr bei dieser Regierung zentral im Mittelpunkt steht, ist ein Punkt, den wir weiter bei der Frage, wie wir Probleme lösen wollen, berücksichtigen müssen. Wir haben deutlich gemacht, dass wir bei unseren Instrumenten nicht nur darauf setzen, die Menschen oder die Wirtschaft zu belasten, sondern auch über Anreize zu arbeiten und diese Anreize steuerlich genauso als Instrument zur Fortführung des Umweltschutzes nutzen, wie wir eben auch das Kooperationsprinzip benutzen, um in der Landwirtschaft nicht nur durch Auflagen, sondern auch durch Verträge mit Landwirten auf der einen Seite bäuerliche Landwirtschaft zu erhalten und auf der anderen Seite gleichzeitig Naturschutz zu realisieren. Und ich meine, dass es nach wie vor wesentlich besser ist, Naturschutz mit den Menschen als Naturschutz gegen die Menschen zu realisieren. Wir haben damals flexible Instrumente wie Joint implementation im Bereich des Clean Development Mechanism in die Diskussion eingeführt, allerdings noch nicht umgesetzt. Das sind Positionen, die wir nach wie vor nutzen müssen, um zu Ergebnissen zu kommen, und das kann hilfreich sein, um in der Frage der CO2-Reduktion global und weltweit weiterzukommen.
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Abschließend möchte ich nur noch einige wenige Positionen sehr deutlich herausstellen. Es hat natürlich nicht immer völliges Einvernehmen gegeben. Ich habe schon erwähnt, dass es bei der Sommersmogverordnung konträre Standpunkte in der Fraktion gab, aber auch bei der Frage der regenerativen Energien hat es unterschiedliche Meinungen in der Fraktion, diesmal nicht zur Regierung, sondern zur Fraktionsführung gegeben. Wir wollten damals am Stromeinspeisungsgesetz festhalten, über die Fraktionsspitze ist dann die Frage des EEG (Erneuerbare Energien-Gesetz)10 hineingedrückt worden. Wir werden sehen müssen, wie wir in Zukunft mit diesem Bereich umgehen. Wir haben darüber hinaus feststellen müssen, dass wir an bestimmten Positionen, an denen Helmut Kohl absolut festhielt, nicht vorbeikamen trotz – nach meinem Dafürhalten – besserer Argumente. Im Bereich Kohlesubvention erinnere ich mich daran, wie Gunnar Uldall11 und ich mit dem Bundeskanzler diskutiert haben, der noch seinen damaligen Abteilungsleiter Johannes Ludewig beizog, was in der Sache nichts geändert hat, weil die Argumente für die Fortführung der Kohlesubvention auch durch gute Leute nicht stichhaltiger wurden. Aber die alte, durchaus emotionale Verbindung, die der Kanzler zur Kohle hatte – genauso wie die emotionale Verbindung des Kanzlers zur Landwirtschaft –, hat dazu geführt, dass diese Position nicht durchsetzbar war. Wir haben diese Diskussion heute wieder in NRW. Wenn es dort möglicherweise zu einer Zusammenarbeit zwischen CDU und FDP kommt, und sich die Frage stellt, wie weit und in welchem zeitlichen Rahmen man die Probleme um die Subventionierung der Ruhrkohle lösen kann, dann kommen diese Argumente wieder hoch. Ich habe außer Acht gelassen Positionen, wie das Abfallrecht,12 bei dem wir sehr vieles erreicht haben, indem wir den Verwertungsgedanken, den Vermeidungsgedanken herausgestellt haben. Bei den Gesetzesentwürfen, z. B. beim Abfallwirtschaftsrecht, haben die Kollegen Kampeter und Friedrich die Regelungen noch einmal völlig neu durchformuliert.13 Wir haben darüber hinaus in vielen Bereichen klar und deutlich erkennen lassen, dass wir an einer zielorientierten Umweltschutzpolitik festhalten. Das tun wir auch jetzt in den Zeiten, bei denen die Gelder knapp sind, aber man kann mit den Positionen, wie ich sie angedeutet habe – flexible Instrumente
10 Stromeinspeisungsgesetz: Gesetz über die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien in das öffentliche Netz (EEG) vom 7. Dezember 1990, BGBl 1990 I, S. 2633 11 Gunnar Uldall, MdB 1983–2001 (CDU). 12 1986: Abfallgesetz; Juni 1991: Vermeidung von Verpackungsabfällen; Juli 1992: Neufassung der Klärschlammverordnung, Nutzung von Klärschlämmen zur Pflanzendüngung; Juni 1993: Technische Anleitung (TA) Siedlungsabfall; Oktober 1994: Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, das das Abfallgesetz von 1986 ersetzte. 13 Steffen Kampeter, MdB seit 1990 (CDU); Dr. Gerhard Friedrich, MdB 1987–2002 (CSU).
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auf der einen Seite, Anreize, insbesondere steuerliche Anreize auf der anderen Seite –, mehr Umweltschutz dort, wo es nach wie vor nötig ist, umsetzen. Im Moment sehe ich eine zentrale Aufgabe darin, den Umweltschutz international voranzutreiben. Es ist uns gelungen, den Umweltschutz in der Bundesrepublik soweit voranzutreiben, dass eine direkte Bedrohungssituation nicht mehr gegeben ist, und das ist sicherlich auch ein Punkt, warum es in Teilen der Bevölkerung nachlassendes Interesse gibt. Wir müssen die Aspekte definieren, wo aus Vorsorgegründen nach wie vor gearbeitet werden muss, wo die Dinge noch erweitert werden müssen, aber ich glaube, dass wir im Binnenland den Umweltschutz im Griff haben. Wir müssen nicht nur in den Industriestaaten, sondern auch mit den Schwellenländern jetzt weltweit die Diskussion führen, wie wir die globalen Umweltprobleme lösen. Das ist nicht nur der Schutz der Tropenwälder, das ist nicht nur die Frage des Artenschutzes oder der Wüstenausbreitung, das ist auch die Frage des Schutzes der Weltmeere und eine Reihe anderer Fragen mehr. Ich glaube aber, dass wir, wenn wir konsequent bei unserer Unionslinie bleiben und auch in Zukunft zwischen Regierung und Parlament eng zusammenarbeiten, diese Lösung schaffen können und auch schaffen werden.
Die Umweltpolitik 1982–1998 aus der Sicht der Umweltverbände Von Helmut Röscheisen Im Folgenden will ich versuchen, die Sicht der Umweltverbände, auch meine Erfahrungen, anhand von wenigen Punkten darzustellen. Ich habe sie so ausgewählt, dass ein Bezug zur heutigen Politik besteht. Auf diese Weise kann man sich auch aus einer etwas kritischen Haltung ein Bild davon machen, was gut und was weniger gut gelaufen ist. 1. Aktionsprogramm Ökologie (1984) Während der Zeit der sozial-liberalen Koalition Anfang der 70er Jahre wurde in der Tat der Umweltschutz in Deutschland etabliert, lange bevor die Umweltschutzverbände Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre entstanden. Peter Menke-Glückert und Günther Hartkopf, beide Staatssekretäre im Innenministerium, haben damals zusammen mit anderen, Innenminister Baum und auch mit dem damaligen Landwirtschaftsministerium, ein wegweisendes Konzept in Auftrag gegeben, das sog. Aktionsprogramm Ökologie, das jedoch nicht umgesetzt wurde. Der in mehrjähriger Arbeit von 50 international angesehenen Wissenschaftlern erstellte umfassende Bericht für eine ökologisch ausgerichtete Umweltvorsorgepolitik gilt als nationaler Beitrag der Weltstrategie zur Erhaltung der Natur (IUCN) und von Global 2000, dem Expertenbericht an den US-Präsidenten. Dieses Aktionsprogramm Ökologie hat in der Tat die Grundlage für eine umfassende Umweltvorsorgepolitik gelegt, die auch heute noch, zumindest in wesentlichen Bereichen, Gültigkeit besitzt. Ergebnis der ersten Jahre der Ära Kohl im Umweltbereich war, dass dieses Aktionsprogramm Ökologie in den Schubladen verschwunden ist. Kein Mensch sprach mehr davon. Die Vorlage wurde nicht verwandelt, wie man im Fußball sagt. Vielleicht weil sie von der falschen Vorgängerregierung kam, vielleicht weil die Vorschläge ziemlich weitgehend waren und in das Wirtschaftssystem einer Wegwerfgesellschaft mit einer auf quantitatives Wachstum setzenden Wirtschaft zu stark eingegriffen hätten. Das war die erste Momentaufnahme, eine kritische Momentaufnahme. 2. Die Aufnahme der Staatszielbestimmung „Umweltschutz“ ins Grundgesetz wird verhindert (1984) Es gab 1984 Gesetzentwürfe von der damaligen Opposition, SPD und Grünen, zur Änderung des Grundgesetzes für die Einführung des Staatsziels Umweltschutz. Beide Gesetzentwürfe wurden von der CDU/CSU einheitlich abgelehnt
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mit einer interessanten nachvollziehbaren Begründung: Die Einführung berge unabsehbare Risiken im Hinblick auf die Entwicklung der Rechtsprechung, weil man befürchte, dass der Umweltschutz rechtlich Vorrang hätte vor anderen Zielen. Aber es gab noch eine zweite Begründung, nämlich, man würde damit im Hinblick auf eine nicht erfüllbare Erwartungshaltung in der Bevölkerung den Boden dafür ebnen, dass wegweisende (wirtschaftliche) Veränderungen gebremst würden. Es ist schon angeführt worden, dass die Kohl-Regierung als relativ wirtschaftsfreundlich galt. Dass die Einführung der Staatszielbestimmung Umweltschutz im Grundgesetz 1984 aus diesen Gründen gescheitert ist, ist ein weiterer Beweis dafür. Hierzu passt auch der gescheiterte Versuch, das Thema Umweltschutz in das Steuersystem einzuführen. Es gab eine Absprache zwischen Bundeskanzler Kohl und dem damaligen Chef der BASF, dass die Ökosteuer in Deutschland nicht eingeführt werden solle, weil die Chemieindustrie damit über Gebühr belastet worden wäre. Erst 1994 kam es durch Art. 20a GG zur Aufnahme der Staatszielbestimmung Umweltschutz ins Grundgesetz. 3. Bundeskanzler Helmut Kohl zieht Umwelt- und Energiepapier der CDUProgrammkommission aus dem Verkehr (1988) Im Jahre 1988 gab es ein brisantes Papier der CDU-Programmkommission: Ein Papier zum Thema Umwelt und Energie, an dem praktisch sämtliche bekannten Persönlichkeiten der Union mitgearbeitet hatten, u. a. Heiner Geißler, Klaus Töpfer, Heinz Riesenhuber, Rita Süssmuth. Dieses Papier hatte einen bemerkenswerten Inhalt, der auch für die heutige Politik noch relevant ist. Denn gerade heute haben wir vom DNR eine kritische Pressemitteilung herausgegeben mit der Überschrift „CDU-Kanzlerkandidatin Merkel, Atomkanzlerin“ als Reaktion auf die Erklärung von Frau Merkel, dass sie den Ausstieg aus dem Atomausstieg anstrebt. Dies bedeutet natürlich eine Kampfansage an die Umweltverbände, das weiß die Bundeskanzlerin und das weiß auch die CDU. An diesem Punkt sind wir völlig konträr, weil wir der Meinung sind, dass eine vernünftige, zukünftige Energiepolitik ohne Atom, ohne Kohle durch Effizienz, Einsparung und erneuerbare Energien gekennzeichnet sein muss. Das ist ein Kontrapunkt und, wie Sie sehen, gehen die Auseinandersetzungen um diesen Gegensatz weit in die Vergangenheit zurück. Im Papier der Programmkommission Umwelt und Energie hatten Prof. Töpfer u. a. wegweisende Ideen aufgezeichnet: Energiepolitik ohne Kernenergie und mit immer weniger fossilen Energieträgern. Die Autoren beklagten fehlende institutionelle und wissenschaftliche Grundlagen für die Erforschung und Anwendung neuer regenerativer Energieträger, von Energieeffizienz und Energieeinsparungen und forderten eine entsprechende Großforschungsein-
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richtung. Dieses Papier konnte auf dem Wiesbadener Parteitag der Union im Jahr 1988 nicht verabschiedet werden.1 Das ist für mich eine der bemerkenswertesten, problematischsten Entscheidungen in der Ära Kohl zum Umweltbereich. Eine solche Entscheidung kann m.E. nicht zukunftsfähig sein. Das hat mit dazu beigetragen, dass die Umweltpolitik in der Ära Kohl von meiner Seite eher eine negative Bewertung erfahren muss. 4. Waldsterben als vorherrschendes Thema der 80er Jahre In den 80er Jahren war das Waldsterben eines der zentralen Themen, das wir von den Umweltverbänden mitgeprägt haben. In der Amtssprache hieß es „neuartige Waldschäden“. Es gab dann, das ist sehr positiv, die Großfeuerungsanlagenverordnung und die TA Luft. Beide Regelungen wurden während der sozial-liberalen Zeit konzipiert und dann in der Ära Kohl umgesetzt. Die Belastung ist danach bei Schwefeldioxyd sehr stark zurückgegangen. Was wir bis heute nicht erreicht haben, ist die entscheidende Reduktion von Stickoxyden, insbesondere aus dem Verkehr und aus dem Bereich der Landwirtschaft, die nach wie vor dafür sorgen, dass das Thema Waldschäden auf der Agenda bleibt. Gerade im letzten Jahr war wieder eine Zunahme zu verzeichnen. Wir sind also da noch nicht entscheidend weitergekommen. 5. Wiedervereinigung Deutschlands Die umweltpolitischen Folgen der Wiedervereinigung Deutschlands wurden bereits erwähnt. Für die Umweltschützer besonders bemerkenswert war – wir haben das „Aufbruch im Umbruch“ genannt –, dass durch die Tat einiger weniger, der so genannten Viererbande in der ehemaligen DDR mit Michael Succow, Hans Dieter Knapp, Lebrecht Jeschke und Matthias Freude, Naturschutzgeschichte geschrieben wurde. Sie haben es geschafft, in einem dramatischen Wettlauf mit der Zeit die wichtigsten, ökologisch wertvollsten Gebiete in der
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Zur Beratung des Leitantrages „Das christliche Menschenbild als Grundlage unserer Politik“ wurde eine Kommission eingesetzt, zu deren etwa 20 Mitgliedern auch Geißler, Riesenhuber, Süssmuth und Töpfer gehörten. Der ursprüngliche Entwurf behandelte folgende Themen: I. Präambel, II. Menschliches Leben ist unverfügbar, III. Kinderfreundliche Gesellschaft, IV. Zusammenleben mit Kranken, Pflegebedürftigen und Behinderten, V. Ältere Menschen, VI. Solidarität mit Arbeitslosen, VII. Miteinander von Deutschen und Ausländern, VIII. Umwelt. In der Sitzung der Kommission am 12. Februar 1988 wurden die Punkte VII und VIII aus dem Leitantrag gestrichen. – Auf dem Wiesbadener Parteitag vom 13.–15. Juni 1988 wurde vom Bundesvorstand der JU und vom CDU-Landesverband Saar der Antrag gestellt, einen Abschnitt „Umweltschutz“ als Ergänzung in den Beschluss aufzunehmen. Die Anträge wurden als Material an den Bundesvorstand überwiesen und in den Leitantrag des 37. Bundesparteitages (1989) „Die Schöpfung bewahren“ einbezogen. [Anm. der Redaktion]
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ehemaligen DDR rechtlich so zu schützen, dass sie in den deutschen Einheitsvertrag übernommen werden konnten, bevor sich die DDR aufgelöst hat. Es war einer der letzten Beschlüsse des DDR-Ministerrates. Die Schutzgebiete sind in den Einheitsvertrag aufgenommen worden und haben bis heute Bestand. Es sind die fünf Nationalparks, Jasmund, die Vorpommersche BoddenLandschaft, der Müritz-Nationalpark in Mecklenburg-Vorpommern, der Hochharz in Sachsen-Anhalt und die Sächsische Schweiz in Sachsen, dann sechs Biosphärereservate und einige Naturparks. Prof. Töpfer hat zu Recht diese Gebiete als das Tafelsilber der deutschen Einheit bezeichnet. 6. UN-Konferenz Umwelt und Entwicklung in Rio (1992) Meiner Meinung nach hat sich die Umweltpolitik der Ära Kohl durch eine starke Umweltaußenpolitik ausgezeichnet. Das Gewicht wurde sehr auf Außenpolitik gelegt. Der Kanzler war selbst in Rio anwesend und hat sich dort stark für eine nachhaltige Entwicklung eingesetzt, ebenso wie Minister Töpfer. Über die Entwicklung eines Nationalen Nachhaltigkeitsrates wurde debattiert, ohne allerdings national die Dinge umsetzen zu können. Das große Engagement von Prof. Töpfer mündete dann in seine Ernennung als Chef des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). 7. Größtes Defizit Es geht um das Scheitern der geplanten Reform des Bundesnaturschutzgesetzes und zwar trotz mehrfacher Ankündigungen von Minister Töpfer, dieses Gesetz zu ändern. Das Reformvorhaben scheiterte letztlich am Widerstand der Agrarlobby, die in der Ära Kohl über einen sehr starken Einfluss verfügte. Es ist damals leider nicht gelungen, das Gesetz zu ändern. Ein zentrales Merkmal des inzwischen novellierten Bundesnaturschutzgesetzes ist es auch, fachliche Anforderungen an die landwirtschaftliche Praxis vorzugeben, da die industrialisierte Landwirtschaft ein Hauptfaktor bei der Gefährdung von Tier- und Pflanzenarten und ihrer Lebensräume ist. Dieses Ziel sollte mit einer Reform des Bundesnaturschutzgesetzes erreicht werden. Dies ist weder Minister Klaus Töpfer noch danach Ministerin Angela Merkel geglückt. Erst die rot-grüne Koalition konnte am Ende der letzten Legislaturperiode dieses Gesetz reformieren. 8. Der Einfluss der Umweltverbände Ich möchte mit etwas Positivem enden. Es gab einen bemerkenswert engen Draht zwischen dem langjährigen Präsidenten des DNR, Prof. Wolfgang Engelhardt, und Bundeskanzler Helmut Kohl. Engelhardt war so etwas wie Kohls
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umweltaußenpolitischer Berater. Er hat sicher dazu beigetragen, dass Bundeskanzler Kohl in Rio persönlich anwesend war. Engelhardt war im Übrigen auch derjenige, der das erste Umweltministerium in Deutschland und zwar in Bayern konzipiert hat. Er hat in vielen persönlichen Vieraugengesprächen mit dem Bundeskanzler bewirkt, dass Helmut Kohl das Thema Schutz des tropischen Regenwaldes wie kein anderer bisher in Deutschland zu seinem Thema gemacht hat. Das hat dazu geführt, dass insbesondere im Amazonasgebiet in Brasilien – das ist das größte noch erhaltene Regenwaldgebiet der Erde mit einer ungeheueren Artenvielfalt – ein so genanntes Pilotprogramm in Höhe von mehreren 100 Millionen Euro zur Erhaltung dieses Tropenwaldes gestartet wurde. Das hat sicher dazu beigetragen, dass der Druck auf dieses Gebiet etwas begrenzt wurde, aber es konnte nicht verhindern, dass die Zerstörung der Regenwälder weiter voranschreitet. Trotzdem will ich die Leistung des Bundeskanzlers hier erwähnen, die sehr positiv war. Dass der Bundeskanzler zum 75. Geburtstag unseres langjährigen Vereinspräsidenten Prof. Engelhardt persönlich die Laudatio gehalten und sich mehrere Stunden außerordentlich wohl gefühlt hat im Kreise der Naturschutzverbände, will ich hier nicht verschweigen. Es gab also trotz der Defizite, die ich benannt habe, eine bemerkenswerte persönliche Übereinstimmung zwischen ihm und Teilen der Umweltverbände. Wir müssen damit rechnen, dass nach der nächsten Bundestagswahl die Akzente im Umweltbereich anders gesetzt werden. Ich hoffe sehr, dass wir die Differenzen, die wir etwa bei der Energiepolitik haben, auch wegen der guten persönlichen Beziehungen zur CDU-Spitze, in dem einen oder anderen Punkt abbauen und auf diese Weise Fehlentwicklungen verhindern können.
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Einführung Von Hans-Peter Schwarz Nähern wir uns dem Thema über eine pessimistische Analyse, die im Jahr 1982 skizziert wurde. Denn nichts ist historiographisch so aufschlussreich wie die Prognosen von Unheilspropheten, die sich als falsch erwiesen haben. „In Europa“, so dieser Analytiker, „erscheint die Bundesrepublik Deutschland, die mehr als je zuvor der Eckstein der Atlantischen Allianz ist, erschüttert. Angrenzend an das sowjetische Imperium bemüht sie sich darum, eine amerikanische Armee auf ihrem Territorium zu behalten, ohne die Männer im Kreml zu verärgern. Der Pazifismus von Millionen Deutschen in der Friedensbewegung reduziert die Entscheidungsfähigkeit der Regierung: Handelt es sich um die legitime Furcht vor furchtbaren Waffen oder um die Weigerung, eine Teilung hinzunehmen, mit der das deutsche Volk sich immer weniger abfinden will? ... Ob Sozialdemokrat oder Konservativer, der Bundeskanzler von Bonn blickt sowohl nach dem ihn bedrohenden Osten wie nach dem ihn schützenden Westen. In welche Richtung wird er schließlich gehen?“ So Raymond Aron wenige Monate vor seinem Tod im „Epilog“ zu seinen Lebenserinnerungen, die im Frühjahr 1983 erschienen sind.1 Er sah den Westen in einer Phase galoppierender Dekadenz, hielt einen offensiven Atomkrieg der militärisch überlegenen Sowjetunion nicht für völlig ausgeschlossen, sorgte sich aber sehr viel mehr vor einer Zug um Zug sich vollziehenden politischen Beherrschung Westeuropas durch Moskau bei gleichzeitig fortschreitender Schwächung der USA, die auch damals für schwere außenpolitische Kunstfehler anfällig waren. Immerhin meinte er im Schlusssatz seiner posthum erschienenen letzten Studie des Titels „Die letzten Jahre des Jahrhunderts“: „Das Spiel ist noch nicht entschieden. Wir haben gelernt, daß man Kriege nicht mit Statistiken über das Bruttosozialprodukt gewinnt. Wir sind noch nicht soweit, den Sieg eines Staates als unausweichlich zu betrachten, dessen ganzer Stolz seine Panzerdivisionen sind, dessen Volk aber in Armut und Knechtschaft darbt.“2 Als dann 1989/90 der Ostblock zusammenbrach und als sich 1991 sogar das über die Jahrhunderte gewachsene russische Imperium auflöste, fanden sich natürlich viele, die diesen Ausgang des Ost-West-Konflikts schon immer vorhergesehen hatten. Tatsächlich aber war die fast resignative Einschätzung Arons für das psychologische Klima und für viele Erwartungen Anfang der achtziger Jahre charakteristisch. 1 2
Raymond ARON, Erkenntnis und Verantwortung. Lebenserinnerungen, München 1985, S. 501 (Original: Mémoires. 50 ans de réflexion politique, Paris 1983). DERS., Die letzten Jahre des Jahrhunderts, Stuttgart 1986, S. 273.
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Eine der Hauptfragen muss also lauten: Welche Rolle haben die deutschamerikanischen Beziehungen im Allgemeinen und Helmut Kohl im Besonderen bei diesem ganz erstaunlichen Umschwung gespielt, der sich innerhalb von weniger als zehn Jahre vollzogen hat? Bekanntlich haben die entsprechenden Vorgänge der Jahre 1982 bis 1991 schon eine kleine bis mittelgroße Bibliothek voller Memoiren und Histo-Interviews, von Dokumentensammlungen und von mehr oder weniger historischen Darstellungen hervorgerufen, ganz zu schweigen von zehntausenden zeitgenössischer journalistischer und politologischer Schnappschüsse während der Vorgänge. Beinahe könnte man sagen: Die achtziger Jahre sind historiographisch bereits ziemlich ausgefischt. Also, was hinsichtlich der Phase 1982– 1991 transatlantischer Beziehungen zu formulieren sein wird, beruht bereits auf ziemlich sicheren quellenmäßigen und historiographischen Grundlagen. Anders ist die Situation für die Jahre 1991 bis 1998. Diese hatte vier große Themen: erstens Vertiefung und Erweiterung der EU im Zeichen der Verträge von Maastricht und der Folgeverträge; zweitens Konsolidierung der neuen Demokratien und der Volkswirtschaften in Ostmitteleuropa, wobei die Vorarbeiten zur Ausweitung der NATO und zum EU-Beitritt eine wichtige Rolle spielten; drittens das, was ich die Domestizierung des ziemlich anarchischen, gedemütigten Russlands nennen würde, das dank intelligenter westlicher Politik nicht ausgeschlossen wurde und sich murrend auf die neue Lage einzustellen begann – zumindest auf kurze Frist; und viertens die Kriege und Bürgerkriege im zerfallenen Jugoslawien, die in Bezug auf die Lösungsstrategien und die Machtverhältnisse in Europas so etwas wie die Rolle eines Katalysators spielten. Auch dazu existiert bereits eine kleine bis mittelgroße Bibliothek von Autobiographien der Akteure und von teils zeitgenössischen teils aus der Rückschau verfassten journalistischen und politologischen Darstellungen. Die künftige Geschichtswissenschaft hat allerdings diese erste Phase nach dem Kalten Krieg noch zu entdecken – doch die Fluggeschwindigkeit der Eule der Minerva ist bekanntlich nicht die eines Falken. Freilich gibt es die rühmlichen Ausnahmen. Diese Überfülle von Erinnerungen und Studien lassen einen Sachverhalt ganz deutlich erkennen: Wenn es im Großen und Ganzen gelungen ist, diese kritische Phase bei der Neuordnung des europäischen Staatensystems insgesamt gut zu überstehen (mit Ausnahme der Katastrophen in den Republiken des zerfallenen Jugoslawien), so in erster Linie deshalb, weil die Vereinigten Staaten vielfach partnerschaftlich, bisweilen zögernd, selten völlig negativ, im Ganzen doch gutwillig mitspielten. Die neunziger Jahre sind alles in allem eine Erfolgsphase der transatlantischen Beziehungen gewesen. Das ist weithin unstrittig, und – wie gesagt – auch schon vielfach erforscht und dargestellt worden. Weitgehend unerforscht und insgesamt viel weniger
Einführung
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gewürdigt ist indessen die Rolle, die Bundeskanzler Kohl in diesem transatlantischen Zusammenhang gespielt hat. Soweit sich die Politologen oder Journalisten seiner Außenpolitik in dieser wichtigen Phase angenommen haben, zeigten sie sich vorwiegend von dem „großen Europäer“ fasziniert. Über die Vorgeschichte von Maastricht und Kohls entscheidende Einwirkung darauf sind wir bereits gut und verlässlich unterrichtet. Anders aber steht es mit vielen gleichfalls wichtigen außenpolitischen Feldern der neunziger Jahre. Ich tippe nur ganz wenige der Themen an, zu denen wir gern mehr und Genaueres wissen möchten: Helmut Kohl und die Amerikaner im Irak-Krieg, die Rolle des Bundeskanzlers bei dem Tauziehen über die NATO-Erweiterung, die Diskussion über die Präferenzen einer Priorität der EU-Erweiterung vor einer NATO-Erweiterung, Kohls sehr vorsichtige Jugoslawienpolitik, die Probleme bei der Behandlung des Jelzin’schen Russland. Nicht zuletzt ist zu fragen: Wie kam es, dass dieser erstaunliche Bundeskanzler sowohl zur Administration George W. Bushs als auch zu der des parteipolitisch, temperamentsmäßig und generationsbedingt so ganz anders tickenden Bill Clintons allem Anschein nach und gewissermaßen auf Anhieb einen guten Zugang fand und seitdem weitgehend ungetrübte Beziehungen unterhielt? Dass die amerikanische Weltmacht zu keiner Zeit ein besonders pflegeleichter Partner ist, hat sich seit langem schon im letzten Dorf herumgesprochen. Dass die häufig schwankende Bundesrepublik aus amerikanischer Sicht gleichfalls periodisch wenig pflegeleicht erscheint, wird indessen hierzulande meist weniger gesehen. Ich selbst habe einem Psychogramm bundesdeutscher Außenpolitik, das Mitte der neunziger Jahre erschien, einen schönen Vers aus Goethes Faust II vorangestellt: „Soll er gehen, soll er kommen? / Der Entschluß ist ihm genommen; / Auf gebahnten Weges Mitte / Wankt er tausend halbe Schritte.“ Immerhin hat es doch den Anschein, dass die Phasen, in denen Reagan, Bush und Clinton mitsamt ihren Gehilfen mit Helmut Kohl umzugehen hatten und dieser mit ihnen, zu jenen Jahren gehörten, in denen sich ungeachtet aller Interessengegensätze, ungeachtet des Machtgefälles und ungeachtet aller ideologischen und psychologischen Unterschiede die Beziehungen bemerkenswert partnerschaftlich entwickelten.
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Die Beziehungen zu den USA im Kontext der deutschen Außenpolitik 1982–1998 Von Andreas Wirsching Die Ausgangssituation des Themas lässt sich in Anknüpfung an eine Metapher Winston Churchills beschreiben. 1950 hatte Churchill die britische Position in sein berühmtes Bild von den „drei Kreisen“ eingezeichnet. Großbritannien stand demzufolge am Schnittpunkt dreier Kreise: nämlich der englischsprechenden Welt mit den USA als Vormacht, dem Commonwealth und Europa. Wenn wir das Bild aufnehmen und auf die bundesrepublikanische Situation Anfang der achtziger Jahre anwenden, so finden wir ebenfalls drei entscheidende Politikfelder, drei Kreise, auf deren Schnittpunkt sich die Bonner Politik verwiesen sah: das atlantische Bündnis mit den USA als Vormacht, die Europäische Gemeinschaft und die Beziehungen zur Sowjetunion. Diese drei Kreise existierten zwar unabhängig voneinander, aber sie waren eng miteinander verflochten und überlappten sich breitflächig. Ihr jeweiliges Zusammenspiel konstituierte den Handlungsrahmen bundesdeutscher Außenpolitik.1 In der Diagnose der damit gegebenen Möglichkeiten bestand zwischen Auswärtigem Amt und Kanzleramt eine grundsätzliche Übereinstimmung. Rivalitäten, die es natürlich gegeben hat, sollten demgegenüber nicht überbewertet werden. Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl einte ein hohes Maß an Gemeinsamkeit, das durch stete vertrauliche Abmachungen ihr Fundament erhielt. Beide „tickten“, so Helmut Kohl in seinen Memoiren, „in den elementaren und existentiellen Fragen deutscher Außenpolitik gleich und wussten um die Position des anderen“.2 Letztlich wählten beide dieselben Methoden, das oberste Ziel bundesdeutscher Außenpolitik anzusteuern: nämlich aus den drei „Kreisen“ ihrer Politik möglichst einen Regelkreis zu machen; den Dreiklang aus atlantischer Bündniswahrung, europäischer Integration und auf Entspannung zielender Ostpo1
Zur Außenpolitik in den 1980er Jahren vgl. die Überblicksdarstellungen von Christian HADie Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Weltmacht wider Willen? Frankfurt/M. 1997; Wolfram F. HANRIEDER, Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1994, Paderborn 21995; Helga HAFTENDORN, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945–2000, Stuttgart 2001; Gregor SCHÖLLGEN, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Helmut KOHL, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 153. Vgl. Stefan FRÖHLICH, „Auf den Kanzler kommt es an“: Helmut Kohl und die deutsche Außenpolitik. Persönliches Regiment und Regierungshandeln vom Amtsantritt bis zur Wiedervereinigung, Paderborn 2001, S. 125, 136. CKE,
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litik zur Harmonie zu bringen. Nur so, darin stimmten beide überein, würde es auch möglich sein, aktive Deutschlandpolitik zu gestalten. Der historische Rückblick offenbart, dass sich eben dies 1989/90 vollzog. Die USA und die Sowjetunion kooperierten in der deutschen Frage, während sich die Europäische Gemeinschaft mit ihrem Währungsunionsprojekt dynamisch zum Gehäuse für ein wiedervereinigtes Deutschland entwickelte. Im Folgenden sei nun erstens der Verlauf des transatlantischen Kreises bis 1990 etwas näher betrachtet, bevor zweitens seine Entwicklung seit der Wiedervereinigung zu besprechen sein wird. I. Wie über die gesamte Nachkriegszeit hinweg, bestand auch während der achtziger Jahre kein ernsthafter Zweifel: Die Sicherheit der Bundesrepublik hing von den USA und der amerikanischen Nukleargarantie ab. Im Prinzip war das nichts Neues, wenngleich das transatlantische Sicherheitsbündnis niemals frei von Krisenperioden gewesen war. Transatlantische Irritationen hatten sich in der Vergangenheit zumeist dann ergeben, wenn deutsch-französische oder europapolitische Prioritäten mit der Bindung an die USA allzu offenkundig konkurrierten oder gar an ihre Stelle treten wollten. Es gehört daher zweifellos zu den besonderen Verdiensten der Regierung Helmut Kohls, dass sie eine grundsätzliche und niemals in Frage gestellte sicherheitspolitische Orientierung an den USA in den meisten Fällen mit einer aktiven Europa- und auch Frankreichpolitik zu verknüpfen wusste. Prinzipielle Gegensätze, wie sie etwa in den sechziger Jahren zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ aufgebrochen waren, bestanden innerhalb des Regierungslagers kaum. Bundeskanzler Kohl wusste sich der Rückendeckung durch die gesamte Regierungskoalition sicher, wenn er bei den deutsch-französischen Konsultationen vom 22. Oktober 1982 betonte, es gebe für die Bundesrepublik in Fragen der Sicherheit und Verteidigung keine Alternative zwischen Washington und Paris: „keine Politik des Entweder-Oder, sondern nur eine Politik des Sowohl-als-auch“.3 Und gegen Ende der achtziger Jahre resümierte Kohl: „Es ist eines unserer großen Ziele immer gewesen – und wir haben es, glaube ich, im Augenblick erreicht –, daß wir exzellente Beziehungen nach Paris und nach Washington haben. Und das muß pfleglich behandelt werden. Das ist ein Schatz, der für den Frieden, die Freiheit und die Wohlfahrt unseres Landes von allergrößter Bedeutung ist.“4
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Text in Europa-Archiv [EA] 24 (1982), D 627–629, Zit.: D 629. Archiv für Christlich-Demokratische Politik [ACDP] 08-001-1084/2, Fraktionssitzung vom 23.2.1988, S. 11.
Die Beziehungen zu den USA
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Trotzdem sprudelte auch während der achtziger Jahre manche Quelle deutsch-amerikanischer Irritationen. Irritationen speisten sich zum Beispiel aus der westeuropäischen Sorge, die USA könnten sich militärstrategisch vom alten Kontinent abkoppeln. 1983 fachte das SDI-Projekt solche Sorgen an. War es nicht geeignet, die bisherige Doktrin wechselseitiger Abschreckung dadurch aufzukündigen, dass es die sowjetische Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag und damit auch die Logik der nuklearen Rationalität in Frage stellte? Die Bundesregierung hat daher das SDI-Projekt nur zögerlich und allein im Hinblick auf seinen Nutzen für die zivile Forschung unterstützt. Vergleichbare Befürchtungen wurden Ende der achtziger Jahre laut, als – für viele überraschend – bei den atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen eine doppelte (oder sogar dreifache) Null-Lösung in Reichweite geriet. Wie weit es tatsächlich deutschen Interessen entsprach, den Abrüstungsvorschlägen Gorbatschows zu folgen, gehörte damals zu den strittigsten Fragen der Bonner Außenpolitik. Angesichts der konventionellen Übermacht der Warschauer Pakt-Staaten befürchteten nicht wenige Unionspolitiker eine gefährliche „Singularisierung“ der Bundesrepublik für den Fall, dass alle Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa abgeschafft werden sollten. Die Sorge gleichsam vor einem abrüstungspolitischen Potsdam, einer Einigung der Supermächte über die Köpfe der Deutschen hinweg, bewegte Politiker wie Franz Josef Strauß oder auch Alfred Dregger. Für den Fall einer umfassenden Null-Lösung begannen sie an der militärpolitischen Substanz des westlichen Verteidigungsbündnisses zu zweifeln und forderten stattdessen eine „Europäische Sicherheitsunion“, in die das britische und französische Nuklearpotential, aber auch die konventionellen Kräfte der Nicht-Atommächte eingebracht werden könnten. Der hier schwelende Konflikt wurde letztlich im Sinne der von den Supermächten freigesetzten Abrüstungslogik entschieden. Ein Machtwort Helmut Kohls im August 1987 brachte die Bundesrepublik auf die Linie der USA: Auch die Pershing IA – Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite – sollten nicht etwa modernisiert, sondern ebenfalls zur Gänze abgeschafft werden. Diese Entscheidung, sichtlich unter Genschers Einfluss gefallen und mit der Richtlinienkompetenz des Kanzlers begründet, hatte einen der größten Koalitionskräche mit Franz Josef Strauß zur Folge. Strauß beklagte das „Bonner Durcheinander“ und empfahl Kohl, „in so wichtigen Fragen ... sollte er sich mit seinen wirklichen Freunden abstimmen, nicht nur mit Herrn Genscher telefonieren“5. Vorübergehend zog die CSU sogar ihre Minister von den Bonner Besprechungen zurück, bis ein persönliches Treffen zwischen Kohl und Strauß die Wogen zumindest einigermaßen glättete.6 Trotzdem war einmal mehr of5 6
„Frankfurter Rundschau“, 5.9.1987. „Der Spiegel“, Nr. 36, 1987, S. 17–19: Franz Josef plant „ein dickes Ding“; SZ, 30.9.1987.
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fenkundig geworden, dass der Bundeskanzler in wichtigen außenpolitischen Fragen der FDP weitaus näher stand als dem Parteifreund in München. Jedenfalls zeigt sich am Beispiel der Doppelten Null-Lösung: Sicherheit und Bedrohungsempfinden lagen in den deutsch-amerikanischen Beziehungen der achtziger Jahre häufig eng beieinander, ja sie bedingten sich geradezu. Der Grund hierfür lag in der unübersehbaren Differenz zwischen den strategischen Prioritäten der USA einerseits und des alten Kontinents andererseits. Und das Empfinden der Unsicherheit, des Zweifels, ja der Bedrohung verstärkte sich, wenn aus den USA Anzeichen für einen machtbewussten Unilateralismus und quasi-hegemonialen Anspruch erkennbar wurden. Während der achtziger Jahre verbanden sich die amerikanischen Versuche, in militärischer wie in politischer Hinsicht neue Stärke zu gewinnen, mit dem Namen Ronald Reagans. Nicht nur der Sowjetunion damit Paroli zu bieten, war das Ziel; vielmehr wollte die Reagan-Administration die USA in die Lage versetzen, unilateral und weltweit ihre Rolle als Führungsmacht zu spielen und gegebenenfalls durchzusetzen.7 Wie sein Vertrauter Thomas Reed beobachtete, trat Reagan seine Präsidentschaft mit dem dezidierten Vorhaben an, „to end and to win the Cold War“.8 Rasch entstand, was man bald die „ReaganDoktrin“ nannte, eine Wiederaufnahme älterer Containment-Strategien, die dem sowjetischen „Reich des Bösen“ weltweit Paroli zu bieten bereit war. In weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit entstand daher der Eindruck, die bundesrepublikanische Politik werde in der Nachrüstungsfrage über Gebühr von amerikanischen Weltmachtinteressen geleitet. Unter Reagan schienen sich die Koordinaten, unter denen der NATO-Doppelbeschluss gefasst worden war, grundlegend zu verschieben: Nicht nur die sowjetische, sondern auch die amerikanische Politik hatte sich anscheinend von der Priorität der Entspannung verabschiedet. Die Bundesrepublik erschien vielen nur noch als Vorposten oder gar als nukleares Aufmarschgebiet für amerikanische Weltmachtinteressen. Überdies fachten die immer wieder kolportierten Meldungen über Äußerungen Reagans und seiner Berater, wonach ein „begrenzter“ Atomkrieg mit „taktischen“ Nuklearwaffen im Prinzip zu führen sei,9 die Zweifel 7
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Siehe die Beiträge in Helga HAFTENDORN und Jakob SCHISSLER (Hg.), Rekonstruktion amerikanischer Stärke. Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik der USA während der Reagan-Administration, Berlin 1988. Besonders kritisch in dieser Hinsicht: Jeff MCMAHAN, Reagan and the World. Imperial Policy in the New Cold War, New York 1985, insbes. S. 75–86. So Thomas C. REED, At the Abyss. An Insider’s History of the Cold War, New York 2004, S. 228. Reed war ein Vertrauter Reagans und wurde im Januar 1982 Mitglied des National Security Council. Vgl. auch EBD. S. 234–240. Anton-Andreas GUHA, „Der Dritte Weltkrieg findet in Europa statt“, in: „Frankfurter Rundschau“, 29.4.1981; Michael NAUMANN, „Aufstand der Angst“, in: „Die Zeit“ 23.4.1982. Vgl.: Kronzeugen gegen die „Nach“-Rüstung. Eine Dokumentation von Franz H. WALDMANN, Stuttgart 1983.
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an der Ernsthaftigkeit des amerikanischen Verhandlungswillens an und gossen Öl in das Feuer des Antiamerikanismus. Nun ist es bekannt, dass die Regierung Kohl keinen Augenblick schwankte in ihrer Entschlossenheit, die Nachrüstung 1983 trotz solcher ambivalenten Stimmen und Stimmungen durchzusetzen. 1983 verknüpfte sie ihr außenpolitisches Schicksal ohne Einschränkungen mit der amerikanischen Strategie. Auch Veranstaltungen wie die sogenannte „Prominentenblockade“ von Mutlangen, die während der ersten Septembertage 1983 und unter Beteiligung amerikanischer Friedensgruppen, den Protest gegen die Nachrüstung medienwirksam artikulierte, konnten in Bonn nicht beeindrucken. „Wenn die Leute partout auf der Straße sitzen wollen”, so mokierte sich Kohl intern, „dann lassen Sie sie sitzen. Es wird aus vielen Anlässen Verkehr umgeleitet, dann kann man den Verkehr auch um Leute herumleiten, die da sitzen wollen. Die Jahreszeit ist ja vielleicht so, daß das Sitzen dann nicht mehr ganz so komfortabel ist.”10 Die feste Haltung der Bundesrepublik in der Nachrüstungsdebatte hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich im Verlauf der achtziger Jahre ein ausgesprochenes Nahverhältnis zwischen Bonn und Washington entwickelte. Nicht zuletzt äußerte es sich in den persönlich sehr guten Beziehungen zwischen den Regierungschefs Kohl und Reagan bzw. George Bush. Dies wurde umso wichtiger, als sich seit 1989 die europa- und weltpolitische Funktion der Bundesrepublik und des Bündnisses mit ihr für die USA wandelte. Zweck des Bündnisses war es künftig nicht mehr, ein Abdriften des westlichen Teilstaats in den sowjetischen Machtbereich zu verhindern. Vielmehr erwies sich die Bonner Republik nun definitiv als das stärkere Deutschland. In einem Europa jenseits des Kalten Krieges ging es darum, mit Deutschland einen langfristig gestaltenden Faktor zu gewinnen, dessen Politik und Interessen mit den amerikanischen kompatibel blieben. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Präsident Bush Ende Mai 1989 bei seinem Besuch in der Bundesrepublik betonte, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen „wahrscheinlich niemals besser gewesen sind als heute“11 und in der Öffentlichkeit gar von „partnership in leadership“ sprach. Diese vielzitierte Äußerung bezog sich denn auch weniger auf die Vergangenheit, auf die bekannten Koordinaten des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Partnership in leadership richtete
10 ACDP 08-001-1071/1, Fraktionssitzung vom 6.9.1983, S. 13. 11 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Präsident Bush im erweiterten Kreise, Bonn, 30. Mai 1989, in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (Dokumente zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs), bearb. von Hanns Jürgen KÜSTERS und Daniel HOFMANN, München 1998, Dok. 1, S. 273. Vgl. auch KOHL, Erinnerungen (wie Anm. 2), S. 872.
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sich vielmehr auf die künftige Gestaltung eines internationalen Systems jenseits des Ost-West-Gegensatzes. II. Dies führt zum zweiten Punkt, dem nachhaltig veränderten Rahmen der internationalen Beziehungen seit 1990 und der Frage, welche Konsequenzen dies für die deutsch-amerikanischen Beziehungen hatte. Was ist aus den drei Kreisen geworden, die einst die Außenpolitik des westlichen Teilstaats bestimmten? Am offenkundigsten ist die Antwort sicher für den ostpolitischen Kreis. Er ist mit dem Ende der Sowjetunion und des Ostblocks zunächst einmal erodiert. Deutsche Ost- und Entspannungspolitik im früheren Sinne gibt es nicht mehr; stattdessen muss die Bundesrepublik neue Formeln finden, um ihre eigenen Interessen zu vertreten; um offen zu sein für den neuen russischen Partner, ohne in den Geruch einer Schaukelpolitik zu kommen; um neuen Erwartungen und Rollenzuweisungen zu begegnen und zugleich den Schatten der Vergangenheit nicht auszuweichen. Mindestens ebenso kompliziert entwickelt sich der europapolitische Kreis. Bis 1990 war die europäische Integration ein westeuropäisches Projekt, das unmittelbar aus den Folgen des Zweiten Weltkriegs entstanden war. Dieses Projekt ist einerseits beendet, andererseits hat es den Rahmen und die Institutionen geschaffen, in denen nun das neue, postkommunistische Europa errichtet werden will. Die meisten der früher im Ostblock liegenden Staaten – darunter einige neu gegründete – nehmen nun aktiv am europäischen Kreis teil, dessen Gestalt sich seinerseits grundlegend verändert hat. Schließlich bleibt der transatlantische Kreis und damit das hier verhandelte Thema: die deutsche USA-Politik in der Ära Kohl. Zunächst fällt eine wichtige Kontinuität ins Auge, die sich mit dem Stichwort „Lastenteilung“ benennen lässt. Beginnend mit dem Koreakrieg von 1950, begleitete die amerikanische Forderung nach stärkerer Lastenteilung – „burden sharing“ – die transatlantische Nachkriegsgeschichte mal mehr, mal weniger. Auch in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, im Kontext der Nachrüstung, war sie hoch präsent. Vor allem im amerikanischen Kongress herrschte der Eindruck, die Europäer und damit auch die Deutschen unternähmen zu wenig, um einen angemessenen Anteil der westlichen Verteidigungslasten zu tragen.12 12 Vgl. hierzu Robert W. KOMER, Sicherheitsfragen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa, in: EA 39 (1984), S. 249–258, hier S. 253; Helga HAFTENDORN, Lastenteilung im Atlantischen Bündnis. Die Zukunft der amerikanischen militärischen Präsenz in Europa, in: EA 40 (1985), S. 497–506.
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Es ist nun interessant zu beobachten, wie sich das Schlagwort von der Lastenteilung nach 1990 fortsetzte und zugleich inhaltlich wandelte. Zu Zeiten des Kalten Krieges bezog es sich auf eine Verteidigungslast, die der Bedrohung durch die Sowjetunion geschuldet war. Seit 1990 hingegen geht es um eine Interventionslast, die aus der militärischen Bekämpfung von regionalen Krisenursachen und der anschließenden politischen Befriedung erwächst. Vor 1990 wie nach 1990 waren und sind die Vereinigten Staaten die einzige Weltmacht, die entsprechende Ressourcen mobilisieren und global intervenieren kann. Sie haben vor 1990 wie nach 1990 gegenüber ihren Verbündeten darauf gepocht, dass sie in der Aufbringung der Lasten für Frieden und Sicherheit unterstützt werden. Aber im neuen, globalen Maßstab erfordern Sicherheit und Frieden eine andere Strategie und neue Interventionen. Ziel und Zweck der eingesetzten Ressourcen haben sich verändert. Für die USA-Politik des wiedervereinigten Deutschland barg diese veränderte Situation schon in der Ära Kohl große Herausforderungen. Sollte George Bushs Wort von der partnership in leadership mehr sein als eine bloße Freundlichkeitsfloskel, dann hieß dies, dass Deutschland einen weitaus größeren Teil der Last als bisher zu übernehmen hätte; einen größeren Teil jener Last, welche die Amerikaner aufbrachten, um ihren Entwurf internationaler Stabilität durchzusetzen. Die zentrale Frage des deutsch-amerikanischen Verhältnisses lautete also, welche Rolle Deutschland künftig bei diesen Bemühungen spielen würde. Schon 1990/91, während der Kuwait-Krise und dem ersten Golfkrieg, wurden in den USA neue Rollenerwartungen an die Bundesrepublik formuliert. Die US-Regierung selbst erwartete zwar von Bonn keine direkte Teilnahme deutscher Truppen an der „Operation Wüstensturm“, aber doch politische Loyalität sowie finanzielle und logistische Unterstützung. Man kann nicht sagen, dass das sich gerade wiedervereinigende, mit sich selbst beschäftigte Deutschland den amerikanischen Erwartungen in dieser Phase umfassend entsprochen hätte. Im vollen Bewusstsein geschichtlicher Hypotheken und verfassungsrechtlicher Schranken, aber auch begrenzter finanzieller Spielräume, lehnte die Bundesregierung damals eine internationale Führungs- und Gestaltungsrolle ab. Zwar gewährte sie im Spätsommer 1990 die gewünschte logistische und auch 3,3 Milliarden D-Mark finanzielle Unterstützung. Aber eine rechte Begeisterung für die Anti-Irak-Koalition wollte sich weder in Bonner Regierungskreisen noch in der politischen Öffentlichkeit einstellen. Soll man daraus den Schluss ziehen, dass die bundesdeutschen Regierungsvertreter „in der Anfangsphase der Krise verwirrt, unentschlossen wirkten“? Schienen sie „die Situation ganz einfach nicht richtig einschätzen zu kön-
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nen“?13 Misst man das Ergebnis der deutschen Politik während des ersten Golfkriegs am Echo der amerikanischen Öffentlichkeit, dann könnte man tatsächlich meinen, Deutschland hätte damals die Chance zur partnership in leadership an der Seite Amerikas verspielt. Denn die Kritik in den USA war scharf: Den Deutschen mangele es an Courage, sie seien sich „schlicht zu fein und fühlten sich moralisch zu überlegen, um bei der Befreiung Kuwaits mitzuhelfen“; nach 40 Jahren alliierter Solidarität und der nachhaltigen Unterstützung der Wiedervereinigung durch die USA erschien die Bundesrepublik nun vielen amerikanischen Kommentatoren als opportunistisch und als „Trittbrettfahrer“.14 Deutschland müsse sich die Frage stellen, welchen Beitrag es künftig zu leisten bereit sei, um die Stabilität der Weltordnung und seine lebenswichtigen Interessen am Öl und an anderen Rohstoffen auch in Zukunft zu schützen. Auch das Argument der Verfassungswidrigkeit eines deutschen Militäreinsatzes außerhalb des Bündnisgebietes zählte aus dieser Perspektive nicht. Schließlich gehe es nicht um „juristische Paragraphenreiterei“, sondern um die Kernfrage: „Sind die Deutschen bereit, sich in die Welt hinauszuwagen?“15 Übersehen wurde dabei freilich, dass die Bundesrepublik Zeit brauchte, um sich den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, ihre außenpolitischen Ziele neu zu definieren und entsprechende Diskussionsprozesse in Gang zu setzen. Denn die Verbündeten, vor allem in Europa, aber auch weite Teile der amerikanischen politischen Elite und Öffentlichkeit erwarteten von dem wiedervereinigten Deutschland ja keineswegs nur eine aktiv-gestaltende Führungsrolle; mindestens ebenso sehr erwarteten sie historisch begründete Sensibilität und gegebenenfalls auch Zurückhaltung. Die Probe auf dieses Exempel hielt die langwierige jugoslawische Krise für die Bonner Politik bereit. Von Beginn an warben die Deutschen für die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens, stießen dabei aber weder bei den EGPartnern noch bei den USA auf besondere Gegenliebe. Als die Regierung Kohl die früheren jugoslawischen Republiken im Dezember 1991 unilateral anerkannte, übernahm sie sicherlich eine Führungsrolle und setzte die Verbündeten unter Druck. Der Preis hierfür bestand in erheblichen Differenzen mit den USA. In der Golf-Krise hatte sich die Bundesrepublik harscher Kritik wegen ihrer zu großen Zurückhaltung ausgesetzt gesehen; jetzt traf sie der Vorwurf 13 So Knut KIRSTE, Die USA und Deutschland in der Golfkrise 1990/91, Fallstudie zum DFGProjekt ‚Zivilmächte’, Universität Trier, 7.1.1998, S. 19 (http://www.deutsche-aussenpolitik.de/resources/conferences/golf.pdf [15.3.2007]). 14 EBD. S. 29. Siehe auch Michael JOCHUM/Christopher DAASE, „Partner in einer Führungsrolle?“ Das einige Deutschland aus der Sicht der USA, in: Außenpolitik 43 (1992), S. 237–245. 15 Vgl. Frederick S. WYLE, Die erhöhte Verantwortung der Deutschen. Plädoyer für eine neue Rolle in der internationalen Politik, in: EA, Beiträge und Berichte 45 (1990), S. 732.
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des eigenmächtigen Vorgehens, des Alleingangs, der Tendenz, die Partner vor vollendete Tatsachen zu stellen und so fort. Entsprechend rasch ruderte die Bundesregierung zurück. In der zweiten Phase des Jugoslawien-Konflikts war sie weitaus weniger aktiv: „Zurückhalten, nicht vorpreschen“ – so lautete jetzt die Devise, die Bundeskanzler Kohl im Februar 1994 ausgab.16 Zwar stimmten deutsche und amerikanische Experten und Kommentatoren 1993/94 in ihrem Urteil weitgehend überein, dass Deutschland seine Interessen noch nicht definiert habe. Es sei gefangen in den Folgeproblemen der Einheit und ein unsicherer Partner geworden. Aber im Geflecht von amerikanischen Forderungen nach Lastenteilung, neuen Rollenerwartungen und alten Sorgen vor deutscher Dominanz wurde doch eines sonnenklar: Während der neunziger Jahre trat nämlich ein strukturelles Dilemma zutage, das weit über tagespolitische Ereignisse und Analysen hinauswies: Das deutsche Gewicht in der internationalen Politik war und ist zu groß, als dass es eine rein zurückhaltende, in Selbstbescheidung sich erschöpfende Außenpolitik erlauben würde. Aber es war und ist nicht groß genug dafür, dass Deutschland eine selbständige Führungsrolle spielen könnte; im Gegenteil, der Versuch, eine solche Führungsrolle zu übernehmen, dies zeigte die Jugoslawien-Krise eindrücklich, provozierte geradezu reflexhaft die Kritik und den Widerstand der übrigen Mitspieler: ein deutsches Dilemma also, das von ferne fast an die von Ludwig Dehio und Andreas Hillgruber so genannte „halb-hegemoniale“ Stellung des Kaiserreichs erinnert – freilich unter gänzlich anderen Vorzeichen.17 Im Übrigen haben die deutschen Regierungen seit 1990 durchaus nicht ohne Erfolg daran gearbeitet, trotz und mit diesem fortbestehenden Dilemma eine vernünftige und auch berechenbare Außenpolitik zu entwickeln. Lastenteilung und Übernahme neuer Rollen sind durch die verschiedenen internationalen Krisen – vom Irak, über Jugoslawien bis Afghanistan – vorangetrieben worden. Deutschland hat die verfassungsrechtlichen Hemmnisse für out of areaEinsätze konsequent beseitigt; 1999 nahmen deutsche Kampfflugzeuge am Kosovo-Krieg teil, und heute tragen die deutsche Politik und die Bundeswehr dazu bei, die internationale Stabilität zu sichern – ohne dabei die historisch bedingten, spezifischen Verpflichtungen auf Frieden, Nicht-Aggression und machtpolitische Zurückhaltung zu missachten.
16 FAZ, 8.2.1994, zit. nach Knut KIRSTE, Der Jugoslawienkonflikt, Fallstudie zum DFG-Projekt ‚Zivilmächte’, Universität Trier, 7.1.1998, S. 52 (http://www.deutsche-aussenpolitik.de/resources/conferences/Jugo.pdf [15.3.2007]). 17 Ludwig DEHIO, Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1961, S. 13; Andreas HILLGRUBER, Zwischen Hegemonie und Weltpolitik – Das Problem der Kontinuität von Bismarck bis Bethmann Hollweg, in: DERS., Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 21979, S. 53–70, hier S. 53f.
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Eine deutsch-amerikanische partnership in leadership begründete das alles freilich nicht – und dies gilt schon für die zweite Hälfte der Ära Kohl. Aber es ist auch fraglich, ob dieses Schlagwort jemals eine realistische Konstellation der internationalen Beziehungen meinen konnte. Dies liegt nicht nur an der machtpolitischen Ungleichheit der potentiellen Partner. Vielmehr hat sich auch die amerikanische Perzeption der Welt seit 1989 deutlich verändert. Die Aufmerksamkeit hat sich von Europa – und damit von Deutschland – ab- und anderen Weltregionen zugewandt. Vor allem Asien mit den aufstrebenden Mächten China und Indien steht im Mittelpunkt des Interesses. Machtstrategisch, militärisch und politisch-operativ richtete sich der Washingtoner Fokus ohnehin langfristig auf den Nahen Osten. Und in diesem Kontext ist doch sehr fraglich, ob die Deutschen eigene vitale Interessen unbedingt in jenen Regionen ausmachen mussten, wo sich der amerikanische Führungsanspruch hinwandte. Insofern stimmt das hier verhandelte Thema auch eine Saite an, die manchen bedenklich stimmen mag. In Zeiten des Ost-West-Gegensatzes herrschte letztlich beiderseits des Atlantiks die Auffassung vor, Amerika und Europa – mit Deutschland als wichtigstem Partner – seien wechselseitig aufeinander angewiesen – sicherheitspolitisch, wirtschaftlich und nicht zuletzt im Sinne der westlichen Wertegemeinschaft. Ist dies heute noch uneingeschränkt der Fall? Man kann darüber geteilter Meinung sein, und noch sehr viel unsicherer erscheint die Frage, wie sich der transatlantische Kreis künftig entwickeln wird. Die USA verändern sich rapide, demographisch gewinnt das Element der nicht-europäischen Einwanderung immer größeres Gewicht. Und politisch suchen die USA nach neuen Wegen, ihren unilateralen Führungsanspruch zu gestalten. Europa, das im Übrigen immer stärker als Union wahrgenommen wird, spielt dabei eine substantielle, aber sicher nicht die zentrale Rolle. Umgekehrt verweist dies die neue, die Berliner Außenpolitik auf eine ihrer wichtigsten Daueraufgaben: nämlich den europäischen und den transatlantischen Kreis ihrer Wirksamkeit organisch so aufeinander zu beziehen, dass nicht „gaullistische“ und „atlantische“ Positionen auseinanderdriften.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls Von Klaus Larres Die Grundtendenzen der amerikanischen Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit sind von der Forschung recht gut bearbeitet worden. Insbesondere die Forcierung der deutschen Westintegration durch die USA in den fünfziger Jahren und die vorzügliche Zusammenarbeit zwischen dem amerikanischen Außenminister John Foster Dulles und Konrad Adenauer sind bestens erforscht.1 Auch die alles in allem recht gute Zusammenarbeit zwischen Helmut Kohl und Präsident George Herbert Walker Bush ist in den wesentlichen Zügen bekannt. Schließlich wurde nicht zuletzt die deutsche Vereinigung dadurch ermöglicht.2 Mit wesentlichen neueren Erkenntnissen ist wohl nicht vor Öffnung der Archive zu rechnen. In dem vorliegenden Beitrag geht es vor allem darum, die Politik der USA gegenüber der europäischen Integration und der Einheit Europas in den 1980er Jahren zu untersuchen. Die Herstellung der europäischen Einigung war immerhin neben der Schaffung der deutschen Einheit das zweitwichtigste außenpolitische Ziel Helmut Kohls. Daneben soll aber auch Kanzler Kohls Amerikabild einer näheren Untersuchung unterzogen werden. Zunächst ist es jedoch notwendig, kurz auf die Grundzüge der Politik der USA gegenüber der europäischen Integration und den westlichen Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg einzugehen. Die Grundzüge der Politik der USA gegenüber der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg In den ersten beiden Dekaden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unterstützten die USA die europäische Einigung mit Nachdruck. Dies geschah sowohl zum Nutzen der Europäer als auch zum eigenen Vorteil. Insbesondere mit dem Marshall-Plan von 1947 beabsichtigte Washington, den europäischen Kontinent und nicht zuletzt das völlig am Boden zerstörte (West-)Deutschland durch großzügige finanzielle und materielle Hilfe zu rekonstruieren. Die Truman-Administration war überzeugt, dass nur ein integrierter europäischer Kon1 2
Siehe Detlef FELKEN, Dulles und Deutschland. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1953–1959, Bonn 1992. Vgl. beispielsweise Heinrich BORTFELDT, Washington–Bonn–Berlin. Die USA und die deutsche Einheit, Bonn 1993; Robert L. HUTCHINGS, American diplomacy and the end of the Cold War. An insider’s account of U.S. policy in Europe, 1989–1992, Washington, DC, 1997; Alexander VON PLATO, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Berlin 2002.
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tinent in der Lage sein würde, eine einheitliche Front gegenüber der militärischen und ideologischen Bedrohung aus dem Osten aufzubauen. Nur solch ein Europa würde zudem die Möglichkeit der Rekonziliation der jungen Bundesrepublik Deutschland mit der französischen Siegermacht bieten und womöglich die Entwicklung einer deutsch-französischen Freundschaft erlauben.3 In der Literatur wird daher gerne von der amerikanischen Strategie der „doppelten Eindämmung“ gesprochen.4 Die Sowjetunion sollte ökonomisch und ideell durch die europäische Einigung und militärisch durch die 1949 gegründete NATO eingedämmt werden. Die Integration der Bundesrepublik in die westliche Welt mittels der europäischen Einigung (und später dann auch durch die westdeutsche NATO-Mitgliedschaft) sollte es Deutschland unmöglich machen, erneut einen Sonderweg einzuschlagen und hegemonialen Versuchungen nachzugeben. Gleichzeitig konnte so dem Wunsch Konrad Adenauers, des ersten Kanzlers der Republik, entsprochen werden, der immer wieder betonte, wie wichtig es sei, die junge Bundesrepublik als gleichberechtigten und souveränen Staat zu behandeln. Nach anfänglichem Zögern unterstützten die USA den Wunsch Adenauers. Man erkannte, dass dies dem neuen Staat Selbstvertrauen und Respekt geben würde, beides notwendige Voraussetzungen, damit die Bundesrepublik sich zu einem konstruktiven westlichen Partner entwickeln konnte. In Washington ging man davon aus, dass die doppelte Eindämmung der Bundesrepublik und der UdSSR Europa letztlich stabilisieren und langfristig zu einem friedliebenden Kontinent machen würde. Daneben waren die Politiker in der amerikanischen Hauptstadt davon überzeugt, dass die Entwicklung eines friedlichen und demokratischen Europas nur durch wirtschaftlich prosperierende Staaten möglich sein würde. Die Umwandlung des zerstörten Europas in einen wohlhabenden Kontinent schien aber nicht ohne die Schaffung eines einheitlichen Marktes möglich zu sein. Die Lehren von Amerikas eigener Vergangenheit wie auch die föderalistische Struktur der USA dienten als Model für die Integration Europas und für die Entwicklung eines gemeinsamen Marktes. Dies, so hoffte man in den USA, würde die Entstehung eines öko3
4
Vgl. Klaus SCHWABE, The United States and European Integration, 1947–1957, in: Clemens WURM (Hg.), Western Europe and Germany. The Beginnings of European Integration, 1945–1960, Oxford 1995, S. 115–135; Michael HOGAN, The Marshall Plan. America, Britain and the Reconstruction of Western Europe, 1947–1962, Cambridge 1987; Clifford HACKETT, Monnet and the Americans. The Father of a United Europe and his US Supporters, Washington, DC, 1995. Vgl. die Diskussion in Hans-Jürgen SCHRÖDER, USA und westdeutscher Wiederaufstieg (1945–1952), in: Klaus LARRES/Torsten OPPELLAND (Hg.), Deutschland und die USA im 20. Jahrhundert. Geschichte der politischen Beziehungen, Darmstadt, 1997, S. 95–118, hier S. 106f. Siehe auch Wolfram HANRIEDER, von dem der Ausdruck stammt, Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1992, Paderborn 21995.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls 369 nomischen Nationalismus verhindern und zu einem wirklich freien und multilateralen transatlantischen ökonomischen System führen. Diese Strategie schien auch den Vorteil zu haben, in absehbarer Zeit die Fortsetzung der enormen materiellen Hilfsleistungen der USA an die meisten westeuropäischen Länder unnötig zu machen. Insgesamt wurde in Washington damit gerechnet, dass in wenigen Jahren die heilenden Kräfte des Marktes mittels der europäischen Integration ihren Siegeszug auf dem alten Kontinent antreten würden. Die aktive amerikanische Einmischung in die Verhältnisse in Europa und die Lieferung von Hilfsgütern wurden sowohl von der Truman-Administration als auch von der nachfolgenden Eisenhower-Regierung als vorübergehend und zeitlich befristet angesehen.5 Die Gründe für Washingtons Unterstützung für die europäische Integrationsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg können daher kaum als ausschließlich altruistisch beurteilt werden. Die europäische Integration wurde stattdessen in Washington als „Deus ex Machina“ angesehen, mit der die USA die politischen, ökonomischen und indirekt auch die militärischen Probleme der Nachkriegszeit lösen wollten. Denn die wirtschaftliche Erholung des alten Kontinents sollte es den Europäern, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland, auch ermöglichen, starke militärische Kräfte aufzubauen und dem westlichen Lager für die Abwehr einer eventuellen sowjetischen Invasion Westeuropas zur Verfügung zu stellen. Ein militärisch wiedererstarktes Europa würde es den USA erlauben, die große Anzahl der in vielen Ländern des Kontinents, nicht zuletzt in Westdeutschland, stationierten amerikanischen Truppen deutlich zu reduzieren. Dies war ein wichtiger Gesichtspunkt. Immerhin war die amerikanische Regierung darauf angewiesen, vom Kongress die Gelder zur Führung des Kalten Krieges bewilligt zu bekommen. Jeder amerikanische Präsident konnte zudem davon ausgehen, dass die Beteiligung der Europäer an den Lasten der amerikanischen Hegemoniepolitik vom Kongress wie auch von der amerikanischen Bevölkerung sehr begrüßt werden würde.6
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Vgl. Federica ROMERO, US Attitudes towards Integration and Interdependence. The 1950s, in: Francis H. HELLER/John R. GILLINGHAM (Hg.), The United States and the Integration of Europe. Legacies of the Postwar Era, London, 1996, S. 103–121; John KILLICK, The United States and European Reconstruction, 1945–1960, Edinburgh 1997, S. 65ff. Ein ausgezeichneter Überblick auch in Klaus SCHWABE, Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpoltik von 1989 bis zur Gegenwart. Eine Jahrhundertgeschichte, Paderborn 2006, S. 188ff. Präsident Eisenhower hoffte, dass die USA dann ein wenig entspannen könnten. Die Einheit Europas würde den Frieden der Welt bewahren und letztendlich auch die sowjetischen Satellitenstaaten zum Westen ziehen. Siehe Foreign Relations of the United States [FRUS], 1955–1957, Bd. IV, S. 349, 21. Nov. 1955.
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Die Vereinigten Staaten waren überzeugt, dass das ganze überaus komplexe System zur demokratischen Rekonstruktion Europas letztendlich funktionieren würde, da es beiden Seiten große Vorteile brachte. Es konnte daher davon ausgegangen werden, dass beide Seiten Interesse an der erfolgreichen Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Systems haben würden.7 Doch die europäische Integration funktionierte nicht so, wie die Politiker in der amerikanischen Hauptstadt sich das vorgestellt hatten. Der einheitliche Markt wurde erst Anfang der neunziger Jahre verwirklicht, also mehr als 40 Jahre später, als die USA sich das gewünscht hatten. Erst der nicht zuletzt unter dem Eindruck der deutschen Vereinigung und unter maßgeblicher Verantwortung von Helmut Kohl und François Mitterrand, dem französischen Ministerpräsidenten, zustande gekommene Maastrichter Vertrag von 1991/92 schuf die Voraussetzungen für einen einheitlichen europäischen Markt und für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWU).8 In den Dekaden zuvor war es lediglich zu sektoralen Integrationsschüben gekommen, die auch bis in die siebziger Jahre im wesentlichen auf die sechs Gründernationen der Europäischen Gemeinschaft beschränkt geblieben waren. Zudem war die EG lange Zeit eine protektionistische und diskriminierende Wirtschaftsgemeinschaft, die auch nicht davor zurückschreckte, die ökonomische Konkurrenz der USA und des Dollars aus Europa mittels überhöhter Zölle und Exportbeschränkungen herauszuhalten.9 Während der fünfziger und auch noch während der sechziger Jahre war Washington durchaus gewillt, dies zu tolerieren. Letztlich, so hoffte man, würde sich die ursprüngliche Vision der USA für die Verwirklichung eines einheitlichen und freien europäischen Marktes doch noch erfüllen. Bis Ende der sechziger Jahre ging es den USA wirtschaftlich noch recht gut. Die ökonomische Diskriminierungspolitik der Europäer konnte daher relativ gut verschmerzt werden; sie war ärgerlich, doch stellte sie für Washington kein ernsthaftes Problem dar. Zudem ging man davon aus, dass die enormen ökonomischen Vorteile, die ein einheitlicher Markt auch den USA bringen würden, letztlich alle anfänglichen Opfer aufwiegen würden.10 Erst als sich die ökonomische Situation Amerikas seit Ende der sechziger Jahre, nicht zuletzt unter den Belastungen des Vietnamkrieges, deutlich verschlechterte, ergaben sich immer mehr und immer schwerwiegendere transatlantische Handelskonflikte. Diese hatten auch tiefe Auswirkungen auf das po-
7 Vgl. ROMERO (wie Anm. 5), S. 103–121; KILLICK (wie Anm. 5), S. 65ff. 8 Vgl. Stefan FRÖHLICH, „Auf den Kanzler kommt es an.“ Helmut Kohl und die deutsche Außenpolitik, Paderborn 2001, S.187ff. 9 Siehe für die amerikanische Sicht: FRUS 1958–1960, Bd. VII, Teil 1, S. 61–64 (29. Juli 1958), 218–220 (16. Dez. 1959). 10 Vgl. ROMERO (wie Anm. 5), S. 114–118.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls 371 litische Vertrauensverhältnis der transatlantischen Partner zueinander, zumal die Europäer, nicht zuletzt die Bundesrepublik, durch das nach wie vor hohe eigene Wirtschaftspotential ein immer größeres Selbstbewusstsein entwickelten. Die sogenannte Ära der Entspannung tat ein übriges. Die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion wurde in den siebziger Jahren von den meisten Europäern als gering empfunden. Gelegentlich wurde gar davon gesprochen, dass der Nuklearschirm der Amerikaner überflüssig geworden sei.11 Die USA waren jedoch immer weniger gewillt, die zunehmende Unabhängigkeit der Europäer von der etablierten amerikanischen Vormachtstellung zu akzeptieren. Das Resultat waren die krisengeschüttelten transatlantischen Beziehungen der siebziger und frühen achtziger Jahre.12 Es ist vielleicht nicht übertrieben zu behaupten, dass vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der nuklearen Schutzgarantie der USA die Geschichte der transatlantischen Beziehungen, einschließlich der deutsch-amerikanischen Beziehungen, im Grunde die „Geschichte der ständigen Emanzipation der Europäer aus der amerikanischen Hegemonie“ darstellt.13 Im deutsch-amerikanischen Verhältnis waren insbesondere die Jahre von 1977 bis 1982, als Jimmy Carter in Washington und Helmut Schmidt in Bonn regierten, sehr schwierig. Beide Politiker und mancher ihrer führenden Mitarbeiter kamen persönlich äußerst schlecht miteinander aus. Zudem handelte es sich um eine krisengeschüttelte Zeit, die von einer ernsten weltweiten Wirtschaftskrise und der zweiten Ölkrise charakterisiert war. Aber auch viele dramatische internationale politische Umwälzungen und Entwicklungen fanden statt (die iranische Revolution beispielsweise; die sowjetische Invasion Afghanistans), die zu zahlreichen öffentlichen Demütigungen der USA führten.14 Während Carter daher bald zunehmend den Druck der amerikanischen Öffentlichkeit fühlte, die führende Stellung Amerikas in der Welt zu betonen und wiederherzustellen und seine Wirtschaftspolitik in Ordnung zu bringen, erfreute sich Kanzler Schmidt hohem internationalen Ansehen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik beruhte vor 1990 weitgehend auf dem „free rider“Prinzip und war mit Ausnahme der Ost-West Beziehungen nur selten von den 11 Für eine schnelle Orientierung, vgl. SCHWABE, Weltmacht und Weltordnung (wie Anm. 5), S. 295ff. 12 Vgl. Wolfram F. HANRIEDER, The German-American Connection in the 1970s and 1980s. The Maturing of a Relationship, in: Carl C. HODGE/Cathal J. NOLAN (Hg.), Shepherd of Democracy? America and Germany in the Twentieth Century, Westport, Conn., 1992, S. 105–121. 13 Ernst-Otto CZEMPIEL, zitiert in Friederich MIELKE, USA und Europa – Partner oder Rivalen? Die Krise der transatlantischen Beziehungen (Rissener Einblicke), Hamburg 2004, S. 9. 14 Für die bis heute anhaltenden enormen Auswirkungen der iranischen Geiselkrise auf die Psyche und Politik der USA, vgl. Mark BOWDEN, Guests of the Ayatollah. The First Battle in the West’s War with Militant Islam, London 2006.
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großen internationalen Krisen der Zeit direkt betroffen. Zudem florierte die westdeutsche Wirtschaft nach wie vor recht gut, und der selbstbewusste Schmidt fühlte sich des öfteren veranlasst, dem in die Defensive gedrängten Carter gutgemeinte Ratschläge für die Politik der USA zu geben.15 Ronald Reagans Einzug ins Weiße Haus im Januar 1981 änderte daran nichts. Im Gegenteil. Die Politik des streng anti-kommunistischen Reagan, der anfänglich auf einen Konfrontationskurs gegenüber der Sowjetunion setzte, verschlechterte das Verhältnis zur Bundesrepublik weiter. In Bonn hatten schließlich alle Parteien aus vornehmlich innerdeutschen Gründen großes Interesse an der Fortsetzung der Entspannungspolitik der siebziger Jahre. Anfang der achtziger Jahre, kurz vor der Regierungsübernahme Helmut Kohls, war das deutsch-amerikanische Verhältnis so schlecht wie nie zuvor; lediglich 2002/ 2003, im Zeichen des Irakkrieges, konnte eine noch ernstere Krise in den transatlantischen und deutsch-amerikanischen Beziehungen verzeichnet werden. Helmut Kohl und Amerika In seiner ersten Rede als Kanzler am 13. Oktober 1982 beschrieb Kohl sein politisches Programm als eine „Politik der Erneuerung“. Zwar bezog er sich vor allem auf die deutsche Innenpolitik, als er von einer „geistig-moralischen Wende“ sprach, die er herbeiführen wollte, doch der neue Kanzler war auch fest davon überzeugt, die Grundlagen der westdeutschen Außenpolitik erneuern zu müssen. Vor allem hoffte er, die krisengeschüttelte deutsch-amerikanische Freundschaft „stärken“ und „stabilisieren“ zu können. Daher beabsichtigte er, schon wenige Wochen nach Amtsübernahme einen Antrittsbesuch in den USA zu absolvieren.16 Die gewaltigen – und teilweise auch gewalttätigen Demonstrationen – in der Bundesrepublik gegen die Nachrüstungspolitik des westlichen Bündnisses gleich zu Beginn der Ära Kohl und einer auch von weiten Bevölkerungskreisen geteilten großen Skepsis gegenüber der Politik Ronald Reagans könnten auf einen tiefen westdeutschen Antiamerikanismus hinweisen. Doch die Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen in den siebziger und achtziger Jahren war weit weniger im Grundsätzlichen verankert, als oftmals angenommen wurde. Vielmehr handelte es sich vor allem mehr um eine weitverbreitete Anti-
15 Vgl. Klaus WIEGREFE, Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen, Berlin 2005. 16 Helmut KOHL, Erste Regierungserklärung, 13. Oktober 1982, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages [BT], Sten. Ber., 9. WP, 121. Sitzung, S. 7213–7229, hier S. 7220ff.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls 373 Reagan-Stimmung als um eine tiefe anti-amerikanische Haltung der Westdeutschen.17 Insofern gibt es gewisse Parallelen zwischen der skeptischen bis feindlichen Anti-Bush-Stimmung der Jahre nach dem Irakkrieg von 2002/2003 und der Anti-Reagan-Stimmung in der Bundesrepublik in den achtziger Jahren. In beiden Fällen hatte dies recht wenig mit grundsätzlichem Antiamerikanismus, aber sehr viel mit großer Skepsis gegenüber der jeweiligen Administration in Washington zu tun. Durch zeitgenössische Meinungsumfragen lässt sich belegen, dass in fast allen Jahren in den siebziger und achtziger Dekaden die westdeutsche Unterstützung für die NATO und für die amerikanische Truppenpräsenz in Deutschland unverändert groß war. In der Tat war die pro-amerikanische Stimmung in der Bundesrepublik in diesen beiden Dekaden so groß wie in keinem anderen europäischen Land. Lediglich in der Republik Irland gab es eine noch stärkere pro-amerikanische Haltung während dieser Jahre.18 Trotz der Auseinandersetzungen um die Nachrüstung gleich zu Beginn der Ära Kohl und der großen Bedenken gegenüber der Politik der Präsidenten Carter und Reagan, die die meisten Westdeutschen hegten, waren die Voraussetzungen für den neuen Kanzler, das Verhältnis zu den USA wieder zu bereinigen, daher nicht schlecht. Daneben war es für den neuen und international unerfahrenen Kanzler, der auf innenpolitisch nicht unumstrittene Art und Weise zum Bundeskanzleramt gekommen war,19 ohnehin ratsam, sich des Wohlwollens und der Unterstützung der westlichen Supermacht zu versichern. Aber im Falle Kohls war dies nicht nur eine politische Taktik. Der neue 52-jährige Kanzler war ein echter und überzeugter Atlantiker, der zutiefst von dem Wert der deutsch-amerikanischen Partnerschaft überzeugt war. Diese Partnerschaft, so glaubte er, war ein Teil der westdeutschen Staatsräson. Immerhin hatte die enge Bindung der Bonner Republik an die USA die Deutschen zu echten Demokraten gemacht und sie wieder allgemein zu respektierten Mitgliedern der internationalen Völkergemeinschaft aufsteigen lassen.20 Gelegentlich ließen sich Kohls Enthusiasmus für den europäischen Integrationsprozess, sein tiefer Patriotismus und seine Überzeugung von den kulturellen Werten der deutschen Nation und von der Notwendigkeit der deutschen Einheit nicht mit seiner pro-amerikanischen Haltung in Übereinstimmung 17 Zu den Protesten und Demonstrationen vgl. Helmut KOHL, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 194–197. 18 Vgl. Geir LUNDESTAD, The United States and Western Europe since 1945. From “empire” by invitation to transatlantic drift, Oxford 2003, S. 222. 19 Vgl. die Ausführungen von Helmut Schmidts Regierungssprecher, Klaus BÖLLING, Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt. Ein Tagebuch, Hamburg 1982. 20 Clay CLEMENS, Kohl’s Image of America, in: Wolfgang-Uwe FRIEDRICH (Hg.), Germany and America. Essays in Honor of Gerald R. Kleinfeld, Oxford 2001, S. 178–195, hier S. 180.
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bringen. Doch dies waren Ausnahmen und der Kanzler wusste es meist zu verhindern, dass er sich zu oft oder in einem zu offenen Gegensatz zu Washington befand. Die große Ausnahme war wohl Reagans Bitburg-Besuch des Jahres 1985. Kohl zeigte sich wenig kompromissbereit und bestand ungeachtet der weltweiten Kontroverse über die SS-Gräber auf dem Bitburger Friedhof, den er und der Präsident gemeinsam aufsuchen wollten, recht unnachgiebig auf dem vereinbarten Besuch des Präsidenten.21 Aber beispielsweise bei Reagans Verhandlungen mit Michail Gorbatschow über die Reduzierung oder gar Abschaffung der Mittelstreckenraketen Mitte der achtziger Jahre und in den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Kurzstreckenwaffen 1987–89 war es Kohl, der im Gegensatz zur britischen Premierministerin Thatcher und dem französischen Ministerpräsidenten Mitterrand pragmatisch reagierte. Trotz vieler privater Bedenken legte der Kanzler große Kompromissbereitschaft an den Tag und ermutigte Reagan auch, die Verhandlungen mit Moskau aufzunehmen.22 Kohl war im Grunde immer darauf bedacht, eine offene Konfrontation mit Washington zu vermeiden und letztendlich einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss zu erreichen. Falls dies aber nicht möglich schien, war er in der Regel bereit nachzugeben. Die USA-Politik Kohls zeigte damit durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen Konrad Adenauers, der bei aller willensstarken Beharrlichkeit doch letztlich bereit war, der westlichen Hegemonialmacht gegenüber klein beizugeben, wenn es sich als notwendig erwies.23 Doch womöglich hatte Kohl auch aus Helmut Schmidts wenig glücklichem Umgang mit Jimmy Carter Lehren gezogen. Dabei kannte Helmut Kohl die USA wesentlich weniger gut als Schmidt. Im Grunde war ihm Amerika nur von offiziellen Besuchen bekannt, wobei er meist lediglich die großen Städte und gelegentlich eine der berühmten Universitäten des Landes besuchte. Kohl reiste nie in den USA herum, kannte den Mittleren Westen und andere Landesteile kaum und verbrachte auch nie einen Urlaub in Amerika. Dennoch fand er es nicht schwer, sich auf Amerika einzustellen. Er war selbst in einer Provinzstadt aufgewachsen, und sein eigenes ländliches Selbstverständnis korrespondierte mit dem Selbstverständnis vieler Amerikaner. Es gab etwas Solides, Natürliches und Kumpelhaftes in Amerika, das er mochte. Zugleich waren die USA ein überaus dynamisches, fantasievolles und sehr optimistisches Land, das auf tiefen konservativen Wertvorstellungen beruhte, mit denen er sich leicht identifizieren konnte.
21 Für Kohls Sicht vgl. seine Erinnerungen (wie Anm. 17), S. 348ff. Siehe auch Geoffrey H. HARTMAN, Bitburg in Moral and Political Perspective, Bloomington 1986; Theo HALLET, Umstrittene Versöhnung. Kohl und Reagan in Bitburg 1985, Erfurt 2005. 22 Vgl. KOHL, Erinnerungen (wie Anm. 17), S. 392ff., S. 404ff., S. 635ff. 23 Vgl. die Adenauer-Biographie von Hans-Peter SCHWARZ. Bd. 1: Adenauer. Der Aufstieg, 1876–1952. Bd. 2: Adenauer. Der Staatsmann 1952–1967, Stuttgart 1986, 1991.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls 375 Kohls überzeugter Katholizismus half ihm, die tiefe Religiosität und manch moralistische Überzeugungen vieler Amerikaner zu verstehen.24 Helmut Kohl hatte daher keinerlei Verständnis für die anti-amerikanischen Tendenzen der 1968er Protestgeneration. Er hatte noch weniger Verständnis für die linkslastigen, anti-nationalen westdeutschen Intellektuellen späterer Jahre, die seiner Ansicht nach die westdeutsche Medienlandschaft dominierten und seine eigene Regierung lächerlich machten, als inkompetent bezeichneten und den Kanzler als provinziell, der sich gegenüber seinen amerikanischen Freunden nicht durchzusetzen traute.25 Die Rolle von Persönlichkeiten ist in der Politik immer von großer Bedeutung, doch nirgendwo mehr als in den USA. Kohl war sich dessen bewusst, zumal sein eigener Regierungsstil dem vieler amerikanischer Politiker nicht unähnlich war. Das berühmte „System Kohl“ – ein komplexes und sehr weites Netzwerk von politischen Freunden und Bekannten, die sich sehr eng vertrauten, sich gegenseitig stützten und vor allem Kohl gegenüber streng loyal waren – wäre vielen amerikanischen Politikern wohlbekannt vorgekommen.26 Für Kohl bedeutete Politik machen, sich mit Personen auseinandersetzen, sowohl mit Freunden als auch mit Feinden: sie kennenzulernen, ihre Stärken und Schwächen zu realisieren, sie zu beeinflussen und wenn nötig für seine eigenen Ziele verfügbar zu machen. Die amerikanische Politik beruht auf allen Ebenen, von der Lokalpolitik einer Provinzstadt über das Komiteesystem des Kongresses bis hin zu der Notwendigkeit des Präsidenten, sich auf zahllose ungewählte Berater und Beamte verlassen zu müssen, auf einem ganz ähnlichen Mechanismus. Daher war Helmut Kohls auf den ersten Blick überraschende Fähigkeit, enge Beziehungen zu so unterschiedlichen Präsidenten wie Ronald Reagan, George Bush und Bill Clinton aufzubauen, bei näherem Hinsehen weniger aufsehenerregend. Im Grunde handelte es sich um die erfolgreiche Anwendung des System Kohls auf internationaler Ebene. Auf allen Ebenen war es zudem schwierig, sich dem Charme und der rheinischen Ausstrahlung des Kanzlers, seinem Humor und seiner Kameraderie und Kumpanei zu entziehen. Zudem hatte Kohl ein eindrucksvolles Gedächtnis (und ein ausführliches Notizbuch), um sich die Namen und persönlichen Interessen und Probleme seiner Gesprächspartner zu merken. Dadurch gelang es ihm immer wieder, einen schnellen Kontakt herzustellen. Dies war ihm nicht nur mit deutschen Politikern möglich, bei denen Kohl in der Regel der hier24 Vgl. CLEMENS (wie Anm. 20), S. 179–185. 25 Vgl. KOHL, Erinnerungen (wie Anm. 17), S. 38f.; auch Harald MÜLLER und Thomas RISSE KAPPEN, Origins of Estrangement. The Peace Movement and the Changed Image of America in West Germany, in: International Security 12 (1987), S. 52–88. 26 Vgl. Karl-Rudolf KORTE, The Art of Power. The ‘Kohl System’. Leadership and Deutschlandpolitik, in: Clay CLEMENS/William E. PATERSON (Hg.), The Kohl Chancellorship, (Sonderausgabe) German Politics, 7/1 (April 1998), S. 64–90.
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archisch höher gestellte und oft auch intellektuell überlegenere, da besser informierte, Gesprächspartner war, sondern auch mit ausländischen Staatsmännern und Beratern, einschließlich amerikanischen Präsidenten und ihren Außenministern. Doch bei diesen war Kohl der Juniorpartner, dem insbesondere in den frühen achtziger Jahren, als noch unerfahrener Kanzler, sehr daran gelegen war, sich auf internationalem Parkett als gleichberechtigter Staatsmann behandelt zu sehen. Denn Kohls nicht unangefochtene Stellung in der deutschen Politik und in seiner eigenen Partei vor 1990 konnte womöglich durch eine enge Beziehung zum amerikanischen Präsidenten deutlich gestärkt werden. Als Kohl in seiner Antrittsrede als Kanzler vor dem Bundestag im Oktober 1982 seine Absicht verkündete, in naher Zukunft die USA besuchen zu wollen, hatte er daher nicht nur das Wohl seines Landes, sondern auch seine eigene politische Zukunft vor Augen. Ein glanzvoller Besuch in Washington und die Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zu Präsident Reagan erschienen ihm innen- und außenpolitisch von großem Vorteil zu sein. Kohl beschloss daher, die immer stärkere Friedensbewegung in der Bundesrepublik zu ignorieren (deren Mitglieder ihn ohnehin nie wählen würden) und in seiner Antrittsrede, seine starke Unterstützung für die Sicherheitspolitik Präsident Reagans herauszustellen.27 Kohl zögerte nicht, seine volle und „uneingeschränkte“ Unterstützung für den Nachrüstungsbeschluss der NATO vom Dezember 1979 zu betonen, wie er es auch bereits gegenüber seinem ersten ausländischen Besucher als Kanzler, dem sowjetischen Politiker Michail Solomenzew, getan hatte.28 Kohl erklärte in seiner Antrittsrede vor dem Bundestag, dass er voll und ganz die Absicht des Westens unterstütze, mit der UdSSR in Genf zu verhandeln, um die Aufstellung der neuen Mittelstreckenraketen unnötig zu machen. Sollte Moskau bereit sein, seine auf europäische Großstädte und Militäranlagen ausgerichteten SS 20-Raketen abzubauen, so werde die NATO keine neuen Mittelstreckenraketen stationieren. Weigere sich Moskau allerdings, die bereits seit mehreren Jahren in Stellung gebrachten SS 20-Raketen, mit ihren drei separat abzufeuernden nuklearen Sprengköpfen abzubauen, so werde der Westen gezwungen sein, 108 Pershing II-Raketen in der Bundesrepublik und 464 Cruise Missiles in Großbritannien, Italien, Holland und Belgien zu stationieren. Kohl beabsichtigte dem Beschluss der NATO nachzukommen und Ende 1983 mit der Aufstellung der Pershing-Raketen zu beginnen, falls die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen scheitern sollten. Dies war eine couragierte, wenn auch nicht unerwartete Ankündigung, die dem neuen Kanzler jedoch gleich einen großen Vertrauensvorschuss in Wa27 KOHL, Erste Regierungserklärung (wie Anm. 16). 28 KOHL, Erinnerungen (wie Anm. 17), S. 38f.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls 377 shington einbrachte. In späteren Jahren würde Kohl erklären, dass seine Unterstützung und Durchführung des Nachrüstungsbeschlusses der NATO letztlich geholfen hätte, die Amerikaner nur sieben Jahre später zu überzeugen, nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989, den Prozess der deutschen Einheit zu unterstützen – ungeachtet des starken Widerstandes aus Moskau, London und Paris.29 Kohl war davon überzeugt, dass der Nachrüstungsbeschluss durchgeführt werden müsste, falls die sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen in Genf scheiterten, um den sowjetischen Vorsprung bei den Mittelstreckenraketen wettzumachen. Doch angesichts der ernsten Spannungen in den deutsch-amerikanischen Beziehungen war sich der Kanzler auch darüber im Klaren, dass es nicht weniger wichtig war, die Reagan-Administration davon zu überzeugen, dass die Bundesrepublik nach wie vor ein loyaler und absolut zuverlässiger Bündnispartner war. Dies versicherte er Reagan auch bereits während eines kurzen Treffens in Moskau am Rande der Begräbnisfeierlichkeiten für Leonid Breschnew und wiederholt während seines ersten Amerikabesuches als Kanzler vom 14. bis 16. November.30 Während es Kohl damit gelang, alle sicherheitspolitischen Bedenken der Reagan-Administration gegenüber der Bündnistreue der Bundesrepublik zu zerstreuen, war es ihm kaum möglich, die kühle bis ablehnende Haltung Washingtons gegenüber dem Prozess der europäischen Integration zu beeinflussen. Ronald Reagan und die europäische Integration in den achtziger Jahren In seinen Memoiren äußert sich Helmut Kohl sehr lobend über den 40. Präsidenten der USA, den er ungeachtet der schweren Kritik, die in den deutschen Medien an Reagan geübt wurde, als einen Mann „von Format“ bezeichnet und dessen „klaren Blick auf die Weltlage“ er bewundernd hervorhebt.31 Da er Reagan bereits als Oppositionsführer in Bonn empfing, als der Präsidentschaftskandidat keinen offiziellen Termin in Helmut Schmidts Kanzleramt erhielt, fühlte Reagan sich ihm verbunden.32 Es mag auch sein, wie Kohl schreibt, dass Reagan große „Interessen und Sympathien für Deutsche, deutsche Geschichte und europäische Kultur hatte“33, doch machte der Präsident seinen europäischen Verbündeten das Leben nicht einfach. Reagan hatte sich das Ziel gesetzt, die seiner Ansicht nach unter Carter mit Füßen getretene internationale Vormachtstellung der USA voll und uneingeschränkt wieder her-
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Helmut Kohl, Interview mit dem Autor am 20. Mai 2005 in Berlin. KOHL, Erinnerungen (wie Anm. 17), S. 62f. EBD. S. 63f. So zumindest KOHL, EBD. S. 138. EBD.
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zustellen. Dies galt nicht nur für das Verhältnis zur sowjetischen Supermacht. Dies galt auch und insbesondere für die amerikanische Hegemonialstellung in den transatlantischen Beziehungen. Reagan war nicht gewillt hinzunehmen, dass den USA von den Verbündeten auf dem Kopf herumgetanzt wurde, wie er die Resultate der transatlantischen Krisen der letzten Jahre interpretierte. Die neue Reagan-Regierung ignorierte daher weitgehend die seit den sechziger Jahren stark angewachsene Wirtschaftsmacht und das gestiegene Selbstvertrauen der Europäer. Die Administration bemühte sich auch, die durch die Ära der Entspannung hervorgerufenen Entwicklungen im Ost-West-Verhältnis und die subtilen Machtverschiebungen innerhalb des westlichen Lagers weitgehend zu negieren. Die transatlantischen Beziehungen der achtziger Jahre wurden daher vor allem von den oftmals divergierenden sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen der westlichen Verbündeten dominiert. Den zahlreichen transatlantischen Krisen lagen nicht zuletzt recht unterschiedliche Auffassungen darüber zugrunde, ob der Kalte Krieg den Westen in seiner Existenz nach wie vor gefährdete oder sich zu einem doch recht harmlosen Konflikt entwickelt hatte.34 Während bis dahin fast alle amerikanischen Präsidenten den Prozess der europäischen Integration zumindest rhetorisch gutgeheißen hatten, machte sich Reagan gar nicht mehr die Mühe, sein Desinteresse an dem europäischen Einigungsprozess zu verbergen. In der Tat, Reagans neue Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion machte es schwierig, wenn nicht unmöglich, das Verhältnis zu den Verbündeten grundsätzlich zu überdenken. Die Rückkehr zu dem traditionellen Kalten Krieg der fünfziger und sechziger Jahre, die die ersten Jahre von Ronald Reagans Amtszeit charakterisierte, bedeutete auch, dass die Administration wie selbstverständlich die Bündnistreue der Alliierten voraussetzte. Washington neigte während dieser Zeit dazu, jede Kritik am außenpolitischen Kurs der Administration überzubewerten und beinahe als Verrat an der westlichen Vormacht zu interpretieren.35 Im Hinblick auf Reagans Politik gegenüber der Sowjetunion ist es sinnvoll, zwischen seiner ersten und zweiten Amtsperiode zu differenzieren. Erst ab etwa 1984/85 begann der Präsident eine kooperationsbereite und weniger unnachgiebige Politik gegenüber Gorbatschows UdSSR zu verfolgen. Auch wenn dies dazu beitrug, Washingtons Beziehungen zu den Verbündeten erheblich zu verbessern, erwartete Reagan doch nach wie vor, dass sich die Eu-
34 Vgl. Coral BELL, The Reagan Paradox. US Foreign Policy in the 1980s, New Brunswick, NJ, 1989; Michael JOCHUM, Der Zerfall des sicherheitspolitischen Konsenses und die Verschärfung der Wirtschafts- und Währungskrisen (1981–1989), in: LARRES/OPPELLAND (wie Anm. 4), S. 204–229, hier S. 204ff. 35 Vgl. Geir LUNDESTAD, The United States and Western Europe under Ronald Reagan, in: David E. KYVIG (Hg.), Reagan and the World, New York 1990, S. 47–62.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls 379 ropäer der hegemonialen Führung der USA widerspruchslos anschließen sollten. Zu Beginn seiner Präsidentschaft sprach Reagan beispielsweise davon, dass er es sich durchaus vorstellen könne, mit der UdSSR in einen nuklearen Schlagabtausch zu treten. Eine solche Auseinandersetzung hätte natürlich vornehmlich über Europa stattgefunden und den größten Teil des Kontinents zerstört. Eine ähnliche Bereitwilligkeit, sich von europäischen Sicherheitsinteressen zu distanzieren, betraf die Entwicklung der Strategic Defense Initiative (SDI). Falls sich dieses Projekt je in seiner ursprünglichen Form hätte verwirklichen lassen, dann wären die USA immun vor nuklearen sowjetischen Angriffen gewesen, während den Europäern aller Voraussicht nach ein solcher Schutz nicht zur Verfügung gestanden hätte. Konsultationen darüber fanden nur nach Protesten der Europäer und dann auch nur zögerlich statt. Reagans Verhandlungen mit dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow während des Gipfeltreffens in Reykjavik im Oktober 1986 hätte beinahe zur Abschaffung aller ballistischen Waffensysteme in Ost und West geführt. Obwohl eine solche Entwicklung die Zukunft des europäischen Kontinents ganz entscheidend beeinflusst hätte, hielt Reagan es nicht für notwendig, die europäischen Verbündeten zuvor zu konsultieren. Im Gegenzug vereinbarten daher Kohl und Mitterrand nicht nur in wirtschaftspolitischen, sondern auch in sicherheitspolitischen Belangen eng zu kooperieren.36 Auch Reagans und Gorbatschows sogenanntes doppeltes Nullabkommen von 1987/ 1988, welches die Beseitigung aller Mittelstreckenraketen aus Europa vorsah, und Reagans Vorschlag von 1988, die Kurzstreckenraketen der NATO vom Typ Lance zu modernisieren, wurden ohne Konsultationen mit den Europäern beschlossen. Da gerade die Lance-Raketen vor allem auf westdeutschem Gebiet stationiert waren und nur deutsches Territorium erreichen konnten, war Helmut Kohl über Reagans unterlassene Konsultation zutiefst verärgert.37 Das Desinteresse der Reagan-Administration an der Konsultation der Europäer wird auch auf wirtschaftlichem Gebiet deutlich. Der zunehmende Handel der EG und insbesondere derjenige Westdeutschlands und Frankreichs mit der DDR, der UdSSR und anderen osteuropäischen Ländern, aber auch mit vielen Entwicklungsländern und der arabischen Welt wurde in Washington mit großer Skepsis und einer Portion Neid gesehen. Die Administration versuchte die wirtschaftspolitische Konkurrenz der EG-Länder einzuschränken 36 Vgl. BELL (wie Anm. 34), S. 27ff.; LUNDESTAD (wie Anm. 35), S. 48ff., Miles KAHLER, The United States and Western Europe. The Diplomatic Consequences of Mr. Reagan, in: Kenneth A. OYE u. a. (Hg.), Eagle Defiant. United States Foreign Policy in the 1980s, Boston 1983, S. 276–289, 290ff.; KOHL, Erinnerungen (wie Anm. 17), S. 442. 37 Vgl. Hans-Dietrich GENSCHER, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 581ff.; HANRIEDER (wie Anm. 4), S. 364–366; Michael BROER, Die nuklearen Kurzstreckenwaffen in Europa. Eine Analyse des deutsch-amerikanischen Streits über die Einbeziehung der SRINF in den INFVertrag und der SNF-Kontroverse, Frankfurt/M. 1993.
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und scheute sich auch nicht, die Notwendigkeit einer restriktiven westlichen Handelspolitik gegenüber dem Osten, die unbedingt eingehalten werden müsse, mit der transatlantischen Sicherheitspolitik zu erklären. Dies führte auf europäischer Seite immer wieder zu großen Missstimmungen.38 Bei den Amerikanern war es dagegen vor allem und nicht ganz zu Unrecht die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäer (CAP), die allergrößte Kritik in Washington hervorrief.39 Wie üblich bei ernsten Konflikten mit den USA während der Krisen der achtziger Jahren, war die EG jedoch bereit, sich immer wieder auf Kompromisse einzulassen. Immerhin war die transatlantische Allianz und insbesondere das NATO-Bündnis im neuentflammten Kalten Krieg von großer Wichtigkeit für den Schutz der Allianz. Zudem trug Reagans enge Verbindung zu der britischen Premierministerin Margaret Thatcher – die wie der Präsident keinerlei Interesse an einer gemeinsamen Politik der Europäer gegenüber den USA und an weiteren Fortschritten bei dem europäischen Integrationsprozess hatte – dazu bei, eine gemeinsame Linie der EG-Länder unmöglich zu machen. Es war daher keine große Überraschung, dass, nachdem im November 1983 die Genfer Nachrüstungsverhandlungen mit Moskau gescheitert waren, sich fast alle EG-Länder bereit fanden, die neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen auf ihrem Territorium zu stationieren und die heftigen Proteste aus der Bevölkerung zu ignorieren. Von manchen europäischen Regierungen wurde die Raketenstationierung sogar erleichtert als Anzeichen interpretiert, dass die Reagan-Administration wohl doch nicht die Absicht habe, sich allmählich von Europa loszulösen. Die Regierung Kohl/Genscher war jedoch ohnehin nicht davon ausgegangen, dass die sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen Erfolg haben würden und zögerte jetzt nicht, nach einem entsprechenden Parlamentsbeschluss umgehend mit der Verwirklichung des Doppelbeschlusses zu beginnen.40 Während auf sicherheitspolitischem Gebiet die europäischen Regierungen letztlich keine andere Möglichkeit sahen, als sich den Wünschen der USA, wenn sie nur hart genug vertreten wurden, unterzuordnen, war dies auf wirtschafts- und finanzpolitischem Gebiet viel seltener der Fall. Hier waren die EG-Länder in der Regel sehr viel weniger geneigt nachzugeben. Das galt auch für die Kohl-Regierung in Bonn. Insbesondere wurde die als „Reagonomics“ bezeichnete neoliberale Wirtschaftspolitik des Präsidenten in Bonn wie auch 38 Vgl. Manfred KNAPP, Das Dilemma der europäischen NATO-Staaten zwischen ökonomischem Machtzuwachs und sicherheitspolitischer Abhängigkeit, in: Christian HACKE/Manfred KNAPP (Hg.), Friedenssicherung und Rüstungskontrolle in Europa, Köln 1989, S. 95–111. 39 LUNDESTAD (wie Anm. 35), S. 50ff. 40 Vgl. Theodor BENIEN, Der SDI-Entscheidungsprozeß in der Regierung Kohl/Genscher 1983–1986, München 1992.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls 381 in den meisten anderen europäischen Ländern mit großem Misstrauen und unter Fachleuten mit Kopfschütteln betrachtet. Lediglich die Thatcher-Regierung in London brachte der durch den Ökonomen Milton Friedman stark beeinflussten Wirtschaftspolitik Reagans Verständnis entgegen und begann sie gar in entscheidenden Bereichen zu imitieren. Die Reagan-Administration vertraute auf eine Strategie, die einen Laissez-faire-Kurs, strikte Geldkontrolle und fast völlige wirtschaftspolitische Passivität der Regierung bevorzugte. Lediglich die Rüstungsindustrie genoss eine großzügige finanzielle Unterstützung der US-Regierung.41 Insgesamt setzte der Präsident darauf, dass die Kräfte des freien und uneingeschränkten Marktes die Wirtschaft ankurbeln würden. Diese manchmal auch als „trickle down“-Ökonomie bezeichnete Strategie führte zu ernsten wirtschaftspolitischen Differenzen zwischen den USA und den meisten EG-Ländern. Reagans Steuersenkungen und die gleichzeitigen durch Kreditaufnahme finanzierten hohen Investitionen in die Rüstungsindustrie führten zu einem enormen amerikanischen Haushaltsdefizit. Der Wert des Dollars stieg rapide an, während das Zinsniveau künstlich hoch gehalten wurde, damit die Regierung in der Lage war, billige Auslandsanleihen kaufen zu können. Seit 1984 führte dies zu einem sehr hohen amerikanischen Handelsdefizit. Dies bedeutete, dass die europäischen Regierungen ebenfalls ein hohes Zinsniveau einhalten mussten, um zu verhindern, dass zu viel Investitions- und Sparkapital von der EG in die USA abflossen. Dies führte jedoch zu einer deutlichen Einschränkung des Wirtschaftswachstums der meisten europäischen Länder.42 Im Grunde zeigte Reagans Wirtschafts- und Finanzpolitik erneut, dass die EG gegenüber unilateralen amerikanischen Entscheidungen völlig hilflos war und nicht umhin konnte, auf den in Washington beschlossenen Kurs einzugehen. Die Abhängigkeit der europäischen Wirtschaftspolitik von Entscheidungen einer wenig verständnisvollen US-Administration, führte dazu, dass sich die EG-Länder entschlossen, in der Wirtschafts- und Finanzpolitik enger miteinander zu kooperieren. Solche Versuche hatte es zwar auch schon in der Vergangenheit gegeben, doch dieses Mal wurden die inner-europäischen Kooperations- und Einheitsbemühungen erheblich energischer durchgeführt.43
41 Vgl. Benjamin J. COHEN, ‘An Explosion in the Kitchen?’ Economic Relations with Other Advanced States, in: Kenneth A. OYE (wie Anm. 36), S. 113ff.; Michael KREILE, Aufschwung und Risiko. Die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Reagan-Administration, in: Hartmut WASSER (Hg.), Die Ära Reagan. Eine erste Bilanz, Stuttgart 1988, S. 162– 184; Anandi P. SAKU/Ronald L. TRACY (Hg.), The Economic Legacy of the Reagan Years. Euphoria or Chaos, New York 1991. 42 EBD. 43 Vgl. beispielsweise John PETERSON, Europe and America in the 1990s: The Prospects for Partnership, Aldershot 1993, S. 45; FRÖHLICH (wie Anm. 8), S. 198ff.
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Die von Jacques Delors angeführte EG-Kommission begann damit einen Plan für einen einheitlichen europäischen Markt zu entwickeln, um die EG von der Dominanz der USA über die Wirtschafts- und Finanzpolitik der EGLänder zu befreien. Delors hatte die dann auch realisierte Absicht, bis 1992 einen völlig freien und integrierten, internen europäischen Markt zu schaffen. Auch beabsichtigte er, kurz darauf eine einheitliche Währung einzuführen. Daneben führte die 1984 von Frankreich betriebene, allerdings recht kurzlebige, Wiederbelebung der Westeuropäischen Union (WEU) dazu, dass neue Ideen für die Schaffung einer einheitlichen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt wurden, wie sie später im Maastrichter Vertrag formuliert wurden.44 Immerhin schienen Amerikas in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten, die dann durch einen rapiden Verfall des Werts des Dollars noch verschärft wurden, darauf hinzuweisen, dass Washington durchaus bald finanzielle Probleme bei der Aufrechterhaltung seiner Truppenpräsenz in Europa haben mochte. Ein Rückzug der US-Truppen konnte also nicht mehr ausgeschlossen werden. Die Verhandlungen zwischen Reagan und Gorbatschow, die zum Ende des Kalten Krieges führen sollten, ließen dies auch aus politischen Gründen als durchaus realistisch erscheinen. Zumindest konnte mit weiteren transatlantischen Konflikten über die Kosten der US-Truppenpräsenz in Europa gerechnet werden. Die Kohl-Regierung zögerte dennoch anfänglich, der westeuropäischen Zusammenarbeit auf sicherheitspolitischem Gebiet eine zu hohe Priorität einzuräumen. Für Kohl stand die „transatlantische Solidarität“ immer an erster Stelle. Während seiner ganzen sechzehnjährigen Kanzlerschaft legte er großen Wert darauf, den USA westdeutsche Verlässlichkeit und Bündnistreue zu demonstrieren.45 Auch Kohls in den Jahren von 1985 bis 1989 zu beobachtendes Zögern und scheinbare Ambivalenz hinsichtlich der Europäischen Währungsunion hatten nicht nur innenpolitische Gründe, wie oftmals in der Literatur dargelegt, sondern er nahm auch Rücksicht auf die Bedenken der USA. Grundsätzlich war Kohl immer ein Befürworter der EWU, doch die Vereinigten Staaten mussten für das wichtige Projekt gewonnen werden und es aus der Ferne unterstützen, sollte es langfristig erfolgreich sein.46
44 Vgl. Wyn G. REES, The Western European Union at the Crossroads. Between Transatlantic Solidarity and European Integration, Boulder 1998; Alfred CAHEN, The Western European Union and NATO. Building a European defence identity within the context of Atlantic solidarity, London 1989. 45 Vgl. FRÖHLICH (wie Anm. 8), S. 205ff., Zitat: S. 206. 46 Zu Kohls Zögern aus innenpolitischen und finanzpolitischen Gründen vgl. Kenneth DYSON, Chancellor Kohl as Strategic Leader. The Case of Economic and Monetary Union, in: CLEMENS/PATERSON (wie Anm. 26), S. 37–63, hier S. 37ff.
Die USA, die europäische Einigung und die Politik Helmut Kohls 383 Insgesamt betrachtete die Reagan-Administration die europäischen Bemühungen zur Schaffung eines ökonomisch, politisch und sicherheitspolitisch integrierten und zunehmend unabhängigen Europas mit großem Misstrauen. Ungeachtet der eigenen amerikanischen protektionistischen und auch diskriminierenden Handelsstrategien scheute Reagan sich nicht, den seiner Ansicht nach beabsichtigten Bau einer „Festung Europa“ anzuprangern und insbesondere nach wie vor die Agrarpolitik der EG scharf zu verurteilen. Am Ende der Präsidentschaft Ronald Reagans war kaum noch etwas übrig von der ursprünglichen pro-europäischen Vision der USA für die Schaffung eines einheitlichen Europas, die die Europapolitik der Vereinigten Staaten in den fünfziger und auch noch in den sechziger Jahren bestimmt hatte. Die USA waren unter Reagan nicht in der Lage gewesen, sich an die Interdependenz der Welt der achtziger Jahre anzupassen und die europäischen Verbündeten wie gleichberechtigte Partner zu behandeln. Während die Reagan-Administration 1984/ 1985 eine recht erfolgreiche Bestandsaufnahme ihrer Kalten-Krieg-Strategie durchführte, machte sie sich wenig Mühe, die amerikanisch-europäischen Beziehungen einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Die Reagan-Administration konnte sich nie dazu durchringen, die europäischen Verbündeten, einschließlich des loyalen westdeutschen Partners, als gleichrangig zu behandeln. 1989/1990: die Rückkehr zur europapolitischen Vision der USA unter George Bush Die transatlantischen Beziehungen verbesserten sich erst wieder erheblich, nachdem im Januar 1989 Reagans Vizepräsident George Herbert Walker Bush Präsident geworden war. Bush ließ sich von Anfang an weniger auf die finanzund sicherheitspolitischen Auseinandersetzungen des politischen Alltags ein. Stattdessen kümmerte er sich mehr um die Struktur der transatlantischen Beziehungen.47 Spätestens Ende 1989, Anfang 1990 wurde Bush bewusst, dass Fortschritte bei der europäischen Integration, der transatlantischen Interdependenz sowie auch die Durchführung der deutschen Einheit unvermeidbar waren, sollte das westliche Bündnis zusammengehalten werden. Die Bush-Administration begann daher, auf einen Kurs einzuschwenken, der nicht nur die neuen politischen Realitäten zu akzeptieren begann, sondern diese auch aktiv beeinflussen und bestimmen wollte.48 Dies wurde dadurch vereinfacht, dass die USA Anfang 1990 einen Handelsüberschuss mit der EG erzielten. Zudem war 47 Vgl. Geir LUNDESTAD, “Empire” by Integration. The United States and European Integration, 1945–1997, Oxford 1998, S. 111–116. Siehe auch den Sammelband von Helga HAFTENDORN/Christian TUSCHHOFF (Hg.), America and Europe in an Era of Change, Boulder, CO., 1993. 48 Vgl. Philip ZELIKOW/Condoleezza RICE, Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft, Cambridge, MA, 1995.
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es auch möglich gewesen, zahlreiche transatlantische Kompromisse hinsichtlich des einheitlichen europäischen Marktes zu schließen. Bush fürchtete zudem, dass nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Kommunismus im Osten Europas, die osteuropäischen Staaten die westliche Welt um finanzielle Unterstützung bitten würden. Die USA waren aber nicht mehr in der Lage, einen Marshall-Plan für Osteuropa aufzulegen. Hier hoffte man in Washington auf die aktive finanzielle Unterstützung Westeuropas. Im November 1990 wurde eine „Transatlantische Erklärung“ unterzeichnet, um die Beziehungen zwischen den USA und der EG zu stärken. Die Bush-Administration beabsichtigte auf diese Weise, die Schaffung eines „vereinigten Europas mit stärkeren und formelleren Beziehungen zu den USA“ herbeizuführen.49 Die Bush-Regierung hatte sich den ursprünglichen europapolitischen Visionen Trumans und Eisenhowers angenähert. Bis Ende 1990 konnte Präsident Bush im wesentlichen sicherstellen, dass der sich beschleunigende Prozess der europäischen Integration in einem atlantischen Rahmen stattfinden würde und keine europäische Abkoppelung von den USA zu befürchten war. Dieser Erfolg der amerikanischen Politik wäre Bush kaum möglich gewesen, wenn sich die USA nicht an die Spitze des europäischen Einheitsprozesses und des Prozesses der deutschen Vereinigung gesetzt hätten. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Ronald Reagan hatte George Bush die Zeichen der Zeit erkannt. In dem deutschen Bundeskanzler fand er einen willigen und nicht völlig uneigennützigen Helfer bei der Aufgabe, das westliche Bündnis zusammenzuhalten und den USA nach wie vor eine wichtige Rolle in Europa einzuräumen.
49 Vgl. LUNDESTAD, “Empire” by Integration (wie Anm. 47), S. 114.
Die USA-Politik aus amerikanischer Perspektive in der Ära Kohl Von Stefan Fröhlich 1. Einführende Bemerkungen Der Erfolg der Amerika-Politik in der Ära Kohl, lässt sich aus amerikanischer Sicht wohl am besten an drei zentralen Punkten festmachen: 1. dem Faktor Persönlichkeit bzw. der Personalisierung von Politik – Stichwort Verlässlichkeit/Vertrauen; 2. der Politik des Ausgleichs bzw. der Vereinbarkeit von scheinbar Unvereinbarem – Stichwort Erweiterung und Vertiefung der EU einschließlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bei gleichzeitiger enger Verflochtenheit mit den USA; 3. Zugehörigkeit zu einer der Schutzmacht emotional verbundenen Generation der fünfziger und sechziger Jahre, die eben weder von einem offenen Anti-Amerikanismus geprägt war wie die Generation von 1968 und der siebziger Jahre (zu der eben auch Schröder und Fischer gehörten), noch so nüchtern und pragmatisch in ihrer Politik gegenüber Amerika war wie die dritte Generation deutscher Nachkriegspolitik um Angela Merkel und Frank Steinmeier. An dieser Stelle ist vor allem auf die beiden ersten Punkte einzugehen. 2. Verlässlichkeit auf beiden Seiten des Atlantiks als Grundmaxime Kohl’scher Außenpolitik – ein nicht immer leichter Spagat Auch für Kohl zählten gleichermaßen das vereinte Europa (Erweiterung vor Vertiefung), die Achse Paris-Bonn sowie Russland neben den Vereinigten Staaten zu den Bezugskreisen/Konstanten deutscher Außenpolitik.1 Dabei schien ihm die deutsch-französische Partnerschaft in den neunziger Jahren bisweilen von größerer Bedeutung als die transatlantische Verbindung. Auch in Washington spürte man die Entschlossenheit des Kanzlers, nach der Wiedervereinigung auch die Integration des geeinten Europas unumkehrbar zu machen – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Unsicherheit über die langfristige Entwicklung der amerikanischen Europapolitik (Balkan) bzw. der Verlässlichkeit des „gütigen Hegemon“, auf den am Ende eben doch Verlass war; im Umbruch der neunziger Jahre schien die Administration Clinton doch lange Zeit am liebsten mit sich selbst beschäftigt. Dennoch vertraute man in Washington darauf, dass der Kanzler die jahrzehntealte Tradition bundesdeutscher
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Vgl. Stefan FRÖHLICH, „Auf den Kanzler kommt es an“. Helmut Kohl und die deutsche Außenpolitik, Paderborn 2001, S. 138ff.
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Außenpolitik des „Sowohl-als-auch“ (also Europa und USA) behutsam fortsetzen würde. Kohl galt als Meister des Ausgleichs und Kompromisses – und da die Bundesregierung in der ersten Hälfte der neunziger Jahre eben auch noch als dynamische und ökonomisch kraftvolle Industriemacht gesehen wurde, hoffte man auf eine zunehmend tragende Rolle in der Weltpolitik, allemal aber auf die Fortsetzung der Scheckbuchdiplomatie. Die damals von Bush sen. ausgerufene partnership in leadership war die Antwort auf das wiedervereinigte Deutschland: Die USA träumten von einer unipolaren Welt und begleiteten die deutsche Wiedervereinigung mit dieser spezifischen deutsch-amerikanischen Allianz. Kohl spielte hierbei gekonnt beide Seiten gegeneinander aus. Er benutzte die Amerikaner, um Widerstände gegen eine schnelle Wiedervereinigung auszuhebeln. Darin ähnelte er sehr Bismarck. Aber Kohl sah auch die Bedeutung von Mitterrands Argumenten. Die Lösung der deutschen Frage konnte nur durch Frankreich legitimiert werden. Hier stand Kohl klar in der Nachfolge Adenauers. Deshalb versuchte Europa auch, eine eigene Antwort zu geben: Maastricht und die Erweiterungsbeschlüsse von Kopenhagen sind die triumphale Vision dessen, wie Europa sich die Welt nach Ende des Kalten Krieges vorstellt. Diese unterscheidet sich allerdings von der amerikanischen Vision eines globalen Staatensystems mit Amerika als einziger hegemonialer Macht. Denn das neue Europa geht nun mal von einer multipolaren Weltordnung aus, in der die Vormachtstellung Amerikas durch verschiedene regionale Großmächte austariert wird. 3. Vertrauensvorschuss in den achtziger Jahren durch bedingungslose Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses Das Vertrauen, das Washington Kohl dabei entgegenbrachte, beruhte nicht zuletzt auf den Erfahrungen, die man in den achtziger Jahren mit der deutschen Amerikapolitik gemacht hatte. Das Festhalten am Doppelbeschluss 1982/1983 und das Durchstehen der Raketenkrise (nach Berlin-Blockade und Berlin- und Kuba-Krise die wohl dritte große Ost-West-Krise) mit dem gründlichen und weitgreifenden Abkommen von 1987 – gegen alle inneren Widerstände im Lande – haben das Bild aller drei US-Präsidenten (Reagan, Bush sen., Clinton) in der Amtszeit Helmut Kohls von der deutschen Amerikapolitik nachhaltiger geprägt als irgendein anderes Ereignis und maßgeblich zur vorbehaltlosen Unterstützung der Bush-Administration bei der Wiedervereinigung beigetragen, als der Bundeskanzler die Themen Innen-, Außen-, Russland- und Amerikapolitik auch aus Washingtoner Sicht exzellent orchestrierte. Im Management zusammen mit Bush und Baker in den USA, bei sehr schwacher Unterstützung von Thatcher, und auch nicht mit der erwarteten Unterstützung Mitterrands, haben Kohl und Genscher das Optimum erreicht. In Washington rechnet man
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es dem früheren Kanzler noch heute hoch an, dass er – wenn auch in einem eher theoretischen Gedanken – angedeutet hatte, dass die Wiedervereinigung ohne NATO-Zugehörigkeit besser unterbleiben sollte. In den beiden ersten Amtsperioden setzte Washington vor allem auf das Kanzleramt, gleichwohl viele nach dem Antritt der christlich-liberalen Koalition den Einfluss des Kanzlers auf die Außenpolitik als eher gering werteten. Genscher hatte den Austritt aus der sozial-liberalen Koalition nicht zuletzt aufgrund der Zerrissenheit des großen Koalitionspartners in der Frage des NATODoppelbeschlusses durchgesetzt, was ihm, der von jeher ein „gesundes Misstrauen“ (so Genscher im Gespräch mit dem Verfasser) gegenüber den USA besaß, im westlichen Lager vorübergehend Zustimmung und Respekt verschaffte. Später aber wurde er zum stärksten Protagonisten einer Fortführung der Entspannungspolitik, was ihm in Washington wiederum den Ruf eines den Ausgleich mit Moskau um jeden Preis suchenden Illusionärs eintrug („Genscherismus“2). Kohl hingegen galt rasch als Garant für transatlantische Verlässlichkeit, nachdem sein Machtwechsel inhaltlich neben der Konsolidierung der Haushaltspolitik primär auf eben die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses setzte, und das, obwohl er sich damals in der eigenen Partei in dieser Frage eher isoliert fühlte (so Philipp Jenninger im Gespräch mit dem Verfasser); damals soll es im Kanzleramt gar Gerüchte gegeben haben, nach denen Moskau schon 1983 der Bundesregierung für die Aufgabe des Doppelbeschlusses eine Konföderationslösung in der deutschen Frage angeboten hatte. So bekräftigte der Kanzler vor allem auf Anraten Teltschiks die außenpolitischen Koordinaten der künftigen Regierung als Teil der westlichen Welt, d.h. insbesondere des NATO-Bündnisses und der transatlantischen Partnerschaft, indem er die volle Erfüllung des Doppelbeschlusses in seiner Regierungserklärung festschrieb und eine schwankende Position in dieser Frage ausdrücklich ausschloss: „Die Bundesregierung steht uneingeschränkt zum Doppelbeschluß der NATO von 1979 … Sie wird die Beschlüsse erfüllen und nach Innen vertreten: den Verhandlungsteil und – wenn nötig – auch den Nachrüstungsteil.“3 Am 22. November 1983 beschloss die Regierungskoalition daraufhin, mit der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden zu beginnen. Mit dieser Konsequenz bewirkte sie, dass Moskau seine Unterhändler aus Genf zurückzog und den Abrüstungsgesprächen bis Januar 1985 fernblieb.
2 3
„Time Magazine“, 8. Mai 1989. Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl am 13. Oktober 1982, in: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, hg. vom Auswärtigen Amt aus Anlaß des 125. Jubiläums des Auswärtigen Amts, Köln 1995, S. 494–499, hier S. 496.
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Dennoch wusste Kohl, dass es langfristig einer Verbesserung im Verhältnis zu Moskau bedurfte – ein Beweis für die These von der klugen Abstimmung von Deutschland-, Europa-, Russland- und Amerikapolitik. Dort registrierte man zwar durchaus, dass die Koalition sich gegen die amerikanischen Rüstungsanstrengungen und die SDI-Pläne stellte, was wiederum in Washington zum Teil großen Unmut auslöste.4 Erst im Laufe des Jahres 1987 aber, nachdem Genscher in seiner denkwürdigen Rede vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos die anwesenden Staats- und Regierungschefs ermahnt hatte, die Entwicklung von beiden Seiten her konstruktiver zu gestalten, und nachdem der seit dem Genfer Gipfel 1985 nur mühsam vorangekommene amerikanischsowjetische Abrüstungsprozess wieder in Schwung geraten war, kam es mit dem deutsch-sowjetischen Kooperationsabkommen vom 22. Mai 1987 zu einer Annäherung beider Seiten.5 Bis dahin zögerte der Kanzler, anders als sein Außenminister, eindeutig, Moskau gegenüber in Vorleistung zu gehen. Dies galt auch noch, als mit Schewardnadse erstmals nach fünf Jahren wieder ein sowjetischer Außenminister die Bundesrepublik besuchte. Den entscheidenden Wendepunkt markierte erst Kohls Besuch in Moskau vom 24. bis 26. Oktober 1988. Als der Kanzler bald darauf mit der „Zehn Punkte“-Erklärung aufwartete, markierte dies wohl den Zenit seines Führungsanspruchs auch in der Außenpolitik – getragen von einem großen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gegenüber den wichtigsten Bündnispartnern wie auch Moskau. Die transatlantische Solidarität in den achtziger Jahren wurde allerdings keinesfalls zur blinden Gefolgschaft. Auch in der so genannten Raketenkrise war das Verhältnis nicht spannungsfrei, nachdem dem Kanzler die Genfer Abrüstungspläne 1985 zu weit gingen. Doppelt problematisch wog in diesem Fall, dass sich sein Außenminister nach der Stationierung wieder als Abrüstungsund Entspannungspolitiker profilierte. Nur eine vom Kanzleramt gesteuerte enge Zusammenarbeit zwischen Regierungszentrale und BMVg mit wohl abgestimmten Positionen gegenüber dem AA verhinderte ein zu frühes Einschwenken der Bundesrepublik auf die von Genscher bedingungslos geforderte doppelte Null-Lösung, auf die sich Reagan und Gorbatschow im Prinzip bereits in Genf verständigt hatten, die man aber nunmehr als Gefahr einer möglichen Abkopplung der USA von Europa sah. Beharrlich plädierte der Kanzler jedenfalls zwischen 1985 und 1987 für Obergrenzen statt Doppel-Null. Außerdem wollte er auch die Raketen kurzer Reichweite abgeschafft sehen, worin Reagan ihn gegenüber Thatcher beim Weltwirtschaftsgipfel in Venedig 1987 im Übrigen unterstützte. Auf diese Weise kam es zu einer Leitfunktionsüber4 5
Fred OLDENBURG, Das Verhältnis Moskau-Bonn unter Gorbatschow, in: Osteuropa 36 (August/September 1986) 8, S. 774–786. Stephan BIERLING, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Normen, Akteure, Entscheidungen, München/Wien 1999, S. 211ff.
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nahme durch den Kanzler auch in der Bündnispolitik – was allerdings keinesfalls gleichbedeutend war mit einer ähnlichen Rolle eben in der Rüstungskontrollpolitik. Wann immer vor allem die Position des AA zu Irritationen im bilateralen Verhältnis zu den USA führte, schaltete der Kanzler sich in die Debatte ein.6 Am Rande sei vermerkt, dass das Vertrauen in die Amerika-Politik in dieser Phase nicht zuletzt auf der Überzeugung gründete, dass man die Bundesrepublik unter Helmut Kohl – noch unbelastet von den Bürden der Einheit – als gleichsam föderal und nicht zentralistisch regiertes Land nicht nur reformfähiger einschätzte als beispielsweise Frankreich oder Italien, sondern dass sich seine Gesellschaft und seine Wirtschaft in den Augen Washingtons auch offener präsentierte (mit den gebotenen Abstrichen, die aus dem deutschen Hang zum konsensualen Korporatismus erwachsen). Wirtschaftlich, so war man in den USA unter Reagan überzeugt, teilten Amerika und Deutschland ähnliche Präferenzen für den Freihandel – und für protektionistische Sünden, die sich eher informell manifestierten; Reagan erinnert sich, dass der Kanzler zu denen gehörte, die sich besonders für den Erfolg der amerikanischen Wirtschaft interessierten.7 Dahinter stand nicht bloß ideologischer Instinkt, sondern vor allem das Bewusstsein ökonomischer Stärke. Für die Bundesrepublik, das Exportzentrum Europas, war es allemal leichter, den offenen Weltmarkt zu propagieren als für Frankreich oder Spanien. Als bestes Beispiel für das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Partners einerseits und die routinehafte Konzertierbarkeit der Interessen andererseits bietet sich schließlich die Wiedervereinigung an. Während London und Paris den Prozess zu bremsen versuchten, setzte sich Washington an dessen Spitze. „Ich teile nicht die Besorgnis anderer europäischer Länder über die Wiedervereinigung“, lautete Bushs demonstrative Parteinahme zwei Wochen vor dem Mauerfall. Das war der Fanfarenstoß, danach übernahm Washington die Führung – und räumte für Deutschland die schwersten Brocken aus dem Weg. Das Fazit ist bekannt: Ohne die Amerikaner keine Wiedervereinigung. Dies hat keiner besser verstanden als der Kanzler selbst. Umgekehrt schuf Kohls klares Amerikabekenntnis in dieser Zeit die Voraussetzung in Washington dafür, dass man die Wiedervereinigung als strategischen Gewinn gegenüber dem alten Rivalen Russland und nicht als Status- oder Machtverlust gegenüber dem neuen Deutschland begreifen konnte. Auch in Amerika wusste man zu gut, dass es zum Kalkül der Kohlschen Amerikapolitik gehörte, dass für die europäischen Mächte Amerika als großer Rückversicherer fungierte, der den Schlagschatten des deutschen Kolosses verkürzen und die Wiedervereinigung für die Nachbarn erträglich machen sollte. 6 7
FRÖHLICH, „Auf den Kanzler kommt es an“ (wie Anm. 1), S. 142–186. Ronald REAGAN, Erinnerungen. Ein amerikanisches Leben, Berlin 1990, S. 356.
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4. Wandel im transatlantischen Verhältnis in der zweiten Hälfte der Ära Kohl In den neunziger Jahren wandelte sich das transatlantische Verhältnis – bei aller Kontinuität – doch in Nuancen. Der Grund war offensichtlich: Das Ende des Kalten Krieges hat Deutschland mehr verändert als jedes andere Land. Es hat Deutschland etwas gebracht, was die Deutschen wollten: die Einheit; es hat Deutschland aber auch etwas gebracht, was es nicht unbedingt wollte oder woran es sich zumindest gewöhnen musste, nämlich Verantwortung. Es hat, wenngleich auf andere Art, auch die USA verändert. Es brachte Washington etwas, was die Amerikaner wollten: Entlastung in einem langen und kostspieligen Kampf; es hat ihnen aber auch etwas gebracht, was die Amerikaner nicht wollten, nämlich eine kompliziertere, gleichwohl Forderungen stellende Welt, in der man sich feste Partner an seiner Seite wünschte.8 Die Bundesrepublik sollte dieser Partner für Bush sein. Die USA haben eine besondere Beziehung zu keinem anderen Staat, mit Ausnahme von Großbritannien, gepflegt, und Deutschland hatte sie zu keinem anderen Staat, ausgenommen vielleicht Österreich. Die Voraussetzungen hatten sich also fundamental gewandelt und dies bewirkte auch zunehmend unterschiedliche Auffassungen in einzelnen Fragen. Nachdem das Verfassungsgericht 1994 den Weg für militärische Einsätze der Bundeswehr freigegeben hatte, stellte Kohl „fünf politische Bedingungen“: 1. Begrenzung auf Europa oder dessen Nachbarstaaten; 2. UN- oder OSZE-Mandat; 3. Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung; 4. über die Verteidigung hinaus „zwingende Gründe“ für den Einsatz; 5. Bundeswehr als Lösung, nicht als Teil des Problems. Die beiden ersten Kriterien waren für die USA, die einen „partner in leadership“ zur Bewältigung internationaler Herausforderungen suchten, durchaus ein Problem. Ging man vom gängigen Stimmungsbild der deutschen öffentlichen Meinung aus, stellte der dritte Grundsatz eine Ausrede dar, eher nicht tätig werden zu müssen. Nach Washingtoner Lesart blieb damit die raison d’être der Bundesrepublik, keine Verpflichtungen auf internationaler Ebene einzugehen, in anderen Worten die Antithese der französischen raison d’être. Washington war damals der Ansicht, dass dies mittel- bis langfristig – trotz deutscher Lippenbekenntnisse zum Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – nicht zuletzt aufgrund der chronischen Finanzierungslücke im deutschen Verteidigungsetat zur Handlungsunfähigkeit der GASP beitragen musste. Im Hinblick auf den Einfluss, den Deutschland daneben auf die Finanzpolitik der EWU-Teilnehmerstaaten ausübte, lag die Ge-
8
Stefan FRÖHLICH, Die USA und die neue Weltordnung, Bonn 1992, S. 191ff.
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fahr von Handlungsbeschränkungen für Washington zudem auf der Hand. Da die EU keine gemeinsame GASP betrieb, war Washington auf der Suche nach Koalitionspartnern von europäischen Staaten abhängig, die bereit und in der Lage waren, als einzelne Nationen im Rahmen sogenannter Koalitionen von Handlungswilligen („coalitions of the willing“) aktiv zu werden. Mit anderen Worten: Washington wünschte sich in dieser Phase etwas, was es von der Bundesregierung so nicht bekam: einen angenehmeren Führungspartner als die aufsässigen Franzosen, der bereit war, auf Autonomie zu verzichten und sich mit strategischen Entscheidungen und dem damit möglicherweise verbundenen Risiko auseinanderzusetzen. Zumal in der zweiten Amtszeit, da Clinton sich noch mehr auf die Außenpolitik konzentrieren wollte als bereits zwischen 1994–1996, kam es trotz der Tatsache, dass er sich vor allem von Kohl, mit dem er sehr vertraut wurde, gerne beraten ließ, vermehrt auch zu Spannungen im beiderseitigen Verhältnis.9 Deutlich wurde dies insbesondere im Zusammenhang mit dem wachsenden amerikanischen Engagement auf dem Balkan, in dessen Kontext Washington seit Mitte der neunziger Jahre zwar betonte, einerseits an den rund 100.000 Soldaten in Europa festhalten zu wollen, andererseits aber auch ein größeres Engagement vor allem von Deutschland erwartete. Dabei setzte Clinton mit Blick auf die deutsche Amerikapolitik durchaus sowohl auf die natürliche Interessenliaison wie auch auf den Faktor „Dankbarkeit“ aufgrund der amerikanischen Unterstützung bei der Wiedervereinigung. Was Washington dabei erwartete, war klar: 1. Erweiterung des strategischen Denkens hinsichtlich der Probleme innerhalb wie außerhalb Europas; 2. den Einsatz militärischer Mittel. Entsprechend wünschte man sich deutsche Unterstützung (auch finanzielle) bei der NATO-Erweiterung und – gewissermaßen als Auffangbecken – auch bei der EU-Erweiterung; eine Pufferzone zwischen Russland und Deutschland erschien Strategen in Washington auch in Deutschlands vitalem Interesse zu liegen. Hier folgte die Regierung Kohl weitgehend dem amerikanischen Kalkül, auch wenn Beobachter in den USA die Investitionen deutscher Unternehmen in den MOE-Ländern insgesamt als zu gering empfanden und Kohl (anders als sein Verteidigungsminister Rühe) weitaus mehr Sorge hatte, dass eine solche Politik zu Lasten Russlands gehen könnte. Clinton wiederum hoffte, dass Kohl seine guten Beziehungen zu Jelzin nutzen und durch finanzielle Konzessionen Moskaus Wohlverhalten erwirken würde. Gleiches galt im Übrigen mit Blick auf Frankreich hinsichtlich dessen Kritik an der amerikanischen Nahostpolitik.
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Robert LIVINGSTON, Die Erwartungen der neuen Clinton-Administration an Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1–2 (1997), S. 54–61.
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In der ersten Amtszeit Clintons wich Amerika den Versuchungen noch aus, über die Bundesregierung Druck auf Frankreich auch in den heiklen Handelsfragen (Agrar) im Rahmen der GATT-Verhandlungen auszuüben. In der zweiten Amtszeit aber wurde Washington deutlicher und signalisierte der Regierung Kohl wiederholt, dass es sich zumindest ein Festhalten an der bewährten Politik des Ausgleichs von Bonn erwarte. Der Grund dafür war ganz offensichtlich, dass Kohl (wiederum anders als Rühe) in den zentralen Fragen wie z.B. der Besetzung des Schlüsselkommandobereichs Süd der NATO in Neapel (die Frankreich vorübergehend für sich reklamierte) oder den internationalen Vermittlungsversuchen im Nahost-Friedensprozess die französische Position unterstützte. Deutsche Presseberichte zitieren den Kanzler, der seine Überraschung darüber zum Ausdruck brachte, dass die Amerikaner etwas zu einem Problem machten, was ihm von geringer Bedeutung erschien. Rühe berichtete Mitte Oktober 1997 gar, dass Deutschland Frankreich in dem Bemühen unterstütze, die amerikanische Dominanz innerhalb der NATO im Adenauerschen Sinne auszugleichen. Mit eher widerwilliger Zustimmung beobachtete man außerdem das zunehmende Vorantreiben Frankreichs und Deutschlands der Pläne zur WWU, wie sie sich an der Bereitschaft beider Länder ablesen ließ, die Maastricht-Kriterien unbedingt einzuhalten. Während sich die EU-Mitgliedsstaaten enger zusammenschlossen, erhoffte man sich in Washington von Deutschland vor allem eine Führungsrolle als Fürsprecher für offene Märkte und eine liberale Handelspolitik. In dem Maße, wie die amerikanische Wirtschaftskraft seit 1994 ständig zunahm und die Arbeitslosigkeit vergleichsweise niedrig war, nahmen die Rufe nach freiem und fairem Handel zu, und Washington erwartete, Deutschland würde in der EU darauf drängen, die europäischen Märkte für amerikanische Dienstleistungen und sogenanntes geistiges Eigentum zu öffnen. Hier sah sich Washington allerdings enttäuscht. Positiv hingegen vermerkte man in Washington die Entsendung von Bundeswehreinheiten auf den Balkan sowie die Bereitschaft, selbst Kampftruppen als Teil einer NATO-Streitmacht 1997 nach Bosnien zu entsenden, die nach Ansicht der amerikanischen Botschaft vor allem aufgrund eines Wandels der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik zustande gekommen war. Diese militärische Beteiligung war begleitet von aktiver deutscher Diplomatie in der so genannten Kontaktgruppe. Washington erhoffte sich hiervon einen allmählichen spill over auf andere Missionen der Friedenserhaltung außerhalb Europas – so vor allem im Nahen Osten zur Sicherung der Ölreserven, beispielsweise bei einem erneuten Angriff des Iraks oder Irans. Der Rückgriff Amerikas auf Handelssanktionen gegen diese Paria-Staaten war der Hauptgrund für die wohl einzig wirkliche Irritation in den Beziehungen zu Deutschland aus Washingtoner Sicht. Da Deutschland wie seine europäischen Partner den amerikanischen Sanktionen gegen alle Staaten – außer
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dem Irak – nicht folgte, kam es im Fall des Iran zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Deutschland. Während Washington versuchte, Teheran völlig zu isolieren, bestand Deutschland darauf, den Handel aufrechtzuerhalten und den sogenannten „kritischen Dialog“ mit den Iranern weiterzuführen. Aus Sicht der Clinton-Administration handelte es sich dabei um gravierende Differenzen; während einer Wahlkampfrede ließ der Präsident verlauten, „man könne nicht bei Tag mit Leuten zu tun haben, die Terroristen unterstützen, die uns bei Nacht töten“. 5. Ausblick Wenn es trotz einiger Irritationen vor allem in der letzten Amtszeit dennoch aus amerikanischer Sicht in der Bilanz bei stabilen und guten Beziehungen im Verhältnis zu Deutschland blieb, so war dies vor allem der – bei aller Verschiebung der außenpolitischen Prioritäten in Richtung des europäischen Projekts – im Großen und Ganzen immer verlässlichen Amerika-Politik der Regierung Kohl zu verdanken, die nicht zuletzt auf dem großen persönlichen Vertrauen aller drei Präsidenten in die Person des Kanzler gründete. Die außenpolitischen Erfolge des Kanzlers beruhten auf der fast schon resignativen Geduld, mit der er die nationalen Empfindlichkeiten und Eitelkeiten seiner europäischen wie amerikanischen Partner ertrug und immer in Rechnung stellte. Wie groß das internationale Gewicht des Kanzlers war, zeigte sich bis zuletzt: Zum Jubiläum der Luftbrücke hatte der amerikanische Präsident Clinton in Berlin einen fulminanten Wahlkampfauftritt zu Gunsten Kohls geliefert; dagegen erklärte er nach der Audienz für Schröder im Weißen Haus, er wolle sich in den deutschen Wahlkampf nicht einmischen. Deutlicher konnte man die Leistung 16-jähriger Außenpolitik und damit auch Amerika-Politik nicht würdigen.
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Wie halten wir es mit Amerika? Die transatlantischen Beziehungen, die Konstruktion Europas und die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Ära Kohl Von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet 1. Einführung Helmut Kohl und François Mitterrand sind als zwei große Europäer in die Geschichte eingegangen, weil sie es vorbildlich verstanden, die oft gegenläufigen Interessen ihrer beiden Länder in tragfähige Kompromisse einzubinden, die nicht nur die deutsch-französische Freundschaft substantiell weiter verstärkten, sondern auch die europäische Integration vorantrieben und vertieften. Dieses schmeichelhafte Bild übergeht aber Problemlagen und Politikfelder, in welchen solch ein konstruktives Vorgehen nicht bzw. nur begrenzt möglich war. Die transatlantischen Beziehungen unter den Tandems Kohl/Mitterrand (1982–1995) und Kohl/Chirac (1995–1998) gehören mit Sicherheit zu den Bereichen, in welchen die beiden Staatsspitzen trotz aller sonstiger Übereinstimmung nicht zu einem Konsens finden konnten. Denn auf die Frage: „Wie halten wir es mit Amerika?“ gaben Paris und Bonn lange Zeit deutlich unterschiedliche Antworten. In der Tat, die Beziehungen, die diesseits und jenseits des Rheins zur westlichen Vormacht USA gepflegt wurden, die Stellung, die man den Vereinigten Staaten im internationalen System einräumte, und die Rollenkonzeption, die man für sich selbst und für Europa im Verhältnis zum transatlantischen Partner verfolgte, waren deutlich gegenläufig. Während Paris im angesprochenen Zeitraum trotz des eigenen Bedeutungsverlusts und vielfältiger Zugeständnisse an Washington an der Vision einer eigenständigen, unabhängigen und bedeutenden internationalen Rolle für Frankreich und Europa festhielt, pflegte die Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl – auch nach dem Vollzug der deutschen Einheit und dem damit verknüpften Statusgewinn – weiterhin den außenpolitischen Duktus und das Rollenkonzept einer sich selbst beschränkenden Zivilmacht; auch hielt man in Bonn an der Maxime der doppelten Westbindung fest, die in der Sicherheitspolitik im Zweifelsfalle den USA und der NATO den Vorrang vor Paris und Europa einräumte. In dubio pro USA hieß die Devise. „Oberste Maxime der deutschen Außenpolitik war es seit je gewesen, sich nicht zwischen Paris und Washington entscheiden zu müssen und jede derartige Situation nach Kräften zu vermeiden“ schreibt Hanns W. Maull. „Wo sich diese Klippe nicht umschiffen ließ, hatte sich die deutsche Außenpolitik jedoch zu Zeiten des Kalten Kriegs im Zweifelsfall hin
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zu den USA orientiert.“1 Paris wusste das und hatte spätestens nach dem Scheitern der Fouchet-Pläne gelernt, es hinzunehmen. Im Jahr 2003 und im Vorfeld des Krieges der Angelsachsen gegen den Irak hat die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder anders entschieden. Mit ihrer klaren, in dieser Form erstmaligen Positionierung gegen die USA und der außerordentlich starken Anlehnung an Frankreich hat die damalige Bundesregierung einen wahrhaften Tabubruch begangen, der von vielen Kommentatoren hart kritisiert worden war.2 Und in der Tat ist mit diesem höchst markanten Abweichen von den tradierten Positionen bundesdeutscher Außenpolitik eine neue Ära in den deutsch-amerikanischen Beziehungen eingeleitet worden, deren konkrete Konturen allerdings erst noch gefunden werden müssen. Diesbezüglich hat die seit November 2005 regierende Große Koalition noch keine eindeutige Positionierung erkennen lassen, nur eins ist klar: Ein Zurück zum Status quo ante wird es nicht geben.3 Wenn Schröder mit der Entscheidung, im Schulterschluss mit Frankreich gegen die USA aufzutreten, den klassisch bundesdeutschen „Spagat“ zwischen Paris und Washington aufgab, so ist im Rückblick auf die Ära Kohl zu fragen, warum es dem damaligen Kanzler gelang, eine Politik des „Entweder-oder“ zu vermeiden und eine Politik des „Sowohl-als-auch“ durchhalten zu können.4 Es wird mitunter suggeriert, dass Kohl in dieser heiklen Aufgabe des Ausgleichs zwischen den beiden anspruchsvollen und fordernd auftretenden Partnern – hier die Welt- und Schutzmacht USA, dort der engste Freund Frankreich – nicht zuletzt durch eine im Vergleich zu Schröder ausgefeiltere Regierungskunst reüssiert habe.5 Demgegenüber vertrete ich die These, dass zu Kohls Amtszeiten die Lage nicht so war, dass die deutsche Priorität des in dubio pro USA ernsthaft in Frage gestellt wurde. Das lag zuvörderst an den weltpoliti1 2
3 4 5
Hanns W. MAULL u.a. (Hg.), Deutschland im Abseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998–2003, Baden-Baden 2003, S. 10. Vgl. Christian HACKE, Deutschland, Europa und der Irakkonflikt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24–25 (2003), S. 8–16; DERS., Die Außenpolitik der Regierung Schröder/ Fischer, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 32–33 (2005), S. 9–15, hier S. 10, 14; KarlHeinz KAMP, Deutschland, Europa und die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen, in: Reinhard MEIER-WALSER (Hg.), Gemeinsam sicher? Vision und Realität europäischer Sicherheitspolitik, Neuried 2004, S. 249–260; Hanns W. MAULL, „Normalisierung” oder Auszehrung? Deutsche Außenpolitik im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 11 (2004), S. 17–23; DERS., Die prekäre Kontinuität. Deutsche Außenpolitik zwischen Pfadabhängigkeit und Anpassungsdruck, in: Manfred G. SCHMIDT/Reimut ZOHLNHÖFER (Hg.), Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Innen- und Außenpolitik seit 1949, Wiesbaden 2006, S. 421–446, hier S. 429; Hans-Peter SCHWARZ, Republik ohne Kompass. Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik, Berlin 2005. MAULL, Deutschland im Abseits? (wie Anm. 1), S. 12. DERS., Die prekäre Kontinuität, (wie Anm. 2), S. 425. Vgl. HACKE, Außenpolitik (wie Anm. 2), S. 9ff.; MAULL, Deutschland im Abseits? (wie Anm. 1), S. 15; DERS., Die prekäre Kontinuität (wie Anm. 2), S. 441.
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schen Konstellationen; aber auch die Angebote, die Paris zur Gestaltung der transatlantischen Beziehungen und zur sicherheits- und verteidigungspolitischen Rolle des integrierten Europas vorlegte, brachten Kanzler Kohl zumindest bis zur Zeitenwende von 1989/1990 nie ernsthaft in Versuchung, den tradierten, markant pro-atlantischen Kurs der bisherigen bundesdeutschen Außenpolitik aufzugeben. Doch auch nach 1990 blieb die Geschichte in Gestalt vor allem britischer Blockadepositionen Kanzler Kohl insofern gnädig, als sie ihm nie eine klare Entscheidung abverlangte, wie genau er es mit dem Bekenntnis zu einem außen-, sicherheits- und verteidigungspolitisch handlungsfähigen Europa und damit auch mit Amerika hielt. 2. Frankreichs Amerikapolitik vor 1990 – zu anti-hegemonial für Bonn 2.1 Deutsch-französische Inkompatibilitäten Seit de Gaulles Zeiten haftet der französischen USA-Politik ein sehr deutlich antihegemonialer Zug an. Frankreichs Unabhängigkeitsstreben, seine permanente Suche nach einer eigenständigen Rolle in der vom Ost-West-Gegensatz geprägten Weltpolitik, die Utopie der dritten Kraft zwischen den Blöcken, der Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO 1966 – all dies zeigte deutlich, dass de Gaulle eine allzu starke US-Hegemonie ablehnte. De Gaulles Nachfolger Georges Pompidou (1969–1974) und Valéry Giscard d’Estaing (1974–1981) hielten trotz mancher Korrekturen an den außenpolitischen Überspanntheiten des Generals an seinem Unabhängigkeitsstreben fest. Weil sie daher der Bundesrepublik keine ernst zu nehmenden Offerten für eine gemeinsame bilaterale oder europäische Außen- und Sicherheitspolitik anboten, blieb der proatlantische Kurs der deutschen Kanzler Brandt (1969–1974) und Schmidt (1974–1982) unangefochten. Selbst der 1969/70 beschlossene Einstieg in eine Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) konnte diesen Kurs nicht in Frage stellen; denn die strikt auf genuine Außenpolitik begrenzte EPZ implizierte keinerlei Loyalitätskonflikte zur NATO und den USA, deren sicherheits- und verteidigungspolitischer Primat voll und ganz gewahrt blieb. Exakt deshalb war es den damaligen Kanzlern möglich, die EPZ massiv zu unterstützen, die als rein zivile außenpolitische Koordinationsinstanz perfekt zum deutschen „low profile“-Ansatz passte. Wenn Frankreich bereits in den 70er Jahren von einem „Europe Puissance“ sprach, so beinhaltete dieses Leitkonzept damals konkret nicht mehr bzw. noch nicht den Aufbau europäischer sicherheits- und verteidigungspolitischer Fähigkeiten.6 6
Der Begriff war von Giscard d’Estaing geprägt worden, der das Europe Puissance einem Europe Espace, also einem lediglich als geographischer Raum verstandenen Europa entgegensetzte. Damit drückte VGE seine Befürchtung aus, dass die erste EG-Erweiterung von 1973 zu einer Verwässerung des Integrationsgedankens führen könnte. Vgl. Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik, Wiesbaden 2004, S. 108.
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2.2 Mitterrands sicherheits- und verteidigungspolitische Konzeptionen: Bemühungen um eine Wiederbelebung der WEU Französische Vorschläge, die den fest an Amerikas Seite verankerten westdeutschen sicherheits- und verteidigungspolitischen Kurs etwas abzuschwächen beabsichtigten, erfolgten nach de Gaulles fehlgeschlagener Fouchet-Initiative erneut erst wieder unter François Mitterrand. Das „Trickreiche“ an diesen Vorschlägen war, dass sie im Gewande eines für französische Verhältnisse ausgeprägten Transatlantizismus daherkamen. Angesichts der massiven bundesrepublikanischen Friedensbewegung, die als Folge des NATO-Doppelbeschlusses Anfang der 80er Jahre entstand, fürchtete Paris, dass dieser virulente westdeutsche Pazifismus die Bundesrepublik in die Neutralität treiben könnte, die für Frankreichs Sicherheit höchst bedenklich wäre. Denn trotz aller Unabhängigkeitsgesten wäre Frankreich im Falle einer sowjetischen Aggression auf die NATO als Instrument der kollektiven Verteidigung angewiesen gewesen, diente die umfangmäßig begrenzte force de frappe doch ausschließlich der Abschreckung, dem Schutz des territorialen sanctuaire. Daher also reiste Mitterrand anlässlich des 20. Jahrestages des Elysée-Vertrages nach Bonn und plädierte am 20. Januar 1983 vor dem deutschen Bundestag vehement für den Nachrüstungsteil des Doppelbeschlusses, d.h. für die Stationierung von Cruise Missiles und Pershing II-Raketen auf westdeutschem Boden.7 Er warnte die BRD auch explizit vor den Gefahren einer Abkoppelung von den USA, neben „neutral-pazifistischen“ meinte er auch antiamerikanische Tendenzen in Deutschland erkennen zu müssen.8 Mit seiner famosen Formel „Les pacifistes sont à l’Ouest mais les missiles sont à l’Est“ [Die Pazifisten sind im Westen, die Raketen aber sind im Osten] erwies er Helmut Kohl einen großen Dienst und ermutigte gleichzeitig die Europäer, sich nicht einschüchtern zu lassen.9 Anders als sein Vorgänger Giscard d’Estaing, der wegen Rücksichten auf Moskau in dieser Frage immer recht zurückhaltend gewesen war, unterstützte Mitterrand mithin eindeutig den NATO-Doppelbeschluss und erkannte grundsätzlich die überragende Bedeutung der Allianz für Europas Verteidigung an. In den Folgejahren stellte Mitterrand gleichwohl wiederholt die Frage nach einer Stärkung der europäischen Verteidigung. Seit Bestehen der Nordatlantischen Allianz ist die Maxime fester Bestandteil der französischen Sicherheitspolitik, dass die USA ihre Funktion als Sicherheitsgarant Europas dann besonders verlässlich erfüllen, wenn Europa eigene und substantielle Vertei7 8 9
Die Rede ist abgedruckt in: Adolf KIMMEL/Pierre JARDIN (Hg.), Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963. Eine Dokumentation, Opladen 2002, S. 432–436. Valérie GUÉRIN-SENDELBACH, Ein Tandem für Europa? Die deutsch-französische Zusammenarbeit der achtziger Jahre, Bonn 1993, S. 88. Robert TOULEMON, La Construction de l’Europe (1979–1999), in: Politique étrangère 3 (1999), S. 573–585, hier S. 575.
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digungsanstrengungen unternimmt. In der Tat „there has been a permanent tendency within the Euro-Atlantic partnership for the United States to threaten Europe with the dissolution of the Alliance if the Europeans were not perceived to be pulling their weight“.10 Um solch vermehrte verteidigungspolitische Anstrengungen der Europäer nicht ausschließlich im NATO-Rahmen zu belassen, hat Frankreichs politische Klasse daher „in unregelmäßigen Abständen“ immer wieder die WEU als hierfür geeignete Plattform ins Spiel gebracht.11 So plädierte Mitterrand nach der Nachrüstungsdebatte vehement für eine Wiederbelebung der seit vielen Jahren im Dornröschenschlaf versunkenen WEU. Es gelang ihm, die Außen- und Verteidigungsminister der WEU im Oktober 1984 zu der „Erklärung von Rom“ zu veranlassen, in der die Aktivierung des europäischen Verteidigungsbündnisses zugesagt wurde. Doch versandete diese Initiative bald; zum einen, weil Frankreichs WEU-Partner an einer Infragestellung des sicherheitspolitischen NATO-Monopols wenig Interesse hatten und sich nicht entscheiden konnten, was das geringere Übel war, „defence integration or US hegemony“.12 Zum anderen, weil Mitterrand angesichts dieses sehr verhaltenen Engagements seiner WEU-Partner die nötige Hartnäckigkeit vermissen ließ.13 Doch wenn in der Erklärung vom 27. Oktober 1984 die genaueren Konturen der angesprochenen WEU-Reaktivierung ungeklärt blieben, so war dies vor allem grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten geschuldet. Denn während „die meisten WEU-Staaten die Schaffung eines europäischen Pfeilers in der NATO präferierten“, wollte „Frankreich eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität schaffen“14 – so zumindest die vorherrschende Perzeption. Parallel zu seinem WEU-Vorstoß trat Mitterrand auch für ein sicherheitspolitisches „Bündnis im Bündnis“ ein, also für eine stärkere deutsch-französische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik. Mitterrand hatte bereits mit Kanzler Schmidt anlässlich des binationalen Gipfels vom Februar 1982 eine Aktivierung jener Passagen des Elysée-Vertrages zur Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik eingeleitet, die seit der Enttäuschung de Gaulles über die Präambel des Deutschen Bundestags ungenutzt geblieben wa10 Jolyon HOWORTH, European integration and defence. The ultimate challenge?, in: Institute for Security Studies Paris, Chaillot Papers Nr. 43 (November 2000), S. 1–144, hier S. 10. 11 Kai BURMESTER, Atlantische Annäherung – Frankreichs Politik gegenüber der NATO und den USA, in: Hanns W. MAULL/Michael MEIMETH/Christoph NESSHÖVER, (Hg.), Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1997, S. 92–112, hier S. 109. 12 HOWORTH (wie Anm. 10), S. 11. 13 Pascal BONIFACE, François Mitterrand et la construction européenne. La politique française de sécurité, in: Samy COHEN (Hg.), Mitterrand et la sortie de la guerre froide, Paris 1998, S. 186ff. 14 Wichard WOYKE, Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung. Das Tandem fasst wieder Tritt, Opladen 2004, S. 157.
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ren. Ab Oktober 1982 trieb er dann mit Kanzler Kohl deren Institutionalisierung weiter voran. Diese wurde allerdings erst Anfang 1988 vollendet, als zur Zelebrierung des 25. Jahrestages des Elysée-Vertrages der 1982 geschaffene Ausschuss für Sicherheits- und Verteidigungsfragen in den Rat für Verteidigung und Sicherheit überführt und die deutsch-französische Brigade aufgestellt wurde.15 Die Einsatzbedingungen der Brigade waren so ausgestaltet, dass sie als materialisierter Beweis sowohl der Unabhängigkeit als auch der Kooperation zwischen Europa und NATO interpretiert werden konnten16 – entsprechend argumentierte die französische bzw. die deutsche Lesart. Kohls Bereitschaft, mit Mitterrand solch ein „Bündnis im Bündnis“ einzugehen, ist ein markantes Beispiel seiner „Sowohl-als-auch“-Politik: Während die Schaffung der deutsch-französischen Brigade Mitterrand wenigstens ansatzweise zufriedenstellen konnte, erlaubten die konkreten Einsatzregeln es dem Kanzler zugleich, jegliche Infragestellung des sicherheits- und verteidigungspolitischen Monopols der NATO zu umgehen. Auch an der deutschen Position in der äußerst strittigen Debatte über Ronald Reagans SDI-Initiative ließ sich Kohls Atlantizismus zweifelsfrei ablesen. So verweigerte er seinem Freund Mitterrand die Gefolgschaft, als jener Ende 1984 das europäische Technologieprogramm EUREKA lancierte, das als Antwort auf das von Frankreich bekämpfte SDI-Programm zu verstehen ist. Beispielsweise lehnte die BRD die Mitarbeit am Projekt Hermes sowie an Entwicklung und Bau eines Beobachtungssatelliten ab, beides Bestandteile der europäischen technologischen Zusammenarbeit im militärischen Bereich.17 Denn in den Zeiten des anhaltenden Ost-West-Konflikts wollte Kohl jegliche Brüskierung der USA durch sicherheits- und verteidigungspolitisches Emanzipationsstreben à la française vermeiden. Mit seinem Drängen auf eine unabhängigere europäische Verteidigung blieb Frankreich unter Mitterrand somit der „einsame Rufer in der Wüste“.18
15 Vgl. GUÉRIN-SENDELBACH, Ein Tandem für Europa? (wie Anm. 8), S. 90; KIMMEL/ JARDIN (wie Anm. 7), S. 238–247, 279–281. – Deutschland war die Bereitschaft zum Bündnis im Bündnis dadurch erleichtert worden, dass Mitterrand 1987 versicherte, französische Atomwaffen niemals auf deutschem Boden einzusetzen. Vgl. Hubert VÉDRINE, Face à l’hyperpuissance. Textes et discours 1995–2003, Paris 2003, S. 71. 16 BONIFACE (wie Anm. 13), S. 180. 17 Vgl. Henri MÉNUDIER, Frankreich, in: Werner WEIDENFELD/Wolfgang WESSELS (Hg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 1985, Bonn 1986, S. 346–352, hier S. 351; MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik (wie Anm. 6) 2004, S. 75f. 18 Michael MEIMETH, Sicherheitspolitik zwischen Nation und Europa. Deutsche und französische Perspektiven, in: DERS./Joachim SCHILD (Hg.), Die Zukunft von Nationalstaaten in der europäischen Integration, Opladen 2002, S. 231–248, hier S. 232.
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3. Ende des Ost-West-Konflikts: Aufbruch zu neuen sicherheitspolitischen Ufern? Nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989, dem Vollzug der deutschen Einheit 1990 – die Frankreich zunächst zu verhindern bzw. zumindest zu verzögern versuchte19 – und dem Untergang der Sowjetunion 1991 ergaben sich vollkommen neue Rahmenbedingungen für die transatlantischen Beziehungen. Frankreich unter Mitterrand erkannte die neue historische Chance, nun ein „Europe Puissance“ zu verwirklichen. Der Wegfall der sowjetischen Bedrohung und damit des westeuropäischen Reflexes, sich unter dem US-Nuklearschutzschild zu versammeln, eröffnete aus Pariser Sicht ein window of opportunities, das durch zwei zusätzliche neue Faktoren noch weiter aufgestoßen wurde. Erstens schien es Frankreich ratsam, die volle außenpolitische Souveränität, die Deutschland durch die Vereinigung wiedererlangt hatte, in einem im Vergleich zur EPZ verstärkten europäischen außenpolitischen Rahmen einzuhegen; dadurch wollte man auch in Zukunft deutsche Alleingänge und Sonderwege ausschließen.20 Aus strategischer Sicht ergab sich zweitens die Notwendigkeit, Europa zu einem international gewichtigen Akteur auszubauen, aus der Gefahr heraus, dass es angesichts der veränderten internationalen Rahmenbedingungen zu einem US-amerikanischen Disengagement in Europa kommen könnte. Es stellt sich folglich die Frage, ob diese radikal neuen Gegebenheiten das deutsch-französische Tandem dazu veranlassten bzw. es ihm ermöglichten, nun endlich den Aufbau eines politischen, auch außen-, sicherheits- und verteidigungspolitisch handlungsfähigen Europas anzugehen, kurz ein „Europe Puissance“ auf die gemeinsame europapolitische Agenda zu setzen? Aus der ex-post-Betrachtung ist diese Frage eindeutig zu verneinen: Ausgeprägte Kontinuitäten sowohl links wie rechts des Rheins verhinderten diesen – im Grunde so notwendigen – Aufbruch zu neuen sicherheitspolitischen Ufern. Weil in den unmittelbar auf die Zeitenwende folgenden Jahren weder Frankreich noch Deutschland mit radikalen Politikwechseln auf die radikal neuen internationalen Gegebenheiten reagierten, ließ sich das window of opportunities (noch) nicht zur gemeinsamen Neugestaltung der euro-atlantischen Beziehungen nutzen. Der französische Part an dieser verpassten Chance lässt sich an Mitterrands NATO-Politik aufzeigen, die trotz gewisser innovativer Veränderungen und Anpassungen noch immer zu anti-hegemonial war, um Kohls Zustimmung
19 Jacques ATTALI, Verbatim. Bd. 3: Chronique des années 1988–1991, Paris 1995; Stefan BIERLING, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Normen, Akteure, Entscheidungen, Opladen 2005, S. 153f. 20 Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Europapolitik als Staatsraison, in: SCHMIDT/ ZOHLNHÖFER (wie Anm. 2), S. 467–490, hier S. 475f.
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zu erlangen. Dabei kann man dem Altkanzler den Vorwurf nicht ersparen, dass er die zukunftsgewandten Aspekte der Mitterrandschen Politik wohl nicht recht erkannte. Denn die NATO-Politik des Staatspräsidenten nach 1990 war weniger am Jahr 1966 – als de Gaulles Frankreich die NATO verließ – orientiert, als auf „den Horizont nach 2000“ ausgerichtet.21 3.1 Mitterrands doppelgleisige NATO-Politik In der Tat war Mitterrands post-cold-war-NATO-Politik nicht auf den ersten Blick lesbar und führte somit zu Missverständnissen, die ihm den Vorwurf der Ambiguität einbrachten.22 Zugegebenermaßen war die NATO-Politik der Sphinx – als solche wurde Mitterrand wegen seiner Unergründlichkeit, Doppeldeutigkeit und der geheimnisvollen Aura, die ihn stets umgab, oft bezeichnet – zumindest zweigleisig. Zum einen war Mitterrand daran gelegen, die USA und die NATO langfristig an Europa zu binden. Zum anderen wollte er gleichzeitig die strategische Handlungsfähigkeit und Autonomie Europas stärken. Das mag doppelgleisig sein – einen Widerspruch stellt diese zweifache Zielsetzung dennoch nicht dar. Vielmehr blieb Frankreich damit seiner – bereits erwähnten – Maxime treu, dass nur vermehrte europäische Verteidigungsanstrengungen die USA langfristig im nordatlantischen Bündnis halten könnten.23 „Der Aufbau einer weitgehenden strategischen Autonomie Westeuropas erschien den Regierenden in Paris damals ... als der einzig mögliche Weg, um das zu erwartende amerikanische Disengagement aufzufangen und zugleich eine entsprechende Risikovorsorge gegen mögliche militärische Eventualfälle zu schaffen.“24 Trotz einiger weitblickender, ja visionärer Konnotationen verblieb dieser Politikansatz aber großteils in altbekannten Bahnen, so dass er sich nicht durchsetzen konnte.25 3.1.1 Bittere Lektionen: Der Golfkrieg und der kriegerische Zerfall Jugoslawiens Vor allem der Golfkrieg 1991 und Europas krasse Handlungsunfähigkeit in der Jugoslawienfrage hatten Mitterrand die Unverzichtbarkeit der amerikanischen Militärkapazitäten drastisch vor Augen geführt. Nachdem Mitterrands intensive Versuche, nach dem Überfall des Irak auf Kuwait die Krise – nicht zuletzt auf der Grundlage der engen franko-irakischen 21 22 23 24
So BONIFACE (wie Anm. 13), S. 174. BURMESTER (wie Anm. 11), S. 104; HOWORTH (wie Anm. 10), S. 15. HOWORTH (wie Anm. 10), S. 10. Michael MEIMETH, Frankreichs gewandeltes Verhältnis zur NATO – Alter Wein in neuen Schläuchen?, in: Frankreich-Jahrbuch 1998, Opladen 1998, S. 171–190, hier S. 174. 25 „Alter Wein in neuen Schläuchen“ meint dazu Meimeth (EBD. S. 171) eher abwertend.
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Beziehungen – friedlich, d.h. auf diplomatischem Wege zu bereinigen, gescheitert waren, schwenkte Frankreich auf den Kurs seiner Partner ein und trug die Verabschiedung der UN-Resolution 678 vom 29. November 1990 und das damit verknüpfte Ultimatum an Saddam Hussein mit. Als es dann im Januar 1991 zum Krieg kam, beteiligte sich Frankreich mit 14.500 Soldaten an den Kampfhandlungen. Trotz ostentativen Betonens der Eigenständigkeit des französischen Kontingents operierte dieses de facto unter amerikanischem Oberbefehl.26 Im Kriegsverlauf musste Frankreich die Abhängigkeit und Unterlegenheit der eigenen militärischen Fähigkeiten im Vergleich zu den amerikanischen, vor allem in der Logistik und Aufklärungstechnologie, bitter erfahren. Zwar erklärte Mitterrand in seiner Fernsehansprache zur Beendigung des Golfkriegs 1991 „im Tone de Gaulles, Frankreich habe es durch mutigen Einsatz verstanden, ‚seine Rolle und seinen Rang‘ in der Welt zu wahren“; doch die Lehren des Golfkriegs – so Robert Picht weiter – stellten „das Grundkonzept französischer Sicherheitsund Rüstungspolitik nach dem Prinzip der nationalen Unabhängigkeit, also das Erbe de Gaulles selbst, in Frage. Trotz eines Landheeres von 280.000 Soldaten konnte Frankreich nur eine Division von 12.000 Mann an den Golf entsenden; die übrigen Truppen waren entweder für einen solchen Einsatz ungeeignet oder durch militärische Präsenz in Schwarzafrika gebunden.“27 „France’s experience of participating in a multinational force commanded by a US general under NATO procedures for interoperability was both humiliating and revealing – particularly for the military. Any illusion which might have remained about France’s (and Europe’s) capacity to underwrite the collective security of the Continent were shattered in the Saudi Arabian desert.”28 Daher kann der Golfkrieg als „der Wendepunkt in der französischen NATO-Politik“ gewertet werden.29 Als sich ab 1993 ein NATO-Engagement im zerfallenden Jugoslawien anbahnte, festigte sich in Frankreich die Erkenntnis, „dass eine Annäherung an die NATO wie auch eine bedingte NATO-Re-Integration Frankreichs seinen Einfluss in diesem Bündnis vergrößern könnte“.30 3.1.2 Mitterrands Kampf gegen eine NATO-Allmacht in Europa Parallel zur Ein- und Unterordnung der französischen Verbände in die NATOOperationen der frühen 90er Jahre und zur bedingten Re-Integration in deren Strukturen zum Zwecke vermehrter Mitsprache setzte sich Mitterrand jedoch 26 Vgl. Denis LACORNE, Le rang de la France: Mitterrand et la guerre du Golfe, in: COHEN (wie Anm. 13), S. 339–346. 27 Robert PICHT, Frankreich 1990/91: Rolle und Rang in einer veränderten Welt, in: Frankreich-Jahrbuch 1991, Opladen 1991, S. 9–31, hier S. 16. 28 HOWORTH (wie Anm. 10), S. 18. 29 BURMESTER, (wie Anm. 11), S. 102. 30 WOYKE (wie Anm. 14), S. 135.
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gegen einen allzu umfassenden Bedeutungszuwachs der Nordatlantischen Allianz kräftig zur Wehr. Denn der Staatspräsident wollte – und hierin drückt sich erneut die Zweigleisigkeit seiner post-cold-war-NATO-Politik aus – vermeiden, dass die Amerikaner sich über den NATO-Hebel zum politischen Führer auch des neuen, vom Sowjetjoch befreiten Europas aufschwingen und damit alle Aussichten auf europäische Selbstbestimmung und (strategische) Autonomie ersticken könnten. So verfolgte er beim Aufbau der nun anstehenden neuen gesamteuropäischen Ordnung das Ziel, den Einfluss der Amerikaner möglichst gering zu halten. Daher wehrte sich Mitterrand zunächst gegen die seit 1991 in Angriff genommene Funktionsausweitung der NATO. „Mißtrauisch hatte man in Paris ... zu Beginn der 90er Jahre jeden amerikanischen Versuch verfolgt, der NATO um ihres Überlebens willen eine neue, politische Rolle zuzuweisen“. Die USStrategie, „sowohl die inhaltliche als auch die geographische Reichweite“ der NATO auszudehnen, wurde als Versuch interpretiert „die amerikanische Hegemonie auch unter den neuen weltpolitischen Rahmenbedingungen fortschreiben zu wollen“.31 Paris stimmte daher nur widerstrebend und nach längerem Taktieren dem NATO-Beschluss vom Juni 1992 zu, dass die Allianz auch KSZE-Mandate32 übernehmen werde. In seiner Abwehr gegen einen zu großen Machtzuwachs der NATO und mithin der USA verlegte sich Mitterrand mit Nachdruck auf die Forderung, quasi als Ausgleich zu diesen ungeliebten Entwicklungen die Rolle von EG, KSZE und auch WEU aufzuwerten.33 Mit der Überantwortung der sicherheitspolitischen Neuordnungsaufgaben an die KSZE sollte nach Mitterrands Plänen zum einen die Einbindung des „unentbehrlichen“ amerikanischen Beitrags zur Sicherheitsgewährleistung in Europa erreicht, zum anderen aber zugleich auch der Einflussausweitung der NATO auf Mittel- und Osteuropa ein Riegel vorgeschoben werden. Damit stellte sich Mitterrand sehr bewusst dem amerikanischen Ansinnen entgegen, die neue Lage mit einem „neuen Atlantizismus“ zu bewältigen, ein Konzept von US-Außenminister James Baker, „das in Paris als ein erster Versuch interpretiert wurde, die überkommene amerikanische Hegemonie in Europa fortzuschreiben“.34 Im Rahmen dieser Abwehrstrategie
31 MEIMETH, Frankreichs gewandeltes Verhältnis zur NATO (wie Anm. 24), S. 177. 32 Mit der Unterzeichnung der „Charta von Paris für ein neues Europa“ bekräftigten die 34 KSZE-Staaten im November 1990 die Zielsetzung der Organisation neu und verpflichteten sich untereinander auf die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, des demokratischen Pluralismus und der Förderung der Beziehungen. Im Dezember 1994 erfolgte die Umbenennung in OSZE. 33 BONIFACE (wie Anm. 13), S. 175. 34 Michael MEIMETH/Christoph NESSHÖVER, Die gesamteuropäische Dimension französischer Sicherheitspolitik. Mitterrands Konföderationsprojekt und Balladurs Stabilitätspakt, in: MAULL u.a. (Hg.); Die verhinderte Großmacht (wie Anm. 11), S. 149–171, hier S. 157.
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brachte Mitterrand insbesondere die WEU, deren Wiederbelebung ihm 1984 nicht gelungen war, erneut ins Spiel. Die WEU sollte nach französischer Auffassung – in Kontinuität zu den Konzepten der 80er Jahre – den bewaffneten Arm der Europäischen Gemeinschaft bilden bzw. der seit dem NATO-Gipfel in Rom (Dezember 1991) intensiv diskutierten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) die operative Unterfütterung liefern. Dieses Konzept verfolgte Paris mit größter Hartnäckigkeit. Auf harsche Kritik aus Paris stieß außerdem die Einrichtung des nordatlantischen Kooperationsrates (NAKR), die auf eine gemeinsame Initiative von Bundesaußenminister Genscher und seinem US-amerikanischen Kollegen Baker vom Frühjahr 1991 hin erfolgte; im NAKR wurden Sicherheitsanliegen gemeinsam zwischen NATO-Mitgliedern und früheren Gegnern des Bündnisses, also vor allem mit der UdSSR bzw. Russland erörtert. Diese kontinuierlichen Funktionsausweitungen der NATO aber machten „die französischen Hoffnungen auf einen politischen (nicht militärischen!) Bedeutungsverlust der NATO ... zunichte ... Das französische Dilemma ‚US-Truppen ja, US-Einfluß nein‘ blieb auch unter Mitterrand unaufgelöst.“35 Insgesamt aber konnte sich Paris dem Trend der Funktionsausweitung der NATO nicht allzu deutlich widersetzen; dies hätte eine Isolation Frankreichs bedeutet und den nationalen Interessen widersprochen. So stimmte Frankreich der Schaffung des NAKR erst zu, „als auch gewährleistet war, dass die WEU und die EG eigene Kompetenzen in den gleichen Bereichen entwickeln konnten“.36 Weiterhin trug Frankreich die Modernisierungs- und Umbaupläne der NATO erst ab dem Zeitpunkt mit, als von der Europa-freundlichen Clinton-Administration der Ansatz, den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO zu stärken, energisch unterstützt wurde. Der Brüsseler NATO-Gipfel vom Januar 1994 bestätigte die Zielsetzung, eine europäische Verteidigungsidentität innerhalb der Allianz zu schaffen sowie multinationale Verbände aufzustellen.37 Obgleich die endgültige Beschlussfassung zum Combined Joint Task Forces-Konzept erst 1996 auf dem Berliner NATOGipfel erfolgte – und damit jenseits der Ära Mitterrand – entsprach diese Entwicklung doch dessen Ansinnen und beförderte die Annäherung Frankreichs an die NATO ganz wesentlich. Außerdem konnte Mitterrand die sog. Petersberg-Erklärung der WEU-Außen- und Verteidigungsminister vom 19. Juni 1992, die der WEU erstmals konkrete militärisch-operative Aufgaben auch außerhalb des NATO-Gebietes übertrug, als Erfolg verbuchen. Als Interventionsspektrum der WEU wurden humanitäre Aufgaben, Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie 35 BURMESTER (wie Anm. 11), S. 94, 104. 36 WOYKE (wie Anm. 14), S. 134. 37 MEIER-WALSER (wie Anm. 2), S. 31.
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Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen definiert. Die operativen Kapazitäten sollten den integrierten Strukturen der NATO entnommen werden. Diese Einheiten würden im Bedarfsfall nach dem Prinzip der doppelten Zuordnung sowohl der WEU als auch der NATO unterstellt sein. „Diese Form eines ‚double hatting‘ ging auf den kurz vor dem Petersberger Treffen veröffentlichten Vorschlag des britischen Verteidigungsministers Malcolm Rifkind zurück, alle europäischen multinationalen Verbände (womit er vor allem auf das Eurokorps abzielte) unter NATO- und WEU-Kontrolle zu stellen.“38 Für Paris aber war die PetersbergErklärung insofern ein Erfolg, als sie eine „regionale Entgrenzung der militärischen Aufgaben der WEU“ beinhaltete und damit „die WEU zumindest auf deklaratorischer Ebene der NATO auch im Hinblick auf die Aufgabe der kollektiven Selbstverteidigung gleichgestellt worden ist“.39 Mitterrand verfolgte das Ziel der Aufwertung der WEU also mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit. Gleichwohl bleibt die Frage offen, ob er tatsächlich über ein kohärentes Konzept zur Ausgestaltung der anvisierten strategischen Autonomie Europas und zum künftigen Verhältnis von NATO und WEU verfügte. 3.1.3 Begrenzte Annäherung Frankreichs an die NATO-Strukturen Insgesamt sind die offensichtlichsten Ergebnisse der Golf- und Jugoslawienkriege in einer deutlichen Annäherung Frankreichs an die NATO-Strukturen zu sehen. Nachdem Verteidigungsminister Pierre Joxe 1993 erklärt hatte, dass Frankreich „in den entscheidungsfällenden Gremien anwesend sein müsse ... in denen ... über unsere Sicherheit entschieden wird“40, nahm Paris ab April des selben Jahres „wieder uneingeschränkt an der Arbeit des NATO-Militärausschusses teil.41 Joxe’ Nachfolger, François Léotard, ab Mitte 1993 Verteidigungsminister in der konservativen (Kohabitations-)Regierung Balladur,42 forcierte diesen Annäherungsprozess weiter, u.a. indem er intensiv den Einstieg der NATO in die sog. Out-of-area-Einsätze unterstützte. Auch nahm Léotard persönlich an einem informellen Treffen der NATO-Verteidigungsminister teil.43 Doch obwohl einige damals gar die vollständige Rückkehr Frankreichs in die NATO-Strukturen erwartet hatten,44 blieb es unter Mitter-
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BURMESTER (wie Anm. 11), S. 110. MEIMETH, Frankreichs gewandeltes Verhältnis zur NATO (wie Anm. 24), S. 175. Zit. in BURMESTER (wie Anm. 11), S. 101. WOYKE (wie Anm. 14), S. 135. 1993 kam es zur zweiten Kohabitation. Mitterrand ernannte Edouard Balladur zum Premierminister. Vgl. MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik (wie Anm. 6), S. 53f. 43 WOYKE (wie Anm. 14), S. 136. 44 HOWORTH (wie Anm. 10), S. 19.
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rand bei dieser insgesamt begrenzten Re-Integration. Mitterrand wollte Amerikaner und Europäer der französischen NATO-Unterstützung versichern und den Eindruck vermeiden, dass Frankreich den Untergang der UdSSR zum Anlass nehmen könnte, die transatlantischen Beziehungen lockern zu wollen; „denn dies hätte lediglich dazu geführt, dass die anderen Europäer in Schreckstarre verfallen wären“.45 Weiter aber wollte sich Mitterrand nicht auf die NATO einlassen. Hier wird erst Chirac einige Schritte weiter gehen. 3.2 Mitterrands Konföderationsprojekt Dennoch verfolgte Mitterrand bei der Suche nach den künftigen gesamteuropäischen Sicherheitsstrukturen, die es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aufzubauen galt, dezidiert auch eigene Wege. Sein Ansinnen, dabei den Einfluss der Amerikaner möglichst gering zu halten, schlug sich zunächst besonders deutlich in seiner Politik den von der sowjetischen Herrschaft befreiten mittel- und osteuropäischen Staaten gegenüber nieder. Diese wollte er in eine Konföderation mit dem integrierten EG-Europa einbinden, die der Verwirklichung sowohl seiner integrationspolitischen Schwerpunkte als auch seines – nun gesamteuropäischen – Autonomiestreben dienen sollte.46 So lancierte der große Taktiker Mitterrand in seiner Neujahrsansprache vom 31. Dezember 1989 erstmals das Projekt einer Europäischen Konföderation, die einen recht lockeren Rahmen für die gesamteuropäische Vereinigung abgeben und somit die Völker Mittel- und Osteuropas für einen längeren Zeitraum vor den Toren des solide gebauten westeuropäischen Hauses der EG/ EU belassen sollte. Mitterrand sprach konkret von zwei Schritten, die nach dem Umbruch in Mittel- und Osteuropa nun zu ergreifen seien. Zum ersten müsse die Zwölfer-Gemeinschaft ihre Strukturen unbedingt festigen; zum zweiten müsste ein Rahmen geschaffen werden, in dem Gesamteuropa sich wiederfinden und die in einem halben Jahrhundert der Trennung entstandene Distanz überwinden könnte. Diese Konföderation sollte nach Mitterrands Vor45 BONIFACE (wie Anm. 13), S. 174. 46 Ursprünglich hatte Mitterrand – unter Mithilfe Jacques Attalis übrigens – das Konzept der Europäischen Konföderation entwickelt, um eine Lösung für die deutsche Frage vorzuschlagen. In seiner Rede vor Leipziger Studenten anlässlich seiner umstrittenen DDR-Reise im Dezember 1989 hatte Mitterrand daher Formen der deutschen Einheit angesprochen, die diesen Vorstellungen entsprachen; er könne sich „eine Föderation oder Konföderation“ vorstellen, „alle Formen der Einheit ohne die Form der Vereinigung in der Einheit“ (zit. in: Ernst WEISENFELD, Frankreich und Mitteleuropa. Der Plan für einen europäischen Stabilitätspakt, in: DERS./Ingo KOLBOOM, Frankreich in Europa. Ein deutsch-französischer Rundblick, Bonn 1993, S. 167–179, hier S. 171). Nachdem die deutsche Frage bekanntermaßen auf andere Art gelöst wurde, versuchte Mitterrand, das Konföderationskonzept auf die MOE-Staaten anzuwenden. Vgl. MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik (wie Anm. 6), S. 142–146.
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stellungen allen europäischen Ländern, Russland inbegriffen, ein Forum bieten, auf welchem sie nach intergouvernementalem Muster in Bereichen, die einer multilateralen Lösung bedürfen, zusammenarbeiten könnten; konkret sprach Mitterrand Wirtschaft, Kultur und Technik an. Auch beim Konföderationsprojekt wird die strategische Finesse der Sphinx sichtbar: Denn das Projekt verfolgte einerseits die Abwehr eines allzu schnellen EG/EU-Beitritts der MOE-Staaten – hier sprach Mitterrand von „des dizaines et dizaines d’années“ [Jahrzehnte und Jahrzehnte], die vergehen würden, bis die mittel- und osteuropäischen Staaten für einen Beitritt reif wären –, während es andererseits auch der Abwehr amerikanischer Hegemonieansprüche diente. In der Tat versuchte Mitterrand, solange er Frankreichs Europapolitik maßgeblich bestimmte, d.h. bis 1993, eine EU-Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Staaten zu verhindern. „Für Frankreich ... besaß die Vertiefung der Integration eindeutig Priorität vor einer Erweiterung der Gemeinschaft.“47 Denn Mitterrand befürchtete, dass die Staaten des „anderen“ Europas eine Gefährdung für den erreichten Integrationsstand und eine Behinderung für mögliche weitere Integrationsschritte insbesondere in der Währungs- sowie in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik darstellen könnten.48 Außerdem würde eine Osterweiterung das geographische Zentrum der EG/EU zuungunsten Frankreichs verschieben, Deutschland zur Zentralmacht dieses neuen Europas machen und somit insgesamt den Führungsanspruch Frankreichs in Frage stellen. Wenn Robert Picht das Mitterrandsche Konföderationskonzept als den „spektakulärsten Versuch eigenständiger französischer Initiativen bei der Neuordnung Europas“ bezeichnet,49 so deshalb, weil der Staatspräsident hiermit nicht nur baldige EG/EU-Beitritte der MOE-Staaten verhindern, sondern zugleich auch eine gewisse Korrektur der europäischen Nachkriegsordnung, eine Überwindung der Ordnung von Jalta vornehmen wollte. Dass Mitterrand hier eindeutig die Absicht verfolgte, gesamteuropäische Strukturen aufzubauen, die dem amerikanischen Einfluss weitgehend entzogen bleiben sollten, ist offensichtlich. Dies zeigte sich deutlich an seinen Plänen zur Verknüpfung des Konföderationsprojekts mit der KSZE; um die künftigen gesamteuropäischen Strukturen auch sicherheitspolitisch abzufedern und um den dringenden Bedürfnissen der mittel- und osteuropäischen Staaten entgegenzukommen, sah Mitterrand eine substantielle Aufwertung der KSZE vor. Denn wie schon aus-
47 WOYKE (wie Anm. 14), S. 36. 48 Florence DELOCHE-GAUDEZ, Frankreichs widersprüchliche Positionen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, in: Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET (Hg.), Europäische Außenpolitik. Die GASP- und ESVP-Konzeptionen ausgewählter Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002, S. 120–133, hier S. 121. 49 PICHT (wie Anm. 27), S. 12.
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geführt, wehrte sich Frankreich prinzipiell gegen allzu großzügige Funktionsausweitungen der NATO und wollte sie durch die stärker europäisch bestimmte KSZE ersetzen. Dies implizierte u.a. seinen Widerstand gegen KSZEMandate für die NATO. Mitterrands Konföderationsprojekt scheiterte letztlich vor allem an den Sicherheitsbedürfnissen der MOE-Staaten;50 dennoch ist zu fragen, ob und wie Mitterrand den mit diesem Projekt erhobenen Anspruch auf europäische – auch sicherheitspolitisch zu verstehende – Selbstbestimmung materiell unterfüttern wollte. 3.3 Hatte Mitterrand eine Blaupause für ein sicherheitspolitisches Europe Puissance? Diese Frage wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Manche Autoren suggerieren, dass Frankreich den Aufbau von eigenständigen, auf der WEU basierenden, europäischen Verteidigungskapazitäten außerhalb der NATO angestrebt habe.51 Andere argumentieren, dass diese Interpretation nicht ausreichend abgesichert ist.52 Howorth vermerkt, dass solche Überlegungen zwar durchaus angestellt wurden, betont aber zugleich, dass dies nie Eingang in die offiziellen französischen Positionen gefunden hat und dass sich dafür auch keinerlei belastbare Belege finden lassen. Er lehnt daher Menons Aussage, dass Frankreich versucht habe, in Konkurrenz zur NATO rein europäische Sicherheitsstrukturen aufzubauen, als hypothetische Behauptung zurück.53 Unter Verweis auf den „equivocal“ Strategen Mitterrand kann er lediglich „an aspiration towards an ever greater security (and possibly, in the longer term defence) role for the European Union“ erkennen, „probably via WEU, but with no hard and fast notion as to how far this could go or what institutional/political shape it might assume“.54 Dass Frankreichs Position aus dieser Zweideutigkeit nie ganz heraus fand, führt er vor allem auf die schlichte Tatsache zurück, dass in den unmittelbar auf die Zeitenwende folgenden Jahre „... nobody had a blueprint for anything“.55 Mitterrands Äußerungen vom April 1991, in einer Rede vor der École supérieure de guerre, stützen diese Sichtweise. Hier erklärte der Präsident: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt und noch für lange Jahre
50 Vgl. MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik (wie Anm. 6), S. 145f. 51 Joachim SCHILD, Frankreich und die Europäische Union. Außen- und Sicherheitspolitik im EG-Rahmen?, in: Frankreich-Jahrbuch, Bd. 5, Opladen 1992, S. 79–101, hier S. 90; Anan MENON, France, NATO and the Limits of Independence 1981–97. The Politics of Ambivalence, Chippenham 2000, S. 127; WOYKE (wie Anm. 14), S. 158. 52 BONIFACE (wie Anm. 13); HOWORTH (wie Anm. 10). 53 EBD. S. 21. 54 EBD. S. 15. 55 EBD. S. 20.
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kann die Verteidigung Westeuropas nur unter Berücksichtung der Nordatlantischen Allianz gedacht werden.“ Für Mitterrand – so Boniface – „galt es nicht, eine Verteidigungsorganisation zu schaffen, die an die Stelle der NATO treten würde, sondern lediglich darum, die Grenzen der Allianz, ihrer Militärorganisation sowie ihrer geographischen Reichweite zu erkennen, um daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Europa keine einzige Gelegenheit versäumen darf, sich eine gemeinsame Politik inklusive einer eigenständigen Verteidigung zu geben“.56 Mitterrands Taktik bestand offensichtlich darin, jede sich bietende Gelegenheit zur Stärkung des europäischen Gewichts inner- und außerhalb der NATO zu nutzen, ohne die Allianz ernsthaft in Frage zu stellen. Eine Taktik – und sei sie noch so raffiniert – ist aber noch kein tragfähiges Konzept, keine realistische Blaupause. Mitterrands Einlenken in Sachen Eurokorps-Assignierung im sog. SACEUR-Abkommen vom 21. Januar 1993 kann diese Interpretation der französischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Offenheit bzw. Zweigleisigkeit jener Jahre untermauern – und erinnert in seiner Interpretationsbreite durchaus an die Einsatzregeln der deutsch-französischen Brigade. Das geheime SACEUR-Abkommen trug den französischen Forderungen Rechnung, die das Eurokorps an erster Stelle der EU und erst an zweiter Stelle der NATO zugeordnet wissen wollten.57 „Frankreich gestand hingegen den USA zu, das Eurokorps nicht nur für die europäische Verteidigung, sondern auch für friedenserhaltende Missionen unter das operative Kommando der Allianz stellen zu können.“58 So wurde im SACEUR-Abkommen festgehalten, dass das Eurokorps als „Teil der NATO-Hauptverteidigungslinie“ unter dem Befehl des SACEUR „an einer Verteidigung der Zentralregion und außerdem als Teil der Krisenreaktionskräfte des Bündnisses im gesamten europäischen Befehlsbereich teilnehmen kann“.59 Dies bedeutet, dass das Eurokorps im Verteidigungsfall oder bei Out-of-Area-Einsätzen der NATO dem alliierten EuropaOberkommandeur, der immer ein amerikanischer General ist, zugeordnet werden kann, ansonsten aber unterstehen die französischen Verbände des Eurokorps dem nationalen Kommando, die deutschen hingegen der NATO.60
56 BONIFACE (wie Anm. 13), S. 176. 57 Vgl. MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik (wie Anm. 6), S. 136ff. 58 Valérie GUÉRIN-SENDELBACH, Frankreich und das vereinigte Deutschland. Interessen und Perzeptionen im Spannungsfeld, Opladen 1999, S. 266. 59 MEIMETH, Frankreichs gewandeltes Verhältnis zur NATO (wie Anm. 24), S. 178. 60 Dieses Zugeständnis fiel Mitterrand um so leichter, als diese Regelungen die Teilnahme Frankreichs am Militär- und Verteidigungsausschuss der NATO voraussetzt, ohne dass es hierfür in die militärische Integration zurückkehren musste – eine Option, die für Mitterrand nicht in Frage kam. Vgl. Françoise DE LA SERRE/Christian LEQUESNE, Frankreich, in: Werner WEIDENFELD/Wolfgang WESSELS (Hg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 1992/93, Bonn 1993, S. 314–322, hier S. 319; WOYKE (wie Anm. 14), S. 153–155.
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Nach der Zeitenwende von 1989/91 – so Pascal Boniface mit Blick auf Frankreich – wäre eigentlich mit einer „strategischen Revolution“, einem Bruch aller Kontinuitäten zu rechnen gewesen; trotz weitreichender Reformund Änderungsvorschläge habe die französische Sicherheitspolitik aber lediglich mit diversen Anpassungen, nicht jedoch mit grundlegend neuen Ansätzen reagiert. „In diesem Bereich lehnte François Mitterrand es ab, jenen zu folgen, die ihm radikale Politikwechsel vorschlugen, um auf die fundamentalen Veränderungen im internationalen System zu reagieren. So sah er sich einerseits des Konservatismus bezichtigt (er verstehe die Veränderungen zwar, berücksichtige sie aber nicht), während andere ihn der Blindheit verdächtigten (er verstehe die Veränderungen nicht)“. „Auch wenn es paradox erscheint“ – so Boniface weiter – „kann man festhalten, dass François Mitterrands strategische Konzepte vom Untergang der UdSSR nicht fundamental betroffen wurden. Die Zielsetzungen blieben dieselben, auch wenn die Umsetzungsmodalitäten sich änderten: Verteidigung der französischen Autonomie, Stärkung des deutsch-französischen Tandems, Schaffung eines europäischen VerteidigungsPfeilers, internationale Stabilität ... Insgesamt betrachtet war Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Fall der Berliner Mauer und trotz einiger Anpassungen von Kontinuität geprägt.“61 Wenn eine strategische Revolution in Frankreich nach 1989 ausblieb, so vielleicht deshalb, weil Mitterrand den Zeithorizont nach 2000 wohl doch noch nicht fest genug im Blick hatte. 4. Deutsch-französische Positionen für die GASP: Ein Neuanfang in den transatlantischen Beziehungen? Angesichts dieser zweigleisigen NATO-Politik und den allgemeinen sicherheitspolitischen Positionen Frankreichs unter Mitterrand ergeben sich mit Blick auf die transatlantischen Beziehungen nun Fragen an Deutschland bzw. an den deutsch-französischen „Motor der Integration“. In der Vergangenheit war die sicherheitspolitische Ausrichtung Frankreichs mit dem ausgeprägt transatlantischen Kurs der Bundesrepublik Deutschland nicht kompatibel; deshalb hatte man weder für die USA- und NATO-Politik noch für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine gemeinsame Plattform gefunden. Konnten die teils tradierten, teils aber innovativen Strategieentwürfe aus Paris nach der Zeitenwende von 1989/90 dem deutsch-französischen Tandem zusätzliche Impulse und Gestaltungsspielräume für die Konstruktion eines neuen, nun auch sicherheits- und verteidigungspolitischen Europas eröffnen? War die Stunde des Projekts „Europe Puissance“ nun gekommen?
61 BONIFACE (wie Anm. 13), S. 157–159.
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4.1 Maastricht: Ein lauer Einstieg in die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Ohne jeden Zweifel kommen dem Tandem Kohl-Mitterrand große Verdienste bei der Wiederbelebung des europäischen Integrationsprozesses nach der Zeitenwende zu. Nicht nur gelang es ihnen im Frühjahr 1990, jene ernsthaften Spannungen im bilateralen Verhältnis zu überwinden, die man offiziell als Irritationen bezeichnete und die durch Kohls berühmtes „10-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ vom 28. November 1989 ausgelöst worden waren; denn der Kanzler hatte dieses Programm ohne vorherige Konsultation der Partner bekanntgegeben.62 Beide Staatsmänner konnten durch eine Reihe gemeinsamer Briefe und Initiativen die konkreten Innovationen des Maastrichter Vertrags weitgehend präjudizieren.63 Angesprochen sind hier vorrangig die deutsch-französischen Vorschläge zur Ausgestaltung der WWU, zu den Reformen am EG-Institutionengefüge und den Kompetenzausweitungen der Gemeinschaft.64 Zu dieser großangelegten europapolitischen Wiederbelebung gehört auch der Einstieg in eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die durch den Maastrichter Vertrag in Gestalt der Schaffung einer Zweiten Säule des neuen Unionsvertrags erreicht werden konnte. Diese Innovation ist zu Recht als die Eröffnung eines äußerst
62 Das 10-Punkte-Programm sah zunächst lediglich eine deutsch-deutsche Konföderation unter Beibehaltung der doppelten deutschen Staatlichkeit vor, benannte als Ziel aber bereits „eine Föderation, d.h. eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen“. Weiterhin schrieb Kohl: „Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand – daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher“. Das Programm ist abgedruckt in: EuropaArchiv, Folge 4/1989, D 728–734. Inhaltlich kritisierte Mitterrand an Kohls Programm, dass es die zentralen Fragen der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie sowie der Rolle der Siegermächte bei der Gestaltung der Zukunft Deutschlands überging; vor allem aber fühlte er sich durch die unterlassene Konsultation brüskiert. Vgl. Ulrike KESSLER, Deutsche Europapolitik unter Helmut Kohl. Europäische Integration als „kategorischer Imperativ“?, in: Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET u.a. (Hg.): Deutsche Europapolitik von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Opladen 2002, S. 115–166, hier S. 129. Damit nämlich war Frankreichs Anspruch, als privilegierter Partner und als Siegermacht des 2. Weltkrieges den Vereinigungsprozess mitgestalten und kontrollieren zu können, missachtet worden. Mitterrand sah im 10-Punkte-Plan des Kanzlers auch jene Verabredung verletzt, die er anlässlich der 54. deutsch-französischen Konsultationen vom 2./3.11.1989 in Bonn mit Kohl getroffen hatte. Damals waren Kohl und Mitterrand sich einig gewesen, dass eine eventuelle deutsche Wiedervereinigung die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie voraussetze, eines Vertrages mit den vier Siegermächten bedürfe und von einem erneut bekräftigten deutschen Verzicht auf ABC-Waffen begleitet sein müsse. Vgl. Christoph LIND, Die deutsch-französischen Gipfeltreffen der Ära Kohl–Mitterrand 1982–94. Medienspektakel oder Führungsinstrument?, Baden-Baden 1998, S. 163–167. 63 Die gemeinsamen Briefe vom 18.4.1990, 6.12.1990 und 14.10.1991 sind abgedruckt in WOYKE (wie Anm. 14), S. 221–228. 64 MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik, (wie Anm. 6), S. 97ff.
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vielversprechenden und mutmaßlich identitätsstiftenden integrativen Zukunftsprojekts gelobt worden.65 In unserem Zusammenhang gilt es jedoch, die vom deutsch-französischen Tandem stark präjudizierten GASP-Regelungen des Maastrichter Vertrags daraufhin zu überprüfen, ob sie auch eine tragfähige gemeinsame Plattform für die künftige Gestaltung der transatlantischen Beziehungen lieferten. Bekanntlich schloss Mitterrand die Anwendung der sog. Gemeinschaftsmethode auf die neu zu schaffende GASP aus und setzte – gemeinsam mit den Supranationalität-kritischen Staaten Großbritannien, Dänemark und Griechenland – letztendlich das stark intergouvernemental ausgerichtete GASP-Entscheidungssystem durch.66 Folglich trifft jener Vorwurf, den Robert Touleman an die gesamte französische Europapolitik seit dem Scheitern der EVG richtet, auch auf Mitterrands GASP-Position zu: Diese sei gekennzeichnet durch den „Widerspruch zwischen einem exzessiven Ehrgeiz für ein Europa, das man nicht nur stark, sondern auch unabhängig sehen möchte, und einer exzessiven Zurückhaltung, wenn es darum geht, Souveränitäten zu teilen“.67 In der sicherheitspolitischen Dimension der GASP ging es Mitterrand im Wesentlichen darum, die traditionelle französische Zielsetzung eines „Europe Puissance“ voranzubringen, das als eigenständige Kraft in der Lage sein sollte, die US-Hegemonie auszubalancieren. Mitterrand brachte im Vorfeld von Maastricht deshalb erneut die WEU ins Spiel, die nach französischer Konzeption den bewaffneten Arm der EG bilden sollte. Für dieses Projekt konnte er auch Kanzler Kohl (sowie Italien und die Benelux-Staaten) gewinnen. Doch angesichts der Polarisierung der EU-Mitgliedstaaten zwischen WEU- und NATO-Verfechtern habe Frankreichs Fixierung auf die WEU „dem Entstehen einer gemeinsamen Politik geschadet“ und in eine „Sackgasse geführt ... Da Frankreich den integrierten Militärstrukturen der NATO nicht angehört, wurde es ... systematisch verdächtigt, die NATO in Frage stellen zu wollen; dies wiederum beraubte Frankreich der Möglichkeit, auf seine Partner zugunsten einer gemeinsamen Verteidigungspolitik einwirken zu können.“68 Obgleich Mitterrand – wie oben ausgeführt – über keinen präzisen Plan zum Aufbau einer zur NATO konkurrierenden Verteidigungsorganisation verfügte, bewirkten solche Verdächtigungen, dass Frankreich konstant der „Sabotage“ an der Al65 Charlotte BRETHERTON/John VOGLER, The European Union as a global actor, London/ New York 1999; Elfriede REGELSBERGER, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP). Konstitutionelle Angebote im Praxistest 1993–2003, Baden-Baden 2004; Klaus SCHUBERT/Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET (Hg.), Die Europäische Union als Akteur der Weltpolitik, Opladen 2000. 66 Vgl. dazu MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Europäische Außenpolitik (wie Anm. 48); REGELSBERGER (wie Anm. 65). 67 TOULEMON (wie Anm. 9), S. 584. 68 DELOCHE-GAUDEZ (wie Anm. 48), S. 128f.
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lianz bezichtigt wurde. Mitterrands Doppelgleisigkeit und sein Pochen auf möglichst große Autonomie und Stärke des europäischen Pfeilers innerhalb der NATO taten ein Übriges. So provozierte Frankreich den Widerspruch der USA und der meisten europäischen NATO-(Voll)-Mitglieder. Diese Vorsicht bzw. dieses Misstrauen Frankreich gegenüber fand dann auch seinen Niederschlag im Maastrichter Vertrag, vor allem in den Bestimmungen mit Verteidigungsbezügen. Zunächst ist aber zu betonen, dass in Maastricht der Einstieg in eine Europäische Außen- und Sicherheitspolitik gewagt wurde. Hier hatten die gemeinsamen Initiativen Mitterrands und Kohls wirksame Vorarbeit geleistet, die dem deutsch-französischen „Motor der Integration“ zur Ehre gereichte. Angesprochen sind hier vor allem die Bestimmungen zur „genuinen“ Außenpolitik. Demgegenüber fällt der Einstieg in die Sicherheitspolitik deutlich verhaltener aus. Hier konnte lediglich die Vorratsbestimmung des Art. J.4 Abs. 1 EUV in die Verträge aufgenommen werden: „Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte“ (Art. J.4 Abs.1 EUV). De facto war in Maastricht aber kaum mehr als die enge Verknüpfung zwischen der EU und der wiederbelebten WEU zu erreichen, die zum „integralen Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union“ erklärt wurde (Art. J.4 Abs. 2). Weiter heißt es hier: „Die Union ersucht die Westeuropäische Union ... die Entscheidungen und Aktionen der Union, die verteidigungspolitische Bezüge haben, auszuarbeiten und durchzuführen.“ Auch die dem Maastrichter Vertrag beigefügte „Erklärung zur Westeuropäischen Union“ bestätigt das Ziel, „die WEU ... als Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als Mittel zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz [zu] entwickeln“. Hier wird eventuellen anderslautenden französischen Ambitionen klar ein Riegel vorgeschoben. So wird explizit die Bereitschaft der WEU betont, „die engen Arbeitsbeziehungen zur Allianz weiterzuentwickeln“, sowie auf der „Komplementarität zwischen der entstehenden europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität und der Allianz“ insistiert. Außerdem trugen die NATO-Verfechter dafür Sorge, dass im Maastrichter Vertrag der NATO-Vorrang betont wurde. So hieß es in Artikel J.4 Abs. 4: „Die Politik der Union ... berührt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten; sie achtet die Verpflichtung einiger Mitgliedstaaten aus dem Nordatlantikvertrag und ist vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“ Auch wenn der Einstieg in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu den Vertragsbestimmungen gehörte, „die am meisten den Zielen
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Frankreichs in Bezug auf die Vollendung der Europäischen Union entsprechen“,69 so bleibt doch zutreffend, dass Frankreichs ambivalentes Verhalten das Misstrauen der Partner provozierte und damit den Erfolg des Projekts GASP vor allem im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich schmälerte. 4.2 Die Grenzen des Engagements Helmut Kohls für eine europäische Sicherheitspolitik Dieser Beitrag nimmt vor allem die französische Seite des Tandems in den Blick. Dennoch können die deutschen Positionen nicht gänzlich unerwähnt bleiben. Zunächst ist zu betonen, dass der Kanzler der deutschen Einheit den Einstieg der europäischen Integrationsgemeinschaft in eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik voll und ganz mittrug, ja, gemeinsam mit Mitterrand als deren Urheber zu würdigen ist. Der Kanzler, der dem von Adenauer geprägten Motto, dass nämlich die deutsche und die europäische Einheit die zwei Seiten derselben Medaille seien, verpflichtet war, befürwortete in seiner Regierungserklärung vom 22. November 1990 die „Schaffung einer echten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“. „Für uns“, so Kohl, „gilt unverändert, dass das europäische Einigungswerk ohne die volle Einbeziehung der Sicherheitspolitik und langfristig der Verteidigung unvollständig bleibt.“70 In der gemeinsamen Initiative mit Mitterrand vom 14. Oktober 1991 forderte der deutsche Kanzler „die von uns allen für notwendig erachtete Übernahme stärkerer europäischer Verantwortung auf dem Gebiet von Sicherheit und Verteidigung durch konkrete Festlegungen und institutionelle Schritte klar zum Ausdruck zu bringen“.71 Auch wird hier als Ziel der Union die „Bekräftigung ihrer Identität auf internationaler Ebene, insbesondere durch die Durchführung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die auf längere Sicht eine gemeinsame Verteidigung umfaßt“ genannt. Diese Forderungen und Bekenntnisse lassen aber noch keine eindeutige Aussage darüber zu, ob und in welchem Ausmaß Kohl den Ausbau der EG/ EU zu einem eigenständigen Akteur der Weltpolitik unterstützte, wobei die Frage nach der angestrebten Eigenständigkeit im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik selbstredend besonders relevant und heikel war. Verfügte der Kanzler gar über eine Blaupause zum künftigen Verhältnis Europas zu NATO und USA?
69 Françoise DE LA SERRE/Christian LEQUESNE, Frankreich, in: Werner WEIDENFELD/Wolfgang WESSELS (Hg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 1991/92, Bonn 1992, S. 327– 334, hier S. 332. 70 KESSLER (wie Anm. 62), S. 154. 71 Abgedruckt in WOYKE (wie Anm. 14), S. 225–228.
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Da die Bundesrepublik Deutschland in der gesamten Phase des Ost-WestKonflikts auf den nuklearen Schutzschild der USA angewiesen war, stellt sich diese Frage erst für die Zeit nach 1989/1990. Daher ist verständlich, dass Helmut Kohl aus bündnispolitischen Gründen die WEU-Vorstöße Mitterrands Mitte der 80er Jahre nicht sonderlich unterstützt hatte. Zwar war er – wie erwähnt – mit Frankreich eine vertiefte bilaterale sicherheitspolitische Kooperation, ein „Bündnis im Bündnis“ eingegangen und hatte dadurch der deutschfranzösischen Freundschaft Tribut gezollt. Doch ließ sich dies verwirklichen, ohne die Schutzmacht USA provozieren und die angestammte Brückenfunktion zwischen Paris und Washington aufgeben zu müssen. Die Fragen „Wie halten wir es mit Amerika?“ und „Welches Ausmaß an außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Autonomie streben wir für die EU an?“ stellten sich für Deutschland folglich erst mit der Zeitenwende von 1989/90 ernsthaft. Und hier ist festzuhalten, dass Kohls Position zur Eigenständigkeit der angestrebten sicherheits- und verteidigungspolitischen Komponente der EU bis zum Ende seiner Kanzlerschaft undeutlich bzw. ambivalent blieb.72 Gleichwohl gab es Anpassungen an die neue weltpolitische Lage, insbesondere in Hinsicht auf den Beitrag des vereinigten Deutschlands zu internationalen Interventionen.73 Im Vorfeld des Maastrichter Vertrags trat Deutschland auch etwas offensiver für eine Stärkung der WEU ein; es engagierte sich für die weitere Präzision der Aufgaben und operativen Fähigkeiten der WEU und trug die die Eigenständigkeit Europas heraushebende Petersberg-Erklärung der WEU vollinhaltlich mit. Dabei suchte der Kanzler den auseinanderstrebenden Anforderungen der deutsch-amerikanischen und deutsch-französischen Freundschaft dadurch gerecht zu werden, dass er den Ausbau der WEU strikt im transatlantischen Rahmen verwirklichen wollte.74 Angesichts der Zweideutigkeit Mitterrands in der Frage der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des künftigen europäischen Verteidigungspfeilers, bezogen sich die Unterschiede zwischen den deutschen und den französischen Positionen zu diesem Zeitpunkt vorrangig auf die angestrebte „Stärke des Pfeilers“.75 Die atlantische Orientierung Deutschlands bewirkte, dass die Bundesregierung auch das NATO-Konzept der Combined Joint Task Forces mittrug. All dies befriedigte Frankreich und kam zugleich den amerikanischen Forderungen ent72 Marco OVERHAUS, Deutschland und die ESVP 1998–2003. Gewollte Ambivalenz oder fehlende Strategie?, in: Sebastian HARNISCH/Christos KATSIOULIS/Marco OVERHAUS (Hg.), Deutsche Sicherheitspolitik. Eine Bilanz der Regierung Schröder, Baden-Baden 2004, S. 37–58, hier S. 45. 73 MAULL, Die prekäre Kontinuität (wie Anm. 2), S. 428; Gregor SCHÖLLGEN, Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 2004, S. 63ff. 74 OVERHAUS (wie Anm. 72), S. 44f. 75 WOYKE (wie Anm. 14), S. 158.
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gegen, die ein ausgewogeneres verteidigungspolitisches burden sharing verlangten. Zugleich verfolgte man in Bonn mit der WEU-Stärkung und dem Ansatz zu einer ESVI das Ziel, die Annäherung Frankreichs an die NATO zu befördern und zu verstetigen – was ja auch gelang. Die deutsche Politik ist mithin auch zweigleisig, wenn auch in einem anderen Sinne als die französische: Sie versucht weiterhin den traditionellen „Spagat“ zwischen Washington und Paris aufrechtzuerhalten. In der Tat hielt Kanzler Kohl bis zu seinem Abgang 1998 an der tradierten bundesdeutschen Brückenfunktion zwischen Washington und Paris fest und unterließ alles, was die Schutzmacht USA hätte irritieren können.76 Ein deutsches Streben nach sicherheits- und verteidigungspolitischer Autonomie à la française aber hätte mit Sicherheit zu transatlantischen Spannungen geführt. Obgleich Kohl das internationale Engagement des wiedervereinigten Deutschlands sukzessive ausweitete, überschritt er deshalb nie diese Schwelle; europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik war für ihn ausschließlich als europäischer Pfeiler innerhalb der NATO denkbar. Die Zweigleisigkeit der Kohlschen Sicherheitspolitik lässt sich exemplarisch an den deutschen Positionen zum Eurokorps aufzeigen: Mit dem Aufstellungsbeschluss vom Mai 1992 gaben Mitterrand und Kohl der im Maastrichter Vertrag stark aufgewerteten WEU erstmals Truppen zur konkreten Erfüllung militärischer Missionen an die Hand und ließen damit ihren gemeinsamen Appellen zur Stärkung der europäischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Handlungsfähigkeit Taten folgen. Anders als Frankreich aber trat Deutschland massiv für die NATO-Assignierung des Eurokorps im SACEUR-Abkommen ein.77 Gleichwohl ist die Neuausrichtung deutscher Sicherheitspolitik, wie im Eurokorps-Abkommen materialisiert, nicht zu unterschätzen. Denn es ist das erste Abkommen, in dem Deutschland „seine Sicherheitspolitik nicht mehr allein auf die NATO ausrichtet ... Die Beteiligung am Eurokorps bedeutete für Deutschland ... einen Schritt aus seiner politischen Selbstblockade.“ Woyke nennt auch gleich den zentralen, den ausschlaggebenden Grund, der dieser bedeutenden Novität zu Grunde liegt: „Deutschland hat mit dem Eurokorps die 1990 drohende Re-Nationalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik vermieden. Die Einbindung Frankreichs in diesen militärischen Großverband war der Bundesrepublik so wichtig, dass sie sogar bereit war, einen schwerwiegenden Konflikt mit den USA und anderen NATO-Verbündeten einzugehen und durchzustehen.“78 Dieser Widerstand „anderer NATO-Verbündeter“, sprich vornehmlich Großbritanniens, gegen jegliches europäisches Autonomiebestreben bewirkte letztendlich aber auch, dass die verbleibenden, latenten Divergenzen, die im 76 SCHÖLLGEN (wie Anm. 73), S. 55–76. 77 MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik (wie Anm. 6), S. 136. 78 WOYKE (wie Anm. 14), S. 156.
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deutsch-französischen Tandem hinsichtlich der Stärke und Selbständigkeit eines Europas der Sicherheit bestanden, sich trefflich hinter der britischen Totalblockade verbergen ließen.79 Denn diese NATO-Verbündeten sorgten – wie oben erwähnt – im Maastrichter Vertrag dafür, dass Europas neuer sicherheitsund verteidigungspolitischer Pfeiler strikt im Rahmen der NATO und in Komplementarität zu dieser verblieb. 4.3 Amsterdam: Noch keine deutsche Richtungsentscheidung erforderlich Wenn der „Motor der Integration“ ab 1995 auch unter dem Tandem Kohl– Chirac seine Aufgaben erfüllen und den Partnerstaaten gemeinsame Vorschläge zur weiteren Vertiefung der Integration unterbreiten konnte, dann ist zu beachten, dass dies auf der Basis dieser restriktiven Voraussetzungen geschah. In der Tat basieren die GASP-Fortschritte des Amsterdamer Vertrages weitestgehend auf deutsch-französischen Initiativen, die von Kanzler und Staatspräsident sowie von den beiden Außenministern gemeinsam vorgelegt wurden.80 So steht hinter dem neugeschaffenen Amt des Hohen Vertreters für die GASP sowie der ihm zugeordneten Analyse- und Frühwarneinheit – heute unter dem Begriff Policy Unit bekannt – ein ausgefeilter deutsch-französischer Kompromiss. Und auch die wichtige Innovation der konstruktiven Enthaltung, wie in Art. 23 EUV fixiert, geht auf gemeinsame deutsch-französische Vorschläge zurück.81 Kurz: der „Motor der Integration“ ebnete den Weg zu größerer Kohärenz in der genuinen EU-Außenpolitik. Mit Blick auf die sicherheits- und verteidigungspolitischen Aspekte der GASP waren die Ergebnisse der Amsterdamer Vertragsreform angesichts des anhaltenden Widerstands „anderer NATO-Verbündeter“ zwangsläufig bescheidener. In ihrem Brief vom 9. Dezember 1996 hatten Kohl und Chirac eine „stufenweise Annäherung einer operativ gestärkten WEU an die Europäische Union mit dem Ziel ihrer schrittweisen Integration in die Europäische Union“ gefordert. Als „ersten Schritt“ schlugen sie die Einfügung einer all79 Diese Divergenzen erschließen sich besonders deutlich durch einen Vergleich der 1994 nahezu zeitgleich erschienenen Weißbücher zur Sicherheitspolitik; vgl. dazu Simone WESKE, Deutschland und Frankreich – Motor einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Baden-Baden 2006, S. 62ff. Zu den impliziten und expliziten Meinungsverschiedenheiten im 1997 veröffentlichten „Gemeinsamen deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungskonzept“ vgl. WOYKE (wie Anm. 14), S. 163–165; Michael MEIMETH, Deutsche und französische Perspektiven einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 3–4 (2003), S. 21–30. 80 Die Briefe von Kohl und Chirac vom 6.12.1995 und 9.12.1996 sowie die gemeinsamen Dokumente von Kinkel und de Charette bzw. Védrine sind abgedruckt in: WOYKE (wie Anm. 14), S. 237–259. 81 EBD. S. 231, 238–240; MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Frankreichs Europapolitik (wie Anm. 6), S. 175ff.
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gemeinen politischen Bündnisverpflichtung in die Verträge, „die unterhalb der Schwelle einer militärischen Beistandsklausel liegen sollte“, sowie die Verankerung der Petersberg-Aufgaben der WEU im neuen Unionsvertrag vor. Doch in Amsterdam 1997 ließ sich lediglich die Übernahme der PetersbergAufgaben erreichen, die jene „regionale Entgrenzung der militärischen Aufgaben der WEU“ brachte, die Frankreich schon immer gewollt hatte, weil es darin zumindest eine deklaratorische Gleichstellung von WEU und NATO sah.82 Die Fusionspläne von EU und WEU aber sowie eine Bündnisverpflichtung scheiterten am Widerstand Großbritanniens, Dänemarks und Irlands. Aber auch die drei neuen EU-Mitglieder der 1995er Erweiterung – alle mehr oder weniger neutral – bremsten. Auf Drängen Tony Blairs hin wurde der Verweis auf die NATO-Mitgliedschaft einiger Staaten im einschlägigen Art. 17 EUV sogar noch verstärkt.83 Während die Maastrichter Formulierung lediglich an die „Verpflichtung einiger Mitgliedstaaten aus dem Nordatlantikvertrag“ erinnerte, hieß es nun, dass die Politik der Union „die Verpflichtungen einiger Mitgliedsstaaten“ achtet, „die ihre gemeinsame Verteidigung in der NATO verwirklicht sehen“. Gleichwohl blieben die Schockwellen des europäischen Versagens vor der Haustür, d.h. in Jugoslawien, nicht ganz ohne Folgen. Denn die EU-Staatsund Regierungschefs beschlossen, dass die WEU, bereits seit Maastricht ein „integraler Bestandteil der Entwicklung der Union“, dieser nun den Zugang „zu einer operativen Kapazität“ eröffnen sollte (Art. 17 Abs.1 EUV). Zusammen mit der Übernahme der Petersberg-Aufgaben in Art. 17 Abs. 2 EUV lässt sich folglich von einer „Aufwertung der sicherheitspolitischen Dimension“ der EU sprechen,84 eine Aufwertung, die allerdings weitgehend in die Hände des Europäischen Rats gegeben wurde, heißt es nun doch, dass zur GASP auch „die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik ... gehört, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, falls der Europäische Rat dies beschließt“ (Art. 17 Abs. 1 EUV). War dies ein erster Hinweis auf den bevorstehenden Politikwechsel Tony Blairs in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik? 5. Die ESVP kommt – aber erst nach der Ära Kohl Im Dezember 1998 in Saint-Malo nahm Tony Blair einen spektakulären Politikwechsel vor; die wichtigste Passage der gemeinsamen britisch-französi82 Vgl. MEIMETH, Frankreichs gewandeltes Verhältnis zur NATO (wie Anm. 24), S. 175. 83 Vgl. DELOCHE-GAUDEZ (wie Anm. 48), S. 128. 84 Franco ALGIERI, Von der Macht der Zeitumstände und der Fortführung eines integrationspolitischen Projekts. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Verfassungsvertrag, in: Werner WEIDENFELD (Hg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, Gütersloh 2005, S. 205–227, hier S. 207.
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schen Erklärung lautet: „The European Union needs to be in a position to play its full role on the international stage [and] the Union must have the capacity for autonomous action.“85 Damit wurde die Tür zur Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik aufgestoßen.86 Nach Saint-Malo ließ sich der Einstieg in die ESVP in der Tat sehr zügig verwirklichen; Javier Solana spricht in diesem Zusammenhang gerne von „Lichtgeschwindigkeit“. Die zentralen Entscheidungen hierzu wurden vom Europäischen Rat in Pörtschach, Köln und Helsinki getroffen – nach dem Ende der Ära Kohl. Somit blieb es Kanzler Kohl und den beiden deutsch-französischen Tandems seiner Zeit versagt, diese fundamentale Weiterentwicklung des europäischen Einigungsprozesses einzuleiten. Sie konnten lediglich zahlreiche Vorarbeiten und Weichenstellungen vornehmen, die der zügigen Schaffung der ESVP ab 1999 dann zugute kamen. In der Amtszeit Helmut Kohls kam es folglich nicht zum Schwur über die Eigenständigkeit europäischer Sicherheitsund Verteidigungspolitik. Mithin bleibt es der Spekulation anheim gestellt, ob Kanzler Kohl tatsächlich jemals bereit gewesen wäre, das Projekt „Friedensmacht Europa“,87 das inzwischen zum neuen Kristallisationspunkt der europäischen Integration avanciert ist, engagiert mitzugestalten.
85 Die Erklärung von Saint-Malo ist abgedruckt in: Institute for Security Studies Paris, Chaillot Papers Nr. 47 (May 2001), S. 1–225, hier S. 8f. 86 Vgl. HOWORTH (wie Anm. 10); Emil KIRCHNER, British perspectives on EFSP and ESDP, in: MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Europäische Außenpolitik (wie Anm. 48), S. 41–56; Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, The big Member States’ influence on the shaping of Europe’s international role, in: DIES. (Hg.), The future of the European Foreign, Security and Defence Policy after Enlargement, Baden-Baden 2006, S. 25–53, hier S. 44ff. 87 Zum Begriff und Konzept „Friedensmacht Europa“ vgl. Hans-Georg EHRHART, Leitbild Friedensmacht? Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Herausforderung der Konfliktbearbeitung, in: DERS. (Hg.), Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Positionen, Perzeptionen, Probleme, Perspektiven, Baden-Baden 2002, S. 243–257 und DERS., What model for ESDP, in: Institute for Security Studies Paris, Chaillot Papers Nr. 55 (October 2002), S. 1–77. Der Begriff wurde ursprünglich von der rot-grünen Bundesregierung und insbesondere Außenminister Fischer geprägt und bedeutet eine nicht unerhebliche Abwandlung des französischen „Europe-Puissance“-Konzepts; vgl. dazu Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Deutsch-französische Beziehungen und das Projekt „Friedensmacht Europa“, in: Renate GRASSE/Wilhelm NOLTE/Peter SCHLOTTER (Hg.), Berliner Friedenspolitik: Militärische Transformation – Zivile Impulse – Europäische Einbindung, Baden-Baden 2008, S. 233–260; DIES., Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Erweiterung und Finalität – Dilemmata des europäischen Integrationsprozesses, in: Wirtschaftsdienst, Heft 2, Februar 2007, S. 121–126.
Einführung Von Hans Günter Hockerts Ein geflügeltes Wort sagt, dass die Politiker das erste Wort haben, die Journalisten das zweite und die Historiker das letzte. Im Blick auf die Ära Kohl haben die Historiker jedoch noch längst nicht das letzte Wort gesprochen. Im Gegenteil, die 1980er und 1990er Jahre rücken erst seit Kurzem in den Fokus der zeithistorischen Forschung, und dabei zeichnen sich die Konturen einer epochalen Umbruchszeit ab, deren Erforschung eine konzeptionelle Herausforderung großen Stils darstellt. Hier ist zum einen an die weltpolitische Epochenzäsur der Jahre 1989/91 zu denken, mit der – einem Periodisierungsvorschlag von Hans-Peter Schwarz zufolge – die „neueste deutsche Zeitgeschichte“ beginnt.1 Zum anderen ist der tiefgreifende Wandel der sozialökonomischen und sozialstrukturellen Verhältnisse in der westlichen Welt hervorzuheben, den Eric Hobsbawm als „Erdrutsch“ bezeichnet hat.2 So gesehen geht es um nichts Geringeres als um die Konzipierung einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte, die nicht mehr die Grundverhältnisse des Nachkriegsbooms vor Augen hat, sondern den in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einsetzenden Abschied von der industriegesellschaftlichen Hochmoderne.3 Damit gingen Wandlungsprozesse von großer Brisanz einher. Sie lassen sich als Vorgeschichte von Problemlagen beschreiben, die unsere Gegenwart prägen. Für das Themenfeld der Sozialpolitik gilt dies ganz besonders. Denn nach seiner Entfaltung in der Boomphase geriet der Sozialstaat fast überall in der westlichen Welt in Bedrängnis.4 Seither ist unablässig von einer „Krise des Sozialstaats“ die Rede. Schlagworte wie „Umbau“, „Rückbau“ oder „Abbau“ durchdringen seither die sozialpolitischen Debatten. Es empfiehlt sich also, das hier zu verhandelnde Thema der „Sozialpolitik vor und nach der Wiedervereinigung“ in einen übergreifenden Rahmen einzuordnen, der das epochale Ausmaß der Herausforderungen und des Veränderungsdrucks erkennbar macht.5 Die wohl wichtigste Schubkraft ging vom 1 2 3 4 5
Hans Peter SCHWARZ, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte [VfZ] 51 (2003), S. 5–28. Eric HOBSBAWM, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 501. Anselm DOERING-MANTEUFFEL, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: VfZ 55 (2007), S. 559–581. Kundige Überblicke bei Franz-Xaver KAUFMANN, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt/M. 1997; Nico A. SIEGEL, Baustelle Sozialpolitik. Konsolidierung und Rückbau im internationalen Vergleich, Frankfurt/M. u.a. 2002. Vgl. dazu ausführlicher Hans Günter HOCKERTS, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 3– 29.
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Wandel der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus. Zwei Wellen weltweiter Rezessionen offenbarten, dass der „kurze Traum immerwährender Prosperität“6 an ein Ende kam: die erste 1974/75, die zweite – mit noch gravierenderen Auswirkungen – im Übergang zur Ära Kohl 1980/82. Beide Male gerieten die meisten Industriestaaten in eine Krise neuen Typs, für die sich der Neologismus „Stagflation“ einbürgerte. Auch nach der Überwindung der Konjunktureinbrüche verlangsamte sich das Tempo des wirtschaftlichen Wachstums; es erreichte nie wieder das im Nachkriegsboom gewohnte Zuwachsniveau. Ein besonders alarmierendes Symptom lag im Verlust der Vollbeschäftigung. Diese hatte in der Boomphase das Kernstück des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements gebildet; nun aber kletterte die Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik von 0,7 Prozent (1970) über 4,6 Prozent (1976) auf 9,3 Prozent (1985); sie sank bis 1991 wieder auf 6,3 Prozent, stieg dann jedoch steil bis 12,7 Prozent im Jahre 1997.7 Die Aufschwünge reichten also nicht mehr aus, um den Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit zu revidieren. Dies verweist auf strukturelle Zusammenhänge, denen mit den vertrauten Mitteln einer „Globalsteuerung“ keynesianischer Prägung nicht mehr wirkungsvoll beizukommen war.8 Das Codewort „Globalisierung“ macht darauf aufmerksam, dass in den wirtschaftlichen Verwerfungen der 1980er und 1990er Jahre weit mehr zum Ausdruck kommt als der Kollaps des Weltwährungssystems von Bretton Woods (1973) und die drastische Verteuerung der Energie durch die Ölpreisschocks. Es verweist auf die beschleunigte Internationalisierung der Geld-, Kapital- und Warenmärkte, die ihrerseits mit vielfältigen Wandlungstendenzen verbunden war. Stichwortartig seien genannt: rasante Entwicklungen im Bereich neuer Technologien, die das Informations-, Kommunikations- und Transportwesen revolutionierten; der Aufstieg Japans und der ostasiatischen Schwellenländer zu wichtigen Exportnationen; neue Formen der betrieblichen Produktion und der Organisation transnationaler Unternehmen mit der Tendenz, die Wertschöpfungskette im weltweiten Rahmen aufzuspalten. Hinzu kam die entschlossene Politik der Liberalisierung und Deregulierung, die sich zunächst in den angelsächsischen Ländern (Reaganomics, Thatcherismus) und im Regime des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der OECD durchsetzte, dann auch in der Europäischen Gemeinschaft und – nach dem 6 7 8
Burkart LUTZ, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1989. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Statistisches Taschenbuch 2006, Bonn 2006, Tabelle 2.10 (Anteil der Arbeitslosen an den abhängigen Erwerbspersonen). Zum Aufstieg und Fall des Glaubens an die Möglichkeiten einer „Globalsteuerung“ keynesianischer Prägung vgl. Tim SCHANETZKY, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007.
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Zusammenbruch des Sowjetimperiums – auch in den osteuropäischen Transformationsländern. Die Folge war nicht nur eine Verschärfung, sondern auch eine neue Dimensionierung des internationalen Wettbewerbs. Denn die Globalisierung verwandelte die herkömmliche „standortgebundene Absatzkonkurrenz“ in eine „Standortkonkurrenz zwischen Staaten“.9 Das Schlagwort des „Postfordismus“, das in den 1980er Jahren aufkam, hebt einen für die Arbeitswelt besonders bedeutsamen Zusammenhang hervor. Als „fordistisch“ galt eine auf standardisierter Massenanfertigung beruhende Produktionsweise, die in den 1950er und 1960er Jahren großindustriell verbreitet war. In den 1970er Jahren begann in hoch entwickelten Industriestaaten wie der Bundesrepublik der Rückzug dieses Produktionsmusters, was vielfache Gründe hatte, aber nicht zuletzt mit den neuen Weltmarktbedingungen zusammenhing. Standardisierte Massengüter konnten nun andernorts billiger hergestellt und weltweit abgesetzt werden. Hingegen lag die Chance der traditionell führenden Industrienationen in dem Übergang zu einem Produktionsregime anderer Art, das auf technologieintensive Güter ausgerichtet ist, auf ständiger technologischer Innovation beruht und jederzeit neu konfigurierbare Organisationsformen bevorzugt.10 Im Zusammenwirken solcher Faktoren veränderten sich die Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt tiefgreifend. Die Zahl der industriellen Arbeitsplätze sank in den Traditionsindustrien dramatisch; sie nahm jedoch auch in den neuen Wachstumsbranchen der industriellen Produktion aufgrund von Rationalisierungseffekten langfristig ab. Hingegen dehnte sich der Dienstleistungssektor kontinuierlich aus. Er beschäftigte seit dem Ende der 1970er Jahre die Mehrzahl der Arbeitnehmer, vermochte aber die industriellen Arbeitsplatzverluste nicht zu kompensieren. Denn auch im tertiären Sektor machte sich ein großes Rationalisierungspotential bemerkbar, vor allem im Blick auf die Computertechnologie. Zudem schritt die Tendenz zur Flexibilisierung von Erwerbsformen und Arbeitszeiten voran, Qualifikationsanforderungen stiegen, die Beschäftigungschance gering Qualifizierter verschlechterte sich rapide, kurz: die Anzeichen einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses – also der dauerhaften Vollzeitbeschäftigung – mehrten sich.
9 Deutscher Bundestag (Hg.), Schlussbericht der Enquête-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft, Opladen 2002, S. 226. 10 Werner ABELSHAUSER, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 432– 436; Dieter SAUER, Die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Soziologische Deutungen in zeithistorischer Perspektive, in: VfZ 55 (2007), S. 309–328; Charles S. MAIER, Two Sorts of Crisis? The “long” 1970s in the West and the East, in: Hans Günter HOCKERTS (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 49–62.
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Zu den Begleitspuren des epochalen Wandels zählt der Aufstieg neoliberaler Axiome.11 So schillernd der Begriff des Neoliberalismus im Einzelnen auch sein mag, so verweist er doch grundsätzlich auf „mehr Markt“ und „weniger Staat“ sowie auf ein Wachstumsmodell, das die Währungsstabilität als entscheidende makroökonomische Größe betrachtet (Monetarismus) und nicht mehr primär nachfrage-, sondern angebotsorientiert ist, also die Rentabilität unternehmerischen Handelns zu verbessern sucht (Angebotsökonomie). Das Programm, mit dem die Regierung Kohl 1982 startete, zielte in genau diese Richtung. Der hier nur kurz und grob umrissene Abschied von der klassischen Industriemoderne hat das Relationsgefüge der Sozialpolitik einschneidend verändert. Denn so wurden Säulen unterspült, die den Ausbau des Sozialstaats in der Boom-Periode getragen hatten: stabile Produktionsmuster, stabile Arbeitsverhältnisse, kontinuierliche Erwerbsbiographien. Die hohe Arbeitslosenquote verminderte einerseits die Einnahmen des Sozialstaats; andererseits erhöhte sie den Ausgabendruck gewaltig: Man hat die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik beispielsweise für das Jahr 1996 auf fast 160 Milliarden DM geschätzt.12 Außerdem schrumpften die Verteilungsspielräume im Maße des schwächeren Wirtschaftswachstums und der drückenden Last der Staatsverschuldung. Auch die wachsende Standortkonkurrenz machte sich sozialpolitisch bemerkbar: Die Internationalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte ermöglichte es dem „Faktor Kapital“ mehr als zuvor, sich nationalen Bindungen zu entziehen oder mit der Abwanderung zu drohen. So erhielt das Ziel, die Attraktivität des nationalen Standorts für die mobilen Produktionsfaktoren zu erhöhen, einen Rangschub nach oben, oder anders gesagt: Die Kapitalseite gewann an „Einfluss auf die nationalen Finanzen und insbesondere auch auf den Sozialhaushalt und die Verteilung der sozialen Lasten“.13 Zum Wandel der Rahmenbedingungen zählen zudem einige Verschiebungen im sozialstrukturellen bzw. sozialkulturellen Gefüge. Hier ist vor allem an den Umbruch der familiären Lebensformen und die demographische Ent11 Zum Aufstieg des neoliberalen Paradigmas in der meinungsbildenden Presse der Bundesrepublik Deutschland (mit einem Sprung nach oben 1979/1983) vgl. Thorsten LANGE, Die Bedeutung der Neuen Vertragstheorie für die Neoliberale Wende, in: Lutz RAPHAEL/Heinz E. TENORTH (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, S. 161–172. 12 Hans-Jürgen KRUPP/Joachim WEEBER, Die Zukunft des Sozialstaates vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung, in: Sozialer Fortschritt 46 (1997), S. 245–256, hier S. 249 (alle einschlägigen Ausgaben und Mindereinnahmen von Bundesanstalt für Arbeit, Bundeshaushalt, Ländern und Gemeinden, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung). 13 Hans F. ZACHER, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, Baden-Baden 2001, S. 333–684, Zitat S. 592.
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wicklung zu denken. Im Zuge der „Entstandardisierung“14 von Ehe und Familie geriet das traditionelle Leitbild des männlichen Familienernährers, der die Ehefrau mitversorgt, in zunehmende Spannung zu einer komplexeren sozialen Wirklichkeit. Die Heiratshäufigkeit sank, während die Scheidungsraten stiegen; ebenso wuchsen die Anteile der nichtehelichen Lebensgemeinschaften, der Ein-Personen-Haushalte und der Alleinerziehenden. Besonders deutlich veränderte sich das Erwerbsverhalten von Müttern: Die Erwerbsquote von Frauen mit Kindern stieg kontinuierlich und erreichte im Jahr 2000 rund 70 Prozent.15 Mit dem Rückgang der traditionellen Familie verlor der Sozialstaat eine herkömmliche Garantie unbezahlter sozialer Dienste. Somit schrumpfte eine „stille Reserve“16 der Wohlfahrtsproduktion, während neue sozialpolitische Bedarfslagen entstanden, gerade auch im familiären Bereich. Mit der Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (1985) sowie der rentenrechtlichen Anerkennung von Kindererziehungszeiten (1985) setzte die Regierung Kohl in dieser Hinsicht Akzente.17 Der für die Sozialpolitik langfristig so bedeutsame demographische Wandel ergab sich aus dem Zusammenwirken von sinkender Geburtenrate und zunehmender Lebenserwartung. Zum letzten Mal waren in der Bundesrepublik anno 1971 mehr Geburten als Sterbefälle zu verzeichnen. Pro tausend Einwohner gerechnet, fiel die westdeutsche Geburtenrate um die Mitte der 1970er Jahre auf den niedrigsten Stand in der Welt, und sie rückte bis 1987 nur bis zur vorletzten Stelle auf.18 Hingegen setzte sich der Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung in markanter Weise fort. So kam jener Prozess der Schrumpfung und Alterung der Gesellschaft in Gang, der unter dem Stichwort der „demographischen Herausforderung“ zu einem besonders brisanten Thema der sozialpolitischen Debatte avancierte. Zu den vielfältigen sozialpolitischen Aspekten der „demografischen Zeitenwende“19 zählen die wachsende Bedeutung der Pflege alter Menschen und der steigende Kostentrend der Rentenversicherung. Beide Problemkreise rückten in der Ära Kohl auf die Agenda. Darauf verweisen die Einführung der Pflegeversicherung (1994) und die im November 1989 verabschiedete „Rentenreform 1992“. Diese rentenpolitische Novelle 14 Andreas WIRSCHING, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006, S. 314. 15 Heribert ENGSTLER/Sonja MENNING, Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland, hg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2003, S. 107. 16 KAUFMANN (wie Anm. 4), S. 61. 17 Vgl. Die Ära Kohl im Gespräch: Die Familien-, Frauen- und Jugendpolitik nach 1982, in: HPM 11 (2004), S. 243–309. 18 Rainer GEIßLER , Die Sozialstruktur Deutschlands. Ein Studienbuch zur gesellschaftlichen Entwicklung im geteilten und vereinten Deutschland, Opladen 1992, S. 289. 19 Herwig BIRG, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2001.
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war die letzte der alten Bundesrepublik und zugleich die erste, die dezidiert im Zeichen der „demographischen Herausforderung“ stand. Als Spargesetz angelegt, suchte die Novelle den demographisch absehbaren Anstieg des Beitragssatzes zu verlangsamen und zu begrenzen. Ein Gesamtbild der veränderten Verhältnisse muss auch die wachsende europäische Dimension der Sozialpolitik beachten. Seit dem Maastrichter Vertrag von 1992 überlagern mittelbare und unmittelbare Vorgaben der Europäischen Union stärker als zuvor die Gestalt der nationalen Sozialstaatlichkeit. Zwar blieben die Kernbereiche der Einkommenssicherung und der Dienstleistungssysteme weitgehend in nationaler Hand, doch gingen von der EU-Politik „zur Förderung der Marktintegration und zur Stärkung des ,Wettbewerbsstaates‘“20 beträchtliche Impulse und Anpassungszwänge aus. Hinzu kam der Druck der Maastrichter Konvergenzkriterien, die finanzpolitisch disziplinierend wirken und zur Haushaltskonsolidierung mahnen. Zu all diesen komplexen Wirkungsketten trat im deutschen Fall noch eine Herausforderung allergrößten Stils: die sozialpolitische Bewältigung der Wiedervereinigung. Die Aufgabe, zwei über Jahrzehnte hinweg stark divergierende Wege deutscher Sozialstaatlichkeit zusammenzuführen und die unter massivem Zeitdruck stehende staatliche Einigung sozialpolitisch zu flankieren, schuf in vielfacher Hinsicht eine einzigartige Sondersituation. Die deutsche Einigung war ein Glücksfall der Freiheits- und Nationalgeschichte. Sie führte jedoch zu sehr hohen Folgekosten und verschärfte die latente Krise des Sozialstaats. Um die Größenordnung des Problems zu verdeutlichen, möge ein Hinweis auf die extrem hohe Sozialleistungsquote in den neuen Bundesländern genügen: Diese schwankte in den 1990er Jahren zwischen 45 und 55 Prozent.21 Die Epochenzäsur der deutschen Einigung teilt die Ära Kohl also auch auf dem Feld der Sozialpolitik in ein „davor“ und „danach“. Die Kosten des Sozialstaats zu dämpfen und die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren: Dieses Ziel besaß bis 1989 eine so hohe Priorität, dass die Sozialleistungsquote und die Staatsquote in der ersten Hälfte der Ära Kohl tatsächlich rückläufig waren. Im Zuge der deutschen Vereinigung brach die Konsolidierungstendenz dann jedoch ab: Die deutsche Sozialleistungsquote stieg in der ersten Hälfte der 1990er Jahre wieder stark an und erreichte 1996/97 den Rekordstand seit der Gründung der Bundesrepublik. Ebenso kletterten die Beitragssätze zur Sozialversicherung und die öffentlichen Schulden in dieser Zeit auf einen neuen Höchststand. Allerdings setzte 1993/94 auch wieder eine Gegentendenz ein – eine Politik der Kürzungen im Sozialbereich, hervorgerufen durch massive fis20 Manfred G. SCHMIDT, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, 3. Aufl., Opladen 2005, S. 252. 21 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), Sozialbericht 2001, BT-Drs. 14/8700 vom 21.3.2002, S. 224.
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kalische Engpässe, wirtschaftliche Rezession, die Einhaltung der Maastrichter Kriterien und die nun mit voller Wucht durchschlagende „Standortdebatte“. Die Politik der Kürzungen gipfelte 1996 in einem rigorosen Sparpaket, das gegen eine breite Ablehnungsfront und heftige Proteste der Opposition und der Gewerkschaften durchgesetzt wurde. Das Paket umfasste so scharfe Einschnitte wie die Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall um 20 Prozent. Zudem wurden einige Schutzvorschriften im Arbeitsrecht abgebaut. Die Proteststürme, die dieses Sparpaket hervorrief, passen nicht recht zu der Ansicht, es habe in den 1990er Jahren nur „sehr schüchterne Reformversuche“ gegeben.22
22 Jürgen KOCKA, Arbeiten an der Zukunft. Fragen, Ergebnisse, Vorschläge, in: DERS. (Hg.), Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Sozialwissenschaftliche Essays, Berlin 2007, S. 9–26, Zitat S. 21.
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Hans Günter Hockerts
Sozialpolitik 1982–1989 Von Manfred G. Schmidt 1. Fragestellung Die Jahre von 1982 bis 1989 sind ein weiteres dramatisches Kapitel in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik. Die seit Oktober 1982 amtierende und von Helmut Kohl geführte Koalition aus CDU, CSU und FDP verschreibt sich einer grundlegenden „Wende“ in der Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt. Mehr Markt, mehr Selbsthilfe und weniger Staat sind die Stichworte des angekündigten ordnungspolitischen Strategiewechsels. Für die Sozialpolitik heißt das vor allem Konsolidierung der Sozialfinanzen und institutionelle Reformen, und zwar in Richtung eines Umbaus, der den Sozialstaat wetterfester machen soll gegen die Stürme der Demographie und der Wirtschaft sowie gegen mögliche Begehrlichkeiten der Politik. Das Vorhaben der Regierung Kohl ist mutig – und innenpolitisch höchst umstritten. Keine der bis dahin amtierenden Bundesregierungen hatte einen ähnlich weitreichenden Politikwechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik angekündigt. Und keine hatte sich so eindeutig für die Sanierung der Staatsfinanzen einschließlich des Sozialbudgets ausgesprochen und weitere tiefgreifende Veränderungen in der Sozialpolitik in Aussicht gestellt. Wie weit kommt die Regierung Kohl mit dem Plan, zugleich die Staatsfinanzen zu konsolidieren und die Reform der Sozialpolitik einzuleiten, einen „Sozialstaatsumbau“ anzugehen, wie es alsbald in amtlichen Verlautbarungen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung hieß? Ferner: Wo liegen die Erfolge und wo die Grenzen beider Vorhaben? Und wie lassen sich Erfolge und Grenzen der Sozialpolitik von 1982 bis 1989 erklären?1 Diese Fragen zielen nicht nur auf ein sozialpolitisch interessantes Gebiet. Die Analyse der Politik der Jahre von 1982 bis 1989 ist auch deshalb lehrreich, weil sie besser als alle anderen Perioden in der Geschichte der Bundesrepublik zeigt, wie weit eine bürgerlich-liberale Regierung in ihrer Reformpolitik gehen kann und wo ihre Reformgrenzen liegen. Wie kaum eine andere Bundesregierung vor ihr, hatten die Kabinette Kohl in den Jahren 1982 bis 1989 be1
Soweit nicht anders dargelegt, basieren alle Aussagen in diesem Manuskript auf umfangreichen Auswertungen der Sozialpolitik von 1982 bis 1989, vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7: Bundesrepublik Deutschland 1982-1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, hg. von Manfred G. SCHMIDT, Baden-Baden 2005; Manfred G. SCHMIDT, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, 3. Aufl., Wiesbaden 2005; DERS., Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Institutionen, Willensbildung und Politikfelder, München 2007, S. 391–417.
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sonders günstige politische Rahmenbedingungen auch für große Wendemanöver auf ihrer Seite. Die Frage ist, inwieweit diese Bedingungen genutzt wurden oder ungenutzt blieben und welches die Gründe dafür waren. 2. Von den Erfolgen der Sozialpolitik 1982–1989 Den Regierungswechsel vom 1. Oktober 1982 nutzt die Regierung Kohl in der Sozialpolitik für beides – für finanzielle Konsolidierung und, insbesondere ab 1984/85, für institutionelle Reformen. 2.1 Finanzielle Konsolidierung Die Sanierung der Sozialfinanzen beherrscht die Sozialgesetzgebung vom Regierungswechsel im Oktober 1982 bis Ende des Jahres 1983. Ihr „Kernstück“2 besteht aus dem Haushaltsbegleitgesetz 19833 und dem Haushaltsbegleitgesetz 19844. Diese Gesetze zielen auf die rasche finanzielle Konsolidierung der Staatsfinanzen, und zwar auf der Ausgabenseite ebenso wie auf der Einnahmenseite: Neben Einschnitten bei den Sozialleistungen werden Einnahmenaufstockungen fällig. Hinsichtlich der Adressaten fällt auf, dass die Absenkung der Sozialleistungen nicht Halt vor dem – politisch besonders wichtigen – Funktionsbereich Alter und Hinterbliebene macht. Auch der Sozialausgabenanteil des Gesundheitswesens am Bruttoinlandsprodukt sinkt, ebenso der Ausgabenanteil für Ehe und Familie sowie für die Beschäftigung. Die finanzielle Konsolidierung der Jahre von 1982 bis 1989 ist in quantitativer Hinsicht sehr beachtlich. Die geplante „Sofortbremsung“ funktioniert. Sie verringert die Sozialleistungsquote, den Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt, von 33 Prozent im Jahr 1982 bis 1990 auf 29,1 Prozent. Damit schrumpft die Sozialleistungsquote um fast vier Prozentpunkte oder um rund 12 Prozent. Das ist viel, im historischen Vergleich mit den Jahren von 1950 bis 1982 ein Novum und im internationalen Vergleich höchst beachtlich.5 Denn die Koalition aus CDU, CSU und FDP beginnt mit der Konsolidierung der Sozialfinanzen früher als die meisten anderen OECDStaaten – und sie kommt dabei weiter voran als die meisten anderen Länder.
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Karl HAUCK/Karl und Yvonne BÜRSCH, Die sozialrechtliche Gesetzgebung 1982 und 1983, in: Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart, Bd. 6, Berlin 1984, S. 21–36, hier S. 21. Gesetz zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20.12.1982 (BGBl. I, S. 1857). Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe (Haushaltsbegleitgesetz 1984) vom 22.12.1983 (BGBl. I, S. 1513). Berechnungsgrundlage Organisation for Economic Co-operation and Development, Social Expenditure Statistics of OECD Member Countries, Paris 1996.
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Selbst die Reagan-Administration in den USA der 1980er Jahre und Großbritanniens konservative Regierung unter Margaret Thatcher, die sich beide einem weitreichenden Reformkurs zugunsten des Marktes verschrieben haben, sind bei dem Bemühen, die Sozialfinanzen zu drosseln, in dieser Dekade weniger erfolgreich als die christlich-liberale Regierung in Deutschland – gemessen an der erwähnten Messlatte, der Sozialleistungsquote.6 Nur in den Niederlanden und in Irland schrumpft die Sozialleistungsquote zwischen 1982 und 1990 stärker als in Deutschland, so die Ergebnisse der Auswertung von Daten der OECD. 2.2 Institutionelle Reformen Zum Erfolg bei der quantitativen Konsolidierung der Sozialfinanzen kommen vor allem seit 1984/85 institutionelle Reformen hinzu, die im Zeichen des „Sozialstaatsumbaus“ stehen und bereichsweise auch im Zeichen der weiteren Expansion der Sozialpolitik, so dass am Ende dieser Jahre das Bundesarbeitsministerium mit einer Erfolgsstory aufwartet: „Sozialstaat qualitativ und quantitativ ausgebaut“7, so heißt es in den „Sozialpolitischen Informationen“ im August 1990. Zu den Reformen gehören, ich nenne nur in Stichworten das Allerwichtigste, – die Aufwertung familienpolitischer Hilfen, unter ihnen die rentenversicherungsrechtliche Anerkennung der Kindererziehungszeiten und die Einführung des Erziehungsgeldes und eines Erziehungsurlaubes für Väter und Mütter, – der Ausbau der aktiven und der passiven Arbeitsmarktpolitik weit über das Niveau hinaus, das unter den SPD-geführten Regierungen erreicht wurde, – ehrgeizige Frühverrentungsprogramme, die in großem Umfang zur Verringerung des Arbeitskräfteangebots beitragen, allerdings um den Preis hoher Belastung des Sozialetats, – Maßnahmen zur Bewältigung der „Neuen Sozialen Frage“, wie die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Hinterbliebenenversorgung, ferner der Ausbau der Förderung von Familien mit Kindern und Alleinerziehenden und die schonende Behandlung organisationsschwacher Gruppen, beispielsweise der Sozialhilfeempfänger,
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Allerdings hatten die britische und die amerikanische Regierung in den 1980er Jahren den Vorteil eines höheren Wirtschaftswachstums auf ihrer Seite und profitierten insoweit in weit größerem Maß als Deutschland von der „anonyme(n) Sozialpolitik des Marktmechanismus“ (Hans ROSENBERG, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Frankfurt/M. 1976, S. 217). Sozialpolitische Informationen 24, Nr. 9 (1990), S. 1.
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– der Einstieg in Liberalisierungsreformen, und zwar zunächst im Mietrecht, später auch im Arbeitsmarkt insbesondere mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985, – allerdings auch die weitere Entwertung von Ausbildungszeiten in der Rentenversicherung – und die Rentenreform 1992, die durch einen ausgeklügelten Finanzierungsverbund zwischen Beitragssatz, Schwankungsreserve und einem steuerfinanzierten Bundeszuschuss zur Alterssicherung einen Schutzwall um die gesetzliche Rentenversicherung errichtet und auch deshalb im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) in den allerhöchsten Tönen gelobt wird.8 3. Gründe der Erfolge der Sozialpolitik 1982–1989 Welche Gründe hatten die Erfolge der Regierung Kohl beim Konsolidieren des Sozialbudgets und beim Einstieg in die Reformen zum Sozialstaatsumbau? Und wie gelang es der Koalition aus CDU/CSU und FDP, die politischen Gefahren zu umschiffen, die gemeinhin auf den lauern, der sich anschickt, Sozialleistungen umzubauen oder gar zurückzuschneiden? Eine sparsame und doch gehaltvolle Antwort auf diese Frage erlaubt die Theorie der reformpolitischen Gelegenheiten. Dieser Lehre zufolge haben jene Regierungen gute Chancen, größere Reformvorhaben zu planen und umzusetzen, die fünf Bedingungen erfüllen: – Erstens eine landesweite Krisenstimmung und die landesweit verbreitete Überzeugung, dass zur Lösung der Krise ein Politikwechsel nötig ist, – zweitens ein ausdrückliches Mandat für die Reform, – drittens ein Honeymoon-Effekt, nämlich der Vorteil, dass die Wähler in der Zeit kurz nach einem Regierungswechsel die Fehler, Schwächen und Kosten neuer Maßnahmen den Regierungen nachsehen oder hauptsächlich als Folge des Erbes der Vorgängerregierung werten, – viertens eine schwache bzw. diskreditierte Opposition und – fünftens politisch-ideologische Homogenität der Regierungsparteien.9 8
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Dieser Verbund stelle sicher, so urteilte später das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) in einer Schrift zum zehnjährigen Dienstjubiläum des Bundesarbeitsministers Blüm, dass keiner „übervorteilt oder abgehängt“ würde (BMA, Norbert Blüm, 10 Jahre Bundesarbeitsminister, Bonn 1992, S. 20). Stolz fügten die Verfasser dieses Berichts hinzu, der Finanzierungsverbund verdiene eigentlich das Prädikat „genial“. Zukünftige finanzielle Belastungen der Alterssicherung würden mit ihm durch einen „sich selbst steuernden Regelkreis auf Beitragszahler, Rentner und Bund aufgeteilt“. Für die Regelung dieser Belastungsverteilung sei der Gesetzgeber überhaupt „nicht mehr erforderlich“ (alle Zitate EBD.). Joe WALLIS, Conspiracy and The Policy Process. A Case Study of the New Zealand Experiment, in: Journal of Public Policy 17, Nr. 1 (1997), S. 1–30.
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Die meisten dieser Bedingungen erfüllt die christdemokratisch-liberale Koalition in den Jahren von 1982 bis 1989. Im Lande herrscht allgemein die Überzeugung, dass zur Bewältigung der Krisenlage ein größerer Politikwechsel vonnöten sei, wenngleich die Vorstellungen von der Richtung dieses Wechsels auseinandergehen. Zudem kann die seit Oktober 1982 amtierende neue Regierung auf einen Honeymoon-Effekt zählen. Dieser währt sogar bis ins Jahr 1984, bis die Konflikte zwischen Bund und Ländern über Finanzierungsfragen und der Streit zwischen dem Wirtschaftsflügel und dem Arbeitnehmerflügel der christlich-liberalen Koalition härter werden. Ferner ist die parlamentarische Opposition geschwächt, nicht zuletzt aufgrund mangelnder Geschlossenheit und parteipolitischer Spaltung zwischen SPD und Grünen. Vor allem aber mangelt es der Opposition bis Mitte 1990 an Vetomacht im Bundesrat – bis dahin liegt die Mehrheit im Bundesrat auf Seiten von CDU- bzw. CSU-geführten Regierungen. Somit hat die Regierung Kohl von 1982 bis 1989 den großen Vorteil übereinstimmender Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat und im Bundestag auf ihrer Seite – eine in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland relativ seltene Konstellation. Zudem ist das Regierungslager in politisch-ideologischer Hinsicht vergleichsweise homogen und kann somit seinen komfortablen Stimmenvorsprung im Bundestag nutzen, sowohl für die Konsolidierung des Sozialbudgets als auch für die institutionellen Reformen. Außerdem kann sich die Regierung Kohl auf ein Mandat für ihre Konsolidierungspolitik berufen. Dieses Vorhaben hat sie nämlich im Wahlkampf zu der vorgezogenen Bundestagswahl vom März 1983 unmissverständlich angekündigt und kann den Sieg in dieser Wahl auch als grünes Licht für die Konsolidierungspolitik werten. Ungewöhnlich günstige politische Rahmenbedingungen fördern demnach die Politik der finanziellen Konsolidierung der Regierung Kohl in den 1980er Jahren. Zugute kommt ihr ferner ein Politikstil, der einerseits durch gezielten Termindruck Tempo macht und andererseits auf ein hohes Maß an Abschottung der Politik gegenüber den Sonderinteressen setzt. Die Konsolidierungspolitik wird in einem relativ kleinen Kreis von Experten der Regierungsparteien und der Ministerialverwaltung unter forciertem Zeitdruck formuliert und beschlossen.10 Das erschwert den Bundestagsfraktionen der Parteien und den Interessenverbänden die sonst üblichen Mitwirkungsgelegenheiten. Relativ günstige wirtschaftliche und demografische Konstellationen kommen hinzu. Vom allmählichen Aufschwung der Wirtschaft profitiert die Finanzpolitik der Regierung Kohl ebenso wie von demografischen Bedingungen: 10 Reimut ZOHLNHÖFER, Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl. Eine Analyse der Schlüsselentscheidungen in den Politikfeldern Finanzen, Arbeit und Entstaatlichung, 1982–1998, Opladen 2001.
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Noch schreitet die Alterung der Gesellschaft nicht voran. Noch bleibt der Altenquotient konstant, und der Anteil der jugendlichen Bevölkerung ist sogar leicht rückläufig. Das entlastet die Sozialpolitik der 1980er Jahre und vergrößert ihren Spielraum auch für neue Reformen. Und dieser Spielraum wird nach den Jahren der finanziellen Zurückhaltung weidlich genutzt – zum großen Erstaunen von liberalen und konservativen Bündnispartnern der Regierung Kohl, die die Wende-Programmatik ernster genommen hatten. 4. Von den Grenzen der Sozialpolitik 1982–1989: Warum keine größere Wende? Ein Zweites ist an der Sozialpolitik von 1982 bis 1989 erklärungsbedürftig: Warum war die Koalition aus CDU, CSU und FDP auf dem Weg der finanziellen Konsolidierung nicht noch weitergegangen? Warum gelang es der Regierung Kohl nicht, die Sozialbeiträge zu senken und damit die Kostenbelastung des Faktors Arbeit zu verringern und hierüber das Vollbeschäftigungsziel anzusteuern, von dem der Bundesarbeitsminister dieser Jahre zu Recht sagte, dass dies die entscheidende Voraussetzung für weiteren Erfolg sei?11 Warum lagen die Sozialbeiträge am Ende der 1980er Jahre mit 17,8 Prozent sogar um 0,8 Prozentpunkte über dem Stand von 1982?12 Warum folgte die Politik der finanziellen Konsolidierung im Wesentlichen den Pfaden der Wirtschafts- und Sozialpolitik der 1970er Jahre? Warum hatte die christlich-liberale Koalition auf „radikale chirurgische Eingriffe verzichtet“13 und sich letztlich mit einer gemäßigten „Wendepolitik“14 zufrieden gegeben? Und warum unterblieb die Weiterführung der quantitativen zur qualitativen, nachhaltigen Konsolidierung, so das Urteil des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamt-
11 Blüm hatte wiederholt dargelegt, dass alles „zur selben Frage“ zurückführe, nämlich „zur Frage Vollbeschäftigung, Vollbeschäftigung und nochmals Vollbeschäftigung. Wenn wir diese Hausaufgabe nicht erledigen, können wir auch die weiteren Aufgaben nicht erledigen.“ (Interview im „General-Anzeiger“, Bonn vom 31.8.1983). Doch diese Aufgabe blieb bis zum Ende der Ära Kohl – und darüber hinaus – unerledigt. Darüber konnte nur zum Teil hinwegtrösten, dass die Zahl der Beschäftigten, vor allem auch der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, wieder zunahm und Ende der 1980er Jahre sowie 1990 in hohem Tempo wuchs. 12 Gemessen am Arbeitnehmerbeitrag zur Sozialversicherung in Prozent des Bruttoarbeitsentgelts (Hermann BERIÉ, Statistische Übersichten zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. vom BMA, Bonn 1999, S. 146). 13 So der Befund eines regierungsfreundlichen Kommentators: Henrik BERING, Helmut Kohl, Washington D.C. 1999, S. 217. 14 So auch das Fazit neutraler Beobachter: Douglas WEBBER, Kohl’s Wendepolitik after a Decade, in: German Politics 1, H. 2 (1992), S. 149–180; Andreas WIRSCHING, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik 1982–1990 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 6), Stuttgart 2006, S. 700.
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wirtschaftlichen Entwicklung?15 Die Gründe dafür sind zahlreich. Elf sind besonders wichtig. Kein Masterplan Zu den Gründen der gemäßigten Wendepolitik zählt erstens die Tatsache, dass den Unionsparteien und der FDP ein ausgereifter Plan sowohl für die finanzielle Sanierung des Sozialbudgets als auch für die institutionelle Reform der Sozialpolitik fehlt. Und nichts hat man in der Tasche, um die politischen Kosten zu decken, die die angestrebten Konsolidierungs-, Umbau- und Rückbaureformen verursachen würden. Garantie der Tarifautonomie Zweitens kommen schon in den ersten Tagen nach dem Regierungswechsel sachpolitische Entscheidungen zustande, die den zukünftigen Handlungsspielraum in großem Umfang vorstrukturierten, und zwar ohne weitere Prüfung, ob diese zur angestrebten „Wende“ passen würden. Helmut Kohl verspricht in seiner ersten Regierungserklärung, er werde die Tarifautonomie uneingeschränkt respektieren. Damit lässt die Regierung Kohl den Sozialpartnern freien Lauf und nimmt ein erhebliches Desorganisationspotenzial in Kauf, nämlich die Lohnpolitik der Tarifparteien und ihre Neigung, Verträge zu Lasten Dritter abzuschließen, auch zu Lasten der Sozialversicherungen. Damit begibt sich die Bundesregierung der Chance, auf dem Wege der Androhung staatlicher Eingriffe, wie in den Niederlanden, die Sozialpartner zur Akzeptanz wirtschaftspolitischer Weichenstellungen der Regierung zu bringen. Sozialstaatsfreundliche Personalpolitik Hinzu kommen grundlegende Personalentscheidungen, die allesamt in Richtung eines starken Sozialstaates zielen. Alle für die Sozialpolitik wichtigen Bundesministerien werden von profilierten Sozialstaatspolitikern besetzt, von Politikern, von denen man eher die Expansion der Sozialpolitik als ihre Rückstufung erwarten konnte. Zum Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung wird Norbert Blüm (CDU) ernannt, der sich in der Sozialpolitik vorzüglich auskennt und innerparteilich zur „ersten Garnitur“16 der CDU zählt. Zum Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit wird Heiner Geißler (CDU) erkoren, der sich in der Sozialpolitik durch Reformen auf Landesebene einen Namen gemacht hatte. Wie Blüm befürwortet auch Geißler eine handlungsfähige, weit ausgebaute, ehrgeizige Sozialpolitik. Dabei will er in besonderem 15 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1997/1998, Stuttgart 1997, Ziffer 239. 16 Walter KANNENGIEßER , Eine neue Koalition – die alten Probleme, in: Deutsche Angestelltenversicherung 11 (1982), S. 423–427, Zitat S. 424.
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Maße auch zur Bewältigung der „Neuen Sozialen Frage“ beitragen, insbesondere durch Politik für wenig organisations- und konfliktfähige Gruppen. Das Amt des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau schließlich, das dritte sozialpolitisch wichtige Bundesministerium, wird Oskar Schneider (CSU) übertragen. Auch Schneider hängt der Idee eines starken Sozialstaats an. Somit ist die Ausgangslage die eines zum Sozialstaat geneigten Kompromisses zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Einem starken marktorientierten Bundesfinanzminister, Gerhard Stoltenberg, stehen drei standhafte, engagierte Befürworter eines starken Sozialstaats als Leiter der drei Sozialstaatsministerien der Regierung Kohl gegenüber. Konstanter politisch-administrativer Zuschnitt der Regierung Erstaunlicherweise belässt es die Regierung Kohl beim politisch-administrativen Zuschnitt der Bundesregierung. Dieser wird fast zur Gänze von der Vorgängerin übernommen, jedenfalls in den für das Wendevorhaben zentralen sozial- und wirtschaftspolitischen Arbeitsfeldern. Damit übernimmt die CDU/ CSU-FDP-Koalition eine departementalisierte Problemverarbeitungsstruktur, von der nicht die optimale Unterstützung der angestrebten Wendepolitik zu erwarten war. Im Gegenteil: Die separate Organisation der Arbeits- und Sozialpolitik in dem mächtigen und einflussreichen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung ist geradezu die Garantie dafür, dass weitreichende Wandlungen der Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt auf den Widerstand dieses Ministeriums und seines Ministers treffen würden. Keine Verfassungsänderung Erstaunlicherweise verzichtet die Regierung Kohl auch auf jeglichen Versuch, ihr Wendevorhaben über Verfassungsänderungen abzusichern. Zwar ist dieser Verzicht verständlich, weil für Verfassungsänderungen die Zustimmung der sozialdemokratischen Opposition, die über eine Sperrminorität im Bundestag verfügte, erforderlich gewesen wäre. Doch kann man wirklich eine fundamentale Wende in der Arbeitsteilung von Staat und Markt herbeiführen, ohne auch nur ein Jota an der Verfassung zu ändern? Kann man ernsthaft die Arbeitsteilung von Staat und Markt neu ordnen, ohne die bundesstaatliche Finanzverfassung grundlegend zu reformieren, Bund und Länder in der Gesetzgebung zu entflechten und den Föderalismus in Richtung Wettbewerbsföderalismus weiterzuentwickeln? Scharfer Regierungs-Oppositions-Konflikt und paradoxe Effekte des „Tandems Blüm-Dreßler“ Hinzu kommt der scharfe Konflikt zwischen Regierung und Opposition in der Sozialpolitik. Die sozialdemokratische Opposition und die Gewerkschaften at-
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tackieren die Konsolidierungs- und die Umbaupolitik der Regierung Kohl im Sozialbereich auf Schärfste. „Sozialabbau“, „Spaltung der Gesellschaft“, „Verarmung eines Drittels der Gesellschaft“, Demokratie gefährdende Rückbaumaßnahmen und anderes mehr werden der christlich-liberalen Koalition vorgehalten. Mit Rudolf Dreßler kommt aus den Reihen der SPD zudem ein – ebenso wie Norbert Blüm – sachkundiger und engagierter Sozialpolitiker ins Rampenlicht, der schließlich zum wichtigsten sozialpolitischen Gegenspieler von Blüm wird. Dass hieraus am Ende das „Tandem Blüm-Dreßler“17 entsteht und als „Sperre“ eines tief greifenden Wandels der Sozialpolitik sowohl in der Koalition als auch in der Opposition wirkt18, ist nicht zu weit hergeholt. In der SPD kann Dreßler parteiinternen Kritikern stets mit dem Argument begegnen, dass gegen „den Blüm“ nicht mehr zu machen gewesen sei. Umgekehrt wirken die unablässigen Attacken der SPD im Regierungslager. Denn der potenziell werbewirksame Feldzug von SPD und Gewerkschaften gegen die – wie beide meinten – „Sozialdemontage“ der CDU/CSU-FDP-Koalition erschwert den innerkoalitionären Kritikern von Blüms Sozialpolitik das Werk nachhaltig. Machterhalt und Machterwerbsstreben Doch das passt zugleich zum Machterhalts- und Machterwerbsstreben der Unionsparteien und der Liberalen. Dass sich die Regierung Kohl in der Sozialpolitik der 1980er Jahre mit einer markanten, aber am Ende gemäßigten Konsolidierungs- und Reformpolitik begnügt, hat viel mit der Befürchtung zu tun, man würde den Wählern zu viel zumuten, wenn man die finanzielle Konsolidierung beherzt fortführen und durch tiefgreifende Strukturreformen ergänzen würde. Dass diese Befürchtung nicht ganz unbegründet ist, scheinen viele Landtagswahlen der 1980er Jahre zu lehren. Nicht wenige dieser Wahlen verliert die CDU, und das lässt den komfortablen Stimmenvorsprung der CDU/ CSU-geführten Länder im Bundesrat allmählich schmelzen. Das wird teils zu Recht, teils zu Unrecht, aber immer mit beträchtlicher argumentativer Wirkkraft in Verbindung mit der Konsolidierungspolitik und mit Strukturreformvorhaben der Regierung Kohl gebracht. So wirken wahlpolitische Sperren gegen weiterführende, ehrgeizigere Konsolidierungs- und Strukturreformen der Regierung Kohl. Selbstbeschränkung und Pragmatismus Hinzu kommen Selbstbeschränkungen des christdemokratischen Partners der bürgerlich-liberalen Koalition. Strebt die Union unter Kanzler Kohl wirklich 17 Interview mit Julius Louven (CDU) am 24.6.1999 (zit. nach dem Gedächtnisprotokoll des Interviewers Sven Jochem). 18 Interview mit Johannes Strasser (SPD) am 22.1.2006 (zit. nach dem Gedächtnisprotokoll der Interviewerin Antonia Gohr).
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ernsthaft nach einer fundamentalen Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik? Zweifel sind angebracht. „Maggie Thatcher ist kein Modell für Strukturwandel. Unsere Sozialtradition ist Kooperation und Rücksicht“ – mit diesen Worten begründete Norbert Blüm die Distanz zu Thatcher und Reagan.19 Damit sprach er vielen in der Union aus dem Herzen, auch seinem Kanzler, der in den 1980er Jahren die Sozialpolitik bei Blüm „in guten Händen“ gesehen und dem Bundesarbeitsminister „blind“ vertraut hatte.20 Dass eine radikale Wende der Wirtschafts- und Sozialpolitik der christlichliberalen Koalition ausbleibt, hängt insoweit auch am wirtschafts- und sozialpolitischen Pragmatismus der Führungsmannschaft und allen voran des Kanzlers der Koalition. Kohl sieht ohnehin seine eigentliche „Mission“ in der Außen-, der Europa- und der Deutschlandpolitik. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik ist ihm nicht unwichtig und insbesondere wahlpolitisch von größter Bedeutung, aber sie ist kein Feld, auf dem Kohl sich in besonderem Maße zu profilieren gedenkt. Die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung scheint seinen Pragmatismus zu bestärken. Hat man nicht die vordringlichsten Aufgaben mit der Sofortbremsung der Staatsfinanzen von 1983 und 1984 erledigt? Ging es nicht mit der Wirtschaft wieder bergauf? Nahm nicht die Inflationsrate wieder ab? Und hatten sich nicht auch koalitionsinterne Veränderungen ergeben, die die auf Liberalismus geeichten Blickwinkel schwächten? Vor allem mit dem Rücktritt von Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff (FDP) im Jahre 1984 hatte die wirtschaftsliberale Richtung in der Koalition einen einflussreichen Fürsprecher verloren. Der „Faktor Blüm“ Die insgesamt moderate Konsolidierungspolitik der Regierungen Kohl in den 1980er Jahren kann allerdings ohne den „Faktor Blüm“ nicht zureichend erklärt werden.21 Mit Norbert Blüm hat die Koalition aus CDU, CSU und FDP einen tatkräftigen, populären, einflussreichen Arbeits- und Sozialminister in ihren Reihen, der in der katholischen Soziallehre und in der katholischen Arbeiterbewegung fest verankert ist, innerparteilich wichtige Positionen innehat – unter anderem als Vorsitzender der Sozialausschüsse bis 1987 und als CDUVorsitzender Nordrhein-Westfalens ab 1987 –, und dessen Tun und Lassen im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung obendrein von wahlpolitisch größter Bedeutung ist: Die Zahl derer, die ihren Lebensunterhalt über-
19 „Ich mag kein Korsett“, Arbeitsminister Norbert Blüm über „Menschenrechte, Steuern und den Kurs der Union“, in: „Der Spiegel“ vom 13.7.1987, S. 28–32. 20 Wie Anm. 17. 21 Gleiches gilt für die institutionellen Reformen der Sozialpolitik in den 1980er Jahren, vgl. hierzu im Detail die Beiträge zu den einzelnen Sozialpolitikfeldern in BMA/BA 2005 (siehe Anm. 1).
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wiegend aus Sozialleistungen bestreiten und die Zahl derer, die im Sozialstaat und seinen Zulieferbetrieben beschäftigt sind, macht Anfang der 1980er Jahre mindestens ein Drittel der Wählerschaft aus.22 Das große wahlpolitische Gewicht der Sozialpolitik kommt dem BMA und seinem Bundesarbeitsminister Blüm in besonderem Maße zugute und wertet dessen sozialpolitische Hauptanliegen und die seines Hauses weiter auf. Blüm akzeptiert eine gemäßigte finanzielle Konsolidierung der Sozialpolitik, trägt diesen Kurs mit, doch schlägt sein Herz in der Sozialpolitik nicht für die Konsolidierung, sondern für zwei andere Vorhaben: Er will erstens einen leistungsstarken Sozialstaat aufrechterhalten und, wo möglich, noch wetterfester machen gegen wirtschaftliche, demografische und politische Gefahrenlagen. Das zweite Hauptanliegen wurzelt in der Überzeugung, dass die schwächsten Gruppen der Sozialpolitik bei den Altersrentnern zu suchen seien und dass deshalb eine belastbare, krisenfeste und auch gegen Regierungswechsel geschützte Alterssicherungspolitik in den Bahnen der beitragsbezogenen und lohnbasierten Rentenversicherung der beste Weg der Rentenpolitik sei. Daraus ergibt sich auch eine klare Position in der Debatte um eine Reform der Sozialpolitik. Blüms Sozialpolitikprogramm bedeutet im Wesentlichen Priorität für die bestehende Struktur der Gesetzlichen Rentenversicherung und anderer Sozialversicherungen und ein kategorisches „Nein!“ zu allen hiervon abweichenden Reformvorschlägen. Dahinter steht eine weitere feste Überzeugung des Bundesarbeitsministers: Die Rentenversicherung ist für ihn die entscheidende Bastion im Kampf um den Sozialstaat. Würde sie durch Strukturreformen aufgeweicht, beispielsweise durch stärkere Steuerfinanzierung oder Aufbau einer starken privaten Altersvorsorge oder Grundsicherung, käme alles Übrige ins Rutschen. Dann würden auch die Halteseile der Arbeitgeberbeiträge für die Krankenversicherung und für die Arbeitslosenversicherung reißen und die Arbeitgeber würden der Versuchung erliegen, sich aus der Sozialversicherungssolidarität davonzumachen. Doch solche Veränderungen würden alsbald den Sozialstaat insgesamt infrage stellen, und das müsse auf jeden Fall vermieden werden. Der „Faktor BMA“ Bei diesem Vorhaben und anderen, die ebenfalls auf einen ehrgeizigen Sozialschutz zielten, stand Blüm mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, dem BMA, ein Ministerium zur Seite, in dem eine große Zahl engagierter, sachkundiger und durch „Korpsgeist“ verbundener Mitarbeiter wirkte. „Überzeugungsmitarbeiter“ nannte sie Blüm voller Lob bei seinem Ab22 Paul PIERSON, Coping with Permanent Austerity. Welfare Restructuring in Affluent Democracies, in: DERS. (Hg.), The New Politics of the Welfare State, Oxford 2001, S. 410– 456, hier S. 412.
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schied aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, das für ihn ein Teil seines „Zuhauses“ geworden war.23 Beide, der Minister und das Ministerium, einte die Mission, eine sozialstaatliche Balance zu wahren, die Sozialpolitik an die neuen wirtschaftlichen und demografischen Herausforderungen anzupassen, zu befestigen und auch gegen politische Begehrlichkeiten, einschließlich der Wirkungen von Regierungswechseln, wetterfest zu machen. Beide wussten sich mit diesem Anliegen, gestärkt durch die unablässigen Attacken der parlamentarischen Opposition und der Gewerkschaften, in den 1980er Jahren, politisch vorzüglich positioniert: Blüm im Kabinett und auf dem Wählerstimmenmarkt, und das BMA im interministeriellen Willensbildungsprozess. Damit war aber auch klar, dass die Regierung Kohl von der Seite des sozialpolitisch zentralen Ministeriums und dessen Ministers auf keine Unterstützung hätten rechnen können, wenn sie denn vorgehabt hätten, auf dem Weg der finanziellen Konsolidierung viel weiter voranzuschreiten und bei den Strukturreformen zu anderen Ufern aufzubrechen als tatsächlich geschehen. Wahlen, Wähler und die Sozialstaatsklientel Schlussendlich ist die Durchschlagskraft von Wahlen und Wählern nicht zu übersehen. Wenig wären die bislang erörterten Einflussfaktoren ohne die breite Zustimmung in der Wählerschaft zum Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland und die engen Grenzen, die die Wählermehrheit für den Sozialstaatsumbau und für Einschnitte bei den Sozialleistungen zieht. Und somit reflektiert die Tatsache, dass die Koalition aus CDU, CSU und FDP ihren großen Handlungsspielraum nicht für eine umfassende Wende nutzt, sondern für eine markante, aber letztlich gemäßigte Konsolidierungs- und Reformpolitik, auch die Zufriedenheit der Mehrheit der Wähler mit dem Status quo der Sozialpolitik in den 1980er Jahren. Auf dem Wählerstimmenmarkt, so muss man dem besseren Verständnis halber hinzufügen, hat die Sozialstaatsklientel, also die Wählerschaft, die in ihrer Lebensführung überwiegend oder ausschließlich auf die Sozialpolitik angewiesen ist, obendrein mittlerweile einen sehr hohen Marktanteil errungen: Dieser Anteil lag 1970 noch bei rund 27 Prozent, 1980 aber war er schon auf etwa 33 Prozent geklettert – mit weiter steigender Tendenz.24
23 Norbert BLÜM, „Abschied vom BMA“, Rede vom 28. Oktober 1998, in: Norbert BLÜM, Das Sommerloch. Links und Rechts der Politik, Köln 2001, S. 145–147, Zitate S. 146. 24 PIERSON, New Politics (wie Anm. 22), S. 412. Zugrunde liegen Schätzungen der Zahl der Sozialleistungsempfänger und der im Sozialstaat Beschäftigten. Fünf Jahre nach der deutschen Einheit war dieser Anteil, Pierson zufolge, auf 51 Prozent gestiegen (EBD. S. 413). Neuere Daten (Bundesministerium für Arbeit und Soziales [Hg.], Statistisches Taschen-
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5. Bilanz und Ausblick Die Sozialpolitik von 1982 bis 1989, also bis zum Vorabend der Politik zur deutschen Einheit, hatte beachtliche Erfolge: Bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen ging sie weiter als alle Vorgänger und weiter als die Sozialpolitik der meisten anderen Industrieländer in dieser Zeit. Hinzu kam der Einstieg in die institutionelle Reform der Sozialpolitik. Gemessen an den Zielen der Regierung Kohl war beides ein Erfolg. Erklärbar sind diese Erfolge durch die konsequente Nutzung der reformpolitisch besonders günstigen Gelegenheiten in den 1980er Jahren. Andererseits sind die Grenzen der „Wende“ auch in der Sozialpolitik unübersehbar. Die „Wendepolitik“ ist weit weniger radikal als von ihren Anhängern erhofft und ihren Gegnern befürchtet. Auch dies verlangt nach Erklärung. Und die liegt weniger in der Ökonomie oder in der Gesellschaft, sondern in der Politik. Und dort ist sie nicht primär im Nicht-Anders-Können zu suchen, insbesondere in den institutionellen Begrenzungen und den mächtigen Vetospielern, wie Andreas Wirsching in seinem wichtigen Buch zur Ära Kohl argumentiert hat,25 sondern hauptsächlich darin, dass die Hauptakteure der Regierungskoalition und ihre Wählerschaft letztlich keine radikale Wendepolitik wollten.
buch 2007 – Arbeits- und Sozialstatistik, Bonn 2007) zeigen einen noch höheren Anteil der Sozialstaatsklientel an der Wählerschaft an, und dabei ist der Anteil der direkt in der Sozialverwaltung und Sozialpolitik Beschäftigten noch nicht einmal mitgerechnet. 25 WIRSCHING (wie Anm. 14).
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Sozialpolitik im Prozess der Wiedervereinigung Von Gerhard A. Ritter Trotz der Einengung des Spielraums nationaler Sozialpolitik durch die Europäisierung und Globalisierung hat es in den Jahren 1982 bis 1989 einige, gerade auch im internationalen Vergleich bemerkenswerte Ansätze zur Anpassung des deutschen Sozialstaates an die neuen Bedingungen gegeben. Die Zahl der Erwerbstätigen in der alten Bundesrepublik nahm von 1983 bis 1991 auch aufgrund der guten Konjunktur von 1988/1989 und dem Vereinungsboom der beiden folgenden Jahre um über 2 Millionen zu. Die Arbeitslosigkeit sank im Jahresdurchschnitt von 9,1 auf 6,3 Prozent,1 die Sozialleistungsquote ging 1982–1991 um etwa 4 Prozentpunkte zurück.2 Auch der Anstieg der Gesundheitskosten wurde gebremst und die Rentenversicherung durch eine am 9. November 1989 – am Tage des Mauerfalls – vom Deutschen Bundestag im Einvernehmen der großen Parteien und der Sozialpartner verabschiedete große Rentenreform auf eine neue Grundlage gestellt. Gleichzeitig wurden die Leistungen für Familien unter anderem durch die Anerkennung von Kindeserziehungszeiten in der Rentenversicherung erhöht. Daneben wurde eine gewisse Flexibilisierung des Kündigungsschutzes erreicht.3 Es schien möglich, das „Modell Deutschland“, also die sozialverträgliche Gestaltung des Strukturwandels von der Industriegesellschaft zur modernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft durch eine enge Zusammenarbeit von Staat und Sozialpartnern zur Absicherung gegen die sozialen Folgekosten dieser Prozesse im so genannten „Rheinischen Kapitalismus“ – jedenfalls in seinen Grundzügen – zu erhalten. Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion, die deutsche Wiedervereinigung und die damit verbundene Überwindung der Spaltung Europas gehören zu den großen Zäsuren nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen und der Weltgeschichte; sie sind auch ein tiefer Einschnitt in der Geschichte des deutschen Sozialstaates. Mit der Wiedervereinigung sind 1 2 3
Hermann BERIÉ, Statistische Übersichten zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. West, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1999, S. 21, 121. Sozialbericht 2005, hg. v. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Bonn 2005, S. 192f. Zur Sozialpolitik der Zeit von 1982–1989 vgl. Manfred G. SCHMIDT (Hg.), 1982–1989. Bundesrepublik Deutschland. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Bd. 7 des Werkes Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv, Baden-Baden 2005; Jens ALBER, Der deutsche Sozialstaat in der Ära Kohl. Diagnosen und Daten, in: Stephan LEIBFRIED/Uwe WAGSCHAL (Hg.), Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/M. 2000, S. 235–275.
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die Tendenzen zur Konsolidierung des Sozialstaates und der öffentlichen Finanzen abrupt abgebrochen worden. Es kam zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit, der Lohnnebenkosten, der Sozialleistungsquote und der Staatsverschuldung.4 In diesem Beitrag wird nun erstens die These vertreten, dass die Wiedervereinung die latente Krise des deutschen Sozialstaates, deren tiefere Ursachen – die Alterung der Bevölkerung, der Rückgang der Bedeutung der Familie als Schutz gegen Lebensrisiken, die Explosion der Gesundheitskosten, die Veränderung der Arbeitswelt (insbesondere durch den Abbau der sozialversicherungspflichtigen Vollerwerbstätigkeit), die mangelnde Flexibilität des Arbeitsrechts und die Verschärfung des Wettbewerbs durch die Europäisierung und Globalisierung – hier nur angedeutet werden können, ganz entscheidend verschärft hat. Nach Berechnungen der OECD5, aber auch einer Schätzung des Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Axel Weber, vom September 20056 sind zwei Drittel der mangelnden Leistungsfähigkeit („underperformance“) der deutschen Wirtschaft auf die Wiedervereinigung zurückzuführen. Das ist natürlich nicht genau zu quantifizieren. In jedem Fall hat Deutschland aber neben den allgemeinen Problemen, die alle europäischen Sozialstaaten haben, noch ein spezifisches, bedeutendes Sonderproblem durch die Wiedervereinigung. Eng verbunden mit dieser ersten These ist die zweite These, dass es angesichts der Dynamik des Einigungsprozesses und der Konstellation der politischen Kräfte letztlich keine Alternative zu der Übertragung des bundesdeutschen Sozialstaates in den Osten gegeben hat, ohne dass damit einige der hier noch zu behandelnden, schwerwiegenden Fehler in der Sozialpolitik der Vereinigung im Einzelnen abgestritten werden sollen. Drittens ist schließlich nicht zu übersehen, dass die Perspektive der ersten freien Wahlen für die Volkskammer in der DDR am 18. März 1990 und vor allem der Ende 1990 fälligen Bundestagswahl die Außen-, Innen- und vor allem auch die Sozialpolitik der Wiedervereinigung überlagerte. Dadurch und durch das Verhalten der politischen Akteure, die schnell erkannten, dass die Wiedervereinigung zum zentralen Wahlkampfthema werden würde und der Ausgang der Wahlen stark von der Abstimmung der neuen Bürger im Osten abhängig sein würde, wurde die Politik wesentlich mitbestimmt. Sowohl das Timing des berühmten Zehn-Punkte-Programms Kohls vom 28. November 4 5 6
BERIÉ, Statistische Übersichten (wie Anm. 1), S. 121; Sozialbericht 2005 (wie Anm. 2), S. 192f.; Die Entwicklung der Staatsverschuldung seit der deutschen Vereinigung, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht 49 (1997) 3, S. 17–32. Erwähnt in Richard SCHRÖDER, Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit, Freiburg i. Br. 2007, S. 206. Interview mit Axel Weber, in: „The Guardian“, 10.9.2005, abgedruckt in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 39, 14.9.2007, S. 3f.
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19897 wie auch das Angebot der Währungsunion vom 7. Februar 19908 wurden auch dadurch mitbedingt, dass Kohl die deutschlandpolitische Initiative gewinnen bzw. behalten wollte. Das weder mit den Westmächten noch mit Genscher abgesprochene Zehn-Punkte-Programm sollte vor allem die „deutsche Frage“ auf die Tagesordnung der internationalen Politik setzen. Kohl wollte aber auch verhindern, dass das Thema der deutschen Einigung von der Sozialdemokratie auf ihrem bevorstehenden Parteitag im Dezember 1989 okkupiert wurde.9 Mit dem gegen den Rat der Bundesbank und fast aller Wirtschaftsexperten erfolgenden Angebot der Währungsunion wollte Kohl in erster Linie für die Bevölkerung der DDR ein Signal zum Bleiben in ihrem Land setzen und den Prozess der Vereinigung durch den Verzicht auf den Umweg über die zunächst in Aussicht genommene Vertragsgemeinschaft und konföderative Strukturen beschleunigen und unumkehrbar machen. Er wollte aber auch dem gerade erst unter seinem Einfluss gebildeten DDR-Parteienbündnis, der „Allianz für Deutschland“ mit der CDU als der stärksten Partei, ein zugkräftiges Programm für die bevorstehenden Volkskammerwahlen geben.10 Schließlich zielte auch der günstige Umrechnungskurs bei der Umstellung von Ost-Mark in D-Mark von 1:1 für Renten, Löhne und Gehälter sowie die äußerst großzügige Regelung der Rentenumstellung im Osten11 gerade auch auf die neuen Wähler in der früheren DDR. In diesem Beitrag sollen zunächst die Konstellation der politischen Kräfte und die Entscheidungsprozesse in der Einigungspolitik auf sozialpolitischem Gebiet analysiert werden. Dann will ich die bereits erwähnte Frage erörtern, ob es Alternativen zur Übertragung des bundesdeutschen Sozialstaates auf die neuen Bundesländer gab, und zweitens, welche vermeidbaren Fehler bei der Übertragung gemacht wurden. Anschließend will ich noch kurz auf den Zusammenhang zwischen der Vereinigung und der Krise des deutschen Sozialstaates 7 Vgl. Protokolle des Bundestages, 11. Wahlperiode, 28.11.1989, S. 13512. 8 Text der Erklärung „Währungsunion mit Wirtschaftsreform“, in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (Dokumente zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs), bearb. v. Hanns Jürgen KÜSTERS und Daniel HOFMANN, München 1998, Dokument Nr. 165B, S. 768–770. 9 Vgl. dazu Kohls Rede vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 27.11.1989, Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung [ACDP] 08-001-1091/2. 10 Die parteipolitischen Motive wurden besonders betont in der Empfehlung vom 2.2.1990 an Kohl zur Einführung einer Währungsunion von Norbert Prill, Klaus Gotto, Michael Mertes, Johannes Ludewig und Siegbert Nehring, engen Mitarbeitern von Kohl im Bundeskanzleramt. Abdruck in: Dieter GROSSER, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln (Geschichte der deutschen Einheit 2), Stuttgart 1998, S. 175–177. 11 Vgl. z. B. Blüm an Kohl, 9.2.1990 mit der Anlage: Entwurf von Fragen des Bundeskanzlers an Ministerpräsidenten Modrow, Bereich: Sozial-Union, Bundesarchiv [BArch], B 136/ 21660.
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eingehen und die Entstehung der Pflegeversicherung als bedeutendste Neuschöpfung des deutschen Sozialstaates in den frühen 1990er Jahren erörtern. Die allerdings weitgehend gescheiterten Versuche, nach dem Eintreten einer Wirtschaftskrise im Herbst 1992 zur Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland auch die Ausgaben für die Sozialpolitik entscheidend einzuschränken, werde ich dagegen ausklammern, da sie meines Erachtens nicht den gewünschten Erfolg erbrachten. I. Zunächst zur Haltung der politischen und sozialen Akteure in der Sozialpolitik der deutschen Einigung. Die Sozialunion war in dem ursprünglichen Angebot der Bundesrepublik vom 7. Februar 1990 zu einer „Währungsunion mit Wirtschaftsreform“ an die DDR nicht enthalten. Der langjährige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und spätere Präsident der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, der Leiter der bundesdeutschen Delegation bei den Verhandlungen zum ersten Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 über die Währungsunion, bedauerte später, dass seine Überlegung, die Sozialunion zunächst zurückzustellen oder „wenigstens einige Teile des hochentwickelten bundesdeutschen Arbeits- und Sozialrechts für eine Übergangszeit nicht anzuwenden“12, um den Prozess der Transformation der Wirtschaft im Osten zu erleichtern, sich aus politischen Gründen – der Haltung der DDR, aber auch wesentlicher Kräfte der Bundesrepublik – nicht durchsetzen ließ. Seine Position wurde von einigen Ministerien der Bundesregierung und von der Bundesbank geteilt. Insbesondere das Wirtschafts- und Finanzministerium wollten eine nur allmähliche Anpassung zur Sicherung des Überlebens und der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen, sowie zur Reduzierung der auf den Bund zukommenden finanziellen Kosten der Vereinigung. Zudem sollten durch eine Flexibilisierung und Vereinfachung des bundesdeutschen Arbeitsrechts bei seiner Übertragung auf den Osten private Investitionen angezogen und die Unternehmen entlastet werden. Diese Position fand viel Sympathie, vor allem in der Koalitionspartei FDP. In der DDR wurde die grundlegende Position der von der CDU geführten Koalitionsregierung aus CDU, SPD, Demokratischem Aufbruch (DA), DSU, Liberalen und einigen parteilosen Ministern in der Koalitionsvereinbarung vom 12. April 199013 festgelegt. Die Passagen über die Sozialpolitik gaben weitgehend die Auffassungen der ostdeutschen Sozialdemokratie wieder, die
12 Hans TIETMEYER, Erinnerungen an die Vertragsverhandlungen, in: Theo WAIGEL/Manfred SCHELL (Hg.), Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, München 1994, S. 57–117, hier S. 66. 13 Grundsätze der Koalitionsvereinbarung zwischen den Fraktionen der CDU, der DSU, dem DA, den Liberalen (DFB, BFD, FDP) und der SPD, in: Informationen Nr. 8, 24.4.1990, (Beilage), hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen.
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intensiv von westdeutschen Sozialdemokraten beraten wurde.14 Danach wurden jegliche Abstriche zu Ungunsten der DDR-Bürger bei der Übernahme des Arbeitsrechts und des Systems der sozialen Sicherung der Bundesrepublik abgelehnt. Darüber hinaus forderte der Koalitionsvertrag die Festschreibung weitergehender „sozialer Errungenschaften“ der DDR, etwa im Kündigungsrecht, im Mutterschutz und in der Familienpolitik. Ferner wollte man das soziale Grundrecht auf Arbeit in einer gemeinsamen Verfassung verankern, das System von Mindestrenten und die in der DDR bestehende allgemeine Sozialversicherungspflicht erhalten und möglichst weder die gegliederte Krankenversicherung noch das als stark reformbedürftig angesehene System des Gesundheitswesens der Bundesrepublik übernehmen. Die Position der DDR wurde vom DGB und den meisten bundesdeutschen Gewerkschaften und von der westdeutschen Sozialdemokratie unterstützt. Die bundesdeutsche SPD spielte dabei gleichsam wie im Billard über die Bande der DDR, um über Regelungen im Osten Präjudizien für die Durchsetzung eigener sozialpolitischer Ziele im Westen schaffen.15 Eine dritte mittlere Auffassung wurde vor allem vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) unter Norbert Blüm, der von Anfang an massiv für eine Sozialunion mit dem Osten eintrat,16 aber auch von den übrigen sozialpolitischen Ministerien in der Bundesrepublik vertreten. Blüm wollte die möglichst bruchlose und vollständige Übertragung des bundesdeutschen Sozialstaates in allen seinen Facetten auf die DDR. Insbesondere trat er für eine schnelle Anhebung des Lebensstandards der Rentner und der in der DDR stark benachteiligten Kriegsopfer ein. Den besonderen Bedingungen und Traditionen in der DDR sollte durch befristete Übergangsregelungen Rechnung getragen werden. Darüber hinaus setzte sich Blüm in einem Brief an Kohl vom 27. März 199017 mit Nachdruck für einen Umstellungskurs von 1:1 bei Arbeitseinkommen und Renten ein, da jeder andere Kurs zu tief greifenden sozialen Ver14 Vgl. z.B. den Brief von Rudolf Dreßler, dem sozialpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, an Regine Hildebrandt, Ministerin für Arbeit und Soziales der Ost-Berliner Regierung, v. 26.4.1990, mit der Anlage: „Änderungsvorschläge zum Bereich ,Sozialunion’ im Entwurf des Staatsvertrages BRD/DDR“ (endgültiger Stand 24.4.1990), in: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn [AdsD], SPD-Fraktion der Volkskammer der DDR, Mappe 5. 15 Vgl. den „Vermerk“ von Dietrich Stobbe v. 17.4.1990: Betr. Entscheidungs- und Handlungsbedarf für die Sozialdemokratie in der Bundesrepublik und in der DDR nach Bildung der Koalitionsregierung in Berlin (Ost), AdsD, SPD-Fraktion der Volkskammer der DDR, Mappe 113. Stobbe, der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin, war als Vertreter des Parteivorsitzenden Hans-Jochen Vogel nach Berlin entsandt worden. 16 Vgl. für Blüms Konzept eines Sozialstaats Deutschland sein Interview „Anschubfinanzierung durch die Steuerzahler“, in: „Handelsblatt“, 12.2.1990. 17 Blüm an Kohl, 27.3.1990 mit der Anlage: „Zum Umtauschverhältnis für Löhne und die Folgen für die soziale Sicherung“, in: ACDP 01-504/62, NL Norbert Blüm.
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werfungen führen würde und das Ziel gefährde, „die Menschen zu bewegen, in ihrer Heimat zu bleiben“. Die Haltung Blüms wurde in entscheidenden Positionen, etwa der sofortigen Besserstellung der Rentner und Kriegsopfer sowie dem Umstellungskurs bei Renten und Gehältern, wohl auch aus wahltaktischen Gründen, durch Kohl unterstützt und setzte sich mit wenigen Abstrichen als kleinster gemeinsamer Nenner und Kompromisslinie durch. Trotzdem wäre es falsch, den Einfluss der DDR im Verhandlungsprozess zu unterschätzen, auch wenn dieser angesichts des Drängens der DDR-Bevölkerung auf schnelle Wiedervereinigung, dem Prozess der inneren Auflösung der DDR und dem schließlichen Ausscheiden der SPD aus der ostdeutschen Koalitionsregierung Mitte August 1990 sukzessive zurückging. Es wäre jetzt reizvoll, die unterschiedlichen Positionen in der Sozialpolitik etwa am Beispiel der Rentenversicherung, der Kriegsopferversorgung, des Gesundheitswesens, des Arbeitsrechts, der Familien- und Frauenpolitik im Einzelnen aufzuzeigen und die gefundenen Lösungen und die Konsequenzen für die Betroffenen zur erörtern. Das ist in einem Buch von mir18 geschehen, in dem auch die wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Einheit und die Haltung der politischen und sozialen Kräfte in der Bundesrepublik und der DDR im Einzelnen analysiert werden. Das ist hier aus Zeitgründen nicht möglich. Auch die konkreten Probleme, die sich bei der Übertragung der Normen, Institutionen und Akteure des bundesdeutschen Sozialstaates auf die DDR ergaben, können nicht im Detail erörtert werden. Hier möchte ich zunächst nur erwähnen, dass diese Übertragung im grundsätzlichen Einvernehmen der politischen und sozialen Kräfte geschah und verwaltungstechnisch – etwa bei der Umrechnung von 4 Millionen Renten innerhalb von wenigen Monaten nach der Verabschiedung des Rentenüberleitungsgesetzes vom 25. Juli 199119 – zweifellos eine große Leistung darstellte. Sie hat trotz der Massenarbeitslosigkeit zur Verbesserung der Lebensverhältnisse – vor allem der Masse der Rentner, der Kriegsopfer, der Witwen und der Behinderten im Osten – geführt und den Umbruch sozial abgefedert. Dabei ging es darum, die für den Osten neuen Normen in kurzer Zeit in funktionierendes Verwaltungshandeln umzusetzen. Es mussten neue Institutionen, wie zum Beispiel die Sozialhilfe, die Arbeitsverwaltung und eine eigenständige Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit geschaffen und neue sozialpolitische Akteure wie freie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Berufsgenossenschaften als Träger der Unfallversiche-
18 Gerhard A. RITTER, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, 2. Aufl., München 2007. 19 Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz – RÜG) vom 25.7.1991, Bundesgesetzblatt 1991 I, S. 1606ff.
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rung, neue Träger der Renten- und Krankenversicherung, Ärztekammern, Organisationen der Leistungsanbieter im Gesundheitswesen, Verbände der freien Wohlfahrtspflege aufgebaut bzw. vom Westen in den Osten ausgedehnt werden. Das ist erstaunlich gut gelungen; es hat die Umstellung von einer Planin eine Marktwirtschaft gemildert und die sonst wohl zu erwartenden größeren sozialen Konflikte verhindert. II. Die Vereinigung war die Stunde der Exekutive. Das galt nicht nur für die außenpolitische Absicherung, sondern auch für die Verhandlungen mit der DDR im ersten Staatsvertrag und im Einigungsvertrag. Das hing mit der ungeheuren Dynamik des Einigungsprozesses, aber auch mit der verfassungsrechtlichen Situation zusammen, wonach Verträge mit anderen Staaten nur insgesamt ratifiziert bzw. abgelehnt, nicht aber im Detail abgeändert werden konnten. Bei den Verhandlungen zum ersten Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR wurde die in der Einigungspolitik tief gespaltene sozialdemokratische Opposition im Westen, die ihre Positionen vor allem über die an der Regierung beteiligten ostdeutschen Sozialdemokraten einzubringen versuchte, nicht direkt einbezogen. Das galt auch für die Länder, wenn man von ihrer entscheidenden Mitwirkung bei der Schaffung des „Fonds Deutsche Einheit“ nach einem Gespräch der Regierungschefs der Länder mit Kohl am 16. Mai 199020 und damit der Finanzierung der Einheit absieht. Auch die Regierungsfraktionen im Bundestag wurden in die Entscheidungsprozesse nicht einbezogen und über die Verhandlungen nur unzureichend informiert. Beim Einigungsvertrag, für dessen Annahme eine Zweidrittelmehrheit in der Volkskammer der DDR und im Bundestag und Bundesrat wegen der damit verbundenen Verfassungsänderungen erforderlich war, ist die sozialdemokratische Opposition vor allem über die Länder stärker beteiligt worden, zumal die sozialdemokratisch geführten Länder inzwischen eine Mehrheit im Bundesrat hatten. Als Sprecher aller Bundesländer, insbesondere aber der sozialdemokratisch geführten Bundesländer, fungierte Wolfgang Clement, der Chef der Staatskanzlei in Nordrhein-Westfalen.21
20 Besprechung des Bundeskanzlers Kohl mit den Regierungschefs der Länder, Bonn 16. Mai 1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 8), Dokument Nr. 280, S. 1122–1125. 21 Vgl. Christian DÄSTNER, Die Mitwirkung der Länder bei den Entscheidungen zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, in: Eckhart KLEIN (Hg.), Die Rolle des Bundesrates und der Länder im Prozeß der deutschen Einigung, Berlin 1998, S. 33–60. Dästner, Leiter der Referatsgruppe „Recht und Verfassung“ in der Staatskanzlei von NordrheinWestfalen, war als Berater von Clement an den Verhandlungen beteiligt.
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In der Endphase der Verhandlungen zum Einigungsvertrag haben die Spitzen der Sozialdemokratie ihre Vorstellungen auch direkt eingebracht22 und in einigen Punkten eine Berücksichtigung ihrer Positionen erreicht.23 Bis zum Bruch der Regierungskoalition in der DDR Mitte August 1990 und dem Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Koalition war die DDR ein ernstzunehmender Verhandlungspartner. Insgesamt spielte aber doch die Bundesregierung und vor allem die Ministerialbürokratie bis hinunter zu den Referatsleitern der beteiligten Ministerien eine letztlich dominierende Rolle im Einigungsprozess. In der DDR lag die Entscheidung über die Wiedervereinigungspolitik beim Ministerrat und vor allem bei Lothar de Maizière als Ministerpräsident. Die einzelnen Ressortminister sollten sich dagegen auf ihren eigenen Kompetenzbereich beschränken. Unterhalb des Ministerrates lag die Entscheidung bei Grundsatzfragen und die Koordination der Verhandlungen bei Günther Krause, dem Vorsitzenden der CDU-Fraktion der Volkskammer und Parlamentarischen Staatssekretär im Amt des Ministerpräsidenten und dem von ihm geleiteten Arbeitsstab „Deutsche Einheit“. Im Übrigen wurde von de Maizière die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten in der Einigungsfrage stark betont.24 Die Abstimmung innerhalb der Ost-Berliner Regierungskoalition erfolgte vor allem durch die ständigen Gespräche des Ministerpräsidenten mit Richard Schröder, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion.25 Im Bereich der Sozialpolitik lag die detaillierte Führung der Verhandlungen auf Seiten der DDR bei Alwin Ziel, der vorher als parlamentarischer Geschäftsführer der SPD eine wichtige Rolle bei der Bildung der Ost-Berliner Regierungskoalition gespielt hatte und als eine Art „Neben-Krause“ auch für die generellen Interessen der SPD der DDR bei den Verhandlungen eintrat.
22 Vgl. den Brief von Vogel und anderer führender Sozialdemokraten an Kohl vom 24.8.1990, Anlage 2 des Protokolls der Arbeitsgruppe „Deutsche Einheit“ vom 28.8.1990, in: AdsD, Bundestagsfraktion, Altsignatur 9613; vgl. weiter Wolfgang SCHÄUBLE, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, hg. v. Dieter KOCH und Klaus WIRTGEN, München 1993, S. 212–214. 23 In der „Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag“ vom 18.9.1990, Bundesgesetzblatt 1990 II, S. 1239–1245 wurden auch einige der Forderungen der Sozialdemokraten fixiert. 24 Vorschlag für die Sitzung des Ministerrates am 16.7.1990 „Einigungsvertrag“ von Lothar de Maizière, BArch, DC 20/6033-1. 25 Rede von de Maizière bei der ersten Lesung des Gesetzes zum Einigungsvertrag in der Volkskammer, Protokolle der Volkskammer, 10. Wahlperiode, 34. Tagung vom 6.9.1990, S. 1567. Der enge Kontakt von de Maizière mit R. Schröder wurde im Interview des Verfassers mit Alwin Ziel v. 13.7.2000 bestätigt.
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Die Parteien und Fraktionen der Regierungskoalition und natürlich erst recht die der Opposition wurden wie in der Bundesrepublik kaum beteiligt. Allerdings waren einzelne Abgeordnete der Volkskammer als Vertreter der noch zu schaffenden Länder der DDR in die Verhandlungsdelegation für den Einigungsvertrag aufgenommen worden.26 Die Hoffnung de Maizières, dass es gelingen würde, erst die DDR aus eigener Kraft in Ordnung zu bringen, um sie dann als gleichberechtigten Partner mit der Bundesrepublik zu vereinigen, war illusionär. Die Schwäche der DDR-Position lag darin, dass sie angesichts des Erwartungsdrucks ihrer Bürger keine Alternative zum Beitritt zur Bundesrepublik hatte, dass der Prozess der inneren Auflösung unaufhaltsam war und dass sie vor allem finanziell, aber beim Aufbau der Arbeitsverwaltung und dem Umbau der Sozialversicherung auch personell immer mehr von der Bundesrepublik abhängig wurde. III. Abschließend will ich zur Sozialpolitik der Wiedervereinigung noch folgende Fragen erörtern: – Gab es politisch realisierbare Alternativen zu der fast vollständigen Übertragung des bundesdeutschen Sozialsystems auf die DDR, und welche vermeidbaren Fehler wurden bei der Übertragung gemacht? – Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Wiedervereinigung und der gegenwärtigen Krise des deutschen Sozialstaates? Meines Erachtens gab es keine politisch realisierbare Alternative zu der Übernahme der westdeutschen Sozialordnung, obwohl es zum Beispiel in der engen Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung im Gesundheitswesen, in der Kinderbetreuung, in der Kodifikation des Arbeitsrechts sowie in der Familien- und Frauenpolitik Institutionen und Normen gab, die durchaus erhaltenswert gewesen wären und weite Akzeptanz bei der Bevölkerung der DDR fanden. Für eine Verschmelzung der beiden letztlich miteinander unvereinbaren Systeme, bei der auch einige Elemente der Sozialordnung der DDR in einen gesamtdeutschen Sozialstaat eingegangen wären, fehlte zunächst einmal die Zeit. Angesichts der ungeheuren Dynamik des Einigungsprozesses und dessen notwendiger Abstimmung mit der außenpolitischen Absicherung der deutschen Einheit war es in dem mit vielen Blockademöglichkeiten und Veto-Spielern versehenen deutschen politischen System nicht möglich, im Zusammenhang mit der Vereinigung grundlegende Veränderungen über die normale Gesetzgebung in den zur Verfügung stehenden wenigen Monaten durchzuset-
26 Rede de Maizières in der Volkskammer am 6.9.1990 (wie Anm. 25).
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zen. Zudem fehlten die dafür notwendigen politischen Mehrheiten. Umgekehrt hätte auch die Reduzierung des arbeitsrechtlichen Schutzes und der Leistungen für die soziale Sicherung die Akzeptanz der neuen Ordnung im Osten gefährdet und war politisch nicht durchsetzbar. So einigte man sich immer wieder auf die bestehende Sozialordnung der Bundesrepublik als den kleinsten gemeinsamen politischen Nenner. Diese Alternativlosigkeit im Grundsätzlichen bedeutet aber nicht, dass keine, zum Teil schwerwiegende und durchaus vermeidbare, Fehler im Einzelnen gemacht wurden. Der wohl bedeutendste Fehler war die Finanzierung von wesentlichen Teilen der Kosten der Vereinigung über die Solidargemeinschaften der Versicherten der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung. Die gewaltigen Transferleistungen in den Osten wurden, soweit sie nicht über die Aufnahme von Schulden finanziert wurden, in einem erheblich größeren Umfang als über Steuern durch die Sozialversicherungssysteme erbracht. Allein von 1991 bis 1995 entfielen auf Transfers in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung vom Westen in den Osten 140 Milliarden oder fast ein Viertel der sich auf netto 615 Milliarden DM belaufenden Leistungen für den Osten.27 Damit wurden die unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung überproportional belastet und vor allem die Arbeitskosten in die Höhe getrieben. Die Teufelsspirale, dass hohe Sozialausgaben zu einer steigenden Arbeitslosigkeit führen, die dann ihrerseits den Sozialstaat belastet, wurde damit und durch die Ausweitung der ohnehin verfehlten Praxis der Frühverrentung bei ihrer Übertragung auf den Osten28 wesentlich mitbedingt. Ein anderer Fehler war die weit über die nur langsam ansteigende Produktivität erfolgende, dramatische Erhöhung der Tariflöhne und Tarifgehälter im Osten, die zumindest in den ersten Jahren die zunächst von ihren Partnern im Westen dominierten, ungefestigten Gewerkschaften und Organisationen der Arbeitgeber, die ein Niedriglohngebiet im Osten ablehnten und diesen als Konsumenten westdeutscher Güter, nicht aber als Standort für Produktionen sahen, gemeinsam zu verantworten hatten. 27 Deutsche Bundesbank, Monatsbericht 48 (1996) 10, S. 19. 28 Schon die Regierung Modrow hatte eine „Verordnung über die Gewährung von Vorruhestandsgeld“ v. 8.2.1990 verabschiedet (Gesetzblatt der DDR 1990 I, S. 83f.), nach der ein Vorruhestandsgeld von 70 Prozent des bisherigen Nettoverdienstes, mindestens aber 500 Mark, fünf Jahre vor Eintritt des Rentenalters – also bei Männern ab 60 und bei Frauen ab 55 Jahren – in Anspruch genommen werden konnte. Im Einigungsvertrag wurde Männern ab 57 Jahren, Frauen bis Ende 1990 ab 55 Jahren, danach ebenfalls ab 57 Jahren ein Altersübergangsgeld in Höhe von 65 Prozent des letzten durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts gewährt (Art. 30 des Einigungsvertrages, Bundesgesetzblatt 1990 II, S. 899). Aufgrund der schlechten Arbeitsmarktlage wurde zum 1. Juli 1991 das Mindestalter generell auf 55 Jahre abgesenkt. Vgl. Johannes FRERICH/Martin FREY, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 3: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der Deutschen Einheit, 2. Aufl., München/Wien 1996, S. 611.
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Mit der zunächst fast allgemein bestehenden Auffassung, dass es nach der Übernahme der D-Mark und der Marktwirtschaft – ähnlich wie im sogenannten „Wirtschaftswunder“ nach 1948 – auch im Osten Deutschlands in einigen Jahren zu einem anhaltenden, selbsttragenden Aufschwung kommen würde, hat man das Ausmaß der Probleme, die 45 Jahre zentralistischer Planwirtschaft, die Vertreibung der Unternehmerschaft und die Zerschlagung des selbständigen Mittelstands mit sich brachten, wie auch die Schwierigkeit der Anpassung der maroden Wirtschaft im Osten Deutschlands an die Bedingungen der Weltwirtschaft, völlig unterschätzt. Auch hat man zunächst wohl nicht klar gesehen, welche ungeheuren Anpassungsprobleme für die Menschen im Osten mit der Übertragung des außerordentlich komplizierten bundesdeutschen Systems verbunden waren. Was waren nun spezifische Wirkungen der Vereinigung? 1. Die Vereinigung hat, wie schon einleitend betont wurde, die latente Krise des Sozialstaates entscheidend verschärft. Die Umstellung der Löhne und Gehälter im Verhältnis 1:1 entsprach angesichts des geheim gehaltenen Umrechnungskurses der DDR für Exporterlöse von 4,4 Ost-Mark für eine DMark einer schlagartigen Aufwertung um 340 %.29 Nehmen wir als Beispiel einen Schrank, den die Firma IKEA bisher in der DDR für 100 Valutamark produzierte, wofür dem Unternehmen in der DDR im Prinzip 440 Ost-Mark gutgeschrieben wurden. Es war nach der Währungsunion natürlich unmöglich, für die Produktion des IKEA-Schrankes nun 440 DM in Rechnung zu stellen. Die Schocktherapie der Aufwertung, nach den Ökonomen Gerlinde und Werner Sinn ein „Kaltstart“30, hat zum Verlust von etwa vier Millionen Arbeitsplätzen beigetragen. Die ungemein ausgedehnte aktive Arbeitsmarktpolitik, in der zeitweise ca. zwei Millionen Erwerbstätige im Osten erfasst wurden, hat die Konsequenzen für den Einzelnen abgemildert.31 Als Brücke zum normalen Arbeitsmarkt hat sie aber versagt. 2. Zu den negativen Konsequenzen der Einheit für den Sozialstaat gehörten neben dem enormen Verlust an ökonomischen Ressourcen und der damit verbundenen Belastung des Staates, der sozialen Sicherungssysteme und der Wirtschaft auch die vollständige Konzentration der politischen und sozialen Akteure sowie der Ministerialbürokratie im Bereich der Sozialpolitik auf die Aufgabe der Übertragung des westdeutschen Sozialsystems auf Ost-
29 Norbert KLOTEN, Deutsche Einheit: Die wirtschaftliche Last der Folgen für Ost und West, in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 8, 5.2.1996, S. 11–17. 30 Gerlinde SINN/Werner SINN, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Einigung, 3. Aufl., München 1993. 31 FRERICH/FREY, Handbuch, Bd. 3 (wie Anm. 28), S. 598.
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deutschland für etwa drei Jahre. Die langfristigen Probleme des deutschen Sozialstaates wurden in dieser Zeit völlig in den Hintergrund gedrängt. 3. Die heute vielfach kritisierte einseitige Fixierung auf den Staat wurde durch die Erwartungshaltung der Menschen im Osten, die sich über Jahrzehnte hinweg daran gewöhnt hatten, den Staat als einzige Instanz zur Lösung sozialer Probleme zu sehen, noch verschärft. 4. Das politische System der Bundesrepublik wurde durch die Vereinigung noch komplexer; die Durchsetzung von Reformen wurde damit erschwert. Neben der CDU/CSU und der Sozialdemokratie entstand mit der PDS, inzwischen „Die Linke“, eine dritte Sozialstaatspartei, die vor allem die SPD von links unter Druck setzte. Zu den bestehenden Spannungslinien im Bundesrat zwischen den von der CDU/CSU und den von der SPD geführten Ländern, zwischen Stadtstaaten und Flächenstaaten, zwischen reichen und armen Ländern, bestanden nun auch die Spannungen und die Interessengegensätze zwischen den fünf neuen Bundesländern im Osten sowie dem vereinigten Berlin und dem Rest der Bundesrepublik. Die zu Recht beklagte Kurzatmigkeit gerade auch der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland wurde dadurch noch verstärkt, dass die Parteien nun neben der Bundestagswahl und der Wahl zum Europäischen Parlament auf 16 Landtagswahlen, die meist von bundespolitischen Fragen bestimmt wurden, Rücksicht nahmen. Die Erörterung der spezifischen Probleme, die sich aus der Wiedervereinigung ergaben, soll aber nicht verwischen, dass es sich bei der Einigung um eine Sternstunde der deutschen Geschichte gehandelt hat und dass die Probleme zu lösen sind. Das verlangt allerdings von der Politik einen langen Atem, Innovationskraft, Augenmaß, Sachkompetenz und politisches Geschick in der Präsentation der Reformvorhaben in den Medien und bei der Gewinnung von Mehrheiten. IV. Abschließend noch einige Bemerkungen zur Entstehung der Pflegeversicherung: Sie ist das wichtigste Ergebnis der Großen Koalition in sozialpolitischen Sachfragen zwischen 1991 und 1994 und die wohl bedeutendste Reform und institutionelle Neuentwicklung des deutschen Sozialstaates in der Ära Kohl. Bei der Schaffung dieses fünften großen Zweiges der Sozialversicherung mussten erhebliche Widerstände innerhalb der Union, vor allem im Mittelstands- und Wirtschaftsflügel der Partei, und in der Koalition angesichts der ursprünglich scharfen Ablehnung einer Sozialversicherungslösung für die Pflege in der FDP überwunden und schließlich auch die Sozialdemokratie angesichts der Mehrheit der sozialdemokratisch geführten Länder im Bun-
Sozialpolitik im Prozess der Wiedervereinigung
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desrat ins Boot geholt werden. Unterstützung fand die Idee einer Pflegesozialversicherung in einer CDU-internen Pflegekommission unter der Leitung von Heiner Geißler, bei den Arbeits- und Sozialministern der von der CDU/ CSU geführten Länder, bei den Sozialausschüssen der Union, der Frauenunion, bei allen Behindertenverbänden, den Verbänden der freien Wohlsfahrtspflege, den Kriegsopferverbänden, den vier großen Ärzteverbänden, den Gewerkschaften und den Kirchen.32 Bei der Durchsetzung der Sozialversicherung hat Blüm, der in letzter Instanz die Unterstützung von Bundeskanzler Kohl fand, seine Machtstellung auf das Äußerste ausgereizt und sich die seitdem bestehende scharfe Gegnerschaft der Arbeitgeberverbände33 und erheblicher Teile der FDP zugezogen. Letztlich gelang die Durchsetzung der Pflegeversicherung nur, weil die FDP nicht den Zerfall der Koalition riskieren wollte und weil die Union nicht ohne den Abschluss dieser Reform in den Bundestagswahlkampf 1994 ziehen wollte.34 Die Kennzeichen der Pflegeversicherung waren, dass sie auf einer Sozialversicherungslösung statt auf einer freiwilligen privaten oder einer privaten Pflegepflichtversicherung beruhte, dass die Finanzierung wie bei den übrigen Sozialversicherungen auf dem Umlageverfahren und nicht auf einem Kapitaldeckungsverfahren beruhte und dass den Arbeitgebern für ihren hälftigen Beitrag zur Pflegeversicherung eine Kompensation angeboten wurde, die schließlich im Wegfall eines auf einen Werktag fallenden, bezahlten Feiertages lag.35 Die Pflegeversicherung unterstrich noch einmal die Pfadabhängigkeit des deutschen Systems der sozialen Sicherheit und die zentrale Bedeutung der Sozialversicherung für den deutschen Sozialstaat. Sie weist allerdings einige Besonderheiten auf. Dazu gehört, dass auch die etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachenden Versicherten der privaten Krankenkassen über eine private Pflegepflichtversicherung mit Kontrahierungszwang in das System
32 Vgl. Martin SEBALDT, „Pflege“ als Streitobjekt: Die parteipolitische Kontroverse um die Pflegeversicherung und die Entstehung des Pflegeversicherungsgesetzes von 1994, in: Zeitschrift für Sozialreform 46 (2000), S. 173–187, hier S. 177. 33 Nach einer Äußerung des Präsidenten der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann, hat es kein Gesetzesvorhaben gegeben, „das so einhellig von der gesamten Wirtschaft, aber auch von der Wissenschaft und der Bundesbank abgelehnt worden ist“, Pressedienst PDA der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, Nr. 9, 30.3.1994. 34 Vgl. Kohls Rede vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 27.5.1993, ACDP 08-012120/2. 35 Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG) v. 26.5.1994, in: Bundesgesetzblatt 1994 I, S. 1014ff.
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einbezogen wurden36 und die Pflegeversicherung sich damit einer Volksversicherung annäherte. Bemerkenswert ist ferner die bereits erwähnte faktische Abkehr von der Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung durch die Gewährung einer Kompensation und vor allem die Bindung der Ausgaben an die Einnahmen, also der Übergang vom Prinzip der Deckung des Bedarfs zum Budgetprinzip.37 Zudem war klar, dass die Pflegeversicherung nur ein Zuschuss zu den Leistungen der Pflege geben konnte, nicht aber das Gesamtrisiko abdeckte. Die Pflegeversicherung hat zunächst Überschüsse erwirtschaftet, ist aber seit 1999 defizitär, so dass trotz der Einführung eines Sonderbetrages für Kinderlose etwa ab 2008/2009 die angesparten Rücklagen aufgebraucht sein werden. Nach den neuesten Beschlüssen werden die Finanzprobleme bis etwa 2013 durch eine Erhöhung der Beitragssätze von 1,7 auf 1,95 Prozent gelöst. Zu einer grundsätzlichen Reform der Pflegeversicherung ist es aber angesichts der unterschiedlichen Positionen von CDU/CSU und SPD nicht gekommen. Diskutiert werden vor allem der Übergang zu einer Teilkapitaldeckung mit dem Aufbau einer Demographiereserve zur Abdeckung der mit der Alterung der Bevölkerung erwarteten Mehrkosten und ein kompletter, schrittweiser Umstieg vom Umlageverfahren auf die Kapiteldeckung. Allerdings ist auch ein Finanzausgleich zwischen der öffentlichen und der privaten Pflegeversicherung, die vor allem wegen der besseren Risiken weiterhin Überschüsse erwirtschaftet, im Gespräch. Grundsätzlich akzeptiert wurde eine Erweiterung der Leistungen durch die höchst notwendige Einbeziehung der Demenzkranken. Auch soll der Vorrang der häuslichen Pflege vor der sehr viel teureren Unterbringung in einem Pflegeheim ebenso wie der der Prävention und Rehabilitation zur Vermeidung, Überwindung oder Minderung von Pflegebedürftigkeit, die bereits jetzt im Gesetz vorgeschrieben sind, noch weiter ausgebaut werden. Eine der zentralen Fragen, die jetzt diskutiert wird, ist, ob nicht der Verzicht auf ein Kapitaldeckungsverfahren, wie es von der FDP und Teilen der CDU/CSU und den Arbeitgebern gefordert wurde, ein Fehler gewesen ist.
36 Vgl. Jürgen WASEM, Die private Pflegepflichtversicherung – ein Modell für eine alternative Organisation der sozialen Sicherung zwischen Markt und Staat?, in: Winfried SCHMÄHL (Hg.), Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat, Berlin 2000, S. 79–110. 37 Vgl. Heinz ROTHGANG, Vom Bedarfs- zum Budgetprinzip? Die Einführung der Pflegeversicherung und ihre Folgen für die gesetzliche Krankenversicherung, in: Lars CLAUSEN (Hg.), Gesellschaft im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Frankfurt/M. 1996, S. 930–946.
Einführung Von Günter Buchstab Die Deutschlandpolitik der achtziger Jahre und der Prozess der deutschen Einigung 1989/90 gehören zu den vergleichsweise gut erforschten Feldern der jüngeren deutschen Geschichte. Zu erinnern ist neben vielen anderen Publikationen nur an die drei Bände „Deutschlandpolitik“ der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ – eine wahre Fundgrube auch für die 80er Jahre, die leider zu wenig ausgebeutet wird. Warum also soll speziell dieser Zeitraum Thema des Beitrags sein? Bewogen hat uns dazu der Eindruck, dass in der öffentlichen Wahrnehmung sich zu verfestigen scheint – auch unter dem Aspekt der medialen Fixierung auf historische Jahrestage, was mit Verkürzung und Ausblendung prozesshafter Entwicklungen einhergeht (2009 war dies der 20. Jahrestag der friedlichen Revolution) –, dass der Fall der Mauer und die deutsche Einheit 1989/90 gewissermaßen vom Himmel gefallen und vor allem der Bürgerbewegung in der DDR zuzuschreiben seien. Ihr Anteil am Ende der DDR soll – damit kein falscher Eindruck entsteht – keineswegs gering geschätzt werden. Doch fragt man sich, warum die atemberaubende Entwicklung des Jahres 1989 sich gerade zu diesem Zeitpunkt, gegen Ende der Dekade, entfalten konnte. Eine Stunde Null gab es – wie überhaupt in der Geschichte – auch hier sicher nicht, sondern neben vielschichtigen längerfristigen Voraussetzungen auch kurzfristige Anstöße, die bei den Erklärungsversuchen für die dramatischen Vorgänge zu berücksichtigen sind. Sie sollen hier nur stichwortartig in Erinnerung gerufen werden. Zu erwähnen sind die Auswirkungen der KSZE, die Wahl des polnischen Papstes und sein Einfluss auf die Unabhängigkeitsbewegungen in Polen und dann in ganz Osteuropa, die Durchsetzung des NATODoppelbeschlusses, die Hochrüstungspolitik Reagans und der wirtschaftliche Niedergang des „Realsozialismus“, die „Perestroika“ unter Gorbatschow, dessen Außenminister Schewardnadse schon 1986 intern erklärte, die Idee eines geeinten Deutschland müsse ernsthaft geprüft werden, die Bürgerbewegung in der DDR und die Flüchtlingsströme in die Bundesrepublik. Entscheidende Voraussetzung für die Wiederherstellung der Einheit waren gewiss auch die grundlegenden Weichenstellungen, die auf Konrad Adenauer zurückgingen, wie die Integration der Bundesrepublik in die Europäische Union und das atlantische Bündnis in enger Beziehung zu den USA, nicht zuletzt Artikel 7 des Deutschlandvertrags (1952 bzw. 1954), der die Verpflichtung der Bundesrepublik und der drei Westmächte enthält, das gemeinsame Ziel eines wiedervereinigten Deutschlands zu verwirklichen, „das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist“.
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Günter Buchstab
Kontrovers wird in diesem Kontext nach wie vor die Anfang der 70er Jahre heftig umstrittene Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition beurteilt. Für die SPD/FDP-Regierung war Voraussetzung einer Wiedervereinigung die Entspannungspolitik, während die Prämisse der Union lautete, eine Entspannung im Kalten Krieg setze die Wiedervereinigung voraus. Hinter den heftigen Auseinandersetzungen dieser Jahre stand die Frage, ob die Politik von Brandt und Scheel die Spaltung zwischen den beiden deutschen Staaten festige oder aufbreche. Durch das Urteil des Karlsruher Verfassungsgerichts von 1973 war es jedenfalls keiner Regierung erlaubt, die Einheit Deutschlands „als Ziel und Auftrag“ aufzugeben, was die Spielräume gegenüber den Forderungen der DDR einengte. Dass diese Festlegung von vielen, vor allem auch von namhaften Publizisten, zu nennen ist hier nur Theo Sommer von der „Zeit“, nicht ernst genommen wurde, sei nur am Rande erwähnt. 1984 behauptete er, „der Verlust der alten Ostgebiete und die Teilung Restdeutschlands“ seien die „unabwendbaren Folgen von Hitlers verbrecherischer Politik“, und wir müssten uns hüten, „auf den Zerfall des russischen Imperiums zu setzen“. Der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder meinte, man solle die Deutschen „nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen“, Willy Brandt sprach in diesem Zusammenhang von der „Lebenslüge“ der Bundesrepublik, und Joseph Fischer sah gar im Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes „ein Unglück für das deutsche Volk“. Unter den Voraussetzungen, die zum Zusammenbruch der DDR und zur Wiedervereinigung beigetragen haben, wird die Bedeutung der Deutschlandpolitik Helmut Kohls häufig zu gering geschätzt. Ein Grund dafür mag sein, dass er diese Politik unter das Stichwort „Kontinuität“ stellte – pacta sunt servanda. Die Politik des Modus Vivendi bedeutete für Kohl aber nicht, die Offenhaltung der deutschen Frage aufzugeben, sondern die Rechtspositionen, auch im Bewusstsein des Volkes, aufrechtzuerhalten. Der Kanzler setzte andere Akzente als seine Vorgänger und machte dies deutlich, indem er in seinem ersten Bericht zur Lage der Nation den Zusatz aufnahm „im geteilten Deutschland“. Zwar betonte noch 1988 Volker Rühe, der spätere Generalsekretär der CDU, gegenüber der DDR-Führung, die Bundesrepublik habe nicht die Absicht, die DDR zu „destabilisieren“. Doch genau diese Sorge war schon 1984 in der Sowjetunion nach den Vereinbarungen über die Milliardenkredite für die marode DDR entstanden. Und weil die Sowjetunion befürchtete, die DDR gerate in zunehmende Abhängigkeit von der Bundesrepublik und unter den wachsenden Einfluss des Westens, erfolgte auf Druck der Moskauer Führung im September 1984 die Absage des vorgesehenen Besuchs Honeckers in Bonn. Diese Befürchtung Moskaus täuschte nicht. So vordergründig die Finanzhilfen der Bundesrepublik die Lage der DDR stabilisierten, so sehr trugen die auf ihnen beruhenden Folgevereinbarungen zu ihrer Destabilisierung bei, da die Gewährung finanzieller Leistungen stets mit humanitären Gegenleistungen
Einführung
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zu kompensieren waren. Diese führten u.a. nicht nur zum Abbau der Selbstschussanlagen an der Demarkationslinie, zu erleichterten Besuchsmöglichkeiten und einer explodierenden Zahl der Westbesucher (1982 etwa 40.000 – 1987 ca. 1,2 Mio.), die ihre unmittelbaren Eindrücke aus der Bundesrepublik in die DDR-Bevölkerung vermittelten und so die Unzufriedenheit mit dem System schürten. Übersiedler, Flüchtlinge und Reisende von der DDR in die Bundesrepublik (einschließlich West-Berlin) 1980–1989 Jahr
Zuwanderer, davon insges.
legale Übersiedler
Flüchtlinge*
Reisen Sonstige**
von Rentern
in dringenden Familienangelegenheiten
1980
12.763
8.775
3.107
881
1981
15.433
11.093
2.900
1.440
1982
13.208
9.113
2.565
1.530
1.554.000
45.709
1983
11.343
7.729
2.487
1.127
1.463.000
64.025
1984
40.974
34.982
3.651
2.341
1.540.000
61.000
1985
24.912
18.752
3.484
2.676
1.600.000
66.000
1986
26.178
19.982
4.660
1.536
1.600.000
573.000
1987
18.958
11.459
6.252
1.247
3.800.000
1.200.000
1988
39.832
29.033
9.705
1.094
6.746.843***
1989
344.023
101.947
65.426
176.650
* inklusive „Sperrbrecher“ ** bis 1988 überwiegend freigekaufte Häftlinge *** Angaben der DDR Aus: Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990. München 2006, S. 608)
Die Magnettheorie, die in den 40er und 50er Jahren George Kennan und Konrad Adenauer vertreten hatten, trug nun Früchte. Ausweis für das Magnetfeld Bundesrepublik war die wachsende Zahl der Übersiedler und Freigekauften und schließlich die 1989 massiv einsetzende Fluchtbewegung, die nicht zuletzt auch unter der Voraussetzung möglich war, dass die Union – gegen andere Vorstellungen – unbeirrt an einer deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten und die Anerkennung einer zweiten deutschen Staatsbürgerschaft verweigert hatte. In der DDR kursierte der bittere Witz, wer denn im Land als Letzter das Licht ausmachen würde.
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Günter Buchstab
Sicher waren die Erosionserscheinungen im gesamten Ostblock ein Hauptgrund für den Umbruch 1989/90. Eine nicht unwesentliche Bedeutung für den schnellen Zerfallsprozess der DDR kommt allerdings auch der unterminierenden Rolle der Deutschlandpolitik der Jahre 1982 bis 1990 zu. Tabellarische Übersicht 1983 29. Juni
15. November
1984 25. Juli 1. August
1985 5. Juli
1986 25. April 6. Mai 26. August 22. November
Die Bundesrepublik bürgt für einen Milliardenkredit, den die DDR bei westdeutschen Banken aufnimmt. Zugeständnisse der DDR: – Aufhebung des Zwangsumtauschs bei Reisen von Jugendlichen bis 14 Jahren (27.9.), – Verordnung über Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen DDR-Bürgern und „Ausländern“ (15.9), – Beginn des Abbaus von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze (29.2.–6.10.). Postabkommen, in dem sich die DDR verpflichtet, Postsendungen schneller zu befördern, ihre Verlustquote zu verringern, Geschenksendungen zu erleichtern und den Fernsprech- und Fernschreibverkehr auszubauen. Kredit von 950 Mio. DM. Der Mindestumtausch für Rentner, die in die DDR oder nach Ost-Berlin reisen, wird ermäßigt, die mögliche Aufenthaltsdauer für Westdeutsche und West-Berliner in der DDR verlängert. DDR-Rentner dürfen bis zu 60 Tagen nicht nur Verwandte, sondern künftig auch Bekannte in der Bundesrepublik besuchen. Im grenznahen Verkehr sind Mehrfachberechtigungsscheine erlaubt. Vereinbarungen über den innerdeutschen Handel (1986–1990), vor allem mit Kohle- und Mineralölprodukten, und den nichtkommerziellen Zahlungsverkehr. Der zinslose Überziehungskredit (Swing) wird von bisher 600 auf 850 Mio. Verrechnungseinheiten erhöht. Erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft zwischen Eisenhüttenstadt und Saarlouis (am 19.9. vertraglich besiegelt). Kulturabkommen, das die Zusammenarbeit auf den Gebieten von Kultur, Kunst, Bildung und Wissenschaft regelt. Besucher aus der DDR erhalten einmal im Jahr 100 DM Begrüßungsgeld (bisher zweimal 30 DM). Vereinbarung durch Notenaustausch über die „Rückführung kriegsbedingt ausgelagerten Kulturguts“.
Einführung 1987 7.–11. September
9. November
1988 31. März 14. September 14. Dezember
1989 ab Juli
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Arbeitsbesuch Erich Honeckers mit dem Abkommen vom 8. September: 1. über den Informationsaustausch in den Bereichen Gewässerschutz, Luftreinhaltung, Natur- und Waldschutz, Abfallwirtschaft sowie über grenzüberschreitende Umweltbelastungen, z.B. an Werra und Elbe; 2. über den Strahlenschutz zur gegenseitigen Information über kerntechnische Anlagen sowie über erhöhte Werte der Radioaktivität; 3. über die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik. Als konkrete Kooperationsprojekte sind die AIDS-Forschung, die Rauchgasentschwefelung, die Biotechnologie und die Bausubstanzunterhaltung vorgesehen. Auf der Grundlage des Kulturabkommens (6.5.1986) verständigen sich Vertreter der Bundesregierung und der DDR-Regierung auf rund 100 Vorhaben der kulturellen Zusammenarbeit für die Jahre 1988/89. Vereinbarung zwischen Senat von West-Berlin und Ministerrat der DDR über Gebietsaustausch in Berlin (vollzogen am 1. Juli). Vereinbarung über Neuregelungen im Transitverkehr. Die Transitpauschale wird von 525 auf 860 Mio. DM jährlich erhöht. Veröffentlichung einer Verordnung zur Regelung der „Westreisen“, die am 1.1.1989 in Kraft tritt. Sie sieht zwar ein Beschwerderecht bei Ablehnung von Reiseanträgen vor. Nach Protesten aus der Bevölkerung wird die Reiseverordnung zum 1.4.1989 geändert: Personenkreis und Besuchsanlässe werden erweitert. Massenflucht von DDR-Bürgern.
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Die deutsche Frage vor dem Einigungsvertrag: Parteien, Intellektuelle, Massenmedien in der Bundesrepublik Von Andreas Rödder Die deutsche Wiedervereinigung veränderte alles – auch den Blick auf die Zeit davor. Nach der Einheit erschienen die vorangegangenen Jahre in neuem Licht: nicht mehr als die Abenddämmerung einer entschwindenden deutschen Einheit, sondern, im Gegenteil, als ihre Morgenröte. So veränderten sich nach 1990 auch die Bewertungsmaßstäbe für diese Zeit: Was vor der Wiedervereinigung als zeitgemäß gegolten hatte, erschien nun oftmals als historisch überholt. Wie zu allen Zeiten ordneten sich in diesen neuen Perspektiven die Erinnerungen neu. Nach 1990 fand die deutsche Einheit plötzlich so viele aktive Befürworter in den Achtzigern, dass die Zeit selbst kaum wiederzuerkennen war. Alles in allem waren die Zeiten vor 1989 weder so schwarz noch so weiß, wie es hinterher oft erscheinen wollte. Weder wurde die deutsche Einheit allgemein erwartet, noch war sie vollständig entrückt – die Dinge lagen differenzierter, wenngleich mit leitenden Tendenzen. Dabei traf der 9. November 1989 „mit einer geradezu elementaren Wucht den Nerv der deutsch-deutschen Befindlichkeiten“1 und holte die Reflexionen der achtziger Jahre über Nation und deutsche Frage aus den luftigen Höhen der Theorie auf den harten Boden der Wirklichkeit – und zwang nicht nur zu verbalen Bekenntnissen, sondern zu konkretem Verhalten. Erwartungen und Haltungen 70 bis 80 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung, so ergaben Allensbacher Meinungsumfragen im Jahr 1987, befürworteten eine Wiedervereinigung als langfristiges Ziel – und derselbe Anteil schloss aus, sie noch im 20. Jahrhundert zu erleben.2 In der Bundesrepublik herrschte in den achtziger Jahren und ebenso 1989/90 ein eigentümliches Verhältnis zwischen Nähe und Ferne zur Wiedervereinigung. Das Thema war durchaus und durchgängig diskursiv präsent, und so entspann sich im Spätsommer 1989, während der Flüchtlingskrise, sofort eine lebhafte öffentliche Debatte über die Wiedervereinigung. Zugleich 1 2
Andreas WIRSCHING, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990 (Geschichte der Bundesrepublik 6) München 2006, S. 647. Vgl. Gerhard HERDEGEN, Perspektiven und Begrenzungen. Eine Bestandsaufnahme der öffentlichen Meinung zur deutschen Frage. Teil 1: Nation und deutsche Teilung, in: Deutschland Archiv 20 (1987) 12, S. 1259–1273, hier S. 1263, 1265.
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Andreas Rödder
aber war der Gegenstand, auch zu diesem Zeitpunkt, ins Unwirkliche entrückt; zu festgefügt schien der bedingende Kontext. Die Debatte wurde nicht einmal im Potentialis, sondern im Irrealis geführt, so dass Formulierungen und Redeweisen vielfach Formelkompromisse ohne Erwartung ihres Realitätstests darstellten und nicht einfach zum Nennwert zu nehmen sind – zugleich aber waren sie in der Welt und somit von Bedeutung. Dabei standen verschiedene Positionen nebeneinander, die nur durch fließende Grenzen getrennt waren. Zum einen gab es die Befürworter, denen die Einheit immer schon ein vordringliches Anliegen gewesen war, deren Positionen allerdings unter den politischen Bedingungen der siebziger und achtziger Jahre kaum politikfähig waren. Daneben standen grundsätzliche programmatische Befürworter ohne konkrete praktisch-politische Perspektive; ihnen bot sich 1989 ein Ansatz für einen Politikwechsel unter veränderten Umständen, während die Programmatik bis dahin eine Tendenz zu entrückter Rhetorik angenommen hatte. Übermächtig war bis 1989 eben die normative Kraft des Faktischen, die die Grenzen zwischen Pragmatismus, Gewöhnung und Gleichgültigkeit in der deutschen Frage verflüssigt hatte, zumal konkurrierend der Prozess einer bundesdeutschen Identitätsbildung vorangeschritten war – und dies rebus sic stantibus auf der Basis der Zweistaatlichkeit. Den Einheitsbefürworten gegenüber standen am anderen Ende der Skala diejenigen, die eine Zweistaatlichkeit dezidiert akzeptierten, gar befürworteten. Quer dazu baute sich, in allen politischen Lagern, eine andere politische Konstellation auf: eine zunehmende Tendenz nicht pro oder contra Wiedervereinigung, sondern der Vorordnung der europäischen Einigung, durch die „das Denken in Nationalstaatlichkeit irrelevant“ werden könne, so der für Außen- und Deutschlandpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Karl-Heinz Hornhues.3 In diesem Denken musste eine Lösung der deutschen Frage nicht zwingend durch eine staatliche Einheit erfolgen. Dies wiederum war gar nicht weit von Oskar Lafontaines Position entfernt: „Wiedervereinigung ja, aber ... in den ‚Vereinigten Staaten von Europa‘“4. Tendenziell nahm in der politischen Kultur der Bundesrepublik in den achtziger Jahren eine genuin bundesdeutsche Identität zu, während die Bedeutung der Wiedervereinigungsperspektive zurückging. Dies stand – abgesehen von parteipolitischen Präferenzen und individuellen Haltungen – auch im Zusammenhang mit der generationellen Entwicklung: In den achtziger Jahren rückten diejenigen in Entscheidungspositionen vor, denen die deutsche Einheit qua po3 4
Karl-Heinz HORNHUES, „Große Chance zur Wiedervereinigung“, in: „Die Welt“ vom 13.10.1989. ARD „Im Brennpunkt“ vom 21.9.1989: „Wer hat Angst vor der Wiedervereinigung?“ (ACDP, Pressedokumentation, 1/23/0).
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litischer Überzeugung und mehr noch qua Sozialisation ein weniger vorrangiges oder auch gar kein Anliegen war. „Soll das alles wieder ein Provisorium sein?“ – so fragte die „Zeit“ Ende September 1989 im Hinblick auf die Bonner Republik und konstatierte: „Die Bonner Parteien und die Deutschlandpolitik – ein Bild der Verwirrung.“5 CDU/CSU Als Regierungsparteien trugen CDU und CSU die Deutschlandpolitik der Regierung Kohl, die gegenüber der sozial-liberalen Koalition praktisch-operative Kontinuität und normativ-deklamatorischen Wandel verband und die deutsche Frage verstärkt als offen kommunizierte. Dass sie dabei auf die Gesamtnation und zugleich auf eine bundesdeutsche Identität rekurrierte,6 war weder spannungsfrei noch widerspruchslos. Zugleich konnten die fein austarierten deutschlandpolitischen Formulierungen nicht überdecken, dass zwischen dem national-konservativen Flügel einerseits und der Richtung, die Generalsekretär Heiner Geißler mit Gedanken über eine multikulturelle Gesellschaft im europäischen Rahmen vertrat,7 eine nicht unerhebliche inhaltliche Spannweite lag. Im Vorfeld des Wiesbadener Bundesparteitages von 1988 kochten in der CDU vor diesem Hintergrund kontroverse Auseinandersetzungen über die Rangfolge zwischen europäischer und deutscher Einigung sowie über Begriff und Stellenwert der Wiedervereinigung hoch.8 Auch wenn daraufhin diverse Änderungen in den schlussendlich beschlossenen Papieren vorgenommen wurden, deutete die Kritik an einer zu passiven Deutschlandpolitik mindestens ebenso sehr darauf hin, dass in der politischen Praxis Zurückhaltung waltete und dass die normative Kraft des Faktischen auch in der CDU ihre Wirkung nicht verfehlte. Als die deutschlandpolitische Debatte im Spätsommer 1989 aufkam, waren aus der Union umgehend Stimmen für eine Wiedervereinigung zu vernehmen. Doch waren sie erstens höchst zurückhaltend; Karl-Heinz Hornhues, der als besonders Genscher-freundlich galt, sah die Chance für eine Wiedervereinigung als groß wie nie und gab zugleich den – durchaus zweischneidigen –
5 6 7 8
Gunter HOFMANN, „Soll das alles wieder ein Provisorium sein?“, in: „Die Zeit“ vom 29.9.1989. Vgl. Edgar WOLFRUM, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung, Darmstadt 1999, S. 335–345. Vgl. Florian ROTH, Die Idee der Nation im politischen Diskurs. Die Bundesrepublik Deutschland zwischen neuer Ostpolitik und Wiedervereinigung (1969–1990), Baden-Baden 1995, S. 341–344. Vgl. Karl-Rudolf KORTE, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Entscheidungsprozeß und Regierungsstil 1981–1989 (Geschichte der deutschen Einheit 1), Stuttgart 1998, S. 398–409.
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Rat: „Sie ist umso größer, je weniger wir darüber reden.“9 Zweitens wurden auch Bekenntnisse zur deutschen Einheit „in historischer Perspektive“ abgegeben10; die Vorstellung einer Wiedervereinigung blieb allgemein und vage, wie die „Welt“ noch Ende November 1989 kommentierte: „Zeitweilig erinnern führende Unionspolitiker, wenn sie über die deutsche Frage diskutieren, an einen eingetragenen Verein zur Vermeidung angreifbarer Formulierungen.“11 Zugleich aber war die CDU mit ihren programmatischen Vorgaben offen, den Weg der Wiedervereinigung einzuschlagen, als die deutsche Frage aus der Theorie in die Realität hereinbrach. Der latente Widerspruch zwischen befestigter bundesdeutscher Identität und reaktiviertem gesamtnationalem Anspruch ließ sich dabei dahingehend auflösen, dass sich die DDR der Bundesrepublik anschließen und nicht etwas völlig Neuartiges erzeugt würde. Die Union schwenkte mit ihrem Kanzler auf operativen Einheitskurs ein. Ausnahmen stellten die zahlenmäßig überschaubaren Parteivertreter dar, die sich im Vorfeld des Bremer Parteitages im September 1989 an einem Sturz Kohls versucht, ihn aber schließlich nicht gewagt hatten: der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth12, der im September 1989 von Kohl aus dem Amt des Generalsekretärs expedierte Heiner Geißler, der im Oktober vor einem „Herumhämmern auf der Wiedervereinigung“13 warnte, und nicht zuletzt, mit der Autorität seines Amtes, Richard von Weizsäcker, den mit Kohl inzwischen eine tiefe gegenseitige Abneigung verband. Er sprach sich öffentlich – und unüberhörbar entgegen der Regierungspolitik – für die Sicherung der „Lebensfähigkeit“ der DDR aus, gegen ein „Anheizen“ der Entwicklung in der DDR von Seiten der Bundesrepublik und für eine Verlangsamung des Prozesses, für dessen konkrete Gestaltung er freilich keine konkreten Vorstellungen anbot.14
9 HORNHUES (wie Anm. 3). 10 Gerhard STOLTENBERG, „Unnatürliche Teilung Europas überwinden“, in: „Die Welt“ vom 27.10.1989. 11 Joachim NEANDER, „Im deutschen Wartesaal“, EBD. vom 23.11.1989. 12 „Keine isolierte deutsche Lösung“, in: „Stuttgarter Zeitung“ vom 23.11.1989: „Unsere Priorität muß ganz klar die Einbindung in den Westen sein. Von dort aus müssen wir Wege zu einer europäischen Friedensordnung suchen. Ich sehe keine isolierte Lösung für die Deutschen.“ 13 Gastkommentar für die Mainzer „Allgemeine Zeitung“ vom 14.10.1989; vgl. auch Wolfgang JÄGER, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90 (Geschichte der deutschen Einheit 3), Stuttgart 1998, S. 76. 14 Zit. nach EBD. S. 75f. (u.a. nach einem Interview mit dem DDR-Fernsehen vom 13.12.1989); vgl. auch die Wiedergabe der Äußerungen von Weizsäckers in der Aussprache am Zentralen Runden Tisch der DDR vom 19.2.1990, in: Uwe THAYSEN (Hg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Bd. III, Wiesbaden 2000, S. 784, 787.
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SPD Die Sozialdemokraten „stimmen ... Ihnen in allen Zehn Punkten zu“,15 bekundete Karsten Voigt, der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, unmittelbar im Anschluss an Kohls Rede vom 28. November 1989. Bald rückte die größte Oppositionspartei freilich wieder von ihrer ungewöhnlichen Übereinstimmung mit der Regierung ab. Oskar Lafontaine, der saarländische Ministerpräsident und präsumtive Kanzlerkandidat warnte davor, deutschlandpolitische Unterschiede zur Regierung zu verwischen. Die SPD geriet in schwere Turbulenzen und ging schließlich tief „uneinig in die Einheit“16. In den achtziger Jahren hatte die Partei der Ostpolitik eine veritable „Nebenaußenpolitik“ zu derjenigen der Bundesregierung betrieben. Mit der SED hatte die SPD drei fertige Vertragsentwürfe für eine chemiewaffenfreie Zone, einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa sowie eine „Zone des Vertrauens und der Sicherheit in Zentraleuropa“ ausgehandelt und obendrein im August 1987 ein gemeinsames Papier über den „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ vorgelegt. In ihrer außen- und deutschlandpolitischen Orientierung relativierte die SPD in ihrer Hauptrichtung dabei auf der einen Seite die Westbindung der Bundesrepublik, während sie andererseits den Legitimationsvorbehalt und die grundsätzliche normative Distanz gegenüber SED und DDR abschwächte.17 Innerhalb der SPD tat sich dabei ein Spektrum unterschiedlicher Positionen auf. Einerseits fand die deutsche Zweistaatlichkeit zunehmende Akzeptanz, ja vielfach aktive Befürwortung, wie sich in Debatten um die Streichung der Präambel des Grundgesetzes und die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft zeigte.18 Der Begriff der Wiedervereinigung hingegen war weithin diskreditiert; als „reaktionär und hochgradig gefährlich“19 bezeichnete ihn der niedersächsische Fraktionsvorsitzende und nachmalige Ministerpräsident Gerhard Schröder Ende September 1989. Wer „von Wiedervereinigung daherrede“, so
15 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Sten. Ber., 11. WP, 177. Sitzung, S. 13514. 16 So der Titel der umfassendsten Darstellung der Politik der SPD im Hinblick auf die Wiedervereinigung: Daniel Friedrich STURM, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006, zur Reaktion auf das Zehn-Punkte-Programm S. 217–230. 17 Vgl. Dieter GROH/Peter BRANDT, „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992, S. 318. 18 Vgl. Timothy GARTON ASH, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993, S. 462–468; Andreas VOGTMEIER, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996, S. 222; Heinrich POTTHOFF (Hg.), Die „Koalition der Vernunft“. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995, S. 47–63. 19 „Wiedervereinigung untauglicher Begriff“, in: FAZ vom 28.9.1989 (nach einem Gespräch für die „Hannoversche Allgemeine“).
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der hessische Landesvorsitzende und ebenfalls nachmalige Ministerpräsident Hans Eichel, habe „aus der Geschichte nichts gelernt“.20 Und der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper, brandmarkte die Belebung des Gedankens der Wiedervereinigung seitens der Bundesrepublik Ende Oktober 1989 im Gespräch mit DDR-Oppositionellen als „eine der größten Heucheleien“.21 Momper lag auf der deutschlandpolitischen Hauptlinie der SPD, die 1989 von der Krise in der DDR völlig überrascht wurde, lange auf die Reformfähigkeit der SED setzte und darüber zunächst auch wenig Zugang zur neugegründeten SDP in der DDR fand. Eine andere Richtung deutete sich, unter Rückgriff auf vermeintlich verschüttete nationale Orientierungsmuster, bei älteren Granden der Partei und beim „Seeheimer Kreis“ auf ihrem rechten Flügel an. In einer vielbeachteten – und innerhalb der SPD vielfach kritisierten – Rede vor dem Deutschen Bundestag stellte Erhard Eppler am 17. Juni 1989 die Reformfähigkeit des SEDRegimes infrage und erklärte die deutsche Frage für offen.22 Zum Protagonisten dieser Richtung schlechthin wurde schließlich Willy Brandt, der große alte Mann der bundesdeutschen Sozialdemokratie. Er verkörperte, aus der Tradition des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus heraus, das ‚andere Deutschland’ und für seine zahlreichen Anhänger die Vision eines moralisch guten Sozialismus, überhaupt den Lebensentwurf des ‚links und frei’. In den achtziger Jahren war er im Zuge der Auseinandersetzungen um den NATODoppelbeschlusses mit der gesamten SPD nach links gerückt und hatte sich auch deutschlandpolitisch mit dem Wort von der Hoffnung auf die Wiedervereinigung als der „Lebenslüge der zweiten Deutschen Republik“ exponiert – womit er keineswegs, wie er später einmal sagte, nur eine Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 meinte, sondern auch eine nationalstaatliche Vereinigung von Bundesrepublik und DDR.23 Am Ende aber entdeckte er die Nation und die Wiedervereinigung wieder. 20 Hans EICHEL, „Jetzt: Konkrete deutsch-deutsche Politik“, in: „Wir Hessen“, November 1989 (ACDP, Pressedokumentation, 1/23/0). 21 MfS-Information 485/89 über das Wirken antisozialistischer Sammlungsbewegungen und damit im Zusammenhang stehende beachtenswerte Probleme, 30.10.1989, BStU, MfS, ZAIG 3756, Bl. 154–165, hier 161. 22 Texte zur Deutschlandpolitik, III/7, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1989, S. 158–170. Vgl. auch Epplers Interviewäußerung gegenüber dem „Stern“ vom 26.9.1989: „Wir müssen uns eine Option auf die deutsche Einheit offenlassen für den Fall, daß sich die DDR als nicht lebensfähig erweist“, zit. nach FAZ vom 27.9.1989: „Eppler spricht sich für Option auf deutsche Einheit aus“. Vgl. auch das engagierte Plädoyer des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters Klaus VON DOHNANYI für eine deutsche Wiedervereinigung im „Stern“ vom 16.11.1989: „Wiedervereinigung: Konflikt zwischen Kopf und Bauch?“ 23 In der „Frankfurter Rundschau“ vom 15.9.1988, S. 8: „Ein Notdach, unter dem der Rechtsstaat sich entwickeln konnte. 40 Jahre Grundgesetz“ (dort auch das Zitat), wandte sich Brandt gegen die „Lebenslüge“ einer Wiedervereinigung als der Vorstellung von einem
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Schon auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses am 10. November 1989 hatte Brandt inhaltlich unübersehbar näher bei Kohl als bei seinem Parteifreund Momper gestanden. Dieser legte gegenüber dem Kanzler am Tag darauf noch einmal kräftig nach und warf ihm „eklatantes Versagen in dieser entscheidenden Situation der deutschen Geschichte“ vor: „Herr Kohl hat offenbar mit dem Umdenken, was jetzt gefordert wird ..., noch nicht begonnen. Er ist weiterhin mit dem Denken von vorgestern verhaftet [sic].“ Kohl „quatscht dabei von Wiedervereinigung“ und „hat offenbar nicht begriffen, ... daß die Menschen in der DDR nicht die Wiedervereinigung interessiert, sondern ein freies Europa mit offenen Grenzen“.24 Damit war Momper wiederum nicht weit von Oskar Lafontaine entfernt, der von „Ko(h)lonialismus“ sprach und die Zehn Punkte als „großen diplomatischen Fehlschlag“25 kritisierte. Links, aber nicht dogmatisch, zuweilen sprunghaft und von unduldsamer Selbstherrlichkeit, galt der 1943 geborene Saarländer mit seiner Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit als der führende der „Enkel“ Willy Brandts, die in der SPD inzwischen in die leitenden bzw. meinungsbildenden Positionen eingerückt waren. Eine biologische Generation jünger als Brandt, verkörperte er politisch jene Generationskohorte der „68er“, die auf die Generation des Krieges (ob Soldaten wie Schmidt, Kommunisten wie Wehner oder Exilanten wie Brandt) sowie auf die sogenannte „skeptische Generation“ folgte, zu der Hans-Jochen Vogel ebenso zählte wie Helmut Kohl.26 Lafontaines politisches Kernanliegen 1989 lag im ‚ökologischen Umbau der Industriegesellschaft’. Während sich Nationalstaat und Europa in der Vorstellung Helmut Kohls ergänzten, hegte Lafontaine wenig Interesse an der „Nation“ und plädierte für eine (west)europäische Union unter dezidierter Abkehr vom Nationalstaat, der „schon heute die Vernünftigkeit seiner Idee überlebt“27
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„Anschluß der DDR an die Bundesrepublik“ aus der „nationalpolitisch [v]ergangenen“ Theorie eines fortwirkenden deutschen Gesamtstaates heraus – ohne die freilich die Legitimation einer staatlichen Vereinigung von Bundesrepublik und DDR entfiel. Vgl. auch Heinrich August WINKLER, Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 471; JÄGER (wie Anm. 13), S. 154 mit S. 562 Anm. 139 sowie zu Brandt allgemein v.a. Peter MERSEBURGER, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002. Pressekonferenz Mompers vom 11.11.1989, in: taz vom 13.11.1989. Zit. nach STURM (wie Anm. 16), S. 226. Helmut SCHELSKY, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957; zu den politischen Generationen der Bundesrepublik vgl. Clemens ALBRECHT, in: DERS. u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/M. 1999, S. 498–506; Überblick bei Andreas RÖDDER, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 19a), München 2004, S. 194f. Oskar LAFONTAINE, Die Gesellschaft der Zukunft – Reformpolitik in einer veränderten Welt, Hamburg 1988, S. 188.
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habe. Ganz westlich-postmodern orientiert, ohne Verpflichtung allerdings auf die Westbindung an die USA, im Gegenteil, besaß Lafontaine keine wirkliche Beziehung zur DDR und Wiedervereinigung. Wiederholt wies er 1990, so Egon Bahr, Bitten von Vorstandsmitgliedern der SPD, er möge einmal zeigen, dass er sich über die Einheit freue, mit dem Bemerken zurück, dass er nicht so empfinde28. Lafontaine und mit ihm weite Teile der Sozialdemokratie vermochten europäischen Kosmopolitismus und deutsche Nation, Freiheit und Einheit nicht zusammenzudenken und daher auch keine wirklich konstruktive Haltung gegenüber dem deutschen Einigungsprozess zu entwickeln.29 Stattdessen benannte Lafontaine deutlich wie kaum ein Zweiter die Probleme, die sich mit dem Zusammenbruch der DDR ergaben. Um den Strom der Übersiedler aus der DDR zu stoppen, ventilierte er im November 1989 Ideen, die Staatsbürgerschaft der DDR anzuerkennen und Sonderleistungen für Übersiedler zu streichen. So gab er in der saarländischen Staatskanzlei ein juristisches Gutachten in Auftrag, das Wege einer Zuzugsbeschränkung ausloten sollte – womit er scharfe Kritik aus den Reihen der SPD selbst auf sich zog.30 Das deutschlandpolitische Ziel sah er, wenn überhaupt, dann eher in der Angleichung der Lebensverhältnisse in beiden deutschen Staaten im Zeichen der ohnehin supranationalen sozialdemokratischen „Idee der sozialen Gerechtigkeit“ – ohne freilich zu sagen, wo die dafür erforderlichen Mittel herkommen sollten – als in der für ihn nachrangigen „Rechtskonstruktion“ einer staatlichen Einheit.31 Während des Einigungsprozesses setzte Lafontaine weniger auf nationalen Konsens als, im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen, auf Konfrontation gegenüber der Bundesregierung, die ihrerseits das Wahldatum ebenfalls stets vor Augen hatte. So blieben auch Hans-Jochen Vogels Bemühungen als Partei- und Fraktionsvorsitzender vergeblich, die Partei auf einer mittleren Linie zusammenzuhalten und mit konkreten Vorschlägen politische Wirkung zu entfalten. Inkompatibel mit der unerwartet tiefgreifenden Gesamtentwicklung, vermochte die SPD im Vereinigungsprozess keinen gestaltenden Einfluss zu gewinnen. Der Vorschlag einer Währungsunion mit der DDR kam zwar, zumindest öf28 JÄGER (wie Anm. 13), S. 155. 29 Vgl. dazu auch Jan-Werner MÜLLER, Another Country. German Intellectuals, Unification and National Identity, New Haven/London 2000, S. 120–150. 30 Vgl. STURM (wie Anm. 16), S. 230–237; JÄGER (wie Anm. 13), S. 69, 155; Dieter GROSSER, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln (Geschichte der deutschen Einheit 2), Stuttgart 1998, S. 189. 31 Vgl. Lafontaines Rede auf dem Berliner SPD-Parteitag am 19.12.1989, in: Protokoll vom Programm-Parteitag Berlin, 18.–20.12.1989, hg. vom Vorstand der SPD, Bonn o. J., S. 253f. (Zitate S. 254); vgl. auch FAZ vom 20.12.1989: „Lafontaine: Soziale Gerechtigkeit wichtiger als staatliche Einheit“, bezeichnenderweise unter dem Hauptartikel über Kohls Besuch in Dresden am 19.12.1989.
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fentlich, ursprünglich aus ihren Reihen – aber nicht einmal diese Initiative vermochte die SPD für sich zu reklamieren, sondern es war schließlich Kohl, der auch diesen Coup für sich verbuchte. FDP Mit dem Zehn-Punkte-Programm hatte Kohl nicht zuletzt das Ziel verfolgt, auch dem Koalitionspartner nicht die Initiative zu überlassen. Die FDP – bis in die sechziger Jahre die dezidiert nationale Partei im bundesdeutschen Spektrum – folgte außen- und deutschlandpolitisch ganz ihrem langjährigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der mit großer Popularität in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine Politik des internationalen Ausgleichs, der multilateralen Einbindung und der europäischen Integration betrieb. In europapolitischer Hinsicht mit Kohl im Grunde ganz einig, setzte er doch vernehmbar andere Akzente als der Kanzler, indem er deutlich stärkere Rücksichten auf Zustimmung von und Konsens nach außen nahm. Schon vor dem Schöneberger Rathaus hatte er am 10. November 1989 sogleich „die Grenze zwischen Deutschen und Polen“32 bekräftigt, und auch hinsichtlich der Thematisierung einer Wiedervereinigung überhaupt agierte er deutlich vorsichtiger als Kohl, dessen Zehn-Punkte-Programm er keineswegs guthieß – vorsichtiger auch als FDP-Parteichef Otto Graf Lambsdorff, der im Oktober, wenn auch in einem weiten zeitlichen Horizont, das „Ziel der deutschen Einheit“33 ansprach. Die FDP folgte im Einigungsprozess der multilateral-integrationspolitischen Linie Genschers, blieb dabei freilich weithin im Windschatten der vorwärtsdrängenden Kräfte der Union in Kanzleramt, Finanzministerium und Parteiapparat. Die Grünen Die Grünen hatten der DDR gegenüber in den achtziger Jahren – bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen zwischen den einzelnen Flügeln – eine Doppelstrategie verfolgt, indem sie Kontakte zu Regime und Oppositionellen unterhielten, zur Oppositionsbewegung auch mehr als alle anderen bundesdeutschen Parteien. Zugleich kamen sie dem SED-Regime mit der dezidierten Befürwortung der Zweistaatlichkeit und der Anerkennung seiner deutschlandpolitischen Forderungen am weitesten entgegen. Die fundamentalistische Richtung verwarf eine Wiedervereinigung aus einem dogmatischen Antikapitalismus heraus, während der realpolitische Flügel, im Sinne von Günter Grass, 32 Texte zur Deutschlandpolitik, III/7 (wie Anm. 22), S. 404. 33 Vgl. Lambsdorff, anders als Genscher zur deutschen Frage, in: „Welt am Sonntag“ vom 15.10.1989.
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von einer historischen Legitimation der Teilung durch Auschwitz ausging und, wie Oskar Lafontaine, auf europäische Integration statt nationaler Einheit setzte.34 Dezidiert lehnten die Grünen die Präambel des Grundgesetzes mit dem Wiedervereinigungsgebot ab.35 In dieser Logik lag auch das Verhalten der Grünen im Herbst 1989, auch nach dem Fall der Mauer. Antje Vollmer, Vertreterin der deutschlandpolitisch flexibleren Gruppe ‚Aufbruch’ zwischen den beiden Flügeln der Partei, kritisierte am 8. November 1989 im Bundestag den „unaufhaltsamen Versöhnungsimperialismus Helmut Kohls“ und die Rede vom „Sieg der westlichen Werte“ als „bundesdeutschen Wohlstandschauvinismus“. Die Wiedervereinigung sei „überholter denn je“, vielmehr entstehe in der DDR erstmals „eine eigene DDR-Identität“.36 Als Reaktion auf Kohls Zehn-Punkte-Programm plädierten die Grünen für eine „Politik der Zweistaatlichkeit ohne jedes Wenn und Aber“37. Zwei Tage später legten sie einen eigenen Sieben-Punkte-Plan vor, der sich ganz auf der Linie der Oppositionsbewegung in der DDR bewegte und die Eigenständigkeit der DDR auf einem ‚dritten Weg‘ forderte.38 Wie die Oppositionsbewegung der DDR befanden sich die Grünen in einem Konflikt mit der Selbstbestimmung der DDR-Bevölkerung und gerieten schließlich, konsequenterweise, mit der Oppositionsbewegung ins Abseits. Erst als sich die Unumgänglichkeit der Wiedervereinigung abzeichnete, gaben die Grünen im Februar 1990 den Anspruch auf Zweistaatlichkeit auf und forderten nunmehr Konzepte des „dritten Weges“ nun für Gesamtdeutschland.39 Auch damit vermochten sie freilich keine gestaltende Kraft im Einigungsprozess zu entfalten. Dieser wurde für die Grünen, ähnlich wie für die SPD, zu einer Anpassungskrise; nicht zuletzt von daher scheiterten die westdeutschen Grünen bei den Bundestagswahlen im Dezember 1990 an der 5%-Hürde. Wissenschaftler und Intellektuelle Allzu leicht und wohlfeil, und doch unübersehbar40 ist der Umstand, wie sehr nicht nur Politiker und Journalisten, sondern auch die sogenannten Experten 34 Vgl. WIRSCHING (wie Anm. 1), S. 652; JÄGER (wie Anm. 13), S. 183–185. 35 Vgl. Joschka Fischer vor dem Hessischen Landtag im Juli 1989, zit. nach Jens HACKER, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin 1992, S. 231. 36 Texte zur Deutschlandpolitik, III/7 (wie Anm. 22), S. 361. 37 Zit. nach Werner WEIDENFELD u.a., Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90 (Geschichte der deutschen Einheit 4), Stuttgart 1998, S. 113. 38 JÄGER (wie Anm. 13), S. 186. 39 EBD. S. 188, 191; WIRSCHING (wie Anm. 1), S. 652. 40 Vgl. dazu mit dezidiert normativer Perspektive und magna cum ira gegenüber allen Abweichlern von Wiedervereinigungsorthodoxie, als Quellenfundus aber aufschlussreich HACKER (wie Anm. 35).
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von der Wucht der deutschen Entwicklungen 1989/90 überrascht wurden und wie falsch die Zeitgenossen mit vielerlei Einschätzungen lagen. Der stets als „Osteuropa-Experte“ apostrophierte Wolfgang Leonhard gab der BBC im Oktober 1989 auf die Frage, ob „die derzeitigen Entwicklungen in Mitteleuropa ... eines Tages eine Wiedervereinigung Deutschlands bewirken“ könnten, entschieden zur Antwort, er „halte dies nicht für möglich“. Sollte ein Reformprozess in der DDR in Gang kommen, würden die Menschen „zum ersten Mal auch etwas für ihre DDR empfinden“ und somit anstelle einer Wiedervereinigung „eher zwei demokratische deutsche Systeme“ stehen.41 Ebenso weit an der Realität vorbei gingen Vorhersagen der wirtschaftlichen Entwicklung oder die Wahrnehmung der medienpräsenten Politikwissenschaftlerin Margarita Mathiopoulos: „Die Bürger der DDR wollen die Wiedervereinigung nicht. … Auf Demonstrationen fordern die Menschen Reformen, nicht Wiedervereinigung.“ Stattdessen postulierte sie am 17. November, acht Tage nach der Öffnung der Mauer in einem großen Artikel in der „Zeit“: „Wir müssen die Teilung Deutschlands anerkennen, um die Teilung Europas zu überwinden.“42 Mangels allenthalben wirklich verlässlicher Expertise war der Blindflug der politischen Verantwortungsträger in die Einheit unausweichlich. Ebenso wenig zeichnete sich eine common opinion unter den Intellektuellen ab, die sich gesellschaftspolitisch zu Wort meldeten. In einem breiten Spektrum von Positionen herrschte dabei ein gewisses Übergewicht linker Nationsund Einheitsskepsis vor. Obstinat und exponiert argumentierte Günter Grass gegen die deutsche Einheit, so etwa im Februar 1990: „Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken. Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus. Sollte er, was zu befürchten bleibt, dennoch ertrotzt werden, wird ihm das Scheitern vorgeschrieben sein.“43 Vom Vorwurf der „Raubrittermentalität“ der BRD in der DDR44 war es nicht weit zum Vorwurf des „pausbackigen DM-Nationalismus“, den Jürgen Habermas als Wurzel des Einigungsprozesses ausmachte, gestützt auf die
41 Wolfgang Leonhard, “The World Tonight”, Interview für BBC vom 6.10.1989 (Abschrift des Bundespresseamts, ACDP, Pressedokumentation, 1/23/0). 42 Margarita MATHIOPOULOS, „Auf die Einheit verzichten. Statt Wiedervereinigung ein Friedensvertrag für Europa“, in: „Die Zeit“ vom 17.11.1989. 43 Günter GRASS, Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen (Rede in der Evangelischen Akademie Tutzing, 2.2.1990), in: DERS., Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut, Frankfurt/M. 1990, S. 7–14, hier S. 13. 44 Interview mit Günter Grass zum Prozess der deutschen Einheit, in: Wolfgang JÄGER/Ingeborg VILLINGER, Die Intellektuellen und die deutsche Einheit, Freiburg i. Br. 1997, S. 236.
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„vorpolitischen Krücken von Nationalität und Schicksalsgemeinschaft“45. Aus solchen Verdikten sprach eine auf Seiten der politischen Linken allgegenwärtige tiefe Abneigung gegen das geradezu verselbständigte Feindbild des „Nationalstaats“ und eine dezidiert postnationale, europäisch-westliche Orientierung im Sinne Oskar Lafontaines. Dies gilt auch für Hans-Ulrich Wehler, einen der meinungsstärksten und öffentlich besonders präsenten deutschen Historiker, der die „staatliche Einheit“ im Oktober 1989 als „höchst dubioses Ziel“ verwarf und stattdessen für eine „gemeineuropäische Konföderation“ als „Optimum“ und „Ideal“ votierte, einschließlich der zwangsläufigen „Anerkennung des Staates DDR“.46 Demgegenüber reflektierte sein bürgerlicher Antipode Thomas Nipperdey auf das (in den Diskussionen der achtziger Jahre konservativerseits mit der Nation verbundene) Konzept der „Identität“ und die – historisch oder politisch nicht weiter begründete – Vorstellung ihrer „Normalität“: „Wer nationale Identität nicht sozusagen selbstverständlich hat, hat ein Identitätsproblem, leidet an einem Identitätsverlust oder einer Störung.“47 Gewohnt pointiert konstatierte Hans-Peter Schwarz frohlockend das „Ende der Identitätsneurose“ mit dem Ende ihrer Hauptursache, der Teilung des Landes; ihr Ergebnis sei die „endlich normale Bundesrepublik“.48 Dabei folgten die Debatten gewissen sprachlichen Mustern. Die linke Kritik neigte zur Dämonisierung der Gegenseite und reklamierte für sich – paradigmatisch Jürgen Habermas – das Rationale und zugleich das Moralische. Die konservative Kritik der linken Nationskritik operierte demgegenüber nicht mit rationaler Deduktion, sondern mit Begriffen aus dem semantischen Feld von Krankheit, der gegenüber sie für sich das Normale und Gesunde reklamierte – zuzüglich einem teleologischen Zug erfüllter Sehnsucht der in einem obligaten „endlich“49 zum Ausdruck kam. Alles in allem schälten sich aus der polemisch aufgeladenen Meinungsfülle keine wirklich leitenden Tendenzen heraus, kein politisch normierender Referenzrahmen, auch nicht seitens der von bürgerlich-konservativer Seite als dominant wahrgenommenen (in Wahrheit gerade in der deutschen Frage ih-
45 Jürgen HABERMAS, „Der DM-Nationalismus“, in „Die Zeit“ vom 30.3.1990. 46 Hans-Ulrich WEHLER, „Deutsche Frage und europäische Antwort“, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 14.10.1989. 47 Thomas NIPPERDEY, „Die Deutschen wollen und dürfen eine Nation sein“, in: FAZ vom 13.7.1990. Ähnlich der politisch keineswegs konservative Althistoriker Christian MEIER, „Die deutsche Einheit als Herausforderung. Beide Seiten könnten und sollten voneinander lernen“, in: FAZ vom 24.4.1990. 48 Hans-Peter SCHWARZ, „Das Ende der Identitätsneurose“, in: „Rheinischer Merkur“ vom 7.9.1990. 49 Vgl. auch Martin WALSER, „Vom Stand der deutschen Dinge“, in: FAZ vom 5.12.1989: „Eine selbstverständliche Zusammengehörigkeit durfte sich endlich ausdrücken.“
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rerseits recht heterogenen) Linken mit ihrem moralisierten Anspruch. Jedenfalls waren die bürgerlich-liberalen Entscheidungsträger auch gegen diesen gefühlten mainstream handlungsfähig und sehr viel handlungsfähiger als in vielen gesellschaftspolitischen Fragen der achtziger Jahre. Umgekehrt waren die Intellektuellen für den Gesamtzusammenhang der Wiedervereinigung nur von untergeordneter Bedeutung. Am ehesten gelang es einzelnen von ihnen, als historisch-politische Berater der Bundesregierung, insbesondere Helmut Kohls, in das Geschehen einbezogen zu werden, aber auch dies mehr zur Absicherung einer bereits initiierten Politik als zu ihrer originären Gestaltung. Massenmedien und öffentliche Meinung Auf journalistischer Ebene erklang in der deutschen Frage eine Kakophonie der meinungsstarken Tagesgebundenheiten. Hingegen entfalteten auch die Massenmedien keine identifizierbar einheitliche, die Politik treibende Kraft. „Wer heute das Gerippe der deutschen Einheit aus dem Schrank holt,“, so schrieb Theo Sommer, der Chefredakteur der „Zeit“ nach Gorbatschows Besuch in Bonn im Juni 1989, „kann alle anderen nur in Angst und Schrecken versetzen.“50 Demgegenüber akklamierte der Gründer und Verleger des Blattes, Gerd Bucerius, eine deutsche Wiedervereinigung unter der Bedingung, dass die deutsche Ostgrenze anerkannt werde, als legitimes Ziel und bereits im Oktober 1989 – ganz auf der Linie der zu diesem Zeitpunkt noch wenig angesehenen Gesamttendenz – als teure, aber „hervorragende Investition“.51 Er brachte, 1906 geboren und eine Generation älter als Theo Sommer, die Reflexe und Instinkte einer Generation zum Ausdruck, für die ein vereintes Deutschland Normalität und somit auch einen politischen Wert darstellte. Dasselbe galt für den 1923 geborenen Rudolf Augstein. Gemeinsam mit Helmut Schmidt plädierte er im Juli 1989 dafür, den Anspruch auf die deutsche Einheit aufrechtzuerhalten, und forderte am 20. November, im Sinne der Einheit, zu „sagen, was ist“52 – ohne dass dies die mainstream-Meinung des „Spiegel“ gewesen wäre, in dem viel mehr eine breite Palette von Positionen mit obligat kritisch-provokativem Habitus vertreten wurde. Die Haltung des „Spiegel“ gab es nicht; Chefredakteur Erich Böhme etwa bekannte Ende Oktober 1989: „Ich möchte nicht wiedervereinigt werden.“53 Vereinigungsskeptische Grundtöne schlugen auch die „Süddeutsche Zeitung“ und der „Stern“ an,54 wohingegen die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
50 Theo SOMMER, „Quo vadis Germania?“, in: „Die Zeit“ vom 23.6.1989. 51 Gerd BUCERIUS, „Opfer bringen für die Wiedervereinigung“, EBD. vom 13.10.1989. 52 Rudolf AUGSTEIN, „Antwort auf eine nicht gestellte Frage“, in: „Der Spiegel“ vom 3.7.1989; DERS., „Sagen, was ist“, EBD. vom 20.11.1989. 53 Erich BÖHME, „Die Gelegenheit ist günstig“, EBD. vom 30.10.1989.
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traditionell die Offenheit der Geschichte betont und am Wiedervereinigungsanspruch festgehalten hatte. Auch hier entfaltete sich freilich ein Spektrum unterschiedlicher Denker und Meinungen. Aufs Ganze gesehen, ließ sich die FAZ früher als andere Organe auf den Gedanken einer konkreten Wiedervereinigung ein, betrieb allerdings keineswegs vorwärtsstürmend visionäre Wiedervereinigungspublizistik, sondern agierte eher zurückhaltend und zögerlich. Anders allein die Blätter aus dem Springer-Verlag, „Bild“ und „Welt“. Sie setzten dezidierte Akzente für die Wiedervereinigung und forderten am selben Tag, da Margarita Mathiopoulos in der „Zeit“ für die Anerkennung der Teilung votierte, die „Einheit in Freiheit“, während sie die Bundesregierung bis Ende November für ein zu zögerliches Vorgehen tadelten.55 An der demoskopisch gemessenen öffentlichen Meinung lag dies näher als die intellektuelle und journalistische Vereinigungsskepsis linksliberaler bzw. linker Provenienz. Die bereits angesprochene Tendenz der achtziger Jahre, die deutsche Einheit zu befürworten und zugleich zu erwarten, dass sie nicht eintritt, setzte sich bis in den Herbst 1989 hinein fort. Eine Blitzumfrage für die ARD-Sendung „Im Brennpunkt“ am 21. September 1989 wirft ein Schlaglicht: 79 % der Befragten hielten eine Wiedervereinigung für wünschenswert und 68 % in nächster Zeit nicht für möglich; in der Sendung „Pro und Contra“ vier Wochen später stimmten am Schluss etwas mehr als 62 % für eine Wiedervereinigung.56 Wie auch immer die gemessenen Zahlen im Einzelnen ausfallen mochten: Eine breite Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung war im Herbst 1989 für eine deutsche Wiedervereinigung. Allerdings fanden hier nicht wie sonst im politischen System der Bundesrepublik langwierige Aushandlungsprozesse in einem differenzierten Meinungskosmos statt. Vielmehr übernahm die Regierung in jenem tiefgreifenden, die Notwendigkeiten des Handelns diktierenden Prozess Ende November die politische Führung, die sie für einige Monate in außergewöhnlichem Maße auszuüben vermochte. Der Wille der Bevölkerung in der Bundesrepublik spielte dabei keine aktiv treibende, das politische Handeln direkt beeinflussende, sondern eine indirektere Rolle, insofern die han-
54 Vgl. Josef JOFFE [Ressortchef Außenpolitik], „Das Gebot der Weisheit“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 28.10.1989 (für europäische Union vor deutscher Einheit) sowie Heinrich JAENECKE, „Gebt der DDR eine Chance“, in: „Stern“ vom 23.11.1989. 55 Vgl. Herbert KREMP [Chefredakteur der „Welt“], „Befreiter Blick aufs Staatsziel“, in: „Die Welt“ vom 11.10.1989; DERS., „Lassen wir uns die Wiedervereinigung von anderen vorformulieren?“, in: „Welt am Sonntag“ vom 19.11.1989; Manfred SCHELL, „Unsere Politik zielt auf Einheit in Freiheit“, in: „Die Welt“ vom 17.11.1990; Hans-Hermann TIEDJE [Chefredakteur der „Bild-Zeitung“], „Wer ja zur Einheit sagt, gewinnt“, in: „Bild“ vom 23.11.1989. 56 ACDP, Pressedokumentation, 1/23/0; vgl. auch Elisabeth NOELLE-NEUMANN (Hg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. 9: 1984/92, München 1993, S. 431–455.
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delnden Politiker ihn im Hinblick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen wahrnahmen. Alles in allem: Vor der Zeitenwende von 1989/90 war die deutsche Frage in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik diskursiv präsent. Doch stand die deutsche Einheit nicht auf der politischen Agenda, so dass auch keine konkret umsetzbaren Positionen bezogen waren. Die verschiedenen Parteien waren jedoch unterschiedlich disponiert, dem Gang der Geschichte zu folgen, als diese mit unerwarteter Plötzlichkeit gleichsam um die Ecke bog und die deutsche Einheit ansteuerte. Linke und bürgerliche Parteien einte dabei die leitende Idee einer supranationalen politischen Integration Europas, die in der Bundesrepublik auch im internationalen Vergleich in besonderem Maße forciert wurde, ohne freilich recht genau zu wissen, wie ein europäischer Bundesstaat letztlich konkret aussehen sollte. Der entscheidende Unterschied lag unterdessen darin, dass diese europäische Union auf Seiten der Linken ohne einen deutschen Nationalstaat gedacht wurde, und sie mit der deutschen Einheit aufs Ganze gesehen wenig anzufangen wusste. Die bürgerlichen Parteien hingegen, und Helmut Kohl in seiner grundständig optimistischen Geschichts- und Weltauffassung zumal, vermochten supranationale Integration und nationalstaatliche Einigung als zwei Seiten einer Medaille aufzufassen. Da sie sich obendrein in der Regierungsverantwortung befanden, konnten die bürgerlichen Parteien somit zu den Parteien der deutschen Einheit werden, nicht nur programmatisch, sondern auch historisch.
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Der Honecker-Besuch in der öffentlichen Meinung Von Manuela Glaab 1. Einleitung: Der lange Weg zum Honecker-Besuch Vom 7. bis 11. September 1987 besuchte Erich Honecker, SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR, erstmals offiziell die Bundesrepublik Deutschland. Im Rückblick sprach Bundeskanzler Helmut Kohl vom Honecker-Besuch als der „... wohl wichtigsten innerdeutschen Entscheidung, die ich persönlich zu treffen hatte und die mir so schwergefallen ist, wie keine andere ..., weil sich alles in mir gesträubt hat, das zu tun, was wir aber dann als notwendig befanden ...“.1 Die Einladung für einen Besuch in der Bundesrepublik hatte bereits sein Amtsvorgänger Helmut Schmidt ausgesprochen, als er im Dezember 1981 am Werbellinsee in der DDR weilte. Die wiederholt angekündigte Reise wurde in der Folgezeit jedoch mehrfach verschoben. Der für 1984 avisierte Besuch, der unter Federführung des Staatsministers im Bundeskanzleramt, Philipp Jenninger, vorbereitet worden war, scheiterte. Am 4. September 1984 übermittelte der Ständige Vertreter der DDR, Ewald Moldt, die Absage mit Verweis auf die innenpolitische Auseinandersetzung um die Besuchspläne in der Bundesrepublik. Einen Vorwand für die Absage hatte der Unionsfraktionsvorsitzende Alfred Dregger mit seiner Bemerkung geliefert: „Unsere Zukunft hängt nicht davon ab, dass Herr Honecker uns die Ehre seines Besuchs erweist.“ Dass letztlich die weltpolitische Lage und die Vorbehalte der Sowjetunion – erinnert sei an die Revanchismusvorwürfe in Anbetracht der geplanten Raketenstationierung in der Bundesrepublik – hierfür ausschlaggebend waren, steht jedoch außer Zweifel. Spekulationen über Besuchspläne füllten in den folgenden Jahren weiterhin die Gazetten.2 Deutschlandpolitik war in der Ära Kohl „Chefsache“.3 „Unter strengster Geheimhaltung“4 wurden ab Frühsommer 1987 vom Kanzleramt aus auch die
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So Bundeskanzler Kohl am 4.11.1993 vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags; zit. nach: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. V.1: Deutschlandpolitik, innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen, Baden-Baden 1995, S. 920. Vgl. Manfred REXIN, Der Besuch. September 1987: Honecker in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte [APuZ], B 40–41 (1997), S. 3–11. Vgl. Karl Rudolf KORTE, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989, München 1998. Claus J. DUISBERG, Das deutsche Jahr. Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/90, Berlin 2005, S. 11.
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Besuchsvorbereitungen betrieben. Bereits Anfang April hatte Bundeskanzler Kohl dem Besuch in einem Gespräch mit Politibüro-Mitglied Günter Mittag zugestimmt, wenngleich widerstrebend und in der erklärten Absicht, diesen so formlos wie möglich zu gestalten. Am 15. Juli 1987 erfolgte schließlich die Bekanntgabe des Besuchsprogramms durch das Bundeskanzleramt und die DDR-Nachrichtenagentur ADN. Um die protokollarischen Details der als Arbeitsbesuch bezeichneten Visite war hart gerungen worden, doch erhielt sie wesentliche Attribute eines Staatsbesuchs.5 Bis in die heutige Zeit hinein liefert der Honecker-Besuch Diskussionsstoff: Wurde damit die Anerkennung des SED-Systems besiegelt? War er der Schlüssel zu menschlichen Erleichterungen? Oder handelte es sich um den Anfang vom Ende der DDR? Ziel ist es im Folgenden nicht, eine zeitgeschichtliche Analyse der Ereignisse vom September 1987 zu liefern. Weder die Vorgeschichte, noch der Besuchsverlauf oder seine Folgewirkungen können hier detailliert untersucht werden. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, die öffentliche Meinung zu diesem Ereignis anhand der Presseberichterstattung wie auch von Meinungsumfragen nachzuvollziehen. Da der Fokus sich auf die Ära Kohl richtet – aber auch aufgrund der Datenlage –, konzentriert sich der Beitrag in erster Linie auf die Wahrnehmung des Honecker-Besuchs in der Bundesrepublik Deutschland. In Ausschnitten wird jedoch auch auf das Meinungsbild in der DDR eingegangen, um den empirischen Befund hierdurch genauer zu konturieren. 2. Die Resonanz des Besuchs: Medienereignis mit gemischten Gefühlen Der fünftägige Besuch des SED-Generalsekretärs und Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, in Bonn und weiteren Stationen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und in Bayern wurde im In- wie Ausland intensiv verfolgt. Bemerkenswert ist die Übertragung im DDR-Fernsehen sowie der ungekürzte Abdruck der Reden im „Neuen Deutschland“ und anderen Tageszeitungen der DDR.6 Dabei ist eines wichtig hervorzuheben: Der Besuch stellte „für beide Seiten eine Gratwanderung“7 dar, bestanden doch weiterhin 5
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Bei der Eröffnung der Gespräche mit der DDR-Delegation am 7.9.1987 bezeichnete Bundeskanzler Kohl die Begegnung noch einmal ausdrücklich als „Arbeitsbesuch“; tatsächlich erfolgt ein Staatsbesuch auf Einladung des Bundespräsidenten, wohingegen Honecker auf Einladung des Bundeskanzlers mit protokollarischen Ehren eines Staatsoberhaupts in Bonn empfangen wurde; vgl. Ilse SPITTMANN, Der Besuch, in: Deutschland Archiv 30 (1987), S. 785–788, hier S. 786. Sogar die Meldungen der Ehrenformationen an den Gast wurden im „Neuen Deutschland“ im Wortlaut abgedruckt: „Die SED kostete alle Zeichen staatlicher Anerkennung aus“, Siegfried SUCKUT, Honeckers Besuch in der Bundesrepublik 1987. Wie die DDR-Bevölkerung darüber dachte. Erkenntnisse des MfS, in: Deutschland Archiv 40 (2007), S. 855– 858, hier S. 857. DUISBERG (wie Anm. 4), S. 17.
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grundlegende rechtliche wie politische Auffassungsunterschiede bezüglich der deutschen Frage. Ausgangspunkt der Betrachtungen ist daher zunächst die von offizieller Seite, also der Bundesregierung wie auch der SED-Führung, artikulierte Sichtweise des deutschlandpolitischen Großereignisses.8 2.1 Konträre offizielle Deutungsmuster: „Konzentration auf das Machbare“ versus „Normalisierung“ Der Honecker-Besuch war auch und vor allem geprägt vom Bemühen beider Seiten, ihre eigene Deutung des Ereignisses zu vermitteln. Ging es im Vorfeld der Reise darum, den deutschlandpolitischen Erwartungshorizont zu markieren, so bemühten sich beide Seiten während des Besuchs darum, den „richtigen Ton“9 zwischen Abgrenzung und Kooperation zu treffen, um schließlich die je eigene Erfolgsbilanz zu präsentieren. Kennzeichnend ist zunächst das aktive Erwartungsmanagement seitens der Bundesregierung im Vorfeld des Honecker-Besuchs, wozu bereits die Pressekonferenz des Kanzleramtsministers vom 15. Juli 1987 genutzt wurde. Unter Verweis auf die „vielfältigen Empfindungen“ erklärte Schäuble, es müsse „sehr behutsam“ mit diesem Ereignis umgegangen werden.10 Diese Äußerung war nicht zuletzt an Kritiker in den Reihen der CDU/CSU gerichtet, warf der Besuch doch komplizierte statusrechtliche Fragen auf. Daher unterstrich die Bundesregierung, es handele sich um einen „offiziellen Besuch“, der den Sondercharakter der innerdeutschen Beziehungen unberührt lasse; die Ministerin für innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms, werde an allen Gesprächen beteiligt sein.11 Der Zeitpunkt für eine Begegnung erscheine jetzt besonders geeignet, da es in jüngster Zeit erkennbare Fortschritte im innerdeutschen Verhältnis gegeben habe, vor allem im Bereich des Reiseverkehrs. Die – in den Folgemonaten wiederholt erneuerte – Hauptbotschaft Schäubles aber lautete, der bevorstehende Besuch dürfe „nicht mit Erwartungen überfrachtet“ werden.
8 Grundlegend vgl. KORTE (wie Anm. 3), S. 324–375. 9 Vgl. z.B. Martin E. SÜSKIND, „Auftritte voll versteckter Dramatik. Das deutsch-deutsche Gespräch wird bei allen Gegensätzen vom Bemühen beider Seiten geprägt, den richtigen Ton zu treffen“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 9.9.1987. 10 Vgl. u.a. Helmut LÖLHÖFFEL und Karl-Heinz BAUM, „Behutsam heißt das Schlüsselwort der Reiseveranstalter. Honeckers Besuch in der Bundesrepublik wurde sorgfältig eingefädelt. DDR-Bürger hoffen auf Erleichterungen“, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 17.7.1987 11 Vgl. die Erklärung des Chefs des Bundeskanzleramts, Dr. Wolfgang Schäuble, vor der Bundespressekonferenz in Bonn am 16.7.1987, in Auszügen abgedruckt in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Der Besuch von Generalsekretär Honecker in der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation zum Arbeitsbesuch des Generalsekretärs der SED und Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, in der Bundesrepublik Deutschland im September 1987, Bonn 1988, S. 11f., hier S. 11.
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Konkret in Aussicht stehe die Unterzeichnung von drei bilateralen Abkommen, nämlich ein Umweltabkommen, ein Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit sowie eine Vereinbarung zur Kerntechnik.12 Noch weitaus zurückhaltender fielen öffentliche Äußerungen DDR-Offizieller im Vorfeld des Honecker-Besuchs aus. Einzig DDR-Außenminister Oskar Fischer äußerte sich gegenüber ADN und formulierte die Erwartung, eine „weitere Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten wäre ein wesentlicher Beitrag zu einem verstärkten friedensdienlichen Miteinander in Europa“.13 Eher skeptisch fiel allerdings die intern vom Ministerium für Staatssicherheit formulierte Einschätzung des Honecker-Besuchs aus.14 Schon vor Antritt der Reise hielten die MfS-Berichte zwar die offizielle Lesart fest, indem sie den Empfang Honeckers mit allen protokollarischen Ehren und die hiermit gezeigte Anerkennung der Existenz zweier deutscher Staaten hervorhoben. Auffallend ist andererseits aber der wiederholte Verweis auf Vorbehalte der „progressiven Kräfte“ gegen die bevorstehende Reise. Gemeint sind SED-Mitglieder sowie Angehörige des MfS, die den Besuch aus politischstrategischen Gründen für verfrüht hielten. So bestand beispielsweise die Befürchtung, es werde der westlichen These von der Einheit Deutschlands propagandistisch Vorschub geleistet. Bedenken wurden zudem, wie im Folgenden noch zu erläutern sein wird, bezüglich der zu erwartenden Resonanz in der DDR-Bevölkerung formuliert. Auch in der Bundesrepublik waren noch im unmittelbaren Vorfeld des Besuchs kritische Stimmen zu vernehmen. Bundesminister Norbert Blüm betonte unter Verweis auf die Menschenrechtsverletzungen des SED-Regimes in einem Interview vom 7. September 1987, die Bundesrepublik habe „die Stellvertreter-Pflicht, dieses Unrecht offen anzusprechen“. Der Honecker-Besuch dürfe nicht „die Abnormalität der Trennung vergessen machen“, vielmehr sei der „vielbenutzte Begriff der Normalisierung … so lange unangebracht, solange die Mauer existiert“.15 Dass ein Regierungsmitglied dies anmahnte, sollte nicht zuletzt ein Signal der Standfestigkeit an die eigene Partei und Anhängerschaft senden.16 12 Vgl. „Bundesregierung: Den Besuch Honeckers nicht mit Erwartungen überfrachten“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 17.7.1987. 13 Albrecht HINZE, „DDR hofft auf bessere Wirtschaftskontakte“, EBD. vom 5.9.1987; Fischer bezog sich in diesem Zusammenhang auch auf die von Kohl und Honecker am 12.3.1985 in Moskau abgegebene Gemeinsame Erklärung, mit der die DDR seither ihren Anerkennungsanspruch untermauerte; weiterführend vgl. KORTE (wie Anm. 3), S. 348. 14 Laut Verteiler wurden diese Berichte Honecker vermutlich nicht persönlich vorgelegt; vgl. SUCKUT (wie Anm. 6) mit einer Zusammenfassung der Berichtstätigkeit des MfS. 15 Interview mit Norbert Blüm, in: „Die Welt“ vom 7.9.1987. 16 Blüm selbst war unter Druck geraten, weil er Menschenrechtsverletzungen des PinochetRegimes auf seiner Chile-Reise angeprangert hatte und so auch zum SED-Unrecht Stellung nehmen musste.
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Der Besuch selbst war geprägt vom Bemühen beider Seiten, guten Willen zu demonstrieren.17 Der Bundeskanzler erklärte schon bei der ersten Unterredung mit Honecker, es bestehe Einigkeit, „daß Fragen, die zur Zeit nicht lösbar sind, nicht in den Vordergrund gestellt werden sollten, daß wir uns auf das Machbare konzentrieren müssen“.18 Für die Bundesregierung stünden die Bemühungen um mehr menschliche Kontakte im Vordergrund. Von Beginn an versäumte es Kohl aber nicht zu betonen, dass die Bundesregierung an der Einheit der Nation, mithin den gegensätzlichen Auffassungen zu Grundsatzfragen festhalte. Auch Honecker signalisierte Bereitschaft zur Zusammenarbeit, hob dabei aber die Normalität der Beziehungen hervor. So bekräftigte er beim Empfang durch den Bundespräsidenten die Position der DDR: „Dauerhafte gute Nachbarschaft verlangt, die Realitäten zu akzeptieren … Friedliche Koexistenz muss überall zur Normalität in den zwischenstaatlichen Beziehungen werden.“19 Insgesamt rückte die DDR-Seite den Besuch primär in den Kontext der Friedens- und Abrüstungspolitik.20 Offen zutage trat der fundamentale Dissens in der deutschen Frage beim Empfang in der Godesberger Redoute. Bundeskanzler Kohl nutzte seine Tischrede, um noch einmal klarzustellen: „Für die Bundesregierung wiederhole ich: Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition … Wir achten die bestehenden Grenzen, doch die Teilung wollen wir überwinden auf dem Weg friedlicher Verständigung und in Freiheit. Die deutsche Frage bleibt offen, doch ihre Lösung steht zur Zeit nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte, und wir werden dazu auch das Einverständnis unserer Nachbarn brauchen.“21 Auf den Schießbefehl ging Kohl ein mit den Worten: „Wir wollen Frieden in Deutschland und dazu gehört auch, daß an der Grenze Waffen auf Dauer zum Schweigen gebracht werden… Die Menschen in Deutschland… leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt.“22 Honecker entgegnete in seiner Replik, die wiederum auf die entspan17 Vgl. „Kohl und Honecker zeigen gleich am ersten Besuchstag viel guten Willen vor“, in: FAZ vom 8.9.1987. 18 Erklärung von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zur Eröffnung der Gespräche mit Generalsekretär Honecker bei der ersten Delegationssitzung am 7.9.1987, abgedruckt in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (wie Anm. 11), S. 17–20, hier S. 18. 19 Zit. nach „Kohl und Honecker zeigen gleich am ersten Besuchstag viel guten Willen vor“, in: FAZ vom 8.9.1987. 20 Siehe dazu auch das am 28.8.1987 veröffentlichte und in der Bundesrepublik höchst umstrittene SED-SPD-Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“; vgl. Rolf REISSIG, Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED, Frankfurt/M. 2002. 21 Ansprache des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl bei einem Abendessen zu Ehren von Generalsekretär Erich Honecker am 7.9.1987 in der Redoute in Bonn-Bad Godesberg, abgedruckt in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (wie Anm. 11), S. 26–31, hier S. 27. 22 EBD. S. 29.
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nungspolitische Bedeutung der Begegnung abhob, die DDR wolle Kooperation anstelle von Konfrontation. Die Entwicklung der Beziehungen sei aber „von den Realitäten dieser Welt gekennzeichnet. Und sie bedeuten, daß Sozialismus und Kapitalismus sich ebenso wenig mischen könnten wie Feuer und Wasser.“23 Hatten die beiden Reden ganz erhebliche Gegensätze hervortreten lassen, so war im Gemeinsamen Kommuniqué hiervon nur zwischen den Zeilen zu lesen. Als klassisches „Kompromißpapier“24 hielt es lediglich Ergebnisse und Einordnung des Besuchs mit den en détail vereinbarten Sprachregelungen fest. Unterschiedlich handhabten beide Seiten wiederum die Vermittlung der Besuchsbilanz. Bundeskanzler Kohl verzichtete – aus innenpolitischen Motiven25 – auf eine Regierungserklärung und zog stattdessen im Rahmen der Haushaltsdebatte eine erste positive Bilanz des Honecker-Besuchs. Neben den erreichten praktischen Fortschritten betonte er, das Bewusstsein für die Einheit der Nation sei hierdurch geschärft worden.26 Im Rahmen seines Berichts zur Lage der Nation vom Oktober 1987 würdigte er diesen noch einmal ausführlicher und ordnete das Ereignis in die Deutschlandpolitik seiner Regierung ein.27 Kanzleramtsminister Schäuble bekräftigte in einem Interview, eine Beseitigung der Teilung sei realistischerweise nicht erwartbar gewesen, aber im Rahmen des Möglichen „sind wir am oberen Rand der Erwartungen angekommen“.28 Die SED-Führung wertete den Honecker-Besuch ihrerseits als bedeutenden politischen Erfolg. Dementsprechend fiel auch der Tenor der am 16. September 1987 im „Neuen Deutschland“ verkündeten Erfolgsbilanz aus. Unter der Überschrift „Ein Erfolg der Politik der Vernunft und des Realismus“ wurde der Honecker-Besuch als Ereignis von „herausragendem internationalen Ge23 Erwiderung des Generalsekretärs des Zentralkomitees und Vorsitzenden des Staatrats der DDR, Erich Honecker, abgedruckt in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (wie Anm. 11), S. 32–35, hier S. 32. 24 Karl Wilhelm FRICKE, Der Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik Deutschland, in: Europa-Archiv 23 (1987), S. 683–690, hier S. 688. 25 Ausschlaggebend waren Divergenzen mit der Schwesterpartei CSU bezüglich der vom Bundeskanzler überraschend angekündigten Pershing I-Abrüstung; die Opposition im Bundestag, so die Befürchtung, könnte eine Regierungserklärung dazu nutzen, einen Initiativantrag zur Pershing-Entscheidung im Bundestag einzubringen; vgl. „Weisheit am Werk“, in: „Der Spiegel“, Nr. 37 vom 7.9.1987 sowie „Kohl verzichtet auf Regierungserklärung“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 10.9.1987. 26 Vgl. Rede des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag vom 10.9.1987 im Rahmen der Aussprache über den Bundeshaushalt 1998, in Auszügen abgedruckt in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (wie Anm. 11), S. 88–93. 27 Vgl. „Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“. Erklärung der Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag vom 15. Oktober 1987, in: Bulletin, Nr. 106 vom 16.10.1987, S. 909–916. 28 „Schäuble: Berlin wird an allen Schritten teilhaben“, in: „Die Welt“ vom 10.9.1987.
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wicht“ gewürdigt.29 Weite Passagen des Artikels widmeten sich der friedenspolitischen Relevanz der Visite vor dem Hintergrund der laufenden Abrüstungsbemühungen. Der Beitrag beider Staaten zu Frieden, Abrüstung und Entspannung – im Sinne einer „Verantwortungsgemeinschaft und Sicherheitspartnerschaft“ – wurde denn auch als „hervorstechendstes Ergebnis“ gewertet. Zugleich wurde die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Bündnissen als „unumstößliche Tatsache“ explizit betont. Der Aspekt der „Einheit der Nation“ hingegen fand keine Erwähnung, jedoch wurde klar gestellt: „… daß jegliches internationales Gerede über eine Vereinigung beider deutscher Staaten nur destabilisierend wirken kann und schädlich für das europäische Gleichgewicht ist“. Friedenssicherung sei die „Kernfrage“ im Verhältnis der beiden deutschen Staaten, „Träumereien an Kaminen“ fehl am Platze. Nur am Rande und im Verlautbarungsstil wurden die konkret getroffenen Vereinbarungen erwähnt. Der Besuch habe gezeigt, dass die DDR zu Dialog und sachlicher Zusammenarbeit bereit sei, doch wird betont: „Dauerhaft gute Nachbarschaft erfordert die Respektierung der Realitäten.“ Während des „offiziellen Besuchs des Staatsoberhauptes der Deutschen Demokratischen Republik“ sei deutlich zum Ausdruck gebracht worden, dass man sich „wie zwischen souveränen Staaten üblich, entsprechend dem Völkerrecht, auf der Basis gegenseitiger Achtung respektieren (müsse)“. In diesem Kontext wird nicht versäumt hervorzuheben: „Die Hymne sowie das dazugehörende Zeremoniell haben das deutlich unterstrichen. Ohne Zweifel ist diese Erkenntnis während des Besuchs bei nicht wenigen Bürgern der BRD vertieft worden. Auch international fand dies gebührend Beachtung. Und das ist gut so.“ Dass es der SED-Führung vor allem darum ging, ihre Statuspositionen30 durchzusetzen, lässt sich durch interne Dokumente erhärten. So hieß es im offiziellen Bericht an das Politbüro31: „Das Stattfinden des Besuches und die durchgesetzte politische und protokollarische Behandlung des Genossen Erich Honecker als Staatsoberhaupt eines souveränen Staates dokumentierten vor aller Welt Unabhängigkeit und Gleichberechtigung beider deutscher Staaten, 29 „Ein Erfolg der Politik der Vernunft und des Realismus“, in: „Neues Deutschland“ vom 16.9.1987, abgedruckt in: Hans-Hermann HERTLE u.a., Der Staatsbesuch. Honecker in Bonn: Dokumente zur deutsch-deutschen Konstellation des Jahres 1987, Berlin 1991, S. CXXV–CXXVII. 30 Verwiesen sei hier auf die Geraer Forderungen: Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, Grenzkorrekturen an der Elbe, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften sowie die Schließung der Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter; beim Honecker-Besuch ging es v.a. um den Grenzverlauf, doch besaß die Staatsbürgerschaftsfrage mit Blick auf den Herrschaftsanspruch der SED zentrale Bedeutung; vgl. HERTLE (wie Anm. 29), S. 17, 38. 31 „Bericht über den offiziellen Besuch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genosse Erich Honecker, in der BRD vom 7. bis 11.9.1987. Vertrauliche Verschlusssache“; zit. nach HERTLE (wie Anm. 29), S. XCIII.
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unterstrichen ihre Souveränität und den völkerrechtlichen Charakter ihrer Beziehungen.“ Geradezu triumphierend wurde festgestellt, damit sei „allen revanchistischen und ‚innerdeutschen’ Bestrebungen ein schwerer Schlag versetzt“ worden. „Das konnten auch Äußerungen von Kohl und anderen über ‚Rechtspositionen’ und zur ‚Einheit der Nation’ nicht ändern. Es ist bedeutungsvoll, dass gerade eine CDU/CSU-geführte Regierung gezwungen war, dem Besuch und seinem Ablauf in dieser Form zuzustimmen.“ 2.2 Veröffentlichte Meinung: Menschliche Erleichterungen zum Preis der Aufwertung der DDR Wie stellte sich das Stimmungsbild in der deutschen Öffentlichkeit bei Bekanntgabe des Besuchs, mitten im Sommerloch, dar? Und welche Schwerpunkte setzte die Berichterstattung zum Ereignis selbst? Zunächst einmal fällt auf: Während die Besuchsankündigung in der Bundesrepublik von der Bundesregierung ausführlich erläutert und von den Medien breit kommentiert wurde, ist diese in der DDR von der Nachrichtenagentur ADN lediglich knapp verkündet worden. Fernsehen und Presse enthielten sich einer Kommentierung.32 Neben der Vorgeschichte des nun für Anfang September 1987 angekündigten Honecker-Besuchs widmete die Presseberichterstattung in der Bundesrepublik vor allem den protokollarischen Einzelheiten – etwa dem Abspielen der Hymnen und den militärischen Ehrenformationen – der Visite breiten Raum.33 Die Aufwertung des Protokolls gegenüber dem 1984 geplanten Besuch, der den SED- und Staatsratsvorsitzenden nicht in die Bundeshauptstadt Bonn, sondern ins rheinland-pfälzische Bad Kreuznach hatte führen sollen, wurde allgemein bereits als Erfolg Honeckers verbucht.34 Vermerkt wurde in der bundesdeutschen Presse anlässlich der Besuchsankündigung auch die überwiegend positive Resonanz in der deutschen Parteienlandschaft.35 Einstmals gravierende statusrechtliche Bedenken wie die bezüglich eines kaum vermeidbaren Gegenbesuchs des Kanzlers in Berlin-Ost schienen ausgeräumt.36 Al32 Vgl. Albrecht HINZE, „Nach der Ankündigung schweigt Ostberlin. Vorerst kein Kommentar zur politischen Bedeutung der Reise Honeckers“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 17.7.1987. 33 Vgl. u.a. „Honecker kommt im September nach Bonn. Arbeitsbesuch – kein Staatsbesuch“, in: FAZ vom 16.7.1987 sowie „Honecker wird wie ein Staatsoberhaupt empfangen“, EBD. vom 17.7.1987. 34 Vgl. z.B. Peter Jochen WINTERS, „Mit vollem Zeremoniell“, EBD. 35 Skeptischere Reaktionen, v.a. bezüglich möglicher Neutralisierungstendenzen in Deutschland, waren demgegenüber im europäischen Ausland zu vernehmen, vgl. die in der FAZ im Zeitraum vom 7. bis 14.9.1987 abgedruckten Pressestimmen. 36 Demnach hatte man sich auf einen Formelkompromiss verständigt, wonach Honecker den Bundeskanzler nicht in „die Hauptstadt der DDR“, sondern zu einem zeitlich nicht näher bestimmten „Besuch in der Deutschen Demokratischen Republik“ einladen werde; vgl.
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lerdings wurden auch nur begrenzte Erwartungen in den Besuch gesetzt: „Nur Illusionisten rechnen mit dem großen Durchbruch.“37 Anders als in der Bundesrepublik berichteten die DDR-Medien laut „Süddeutscher Zeitung“ über den bevorstehenden Besuch bis zuletzt nur selektiv und zumeist indirekt: „Im Wesentlichen zitierten sie, und dies stark gesiebt, westdeutsche und andere Politiker mit allgemeinen und recht ungenauen Auffassungen, wo und soweit sie mit der DDR-Politik übereinstimmten ... Der mit all dem vermittelte Tenor war: Der Besuch Honeckers könne ein Beitrag zur Schaffung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und damit zur Entspannung und zur Friedenssicherung in Europa und der ganzen Welt sein. Über die Erwartungen jedoch, über die privat in der DDR viel häufiger gesprochen wird, stand nichts zu lesen, war nichts zu hören: die beschränkten Reisemöglichkeiten, die persönlichen Menschenrechte, die Kontaktverbote, den ‚Schießbefehl’.“38 Der im In- wie Ausland als historisches Ereignis eingestufte Besuch wurde schließlich von einem großen Medienaufgebot begleitet und von einem Millionenpublikum in Ost wie West verfolgt.39 Aufmerksam wurde in der bundesdeutschen Presse auch verfolgt, wie die DDR-Medien über den HoneckerBesuch berichteten. Die Berichterstattung über die Berichterstattung hatte einen eigenen Nachrichtenwert.40 Hiermit wurden jedoch durchaus ambivalente Einschätzungen verbunden: Einerseits ließ sich argumentieren, dass die ausführlichen Berichte – insbesondere aber Abdruck und Live-Sendung der Tischreden in voller Länge – der Bundesregierung erst die Möglichkeit eröffneten, ihren deutschlandpolitischen Standpunkt auch der DDR-Bevölkerung zu vermitteln: „Überall in der DDR steht nun zu lesen vom Recht auf Selbstbestimmung für das deutsche Volk, von Einheit und Freiheit Deutschlands und von der Verwerflichkeit der Gewaltanwendung gegen Wehrlose, zumal an den Grenzen der DDR; davon, dass ‚Waffen auf Dauer zum Schweigen gebracht’ werden müssen.“41 Andererseits bestand die Befürchtung, dass das in alle
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Eghard MÖRBITZ, „Besuch Honeckers einhellig begrüßt. Kanzleramt mahnt zur Behutsamkeit“, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 17.7.1987. Roderich REIFENRATH, „Der Besuch“, EBD. vom 7.9.1987. HINZE (wie Anm. 13). Laut „Süddeutsche Zeitung“ waren fast 2.600 Medienvertreter aus 34 Ländern beim internationalen Pressezentrum, wo Bundespresseamt und DDR-Außenministerium regelmäßig über den Besuchsverlauf informierten, registriert; vgl. „Honecker trifft zum ‚Arbeitsbesuch’ ein“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 7.9.1987. Vereinzelt wurden auch die Standards der Berichterstattung kritisch hinterfragt; so kritisierte die FAZ die Berichterstattung von ARD und ZDF, die die Lebensverhältnisse in der DDR und der Bundesrepublik unterhaltsam gezeigt, jedoch in der Vergleichsperspektive unzulässig gleichgesetzt hätten; vgl. Konrad ADAM, „Die Kamera sieht nur die Oberfläche der Dinge“, in: FAZ vom 11.9.1987. Ernst-Otto MAETZKE, „Ein einziges Mal zur Sache geredet“, EBD. vom 12./13.9.1987.
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Wohnzimmer übertragene staatspolitische Gepränge eine Eigendynamik der Anerkennung der Zweistaatlichkeit entfalten würde. „Für die Fernsehteams der DDR ist dies der wichtigste Augenblick seit langem. Sie haben die Bilddokumentation dafür mit nach Hause zu bringen, daß die DDR in Bonn als gleichwertiger Staat anerkannt ist und behandelt wird. Sie haben ihre Bilder im Kasten …“.42 Aufmerksam registrierten die Medien auch die allgemeine Atmosphäre, die zunächst als eher verkrampft und betont distanziert beschrieben wurde.43 Stärker noch als für die Gemütslage des Kanzlers, dem das Abschreiten der Ehrenformation zur Begrüßung Honeckers sichtlich nicht behagte, interessierten sich die Medien für den Gast aus der DDR. Spätestens in seiner saarländischen Heimat habe dieser menschliche Regungen erkennen lassen. Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ spekulierte über Honeckers Empfindungen, war sich bezüglich seiner Motive aber sicher: „Der Erste Mann der DDR ist gekommen, um den Ertrag seiner Abgrenzungspolitik zu ernten.“44 Als atmosphärisch besonders entspannt wurde schließlich der Abschluss des HoneckerBesuchs in München beschrieben, obgleich auch Ministerpräsident Strauß einige deutliche Worte zu Mauer und Schießbefehl fand.45 Ablauf und Zeremoniell des Besuchs wurden erwartungsgemäß genauestens beobachtet und kommentiert. Aufgrund der protokollarischen Ehren, die Honecker von der Bundesrepublik erwiesen wurden, entlarvte Hans Heigert die Bezeichnung als Arbeitsbesuch in der „Süddeutschen Zeitung“ als „absichtsvolle Untertreibung“46. Karl Feldmeyer schilderte in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wortgewaltig die Dramaturgie des Besuchsprotokolls und sah hierin „Honeckers Triumph“ Gestalt annehmen.47 Noch schärfer geißelte „Die Welt“ den Besuch als „medialpolitisches Fest“.48 Der hiermit vollzogene „symbolische Akt“ markierte Günter Zehm zufolge den „Übergang von der Realpolitik zur Medialpolitik“. Die DDR könne die weltweit sichtbare Anerkennung gewissermaßen als „medialen Bonus“ unwiderruflich für sich einstreichen, wohingegen die Bundesrepublik und mit ihr die DDR-Bevölkerung lediglich darauf hoffen dürften, dass Zusagen und Vereinbarungen seitens der DDR verlässlich umgesetzt würden.
42 Karl FELDMEYER, „Und dann erklingen zur Begrüßung die beiden wortlosen Lieder von Deutschland“, in: FAZ vom 8.9.1987. 43 Helmut LÖLHÖFFEL, „Innerlich bewegt, aber auf Distanz bedacht“, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 9.9.1987. 44 FELDMEYER (wie Anm. 42). 45 Vgl. Peter SCHMALZ, „Honecker – Ende einer Dienstfahrt“, in: „Die Welt“ vom 12.9.1987. 46 Hans HEIGERT, „Der Besuch an sich“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 7.9.1987. 47 FELDMEYER (wie Anm. 42). 48 Günter ZEHM, „Medialpolitisches Fest“, in: „Die Welt“ vom 8.9.1987; ebenso die folgenden Zitate.
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Damit ist das Problem von (Vor-)Leistung und Gegenleistung im innerdeutschen Verhältnis angesprochen, das anlässlich des Honecker-Besuchs abermals kritisch diskutiert wurde.49 Dass Bundesrepublik und DDR gegensätzliche Interessen verfolgten, schien auf der Hand zu liegen. „Bonn nimmt die Aufwertung des anderen deutschen Staates in Kauf zugunsten der Erleichterung, Stabilisierung und Verbesserung der innerdeutschen Verhältnisse, auch Berlins“, hieß es in der „Süddeutschen Zeitung“.50 Der DDR gehe es neben der gleichberechtigten Anerkennung nicht zuletzt um „harte Devisen und westliche Technologien“.51 Befürchtet wurde, dass der Bundesrepublik immer weitere finanzielle Zugeständnisse abverlangt würden: „Nun, da Bonn ihre Statuswünsche erfüllt hat, kann die DDR-Führung sich jedes weitere humanitäre Zugeständnis umso ungenierter bezahlen lassen.“52 Und dennoch: Solange menschliche Erleichterungen erreicht werden konnten, hielten viele Kommentatoren die Konzentration auf das Machbare für akzeptabel. Zielsetzungen und Ergebnisse des Besuchs wurden im ‚Gemeinsamen Kommuniqué’ festgehalten, über das auch ausführlich berichtet wurde. Schlüsselereignis des Honecker-Besuchs war aber zweifellos die Tischrede des Kanzlers in der Godesberger Redoute, die aufgrund ihrer klaren Sprache in der bundesdeutschen Presse weithin auf positive Resonanz stieß: „Helmut Kohls Tischrede in der Godesberger Redoute hat vieles wieder zurechtgerückt“, hieß es lobend in der „Welt“.53 Selbst „Der Spiegel“ konzedierte, Kohl habe „keine Reizvokabel“54 ausgelassen, wenngleich dies hier als rhetorisches Ritual interpretiert wurde. Manfred Schell hingegen wertete die Rede als „Zeugnis der Überlegenheit“: „Diese Rede war die bedeutendste, die Kohl je gehalten hat; auch die internationale Resonanz zeigt es. Sie war nicht nur deshalb so bedeutend, weil Kohl Honecker vor Fernseh-Millionen auf die Anklagebank setzte, sondern weil er damit als freigewählter Kanzler die Überlegenheit des freiheitlichen Rechtsstaats gegenüber dem wirtschaftlich wie menschlich versagenden Zwangssystem ausdrückte.“55 Allseits wurde registriert, dass Honecker auf die Vorhaltungen Kohls, ja sogar seine „rhetorischen und politischen Seitenhiebe“56 nicht direkt eingegangen war. Lediglich an einer Stelle war er von seinem Redemanuskript abgewichen, indem er die bekannte Formel ge-
49 Vgl. z.B. Klaus DREHER, „Ein Besuch, der vieles offen läßt“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 9.9.1987. 50 HEIGERT (wie Anm. 46). 51 EBD. 52 „Feuer und Wasser“, in: „Der Spiegel“, Nr. 38 vom 14.9.1987. 53 Joachim NEANDER, „Honecker nahm es hin“, in: „Die Welt“ vom 9.9.1987. 54 Vgl. Anm. 52. 55 Manfred SCHELL, „Zeugnis der Überlegenheit“, in: „Die Welt“ vom 12.9.1987. 56 Eberhard NITSCHKE, „Einigkeit darüber, das Machbare zu realisieren“, EBD. vom 9.9.1987.
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Manuela Glaab
brauchte: „Kapitalismus und Sozialismus sind ebenso wenig vereinbar wie Feuer und Wasser.“ Besondere Beachtung57 fand außerdem die Bemerkung Honeckers im Bürgerhaus von Neunkirchen am 10. September 1987: Unter den gegebenen Bedingungen seien die Grenzen nicht so, wie sie sein sollten, aber es werde „der Tag kommen, an dem Grenzen uns nicht mehr trennen, sondern Grenzen uns vereinen, so wie uns die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen vereint“.58 Diese Äußerung, die von DDRoffizieller Seite nicht weiter kommentiert wurde, stieß in der Bundesrepublik auf widersprüchliche Resonanz. Einerseits wurde sie als „versöhnlicher Schlußpunkt“ wahrgenommen, dessen politische Zielrichtung aber völlig offen sei.59 Andererseits wurde der unzulängliche Vergleich mit der so genannten ‚Freundschaftsgrenze’ als blanker Zynismus gewertet, da es sich hierbei keineswegs um eine offene Grenze handelte; vielmehr waren aufgrund des Kriegsrechts in Polen wieder strikte Reisebeschränkungen eingeführt worden.60 Insgesamt, so der Tenor der Presseberichterstattung, hatte der HoneckerBesuch wenig Überraschendes, aber doch einige konkrete Fortschritte gebracht. Dabei war der Kampf um die Deutungsmacht nicht verborgen geblieben, so kommentierte „Der Spiegel“: „Allein die öffentliche Darstellung der jeweiligen PR-Manager erweckte den Eindruck, als seien die Gesprächspartner auf verschiedenen Veranstaltungen gewesen. Während DDR-Sprecher Wolfgang Meyer stets Frieden und Abrüstung in den Vordergrund rückte, hoben die Bonner aufs Innerdeutsche ab.“61 Einig waren sich die Beobachter schließlich darin, dass aus beider Perspektiven die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung stand. 2.3 Der demoskopische Befund: Deutsche Frage im Aufmerksamkeitshoch Aus Anlass des mit großem Zeremoniell begangenen Honecker-Besuchs ist viel über die Macht der Bilder oder die „Wirkung des Augenblicks“62 spekuliert worden. Wie die Bundesbürger selbst zu dem lange umstrittenen Besuch standen, lässt sich auf Grundlage von Umfragedaten zumindest partiell rekon57 Welche Aufregung diese Bemerkung auch unter DDR-Journalisten auslöste, ist anschaulich nachzulesen: „Augenblicke jenseits aller Pflichtübungen“, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 12.9.1987. 58 Zit. nach Albrecht HINZE, „Honeckers Äußerungen zur Grenze überwiegend positiv bewertet“, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 12./13.9.1987. 59 Vgl. „Was meint Honecker mit der ‚Grenze, die uns vereinen wird’?“, in: „Die Welt“ vom 12.9.1987. 60 Vgl. hierzu SCHELL (wie Anm. 55) sowie HINZE (wie Anm. 58). 61 Vgl. Anm. 52. 62 Vgl. Horst STEIN und Eberhard NITSCHKE, „Ein Arbeitsbesuch mit 16 Fahnen – SchwarzRot-Gold“, in: „Die Welt“ vom 8.9.1987.
Der Honecker-Besuch in der öffentlichen Meinung
495
struieren. Darüber hinaus gilt es zu erörtern, wie sich die Einstellungen zur deutschen Frage in den ausgehenden 1980er Jahren generell entwickelten. Nur so lässt sich das Meinungsbild in einen weiteren Kontext des Staats- und Nationalbewusstseins der Deutschen einordnen. Das Meinungsbild zum Honecker-Besuch Mehrere repräsentative Umfragen zu einem möglichen Besuch des SED-Generalsekretärs und DDR-Staatsratsvorsitzenden wurden von Infratest durchgeführt (im August/September 1982, 1983 sowie im August 1987).63 Die Daten belegen einen Meinungswandel bezüglich des deutsch-deutschen Spitzentreffens in den 1980er Jahren, aber – wie die Meinungsforscher betonen – auch „durchgehend zwiespältige Gefühle“64. Ausschlaggebend für das gewandelte Meinungsklima erscheint die innenpolitische Konstellation in der Bundesrepublik, denn erst nach dem Regierungswechsel in Bonn wurde auch unter Unionsanhängern eine mehrheitliche Befürwortung des Honecker-Besuchs ermittelt, während die Anhängerschaft der SPD ihre zuvor schon positive Grundhaltung beibehielt. Hatte 1982 nur jeder zweite einen eventuell bevorstehenden Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik begrüßt, so war der Anteil der Befürworter 1983 bereits auf 61 % gestiegen. Immer noch 16 % hielten einen solchen Besuch für verfrüht (1981: 20 %); 8 % lehnten ihn grundsätzlich ab (1982: 12 %). Auffallend ist, dass die Akzeptanz eines möglichen Honecker-Besuchs insbesondere unter den Unionsanhängern deutlich gestiegen war (1982: 38 %; 1983: 56 %). Die aus den Reihen der Unionsfraktion im Sommer 1984 artikulierte Ablehnung, so schlussfolgert Infratest, dürfte also nicht die Mehrheitsmeinung der eigenen Anhängerschaft widergespiegelt haben.65 Jedenfalls verfestigte sich der Konsens in dieser deutschlandpolitischen Streitfrage in den folgenden Jahren weiter. So beurteilten im August 1987 schließlich Unions- wie auch SPD-Anhänger den bevorstehenden Honecker-Besuch nahezu übereinstimmend als „eher positiv“ (Union: 75 %; SPD: 74 %). Weniger als 10 % lehnten diesen grundsätzlich ab. Hierbei handelte es sich vorwiegend um ältere Befragte, die aufgrund tiefer liegender politischer Überzeugungen, oftmals gespeist aus persönlichen DDR-Erfahrungen, einen Besuch des SED-Chefs ablehnten.66 63 Eine für die Bundesregierung aus Anlass des Honecker-Besuchs durchgeführte, vertrauliche Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach war der Verfasserin nicht zugänglich. 64 Richard HILMER/Anne KÖHLER, Die Wende für Honecker. Daten zur Entwicklung des Meinungsbildes der Bundesbürger über den Honecker-Besuch seit 1982, in: Deutschland Archiv 10 (1987), S. 1084–1091, hier S. 1084. 65 Vgl. EBD. S. 1085. 66 Vgl. EBD.
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Manuela Glaab
Gleichzeitig wuchs im Vorfeld des Honecker-Besuchs das Interesse an der DDR. Laut Infratest äußerte sich im August 1987 jeder Zweite (54 %) interessiert. Ein vergleichbares Interesse war zuletzt bei der Übersiedlerwelle von 1984 ermittelt worden. In „Normalzeiten“ interessierten sich für den anderen deutschen Staat vor allem die ohnehin politisch Interessierten und Höhergebildeten sowie Bundesbürger mit verwandtschaftlichen Kontakten in die DDR.67 Jetzt aber war insbesondere in den unteren Bildungsschichten sowie unter jüngeren Personen ein gesteigertes Interesse auszumachen. Tabelle 1: Belange, für die sich die Bundesregierung gegenüber Honecker besonders einsetzen sollte 1987 (offene Frage) in % Gesamt • Erleichterung von Westreisen für DDRBürger • Erleichterung von DDR-Reisen für Bundesbürger • Freiheit/Menschenrechte in der DDR • Verbesserung der Situation Berlins/Berliner Mauer • Schießbefehl/Tote an der Grenze • Wiedervereinigung • Friedenssicherung • Abrüstung • Umweltschutz • Reformen in der DDR à la Gorbatschow • sonstiges • weiß nicht
Anhänger der CDU/CSU
Anhänger der SPD
42
42
48
31 24
34 28
31 22
23 14 12 9 7 5 2 17 14
29 17 13 8 4 5 4 22 11
14 13 9 9 10 5 1 15 15
Datenbasis: Infratest68 68
Was aber erwartete die Bevölkerung vom Honecker-Besuch? Anfang der 1980er Jahre hatte sich mit der Aussicht eines Besuchs v.a. die Erwartung konkreter Ergebnisse verbunden; besonders in den Reihen der Unionsanhänger wurden diese als Vorbedingung betrachtet. Auffallenderweise war diese Erwartungshaltung 1987 weit weniger ausgeprägt (21 %). Stattdessen betrachteten Dreiviertel der Bevölkerung schon das „Miteinander-Reden“ als Erfolg; so äußerten sich 82 % der SPD-Anhänger, aber auch 76 % der Unionsanhänger. Gleichwohl erfasste Infratest in einer offenen Befragung eine ganze Bandbreite von Erwartungen der Befragten an die Bundesregierung (vgl. Tabelle 67 Vgl. Manuela GLAAB, Deutschlandpolitik in der öffentlichen Meinung. Einstellungen und Regierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1990, Opladen 1999, S. 305–307. 68 Vgl. HILMER/KÖHLER (wie Anm. 64), S. 1090.
Der Honecker-Besuch in der öffentlichen Meinung
497
1), die sich v.a. für ganz praktische Belange im Reiseverkehr einsetzen sollte. Im Bereich von Menschenrechtsverletzungen durch das DDR-Regime sowie grundsätzlicher deutschlandpolitischer Fragen wurden demgegenüber deutlich verhaltenere Erwartungen an die Bundesregierung gerichtet. Insgesamt lassen die Daten somit eine eher pragmatische Erwartungshaltung erkennen. Infratest folgerte daraus, „daß Deutschlandpolitik für die Bundesbürger in erster Linie eine Politik für die Menschen in der DDR ist“.69 Eben auf diesem Gebiet erhoffte man sich auch primär konkrete Verbesserungen infolge des Honecker-Besuchs. Gleichzeitig war gut jeder Zweite der Meinung, dass die DDR stärker von diesem Ereignis profitieren würde als die Bundesrepublik (Union: 60 %; SPD: 51 %), wohingegen nur 8 % letztere als Gewinnerin sahen. Tabelle 2: Einschätzung von Honeckers Gründen, in die Bundesrepublik zu reisen 1987 Sehr wichtig für Honecker ist …
gesamt %
Bewertung des Honecker-Besuchs positiv %
negativ %
gleichgültig %
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten zu verbessern.
87
88
92
85
Das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten zu verbessern.
79
84
49
72
Einen Beitrag zur internationalen Entspannung und Friedenspolitik zu leisten.
70
76
37
52
Im Sinne Gorbatschows eine Öffnung gegenüber dem Westen einzuleiten.
58
63
42
45
Ein Zeichen zu setzen, daß sich auch die Lage für die Menschen in der DDR verbessern wird.
55
57
35
52
Sein persönliches Ansehen zu verbessern und von seinen inneren Schwierigkeiten abzulenken.
52
51
66
53
Datenbasis: Infratest70 70
Belegen lässt sich auch ein hoher Bekanntheitsgrad Erich Honeckers. Infratest konstatierte 1987 zudem eine Imagekorrektur Honeckers, da er den Daten zufolge weniger als Parteimann (14 %), sondern primär als Staatschef (72 %) 69 EBD. S. 1086f. 70 EBD. S. 1090.
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wahrgenommen wurde.71 Allerdings genoss er nur begrenzte Sympathien („eher sympathisch“: 29 %; „eher unsympathisch“ 41 %) und wurde bezüglich seiner Vertrauenswürdigkeit wie auch Friedliebe recht widersprüchlich eingeschätzt. Als durchaus realistisch erwies sich die Grundeinschätzung der Besuchsmotive (vgl. Tabelle 2): An erster Stelle wurden wirtschaftliche Interessen (87 %) genannt, was insbesondere diejenigen vermuteten, die dem Honecker-Besuch ablehnend gegenüberstanden. Deutlich skeptischer war man bezüglich seiner Absicht, die Lage für die Menschen in der DDR verbessern zu wollen (55 %). Zugleich lassen die Daten auch eine gewisse entspannungspolitische Grundeinschätzung erkennen. Hilmer und Köhler ziehen aus den präsentierten Daten das Fazit: „Die mit dem Besuch Honeckers praktisch – nicht formell – vollzogene Anerkennung des anderen deutschen Staates durch die Regierung Kohl erscheint vielen Bundesbürgern nur deshalb akzeptabel, weil sie damit die Hoffnung verbinden, dies könnte die Voraussetzung schaffen für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in der DDR: Sie erwarten von der Normalisierung der Beziehungen auf der zwischenstaatlichen auch eine auf der zwischenmenschlichen Ebene“.72 Exkurs: Wie sah demgegenüber die Stimmung in der DDR aus? An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass neben kursorischen Berichten der Westmedien über das Meinungsbild in der damaligen DDR73 heute auch einige aufschlussreiche – gleichwohl mit quellenkritischer Vorsicht zu behandelnde – Informationen des Ministeriums für Staatssicherheit „über Reaktionen der Bevölkerung“ auf den Honecker-Besuch vorliegen. Bereits Ende Juli, nach der Besuchsankündigung, sowie im September 1987, unmittelbar 71 Die Daten beziehen sich auf diejenigen Befragten, die angaben Honecker zu kennen und richtige Angaben machen konnten; vgl. EBD. S. 1091. 72 EBD. S. 1088. 73 Zum Honecker-Besuch selbst liegen keine Repräsentativerhebungen vor; zur Problematik repräsentativer Meinungsforschung in der DDR vgl. Gerhard HERDEGEN/Martin SCHULTZ, Einstellungen zur deutschen Einheit, in: Werner WEIDENFELD/Karl-Rudolf KORTE (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt/M. 1993, S. 252–269. Eine Sonderstellung nahmen die Erhebungen des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung sowie die im Auftrag der Bundesregierung von Infratest durchgeführten sog. „Stellvertreter-Befragungen“ ein; der unter methodischen Gesichtspunkten mit Vorsicht zu behandelnde Datenbestand ist dokumentiert in den Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, ohne jedoch die Resonanz auf den Honecker-Besuch abzubilden; vgl. Peter FÖRSTER, Einstellungen junger Menschen in der DDR – Eine Dokumentation empirischer Untersuchungsergebnisse der Jugendforschung der DDR aus den Jahren 1966 bis 1989, in: Deutscher Bundestag (wie Anm. 1), Bd. V.2, S. 1212–1380 sowie Anne KÖHLER, Nationalbewußtsein und Identitätsgefühl der Bürger der DDR unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Frage, in: EBD. S. 1636–1675.
Der Honecker-Besuch in der öffentlichen Meinung
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vor der anstehenden Besuchsreise, im Verlauf wie auch im Gefolge des Honecker-Besuchs dokumentierte es die im Osten beobachtete Lage.74 In allen Bevölkerungskreisen, so berichtete das MfS am 30. Juli 1987, sei die Besuchsankündigung positiv aufgenommen worden, da dies die „Fortsetzung der Politik des Dialogs“ signalisiere. Erwartungen der DDR-Bevölkerung – mutmaßlich gefördert durch „Sendungen westlicher elektronischer Medien“ – richteten sich demnach vor allem auf verbesserte Reisemöglichkeiten, aber auch auf eine bessere Versorgung mit Konsumgütern durch den Ausbau des innerdeutschen Handels.75 Auch hegten demzufolge diejenigen, die Ausreiseanträge gestellt hatten, die Hoffnung auf baldige Bewilligung. Im Laufe des Besuchs schien sich aber Enttäuschung breitzumachen: „Für die einfachen Menschen komme nichts heraus“, stattdessen habe der Besuch lediglich „propagandistischen Wert“, so zitierte die Staatssicherheit Stimmen aus der Bevölkerung. Das hier gezeichnete Bild lässt sich punktuell ergänzen durch Beobachtungen der Westmedien, die seinerzeit aus der DDR berichteten. So schilderte etwa die „Süddeutsche Zeitung“ das Stimmungsbild in der DDR unmittelbar vor dem Besuch: „Unter den Menschen in der DDR wurden all diese sicherheits- und friedenspolitischen, völkerrechtlichen und wirtschaftspolitischen Aspekte der Reise allerdings fast gar nicht diskutiert. Hier richten sich die Erwartungen vielmehr so gut wie ausschließlich auf weitere Reise-Erleichterungen.“76 Zugleich sei den DDR-Bürgern wohl bewusst, dass die Gewährung weitergehender politischer Freiheitsrechte kaum als unmittelbares, sondern allenfalls langfristiges Ergebnis des Besuchs erwartet werden könnte. Anderen Blättern diente die vermutete Enttäuschung der DDR-Bürger als Argument, das Missverhältnis von Vorleistung und Gegenleistung zu kritisieren. Inwieweit das Meinungsbild in der DDR-Bevölkerung damit zuverlässig erfasst wurde, bleibt angesichts fehlender repräsentativer Umfragedaten fraglich. Eindeutig spiegeln die Stasi-Berichte aber das Misstrauen der Oberen gegenüber der eigenen Bevölkerung wider. Unter SED-Mitgliedern und Funktionären wuchsen im Sommer 1987 laut MfS die Bedenken hinsichtlich der
74 Vgl. SUCKUT (wie Anm. 6) sowie einen Abdruck der im Folgenden zitierten Quellen: „,Hinweise zu ersten Reaktionen der Bevölkerung der DDR‘ im Zusammenhang mit dem angekündigten Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik. Vorgelegt von der ZAIG des MfS am 30.7.1987“, in: Detlef NAKATH/Gerd-Rüdiger STEPHAN, Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980–1987, Berlin 1995, S. 319–322 sowie „Zusammenfassende ‚Hinweise zu Reaktionen der Bevölkerung‘ auf den Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik. Vorgelegt von der ZAIG des MfS am 16.9.1987“ (in Auszügen), EBD. 75 Ersteres berichtete auch die bundesdeutsche Presse, vgl. „Die Bevölkerung in der DDR hofft vor allem auf Reiseerleichterungen“, in: FAZ vom 17.7.1987. 76 HINZE (wie Anm. 13).
500
Manuela Glaab
‚ideologischen Standfestigkeit’ der DDR-Bürger. Es seien Zweifel geäußert worden, ob der „Bewusstseinsstand der DDR-Bevölkerung“ bereits hinreichend gefestigt sei, so dass intensivierte Westkontakte ohne „ideologische Einbrüche“ möglich wären. Aus den Berichten spricht aber auch eine gehörige Skepsis gegenüber dem von der SED-Führung eingeschlagenen Kurs. Nicht zuletzt die Übertragung der Tischrede Kohls wurde von vornherein kritisch gesehen. Da sich der Kanzler zum „Sprecher auch der DDR-Bevölkerung“77 gemacht hatte, sah man die Befürchtungen dann auch bestätigt: Insbesondere unter Jugendlichen habe Kohls Rede „illusionäre Vorstellungen“ auch zur „sogenannten Wiedervereinigungsproblematik“ hervorgerufen. Schließlich berichtete das MfS von Verärgerung unter SED-Mitgliedern und Funktionären, dass Honecker auf die „Provokation“ durch die Tischrede nicht expliziter reagiert, sondern am vorbereiteten Redemanuskript festgehalten hatte. Einstellungen zur deutschen Frage Dass der Honecker-Besuch das – ansonsten eher verhaltene – Interesse der Bundesbürger an der DDR kurzfristig steigerte, erscheint angesichts des medialen Aufgebots nicht weiter verwunderlich. Aber wie ist dieses Ereignis einzuordnen in die längerfristige Einstellungsentwicklung zur deutschen Frage? Wie stand es um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen? Wurde der von der Bundesregierung betonte fundamentale Dissens zur Frage der Nation auch von der Bevölkerung wahrgenommen? Einige ausgewählte Befunde aus dem umfangreichen Datenbestand78 sollen dazu Aufschluss liefern.79 Im Folgenden konzentriert sich der Beitrag auf drei Aspekte: 1. die Haltung der Bundesbürger zur Wiedervereinigung, 2. das Bewusstsein von den „zwei Staaten einer Nation“, 3. die Einstellungen zur DDR. 1. Bekannt und dennoch notwendig zu erwähnen ist zunächst, dass die Wiedervereinigung von den Bundesbürgern stets befürwortet, aber kaum mehr für realisierbar gehalten wurde. Der Wunsch nach Wiedervereinigung wurde noch in den 1980er Jahren von der großen Mehrheit der Bundesbürger bestätigt. Das Zustimmungsniveau war zwar tendenziell rückläufig, bewegte sich aber seit den 1970er Jahren konstant um die 80 %. Abweichend von anderen Meinungsforschungsinstituten ermittelte das Institut für Demoskopie Allensbach in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine deutlich zurückhaltendere Einstel-
77 SUCKUT (wie Anm. 6), S. 856. 78 Vgl. GLAAB (wie Anm. 67). 79 Besondere Erwähnung verdient aufgrund der zeitlichen Nähe zum Honecker-Besuch die von Infratest im Auftrag von „Die Welt“ im April/Mai 1987 durchgeführte Repräsentativerhebung; vgl. Infratest Kommunikationsforschung/„Die Welt“: „Die Deutschen und ihr Vaterland“, München/Bonn 1987.
Der Honecker-Besuch in der öffentlichen Meinung
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lung zur Wiedervereinigung. Doch auch in dessen Erhebungen stimmten dieser im Durchschnitt knapp zwei Drittel (64 %) der Befragten zu.80 Diese weitgehende Stabilität des Wiedervereinigungswunsches ist als erster Hinweis darauf zu werten, dass es sich hier um eine Grundüberzeugung der Bundesbürger handelte, die unbeschadet der langen Dauer der Teilung im Kern bewahrt blieb. So sprach sich auch die große Mehrheit für die Beibehaltung des grundgesetzlich verankerten Wiedervereinigungsgebots aus. Nur ein geringer, tendenziell allerdings steigender Prozentsatz der Bevölkerung lehnte die Wiedervereinigung grundsätzlich ab. Eine deutlich skeptischere Haltung als in der Gesamtbevölkerung wurde im Verlauf der 1980er Jahre zudem in 81 der jungen Generation ermittelt (vgl. Tabelle 3). Tabelle 3: Wiedervereinigungswunsch der jungen Generation 1981 bis 1990 (Angaben in Prozent)
Dafür Dagegen Gleichgültig Keine Angaben
1981 14–21 J.
1984 14–29 J.
1985 14–21 J.
1987 14–29 J.
1990 14–21 J.
59 11 30 1
67 7 25 1
57 13 30 0
67 8 25 0
67 15 18 –
Datenbasis: Infratest81a a.
Als unerträglicher Zustand, wie noch in der Adenauer-Ära, wurde die Teilung ohnehin nur noch von einer Minderheit empfunden. Weitestgehende Einigkeit bestand vielmehr darin, dass mit einer Wiedervereinigung auf absehbare Zeit nicht zu rechnen war. Nur durchschnittlich sieben Prozent der in den 1980er Jahren Befragten glaubten überhaupt noch daran, dass es zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen könnte.82 Deutschlandpolitische Themen fristeten lediglich ein Schattendasein auf der politischen Prioritätenskala der Bundesbürger – daran änderte bis auf Weiteres auch der Honecker-Besuch nichts. 2. Es ist hervorzuheben, dass sich in den Einstellungsdaten der Langzeittrend einer allmählichen Normalisierung des Sonderverhältnisses der „zwei Staaten, einer Nation“ abzeichnete. Vorweg ist zu betonen: Die Meinungsforschung ermittelte durchaus disparate Ergebnisse zur Frage nach der Einheit der Nation, was auch auf die Schwierigkeit verweist, einen solch komplexen 80 Die Frageformulierung lautete: „Mal ganz allgemein gefragt: Sind Sie für oder gegen eine deutsche Wiedervereinigung?“; vgl. GLAAB (wie Anm. 67), S. 130. 81 EBD. S. 134. 82 EBD. S. 138–145.
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Sachverhalt demoskopisch abzufragen.83 Brüche im Bewusstsein von der Einheit der Nation traten nach der Datenlage immer dann stärker hervor, wenn nach der Zusammengehörigkeit der beiden Staaten statt der Menschen gefragt wurde. Markant ist der Befund von EMNID zu der Frage: „Würden Sie sagen, daß die DDR und die Bundesrepublik eine deutsche Nation darstellen, oder würden Sie sagen, daß beide Staaten nicht einer deutschen Nation angehören?“ Demnach hatte sich das Bewusstsein der Westdeutschen innerhalb eines Jahrzehnts grundlegend gewandelt. Während 1974 noch die große Mehrheit (70 %) an der Vorstellung von einer deutschen Nation festhielt, äußerten dies 1984 noch 42 %. Stattdessen bekannte sich mehr als die Hälfte der Befragten zu der Ansicht, daß die beiden deutschen Staaten keiner gemeinsamen Nation angehörten. Wichtig ist dabei jedoch die Differenzierung zwischen den Staaten einerseits und den Menschen andererseits: Während nämlich die DDR zunehmend als eigenständiger Staat betrachtet wurde, hielt die Mehrheit an der Vorstellung von der Zusammengehörigkeit der Deutschen fest. Für die 1980er Jahre lässt sich dies anhand zweier Infratest-Erhebungen illustrieren: Die Wahrnehmung der Westdeutschen war bestimmt von der Existenz zweier Staaten (1984: 83 %; 1987: 79 %). Beinahe ebenso verbreitet war aber die Auffassung, dass die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR ein Volk bildeten (1984: 73 %; 1987: 78 %; vgl. Grafik 184).85 Grafik 1
83 Zu den variierenden Frageinstrumenten vgl. EBD. S. 89f. 84 Quelle: EBD. S. 93. 85 Die Frageformulierung lautete: „Ich lese Ihnen jetzt einige Begriffe vor, die zum Teil etwas unscharf sind und unter denen nicht jeder das gleiche versteht. Dennoch möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, was Sie darüber denken. Sind die Deutschen in der Bundesrepublik und die Deutschen in der DDR für Sie ein Volk oder zwei Völker?“ „Und sind die Bundesrepublik und die DDR ein Staat oder zwei Staaten?“, zit. nach EBD. S. 90.
Der Honecker-Besuch in der öffentlichen Meinung
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Gleichzeitig vertrat die große Mehrheit der Bundesbürger den Standpunkt, dass die DDR kein Ausland sei. Allerdings erwies sich diese Auffassung im Erhebungszeitraum von 1973 bis 1987 als deutlich rückläufig. So stieg der Anteil derjenigen, welche die DDR als Ausland betrachteten, auf etwa ein Drittel an. Zum Zeitpunkt des Honecker-Besuchs rückte das Sonderverhältnis von Bundesrepublik und DDR zumindest in Teilen, vor allem der jüngeren Bevölkerung bereits aus dem Bewusstsein (vgl. Grafik 286).87 Grafik 2
Das aus den Daten ablesbare Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen ist – das soll hier nicht unerwähnt bleiben – jedoch vorsichtig einzuschätzen. So betrachtete mehr als die Hälfte der Bundesbürger (laut der schon zitierten Infratest-Erhebung vom April/Mai 1987) die Menschen im anderen Teil Deutschlands gleichermaßen als Deutsche, an deren Leben zwar Interesse, zu denen aber wenig persönliche Beziehungen bestanden. Es überwog somit ein eher diffuses Gefühl der Verbundenheit. Eng verbunden fühlten sich immer noch 40 % der Befragten. Nur eine Minderheit empfand Gleichgültigkeit (3 %) oder gar Fremdheit (4 %) gegenüber „Bürgern eines anderen Staates“. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass persönliche Kontakte nicht nur 86 Quelle: EBD. S. 339. 87 Der Befund ließe sich ergänzen durch Umfragedaten aus den 1980er Jahren zur Frage des Selbstbestimmungsrechts und einer DDR-Staatsbürgerschaft, die eine ähnliche Tendenz belegen; vgl. EBD. S. 102–105.
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das Interesse an deutschlandpolitischen Fragen und der Entwicklung in der DDR steigerten, sondern nachweislich auch zum Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Deutschen beitrugen. Die Relevanz der Begegnungen und Reisemöglichkeiten, die seit Anfang der 1970er Jahre wieder ermöglicht und in den 1980er Jahren deutlich erweitert wurden, wird hierdurch unterstrichen. 3. In den 1980er Jahren war eine Tendenz zu Korrekturen am Negativbild von der DDR zu verzeichnen, die auch den Kernbereich der Systemmerkmale betraf. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Grundeinstellung der Bundesbürger gegenüber der DDR auch nach Aufnahme innerdeutscher Beziehungen von Abwehr und Distanzgefühlen geprägt war. Über eine Zeitspanne von zwei Jahrzehnten fragten die beiden Meinungsforschungsinstitute Infas und Infratest nach, wie sympathisch oder unsympathisch die DDR den Westdeutschen erschien. Den Befragten wurde jeweils ein 11-stufiges Skalometer vorgelegt, auf dem sie die DDR und seit 1977 auch verschiedene andere Staaten nach dem Grad ihrer Sympathie einstufen sollten. Der Wert -5 entspricht dabei der stärksten Abneigung, während der Wert +5 für die positivste Einschätzung steht. Die Entwicklung des Sympathiespiegels der DDR ist in Grafik 388 abgebildet.89 Grafik 3
88 Quelle: EBD. S. 339. 89 Auf Assoziationstests gestützte Indexberechnungen belegen darüber hinaus, dass die Negativposition der DDR auf der Sympathieskala primär auf die Bewertung ihres politischen Systems zurückzuführen ist; vgl. ausführlich EBD. S. 342–344.
Der Honecker-Besuch in der öffentlichen Meinung
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Der Kurvenverlauf zeigt fast durchgängig eine negative Sympathiebilanz der DDR, umso mehr sticht der zuletzt ermittelte Sympathiewert hervor. Nach dem dramatischen Sympathieeinbruch vom September 1974, erinnert sei an die Guillaume-Affäre und den Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt, und der allmählichen Erholung im Laufe der 1980er Jahre, wurde im Herbst 1987 mit + 0,7 Punkten der höchste Sympathiewert seit Beginn der Erhebungen gemessen. Die vorliegenden Daten liefern eine ganze Reihe von Anhaltspunkten dafür, dass Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen in den 1980er Jahren, aber auch die deutschlandpolitischen Impulse des Honecker-Besuchs, auf die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik ausstrahlten. Zwar wurden die Verhältnisse in der DDR nach wie vor als Kontrast zu den eigenen, als vorteilhaft eingestuften Lebensbedingungen empfunden.90 Abgesehen von der ökonomischen Situation betraf dies auch und vor allem die persönlichen und politischen Freiheitsrechte. Es bestanden also weiterhin erhebliche Vorbehalte gegen das politische System der DDR – im Unterschied zu Land und Leuten. Dennoch lässt sich für die zweite Hälfte der 1980er Jahre klar die Tendenz zu Korrekturen am Negativbild des SED-Systems feststellen. Die Situation im Bereich der gesellschaftlichen Freiheiten und politischen Grundrechte erschien insgesamt in deutlich positiverem Licht. Eine Infratest-Umfrage vermag diesen Befund zu illustrieren. Unter direkter Bezugnahme auf den Freiheitsaspekt fragten die Meinungsforscher: „Haben Sie insgesamt den Eindruck, daß die DDR-Bürger heute freier leben als vor zehn Jahren, weniger frei, oder hat sich da ihrer Meinung nach nichts geändert?“ Die Mehrheit der Befragten ging demnach von Liberalisierungstendenzen in der DDR aus. Im April/Mai 1987 waren 51 % der Meinung, die Menschen in der DDR lebten heute „freier als vor zehn Jahren“. Mehr als ein Drittel glaubte, es habe sich „nichts geändert“. Nur 4 % stellten eine Verschlechterung fest. Nur angemerkt sei, dass der Kenntnisstand der Bundesbürger über die konkreten Verhältnisse in der DDR als eher begrenzt einzuschätzen ist, sofern sie nicht über persönliche Kontakte oder Reiseeindrücke verfügten. 3. Fazit: „Vorhang zu“ – Deutsche Frage offen Die Umfragen von 1987 bilden als Momentaufnahmen die besondere Konstellation im Besuchsjahr ab – der Honecker-Besuch rückte die Deutschlandpolitik nicht nur in den Mittelpunkt des öffentlichen, sondern auch des demoskopischen Interesses. Gleichwohl treten in der Längsschnittperspektive deutliche Akzentverlagerungen in den Einstellungen zur deutschen Frage hervor. Das Sonder90 Nur in wenigen, vorwiegend sozialen Bereichen schnitt die DDR in den Augen der Bundesbürger besser ab, etwa im Bereich der Sportförderung oder der Kinder- und Jugendbetreuung; zu den Vergleichsprofilen der Jahre 1969, 1972 und 1987; vgl. EBD. S. 344–351.
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verhältnis der beiden deutschen Staaten verblasste in der Wahrnehmung der Bundesbürger, auch wenn sie das Wiedervereinigungsgebot weiterhin mehrheitlich befürworteten. Zur allgemein positiveren Einschätzung der DDR dürften die praktischen Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen, vor allem der intensivierte Reise- und Besucherverkehr, wesentlich beigetragen haben. So wuchs im Verlauf der 1980er Jahren auch die Zufriedenheit mit der Deutschlandund Ostpolitik der Bundesregierung, nach einer deutlichen Ernüchterung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und der ‚neuen Eiszeit‘ zu Beginn des Jahrzehnts. Als weiterer Erklärungsfaktor ist mithin die Entspannung des Ost-WestVerhältnisses nach dem Amtsantritt Michail Gorbatschows unbedingt zu berücksichtigen. Nicht allein die DDR, auch andere sozialistische Staaten konnten in diesem Klima Sympathie- und Ansehensgewinne verbuchen. Der Honecker-Besuch wurde von zeitgenössischen Beobachtern als Einschnitt interpretiert, da hierdurch eine neue Qualität im innerdeutschen Verhältnis erreicht worden sei. Einerseits fand das Zustimmung, da nur auf dem Wege der Kooperation mit der DDR weitere menschliche Erleichterungen zu erreichen waren. Andererseits wurde die Symbolwirkung des Besuchs kritisiert, also die Aufwertung des SED-System und der Eigenstaatlichkeit der DDR. Nachdem die Grundsatzpositionen zu Statusfragen von beiden Seiten unverändert aufrechterhalten wurden, könnte man auch sagen: Die deutsche Frage blieb nach dem Honecker-Besuch offen, doch ebenso blieb unklar, ob und wie sie dereinst gelöst werden könnte.91 Der Bundeskanzler selbst formulierte am Ende seiner Tischrede einen optimistisch gefärbten, aber doch unbestimmten Ausblick: „Niemand von uns weiß, was der beständige Wandel der Zeit und der Umstände uns und den nachfolgenden Generationen bringen wird. Aber eines ist sicher: Solchen Wandel wird es auch in Deutschland weiter geben.“ Aus heutiger Sicht steht fest: Die eigentliche Zäsur in den innerdeutschen Beziehungen stand erst noch bevor. So lässt sich der Honecker-Besuch denn auch als kurzfristiger Prestigeerfolg der DDR bewerten, der die prekäre innere wie äußere Lage der DDR nur vorübergehend verdecken konnte.92 Dass nur zwei Jahre später die ‚friedliche Revolution‘ den Prozess der deutschen Einigung einleiten sollte, lag im September 1987 noch außerhalb der Vorstellungswelt. Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt war jedenfalls nicht der Einzige, der mit seiner Bemerkung falsch lag, beim Honecker-Besuch habe man der „inszenierten Beerdigung der deutschen Wiedervereinigung“ beigewohnt.93
91 Vgl. HERTLE u.a. (wie Anm. 29), S. 22. 92 Hermann WENTKER, Äußerer Prestigegewinn und innere Zwänge. Zum Zusammenhang von Außen- und Innenpolitik in den letzten Jahren der DDR, in: Deutschland Archiv 40 (2007), S. 999–1006. 93 Zit. nach REXIN (wie Anm. 2), S. 24.
Die Bildung der Allianz für Deutschland Von Michael Richter Deutschlandpolitik Helmut Kohls im Jahr 1989 Zur historischen Einordnung der Bildung der Allianz für Deutschland möchte ich einen Bogen vom Juni 1989 bis zum März 1990 schlagen, dem Zeitpunkt der Volkskammerwahl. Im Juni 1989 unterzeichneten die Bundesregierung und die sowjetische Führung eine gemeinsame Erklärung, bei der das Bundeskanzleramt die Sowjetunion bewegen konnte, das Selbstbestimmungsrecht aller Völker einschließlich der Deutschen und das Recht der freien Wahl des politischen und sozialen Systems als unumstößliche Prinzipien ihrer Politik anzuerkennen. Damit, so der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, hatte man „zum ersten Mal die Frage der Offenheit für die deutsche Einheit in ein gemeinsames Dokument hineinbekommen“.1 Von nun an war es das Ziel der Bundesregierung, auf der Grundlage der Anerkennung der Staatlichkeit der DDR dort eine Entwicklung zu unterstützen, an deren Ende die freie Entscheidung der DDR-Bewohner stand, ob sie mit der Bundesrepublik zusammen oder in einem eigenen Staat leben wollten. Nicht allein in Bonn, auch in der SEDFührung erkannte man, dass die Erklärung, so eine Formulierung des MfS, Schlussfolgerungen erlaubte, die „durchaus auch revanchistischen, also imperialistischen Zielrichtungen entsprechen“ könnten.2 Honecker sah wegen der darin enthaltenden Möglichkeit eines Weges zur deutschen Einheit in der Erklärung ein Abgehen Moskaus von der traditionellen Politik deutscher Zweistaatlichkeit und wertete sie intern entsprechend als Verrat.3 Von nun an war es vor allem Helmut Kohl, der die Optionen der Erklärung offensiv im Sinne deutscher Interessen nutzte. Sein Handeln war fortan direkt auf eine Überwindung der Teilung ausgerichtet.4 Grundlage dafür war die 1 2
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Zit. bei Alexander VON PLATO, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Berlin 2002, S. 45. Bezirksverwaltung für Staatssicherheit (BVfS) Potsdam vom 16.6.1989; Reaktionen der Bevölkerung des Bezirkes zum Besuch des Gen. Gorbatschow in der BRD, in: Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR in 6 Teilen (I–VI). 1. November 1989 – 31. Oktober 1990, Teil 6: Ausgewählte Stasi-Dokumente und rechtliche Bestimmungen, bearb. von Peter EISENFELD, hg. vom Gesamtdeutschen Institut, Bonn/Berlin 1990, S. 77f. Vgl. Jens KAISER, Zwischen angestrebter Eigenständigkeit und traditioneller Unterordnung. Zur Ambivalenz des Verhältnisses von sowjetischer und DDR-Außenpolitik in den achtziger Jahren, in: Deutschland Archiv 24 (1991) S. 478–495, hier S. 490. Vgl. Hans KLEIN, Es begann im Kaukasus. Der entscheidende Schritt in die Einheit Deutschlands, Berlin 1991, S. 13.
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Rechtslage, wie sie das Bundesverfassungsgericht zuletzt im Urteil zum Grundlagenvertrag 1973 bestimmt hatte. Danach musste die Bundesregierung aus staatsrechtlichen Gründen an der Wiedervereinigung festhalten. Die Teile Deutschlands, die in der DDR organisiert waren, konnten einen Beitritt nur in der Form äußern, „die ihre Verfassung zuläßt“. Die Voraussetzung für die Realisierung eines Beitritts konnte demnach nur ein staatsrechtlicher Vorgang in der DDR sein, „der einem rechtlichen Einfluß durch die Bundesrepublik nicht zugänglich“ war.5 Nachdem sich die Deutschen in der Bundesrepublik bereits seit deren Gründung mehrheitlich für die Wiedervereinigung ausgesprochen hatten, lag die Entscheidung nun bei den Deutschen in der DDR. Die Herstellung der staatlichen Einheit war aber auch aufgrund internationaler Verträge beider deutschen Staaten nur über eine Demokratisierung in der DDR möglich. Der Bundesrepublik konnte nur eine souveräne demokratische DDR beitreten, jede Art direkter staatlicher Intervention aus Bonn verbot sich. Von daher konnte die Bundesregierung seit der Anerkennung der DDR-Staatlichkeit auch nicht mehr mit Wiedervereinigungsplänen aufwarten, deren Fehlen ihr gelegentlich vorgeworfen wird. In Moskau kannte man die Lage. Bei einem Gespräch im Juli 1989 erklärte Valentin Falin gegenüber Markus Wolf, die Bundesregierung betreibe Veränderungen im Hinblick auf die nationale Einheit mit langem Atem. Ein bundesdeutscher Politiker habe ihm gesagt, sie könnten die DDR innerhalb von zwei Wochen destabilisieren, wenn sie es wollten. So wie die Entwicklung verlaufe, sei sie aber aussichtsreicher.6 Nachdem der Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende, Helmut Kohl, auf dem Bremer Parteitag im September 1989 Machtansprüche innerparteilicher Rivalen zurückgewiesen hatte, veranlasste er in der CDU eine Modifizierung der Deutschlandpolitik. Hinsichtlich einer Wiedervereinigung ging seine Regierung nun zu offensiveren Formen des Handelns über, während im Bereich der Politik der kleinen Schritte die Kooperation mit der SED zurückgeschraubt wurde. Mit seinem klaren Bekenntnis zur Einheit der deutschen Nation stellte der Kanzler auch für die Deutschen in der DDR eine verlässliche Orientierungsgröße dar. Galt dies ganz allgemein, so im Besonderen für die Entwicklung seit dem Sommer 1989. Bereits für diesen Zeitpunkt bleibt jede Beschreibung der Ereignisse in der DDR ungenau, wenn sie die Politik der Bonner Machtzentrale nicht mit in den Blick nimmt. So trug etwa die feste Haltung in der, von der SPD infrage gestellten, einheitlichen Staatsbürgerschaft wesentlich zur 5 6
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.7.1973, in: Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe II, Bd. 1, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1975, S. 79–110. Vgl. Markus WOLF, „Geheime Mission in Moskau“, in: „Stern“ vom 29.11.1990.
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Massenflucht bei, die ihrerseits direkt in die Demonstrationen des Herbstes überging. Bereits Anfang Oktober waren auf Demonstrationen am Rande der Zugdurchfahrten der Prager Botschaftsflüchtlinge durch die DDR nach Bayern die ersten Sprechchöre zugunsten der deutschen Einheit zu hören. Noch hielten sich die Demonstranten mit ihren Forderungen aus taktischem Kalkül zurück. Statt „Weg mit der SED“ wurde „Neues Forum“ gerufen, statt deutscher Einheit die dafür notwendige Selbstbestimmung des Volkes eingefordert. Unter dem Druck nicht abreißender Massenproteste im Oktober und Anfang November 1989 fiel in der Nacht zum 10. November die Mauer. Nun begann eine Phase der Entwicklung, in der sich immer deutlicher zwei gegensätzliche Ausrichtungen abzeichneten. Während die demonstrierende Bevölkerung mehr und mehr nach deutscher Einheit verlangte, kam es zu einer Annäherung all jener Kräfte, die für eine sozialistische Erneuerung im Rahmen der DDR-Staatlichkeit eintraten. Es war dieses Bündnis aus SED, Blockparteien, sozialistischen Intellektuellen und Sprechern linker Bürgerbewegungen, das die DDR-Bevölkerung Ende November zum Bündnis „Für unser Land“, gemeint war die DDR, aufrief. Der Aufruf selber entfaltete freilich weniger Wirkung als der am 13. November von der Volkskammer zum Ministerpräsidenten gewählte Hans Modrow. Dieser setzte nun ein mit sowjetischen und innerparteilichen Partnern abgestimmtes Konzept um, dessen Kern darin bestand, die SED-Alleinherrschaft durch eine verfassungsmäßig abgesicherte sozialistische Staatlichkeit zu ersetzen. Statt wie die kommunistischen Parteien Ungarns oder Polens den Weg zur freiheitlichen Demokratie einzuschlagen, favorisierten Hans Modrow, Gregor Gysi und Markus Wolf wie ihre sowjetischen Berater die Entwicklung hin zu einem demokratischen Sozialismus in einer eigenständigen DDR. Für Anhänger nichtsozialistischer Auffassungen war hier nicht nur kein Platz, sondern die fortgesetzte Überwachung durch das in „Verfassungsschutz“ umbenannte MfS vorgesehen. Der SED hingegen wäre im neo-sozialistischen System mangels Alternativen weiterhin eine dominante Rolle zugefallen. Freilich war die Zeit vorbei, in der die SED ihre Konzepte ohne Gegenwehr durchsetzen konnte. In der DDR schlug ihr massiver Widerstand aus der Bevölkerung entgegen. Tragfähige Zukunftsvisionen wurden hingegen hier nicht formuliert. Eine Ursache dafür lag in der deutschen Zweistaatlichkeit begründet. Politische Funktionseliten, die in der DDR Alternativen hätten formulieren können, lebten inzwischen meist in der Bundesrepublik. So war es nur folgerichtig, dass entscheidende Impulse aus dem Westen kamen. Ende November legte Bundeskanzler Kohl das entscheidende Gegenkonzept zur neo-sozialistischen DDR vor: den Zehn-Punkte-Plan. Mit seinem später modifizierten Konzept zur Erlangung der deutschen Einheit wurde er als Parteivorsitzender einer sich formal noch immer gesamtdeutsch verstehenden CDU, ich erinnere
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an die Exil-CDU der SBZ, zum wesentlichen Wortführer des wachsenden Teils der DDR-Bevölkerung, der seine Hoffnungen auf Freiheit, Demokratie und Wohlstand in der deutschen Einheit am besten aufgehoben sah. Hier nun beginnt die Phase des revolutionären Prozesses, in dem die „Allianz für Deutschland“ eine zentrale Rolle spielt. Wegen der international anerkannten Eigenstaatlichkeit der DDR brauchte der Bundeskanzler im Osten Partner, auch wenn er bei Auftritten wie z.B. in Dresden am 18. Dezember von Hunderttausenden gefeiert wurde und von diesen wohl auch direkt gewählt worden wäre. Ost-CDU und West-CDU – ein schwieriges Verhältnis Auch wenn sich die politischen Gräben zwischen (nun) SED-PDS und CDU seit Dezember vertieft hatten – zwischen West- und Ost-CDU lagen weiterhin Welten. Noch bestimmten hier altgediente Funktionäre. Die CDU-Führung unter Lothar de Maizière wandte sich zwar Mitte Dezember offiziell von ihrer bisherigen sozialistischen Ausrichtung ab, sprach sich aber ungeachtet aller politischen Realitäten in Europa für eine staatliche Einheit auf neutraler Grundlage und für eine enge Kooperation mit der SED-PDS aus. Wie schon bei Jakob Kaiser sollte Deutschland zur „Brücke zwischen Ost und West“ werden.7 Mit solchen Konzepten passte die Ost-CDU trotz wachsender Konflikte mit Modrow recht gut in dessen Regierung, in der de Maizière ja auch als stellvertretender Ministerpräsident fungierte und wo er formal für die Politik Modrows mitverantwortlich zeichnete. Aus Sicht der Bundes-CDU schien ein Ausbau der Kontakte zunächst deswegen nicht dringlich, weil sich weder für Ost-CDU noch West-CDU bei der anstehenden Volkskammerwahl Chancen abzeichneten. Allgemein wurde ein Sieg der SPD prognostiziert. Ab Januar aber, so erklärte mir Helmut Kohl im Gespräch, wurde ihm „langsam klar, dass irgendwann Neuwahlen kommen, auch wenn wir noch nicht genau wussten, wann. Klar war, dass die ModrowRegierung keine Regierung auf Dauer war. In dieser Situation haben wir überlegt, wie wir uns gegenüber der Ost-CDU verhalten. Inzwischen hatte es ja bei der CDU einen Richtungswechsel gegeben. Lothar de Maizière war Parteivorsitzender geworden. In dieser Situation haben wir gesagt, jetzt müssen wir der CDU in der DDR helfen.“ Dennoch hatte er nicht vor, sich auf die Ost-CDU festzulegen. Vielmehr baute man nun Kontakte zu verschiedenen Gruppen in der DDR auf. Im Bundesvorstand war die Meinung geteilt: „Einige meinten, mit Ost-CDU-Leuten reden wir auf gar keinen Fall, andere sagten, 7
Grundsätze für das Programm der CDU. Vgl. Hans-Joachim FIEBER/Michael PREUSSLER (Hg.), Deutsche Orientierungen. Deutschlandpolitische Dokumente und Materialien seit Oktober 1989, Berlin 1990, S. 48.
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warum eigentlich nicht? Wieder andere meinten, wir unterstützen den Demokratischen Aufbruch. Es gab in dieser Hinsicht aber keine Strategie und auch nie eine Beschlusssituation, dass wir mit dieser oder jener Partei Kontakt halten. Es war so, dass wir einfach Kontakt aufgenommen haben.“8 So wurden Verbindungen zur CDU-Basis in der DDR unabhängig vom Parteivorstand aufgebaut. Volker Rühe vereinbarte mit den CDU-Landesgeschäftsführern am 10. Januar 1990, die Zusammenarbeit mit Parteien und oppositionellen Gruppen in der DDR, darunter auch die Ost-CDU, auf Länder- und regionaler Ebene zu organisieren.9 Ganz in diesem Sinne wurde z.B. bereits am 7. Januar zwischen den CDU-Kreisorganisationen in Recklinghausen und Bitterfeld der erste CDU-Kontakt auf Kreisebene hergestellt.10 Ein entscheidender Hinderungsgrund für Beziehungen zur Führung der OstCDU blieb deren Beteiligung an der Regierung Modrow, die unverhohlen ein demokratisch-sozialistisches Regime anstrebte. Darüber gab es Auseinandersetzungen. Seit Anfang Januar forderten Kohl und Rühe die Ex-Blockpartei auf, die Regierungskoalition zu verlassen, einen Schlussstrich unter die Zusammenarbeit mit der SED zu ziehen und sich an die Seite der Opposition zu stellen.11 Im Hauptvorstand der Ost-CDU unterstützte Generalsekretär und MfS-Einflussagent Martin Kirchner, aus welchen Gründen auch immer, diesen Kurs.12 Womöglich hatte er den Auftrag, sich für Funktionen in einer künftigen gesamtdeutschen Regierung zu profilieren. Er provozierte eine Auseinandersetzung, als er ohne Absprache mit de Maizière erklärte, seine Partei werde den Austritt aus der Regierung beschließen und so einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen.13 Rühe meinte zu Kirchners Vorstoß, die Ost-CDU gehe damit „in letzter Minute“ den entscheidenden Schritt und folge dem Votum der Reformer in den eigenen Reihen. Er forderte die Ost-CDU auf, „jetzt mit ihrer Vergangenheit zu brechen und sich ganz an die Seite der Opposition zu stellen“.14 Es zeigte sich aber, dass die Führung der Ost-CDU die von Kirchner vertretene Haltung Kohls nicht teilte. Am 17. Januar bezeichnete de Maizière Kirchners Äußerungen als „ungedecktes, verfrühtes Vorpreschen“, auch wenn viele Mitglieder einen Regierungsaustritt befürworteten. Die CDU müsse sich aber ihrer „Verantwortung für ein weiterhin regierbares Land, für lebensnot8 9 10 11
Interview des Autors mit Helmut Kohl in Berlin am 12.3.2003. Vgl. „Frankfurter Rundschau“ vom 11.1.1990. Vgl. Deutschland Archiv 23 (1990), S. 325. Vgl. Horst TELTSCHIK, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 105; „Die Welt“ vom 9.1.1990; „Frankfurter Rundschau“ vom 12.1.1990. 12 Vgl. Uwe THAYSEN, Der Runde Tisch. Oder: Wer war das Volk?, Teil II, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen [ZParl] 21 (1990) S. 257–308, hier S. 265f. 13 Vgl. FAZ vom 18.1.1990. 14 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“ vom 18.1.1990.
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wendige Ordnung und Versorgung, für ungefährdete Vorbereitung freier Wahlen“ stellen.15 Die CDU sei „für das Unheil mitverantwortlich“ und könne sich jetzt nicht aus der Verantwortung stehlen. Zum anderen rechnete er damit, dass nach der CDU auch die anderen Parteien die Regierung verlassen und die DDR damit in ein Chaos geraten, in dem die Organisierung freier Wahlen unmöglich werden könnte.16 Mit ihrer die SED-PDS stabilisierenden Haltung stand die Ost-CDU nicht allein. Am Zentralen Runden Tisches bekräftigten Vertreter aller Ex-Blockparteien am 18. Januar ihre Bereitschaft zur Fortsetzung der Koalitionsregierung.17 Modrow betonte vor dem Ministerrat seinerseits die Notwendigkeit des Erhalts der Regierungsfähigkeit sowie einer „nationalen Koalition der Vernunft“ und appellierte, zur Stabilität der DDR beizutragen.18 Deutlich vertraten West- und Ost-CDU in Grundfragen politischer Macht in der DDR verschiedene Konzepte. Der Bundeskanzler strebte nach einer Auflösung der Modrow-Regierung, da diese erkennbar keine freiheitliche Demokratie, sondern einen erneuerten Sozialismus anstrebte. An ihre Stelle sollte eine Übergangsregierung aus allen Ex-Blockparteien und den neuen politischen Kräften treten. Die Ex-Blockparteien samt Ost-CDU sahen hingegen keine Alternative zum Erhalt der bisherigen SED-dominierten Staatlichkeit bis zu freien Wahlen und meinten, die neo-sozialistischen Bestrebungen Modrows und Gysis im Zaum halten zu können. In der Ost-CDU eskalierte der Streit, als Kirchner am 19. Januar im Präsidium des Hauptvorstandes einen Misstrauensantrag gegen de Maizière einbrachte. Das Präsidium sprach sich daraufhin mehrheitlich für einen Verbleib in der Regierung aus. Ein kurzfristiger Austritt sollte nur erfolgen, wenn es zum grundsätzlichen Dissens in der Regierung komme.19 Damit war auch für Kohl und Rühe klar, „wer das Sagen in dieser Partei hatte“.20 Die Basis der Ost-CDU war in dieser Frage gespalten. So forderte der gerade gegründete Landesverband Thüringen am 20. Januar, die Regierung Modrow zu verlassen und in der Volkskammer in die Opposition zu gehen. Kirchner schloss zu15 8. Sitzung ZRT am 18.1.1990. Info. Nr. 2: Erklärung des Vorsitzenden der CDU zu den Äußerungen des Generalsekretärs Martin Kirchner (ACDP, Runder Tisch). 16 Zit. bei Nina GRUNENBERG, „Politik war eigentlich nicht vorgesehen“, in: „Die Zeit“ vom 19.9.1991. 17 8. Sitzung ZRT (wie Anm 15); Ergebnisse der 8. Sitzung des Rundtischgespräches am 18.1.1990, in: Helmut HERLES/Ewald ROSE (Hg.), Vom Runden Tisch zum Parlament, Bonn 1990, S. 60–76. 18 Beschluß des Ministerrates der DDR 10/1.a/90 vom 18.1.1990: Einschätzung zur Lage und Auswertung des Runden Tisches (BArch B, C 20, I/3–2897, Bl. 39–42). 19 Vgl. Protokoll Präsidiumssitzung Hauptvorstand der CDU vom 19.1.1990 (ACDP 07-0113510). 20 Wolfgang SCHÄUBLE, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991, S. 43.
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nächst seinen Rücktritt nicht aus,21 gab allerdings am nächsten Tag nach und erklärte, trotz abnehmender Gemeinsamkeiten trete man für eine „Große Koalition des Übergangs“ ein.22 Die Pläne, die Partei mit Hilfe Kirchners auf West-Kurs zu bringen, waren gescheitert, allerdings war deren Führung durch den Streit so polarisiert, dass Friedrich Schorlemmer bereits über die „de Maizière-CDU“ und die „Kirchner-CDU“ polemisierte.23 Der CDU-Bundesvorstand stellte nun die Zusammenarbeit offen in Frage. Generalsekretär Volker Rühe meinte, die Ost-CDU habe sich endgültig „ins politische Abseits“ begeben. Ihre Entscheidung beeinträchtige „aufs Schwerste die Kontaktmöglichkeiten zu uns, zur CDU-Deutschlands“. Trotz dieser klaren Worte waren die Meinungen im Bundesvorstand jedoch tatsächlich weiter gespalten. Heiner Geißler meinte, man sollte die Vorbehalte gegen die Ost-CDU ablegen, da kein Weg an einer Zusammenarbeit vorbeiführe. Eberhard Diepgen warnte vor öffentlichen Zensuren und äußerte Verständnis für die Haltung de Maizières. Für die CSU bezeichnete es Theo Waigel als „schlimm“, dass die Ost-CDU „sich auch jetzt nicht aus der Umklammerung der SED lösen“ könne. Es gelinge ihr nicht, die Rolle der Blockpartei abzuschütteln. Die CSU werde sich daher auf die DSU konzentrieren und nicht drei oder vier Partner unterstützen.24 Allianz für Deutschland Als CDU-Bundesvorsitzender stand Kohl im Januar hinsichtlich notwendiger DDR-Partner unter Entscheidungsdruck. Angesichts der Rechtslage im geteilten Deutschland konnte die Bundes-CDU in der DDR nicht direkt in den Wahlkampf ziehen. Partner waren unerlässlich. Jeder infrage kommende Partner hatte aber für sich Defizite. Die Ost-CDU änderte sich dank fortbestehender Dominanz der Altfunktionäre nicht schnell genug, die neuen Gruppierungen waren erst im Aufbau begriffen. Ihnen fehlten Mitglieder und Organisationen. Daher sah es Kohl als „absolut notwendig“25 an, eine Allianz verschiedener Kräfte zu bilden und neue oppositionelle Gruppen mit der Ost-CDU zusammenzubringen. Nur durch eine Konzentration der Potentiale sah er hinreichen-
21 Vgl. „Berliner Zeitung“ vom 22.1.1990; „Welt am Sonntag“ vom 21.1.1990. 22 9. Sitzung ZRT am 22.1.1990 Mitteilung 9/10 (ACDP, Runder Tisch). 23 Vgl. Gottfried MÜLLER, Die Konziliare Bewegung „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ – eine Orientierung für die neue DDR, in: Hans SÜSSMUTH (Hg.), Wie geht es weiter mit Deutschland? Politisches Gespräch am 24./25. Januar 1990. Reformgruppen, Parteien und Kirchen aus der Deutschen Demokratischen Republik im Gespräch mit Politikern und Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik Deutschland (Dialog in Deutschland 1), Baden-Baden 1990, S. 58–62, hier S. 58. 24 Vgl. Volker RÜHE und Theo WAIGEL, in: „Welt am Sonntag“ vom 21.1.1990. 25 Interview Helmut Kohl, in: „Die Welt“ vom 30.3.1990.
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de Wahlchancen.26 An einen Wahlsieg glaubte er zu diesem Zeitpunkt nicht. Nach seiner Meinung konnte es nur darum gehen, ein Desaster bei den Wahlen zu verhindern.27 Am 16. Januar rief er führende Politiker der CDU/CSU ins Kanzleramt, um über eine „Allianz gegen den Sozialismus“28 zu beraten. Sie sollte sowohl gegen die SED-PDS als auch gegen die SPD antreten. Am 23. Januar sprach der CDU-Bundesvorstand über die Ost-CDU. Die meisten Vorstandsmitglieder meinten, man könne diese nicht länger ignorieren. Schäuble sprach vom „natürlichen Partner“ der Bundes-CDU. Man könne nicht die ignorieren, die „von ihrer Grundstruktur genauso Christliche Demokraten waren“ wie die CDU im Westen. Der Name CDU sei in der DDR unverzichtbar, weil „nur damit eine volle Identifizierung mit uns und insbesondere mit dem Bundeskanzler“ möglich sei.29 Dregger relativierte die Forderung an die Ost-CDU, aus der Regierung Modrow auszutreten. Wenn es zu einer Regierung aller politischen Kräfte unter Einbeziehung der Opposition komme, sei die Bewertungsgrundlage eine andere.30 Ernst Albrecht und Birgit Breuel wiesen auf die Möglichkeit hin, die Ost-CDU mit Hilfe Kirchners zu spalten. Mit dem Teil der Partei, der Kirchner folge, könne die bundesdeutsche CDU dann zusammenarbeiten. Der Vorsitzende der Exil-CDU, Siegfried Dübel, berichtete über Kontakte zu Kreisverbänden der Ost-CDU und erklärte, die Mitglieder in der DDR seien Christdemokraten „wie wir“. Die Spitze der Ost-CDU sei bereits weitgehend ausgewechselt und die „schwierige Ebene“ der Bezirksvorsitzenden, auf der es noch etliche „Wendehälse“ gebe, werde durch die derzeitige Gründung der Landesverbände weitgehend geklärt. Kohl, dessen Sympathien dem DA galten,31 widersprach denen, die sich für eine Zusammenarbeit mit dem Hauptvorstand der Ost-CDU aussprachen, kündigte aber an, demnächst eine Entscheidung zu treffen. Er trug Überlegungen über ein Wahlbündnis von DSU, DA und Ost-CDU vor. Danach sollten sich die christlichen und konservativen Kräfte in der DDR zu einer Allianz zusammenschließen, was allgemeine Zustimmung fand. Kohl wollte es vermeiden, sich von der Opposition vorwerfen zu lassen, sein DDR-Partner kooperiere mit der SED-PDS.32 Eine Wende brachte schließlich die Ankündigung de Maizières, die Regierung zu verlassen, falls die neuen politischen Gruppierungen des Zentralen Runden Tisches nicht ebenfalls Regierungsverantwortung übernähmen. Aus Sicht der 26 27 28 29 30 31 32
Vgl. SCHÄUBLE (wie Anm. 20), S. 43. Vgl. Anm. 25. So CDU-Sprecher Andreas Fritzenkötter, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 18.1.1990. SCHÄUBLE (wie Anm. 20), S. 23f. Vgl. „Süddeutsche Zeitung“ vom 24.1.1990. Vgl. Anm. 8. Vgl. TELTSCHIK (wie Anm. 11), S. 113; Volker Rühe, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 25.1.1990.
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Bundes-CDU waren damit die Voraussetzungen für eine Kooperation mit der Ost-CDU erfüllt und der Weg für Verhandlungen zur Bildung einer Allianz frei. Ende Januar sagte Kohl sogar eine Reise nach Südamerika ab, um Zeit für die Vorbereitung des Wahlbündnisses zu haben33 und bemühte sich, DSU und DA von einer Zusammenarbeit mit der Ost-CDU zu überzeugen. Er führte Gespräche mit Schnur, Ebeling und de Maizière, wusste er doch um die enorme Bedeutung der Wahlen, bei denen es um nichts Geringeres ging als um den Weg zur deutschen Einheit. Für ihn stellten die Wahlen in der DDR bereits eine „Vor-Bundestagswahl“ mit erheblichen Auswirkungen dar.34 Freilich zeigten die gekürten DDR-Partner wenig Neigung, zu kooperieren. Diskutiert wurde zunächst ein enger Zusammenschluss der Parteien unter dem Namen „Demokratische Union Deutschlands“ (DUD). Der Hauptvorstand der OstCDU polemisierte jedoch intern gegen diesen Vorschlag. Allenfalls könne man sich zu einer „Allianz der Mitte“ zusammenfinden.35 Der DSU-Vorstand nannte die Beteiligung der Ost-CDU an einem konservativen Bündnis äußerst problematisch,36 und auch der Vorstand des DA votierte mehrheitlich gegen eine enge Allianz mit Ost-CDU und DSU. Erst nachdem Kohl und Rühe ihren potentiellen Ostpartnern das Horrorszenario einer politischen Isolierung und Marginalisierung vor Augen malten, wuchs die Bereitschaft zur Kooperation. Schnur erklärte am 24. Januar, der DA verstehe sich als Partner der CDU und trete für einen Zusammenschluss der „Parteien der Mitte“ ein.37 Rühe forderte den DA darüber hinaus auf, sich mit der Ost-CDU zu verbünden.38 Am 27. Januar befürwortete de Maizière ein Wahlbündnis aus Ost-CDU, DSU und DA. Mit dem DA habe er darüber bereits verhandelt, Gespräche mit der DSU stünden bevor.39 Der Hauptvorstand billigte am 30. Januar ein Wahlbündnis aus DFP, DSU und DA mit dem Namen „Allianz der Mitte“.40 Im DA-Vorstand stand Rainer Eppelmann einem Wahlbündnis mit DSU und OstCDU weiterhin skeptisch gegenüber. Allenfalls sei die Bildung eines „demokratischen Blocks der Mitte“ mit der „Deutschen Forumpartei“ denkbar.41 Außerdem sei er „eigentlich Sozialdemokrat“.42 Der Stellvertretende DA-Vorsit33 Vgl. TELTSCHIK (wie Anm. 11), S. 118. 34 Vgl. EBD. S. 115. 35 Protokoll Präsidiumssitzung Hauptvorstand der CDU vom 25.1.1990 (ACDP 07-0113510). 36 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“ vom 27./28.1.1990. 37 ZDF, 24.01.90/ 13.10 Uhr, Loy 0124-5. 38 Vgl. taz vom 1.2.1990. 39 Vgl. „Berliner Zeitung“ vom 29.1.1990. 40 Protokoll Präsidiumssitzung Hauptvorstand der CDU vom 30.1.1990 (ACDP 07-0113510). 41 Rainer Eppelmann, zit. in: „Welt am Sonntag“ vom 4.2.1990. Vgl. „Süddeutsche Zeitung/ Berliner Zeitung“ vom 2.2.1990. 42 „Die Welt“ vom 18.1.1990.
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zende Ehrhart Neubert erklärte, die Mehrheit der Basis des DA sei nicht einverstanden, dass die DSU an dem Bündnis teilnehme. Der DA-Vorstand votierte mehrheitlich gegen eine enge Allianz mit der Ost-CDU.43 Ungeachtet aller Widerstände setzte Rühe seine Bemühungen um Einigung fort.44 Am 1. Februar trafen sich Vertreter der Ost-CDU, des DA, der DSU und der DFP im West-Berliner Gästehaus der Bundesregierung. Offizielle Grundlage des Gesprächs war der auf westliches Drängen herbeigeführte Beschluss der Ost-CDU, eine „Allianz der Mitte“ mit DA, DSU und DFP anzustreben. Zwei Tage später gab der Hauptausschuss des DA mit 43 Ja- gegen 5 Nein-Stimmen seine Zustimmung zu Verhandlungen. Allerdings sollten die Parteien politisch unabhängig und selbstständig bleiben. Jeder Wahlkreis sollte selbst entscheiden, ob er die Allianz mit einer oder mehreren Gruppen eingehen wolle. Einen Tag später startete der DA offiziell in den Wahlkampf und warb für die „Allianz der Mitte“ unter Beteiligung von DFP, DSU und CDU. Schnur erklärte, das „Bündnis der politischen Mitte“ erhebe „den klaren Anspruch, die Regierung der DDR zu stellen“.45 Vor dem Rathaus von Halle stellte sich Schnur als „der künftige Ministerpräsident“ vor und erklärte, der DA trete für ein Ende aller „sozialistischen Experimente“ ein.46 Binnen kurzer Zeit hatte der Demokratische Aufbruch einen enormen Veränderungsprozess durchgemacht. Wie andere erfolgreiche neue Gruppen setzten sich hier Mehrheiten durch, die mit den ursprünglich vertretenen demokratisch-sozialistischen oder radikaldemokratischen Zielen nichts im Sinn hatten. Es waren vor allem Arbeiter, Handwerker und Bauern, unter deren Druck sich der DA von linken Positionen verabschiedete.47 Grundlage der letztlich vereinbarten Zusammenarbeit war die Tatsache, dass angesichts des näher rückenden Wahltermins allen Beteiligten klar war, dass sie auf Unterstützung aus dem Westen angewiesen waren. Das betraf nicht nur die materielle, sondern vor allem „die politische Unterstützung im Sinne der Zugehörigkeit zu einer aus dem freien Teil Deutschlands bekannten politischen Formation“.48 Im Beisein Kohls vereinbarten Ebeling, Schnur und de Maizière in WestBerlin, zur Volkskammerwahl am 18. März im Wahlbündnis „Allianz für 43 Vgl. Eppelmann (wie Anm. 41). 44 Vgl. Anm. 38. 45 Politische Erklärung „Für ein einiges Deutschland“ vom 4.2.1990 (HdG, Projektgruppe Leipzig, Objekt Rasch 18). Vgl. „Welt am Sonntag“ vom 4.2.1990. 46 „Berliner Zeitung“ vom 5.2.1990. Im Kanzleramt wurde Schnur bereits vor der Aufdeckung seiner IM-Tätigkeit für das MfS als politisches „Leichtgewicht“ angesehen. Vgl. TELTSCHIK (wie Anm. 11), S. 154. 47 Vgl. Friedrich Schorlemmer, in: taz vom 6.1.1990; Sigrid MEUSCHEL, Revolution in der DDR. Versuch einer sozialwissenschaftlichen Interpretation, in: Wolfgang ZAPF, Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt/M. 1991, S. 558–571, hier S. 558. 48 SCHÄUBLE (wie Anm. 20), S. 44.
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Deutschland“ anzutreten. Nicht mehr dabei war die „Deutsche Forum Partei“ (DFP), die sich mit LDPD und FDP über eine Fusion verständigt hatte.49 Die Allianz erhielt nun Wahlkampfunterstützung aus dem Bonner Konrad-Adenauer-Haus. Im „Wahlkampfzentrum Ost-Berlin“ beriet Friedhelm Ost die Allianz in Fragen der Öffentlichkeitsarbeit. In Bonn wurden inhaltliche Konzepte für den Wahlkampf erstellt.50 Für den Wahlkampf wurde der auf Kohl zugeschnittene Slogan „Kanzler der Deutschen“ beschlossen.51 Die Ost-CDU konnte nun ihre Geschäftsstellen, Zeitungsredaktionen und Verlage dem Wahlkampf der Allianz zugute kommen lassen. Das Bündnis auf Zeit nutzte vor allem der Ost-CDU, relativierte die Zusammenarbeit mit den neuen Kräften doch ihre Blockvergangenheit. An den Runden Tischen veränderten sich durch die Kooperation die Mehrheiten. Alte und neue politische Kräfte waren nun Verbündete, bisherige Frontstellungen wurden hinfällig.52 Allerdings kooperierten die Partner auch nach der Bildung der Allianz nur widerstrebend. Ständig kam es zu Auseinandersetzungen, Angriffen und Behinderungen.53 So protestierte die DSU gegen Äußerungen de Maizières, wonach er im Falle eines Sieges der Allianz Ministerpräsident werde. Der DA beklagte die bevorzugte Unterstützung der Ost-CDU, obwohl noch überall alte Funktionäre in den Ämtern säßen.54 CSU-Generalsekretär Erwin Huber wiederum erklärte, die Wahlkampfhilfe der CSU gelte ausschließlich der DSU, die nicht mit der CDU in einen Topf geworfen werden wolle. Die Allianz werde nur mitgetragen, um dem Bundeskanzler seine Auftritte in der DDR zu ermöglichen.55 DSU-Generalsekretär Diestel erklärte, die DSU müsse auf Distanz bleiben und dürfe sich nicht „die schmutzige Jacke der CDU“ anziehen.56 Kohl stellte resignierend fest, die Zusammenarbeit gestalte sich mühsam.57 Hinzu kamen andere Probleme. Ende Januar übergab ein hoher MfS-Offizier dem Bundesnachrichtendienst eine Liste mit 23 Namen prominenter IM, darunter Wolfgang Schnur und Martin Kirchner.58
49 Protokoll DA-Vorstandssitzung am 8.2.1990 (ACDP 07-012-3505). 50 Vgl. Antonius JOHN, Rudolf Seiters. Einsichten in Amt, Person und Ereignisse, Bonn/Berlin 1991, S. 157. 51 Vgl. TELTSCHIK (wie Anm. 11), S. 115. 52 So Steffen Reiche, in: „Am Tag als der Runde Tisch seine Arbeit begann“, ORB 20.12.1994, 20.15 Uhr. 53 Vgl. Interview Lothar de Maizière, in: taz vom 7.3.1990; „Frankfurter Rundschau“ vom 23.3.1990. 54 Vgl. Protokoll DA-Vorstandssitzung am 8.2.1990 (ACDP 07-012-3505). 55 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“ vom 10./11.2.1990. 56 „Frankfurter Rundschau“ vom 1.3.1990. 57 Vgl. TELTSCHIK (wie Anm. 11), S. 167. 58 Vgl. taz vom 19.3.1990.
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Wahlen am 18. März 1990 Trotz aller Querelen und ambitionierter Meinungsumfragen ging die Allianz für Deutschland überraschend als klarer Sieger aus den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 hervor. Was kaum jemand im Bonner Konrad-Adenauer-Haus zu hoffen gewagt hatte, gelang. Kohls Konzept ging auf. Die Allianz erhielt über 5,5 Mio. Stimmen, das waren 47,79 Prozent. Dieses Ergebnis war vor allem der Person Helmut Kohls und seiner klaren Haltung zur deutschen Einheit zu verdanken. Stärkste Partei wurde die CDU mit 40,59 Prozent und 163 Mandaten. Die Allianzpartner besetzten zusammen 193 von 400 Volkskammermandaten. In Gemeinden bis 50.000 Einwohnern kamen die Allianzparteien auf ein Durchschnittsergebnis von mindestens 50, in den größeren Städten um etwa 40 Prozent. In 14 der 15 Wahlbezirke schnitt die Allianz prozentual am besten ab, lediglich in Ost-Berlin rangierte die SPD mit rund 35 Prozent an erster Stelle vor der PDS mit knapp 30 Prozent. Dagegen erreichte die Allianz in den thüringischen und sächsischen Bezirken mit viel Arbeiterbevölkerung zum Teil absolute Mehrheiten. Über 55 Prozent der Arbeiterschaft wählte die Allianz, deutlich mehr als SPD oder PDS. Überhaupt wurde die Allianz in allen Berufsgruppen, mit Ausnahme der sogenannten „Intelligenz“, Mehrheitspartei.59 Mit der Wahl hatte die Allianz ihre Aufgabe erfüllt. Eine gemeinsame Volkskammerfraktion scheiterte am Widerstand der DSU. CDU und DA bildeten jedoch eine Fraktion. Damit deutete sich bereits der spätere Beitritt des DA zur CDU an. Obwohl die DSU eine eigene Fraktion bildete, vereinbarten die Allianzparteien in der Volkskammer die Bildung einer parlamentarischen Arbeitsgemeinschaft mit paritätisch besetztem Vorstand. Mit der gegen Widerstände durchgesetzten Bildung der Allianz für Deutschland gelang es Helmut Kohl, die für den Weg zur Wiedervereinigung entscheidenden Wahlen in einem Kopf- an Kopf-Rennen doch noch für die Union zu entscheiden. Der Sieg ging weit über eine parteipolitische Bedeutung hinaus. Gegen alle innen- und außenpolitischen Widerstände entschieden sich die Wähler damit zugleich für einen schnellen Weg zur deutschen Einheit. Der Sieg der Allianz für Deutschland beeinflusste direkt und nachhaltig die politische Architektur Deutschlands und Europas.
59 Vgl. Wolfgang G. GIBOWSKI, Demokratischer (Neu-)Beginn in der DDR. Dokumentation und Analyse der Wahl vom 18. März 1990, in: ZParl 21 (1990), S. 5–22, hier S. 13.
Die vertragliche Gestaltung der deutschen Einheit Von Hanns Jürgen Küsters Die Vertragsgestaltung zur Wiedervereinigung Deutschlands diente hauptsächlich drei Zielen: die politische, wirtschaftliche und soziale Einheit im Inneren herzustellen, die Viermächterechte in Bezug auf Deutschland als Ganzes zu beseitigen und dadurch die Rechte eines souveränen Staates wiederzuerlangen sowie durch Vertiefung der westlichen Bündnisbeziehungen und Sicherheitsgarantien allen anderen Staaten Angst vor der Zentralmacht Deutschland in der Mitte Europas zu nehmen. Entsprechend komplex fielen die vertraglichen Vorkehrungen aus. Sie konzentrierten sich keineswegs nur auf den Staatsvertrag zur Schaffung der deutsch-deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 19901, den Einigungsvertrag vom 31. August 19902, den Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Vertrag) vom 12. September 19903 und den deutsch-polnischen Vertrag über die Bestätigung der bestehenden Grenzen vom 14. November 19904. Genau betrachtet begleitete eine Fülle von internationalen Verträgen, Verfassungsgesetzen, Gesetzen, Gesetzesänderungen, Protokollen, Erklärungen und Beschlüssen den Auflösungsprozess der DDR bis zum 3. Oktober 1990 und darüber hinaus bis zur völkerrechtlich wirksamen Wiederherstellung der Souveränität Deutschlands am 15. März 19915. 1
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Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze, Anlagen I–IX und Protokollerklärungen, 18.5.1990, in: Bundesgesetzblatt [BGBl.] 1990 II, S. 537–567. Erklärungen Kohls und de Maizières anlässlich der Unterzeichnung, 18.5.1990, in: Bulletin, hg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 64, 22.5.1990, S. 545f., 546f. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag (Vertrag, Protokoll, Anlage I: Besondere Bestimmungen zur Überleitung von Bundesrecht, Anlage II: Besondere Bestimmungen für fortgeltendes Recht der Deutschen Demokratischen Republik und Anlage III: Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen), 15.6.1990, in: BGBl. 1990 II, S. 889–904, 905f., 907–1147, 1148–1236, 1237f. Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland und Vereinbarte Protokollnotiz, beide v. 12.9.1990, EBD. S. 1318–1329; Faksimile des Vertrages in: „2+4“. Die Verhandlungen über die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit. Eine Dokumentation, hg. v. Auswärtigen Amt, Bonn 1991. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze, 14.11.1990, in: BGBl. 1991 II, S. 1329f. Der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland trat mit Hinterlegung der Ratifikationsurkunde aller Vertragsparteien (die letzte war die sowjetische Regierung) im Auswärtigen Amt in Bonn am 15.3.1991 in Kraft. Bekanntmachung EBD. S. 587.
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Ohne den deutsch-sowjetischen Vertrag über umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit6, die Vereinbarungen über den Abzug der alliierten Streitkräfte aus Berlin7 und der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland8, die Charta von Paris für ein neues Europa9 oder das Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der DDR vom 22. Juli 199010, um nur einige Beispiele zu nennen, wäre die deutsche Einheit gar nicht oder nicht so zügig vonstatten gegangen. Im Folgenden soll der Fokus auf drei Fragen liegen: Erstens, welches Timing lag der vertraglichen Gestaltung zugrunde, die zur Trennung der Regelung äußerer Fragen von den inneren Fragen der Wiedervereinigung führte? Zweitens, welche Vertragsgegenstände waren im Rahmen der inneren Wiedervereinigung bei der Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und bei den Beratungen über den Einigungsvertrag besonders umstritten? Und drittens, welche grundsätzlichen Überlegungen und Kompromisse lagen dem Zwei-plus-Vier-Vertrag zugrunde?
6 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik, 9.11.1990, mit Briefwechsel EBD. S. 799–809. 7 Die Notenwechsel über das NATO-Truppenstatut, über den befristeten Verbleib amerikanischer, britischer und französischer Truppen und über ein Berlin betreffendes Übereinkommen vom 25.9.1990 sowie der Notenwechsel über Besuche belgischer, kanadischer und niederländischer Truppen vom 23.9.1991 regelten die Rechtsstellung der in Deutschland stationierten Streitkräfte der Westmächte und Fragen in Bezug auf Berlin, denen der Deutsche Bundestag mit Gesetz vom 3.1.1994 zustimmte (BGBl. 1994 II, S. 26). Dazu auch Dieter FLECK, Zur Neuordnung des Aufenthaltsrechts für ausländische Streitkräfte in Deutschland, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 56 (1996), S. 389–405. 8 Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über einige überleitende Maßnahmen (sog. Überleitungsabkommen), 9.10.1990, in: BGBl. 1990 II, S. 1655–1659. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (sog. Truppenabzugsvertrag) mit Anlagen, 12.10.1990, in: BGBl. 1991 II, S. 258–290. 9 Charta von Paris für ein neues Europa. Erklärung der Staats- und Regierungschefs zum Abschluss des KSZE-Gipfeltreffens vom 19.–21.11.1990 in Paris, 21.11.1990, in: Bulletin (wie Anm. 1), Nr. 137, 24.11.1990, S. 1409–1415. 10 Mit dem Gesetz über die Wahlen zu Landtagen in der Deutschen Demokratischen Republik (sog. Länderwahlgesetz) und der Ordnung zur Durchführung der Wahlen zu Landtagen in der Deutschen Demokratischen Republik am 14.10.1990, beide v. 22.7.1990 (Gesetzblatt [GBl.] der DDR 1990 I, S. 960–976, 977–990), schufen Ministerrat und Volkskammer die Voraussetzungen für die Landtagswahlen auf dem Gebiet der DDR (Gesetz zur Änderung des Länderwahlgesetzes, 30.8.1990, EBD. S. 1422).
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1. Vorphase Das Zustandekommen dieser drei Vertragswerke erstreckte sich über vier Abschnitte: die Vorphase der Verhandlungen von November 1989 bis Anfang Januar 1990, die Implementierung des Zwei-plus-Vier-Mechanismus und die Verhandlungen über den Staatsvertrag zur Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion von Mitte Januar bis Anfang Mai, die Verzögerung der Sechsmächte-Verhandlungen zwischen Mai und Mitte Juli, in denen bilateral die wichtigsten Vereinbarungen getroffen, am 1. Juli die Währungsunion in Kraft gesetzt und die Verhandlungen über den Einigungsvertrag begonnen wurden sowie die Abschlussphase der Verträge von Juli bis September 1990. Diskussionen um eine erneute Viermächte-Konferenz und den möglichen Abschluss eines Friedensvertrages begannen bereits am Tage nach der Grenzöffnung am 9. November 1989. Bundeskanzler Kohl und Bundesaußenminister Genscher lehnten beides ab, weil sie darin einen Rückschritt zu Zeiten Ende der 1950er Jahre sahen, als Vertreter beider deutscher Staaten am Katzentisch Platz zu nehmen hatten.11 Genscher betonte am 10. November gegenüber dem amerikanischen Außenminister Baker, eine innere Aussöhnung der beiden Teile Deutschlands müsse vor der äußeren Aussöhnung erfolgen12. Dem Vorschlag von DDR-Ministerpräsident Modrow vom 17. November 1989, „die Verantwortungsgemeinschaft beider deutschen Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft zu untersetzen“,13 begegnete Kohl mit seinem ZehnPunkte-Programm vom 28. November 1989,14 das über die Vertragsgemeinschaft hinausging und vorsah, „konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, danach eine Föderation“, also eine „eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen“. Das wiederum setzte „zwingend eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR voraus“. Die instabile Stimmung in der DDR, die zunehmende Gefahr von Gewaltanwendungen, die täglich wachsende Anzahl an Flüchtlingen in die Bundesrepublik und der drohende Kollaps der DDR-Währung verstärkten im Dezember 1989 Kohls Sorge, die DDR-Wirtschaft werde auf dem Wege einer Vertragsgemeinschaft nicht reformierbar sein. Bereits wenige Tage vor seinem 11 Hans-Dietrich GENSCHER, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 667. 12 James A. BAKER, III, with Thomas M. DEFRANK, The Politics of Diplomacy. Revolution, War and Peace 1989–1992, New York 1995, S. 164. 13 Regierungserklärung Modrow, 17.11.1989, in: Volkskammer, 9. Wahlperiode, Protokolle, Bd. 25, S. 272–281. 14 Helmut KOHL, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 988–999. Faksimilierter Auszug aus dem „Original-Entwurf“ für das Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit, versehen mit hs. Ergänzungen des Bundeskanzlers in: Helmut KOHL, „Ich wollte Deutschlands Einheit“, dargestellt v. Kai DIECKMANN und Ralf Georg REUTH, Berlin 1996, S. 162.
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Besuch am 19./20. Dezember in Dresden diskutierte er mit Schäuble, Seiters, Teltschik, Scholz und Mitarbeitern des Kanzleramts erstmals über den Gedanken einer deutsch-deutschen Währungs- und Wirtschaftsunion, vorwiegend in der Absicht, die Übersiedlerzahlen einzudämmen.15 Über die Tage des Jahreswechsels verfestigten sich die Überlegungen. Dabei stellte sich die grundsätzliche Frage: Soll dem ökonomisch Sinnvollen oder dem politisch Notwendigen der Vorzug gebühren? Es gab zwei Denkschulen zu dem bislang beispiellosen Übergang einer gescheiterten sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft. Anhänger der ökonomischen Denkschule plädierten für eine bedächtige Vorgehensweise in einem langfristigen, etappenweisen Transformationsprozess, bei dem auf jeder Übergangsstufe die einzelnen Elemente zusammenpassen müssten. Freie Preisbildung setzte die Abschaffung der Staatsmonopole voraus; Voraussetzung für eine halbwegs stabile Währung war die Kontrolle über das Staatsdefizit, um eine funktionierende Marktwirtschaft aufbauen zu können. Die andere Denkschule befürwortete einen rascheren Übergang in zeitlich kürzeren Stufen. Zwar müssten zuerst die finanzpolitischen Voraussetzungen geschaffen werden, doch hatten die Befürworter mehr die politische Motivation der Menschen in der DDR im Auge, die nach der D-Mark riefen, durch ihre Wanderungsbewegung zu einer beschleunigten Destabilisierung beitrugen und die Bundesregierung unter Handlungsdruck setzten.16 Kohl entschloss sich, in einem radikalen Schritt die D-Mark in der DDR einzuführen, den Bundesfinanzminister Waigel am 15. Januar in dem Vermerk über „Zehn Punkte auf dem Weg zu einer deutsch-deutschen Währungsunion“17 zusammenfasste. Denn Wirtschaftsinvestitionen bedurften eines institutionellen Rahmens, und für eine Rechtsangleichung war die Anpassung der Arbeits- und Sozialordnung unabdingbar. Modrows Entwurf für eine Vertragsgemeinschaft,18 den er Kanzleramtsminister Seiters am 25. Januar 1990 übergab,19 war damit ebenso Makulatur wie
15 Wolfgang SCHÄUBLE, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, hg. und mit einem Vorwort v. Dirk KOCH und Klaus WIRTGEN, Stuttgart 1991, S. 21. 16 Thilo SARRAZIN, Die Entstehung und Umsetzung des Konzepts der deutschen Wirtschaftsund Währungsunion, in: Theo WAIGEL/Manfred SCHELL, Tage, die Deutschland und die Welt veränderten: Vom Mauerfall bis zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, München 1994, S. 160–225, hier S. 164f. 17 Abdruck EBD. S. 176–180. 18 Entwurf der Regierung der DDR: Vertrag über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, 25.1.1990, in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (Dokumente zur Deutschlandpolitik, hg. v. Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs), bearb. v. Hanns Jürgen KÜSTERS und Daniel HOFMANN, München 1998, S. 713–716. 19 Gespräch Seiters mit Modrow in Berlin (Ost), 25.1.1990, EBD. S. 707–713.
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seine Forderung nach einem 15-Milliarden-DM-Kredit20 und der sowieso nur als Spielmaterial dienende Entwurf der Bundesregierung für einen Vertrag über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft vom 18. Januar21, der lediglich alte deutschlandpolitische Linien fortschrieb. Schäuble wollte die „Revolution“ in der DDR solange „unvollendet“ lassen,22 bis am 18. März dort eine demokratische Regierung gewählt wäre, mit der die Bundesregierung dann über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion verhandeln könnte. Das mit Washington abgestimmte Verfahren, im Zwei-plus-Vier-Rahmen nur über die Ablösung der Viermächte-Rechte zu beraten und die Verhandlungen über die innere Wiedervereinigung den Deutschen selbst zu überlassen,23 schaffte die Ausgangsbasis, die Sowjetunion im Kreise der Vier Mächte zu isolieren und ihren Entscheidungszwang zu erhöhen. Voraussetzung war der zügige Abschluss der Verhandlungen über die deutsche Währungs- und Wirtschaftsunion. Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft wurde somit zur Voraussetzung für die politische Einheit Deutschlands. Dazu standen drei Wege offen. Nach der so genannten „Krönungstheorie“ würde ein Währungsverbund erst am Ende dieser Entwicklung geschaffen, wenn die DDR-Wirtschaft Anschluss an das Niveau der Bundesrepublik gefunden hätte. Dieser Weg bräuchte Zeit. Die Menschen in der DDR aber wollten schnelle Lösungen. Der zweite Weg bestand in einer künstlichen Verklammerung von Mark der DDR und D-Mark, wie ihn die SPD vorschlug. Damit würde nach Ansicht des Bundeskanzleramtes jedoch die Stabilität der D-Mark aufs Spiel gesetzt. Der dritte Weg sah die Einführung der D-Mark als gesetzliches Zahlungsmittel in der DDR vor. Das setzte einen Verzicht der DDR auf die Währungshoheit voraus und bedingte die Festlegung eines Umtauschkurses.24 Eine Entscheidung darüber war erst nach Kenntnis aller Wirtschaftsdaten der DDR ratsam, über die die Bundesregierung jedoch bis dahin nicht verfügte. 2. Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion „Wenn die Union es zuließe“, erklärte Kohl am 8. Februar vor dem CDUBundesvorstand, „daß unser Land in einer Schicksalsstunde seiner Geschichte
20 Regierungserklärung Modrow (wie Anm. 13), S. 272–281. 21 Entwurf der Bundesregierung: Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft, 18.1.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 695–698. 22 SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 23. 23 Philip ZELIKOW/Condoleezza RICE, Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft, Cambridge (Mass.), London 1995, S. 193, 197. 24 Vermerk Nehring, 6.2.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 761; Horst TELTSCHIK, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 130f.
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aus finanziellen Ängsten vor der Einheit zurückweiche, dann habe die Bundesrepublik vor der Geschichte abgedankt“.25 Wann denn, wenn nicht jetzt, bei guter Wirtschaftslage, sollte die Bundesrepublik eine solche Aufgabe lösen. Unabhängig davon legten die Länder nun gesteigerten Wert darauf, die Bund-Länder-Finanzbeziehungen außen vor und die Finanzausstattung vor einer Neuverteilung der Umsatzsteuer ab 1999 davon unberührt zu lassen. Der mittelfristige Bund-Länder-Finanzausgleich sollte bis 1994 so gestaltet werden, dass die neu entstehenden Länder in der DDR davon nicht profitieren und erst ab 1995 darüber beraten würden.26 Den Bundesländern war schnell klargeworden, dass es bei den anstehenden Verhandlungen nicht nur um die Währungs- und Wirtschaftsunion, sondern zugleich um grundsätzliche Aspekte der künftigen Staatsstruktur und substantielle Veränderungen des föderalen Systems der Bundesrepublik ginge.27 Kohl, Schäuble und die CDU-regierten Länder plädierten für die Ausweitung des Grundgesetzes auf die DDR und deren Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz. Der Kanzler wollte der SPD nicht die Chance geben, sozialistische Elemente in die deutsche Verfassung hineinzuschreiben. Seiner Ansicht nach polarisierten die Sozialdemokraten und strebten immer noch eine Neutralität Gesamtdeutschlands an. Denn die SPD-regierten Länder bevorzugten das Verfahren über Artikel 146 Grundgesetz, das ihrer Meinung nach eine größere demokratische Legitimation und möglicherweise eine größere Akzeptanz in der Bevölkerung fände, wogegen allerdings aus Sicht der Bundesregierung die längere Wartezeit sprach. Am 1. März präsentierte Schäuble erste Überlegungen für eine Überleitungsgesetzgebung, deren Ausgangspunkt das Staatsverständnis der Bundesrepublik Deutschland war. Diesem Kernstaat des 1949 neu organisierten Deutschen Reiches sollte die DDR beitreten, entweder als Staatsgebiet der DDR oder durch den Beitritt der Länder der DDR. Die Bundesrepublik Deutschland hätte ihrerseits keine Entscheidungsmöglichkeit über die Annahme.28 Der Sieg der „Allianz für Deutschland“ bei der Volksammerwahl war für Kohl ein „Gottesgeschenk“29. Er befürwortete eine große Koalition bürgerlicher Kräfte aus CDU (Ost), DSU, Demokratischem Aufbruch, Liberalen und SPD in der Absicht, eine Mitte-Links-Koalition aus SPD und PDS auszuschließen. Die SPD-Führung sollte vor der Alternative stehen: sich entweder der Koalition anzuschließen oder sich später den Vorwurf gefallen lassen zu 25 TELTSCHIK (wie Anm. 24), S. 133. 26 Besprechung Kohl mit den Regierungschefs der Länder in Bonn und Anlage 1 Beschlussvorschlag der Länder, beide v. 15.2.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 834–838. 27 Besprechung Seiters mit den Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder in Bonn, 2.3.1990, EBD. S. 899–905. 28 Aufzeichnung des Bundesministeriums des Innern, 27.2.1990, EBD. S. 879–886. 29 TELTSCHIK (wie Anm. 24), S. 177.
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müssen, sie entziehe sich in geschichtlicher Stunde der nationalen Verantwortung. Die Taktik der Opposition lief darauf hinaus, gesamtdeutsche Wahlen so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie hoffte, ein größerer zeitlicher Abstand zwischen Wiedervereinigung und gesamtdeutschen Wahlen werde bei wachsenden innenpolitischen Problemen infolge der Wiedervereinigung ihre Chancen auf den Regierungswechsel verbessern. Ehmke stellte deshalb drei Bedingungen: Erstens verlangte er den Abschluss eines Staatsvertrages mit der DDR einschließlich der Änderung des Grundgesetzes; zweitens sollte eine Beitrittserklärung der Volkskammer nach Klärung der außen- und sicherheitspolitischen Voraussetzungen vorliegen; und drittens forderte er die Billigung des geänderten Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung durch einen Volksentscheid. Erst dann könne sich der Deutsche Bundestag selbst auflösen und die gesamtdeutsche Wahl stattfinden.30 Diese Forderungen waren für Kohl ein Grund mehr, das Verhandlungstempo zu forcieren. Im Zuge der Schaffung eines einheitlichen deutschen Währungsgebietes mit der Deutschen Bundesbank als Notenbank und der Errichtung einer gemeinsamen Wirtschaftsordnung, ergänzt durch eine Sozialunion, sollte sich die DDR zur Übernahme umfangreicher Gesetze verpflichten. Umstritten waren besonders drei Punkte: (1) die Klärung der Eigentums- und Vermögensfragen, (2) die Festlegung der Umstellungsmodalitäten für laufende Zahlungen und für Bestände an Bargeld, Sparguthaben und Verbindlichkeiten sowie (3) Fragen, die für die Bundesrepublik mit hohen finanziellen Anschubfinanzierungen bzw. Sozialleistungen verbunden waren, wie zum Beispiel der Leistungsumfang und die Höhe des Leistungsniveaus in den Sozialversicherungssystemen, die Höhe der Sozialhilfe, die Einbeziehung von Arbeitsförderungsmaßnahmen in die Sozialversicherung, Lohnfortzahlungsregelungen und die Mitfinanzierung durch die bundesdeutsche Rentenversicherung.31 Angesichts ungeklärter Eigentums- und Vermögensfragen, über die bereits bei der Begegnung am 19. Dezember 1989 in Dresden zwischen den Bundesministern Wilms und Haussmann mit DDR-Außenhandelsminister Beil Expertengespräche vereinbart worden waren, hatte die Regierung Modrow am 2. März in Schreiben an Kohl32 und Gorbatschow gefordert, die Eigentumsverhältnisse in der DDR künftig nicht in Frage zu stellen. Die von der 30 „Die FDP will die Bundestagswahl verschieben“, in: FAZ, Nr. 89, 17.4.1990, S. 1f.; „Die deutsch-deutschen Regierungsgespräche beginnen“, in: „General-Anzeiger“ (Bonn), 100. Jg., Nr. 30478, 17.4.1990, S. 1f. 31 Bundesministerium der Finanzen, Vermerk über das Ergebnis der Ressortberatungen zum Entwurf eines Vorschlages für einen Vertrag über die Schaffung einer Währungsunion, Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, 4.4.1990, 5 S., in: Bundeskanzleramt (BK), 212 – 35400 De 39 Bd. 3, zit. nach: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 141. 32 Schreiben Modrow an Kohl, 2.3.1990, EBD. S. 906.
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sowjetischen Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 vorgenommenen Enteignungen seien in Artikel 24 der Verfassung der DDR festgelegt. Die Bürger, so hieß es, hätten einen legitimen Anspruch auf den Fortbestand dieses Rechtsverhältnisses.33 Die sowjetische Regierung unterstützte in einer TASS-Erklärung am 27. März die DDR-Position und verlangte, „die Rechtsordnung strikt einzuhalten sowie die sozialökonomischen Rechte und Interessen von Millionen Menschen in der DDR zu schützen“.34 Als bekannt wurde,35 dass sich der Zentralbankrat mit seiner skeptischen Haltung zur Währungs- und Wirtschaftsunion am 30. März gegenüber dem Bundeskanzler für eine generelle Umstellung aller Schuldverhältnisse allenfalls im Verhältnis 2:1 mit Ausnahme von Sparguthaben bis 2.000 Mark je Einwohner in der DDR ausgesprochen hatte,36 lösten diese Vorschläge angesichts der Wahlkampfversprechen eine Welle des Protestes bei der Bevölkerung in der DDR aus. Der Koalitionsvertrag der neuen DDR-Regierung vom 12. April37 forderte die Umstellung des Kurses im Verhältnis 1:1, die Umbewertung der Inlandsschulden, in der Übergangsphase einen innerdeutschen Finanzausgleich, um die Finanzierung des DDR-Staatshaushaltes „bis zum vollen Greifen der Marktwirtschaft“ sicherzustellen, sowie die gleichberechtigte Vertretung der Länder der DDR im Zentralbankrat. Tietmeyer, von Kohl beauftragter Unterhändler, wollte die erforderlichen währungspolitischen Maßnahmen, insbesondere die künftigen Befugnisse der Bundesbank, und die Regelungen für die neue Wirtschaftsordnung der DDR unter Rückgriff auf die Praxis von Ludwig Erhards Leitsätzegesetz aus dem Jahre 1948 möglichst unzweideutig vertraglich fixieren.38 Die Bundesregierung schlug Ost-Berlin vor, Löhne und Gehälter in der DDR im Verhältnis 1:1 umzustellen. Sparguthaben und Bargeld sollten bis zu 4.000 DM im Verhältnis 1:1, darüber hinaus im Verhältnis 1:2 ab 2. Juli 1990 umgetauscht werden.39 33 Erklärung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu den Eigentumsverhältnissen, 1.3.1990, EBD. S. 906–908. 34 Meldung TASS/russ./27.3.90/1420, in: Texte zur Deutschlandpolitik, hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Reihe III/Bd. 8a – 1990, Bonn 1991, S. 135–138. 35 „Mark der DDR soll 2:1 getauscht werden“, in: „Frankfurter Rundschau“, 46. Jg., Nr. 77/ 13, 30.3.1990, S. 1–3. 36 Schreiben Pöhl an Kohl und Entschließung des Zentralbankrats, beide v. 30.3.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1002–1004. 37 Grundsätze der Koalitionsvereinbarung zwischen den Fraktionen der CDU, der DSU, dem DA, den Liberalen (DFP, BFD, F.D.P.) und der SPD, 12.4.1990, in: BK, 212 – 35400 De 39 Bd. 3, zit. nach EBD. S. 144. 38 Hans TIETMEYER, Erinnerungen an die Vertragsverhandlungen, in: WAIGEL/SCHELL (wie Anm. 16), S. 57–117, hier S. 65. 39 Angebot der Bundesregierung für den Staatsvertrag mit der DDR zur Gründung einer Währungsunion mit Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, 23.4.1990, in: Bulletin (wie Anm. 1), Nr. 47, 24.4.1990, S. 374.
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Grundsätzlich hatten die Länderfinanzminister am 20. April die Beteiligung der Länder an der finanziellen Unterstützung der DDR „als gesamtstaatliche Aufgabe“ im Zuge der bundesstaatlichen Solidaritätspflicht anerkannt und waren bereit, die von Bund und Ländern zu tragenden „DDR-Lasten“ bei der Umsatzsteuerverteilung ab 1991 einzukalkulieren. In dem Arbeitspapier über die Vertragsgrundzüge, das Tietmeyer und Schäuble dem neuen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière40 am 23. April übergaben,41 waren vier zentrale Punkte festgeschrieben: die Herstellung der deutschen Einheit über Artikel 23 Grundgesetz, die innere Abhängigkeit zwischen der Schaffung der Währungs- und Wirtschaftsunion und den Verhandlungen im Rahmen der Zwei-plus-Vier, die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft und die Ausweitung der EG-Rechte auf das Gebiet der DDR. Kohl wollte am nächsten Tag in Bonn mit de Maizière zu einer Einigung kommen. Doch der DDR-Ministerpräsident lehnte das Angebot des Höchstbetrages von 4.000 DM für einen Umtausch im Verhältnis 1:1 ab.42 Am 30. April kristallisierte sich eine Lösung heraus, die den Durchbruch bedeutete. Die Umstellung der Geldbestände und Forderungen sollte im Verhältnis 2:1 erfolgen. Für die von der DDR je Einzelperson verlangten Beträge für die Umstellung von Bargeld- und Bankguthaben im Verhältnis 1:1 wurde eine je nach Lebensalter abgestufte Regelung von 2.000 DM bis zu 6.000 DM vereinbart.43 Zu den regelungsbedürftigen Punkten im Staatsvertrag, die in einem Anhang zu dem Koalitionsvertrag festgelegt worden waren, zählte die DDR-Regierung auch die „Anerkennung der Eigentumsformen, einschließlich der Bodenreform, und der anderen durch die Siegermächte festgelegten Enteignungen“. Die Regierung de Maizière wollte die Enteignungen und Bodenreform aufgrund der Entscheidungen der sowjetischen Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 festschreiben. Volksvermögen sollte über eine Treuhandgesellschaft, die der Volkskammer verantwortlich wäre, entflechtet, verwaltet und privati-
40 Lothar de MAIZIÈRE, Anwalt der Einheit. Ein Gespräch mit Christine de Maizière, Berlin 1996, S. 77–91; Hans-Joachim MEYER, „Mit Augenmaß und Festigkeit. Erinnerung an die Rolle von Lothar de Maizière im Prozeß der deutschen Einigung“, in: FAZ, Nr. 119, 25.5.1991, Beilage „Ereignisse und Gestalten“. 41 Arbeitspapier für die Gespräche mit der DDR für einen Vertrag über die Schaffung einer Währungsunion, Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik und Gemeinsames Protokoll über Leitsätze zum Vertrag über die Schaffung einer Währungsunion, Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, beide v. 24.4.1990 sowie Anlage I Bestimmungen über die Währungsunion und über die Währungsumstellung, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1034–1055; SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 99f. 42 Hans KLEIN, Es begann im Kaukasus. Der entscheidende Schritt in die Einheit Deutschlands, Berlin–Frankfurt/M. 1991, S. 236. 43 TIETMEYER (wie Anm. 38), S. 79–85.
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siert werden. Verhandlungsziel war es, „soziale Sicherungsrechte als nicht einklagbare Individualrechte einzubringen“. Damit waren insbesondere das Recht auf Arbeit, Wohnung und Bildung gemeint, die als Rechte in Form von Staatszielbestimmungen gewährleistet werden sollten. Eine Ministerrunde unter Kohls Vorsitz war am 22. April übereingekommen, zwischen Bestimmungen der künftigen Eigentumsordnung in der DDR und den Vermögensansprüchen aufgrund von Enteignungen zu unterscheiden. Der erste Komplex sollte im Staatsvertrag möglichst eindeutig geregelt, über den zweiten Teilbereich wegen der politischen Sensibilität des Themas in der DDR und auf Seiten der sowjetischen Regierung weiter beraten werden. Am 28. April wurde Botschafter Blech im sowjetischen Außenministerium jedoch ein Aide-Mémoire44 überreicht,45 in dem es hieß: „Die Rechtmäßigkeit dieser Beschlüsse, insbesondere zu den Vermögens- und Bodenfragen, unterliegt keiner Neuüberprüfung oder Neubewertung durch die deutschen Gerichte oder anderen deutschen Staatsorgane.“ Das betreffe auch „diejenigen Verpflichtungen, die die DDR zur Änderung ihrer Verfassung und der Gesetze über das sozialistische Eigentum in Stadt und Land übernehmen soll“. Damit verband die sowjetische Regierung konkrete Forderungen: (1) Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen der DDR durch die Bundesrepublik, (2) Nichtdiskriminierung ihrer Rechte gegenüber den Europäischen Gemeinschaften, (3) Sicherung des Aufenthalts sowjetischer Truppen auf dem Gebiet der DDR einschließlich Lösung der Frage des Währungsumtauschs für Angehörige der Streitkräfte, der Preissubventionierung, der Unterhaltskosten und der Reiseregelung sowie (4) Vermeidung negativer Auswirkungen auf die SDAG Wismut. Für den Fall einer „unbefriedigenden Lösung“ der aufgezählten Punkte kündigte die sowjetische Regierung an, diese als Blockadeinstrument in die Zwei-plus-VierVerhandlungen einzubringen, wo dies die Beratungen aufhalten könnte. Für Schäuble war dieses Memorandum „Warnung“ genug. Die Bundesregierung, meinte er, solle kein Interesse daran zeigen, entstandene Eigentumsverhältnisse in der DDR wieder rückgängig zu machen und das noch obendrein als eine Bedingung für die Wiedererlangung der Einheit von Moskau fordern.46 Der Versuch, die Standhaftigkeit Gorbatschows in dieser Frage zu testen, unterblieb. Die Bundesregierung sah es auch nicht als notwendig an, diese Frage zum Gegenstand direkter Verhandlungen zwischen dem Bundeskanzler und Generalsekretär Gorbatschow zu machen. Graf Lambsdorff für die FDP und 44 Aide-Mémoire der Regierung der UdSSR an die Regierung der DDR, 28.4.1990, Inoffizielle Übersetzung, VS–NfD, in: BK, 213 – 30100 Fr 6 Bd. 4, zit. nach Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 148. 45 Schewardnadse persönlich übergab am 29.4.1990 DDR-Außenminister Meckel das fast gleichlautende Memorandum. Richard ELBE/Frank KIESSLER, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken. Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Baden-Baden 1993, S. 186. 46 SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 103.
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auch Stimmen in der Union wandten sich strikt gegen die Absicht, Enteignungen aus der Zeit zwischen 1945 und 1949 nicht mehr rückgängig zu machen. Das Dilemma bestand darin, Unrecht von Enteigneten wieder gutzumachen und andererseits daraus kein neues Unrecht entstehen zu lassen. Schäuble wie auch die Regierung de Maizière gingen davon aus, diejenigen Bürger in der DDR, die gutem Glaubens Eigentum erworben oder bekommen hatten, bräuchten nun nicht zu befürchten, ihren Grund und Boden wieder zu verlieren, selbst wenn sich die DDR-Staatsorgane diesen rechtswidrig angeeignet hätten. Eine Entscheidung über die heikle Frage, ob Entschädigung oder Rückgabe Vorrang genießen solle und damit auch die Frage der Höhe möglicher Entschädigungen blieb offen und daher im Staatsvertrag ungeregelt.47 Am 16. Mai erzielten der Kanzler und die Regierungschefs der Länder in den wichtigsten Finanzierungsfragen Einigung.48 Sie riefen den Fonds Deutsche Einheit ins Leben, der für die nächsten viereinhalb Jahre Beiträge von insgesamt 115 Milliarden DM bis Ende 1994 vorsah und die Haushaltsdefizite der DDR auf Bund, Länder und Gemeinden angemessen verteilte. Der Bund übernahm davon 20 Milliarden DM aus Einsparungen, 85 Milliarden DM kamen durch Nettokreditaufnahme zusammen. Die Lasten wurden zwischen Bund und Ländern im Verhältnis 50:50 verteilt. Ab 1995 sollte ein neues bundesstaatliches Ausgleichssystem geschaffen werden unter Berücksichtigung der Steuerkraft, der Finanzkraft und der Verschuldung der einzelnen Länder. Die Länder-Regierungschefs achteten jedoch streng darauf, dass die Kreditaufnahme und die folglich steigenden Zinsen und Einsparungen des Bundes nicht zu Lasten der Länder erhöht wurden und die Umsatzsteuerverteilung bis 1992 unverändert blieb. Daraufhin konnten am 18. Mai Bundesminister Waigel und DDR-Finanzminister Romberg den Staatsvertrag49 in Bonn unterzeichnen.
47 Vorlage Tietmeyer und Ludewig an Kohl mit Anlage 1: Zusammenstellung der wichtigsten Kompromißpunkte im Staatsvertrag; Anlage 2: Möglichkeiten des Eigentumserwerbs an Grundstücken in der DDR zur Förderung gewerblicher, arbeitsplatzschaffender Investitionen; Anlage 3: Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu den offenen Vermögensfragen, alle v. 13.5.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1108–1114. 48 Besprechung Kohl mit den Regierungschefs der Länder in Bonn, 16.5.1990, EBD. S. 1122– 1125. Dazu auch Helmut KOHL, Erinnerungen 1990–1994, München 2007, S. 114. 49 Darstellung der Vertragsbestimmungen: Bruno SCHMIDT-BLEIBTREU, Der Staatsvertrag in seiner rechtlichen Gestaltung und Umsetzung, in: Klaus STERN/DERS. (Hg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 1: Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion, München 1990, S. 47–75; Klaus-Dieter SCHNAPAUF, Der Einigungsvertrag, in: Deutsches Verwaltungsblatt 105 (Deutsches Reichsverwaltungsblatt 23), 1.12.1990, S. 1249–1256.
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3. Einigungsvertrag Innen- wie außenpolitisch kamen die grundlegenden Kompromisse im Mai/ Juni 1990 zustande. Elementare Voraussetzung für die Regelung der außenpolitischen Fragen war die zügige Einführung der D-Mark in der DDR zum 1. Juli 1990 als erste Etappe zur Wiedervereinigung. An diesem Tag fiel zugleich der Startschuss zur ersten Übergangsphase der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Doch hatte sich die innenpolitische Ausgangslage für die Bundesregierung nach der Niederlage der CDU bei der Landtagswahl am 13. Mai 1990 in Niedersachsen drastisch verändert. Die Regierungskoalition besaß im Bundesrat keine Stimmenmehrheit mehr. Zudem benötigte die Bundesregierung für den zweiten Staatsvertrag, der die Einigung besiegeln sollte und ohne Änderungen des Grundgesetzes nicht zu bewerkstelligen war, die Stimmen der SPD für eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag. Somit war die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP zu Arrangements mit den Sozialdemokraten gezwungen. Außerdem forderten die Länder ihre umfassende Beteiligung an den weiteren Verhandlungen mit der DDR. Die Ministerpräsidentenkonferenz betonte daher am 22. Juni die im Verhältnis zum Bund gleichgewichtige Mitverantwortung der Länder für den deutschen Einigungsprozess. Schon in der zweiten Maihälfte ließ Schäuble im Bundesinnenministerium eine erste Arbeitsskizze über die „Grundstrukturen eines Staatsvertrages zur Herstellung der Deutschen Einheit“50 – bald Einigungsvertrag genannt – ausarbeiten, dem DDR-Unterhändler Krause mit einem Fünf-Seiten-Papier begegnete, das stichpunktartig Grundgesetz, Wirtschaft, Finanzen, Innenpolitik, Außenpolitik, Rechtswesen und Schule/Universität als zu regelnde Probleme aufführte.51 Zunächst galt es allerdings, zwei grundsätzliche Fragen zu klären: den Zeitpunkt gesamtdeutscher Wahlen und die Modalitäten des Beitritts der DDR. Um Wahlen noch 1990 zu ermöglichen, wurden drei Modelle diskutiert. Die erste Möglichkeit, erste gesamtdeutsche Wahlen zum Zeitpunkt der fälligen Bundestagswahl abzuhalten, setzte eine frühzeitige Beitrittserklärung der DDR voraus, um genügend Zeit zur Vorbereitung für die in der Zeit vom 2. Dezember 1990 bis 13. Januar 1991 geplanten Bundestagwahlen zu haben. Die zweite von Schäuble und dem DDR-Verhandlungsführer Krause befürwortete Möglichkeit, am selben Tage in beiden Teilen Deutschlands getrennte Wahlen abzuhalten, wobei in der Bundesrepublik die geplanten Bundestagswahlen stattfinden und in der DDR Wahlen zu einem gesamtdeutschen Par50 Aufzeichnung des Bundesministers des Innern, 28.5.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1151–1154. 51 SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 136f.
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lament abgehalten würden, verhieß, gesamtdeutsche Wahlen und Wiedervereinigung zu vereinbaren. Dazu bedurfte es aber eines Wahlgesetzes durch das Gesetzgebungsverfahren in der DDR. Zudem existierten dort noch keine Länder, in denen die Parteien52 ihrerseits Wahllisten aufstellen konnten. Auch mussten wiederum Regionen festgelegt sein. Weiterhin war ein Bundesgesetz notwendig, das die Übernahme der Abgeordneten der DDR in den Deutschen Bundestag bestimmen würde. Die dritte Variante sah den Abschluss eines Wahlvertrages vor. Der Wahlmodus müsste sich nach dem Bundestagswahlrecht richten. Mit Abschluss der Wahl oder kurze Zeit danach würde der Beitritt dann wirksam.53 Ein Problem stellte die Fünf-Prozent-Sperrklausel dar. Im Falle getrennter Wahlen würden zwei verschiedene Wahlsysteme über die Zusammensetzung der Parteien und der Abgeordneten des Deutschen Bundestages entscheiden.54 Bei Überlegungen zu den Beitrittsmodalitäten spielte als Vorbild der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar 1958 eine wichtige Rolle.55 Zwei grundsätzliche Fragen standen im Vordergrund: ob ein Staatsvertrag oder ein Überleitungsgesetz als Instrumentarium für den Beitritt der DDR dienen sollte, und in welchem Umfang das Grundgesetz geändert werden müsste. Denn aufgrund des Beitritts nach Artikel 23 Grundgesetz würde Bundesrecht nicht automatisch in der DDR in Kraft gesetzt. Politisch günstiger schien es dem Bundesinnenministerium, einen Staatsvertrag auszuhandeln.56 Dann wüsste die DDR, „wohin die Reise geht“, die zeitliche Konkordanz von Beitritt und Rechtsangleichung wäre gegeben, alle Änderungen und Anpassungswünsche könnten in einem gesetzgeberischen Akt gebündelt werden; zudem würden endlose Debatten über die Überleitungsgesetzgebung vermieden. Mit der Überleitung von Bundesrecht auf die DDR könnten zwei Ziele sichergestellt werden: die umfassende und schnelle Verwirklichung der Rechtseinheit und die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland.57 Auch die Regierung de Maizière wollte unbedingt einen Staatsvertrag abschließen. Sie trat dabei als gleichberechtigter Verhandlungspartner auf, was 52 Das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Parteien und andere politische Vereinigungen (Parteiengesetz) wurde am 22.7.1990 von der Volkskammer verabschiedet (GBl. DDR 1990 I, S. 904). 53 SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 82f. 54 Vorlage Lehnguth an Seiters, 17.5.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1132– 1134. 55 Gesetz über die Eingliederung des Saarlandes, 23.12.1956, in: BGBl. 1956 I, S. 1011. 56 Aufzeichnung des Bundesministers des Innern, 28.5.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1151–1154. 57 Rundschreiben Schäuble an die ständigen Mitglieder des Kabinettausschusses Deutsche Einheit, Anlage 2: Kriterien für die Überleitung von Bundesrecht in die DDR im Zusammenhang mit einem Beitritt gemäß Artikel 23 Satz 2 GG, beide o.D., EBD. S. 1274.
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psychologisch von Bedeutung war. Außerdem eröffnete der Staatsvertrag die Möglichkeit detaillierter Regelungen. Übereinstimmung herrschte, das Ausmaß der Grundgesetzänderungen auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken.58 Doch welche Änderungen noch erforderlich wären, darüber gingen die Meinungen unter den Bundesministerien weit auseinander. Auf keinen Fall wollte die Bundesregierung eine allgemeine Diskussion um eine Verfassungsnovellierung in Gang setzen.59 Schäuble beabsichtigte, in den zweiten Staatsvertrag lediglich diejenigen rechtstechnischen Anpassungen aufzunehmen, die für die Herstellung der staatlichen Einheit erforderlich wären. Diese Minimallösung intendierte, nur die Präambel zu ändern und Artikel 23 Grundgesetz, der als Ermächtigungsnorm für das Überleitungsrecht gebraucht würde, eventuell ersatzlos zu streichen. Hinsichtlich der Präambel des Grundgesetzes war jedoch fraglich, ob der Gedanke der Vollendung der deutschen Einheit ausdrücklich enthalten sein sollte. Artikel 29 Grundgesetz über die Neugliederung des Bundesgebietes sollte eine völlige Neufassung mit dem Ziel erfahren, die künftige Länderneugliederung zu erleichtern.60 Die vollständige Überleitung des Grundgesetzes wurde nicht zuletzt wegen der Wehrverfassung – insbesondere Artikel 12a Wehr- und Dienstpflicht, Artikel 87a Aufstellung und Einsatz der Streitkräfte und Artikel 115a-l Verteidigungsfall – im Zusammenhang mit der Frage des Oberbefehls über die Nationale Volksarmee und der Durchführung des Lastenausgleichs nach Artikel 120a Grundgesetz als problematisch angesehen. Das Bundesministerium der Verteidigung sprach sich für die vollständige Übertragung der Wehrverfassung aus, eventuell mit Abstrichen, um sich somit Möglichkeiten der Konzessionen bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu bewahren. Das Auswärtige Amt erkannte darin eine unnötige Belastung der Verhandlungen. Das Bundeskanzleramt sprach sich dafür aus, zumindest partiell die sofortige Überleitung anzustreben. Bei Artikel 116 Grundgesetz trat die Frage auf, ob es nach Wiederherstellung der Einheit noch Deutsche ohne deutsche Staatsangehörigkeit geben würde. Von Interesse war die Frage vornehmlich für das Ausland. Das Bun58 Aufzeichnung der Arbeitsgruppe Kabinettausschuss Deutsche Einheit für Schäuble, Anlage 2: Wesentliche Mängel der gegenwärtigen bzw. in der DDR vorgesehenen Ländergliederung; Anlage 4: Einheit Deutschlands – Beitritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland; Anlage 5: Standpunkt zum Material des Bundesministers des Innern der Bundesrepublik Deutschland, alle v. 13.6.1990, EBD. S. 1214– 1224. 59 Vorlage Wilhelm an den Chef des Bundeskanzleramtes betr. Überlegungen für Verfassungsänderungen mit Beitritt der DDR, 12.6.1990, in: BK, 132 – 35400 De 12 Bd. 10, zit. nach EBD. S. 199. 60 Vorlage Hegerfeldt an den Chef des Bundeskanzleramtes betr. Änderung des Grundgesetzes im Zusammenhang mit Beitritt DDR, AL-Besprechung im Bundesministerium des Innern, 27.6.1990, in: BK, 132 – 35400 De 12 NA 5 Bd. 1, zit. nach EBD.
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deskanzleramt befürchtete, die Beibehaltung könnte ein falsches Signal geben, in dem Sinne, die Deutschen seien noch nicht „saturiert“. Ein weiteres Problem stellte sich mit einer neuen Regelung des § 218 StGB.61 Überlegt wurden Möglichkeiten, unterschiedliche Modalitäten für eine Übergangszeit beizubehalten. Zudem strebte die DDR-Regierung vor Ratifizierung des Staatsvertrages die Veröffentlichung einer Gemeinsamen Erklärung mit der Bundesregierung zu den Vermögensfragen an. Von der ersten Entwurfsfassung war die Regierung de Maizière jedoch abgerückt, weil darin die politische Endgültigkeit der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 ohne Entschädigung festgestellt wurde.62 Es sollte nur eine Entschädigung und keine Erbbaurechtsregelung geben, geschweige denn eine Rückübertragung für Enterbte. Dies war für die Bundesregierung nicht akzeptabel. Das Bundesjustizministerium zielte nun darauf, einen sozialverträglichen Ausgleich zwischen den Westeigentümern und den Bürgern in der DDR im Sinne einer gleichrangigen Entschädigungsregelung zu erreichen. Dies bedeutete ein Entgegenkommen gegenüber der DDR, denn die Restitution sollte zwingend Vorrang vor einer Entschädigung haben. Außerdem sollte eine Veränderungssperre gelten. Die DDR allerdings beharrte darauf, dass Enteignungen endgültig sein und nicht rückgängig gemacht werden sollten, und die Bundesregierung nahm dies zur Kenntnis. In der Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni wurden schließlich Eckwerte festgelegt, die eine grundsätzliche Rückübertragung des enteigneten Vermögens vorsahen.63 In „Eckpunkte für die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland“ vom 5. Juli64 formulierten die Länder ihre Forderungen im Einigungsprozess: keine Neuordnung des Finanzausgleichs vor 1994/95, Einsetzung einer Enquete-Kommission für Verfassungsreformen, eventuell Neufassung des Artikels 24 Grundgesetz hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, stärkere Mitsprache bei der Festlegung deutscher Positionen zur europäischen Integrationspolitik und eine neue Stimmenverteilung im Bundesrat. Berlin erhob Anspruch auf die Hauptstadtrolle
61 Vorlage Lehnguth an Seiters, 12.6.1990, EBD. S. 1208f. 62 Vorlage Vogel an Wagner, Anlage 2: Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung von Vermögensfragen, Anlage 3: Gesprächskonzeption zum Thema „Offene Vermögensfragen“, alle v. 11.6.1990, EBD. S. 1201–1206. 63 Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen, 15.6.1990, in: Bulletin (wie Anm. 1), Nr. 77, 19.6.1990, S. 661–663. 64 Schreiben Rau an Kohl mit Anlage: Eckpunkte der Länder für die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland, beide v. 5.7.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1304–1307.
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und hielt sich die Tür für eine Zusammenlegung der entstehenden Länder Berlin und Brandenburg offen. Nordrhein-Westfalen und Hessen wollten dagegen die Hauptstadtfrage nicht im Staatsvertrag regeln, sondern die Entscheidung dem gesamtdeutschen Parlament vorbehalten.65 Schäubles Schachzug, alle notwendigen Prüfungen für den Beitritt soweit vorzubereiten und anschließend nur noch über das zu sprechen, was die DDRRegierung als verhandlungsnotwendig erachten würde,66 sollte verhindern, dass die SPD notwendige Grundgesetzänderungen zum Hebel einer weiterreichenden Verfassungsrevision machte. In der ersten Verhandlungsrunde am 6. Juli67 forderte de Maizière Verständigung über vier Punkte. Er schlug die Bezeichnung „Deutsche Bundesrepublik“ vor und eine neue gesamtdeutsche Hymne, deren „1. Strophe die – textlich an die Melodie von Haydn angepasste – DDR-Hymne und als 2. Strophe die 3. Strophe des Deutschlandliedes umfassen“ könnte. Schäuble dagegen sah keine Veranlassung, Fahne und Hymne der Bundesrepublik Deutschland zu ändern. Weiterhin wollte de Maizière die Hauptstadtfrage im Einigungsvertrag regeln, während Schäuble vorschlug, die Entscheidung dem gesamtdeutschen Gesetzgeber vorzubehalten. Ferner verlangte de Maizière, die Erträge der Treuhandanstalt sollten ausschließlich dem Gebiet der DDR zugute kommen. Was die Änderung des Grundgesetzes betraf, so stimmte die DDR-Delegation der Ansicht Schäubles zu, die Modifikationen auf das Notwendigste zu beschränken und nur die Präambel sowie die Artikel 23, 29 und 146 anzupassen. De Maizière intendierte die Konkretisierung der Staatszielbestimmungen und regte an, Artikel 23 zu streichen.68 Die eigentliche „Schlachtfront“ in den weiteren Verhandlungen verlief jedoch weniger zwischen der Bundesregierung und der DDR-Regierung. Vielmehr traten nun erhebliche Spannungen zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern, nicht zuletzt den SPD-geführten Ländern unter Vorsitz Nordrhein-Westfalens, auf, das die Forderungen der Opposition einbrachte. Im Wesentlichen konzentrierten sich die Beratungen auf die beitrittsbedingten
65 Besprechung Seiters mit den Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder in Bonn, 5.7.1990, EBD. S. 1299–1304; SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 114. 66 Diskussionspapier des Bundesministers des Innern mit Elementen einer zur Herstellung der deutschen Einheit zu treffenden Regelung, o.D., in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1267–1274. 67 Erste Verhandlungsrunde über den Vertrag zur Herstellung der deutschen Einheit (Einigungsvertrag) in Berlin, 6.7.1990, EBD. S. 1324–1328; SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 90, 114, 123–139, 180f.; KOHL (wie Anm. 48), S. 191–193; TELTSCHIK (wie Anm. 24), S. 305. 68 Abgestimmter Katalog der Verhandlungsthemen zum Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag), 6.7.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1328–1331.
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Änderungen des Grundgesetzes, die Haushalts- und Finanzhilfen und auf Fragen der Überleitung des Bundesrechts und der öffentlichen Verwaltungen.69 In der Präambel wollte der Bund lediglich die Vollendung der Einheit zum Ausdruck bringen,70 der sich die DDR-Delegation weitgehend anschloss, während die SPD-geführten Landesregierungen den Gedanken der Verantwortung für unterentwickelte Gebiete der Erde, den Umweltschutz, das Recht auf Arbeit, Wohnen, soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung und Kultur als Staatsziele berücksichtigt sehen wollten.71 Zu den weitergehenden Forderungen der Länder nach Änderungen des Grundgesetzes gehörte die Neufassung von Artikel 72 Grundgesetz mit der Absicht, eine Einschränkung der Befugnisse des Bundes zur Gesetzgebung im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung vorzusehen und die Erweiterung der Zustimmungsbedürftigkeit nach Artikel 83 durch Hinzufügung eines zweiten Absatzes.72 Ferner schlug Nordrhein-Westfalen vor, einen Artikel 146a in das Grundgesetz einzufügen, mit dem Bundestag und Bundesrat zur Einberufung eines Verfassungsrates ermächtigt würden, der binnen zwei Jahren auf der Basis des Grundgesetzes eine neue Verfassung auszuarbeiten hätte. Dieser sollte mit Zweidrittel-Stimmenmehrheit über die neue Verfassung beschließen, die durch Volksentscheid von der Mehrheit der Wahlberechtigten zu bestätigen wäre.73 Umstritten war zudem die Verteilung des Länderanteils, insbesondere der neuen Bundesländer und deren Gemeinden, an der Umsatzsteuer.74 Der Bund beabsichtigte die Aufteilung in einen West- und einen Ost-Anteil nach Einwohnerzahl. Die Länder lehnten dies ab, da aus ihrer Sicht ihre Finanzbeteiligung durch den Fonds Deutsche Einheit geregelt war. Am 18. Juli unterbreitete das Bundesministerium des Innern Überlegungen zur Grundstruktur des Einigungsvertrages75 und trieb damit die Verhandlungen voran. Darüber hinaus lag ein Entwurf des Bundesinnenministeriums76 und ein Vorschlag der DDR für die Präambel des Einigungsvertrages77 vor. Hinsichtlich der Änderung der Präambel des Grundgesetzes waren sich alle 69 Vermerk Lehnguth für Sitzung Kabinettausschuss Deutsche Einheit am 24. Juli 1990, 23.7.1990, EBD. S. 1406–1409. 70 Sitzung von Vertretern des Bundes, der Deutschen Demokratischen Republik und der Länder, Anlage 2a: Vorschlag des Bundes, 18.7.1990, EBD. S. 1388. 71 Anlage 3: Vorschlag Nordrhein-Westfalens und Anlage 11: Vorschlag Nordrhein-Westfalens, beide v. 18.7.1990, EBD. S. 1389, 1395. 72 Anlage 7: Vorschlag der Länder, 18.7.1990, EBD. S. 1392–1394. 73 Anlage 10: Vorschlag Nordrhein-Westfalens, 18.7.1990, EBD. S. 1395. 74 Zu den Auswirkungen des Kommunalvermögensgesetzes der DDR: Schreiben Schlecht an Seiters, 26.7.1990, EBD. S. 1421f. 75 Sitzung von Vertretern des Bundes, der Deutschen Demokratischen Republik und der Länder, Anlage 14: Vorschlag des Bundesministers des Innern, 18.7.1990, EBD. S. 1397–1399. 76 Anlage 12: Vorschlag des Bundesministers des Innern, 18.7.1990, EBD. S. 1396. 77 Anlage 13: Vorschlag der DDR, 18.7.1990, EBD. S. 1397.
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Beteiligten einig, die Forderung von jüdischer Seite nach Erwähnung des Holocaust in der Präambel des gesamtdeutschen Staates nicht aufzunehmen. Immer lauter werdende Stimmen in der DDR nach sofortigem Beitritt brachten die Volkskammer am 22. Juli dazu, die Bundesregierung zum Abschluss eines Wahlvertrages mit der DDR aufzufordern.78 Das schloss getrennte Wahlen aus. Schäuble und Krause, lange Anhänger dieses Modells, mussten jenen Kräften bei den verschiedenen Parteigruppierungen Tribut zollen, für die neben dem Wahltermin auch die Frage der Sperrklausel bei der Ausgestaltung des Wahlrechts von entscheidendem Interesse war.79 Desto heftiger entbrannte nun der Streit um die Fünf-Prozent-Sperrklausel. Die Bundesregierung wollte die PDS nach Möglichkeit aus dem gesamtdeutschen Parlament heraushalten. Diese Möglichkeit bestand nur, wenn sich die Fünf-Prozent-Sperrklausel auf das gesamte Wahlgebiet der Bundesrepublik, der DDR und Berlins bezöge. Dazu würde die PDS auf dem Gebiet der DDR, wo sie vermutlich nur ein größeres Wählerpotential ansprechen konnte, über 23 Prozent der Stimmen erringen müssen, um im gesamten Wahlgebiet über die Fünf-Prozent-Hürde zu gelangen. Von dieser Regelung war aber ebenso die der CSU nahestehende DSU betroffen. Schäuble plädierte deshalb für die getrennte Anwendung der Klausel nach dem Wahlgebiet der bisherigen Bundesrepublik und der DDR, was ihm prompt von Seiten der SPD und des Koalitionspartners FDP den Vorwurf einbrachte, CDU und CSU wollten nur die DSU politisch am Leben erhalten.80 In einem Koalitionsgespräch am 26. Juli verständigten sich CDU/CSU und FDP als Erstes auf den 2. Dezember als endgültigen Wahltermin.81 Der Lösungsansatz lag darin, im Wahlvertrag die Fünf-Prozent-Sperrklausel festzuschreiben und für die erste gesamtdeutsche Wahl Listenverbindungen zwischen Parteien und politischen Gruppierungen zuzulassen, die nicht in einem Land nebeneinander kandidieren. Jeder Partei stünden drei Optionen offen: 78 Am 20. und 22.7.1990 hatte die Volkskammer über den Antrag der Fraktion Die Liberalen (Drucksache Nr. 148, 10.7.1990) beraten, „einen Tag vor Durchführung von Wahlen für ein einheitliches deutsches Parlament“ dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten. Am 22.7. beschloss die Volkskammer in namentlicher Abstimmung mit 166 gegen 82 Stimmen bei 17 Enthaltungen einen Änderungsantrag der Fraktion der CDU/DA zu Drucksache Nr. 148, der die Einberufung einer gemeinsamen „Sitzung der beiden Ausschüsse für Deutsche Einheit noch im Juli“ vorsah, um über „gesamtdeutsche Wahlen zu beraten“. Zudem wurde die Regierung der DDR beauftragt, mit der Bundesregierung „parallel zu den Verhandlungen zum Einigungsvertrag einen Vertrag zur Vorbereitung der gesamtdeutschen Wahlen auszuhandeln“ (Volkskammer, 10. Wahlperiode, Protokolle, Bd. 27, S. 1129–1131, 1157–1169, 1237–1247, 1265–1270, Abstimmungsergebnis S. 1283– 1285). 79 SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 83f. 80 EBD. S. 86–90. 81 Tischvorlage Schäuble für die Sitzung des Bundeskabinetts, 9.8.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1456f.
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die Ausdehnung auf das gesamte Wahlgebiet, die Fusion mit einer anderen Partei im jeweiligen anderen Teil Deutschlands oder die Vereinbarung einer Listenverbindung. Damit war den Interessen von SPD und FDP genauso gedient wie der CSU und der DSU, die gemeinsam die Fünf-Prozent-Hürde nehmen konnten, da sie nicht in einem Bundesland nebeneinander kandidierten.82 Das Bundesverfassungsgericht machte allerdings diesen Kompromiss am 29. September mit seiner Entscheidung wieder hinfällig. Demnach durfte bei der ersten Wahl des gesamtdeutschen Parlaments die Fünf-Prozent-Klausel nur auf die beiden bisherigen Wahlgebiete der Bundesrepublik und der DDR bezogen angewandt werden. In der ersten Augusthälfte spitzte sich die Koalitionskrise der Regierung de Maizière zu. Sie führte am 15. August zur Entlassung der SPD-Minister und erhöhte allseits den Verhandlungsdruck.83 Zunächst kam es im Bund-LänderVerhältnis auf die Klärung der hauptsächlich noch strittigen Punkte an: Verteilung der Umsatzsteuer, Änderungswünsche der A-Länder bei den offenen Vermögensfragen, Bund/Länder-Verteilung bei dem Verwaltungs- und Finanzvermögen und der Treuhandanstalt, Regelung für den öffentlichen Dienst der DDR, Staatszielbestimmungen, Änderungen des § 218 StGB und die Stimmrechtverteilung im Bundesrat.84 Noch bevor der Einigungsvertrag fertig ausgehandelt war, drängte die DSU jedoch auf einen Beitrittsbeschluss, dem die überwiegende Mehrheit der Volkskammer in der Nacht zum 23. August zustimmte.85 Genaugenommen war nun der Abschluss des Einigungsvertrages nicht mehr erforderlich. Bundesrecht hätte auch durch ein Überleitungsgesetz in der DDR in Kraft gesetzt werden können. Das aber wollte die Bundesregierung wegen der negativen politischen Wirkungen nicht. Ihr kam es darauf an, dennoch den Einigungsvertrag abzuschließen.86 Zu klären blieb insbesondere die vorgesehene Regelung des § 218 StGB, die Hauptstadtfrage und die Finanzverteilung. In der Frage des Schwangerschaftsabbruchs lief alles auf eine zweigeteilte 82 SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 92f., 96f. 83 KOHL (wie Anm. 48), S. 199. 84 Vorlage Busse und Stern an Seiters, 22.8.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1488f. 85 Sabine BERGMANN-POHL, Abschied ohne Tränen. Rückblick auf das Jahr der Einheit, aufgezeichnet v. Dietrich VON THADDEN, Frankfurt/M. 1991, S. 155–158. Äußerung Lothar de Maizières in: Ekkehard KUHN, Gorbatschow und die deutsche Einheit. Aussagen der wichtigsten russischen und deutschen Beteiligten, Bonn 1993, S. 170. Dazu auch Schreiben Bergmann-Pohl an Kohl, 25.8.1990, mit Beschluss der Volkskammer über den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23.8.1990, 25.8.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1497f. 86 Zu den Streitpunkten: Vorlage Busse und Stern an Seiters, 23.8.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1490–1492.
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Rechtssituation in Deutschland hinaus.87 In der Frage der Hauptstadt setzte sich SPD-Verhandlungsführer Wolfgang Clement mit der Forderung Nordrhein-Westfalens durch, wenn Berlin schon Hauptstadt werde, müsse aber die Entscheidung über die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung dem gesamtdeutschen Gesetzgeber überlassen werden. Die Länderfinanzminister machten ihre Zustimmung zur Umsatzsteuerverteilung unter den neuen Ländern von detaillierten Bedingungen abhängig.88 Bei den offenen Vermögensfragen erfolgte die Verständigung, in Anlage II des Einigungsvertrages die Gesetzestexte über besondere Investitionen in der DDR und die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni zur Regelung der offenen Vermögensfragen aufzunehmen,89 die am 12. September in einem gemeinsamen Schreiben der beiden deutschen Außenminister an die Vier Mächte bestätigt wurde.90 In der Nacht des 31. August 1990 konnte dann der Einigungsvertrag paraphiert werden.91 4. Zwei-plus-Vier-Vertrag Was waren die wesentlichen Streitpunkte des Zwei-plus-Vier-Vertrages? Dass die Frage der Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands eine, wenn nicht gar die zentrale Frage der Wiedervereinigung sein würde, war der Bundesregierung vom Tage des Mauerfalls an bewusst. Erstens war Kohl selbst felsenfest von der Westbindung als der einzigen außenpolitisch bewährten und vernünftigen Option des vereinten Deutschlands überzeugt. Zweitens betrieb er mit der kontinuierlichen Beteuerung des Festhaltens an der NATO-Mitgliedschaft und der beschleunigten Fortsetzung der europäischen Integration in Richtung Währungs- und Wirtschaftsunion sowie dem Einstieg in die Diskussion um die Politische Union Rückversicherungspolitik bei den westlichen Verbündeten. Drittens machte er bei seinem Gespräch am 10. Februar 1990
87 Vermerk Hegerfeldt, 17.8.1990, EBD. S. 1472f.; SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 231, 235, 240f., 249f. 88 Gespräch Waigel mit den Finanzministern der Länder und Beschluss der Finanzministerkonferenz der Länder, beide v. 28.8.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1503– 1505. 89 Die Erklärung wurde als Anlage III Bestandteil des Einigungsvertrages vom 31.8.1990 (BGBl. 1990 II, S. 1237f.). 90 Schreiben Genscher und de Maizière an die Außenminister der Vier Mächte im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, in: Bulletin (wie Anm. 1), Nr. 109, 14.9.1990, S. 1156f. 91 SCHÄUBLE (wie Anm. 15), S. 252–254. Bruno SCHMIDT-BLEIBTREU, Der Einigungsvertrag in seiner rechtlichen Gestaltung und Umsetzung, in: Klaus STERN/DERS. (Hg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 2: Einigungsvertrag und Wahlvertrag mit Vertragsgesetzen, Begründungen, Erläuterungen und Materialien, München 1990, S. 57–87.
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in Moskau Gorbatschow indirekt bereits klar, dass ohne dieses Zugeständnis die Sowjetunion von der Wiedervereinigung nicht profitieren könne.92 Die seit Anfang 1990 veränderte Taktik der Regierung Bush beruhte wesentlich auf der Überlegung, Deutschland nicht vor die Alternative „Einheit oder westliche Allianz“ zu stellen. Bush unterstützte in seinem Schreiben vom 9. Februar93 schließlich Kohls Bestrebungen zur Wiedervereinigung, stellte aber zugleich drei Maximalforderungen für die Zustimmung zur deutschen Einheit: Er lehnte die Wiedervereinigung zu sowjetischen Konditionen – ein neutrales oder nach Osten orientiertes wiedervereintes Deutschland – ab. Die Westbindung des zukünftigen Deutschland in der NATO machte er zu der Conditio für die Einheit schlechthin. Schließlich verlangte er die Fortdauer amerikanischer Truppenpräsenz in Europa. Als Konzession war Bush bereit, einen besonderen sicherheitspolitischen Status des DDR-Territoriums hinzunehmen, forderte dafür aber zusätzlich einen Preis, nämlich die Reduzierung sowjetischer Truppen. Für diesen Fall intendierte er, der NATO eine mehr politische Rolle zu übertragen. Er war also entschlossen, die Verhandlungen von der westlichen Extremposition aus zu starten. Kohl lehnte gegenüber Gorbatschow stets eine Neutralisierung des vereinten Deutschlands ab. Gleichwohl hatte der Kanzler seinen zu zahlenden Preis für den Fall der Erlangung der Souveränität Deutschlands und der sowjetischen Zustimmung zu dessen NATO-Mitgliedschaft deutlich in dem Gespräch am 10. Februar genannt: die Respektierung der Sicherheitsinteressen aller Nachbarstaaten durch Verzicht auf ABC-Waffen, die Begrenzung der staatlichen Einheit Deutschlands auf die Territorien der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Berlins sowie die endgültige vertragliche Bestätigung des Verzichts auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie und das 1945 sowjetischer Verwaltung unterstellte Territorium Ostpreußens.94 Grundlage waren für ihn die Pariser Verträge von 1955 sowie die Verträge von Moskau und Warschau 1970. An dem Abschluss eines Friedensvertrages war die Bundesregierung nicht mehr interessiert, da es ihr nur noch um die Ablösung der verbliebenen Viermächte-Rechte in Bezug auf Deutschland als Ganzes ging. Eine Friedenskonferenz kam nicht in Betracht, weil diese nur Forderungen der Teilnehmer nach Reparationszahlungen geschürt und die vertragliche Regelung kompliziert und hinausgezögert hätte. Ausgangspunkt für die Verhandlungen waren drei Prämissen: Wirtschaftliche Hilfe würde der Sowjetunion die Zustimmung zur Einheit erleichtert; Veränderungen der NATO-Strategie wären erforderlich, und finanzielle deutschsowjetische Arrangements gäben den Sowjets zusätzlich Rückversicherungen. 92 Gespräch Kohl mit Gorbatschow in Moskau, 10.2.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 795–807. 93 Schreiben Bush an Kohl, 9.2.1990, EBD. S. 793f. 94 Gespräch Kohl mit Gorbatschow, 10.2.1990, EBD. S. 795–807.
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Der mit der Bundesrepublik und den Westmächten abgestimmte Katalog der Sicherheitsgarantien, den Baker Gorbatschow Mitte Mai präsentierte, umfasste Elemente, die in wesentlichen Grundzügen schon in der 1950er Jahre diskutiert worden waren: (1) die Verpflichtung zu KSZE-Folgeverhandlungen nach Abschluss der Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Wien, bei denen die Größe der Streitkräfte in Europa zu klären war, (2) die Vorverlegung des Beginns neuer Rüstungskontrollverhandlungen über nukleare Kurzstreckenwaffen, (3) Bushs Zusicherung, die NATO-Strategie im nuklearen und konventionellen Bereich unter Berücksichtigung der Veränderungen in Europa zu überprüfen, (4) die Bestätigung des Verzichts auf ABC-Waffen und somit des nichtnuklearen Status Deutschlands, (5) die Zusicherung, während einer Übergangsphase auf dem Gebiet der DDR keine NATO-Truppen zu stationieren, (6) die Festlegung einer Übergangsphase für den Abzug sowjetischer Truppen aus Deutschland, (7) die verbindliche Festlegung der Grenzen des künftigen Deutschland, (8) die Stärkung der KSZE-Institutionen und die Rolle der Sowjetunion im europäischen Rahmen, die auf einer KSZE-Gipfelkonferenz in Paris beschlossen werden sollte, und (9) die Ausweitung der deutschsowjetischen Wirtschaftsbeziehungen.95 Kohl hatte Bush bereits beim Treffen am 24./25. Februar in Camp David96 prophezeit, Gorbatschow wolle mit ihm, Bush, das „Geschäft abschließen“. Beim Gipfeltreffen der beiden Ende Mai/Anfang Juni in Washington (D. C.) stimmte Gorbatschow auf der Basis der KSZE-Schlussakte dem Vorschlag Bushs zu, die Vereinigten Staaten – von der Sowjetunion sprach der amerikanische Präsident nicht – würden eine Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO befürworten. Sollte Deutschland eine andere Wahl treffen, so würden die Vereinigten Staaten „sie respektieren“. Damit war der Durchbruch in der strittigen Frage der Bündnismitgliedschaft erreicht.97
95 BAKER (wie Anm. 12), S. 247–252, insbes. S. 250f.; ZELIKOW/RICE (wie Anm. 23), S. 260– 266, insbes. S. 263f.; Robert L. HUTCHINGS, American Diplomacy and the End of the Cold War. An Insider’s Account of U.S. Policy in Europe, 1989–1992, Washington (D.C.), Baltimore, London 1997, S. 128–131; GENSCHER (wie Anm. 11), S. 787f.; TELTSCHIK (wie Anm. 24), S. 241f.; KIESSLER/ELBE (wie Anm. 45), S. 148f. 96 Gespräch Kohl mit Bush in Camp David, 24. und 25.2.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 860–873, 874–877. 97 BAKER (wie Anm. 12, S. 253) zufolge sagte Gorbatschow, die USA und die UdSSR seien einverstanden, dass Deutschland frei entscheide, welchem Bündnis es sich nach Abschluss einer Zwei-plus-Vier-Vereinbarung anschließen möchte. Michail GORBATSCHOW (Erinnerungen, Berlin 1995, S. 722f.) berichtet, er habe gesagt, die USA und die UdSSR würden „nicht dagegen einschreiten, sondern diese respektieren“. Dazu auch Anatoli TSCHERNAJEW, Die letzten Jahre einer Weltmacht. Der Kreml von innen, Stuttgart 1993, S. 298; Robert D. BLACKWILL, Deutsche Vereinigung und amerikanische Diplomatie, in: Außenpolitik 45 (1994) 3, S. 211–225, hier S. 219.
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Welche Kompromisse schlossen Kohl und Gorbatschow bei den Besprechungen in Moskau98 und im kaukasischen Archys99? Kohl übergab zunächst im ersten Gespräch Überlegungen zu einem bilateralen Vertrag über Partnerschaft und Zusammenarbeit,100 der bis zu Gorbatschows Besuch am 9. November 1990 in Deutschland unterschriftsreif war101. Der Bundeskanzler erreichte in den Gesprächen dann dessen Zusage zur Wiederherstellung Deutschlands als souveräner Staat, die Einwilligung Gorbatschows in die gleichzeitige Ablösung der Viermächte-Rechte, die freie Bündniswahl Deutschlands und somit das Einverständnis zu dessen NATO-Mitgliedschaft, die Vereinbarung über die Rückführung der sowjetischen Truppen aus Deutschland in drei bis vier Jahren sowie die Unterstützung bei der Abwehr polnischer Forderungen nach einem vorzeitigen Grenzvertrag. Gorbatschow erhielt drei Zusagen bezüglich des Verzichts auf ABC-Waffen für Deutschland, der finanziellen Hilfeleistungen bei der Rückführung sowjetischer Streitkräfte in die UdSSR und im Hinblick auf den Abschluss eines bilateralen Vertrages. Außerdem vereinbarten beide eine Obergrenze für die gesamtdeutschen Streitkräfte in Höhe von 370.000 Mann. Die Frage der Verlegung von NATO-Truppen in das Gebiet der DDR wurde nicht eindeutig geklärt. Der Kanzler vertrat die Meinung, dort dürften keine Nuklearwaffen und keine ausländischen Truppen stationiert werden. In Gorbatschows Augen hatten sich beide Seiten darauf bereits endgültig festgelegt, dort keine fremden Truppen zu stationieren.102 Die entscheidenden Vereinbarungen waren jedenfalls erzielt. Schließlich stellte sich noch die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Schon kurz nach der Maueröffnung hatte Kohl gegenüber dem polnischen Staatspräsidenten Jaruzelski eine einvernehmliche Regelung im Falle einer Wiedervereinigung in Aussicht gestellt.103 An die Anerkennung der polnischen Westgrenze knüpfte der Kanzler drei Bedingungen: Die Wiedervereinigung müsste besiegelt sein; Deutschland werde keinen Territorialverzicht unter dem Diktat der Alliierten im Rahmen der Verhandlungen mit den Vier Mächten leisten, sondern 98 Gespräch Kohl mit Gorbatschow und Delegationsgespräch in Moskau, beide v. 15.7.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1340–1348, 1352–1355. 99 Gespräch Kohl mit Gorbatschow im erweiterten Kreis in Archys/Bezirk Stawropol, 16.7.1990, EBD. S. 1355–1367; KOHL (wie Anm. 48), S. 162–185; KLEIN (wie Anm. 42), S. 113f., 233–235. 100 Überlegungen zum Inhalt eines Vertrages über Partnerschaft und Zusammenarbeit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und Deutschland, 15.7.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 1348–1352. 101 Wortlaut in: BGBl. 1991 II, S. 703–70 sowie Briefwechsel Genscher und Schewardnadse im Zusammenhang mit der Unterzeichnung am 12.9.1990 in: Deutscher Bundestag, Drucksache 12/199, 6.3.1991, S. 16–19. 102 TELTSCHIK (wie Anm. 24), S. 361. 103 Gespräch Kohl mit Jaruzelski, 12.11.1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 519– 529, hier S. 527f.
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wenn freiwillig auf bilateraler bzw. trilateraler Schiene mit der DDR und Polen; und ein gesamtdeutsches Parlament sollte dem zustimmen. Für Kohl war die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze die Gegenleistung der Deutschen für die Erlangung der Einheit.104 So ähnlich hatte es schon Adenauer 1953 formuliert.105 Kohl setzte dabei auf die Einsicht der deutschen Öffentlichkeit. So gesehen, waren die Auseinandersetzungen um die Anerkennung eigentlich überflüssig. Denn die Bundesregierung hatte nie erklärt, sie wäre dazu nicht bereit. Der Kern des Problems stellte vielmehr die historische Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses und die psychologische Frage des gegenseitigen Vertrauens dar. Letzten Endes war nicht die Anerkennung als solche umstritten, sondern lediglich der Zeitpunkt, der Verhandlungsrahmen und die Einhaltung der gegebenen Zusage, einen Grenzvertrag nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit abzuschließen, die auf Kohls Initiative beide deutschen Parlamente am 8. März mittels gleichlautender Resolution verabschiedet hatten.106 Doch schien Kohls Grenzanerkennungsstrategie Mitte März 1990 unter dem Druck der öffentlichen Auseinandersetzungen über seine Weigerung einer frühzeitigen Anerkennung, dem Streit darüber mit der FDP, dem Beharren der Polen auf ihrer Teilnahme an den Verhandlungen und angesichts einer ziemlich geschlossenen Front der Vier Mächte gegen seine Verfahrensvorschläge zusammenzubrechen107. Die Bundesregierung stand isoliert da. Der Kanzler ahnte hinter alledem Reparationsforderungen der Polen, die er strikt ablehnte.108 Dafür nahm er auch eine heftige Auseinandersetzung mit Mitterrand in Kauf, der die Forderung der polnischen Regierung unterstützte.109 Die Sowjetunion und Polen würden nach Abschluss der vorgesehenen Verträge durch Gebietsabtretungen im Umfang eines Drittels des ehemaligen Deutschen Reiches entschädigt werden, entgegnete Kohl. Zudem galt der 1953 von Polen gegenüber Deutschland ausgesprochene Reparationsverzicht.110 Und die
104 KOHL, Erinnerungen (wie Anm. 14), S. 1076. 105 Hanns Jürgen KÜSTERS, Der Integrationsfriede. Die Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945–1990, München 2000, S. 611f. 106 Schreiben Kohl an Gorbatschow, 6.3.1990, und Entwurf eines Entschließungsantrages der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 912f. Der Deutsche Bundestag nahm den Antrag (Drucksache 11/6579, 6.3.1990) am 8.3.1990 mit großer Mehrheit bei 5 Enthaltungen an (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Sten. Ber., Bd. 152, Plenarprotokoll 11/200, S. 15429). 107 TELTSCHIK (wie Anm. 24), S. 173. 108 Gespräch Kohl mit Mazowiecki in Warschau, 14.11.1989, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 532–537. 109 Telefongespräch Kohl mit Mitterrand, 14.3.1990, EBD. S. 943–947. 110 Die Regierung der UdSSR hatte am 22.8.1953 angekündigt, sie werde „im Einverständnis mit der Regierung der Volksrepublik Polen (in Bezug auf den sie betreffenden Anteil an den Reparationen) ab 1. Januar 1954 die Entnahme von Reparationen aus der Deutschen
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Westmächte hatten durch das Londoner Schuldenabkommen 1953 Wiedergutmachung erhalten.111 Kohls Taktik ging schließlich auf, als Bush Mazowiecki während dessen Besuch vom 21. März an in Washington (D.C.) klarmachte, dieser könne sich auf die Zusage der Grenzanerkennung durch Kohl verlassen.112 Im Gegenzug kam die Bundesregierung nicht mehr umhin, Polen in irgendeiner Form in die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen einzubeziehen, wenn es um die Regelung der Grenzfrage ging, was auf der Pariser Außenministerkonferenz am 17. Juli geschah.113 Mit Unterzeichnung des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland am 12. September in Moskau war das Hauptziel erreicht: die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands im Einvernehmen mit allen europäischen Nachbarn. Letztlich regelte der Vertrag nur noch die zentralen Streitpunkte. Das Territorium des neuen Deutschland wurde definiert (Art. 1 Abs. 1), der abzuschließende deutsch-polnische Grenzvertrag ebenso bestätigt (Art. 1 Abs. 2) wie der Verzicht auf weitere Gebietsansprüche (Art. 1 Abs. 3), das Verbot eines Angriffskriegs (Art. 2) und der Verzicht auf ABC-Waffen (Art. 3 Abs. 1). Die von beiden deutschen Regierungen vor der KSE-Konferenz in Wien abgegebene Ankündigung, die Höchststärke der gesamtdeutschen Streitkräfte auf 370.000 Mann zu begrenzen, wurde vertraglich wiederholt (Art. 3 Abs. 2). Wichtig aus deutscher Sicht war die Festlegung des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte bis Ende des Jahres 1994 (Art. 4) und
Demokratischen Republik sowohl in Form von Warenlieferungen als auch in jeder anderen Form vollständig beenden“. Protokoll über den Erlass der deutschen Reparationszahlungen und über andere Maßnahmen zur Erleichterung der finanziellen und wirtschaftlichen Verpflichtungen der Deutschen Demokratischen Republik, die mit den Folgen des Krieges verbunden sind, in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. I: Von der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 bis zur Souveränitätserklärung am 25. März 1954, hg. v. Deutschen Institut für Zeitgeschichte, Berlin, Berlin 1954, S. 286–288, hier S. 287. Am 23.8.1953 gab die polnische Regierung bekannt, sie habe zur „Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands“ beschlossen, „mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf die Zahlung von Reparationen an Polen zu verzichten“. Erklärung in: Die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen. Dokumente und Materialien 1949–1955, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1986, S. 266. 111 Abkommen über deutsche Auslandsschulden mit Anlagen und Anhängen, London, 27.2.1953, in: BGBl. 1953 II, S. 333–485. Zu den Änderungen und ergänzenden Vereinbarungen durch Abkommen vom 30.11.1956, vom 29.8.1960 und vom 26.6.1969: Fundstellennachweis B, Völkerrechtliche Vereinbarungen und Verträge mit der DDR, abgeschlossen am 31.12.1989, hg. v. Bundesminister der Justiz, Bonn, 24.1.1990, S. 261. 112 Telefongespräch Kohl mit Bush, 20.3.1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 18), S. 961– 963. 113 Drittes Treffen der Außenminister der Zwei-plus-Vier unter zeitweiliger Beteiligung Polens in Paris, Anlage 1: Pariser Text zu den Grenzfragen, Anlage 2: Protokoll des französischen Vorsitzenden, 17.7.1990, EBD. S. 1367–1370.
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die ausgehandelte Regelung der Stationierung deutscher Streitkräfte auf dem ehemaligen Gebiet der DDR bzw. das Verbot der Stationierung von Kernwaffenträgern dort (Art. 5). Vereinbart wurde außerdem die Freiheit der Bündniswahl des vereinten Deutschland (Art. 6) sowie die Beendigung der seit dem 5. Juni 1945 von den Vier Mächten beanspruchten Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes (Art. 7 Abs. 1). Dass Deutschland die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten hat (Art. 7 Abs. 2), stellt der Vertrag als Faktum fest. Die Regelungen der Ratifikationsbedürftigkeit des Vertrages (Art. 9) und der Hinterlegung – in diesem Falle bei der Regierung der Bundesrepublik Deutschland (Art. 10) – entsprachen allgemeinen völkerrechtlichen Usancen. Nachdem die Volkskammer am 29. September den Einigungsvertrag verabschiedet hatte, waren die Voraussetzungen für dessen Inkrafttreten erfüllt. Das Ende der DDR war damit besiegelt. Die Regierung der DDR unterrichtete die Bundesregierung darüber offiziell in einer Note vom 1. Oktober.114 Die Außenminister der Vier Mächte unterzeichneten daraufhin am 1. Oktober 1990 in New York eine Erklärung, mit der ihre Regierungen „die Wirksamkeit ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“ vom Zeitpunkt der Vereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 bis zum In-Kraft-Treten des Zwei-plus-Vier-Vertrages aussetzten. Die Vier Mächte übergaben auf der KSZE-Außenministerkonferenz am 2. Oktober in New York das Schreiben. Genscher und Hans-Joachim Meyer, Minister für Bildung und Wissenschaft der DDR in Vertretung des amtierenden Außenministers de Maizière, nahmen die Erklärung mit ihrer Unterschrift zur Kenntnis.115 Durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hatten sich mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 „beide deutschen Staaten zu einem souveränen Staat vereinigt“.116 Nach Hinterlegung aller Ratifikationsurkunden der Vier Mächte und Deutschlands am 15. März 1991 war Deutschland auch völkerrechtlich wieder ein souveräner Staat. 5. Fazit Durch die frühzeitige Trennung der inneren und äußeren Aspekte bei der vertraglichen Gestaltung der deutschen Einheit bekam der Staatsvertrag zur Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion für die deutsche Ein114 Vorlage Duisberg an Kohl, 1.10.1990, EBD. S. 1553; Note der Regierung der DDR an die Bundesregierung vom 29.9.1990, 1.10.1990, EBD. S. 1553–1558. 115 Wortlaut in: Bulletin (wie Anm. 1), Nr. 121, 10.10.1990, S. 1266; Bekanntmachung der Erklärung in: BGBl. 1990 II, S. 1331f. 116 Schreiben Genscher an Pérez de Cuéllar, o.D., in: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, hg. v. Auswärtigen Amt aus Anlaß des 125. Jubiläums des Auswärtigen Amts, Köln 1995, S. 717.
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heit eine Art Zugpferd-Funktion, ohne den weder der Einigungsvertrag noch der Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht zustande gekommen wäre. Der Staatsvertrag führte die Soziale Marktwirtschaft und die D-Mark in der DDR ein, bereitete dort die Grundlage für die Übernahme der sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik und war somit der erste Schritt zur deutschen Einheit. Die Strategie der Regierung Kohl, in dem Einigungsvertrag nur das politisch als notwendig Erachtete zu regeln, machte die zügige Realisierung der Vertragsgestaltung der deutschen Einheit überhaupt erst möglich. Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes war der Vertragsabschluss zwar politisch gewollt, weil alle Beteiligten darin die Rechtsbasis für den Einigungsprozess sahen, jedoch keine zwingende Notwendigkeit mehr. Auch der Zwei-plus-Vier-Vertrag beschränkte sich auf das politische und sicherheitspolitische Notwendige, nämlich die Aufgabe der noch bestehenden Viermächte-Rechte in Bezug auf Deutschland als Ganzes und die Sicherheitsgarantien, die dazu von den Vier Mächten und Polen in Bezug auf die künftige Stellung des vereinten Deutschlands im europäischen Sicherheitssystem gefordert wurden. Der Vertrag beschrieb zudem den neuen Status Deutschlands, stellte aber keinen Friedensvertrag dar, den die Deutschen selbst nicht mehr angestrebt hatten.
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Bemerkungen zu Arbeitsschwerpunkten des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen Von Dorothee Wilms Ich spreche hier nicht als Historikerin, sondern als Zeitzeugin und, jedenfalls für wenige Jahre, als mithandelnde Person in der Deutschlandpolitik der Ära Kohl. Ich möchte anhand persönlicher Erinnerungen einige mehr skizzenhafte Anmerkungen machen sowohl zu dem normativen Teil der Deutschlandpolitik als auch zu einigen konkreten Maßnahmen und Aktivitäten des damaligen Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen. Wir sind das auch einem Ressort schuldig, das über 40 Jahre lang für die Deutschlandpolitik in der alten Bundesrepublik tätig war. 1982 wurde ich zum Bundesminister für Bildung und Wissenschaft und im März 1987 zum Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen von Bundeskanzler Kohl berufen. Für mich und für die Öffentlichkeit geschah Letzteres höchst überraschend. Das Innerdeutsche Ministerium hatte nach dem Grundlagenvertrag mit der DDR von 1972 nur wenige selbständige operative innerdeutsche Verhandlungskompetenzen; allerdings waren die Mitarbeiter des Hauses jeweils in die innerdeutschen Fachverhandlungen der Ressorts eingebunden. Ich persönlich wurde vom Chef des Kanzleramtes, das war zunächst Herr Schäuble, später Herr Seiters, immer unmittelbar vor und nach den Spitzengesprächen mit dem Beauftragten der DDR, Herrn Schalck-Golodkowski, über Vorhaben und Ergebnisse informiert. Ein Grundsatz, den ich oft gerade mit Wolfgang Schäuble diskutiert habe, war: Wir bezahlen für menschliche Erleichterungen – etwa im Besuchs- und Reiseverkehr –, und wir sorgen damit dafür, dass mehr Menschen zu uns reisen können, vor allem auch zunehmend junge Menschen. Unsere Hoffnung: Vielleicht wird dadurch die ideologische, die mentale Mauer in den Köpfen der Menschen in der DDR etwas durchlöchert, und die inneren Beziehungen der Menschen in der DDR zur Bundesrepublik bleiben erhalten oder formen sich neu. Es ging also nicht um eine Destabilisierung der DDR, sondern darum, die Mauer, die die beiden Staaten in Deutschland trennte, zumindest mental aufzubrechen. Ich meine, unsere Strategie ist richtig gewesen. Der große Übersiedlerstrom ab Mitte 1989 zeigte es. Für viele Menschen in der DDR war die Bundesrepublik das „gelobte Land“, oft in einer sehr überhöhten Form, was dann auch hier und da zu Enttäuschungen nach der Vereinigung 1990 führte. Einen besonderen politischen Arbeitsschwerpunkt setzte ich persönlich darauf, die deutsche Einheit in Freiheit als politisches Ziel und Problem im Inund Ausland wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu heben. Ich unterstützte damit die ideologische, die normative Linie der Politik von Helmut Kohl, was dieser mir gegenüber auch stets anerkannt hat (so u.a. in seiner
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Laudatio beim Empfang zu meinem 60. Geburtstag am 16. Oktober 1989 im Kanzleramt). Zu dieser Linie gehörte die Erinnerung an das Grundgesetz, an die Präambel und insbesondere an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1973, das den Grundlagenvertrag mit der DDR anerkannt hatte, aber in dem es auch sinngemäß hieß: Aufgabe der Politik ist es, den Gedanken an die Einheit im Inneren wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten. Im Gegensatz zur sozial-liberalen Koalition wurde von der Regierung Kohl ganz bewusst wieder mehr über Wiedervereinigung und Deutsche Einheit gesprochen. Damit wurde zwar operativ nichts erreicht, und die SPD hat uns das auch oft vorgeworfen. Aber das Thema kam so wieder verstärkt in die innenpolitische Diskussion, wo es zunehmend auf Resonanz stieß. Damit entsprachen wir auch den außenpolitischen Entwicklungen, den Freiheitsentwicklungen, die sich in der Sowjetunion und vor allen Dingen in den mittelosteuropäischen Staaten anbahnten. Dieser ideologische, normative Aspekt war eben die andere Seite der operativen Kohlschen Deutschlandpolitik: Beziehungen mit der DDR zu pflegen, aber daneben auch den Anspruch auf die Vereinigung Deutschlands in Freiheit zu erhalten. Im Innerdeutschen Ministerium habe ich mehrere Ansatzpunkte für die Belebung dieser Debatte gesehen: durch Bildungsmaßnahmen vor allem für Jugendliche und durch eigene Vorträge in der Bundesrepublik und im Ausland. Dort ging es vor allem darum, jüngere Abgeordnete und Politiker, denen die aus der Kriegs- und Nachkriegszeit stammenden völkerrechtlichen Implikationen hinsichtlich des geteilten Deutschlands meist völlig fremd waren, über die Situation des geteilten Landes ein wenig zu informieren. Ich war damals unter anderem in den westlichen Hauptstädten London, Paris, Washington und Brüssel. Dem gleichen Zweck dienten auch die Informationsreisen ausländischer Diplomaten an die Sperranlagen der innerdeutschen Grenze, zu denen das Ministerium regelmäßig einlud. Es ging mir um die deutsche Einheit in Freiheit, besonders auch im Sinne der Gewährung von Selbstbestimmung und Menschenrechten für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands nach UNO-Charta und KSZE-Vertrag. Ich plädierte für die Deutsche Einheit im Rahmen eines europäischen Prozesses in Frieden mit den Nachbarn und eingebunden in die westliche Wertegemeinschaft. Eine Vereinigung unter kommunistischen Vorzeichen lehnte ich ebenso ab wie einen neutralen Status für ein Gesamtdeutschland. Dies entsprach, wie ich meinte und meine, der Präambel des Grundgesetzes und im Übrigen auch der Adenauerschen Vorstellungswelt, der ich mich sehr verbunden fühlte. Diese Art der Argumentation brachte mir aber häufig Schelte und Ablehnung eines mehr nationalkonservativen Spektrums in der Gesellschaft wie auch in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein. Auch in einigen Presseorganen wurde ich deshalb angegriffen. Ich habe den Begriff der Wiedervereinigung wohl sehr sparsam benutzt, weil er mir zu rückwärts gewandt war.
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Ich sprach mehr von der Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland. Denn Wiedervereinigung im streng begrifflichen Sinne hätte ja auch die Rückkehr der verlorenen deutschen Ostgebiete bedeuten müssen, also Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937. In vielen Vertriebenenveranstaltungen, an denen ich in diesen Jahren teilgenommen habe, bin ich auch entsprechend kritisch angesprochen worden. Dort hielt man die Begrenzung des Themas Wiedervereinigung auf die beiden deutschen Staaten für zu eng. Mir war völlig klar, dass die deutsche Teilung nur im Rahmen großer internationaler Veränderungen möglich sein könnte. Isolierte nationale deutsch-deutsche Lösungen hielt ich nicht für möglich und auch nicht für erwünscht. Dies brachte ich in meiner Rede in Paris im Januar 1988 zum Ausdruck, was mir in der Bundesrepublik manche Kritik einbrachte. Im Plenum des Deutschen Bundestages habe ich wie viele andere Kollegen auch meist aus aktuellem Anlass immer wieder zu den Verstößen gegen die Menschenrechte in der DDR Stellung genommen, gerade ab Frühjahr/Sommer 1989 – ein Tatbestand, der mir von der DDR-Regierung sehr angekreidet wurde, wie auch „meine“ Stasi-Berichte hinreichend belegen. Auch Honecker ließ mich über Umwege wissen, dass solche Reden von mir gar nicht förderlich seien für das innerdeutsche Verhandlungsklima. Mich hat das nicht sehr gekümmert, außerdem wusste ich auch nicht, ob diese Mitteilung wirklich stimmte oder ob sie ein wichtigtuerisches Geschwätz war. Für ganz entscheidend halte ich, dass die Regierung Kohl nie die Erfüllung der vier Geraer Forderungen Honeckers in Erwägung gezogen hat, insbesondere nicht die Auflösung der Erfassungsstelle Salzgitter und die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft. Bei der SPD dagegen gab es viele Stimmen, die anders votierten, übrigens auch die des damaligen NRW-Ministerpräsidenten Rau. Die SPD-geführten Bundesländer hatten sich aus der Finanzierung der Erfassungsstelle Salzgitter zurückgezogen, das Innerdeutsche Ministerium war dafür eingesprungen. Wären wir damals schwach geworden in der Frage einer deutschen Staatsangehörigkeit, dann hätte sich das bei der Bewältigung der Übersiedlerströme und der Besetzung unserer Botschaften durch die Menschen aus der DDR ab Sommer 1989 verheerend ausgewirkt. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass parallel zu diesen Entwicklungen die SPD/SED-Gespräche in verschiedenen Kommissionen über Abrüstung und Entspannung liefen mit entsprechenden Kommissionspapieren. Ich will nun auf einige konkrete Maßnahmen verweisen, die vor dem Einigungsprozess im Sinne der deutschlandpolitischen Arbeit gelaufen sind. Sie wurden vom Innerdeutschen Ministerium durchgeführt, das in der sozial-liberalen Zeit etwas in der Versenkung verschwunden war, aber von den CDUBundesministern Rainer Barzel, Heinrich Windelen und mir ab 1982 wieder neue Akzente erhielt.
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Mir ist wichtig darauf hinzuweisen, dass es die Regierung Kohl war, die viele Bildungs- und Reisemaßnahmen für Jugendliche aus der Bundesrepublik an die innerdeutsche Grenze, nach Berlin, auch gelenkte Reisen in die DDR, unterstützt und angestoßen hat, zusammen mit den Bundesländern und mit der Kultusministerkonferenz, um jungen Menschen klarzumachen, was ein geteiltes Land bedeutet. Ich füge allerdings hinzu, dass mich die Reiseberichte, die diese jungen Leute später geschrieben haben, oft ernüchtert und erschreckt haben. Denn in ihnen kam häufig eine fast groteske Unwissenheit über die Geschichte des geteilten Landes zutage. Die Jugendlichen zeigten viel Desinteresse an der Vereinigung und oft sogar eine Ablehnung der Menschen in ihren DDR-Lebensverhältnissen. Westeuropa stand vielen unserer Jugendlichen damals näher als die Menschen in der DDR. Deshalb denke ich, dass die Vereinigung so gesehen im letzten Moment gekommen ist. Womöglich wäre sie zu einem späteren Zeitpunkt, gerade hier im Westen, von einer jungen Generation nicht mehr so mitgetragen worden. Auch in den Wahlkämpfen, die wir 1990 geführt haben mit Blick auf die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl, habe ich manche Skepsis bei den Westdeutschen bemerkt. Man war zwar grundsätzlich für die Vereinigung, aber in dem Moment, wo es konkret wurde und wo man vielleicht dafür zahlen sollte, ließ die allgemeine Begeisterung doch nach. Bundeskanzler Kohl hat meines Erachtens richtig entschieden, damals keine Steuern oder Abgaben für die Wiedervereinigung zu erheben. Noch einige Stichworte aus der Arbeit des Innerdeutschen Ministeriums: Es gab über viele Jahre eine sehr aktive Zonenrandförderung. Die Mitte Deutschlands, dort wo die innerdeutsche Grenze verlief, erhielt eine umfassende wirtschaftliche und kulturelle Förderung. Wir wollten blühende Landschaften neben dem Todesstreifen und den Befestigungen auf der anderen Seite. Als die Förderung nach der Vereinigung wegfiel, waren diese mitteldeutschen Regionen die Leidtragenden. Ein weiteres Thema: Es ist oft gefragt worden: „Ja, warum haben denn zu Zeiten der Vereinigung keine Unterlagen über die reale Situation in der DDR im Ministerium vorgelegen?“ Die Antwort könnte man, etwas vereinfacht, so geben: Der seit Anfang der 50er Jahre bestehende „Forschungsbeirat“ zur Beratung der ministeriellen Deutschlandpolitik auch im Sinne einer Wiedervereinigung wurde 1974 aufgelöst. Unter den SPD-geführten Bundesregierungen wurde dann eine betont systemimmanent arbeitende „DDR-Forschung“ gefördert. Dies entsprach der damaligen Entspannungspolitik und der Zurückdrängung der Totalitarismustheorie in der Geschichtswissenschaft. Hinzu kam, dass die von der DDR veröffentlichten Statistiken – höflich ausgedrückt – meist geschönt waren. Ich habe 1987 damit begonnen, wieder einen Arbeitskreis „Deutschlandforschung“ mit einem erweiterten Wissenschaftlerkreis und neuen, auch systemkritischen Themen zu initiieren und zu fördern. Die Ver-
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einigung Deutschlands kam dann aber „zu schnell“, um umfassende Forschungsergebnisse vorlegen zu können. Ein beliebtes Thema bei der Diskussion über das Innerdeutsche Ministerium ist der Gefangenenfreikauf und die Familienzusammenführung. Ich möchte dazu hier weiter nichts sagen, weil dies kein spezifisches Thema der Ära Kohl ist. Durch diese Maßnahmen ist ohne Zweifel viel Gutes getan worden, obwohl hier immer wieder die Abwägung zu treffen war, was moralisch tragbar und was finanziell machbar war. Wir haben 1989/1990, als sich der Freikauf erübrigte, die im Innerdeutschen Ministerium verfügbaren Etat-Mittel für die Verschickung medizinischer Hilfsgüter in die DDR freigegeben. So sind über die Rote-Kreuz-Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR über 520 Mio. DM innerhalb von ein paar Monaten in medizinische und soziale Einrichtungen der DDR geflossen. Ich hatte mir nach der Amtsübernahme vorgenommen, häufig in die DDR zu fahren. Diese Reisen wurden mit der DDR-Regierung über unsere Ständige Vertretung in Ost-Berlin abgesprochen. Mit Dienstwagen und Referent bin ich mehrfach „inoffiziell“ in der DDR gewesen und relativ frei herumgefahren, die Stasi allerdings immer im Schlepptau. Offiziell gab es mich als Innerdeutschen Minister ja nicht. So hatte ich zwar keine „offiziellen“ Begegnungen, aber viele Gespräche mit Kirchenvertretern, mit Sozial- und mit Kulturrepräsentanten. Auf diese Weise konnte ich feststellen, dass die Realität in Wirtschaft und Infrastruktur der DDR damals doch noch schlimmer war, als es sich viele im Westen vorstellten. Deshalb war mir später auch manche Diskussion über die Lage in der DDR während des Vereinigungsprozesses zu optimistisch angelegt. Manch einer, auch mancher Beamte, ließ sich von allzu viel gut gemeinten Illusionen leiten! Einen Punkt möchte ich hier noch erwähnen, der meines Erachtens bisher zu wenig angesprochen worden ist. Ich meine die keineswegs unkritische Unterstützung der Arbeit der Vertriebenenorganisationen durch die Regierung Kohl, und zwar ihrer deutschlandpolitischen und ihrer kulturpolitischen Arbeit. Es haben sowohl der Bundesminister des Inneren nach dem Bundesvertriebenengesetz § 96 als auch das Innerdeutsche Ministerium sehr viele Mittel in diese Arbeit hineingesteckt. Der Erfolg zeigte sich 1989/90, denn ich halte es für nicht ganz selbstverständlich, dass die Vertriebenen- und Flüchtlingsorganisationen den Prozess der Wiedervereinigung so verhältnismäßig ruhig mitgingen, der ja letztlich den endgültigen völkerrechtlichen Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete – ihre alte Heimat – bedeutete. Dies ist ein Verdienst von Bundeskanzler Kohl, aber vor allem auch von CDU-Vertriebenenpolitikern, wie Windelen, der hier unglaublich aktiv war, auch von Hennig, Stingl, von Bismarck, Jahn, Becher, Czaja, Hupka oder Gradl, der stärker auf die mitteldeutschen Vereinigungen eingewirkt hat. Es wäre meines Erachtens wünschenswert, wenn die Geschichtsforschung sich diesem Aspekt der Eini-
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gung noch stärker als bisher widmen würde, denn politisch hätten die Vertriebenen ja auch in ganz anderer Weise zum Unruheherd im Vereinigungsprozess werden können. Die kulturpolitische Arbeit der Vertriebeneninstitutionen ist meiner Meinung nach auch heute noch förderungswürdig, denn es gilt, auch ein Stück Erinnerungskultur zu pflegen. BMI und BKM agieren hier bis heute noch sehr engagiert. Ich wünschte mir, dass auch die Adenauer-Stiftung diesen Bereich der Erinnerungskultur in Zusammenarbeit mit sachkundigen Vertretern der Vertriebenenorganisationen stärker behandeln würde. Dies muss und kann jetzt auch zunehmend zusammen mit den Vertretern unserer östlichen Nachbarn geschehen im Sinne deutsch-polnischer, deutsch-tschechischer, deutsch-slowakischer oder deutsch-ungarischer Gespräche über die Geschichte und über die Kultur in diesen Gebieten. Eine persönliche Bemerkung noch zum Honecker-Besuch: Mir war höchst unwohl, als wir vor dem Kanzleramt standen und Hymne und Fahne der DDR wahrnahmen, obwohl das Treffen politisch unabwendbar war. Ich weiß allerdings nicht, ob ich diesen Honecker-Besuch im Rückblick so hoch bewerten würde und ob nicht vielleicht Historiker diesen Besuch in seiner politischen Bedeutung heute gelegentlich überschätzen. Ergänzend sei auf das damals umlaufende Gerücht verwiesen, dass für Honecker der Bonner Besuch vor allem die Eintrittskarte sein sollte für seinen Besuch in Washington. Ich möchte noch über eine CDU-interne Begebenheit berichten, deren Erwähnung ich bisher nirgendwo gefunden habe; ich berichte darüber, weil sie Helmut Kohl betrifft. Es war auf dem CDU-Bundesparteitag in Bremen am 11. September 1989, als es für Kohl darum ging, die Fronde der rebellischen Parteifreunde zurückzudrängen. An diesem Abend kamen die ersten DDRÜbersiedler von Ungarn über Österreich nach Passau, so wie es Kohl mit der ungarischen Regierung vereinbart hatte. Dort waren erste Notaufnahmelager aufgemacht worden. Horst Waffenschmidt und ich wurden von Kohl per Flugzeug nach Passau geschickt, um morgens in aller Frühe diese Übersiedler im Namen des Bundeskanzlers zu begrüßen. So geschah es; wir flogen mittags zurück nach Bremen und mussten sofort vor dem Parteitag von den sehr anrührenden Geschehnissen berichten. Für mich war klar, dass Kohl die Partei auf diese Weise mit den wirklich historischen Ereignissen dieser Tage konfrontieren wollte angesichts seiner innerparteilichen Gegenspieler. Ich glaube, ich war der einzige Bundesminister, der am Abend des 9. November 1989 in Berlin war. Ich war anlässlich einer Historikerkonferenz im Reichstag und habe an dem Abend und in der Nacht viele Geschehnisse entlang der Mauer miterlebt. Am 10. November morgens gegen sechs Uhr bin ich am Übergang Invalidenstraße kurz nach Ost-Berlin hinübergegangen mit meiner Begleitung. Ein DDR-Grenzoffizier hat mich irgendwie erkannt und leicht ironisch gemeldet angesichts der wogenden Menschenmassen: „Es ist alles ruhig“, und ich könne ruhig ein bisschen „reingehen“, wenn ich denn
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wieder zurückkäme. Ich habe auf dem Weg Frauen mit Kindern gefragt: „Wo kommen Sie denn her, jetzt morgens um sechs?“ Die Antwort war: „Wir wollten in der Nacht einmal auf den Ku’damm gehen, aber jetzt müssen wir wieder zurück zur Arbeit.“ Solche Szenen vergisst man nie! Eine letzte persönliche Erinnerung: Unauslöschlich eingeprägt hat sich mir – und vermutlich allen Teilnehmern in Kohls Begleitung – die beeindruckende Kundgebung mit dem Bundeskanzler vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche am 19. Dezember 1989. Von da ab wusste ich: Es gibt kein Zurück mehr auf dem Weg zur deutschen Einheit. Der Wahlkampf für das Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ in der DDR, den ich vielfältig mitmachte, war anders als jeder gewohnte Wahlkampf bei uns. Die Menschen waren doch sehr verunsichert, sie wussten nicht recht, was sie eigentlich sollten oder wollten. Ich vermute, dass vor allem deshalb die „Allianz für Deutschland“ in der DDR gewonnen hat, weil das eine Wahl für Helmut Kohl war; da wurde der Mann gewählt, zu dem sie Vertrauen hatten. Abschließend noch eine etwas kritische Bemerkung: Der Prozess der Vereinigung, die Vertragsverhandlungen, das ganze Prozedere um den Einigungsprozess und die Verhandlungen in Bonn und in Berlin waren für das Innerdeutsche Ministerium und seine Mitarbeiter nicht immer ganz einfach. Es gab die klare Weisung des Bundeskanzlers: Das Bundeskanzleramt hat die Federführung in den Verhandlungen. Diese Weisung wurde auf allen Ebenen auch recht robust gehandhabt. Ich war und bin auch heute noch der Auffassung, dass der im Innerdeutschen Ministerium versammelte Sachverstand mit seinen Kenntnissen über Verhältnisse und Befindlichkeiten in der DDR gelegentlich zu wenig in Anspruch genommen wurde und damit nicht ausreichend zur Geltung kam; ich habe das damals bedauert. Aber insgesamt zolle ich der Bonner Ministerialbürokratie meinen allerhöchsten Respekt für ihre Leistung bei der komplizierten Vertragsgestaltung in so kurzer Zeit. Das Innerdeutsche Ministerium wurde am 17. Januar 1991 mit Bildung des ersten gesamtdeutschen Kabinetts Kohl aufgelöst, und ich finde, es war richtig so. Es hat damals auch Gegenstimmen gegeben. Aber es hatte seine Aufgabe erfüllt, für die es einmal gegründet worden war. Das Ministerium hat über Jahrzehnte, je nach politischer Wetterlage, viel dafür getan, dass der Gedanke an ein einiges und freies Deutschland wachgehalten wurde. Viele Mitarbeiter gerade dieses Ressorts kamen selber aus der SBZ/DDR oder aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und hatten wegen ihrer freiheitlichen Überzeugungen oftmals Bestrafungen und Haft in Kauf nehmen müssen. Viele waren deshalb gerade in diesem Ministerium tätig, weil es viel für die Menschen im geteilten Deutschland geleistet hat; ich meine, dass sollte nicht vergessen werden, weil es auch zur Geschichte der alten Bundesrepublik gehört.
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Reformimpulse in den neunziger Jahren oder: Der Reformer Helmut Kohl. Beobachtungen und Fragen Von Hans-Peter Schwarz
Schicken wir eine Begriffsklärung voraus: Was verstehen wir unter Reformen? Welche Typen von Reformen lassen sich unterscheiden? Damit verbinden sich einige Beobachtungen zum Thema Reformen in der Frühzeit und in den mittleren Jahren der Bundesrepublik. Häufig charakterisiert man die bundesdeutsche Gesellschaft als eine lernende Gesellschaft. Wer wollte dem widersprechen! Lernende Gesellschaften sind aber auch Gesellschaften, in denen unablässig Reformen proklamiert oder tatsächlich auf den Weg gebracht werden. Das geht manchmal schneller, manchmal langsamer; bald geben die maßgeblichen politischen Kräfte Gas, manchmal bremsen sie das Tempo ab. Aber irgendwie und irgendwo reformiert wird immer. Im zweiten Teil skizzieren wir auf dem Hintergrund bundesdeutscher Reformpolitik das reformerische Profil Helmut Kohls in Mainz, in den Jahren als Oppositionsführer und dann als Bundeskanzler von 1982–1990. Stichwort: der Reformer Helmut Kohl. Dem folgt dann – drittens – der Hauptteil mit den Fragen nach den Reformimpulsen der 1990er Jahre. Kann, darf, muss man diesen Zeitraum so, wie das zeitgenössische Kritiker registrierten und wie es immer noch geschieht, als Jahre des Reformstaus begreifen und somit Helmut Kohl als eine Art zögernden Riesen? Oder war Widersprüchlichkeit das Hauptmerkmal der neunziger Jahre im wiedervereinigten Deutschland, einerseits also tiefgreifende Reformen, andererseits Reformstau? Oder aber – auch für diese dritte Deutung gibt es gute Argumente – war die zweite Hälfte der Ära Kohl nicht sogar eine Epoche tiefgreifender Umgestaltung, deren wahres Ausmaß erst aus heutiger Sicht ins Blickfeld tritt, während sich die seinerzeit schrille Kritik am Reformstau eher mit Oberflächenphänomenen befasst hat? Endgültige Antworten auf diese Fragen sind heute noch nicht möglich. Wir stehen den Vorgängen noch zu nahe und die Forschung kommt erst in Gang. Manches lässt sich aber doch schon deutlich erkennen.
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Zuerst zur Begriffsklärung. Seitdem die Reform-Agenda 2010 ungewöhnlich erbitterten Widerstand ausgelöst hat, scheut die Politik ängstlich davor zurück, ihre Postulate und Projekte mit dem odios gewordenen Begriff Reform zu verbinden. Dies ist eine ganz neue Entwicklung. Tatsächlich ist der Terminus Reform aber seit den Preußischen Reformen der Jahre 1807–1818 im deutschen Sprachgebrauch fast durchgehend positiv besetzt gewesen. Anfänglich wurde eine tiefpflügende Reformpolitik vor allem als Alternative zur Revolution begriffen. So formulierte beispielsweise der Verfasser des Stichworts „Revolution“ im Staats-Lexikon von Rotteck/Welcker, dem Begriffsarsenal des deutschen Frühliberalismus, nach recht gewundenen Formulierungen schließlich den entschiedenen Satz: „Darum lassen sich alle Revolutionen durch zeitgemäß ausreichende Reformen verhindern.“1 (Ironischerweise erschien der fragliche Band des Staatslexikons ausgerechnet im Revolutionsjahr 1848!) Als Reform galt hier und vielfach auch noch später ein umfassender Umbau der staatlichen Grundordnung, der Verwaltung, der Wirtschaft, der Kirchen und des Bildungswesens – dies aber stets in legalem, gewaltlosem Verfahren. Mehr und mehr hat es sich dann eingebürgert, umfassend konzipierte, gesetzlich auf den Weg gebrachte Neuordnungen generell als Reformen zu bezeichnen. In der 21. Auflage der 30-bändigen „Brockhaus Enzyklopädie“ von 2005/2006 wird „Reform“ wie folgt definiert: „planmäßige Umgestaltung, Verbesserung, Neuordnung des Bestehenden, bes. (als Gegenbegriff zu Revolution) die gezielte, die Legalität wahrende Umgestaltung politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen (u. a. Verfassungs-, Verwaltungs-, Rechts-, Wirtschafts-, Währungs-, Finanz-, Steuer-, Schul- oder Bildungs-Reform). Staatliche Reform-Politik hat i. d. R. das Ziel, ein bestehendes politisches System an veränderte Bedingungen anzupassen.“ Wie ersichtlich, wird hier der grundlegende Gegensatz zur Revolution durchaus noch betont, dies aber verbunden mit dem Hinweis, Reformen in verschiedensten Teilbereichen von Staat und Gesellschaft hätten das Ziel, das politische System (und wir können ergänzen: die gesetzlich normierbare Gesellschaftsordnung generell) an veränderte politische und gesellschaftliche Gegebenheiten anzupassen. In modernen Gesellschaften verändern sich diese Gegebenheiten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mit beschleunigtem Tempo. Dabei ist die beschleunigte Veränderung längst nicht mehr nur auf die westliche Zivilisation begrenzt. Tiefgreifende, häufig aber auch urplötzlich hereinbrechende Umbrüche kenn1
Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hg. von Carl VON ROTTECK und Carl WELCKER, neue durchaus verbesserte und vermehrte Aufl., 11. Bd., Altona 1848, S. 550.
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zeichnen seit Langem das Weltstaatensystem, die Technik, die Weltwirtschaft und die Kulturen. Der französische Historiker Jules Michelet schrieb schon 1872: „Eine der heute gewichtigsten, aber am wenigsten beachteten Tatsachen ist, daß sich das Zeittempo völlig verändert hat.“2 Und als der amerikanische Historiker Henry Adams ein paar Jahrzehnte später versuchte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Entwicklungen – beispielsweise das voll entwickelten Eisenbahnwesen, den Dampfschiffverkehr, die Telegraphie, die Dynamomaschinen oder die Photographie – zu begreifen, glaubte er erkannt zu haben, dass der modernen Welt ein „Gesetz der Beschleunigung“ mit einem gewaltigen Zustrom neuer Kräfte zugrunde lag.3 Er hatte gewisse Zweifel, ob die wissenschaftliche Erkenntnis oder die politischen Konzepte den chaotischen Veränderungen gewachsen sein würden. Für unsere Tage prognostizierte er: „Wenn der Fortschritt seit 1800 ungeschwächt andauerte, so würde jeder Amerikaner, der das Jahr 2000 erlebte, unbegrenzte Energien beherrschen können. Er würde in komplizierten Kategorien denken können, die einem früheren Geist unvorstellbar waren. Er würde sich mit Fragen beschäftigen, die ganz und gar über den Horizont der vergangenen Gesellschaft hinausgingen.“4 Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben keine Veranlassung gegeben, diese Erwartungen zu relativieren, und was für die USA vorausgeahnt war, gilt genauso für Deutschland. Es ist also ratsam, die Analyse der Reformvorhaben und der tatsächlich durchgeführten Reformen in einem bestimmten Zeitraum von vornherein im Verständnishorizont dieser umfassenderen Geschichtstheorie zu begreifen. Unter den Bedingungen permanenter Beschleunigung sind periodische Reformen der Teilbereiche ganz zwingend. Nicht die Reformbedürftigkeit moderner Gesellschaften als solche ist das Problem, ihr kann man sich überhaupt nicht entziehen. Der politische Streit dreht sich meist um die Fragen: In welche Richtung? In welchem Tempo? Wie schnell? Wie verlangsamt? Mit welcher Chance, bewährte und vertraute Elemente der alten Welt am Leben zu halten? Nach Lage der Dinge sind Teilreformen jedenfalls zwingend, und wir finden sie auch ganz selbstverständlich. Unablässig dreht sich der politische Diskurs deshalb um Rentenreform, Gesundheitsreform, Kommunalreform, Steuerreform, Schulreform, Universitätsreform, Agrarreform und ein gutes Dutzend weiterer Reformnotwendigkeiten. Man darf sich allerdings durch die Semantik nicht täuschen lassen. Vielfach ist von Reformen die Rede, wenn es im Grunde nicht mehr als um Novellierungen grundlegender gesetzlicher Bestimmungen geht. Solange von Refor2 3 4
Zitiert nach Gerhard SCHULZ, Einführung in die Zeitgeschichte, Darmstadt 1992, S. 42. Henry ADAMS, Die Erziehung des Henry Adams. Von ihm selbst erzählt, Zürich 1953 (Originalausgabe 1907), S. 780. EBD. S. 778.
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men, welcher Art auch immer, eher Verbesserungen erwartet wurden als Wohlfahrtsverluste, tendierten die Parteien jeder Couleur dazu, die ihnen jeweils wünschenswert erscheinenden oder politisch gerade noch möglichen Gesetzgebungen ihren Anhängern und potentiellen Wählern als große Reformwerke zu verkaufen. Was von den alle vier oder sechs oder acht Jahre vollzogenen Veränderungen wirklich Reform genannt werden kann, was bloß Fortschreibung war, lässt sich erst aus einigem Abstand bewerten. Umgekehrt werden weitreichende Reformen häufig überhaupt nicht als Reform bezeichnet. Ein Beispiel dafür in der Geschichte der Bundesrepublik waren in den fünfziger Jahren die Gesetzgebungen über den Lastenausgleich, die Wohnungsbaupolitik oder die Kartellgesetzgebung. Der Historiker darf die Analyse von Reformen also nicht nur auf Gesetzgebungen beziehen, die unter der Bezeichnung Reformgesetze segeln. Man muss schon die Gesamtheit der Gesetze einer oder mehrerer Legislaturperioden ins Auge fassen, um dann aus dem Abstand von zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu konstatieren: Dies war eine weitreichende Reform, dies nur eine mehr oder weniger stark veränderte Fortschreibung bestehender Systeme. Ob solche Reformen aus größerem Abstand als geglückt oder missglückt zu bezeichnen sind, ist wieder eine andere Frage. Erforderlich ist somit eine Typologie von Reformen. Möchte man allein die Reichweite reformerischer Veränderungen erfassen, so ist zwischen drei Typen von Reformen unterscheiden. Am weitreichendsten sind – erstens – Reformen des Gesamtsystems, bei denen die politischen Institutionen, die Wirtschaft, die Sozialsysteme und die Gesellschaft in der Breite und in der Tiefe stark verändert werden: Nennen wir sie Reformen vom Typ I. Ein weiterer Typ – Reformen vom Typ II – ist die fundamentale Neugestaltung bloß eines klar identifizierbaren Teilsystems. Schließlich beobachtet man häufig Gesetzgebungen in Teilsystemen, die als Reformen bezeichnet werden, ohne aber wirklich grundlegend Neues zu bewirken. Sie sind nicht mehr als korrigierte Fortschreibungen. Doch auch korrigierte Fortschreibungen vom Typ III sind wichtig. Sie beschäftigen den Parteienstreit oft intensiver als Reformen des Typs II, die häufig ohne viel Streit durchgewinkt werden und erst im Lauf der Zeit starke Wirkung entfalten. Wie vollziehen sich Reformen eines Gesamtsystems? Reformen spielen sich immer im Rahmen verfassungsmäßiger, rationaler Gesetzgebung ab. Spezifische Gesetzgebung bezieht sich notwendigerweise auf Teilbereiche. Bei Reformen vom Typ I ist somit eine größere oder geringere Zahl von Teilbereichen umzugestalten. Die Reform eines Gesamtsystems erfolgt also im Nebeneinander, Miteinander oder Nacheinander der Reformen von Teilsystemen. Veranschaulichen wir das an einem Beispiel. Heute ist sich die Geschichtswissenschaft weitgehend darüber einig, dass jene Epoche von 1948 bis in die frühen sechziger Jahre, die man als Ära Adenauer bezeichnet, in der Tat ein
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neues Gesamtsystem heraufgeführt hat – neu, auf dem Hintergrund von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft des nationalsozialistischen Deutschlands und der Militärherrschaft in den ersten Besatzungsjahren, völlig neu, aber auch bezüglich der weiteren Dimensionen vorangegangener Nationalgeschichte. Die Wirtschafts- und Sozialordnung, die bald als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet wurde, begann noch vor Gründung der Bundesrepublik mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948. Seit der Währungsreform war Reform wiederum ein eminent positiv besetzter Begriff. So kann es nicht erstaunen, dass in der Ära Adenauer die Neigung bestand, größere sozialpolitische Maßnahmen vollmundig als Reformen anzukündigen. In der Regierungserklärung vom Oktober 1953 wurde beispielsweise eine „umfassende Sozialreform“ in Aussicht gestellt5. Ein später beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung angesiedeltes „Generalsekretariat für die Sozialreform“ sollte die Arbeiten voranbringen. Die Gesamtreform versandete zwar, führte aber im Jahr 1957 mit der Rentenreform durch Einführung der dynamischen Rente zu einer weitreichenden Teilreform.6 Für andere Reformprojekte – etwa die Lastenausgleichsgesetzgebung, die Kartellgesetzgebung oder der „Grüne Plan“ – setzte sich der explizite Terminus Reformen nicht durch, obgleich es sich offenkundig um tiefgreifende Reformen handelte. Adenauer wollte die Reformpolitik der fünfziger Jahre auch mit einer umfassenden Gesundheitsreform krönen, ist aber daran gescheitert wie alle seine Nachfolger. Jedenfalls lässt sich die Frühgeschichte der Bundesrepublik als Reformepoche des Typs I kennzeichnen. Da diese Reformen in eine Phase einmaligen Wirtschaftswachstums fielen, blieb der Begriff „Reformen“ weiterhin positiv besetzt. Reformen, so sahen es die Bürger, brachten Sicherheit, Stabilität, Verstetigung des Wohlstands und eine gewisse Zufriedenheit. Benennen wir nun auch einige Beispiele von Reformen des Typs II, also tiefgreifende Veränderungen bestimmter Teilbereiche. Selbstverständlich wird die Frage im Einzelnen häufig kontroversiell beurteilt werden, ob man es mit 5 6
Siehe Hans Günter HOCKERTS, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S. 242–299. Zusammenfassend siehe Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 3: Die Bundesrepublik Deutschland 1949–1957. Bewältigung der Kriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität, bearb. von Günther SCHULZ, Baden-Baden 2005; Johannes FRERICH/Martin FREY, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 3: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der Deutschen Einheit, München 1993, S. 46–49. Zur Bedeutung der fünfziger Jahre in der gesamten sozialstaatlichen Entwicklung siehe Lutz LEISERING, Der deutsche Nachkriegssozialstaat – Entfaltung und Krise eines zentristischen Sozialstaatsmodells, in: Hans-Peter SCHWARZ (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln 2008, S. 423– 443, und Manfred G. SCHMIDT, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 2005.
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einer fundamentalen Reform von Teilbereichen zu tun hat oder ob das, was als grundlegendes Reformprojekt angekündigt ist, nur eine Reform des Typs III ist, also die bloße Anpassung bereits bestehender Strukturen an neue Bedingungen. In den sechziger Jahren hat die Politik vor allem Teilbereiche grundlegend zu reformieren versucht. Zu Beginn der sechziger Jahre war das Gesamtsystem mehr oder weniger runderneuert – mehr nach Meinung der CDU, weniger nach Meinung der oppositionellen SPD oder der Linken in der CDU. „Die versäumte Reform“, lautete der Titel einer kritischen Bestandsaufnahme des Berliner Politologen Otto Heinrich von der Gablentz aus dem Jahr 1960.7 Weithin geboten schien jedenfalls die gründliche Reform in Teilbereichen, etwa: Gebietsreform, Universitätsreform, Schulreformen. Aus größerem Abstand lässt sich erkennen, dass über die Notwendigkeit solcher Teilreformen vielfach ein überparteilicher Konsens bestand. Es trifft auch nicht zu, dass sich in den sechziger Jahren auf Seiten der CDU generelle Reformabstinenz ausgebreitet hätte. Besonders die Gebietsreform erschien vorrangig. Desgleichen war die Bildungsreform ein Hauptziel maßgeblicher CDU-Politiker im Bund und in den Ländern – dies bereits einige Jahre bevor die Studentenbewegung die Themen Universitätsreform und Schulreform in den Mittelpunkt ihrer Agitation rückte. Doch für die späten sechziger und die frühen siebziger Jahre ist es sicher richtig, dass nun in erster Linie Sozialdemokraten und Linksliberale viele ihrer Forderungen nachdrücklich als Reformen postuliert und durchgesetzt haben. Unter Bundeskanzler Willy Brandt ist die sozial-liberale Koalition mit dem Pathos aufgetreten, die Bundesrepublik in allen ihren Teilen nochmals rundzuerneuern – Stichworte: Demokratisierung und Partizipation. Dass demgegenüber die Ära Adenauer mit der Behauptung „versäumte Reformen“ als reformfaul disqualifiziert wurde, entsprach der Logik politischer Auseinandersetzung. Jugendbewegungen und neue Koalitionen verzichten selten darauf, das Werk der Vorgänger als restaurativ, wenn nicht gar reaktionär zu brandmarken. Das gehört zum politischen Geschäft. Aber die propagierte Fundamentalreform von Politik und Gesellschaft blieb doch weitgehend Programm. Analysiert man rückblickend, was tatsächlich verändert worden ist, so entdeckt man in erster Linie Teilreformen der Typen II und III: Justizreform, Reform des § 218, Schulreformen, Universitätsreform, innerbetriebliche Mitbestimmung (auch sie ein Reformziel, ohne dass dies explizit mit dem Reformbegriff verbunden war). Dass sich damit Vorstellungen wie Demokratisierung, anti-autoritäre Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, Ausdehnung des Gewerkschaftseinflusses verbunden haben, braucht nicht eigens unterstrichen zu werden. Diese Teilreformen haben zwar keine 7
Otto Heinrich VON DER GABLENTZ, Die versäumte Reform. Zur Kritik der westdeutschen Politik, Köln 1960.
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grundlegende Umgestaltung von Politik und Gesellschaft erbracht. Die Behauptung von einer „Umgründung“ der Bundesrepublik in den frühen siebziger Jahren steht auf wackeligen Füßen. Aber dass diese Reformen des Typs II weitreichende Auswirkungen hatten – auf das Familienleben, auf die Einstellung zur Arbeitwelt, zum Staat, zur Technik, auch auf die life styles – bedarf keiner Unterstreichung. In den siebziger Jahren war die plakative Reformpolitik alles in allem also vorwiegend Mitte-links und weit links angesiedelt. CDU und CSU, nach dem Auslaufen der sozial-liberalen Reformimpulse seit Mitte der siebziger Jahre verschwiegener auch die FDP, waren doch stark defensiv, und dies mit gutem Grund. Hat die Union damals primär reaktiv reagiert? Teilweise ja, aber eben nur teilweise und auch nicht lange. Denn sie besaß durchaus starke reformerische Gruppierungen, besonders unter den Jüngeren, als deren Anführer sich zusehends Helmut Kohl profilierte, erst als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und seit 1973 als Vorsitzender der Bundespartei. II. Innerparteilich hat sich Helmut Kohl nicht als Vorkämpfer der Konservativen durchgesetzt, sondern an der Spitze des Reformflügels. Anfang 1947, im Alter von 16 Jahren, war er der CDU beigetreten. Wenn es seither irgendeinen aus dem Nachwuchs gab, der sich erst mit der Runderneuerung der Bundesrepublik durch die Adenauer-CDU und danach mit den Reformimpulsen in der CDU der sechziger Jahre identifiziert hat, so war dies Helmut Kohl. Runderneuerung des westlichen Deutschland: Das war einerseits die Etablierung der parlamentarischen Demokratie im Bund und in den Ländern in Gestalt einer Parteiendemokratie, es war die Modernisierung durch die Marktwirtschaft, für die Ludwig Erhard stand, es war die technische Modernisierung, die Modernisierung der Infrastruktur, Modernisierung auch in Gestalt der Westbindung durch Verflechtung mit Westeuropa und der atlantischen Welt, es war aber andererseits zugleich der Aufbau und Ausbau eines modernen Sozialstaates. Die Programmatik der Sozialen Marktwirtschaft stand für beides: für die Dynamik der Marktwirtschaft und für die Sicherungssysteme des Sozialstaats. Auch der Begriff Westbindung stand für zwei komplementäre Grundorientierungen: für die europäische Integration und für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Demokratien diesseits und jenseits des Nordatlantik. Im Frühjahr 1966 wurde Helmut Kohl, damals ein jüngerer Mann von erst 36 Jahren, zum Landesvorsitzenden der CDU Rheinland-Pfalz gewählt, drei Jahre später zum Ministerpräsidenten. Rheinland-Pfalz war eines der kleineren Länder, bisher auch nicht durch besonderen Reformwillen der dortigen CDU ausgezeichnet. Innerhalb weniger Jahre gelang es Kohl, die behäbige Honoratiorenpartei zur recht dynamischen Mitgliederpartei umzumodeln. Er bekun-
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dete zugleich den Ehrgeiz, aus dem vergleichsweise kleinen, in manchen Landesteilen etwas zurückgebliebenen Rheinland-Pfalz durch Verwaltungsreform, zeitgemäße Landwirtschaftspolitik, Schulreform, Neugründung von Universitäten, Infrastrukturreform, moderne Gesundheitspolitik, moderne Frauenpolitik und fortschrittliche Sozialpolitik eine Art Musterland reformerischer CDUPolitik zu machen. Als er 1976 das Amt des Ministerpräsidenten in Mainz verließ, um an die Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu treten, wurde sein Erfolgskonzept von dem Nachfolger Bernhard Vogel mit den Worten charakterisiert: „Nach zwanzig Jahren CDU-Regierung wechselt die Wählerschaft entweder zur SPD oder die CDU erneuert sich so, daß der Wunsch nach dem Wechsel übersprungen wird.“8 Auch das als „geistig-moralische Wende“ viel verspottete Umsteuern, für das er später nach der Wahl zum Bundeskanzler plädierte, war alles andere als eine verkappt konservative Programmatik. Zwischen 1978 und 1989 tat der von ihm eingesetzte und lange gehaltene Heiner Geißler im Amt des Generalsekretärs der CDU sein Bestes, die CDU programmatisch und gesetzgeberisch als eine soziale, familienpolitisch bemühte, gemäßigt feministische und bereits wertkonservativ ökologische Reformpartei umzuorientieren. Als Kohl 1976 auch an die Spitze der CDU/CSU-Fraktion trat, stieß er allerdings auf Landesverbände und eine Gruppe von Spitzenpolitikern, die sich nicht in erster Linie – so wie er – als Reformer definierten, vielmehr eher defensiv bemüht waren, die Verformung der bundesdeutschen Gesellschaft durch die Sozialdemokratie und das, was man etwas unscharf die 68er Bewegung nannte, zu verhindern. Ohnehin gehört es zum Schicksal jeder Opposition, nicht gestalten zu können, vielmehr mit experimenteller Programmatik, taktisch wendig, je nach Lage pragmatisch oder konfrontativ und mit ungewisser Hoffnung auf durchschlagenden Erfolg gegen die Regierung anzukämpfen. So ist der in Rheinland-Pfalz noch strahlende, auch ungestüme Reformer Helmut Kohl bei der Wüstenwanderung in der Oppositionszeit und dann auch, als er sich in den ersten Jahren als Bundeskanzler in die neue Rolle einzuarbeiten hatte, zwar nicht zum Status quo-Politiker geworden, aber der Reformer, der er immer noch war, wurde pragmatischer, vorsichtiger. Er bequemte sich dazu, das Spiel auf längere Sicht anzulegen und entschied sich dafür, die Reformimpulse vor allem durch die Partei vorbereiten und propagieren zu lassen. Will man Helmut Kohls Rolle als Reformer in den Jahren der Oppositionszeit, doch auch in den ersten beiden Legislaturperioden seiner Kanzlerschaft zutreffend einordnen, sollte man allerdings den Blick über die bundesdeutsche Szenerie hinauslenken. Hier sei daran erinnert, was eingangs zum „Gesetz der
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FAZ vom 1.12.1976: Knut BARREY, „Was Kohl für Rheinland-Pfalz war“.
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Beschleunigung“ angedeutet wurde. Vereinfacht formuliert, ließen sich in den siebziger und achtziger Jahren im gesamten Bereich der westlichen Gesellschaften zwei grundlegende Tendenzen erkennen, denen sich die Bundesrepublik nicht entziehen konnte und die bis heute nachwirken. Die erste dieser Strömungen, die Amerika, England, teilweise auch Frankreich erfasste, war die Theorie und Praxis des Neo-Liberalismus, die zweite die ökologische Bewegung. In den siebziger Jahren waren die in großen Teilen der westlichen Welt praktizierten Konzepte eines sozial unterfütterten Kapitalismus an ihre Grenzen gestoßen: Grenzen der Wirksamkeit, Grenzen der Finanzierbarkeit, Grenzen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit – auch Grenzen der Akzeptanz beim Mittelstand. Die Folge war ein politischer Paradigmenwechsel. Von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren hatten politische Reformer im Aufbau und Ausbau sozialer Sicherungssysteme eine ihrer wichtigsten Aufgaben gesehen. Das galt für England, wo die Konservativen die Sozialpolitik Labours grosso modo übernommen hatten, es galt für Frankreich, es galt auch für die Vereinigten Staaten, die unter Präsident Johnson mit der „Great Society“ sozialstaatliche Programme einführten, die in vielem mit parallelen Entwicklungen im westlichen Europa vergleichbar waren. Seit den frühen siebziger Jahren, verstärkt seit Ende der siebziger Jahre, setzte dann in den USA, in Frankreich, in Großbritannien, in Deutschland, auch in fernen, aber zur Reform genötigten Ländern wie Neuseeland und Australien eine Renaissance des Neo-Liberalismus ein, der sich – wenngleich in anderer Form – schon den späten vierziger und den fünfziger Jahren als eine der wichtigsten Tendenzen etabliert gehabt hatte. Ein Hauptgrund dafür war die Beobachtung, dass die Sozialpolitik und die „managed economy“ an ihren Grenzen angelangt war: Grenzen der Wirksamkeit, Grenzen der Finanzierbarkeit, Grenzen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit – auch Grenzen der Akzeptanz beim Mittelstand und den Leistungsträgern. Gleichzeitig führte ein neuer Schub von Technologien im Kommunikations- und Informationsbereich zu einer neuen Phase des Kapitalismus mit großen Wachstumspotentialen. In den USA setzten sich nun zwischen 1980 bis 1992 die Wirtschaftskonzepte der Rechtsrepublikaner durch (Stichwort: Reaganomics), in England zwischen 1979 und 1998 die radikalliberalen Konservativen. Bekanntlich hat der moderne Kapitalismus seit den späten achtziger Jahren auch die ehemals kommunistischen Länder erfasst: China, den Ostblock, selbst Südostasien mit Vietnam und Indien. Reform hieß nach den Vorstellungen der Thatcheristen, der Republikaner, später auch der Reformdemokraten nach Art Clintons: Befürwortung der globalen Allokation des Kapitals, Standortpflege der eigenen Wirtschaftsgesellschaft durch Schaffung günstiger Bedingungen für den globalen Wettbewerb, planmäßige Verflechtung der Märkte – jedenfalls dort, wo dies von Vorteil
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für das eigene Land erschien –, Einebnung nationaler und ethnischer Besonderheiten, Privatisierung vieler öffentlicher Dienstleistungen, Herausbildung einer internationalen Oberschicht von Wirtschaftsmanagern und Ermöglichung neuen Wachstums durch planmäßige Herstellung globalisierter Märkte. In der Rückschau hat Ralf Dahrendorf die Überwindung von Stagflation und sozialer Erstarrung, aus der auch eine Stimmung des westlichen Niedergangs resultierte, mit den Worten charakterisiert: „Globalisierung hieß Befreiung von der Unbeweglichkeit der mittlerweile fast vergessenen 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts.“9 Helmut Kohl indessen passte diese ganze Richtung nicht. Die Wirtschaftsund Sozialordnung der Bundesrepublik, so konnte er mit gutem Grund argumentieren, war nicht so tief in die Krise gerutscht wie die USA oder das England der siebziger Jahre. Eine Gewaltkur schien deshalb nicht nötig. Die Lage gebot, erlaubte aber auch pragmatische Verbesserungen gemäß dem Rat des kauzigen, aber zugleich gescheiten Göttinger Professors Lichtenberg: „Man reiße nicht gleich ein Gebäude ein, das etwas unbequem ist, und stecke sich dadurch in größere Unbequemlichkeiten. Man mache kleine Verbesserungen.“10 Ohnehin bestärkten ihn die heftigen Widerstände der SPD, der Grünen und aus dem linksintellektuellen Lager in seiner inzwischen gereiften Philosophie, es bei der Reform nicht allzu forsch angehen zu lassen. Die Bundesrepublik war etwas größer und komplizierter als Rheinland-Pfalz und die Mehrheiten wackliger. Natürlich hat die sozialdemokratische Opposition ihr Bestes getan, seine Wirtschafts- und Sozialpolitik in die Nähe Ronald Reagans und Margaret Thatchers zu rücken, um sie dann als marktradial zu verurteilen. Tatsächlich hat sich der Bundeskanzler und CDU-Führer Helmut Kohl, dabei auf eine Mehrheit in der CDU gestützt, mit großem Nachdruck vom angelsächsischen Wirtschafts- und Sozialmodell abgegrenzt. Er hasste den Thatcherismus. Das Großkapital und die Manager der internationalen Konzerne waren ihm verdächtig. Die Überbürdung des Wohlfahrtsstaats in den Jahren Willy Brandts und Helmut Schmidts erweckte gewiss auch bei ihm Bedenken. Sein eigenes Konzept einer Politik der Mitte beinhaltete aber ein bloß moderates Umsteuern: Rückführung der „Staatsquote“, Kappung bloß der unfinanzierbaren Auswüchse der Sozialpolitik und Gesundheitspolitik bei gleichzeitigem Festhalten an ihren Errungenschaften, wenn nicht noch Ausdehnung in bestimmten Bereichen (Einbeziehung eines „Erziehungsjahrs“ ins Rentenrecht; Anhebung des Kinderfreibetrags); moderates Umsteuern bei den Renten (Krankenversicherungsbeitrag für Rentner), Zurückdrängung der Gewerkschaftsmacht (erinnert sei an die Auseinandersetzungen um den § 116 AFG), 9 Ralf DAHRENDORF, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, München 2003, S. 30. 10 Georg Christoph LICHTENBERG, Aphorismen, hg. von May RYCHNER, Zürich 1958, S. 508.
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Privatisierung dort, wo das zwingend erschien (Postdienste, Bundesbahn), Angebotspolitik – aber mit Maß und Ziel. Später hat man diesbezüglich vom Konzept des „Rheinischen Kapitalismus“ gesprochen. Mit der Formel „Politik der Mitte“ suchte Helmut Kohl auch die gleichfalls in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren aufkommende Reformbewegung der Grünen, die rasch auf die SPD übergriff, gewissermaßen zu domestizieren. In den USA, der bundesdeutschen Vorbildgesellschaft, war fast gleichzeitig mit dem Neo-Liberalismus eine teilweise gegenläufige Reformbewegungen aufgetreten mit starker Ausstrahlung auf die Bundesrepublik. Deren eine war der eben skizzierte Neo-Liberalismus, deren andere die „grüne“ Bewegung, die sich der Reinhaltung der Gewässer und der Luft, dem Kampf gegen die Vergeudung der natürlichen Ressourcen, der Verhinderung von Landschaftszerstörung und Verkehrslärm, dem Schutz der Tropenwälder, der Skepsis gegen Kernkraft, später der Bekämpfung des globalen Klimawandels verschrieben hatte. Zwar ließ sich der Abgeordnete Gruhl nicht in der CDU halten, aber dass die CDU Kohls, Geißlers, Wallmanns, Töpfers die Thematik aufzugreifen und – gleichfalls moderat – umzusetzen suchte, ist unbestreitbar. Das hat uns bei einer früheren Tagung mit dem Thema „Die Ära Kohl im Gespräch“ ausführlich beschäftigt.11 So ließen die ersten acht Jahre Helmut Kohls eine moderate Anverwandlung heterogener Reformimpulse erkennen. In Gestalt erst des Liberalen Kurt Biedenkopf, dann von Heiner Geißler, Norbert Blüm, Helga Wex, später von Rita Süssmuth, besaß die CDU einen Reformflügel, der in manchem zwar über das hinausgehen wollte, was Kohl für vernünftig, nicht zuletzt den Wählern und auch der Wirtschaft für zumutbar hielt. Wie stark er sich dieser Strömung aber doch verbunden wusste, zeigt die Tatsache, dass er Norbert Blüm die gesamten 16 Jahre der Kanzlerschaft hindurch auf seiner Schlüsselposition im Kabinett beließ, während Geißler immerhin elf Jahre lang im Amt des Generalsekretärs der CDU schalten und walten durfte, wenngleich periodisch gebremst und zu guter Letzt entlassen. Zwischen 1978 und 1989 tat Geißler jedenfalls sein Bestes, die CDU programmatisch als eine ausgeprägt soziale, familienpolitisch sensible, mild feministische und auch schon ökologisch reformerische Partei der linken Mitte zu platzieren. Dass die Reformimpulse des Bundeskanzlers natürlich von den gegnerischen Parteien oder engagierten Befürwortern weitergehender Reformen als halbherzig, unausgegoren und wenig wirkungsvoll kritisiert wurden, kann niemanden erstaunen. Der moderate Reformer Helmut Kohl, der er damals war, konnte es niemandem recht machen. Einer derer, die ihn einerseits bewunderten, andererseits sein Zögern beim Reformieren der Sozialpolitik immer wie11 „Die Ära Kohl im Gespräch: VI. Umweltpolitik“, in: HPM 13 (2006), S. 151–209, in diesem Band S. 291–349.
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der beklagten, war der Publizist Johannes Gross. Als er von der Warte der neunziger Jahre zurückblickte, meinte er desillusioniert: „So ist es trotz der Annonce von der Wende bei der Kontinuität geblieben, die auch den Generalbaß aller vorausgegangenen Regierungswechsel gebildet hatte. Umschwünge wie von Carter zu Reagan, von Giscard zu Mitterrand oder Labour zu Frau Thatcher, das ist nichts für Deutschland. Kontinuität und Stabilität – die Schlüsselwörter gelten einer inneren Verfassung, die soviel Marktwirtschaft wie nötig und soviel Wohlfahrtsstaat wie möglich als Prinzip einstellt.“ Es habe nur die „notwendigen Adjustierungen des Sozialstaats und seine nicht unabdingbar notwendigen Ausbauten gegeben ...“.12 Man könnte solchen und anderen Bewertungen in Bezug auf den Sozialstaat vergleichbare Äußerungen vonseiten grüner Autoren zur Umweltpolitik Helmut Kohls zur Seite stellen. Auch hier verfuhr der Bundeskanzler nach dem Grundsatz: soviel Ökologie wie nötig (Errichtung eines Umweltministeriums nach der Katastrophe von Tschernobyl, Einführung des Katalysators, Gewässerschutz usw.), aber auch soviel Wachstum wie möglich. Das Programm „Politik der Mitte“ vermag bei so oder anders Engagierten keine Begeisterung zu wecken, kennzeichnet aber hervorragend Kohls Grundeinstellung zum ständigen Reformbedarf moderner Gesellschaften. III. Damit ist unser geraffter Überblick am Beginn der neunziger Jahren angelangt, und die Frage unseres Symposions ist nun aufzugreifen: Hat die zweite lange Phase der Amtszeit Helmut Kohls acht lange Jahre des Reformstaus beinhaltet, wie das häufig gesehen wird? Oder ist in Bezug auf diese Periode ein Paradigmenwechsel geboten? Müsste man beim Rückblick aus dem Abstand von heute immerhin schon 10, 15 oder 20 Jahren nicht eher die Feststellung treffen, dass gerade in der zweiten Halbzeit der Ära Kohl in Deutschland Reformen von großer Tragweite in Gang gekommen sind? Schicken wir das Wichtigste voraus. In den acht Jahren von 1990 bis 1998 hat der zwischen 1982 und 1989 eher behutsame Reformer Helmut Kohl zwei Fundamentalreformen vom Typ I auf den Weg gesetzt und weit vorangebracht, deren Fernwirkungen bis zum heutigen Tag anhalten. Die erste dieser Reformen war die tiefgreifende Umgestaltung der am 3. Oktober 1990 beigetretenen neuen Länder, so dass ihre faktische Integration in das Verfassungs- und Gesellschaftssystem unumkehrbar wurde. Die zweite dieser Reformen ist mit der abschließenden Vollendung des Großen Binnenmarkts zum 31. Dezember 1991, mit den Verträgen von Maastricht, dann von Amsterdam und schließlich
12 Johannes GROSS, Begründung der Berliner Republik, Stuttgart 1995, S. 78.
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mit dem Eintritt in die 3. Phase der Wirtschafts- und Währungsunion vollzogen worden. Helmut Kohl hat die Bundesrepublik damit in ein dicht verfugtes Mehrebenen-System der Europäischen Union eingebracht. Damit wurde nicht nur die EU in ihren heutigen Strukturen geschaffen. Zugleich damit sind in Deutschland selbst fundamentale Veränderungen in vielen Dimensionen ausgelöst worden, von deren Tragweite sich die Öffentlichkeit immer noch keine klaren Vorstellungen macht. Zudem sind aber auch gewichtige Reformen von Teilbereichen erfolgt, von denen im Folgenden auf die Postreform, die Bahnreform und die Pflegereform einzugehen ist. Dass daneben manches unerledigt oder stecken blieb, wodurch Kohls Ruf als Reformer lädiert wurde, ist auch aus heutiger Sicht evident. Aber im Großen und Ganzen hat er in der zweiten Hälfte seiner 16 Kanzlerjahre mehr an langfristigen Veränderungen durchgesetzt als in den Jahren 1982 bis 1989. Viele der Ökonomen und Publizisten, die damals das Ausbleiben kräftiger Impulse zur Reform des überbürdeten Sozialstaats beklagten oder steuerliche Entlastungen anmahnten, haben den „Reformstau“ in starkem Maß als Folge der politischen und finanziellen Belastungen durch die Herstellung der inneren Einheit begriffen. Heute, da die Aufgabe weitgehend gelöst ist, wundert man sich im Nachhinein eher darüber, wie die Bonner Republik der Jahre 1990 bis 1998 völlig ohne Vorbereitung und natürlich von der Opposition und aus den ihr gewogenen Medien, wie es sich gehört, kritisiert, mit einem ziemlich beispiellosen Elan den Umbruch in den neuen Ländern improvisiert hat. Kritiker haben zwar unablässig beklagt, dass der nicht reformierte bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat zusammen mit vielen anderen bürokratischen Regelungen den neuen Ländern übergestülpt wurde. Tatsächlich aber war die faktische Integration der neuen Länder in die politische Ordnung und in die Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt-, Verkehrs- und Kultursysteme der „alten Bundesrepublik“ eine beispiellose Reformleistung. Analytiker, die das anerkannten, haben dies als eine „nachholende Modernisierung“ bezeichnet. Ostdeutschland, so hat einer von ihnen konstatiert, habe nach dem sozialistischen Umweg „im Schnellschritt“ den Weg in die moderne Gesellschaft zurückgelegt.13 Die großen Härten dieser Umstellung wurden durch volle Einbeziehung in die bewährten westdeutschen Sozialsysteme aufgefangen. Der Umbau der 13 Zit. nach Klaus SCHROEDER, Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, München 2006, S. 574. Der Begriff „nachholende Modernisierung“ findet sich im Titel eines Aufsatzes von Rainer GEIßLER , Nachholende Modernisierung mit Widersprüchen – eine Vereinigungsbilanz aus modernisierungstheoretischer Perspektive, in: Heinz-Herbert NOLL/Roland HABICH (Hg.), Vom Zusammenwachsen einer Gesellschaft. Analysen zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland, Frankfurt/M. 2000, S. 37–62. Neben der bislang maßgeblichen Studie von Klaus Schroeder siehe auch Jürgen WEBER (Hg.), Illusionen, Realitäten, Erfolge. Zwischenbilanz zur deutschen Einheit, München 2006.
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bankrotten DDR ist ohne Destabilisierung der deutschen Demokratie gelungen, wenn auch nicht ohne Malaise in den neuen Ländern. Zur gleichen Zeit, als in den „alten“ Ländern vielfach der Eindruck von Stillstand und von Reformstau vorherrschte, führten Bundesregierung und Deutscher Bundestag zusammen mit den Länderregierungen und Landtagen in den „neuen“ Ländern eine Fundamentalreform des Typs I durch. So wie einstmals in den fünfziger Jahren die frühe Bundesrepublik durch eine Vielzahl von Teilreformen insgesamt runderneuert worden ist, wurden in den neunziger Jahren die beigetretenen Länder einem radikalen Reformprozess unterworfen. Objektiv gesehen, erst recht aber aus der Perspektive der Teilnehmer und der Betroffenen, wurden die Veränderungen als eine Art Revolutionierung der wichtigsten Strukturen und der gesamten Lebensverhältnisse verstanden. So revolutionär diese Umgestaltung auch war, so eindeutig war dies eine Fundamentalreform, die streng gesetzlich, öffentlich kontrolliert, somit auch partiell korrigierbar verlief. Der östliche Teil des wiedervereinigten Deutschlands wurde radikal reformiert, ohne dass dies die Deutschen in den westlichen Ländern so recht zur Kenntnis nahmen. Nur die dabei anfallende Steuerlast und die Belastung der Sozialbeiträge sowie unablässige Klagen in den Medien erinnerten daran, dass im östlichen Deutschland alles von Grund auf neugestaltet wurde. Dass die Improvisation nicht ohne eine Vielzahl von Fehlern ablaufen konnte, versteht sich von selbst. So war beispielsweise das jahrelange Tauziehen um den „Soli“ mit seinem Rin-in-die-Kartoffeln, Raus-aus-die-Kartoffeln, dann wieder Rin-in-die-Kartoffeln und erneut halb Raus-aus-die-Kartoffeln geradezu ein Musterbeispiel für die von Popper gerühmte Methode von Trialand-Error. Doch so vollzieht sich eben demokratische Politik unter den Bedingungen von Koalitionen, Parteienwettbewerb, Medienkritik und Verbandsmacht. Trotz alledem wird die künftige Forschung doch zu fragen haben, ob der „Aufbau Ost“ in allen seinen Dimensionen nicht als eine der wichtigsten Reformleistungen der Regierung Kohl begriffen und auch einmal unter diesem Aspekt dargestellt werden sollte. Selbst wenn Helmut Kohl an Reformen in den neunziger Jahren nicht mehr vorzuweisen hätte als die alles in allem politisch und ökonomisch, wenn auch lange Zeit nicht durchweg psychologisch gelungene Integration völlig heterogener fünf Länder in die Bundesrepublik, dies zusammen mit dem von Miserabilität nicht freien Stadtstaat Berlin, wäre das für acht Jahre eine hinlängliche Menge an Reformleistungen. Wie bei allen Reformen ist auch hier zu fragen, ob man diese Reform primär dem Bundeskanzler zuschreiben kann. Doch es ist und bleibt eine Tatsache, dass tiefgreifende Reformen nun einmal den Persönlichkeiten an der Spitze der politischen Machtpyramiden zugeschrieben werden, von denen die Impulse ausgehen, die dafür auch dementsprechend kritisiert werden, weil sie im Positiven wie im Negativen die letzte Verantwortung zu tragen haben. So identifizieren wir die „neue Ostpolitik“ mit Willy Brandt, die Konstruktion des
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EWS mit Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing oder die Agenda 2010 mit Gerhard Schröder. Selbstverständlich zeigt jede Analyse der Entscheidungsprozesse, dass neben den Spitzenchargen immer auch viele andere beteiligt sind und im Einzelnen die Ergebnisse mit strukturieren und implementieren: zuständige Bundesminister und hohe Beamte, die Ministerpräsidenten und Kabinette der Länder, die maßgeblichen Akteure in den Kommunen usw. Aber die entscheidenden Impulse für die Reformstrategien, für die budgetären Prioritäten, auch für die Einsetzung des Spitzenpersonals und für die politische Absicherung des Aufbaus Ost sind von dem Bundeskanzler ausgegangen. Die umfassende Neugestaltung harrt noch der Historiker, die sie so facettenreich darzustellen haben werden, wie dies ein derart komplizierter Reformvorgang verdient. Presseberichte, verfügbare interne Quellen und die Befragungen von Zeitzeugen lassen aber bereits erkennen, dass Helmut Kohl dieser Aufgabe zeitliche, gesetzgeberische und budgetäre Priorität eingeräumt hat. Aus den dramatischen Jahren des Aufbaus Ost bleiben manche Persönlichkeiten in Erinnerung. Der gewichtigste dieser Reformer war aber zweifellos Helmut Kohl. Er hat in der Umgestaltung der neuen Länder nicht nur eine erstrangige politische Aufgabe gesehen, die gelingen musste, aber auch scheitern konnte. Sie war ihm nach dem Bekunden aller, die ihn dabei beobachtet haben, eine Herzensangelegenheit. Wenden wir uns der zweiten Fundamentalreform der neunziger Jahre zu, dem Aufbau Europas und, damit verbunden, der Europäisierung des wiedervereinigten Deutschlands.14 Eingangs war zu erwähnen, dass manche Reformen nicht als solche bezeichnet und diskutiert werden, weil es die öffentliche Diskussion versäumt hat, die entsprechende Gesetzgebung explizit mit dem Begriff Reform zu kennzeichnen. So ist es Helmut Kohl bisher mit seinen europapolitischen Reformimpulsen ergangen, die Deutschland und Europa noch sehr viel tiefgreifender umgestaltet haben als der Aufbau Ost. Die Fernwirkungen dieser Entscheidungen werden noch weit über unsere Gegenwart hinaus strukturprägend sein. Jahrelang hat man sich in den neunziger Jahren 14 Aus der uferlosen Literatur zu dem Thema seien genannt: Stefan FRÖHLICH, Die Europäisierung der Bundesrepublik, in: SCHWARZ, Die Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 6), S. 511–530. Verlässliche Darstellungen zur Evolution der deutschen Europapolitik unter Helmut Kohl finden sich in dem von Werner WEIDENFELD und Wolfgang WESSELS herausgegebenen Jahrbuch der Europäischen Integration (Baden-Baden, 1982ff.). Zur Rolle Bundeskanzler Kohls bei der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion siehe die Darstellungen von David MARSH, Der Euro. Die geheime Geschichte der neuen Weltwährung, Hamburg 2009; Hans TIETMEYER, Herausforderung Euro. Wie es zum Euro kam und was er für Deutschlands Zukunft bedeutet, München 2005; Kenneth DYSON/Kevin FEATHERSTONE, The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union, Oxford 1999. Zur Europapolitik in der ersten Hälfte der Amtszeit Helmut Kohls siehe Eckart GADDUM, Die deutsche Europapolitik in den achtziger Jahren. Interessen, Konflikte und Entscheidungen der Regierung Kohl, Paderborn 1994.
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über die Einführung einer Pflegeversicherung, über Rentenreform, Gesundheitsreform oder Steuerreform gestritten, alles wichtige Fragen gewiss, aber doch eher zweitrangig. Sieht man einmal von der Pflegeversicherung ab, die ein neues Projekt war, so handelte es sich bei den anderen Reformprojekten doch eher, um mit Johannes Gross zu sprechen, um „Adjustierungen“ bereits lang eingeführter Systeme. Die zweite Fundamentalreform aus heutiger Sicht, neben dem Aufbau Ost, aber war die Gesamtheit europarechtlicher und staatsrechtlicher Neuerungen, die man abgekürzt mit dem Wort Europäisierung bezeichnen kann. Vor der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 hatte die Integration der Bundesrepublik in die Europäischen Gemeinschaften nur wichtige Teilbereiche erfasst, so beispielsweise die Montanindustrie, den Außenhandel und die Zollpolitik, die Landwirtschaft, die Verkehrspolitik, auch schon die Regionalpolitik. Noch konnte man von Teilintegration sprechen. Das änderte sich seit Mitte der achtziger Jahre grundlegend: Einheitliche Europäische Akte (1986), Beschlüsse über die Errichtung des Großen Binnenmarkts bis zum 31. Dezember 1991, der Vertrag von Maastricht über die Politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion (1992), der Vertrag von Amsterdam (1997) und der definitive Beschluss des Europäischen Rats vom 3. Mai 1998, am 1. Januar 1999 in vorerst elf Ländern der EU den „Euro“ als alleinige Währung einzuführen. Das verband sich mit der Erweiterung der EU um Österreich, Schweden und Finnland zum 1. Januar 1995, mit dem Wegfall der Grenzkontrollen im Schengen-Raum und mit dem Beginn von Beitrittsverhandlungen mit den neuen Demokratien in Osteuropa und Ostmitteleuropa. Mitte der achtziger Jahre war die Bundesrepublik ebenso wie die anderen EG-Mitgliedsländer noch nicht mehr als ein teilintegriertes, wenngleich schon Europa-offenes Land gewesen. Am Ende der 16-jährigen Amtszeit Helmut Kohls war sie Teil eines vertraglich fest verfugten europäischen Mehrebenensystems und eines auf zahlreichen, zuvor nicht integrierten Feldern politisch gleichfalls fest verfugten Binnenmarktes mit Einbeziehung zahlreicher weiterer Politikfelder bisheriger Innenpolitik (Asylrecht, Rechtspolitik, Verbrechensbekämpfung) und Außenpolitik in ein System, das sich aus kooperativen, zunehmend integrativen Strukturen zusammensetzte. In wichtigen Bereichen – Steuerpolitik, Sozialpolitik, Kultur, Sicherheitspolitik – hielten die den Staaten zwar weiterhin an ihrer Souveränität fest; mehr als Kooperation war vielfach nicht durchsetzbar. Aber dennoch: Zwischen 1990 und 1998 wurde ein breiter Fächer denkbar weitreichender Reformen angeschoben und vertraglich festgeklopft – Reformen, die an Bedeutung überhaupt nur mit den Grundsatzentscheidungen in der Ära Adenauer von 1949 bis Ende der fünfziger Jahre vergleichbar sind. Politisch gesehen, war die Bundesrepublik im Jahr 1998, als die Wähler hinter die Ära Kohl den Schlusspunkt setzten, faktisch nur noch teilsouverän.
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Die europäischen Reformen brachten eine entscheidende Zuständigkeitsverlagerung einerseits von den parlamentarischen Gremien des Bundes und der Länder zu den europäischen Institutionen, andererseits, im Innern der Bundesrepublik, vom Deutschen Bundestag, aber auch von den Ländern zur Exekutive des Bundes. Politische Systeme, deren Gesetzgebung zu 70 oder 80 Prozent öaufgrund von Brüsseler Rechtsakten erfolgen, sind qualitativ verschieden von den Systemen nationalstaatlicher Demokratien. Genauso verändert hat sich im Verlauf von wenigen Jahren das Wirtschaftssystem, das Arbeitsrecht mit inbegriffen. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Vertrag von Maastricht wurden zahlreiche Teilsysteme ziemlich weitgehend integriert. Genannt seien beispielshalber nur wenige: Umweltschutz, Verkehrspolitik, Gesundheitspolitik, Verbraucherschutz, Technologiepolitik, Asylpolitik und weitere zwei oder drei Dutzend Politiken mehr. Unnötig, ins Detail zu gehen. Niemand wird bestreiten, dass die Gesamtheit dieser Verflechtung das Wirtschaftssystem und Teile des Sozialsystems stärker verändert hat als alle anderen Reformen desselben Zeitraums. In den neunziger Jahren ist die Nationalökonomie im überkommenen Sinne auch in Deutschland zu Ende gegangen, wahrscheinlich für immer. Die Umgestaltung begann schon in der ersten Hälfte der Kanzlerschaft Kohls15, erfolgte aber doch zu großen Teilen in den neunziger Jahren. Es ist gar kein Zweifel daran möglich, dass diese Fundamentalreform ohne den Bundeskanzler Helmut Kohl nicht so weitreichend und tiefgreifend ausgefallen wäre. An der Feststellung ist somit wenig zu rütteln, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik nach den fünfziger Jahren nur eine einzige Phase gegeben hat, in der durch die mit zahllosen Einzelentscheidungen substantiierten Europa-Verträge und durch die Gesetzgebung sowie Myriaden von Einzelentscheidungen zum Aufbau Ost Fundamentalreformen des politischen Systems und der Wirtschaftsordnung durchgesetzt wurden – die neunziger Jahre während der zweiten Hälfte der Kanzlerschaft Helmut Kohls. Es findet sich zwar dann und wann noch ein Historiker, der die These verficht, die sozial-liberale Koalition habe während der frühen siebziger Jahre eine „Umgründung der Republik“ vollzogen. Beim Vergleich mit den ungeheuren Veränderungen der neunziger Jahre, deren Auswirkungen nur langsam ins öffentliche Bewusstsein treten, sind jedoch unter Brandt und Scheel allenfalls zweitrangige und drittrangige gesetzgeberische Reformen erfolgt. Die Geschichtswissenschaft macht sich das nur deshalb nicht so recht klar, weil sie – bedingt nicht zuletzt
15 Siehe dazu „Die Ära Kohl im Gespräch: III. Von der »Eurosklerose« zum Maastrichter Vertrag“, in: HPM 10 (2003), S. 255–309, in diesem Band S. 111–167. Zur Einordnung der Europapolitik in die Gesamtheit der Kanzlerschaft vor 1989 siehe Andreas WIRSCHING, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 6), München 2006.
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durch die Dreißigjahr-Sperrfrist auf amtlichem Archivgut – heute immer noch in den späten sechziger und siebziger Jahren herumkrebst, nur wenige wagen sich schon in die achtziger Jahre. So sind die tiefgreifenden Veränderungen der neunziger Jahre noch nicht so recht ins Historikerbewusstsein gedrungen. Wer sich einen Überblick über die Vorgänge in den neunziger Jahren verschaffen will, muss die Publikationen der Politologen studieren.16 Helmut Kohl hat sich bei seiner Europapolitik von zwei großen Visionen leiten lassen. Er wollte durch unauflösliche Integration einen Rückfall in die Jahrhunderte andauernden Kriege zwischen den Staaten Europas ein für allemal verhindern. Dazu schien es ihm zwingend, durch Europäisierung Deutschlands, der ohne Einbindung in die Europäischen Union furchterregenden Zentralmacht Europas, die Akzeptanz im europäischen Staatensystem sicherstellen. „Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft“, schreibt er rückblickend auf den Vertragsabschluß in Maastricht, „waren jetzt in einer Weise miteinander verbunden, die ein Ausbrechen und einen Rückfall in nationalstaatliches Denken unmöglich machte.“17 Zugleich damit sollte aber auch das vereinte Europa für die Selbstbehauptung im 21. Jahrhundert fit gemacht werden. Erinnert sei nochmals an das, was eingangs zum „Gesetz der Beschleunigung“ ausgeführt wurde. Ungewollt, aber auch unvermeidlich, hat die Europäisierung der größeren und kleineren Staaten auch das Tempo des globalen Umbruchs beschleunigt. Helmut Kohl hat zwar unablässig betont und auch darauf einzuwirken versucht, dass aus der EU kein zentralstaatlicher Akteur werden dürfe, vielmehr ein föderales System, das sich an den Grundsätze der Subsidiarität zu orientieren hätte. Er wollte auch, dass die EU als Akteur eigenen Gewichts in den Machtverschiebungen der Globalisierung die Interessen der Länder Europas sichere. Ob das erreicht wurde, ja überhaupt voll erreichbar sein wird, ist sicherlich zu fragen. Und gewiss hatte auch die von vielen begrüßten Auflösung der Deutschland AG, die Integration der europäischen Finanzmärkte und die jetzt im ganzen Euro-Raum geltende Zinspolitik der EZB ihren Preis.18 Den Vorteilen von Fundamentalreformen stehen zu16 Verwiesen sei auf diese durchgehend forschungsgestützte Darstellung von Hans Karl RUPP, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., München 2009. Von den dichten 435 Textseiten (dazu 28 Seiten gut gewichtete Literaturverweise) behandeln immerhin 214 Seiten die Jahre von 1982 bis 2009, davon 127 die Jahre 1990 bis 2009. Siehe auch die Beiträge in: SCHWARZ, Die Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 6). 17 Helmut KOHL, Erinnerungen 1990–1994, München 2007, S. 385. 18 Eine uneingeschränkt positive Bewertung des Euros aus ökonomischer Sicht gibt Kurt VIERMETZ, Der Euro als Antwort auf die Globalisierung, in: Peter RAMSAUER (Hg.), Weichenstellungen für Deutschland und Europa. Festschrift für Theo Waigel zum 70. Geburtstag, München 2009, S. 247–256. Die von Deutschland bisher nicht voll bewältigten Implikationen analysiert Hans-Werner SINN, Ist Deutschland noch zu retten?, München 2003, hier S. 57–113.
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meist auch gewisse Nachteile gegenüber. Dennoch gilt: Die Europäisierung Deutschland ist und bleibt die mit großem Abstand wichtigste Reform Helmut Kohls, die er während der neunziger Jahre mit beispielloser Zähigkeit und Unbeirrbarkeit durchgesetzt hat. Im Anschluss an diese Fundamentalreformen seien zwei Teilreformen des Typs II genannt, die explizit als Reformprojekte begriffen worden sind und deren Auswirkungen sich heute schon einigermaßen abschätzen lassen: die Postreform und die Reform der Bundesbahn. In beiden Fällen wurden durch eine Abfolge von Gesetzen völlig neue Strukturen geschaffen. Bei der Postreform gab es gewissermaßen zwei treibende Kräfte, zum einen die rasante technologische Entwicklung des internationalen Telekommunikationssektors19, zum anderen den Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling. Der Bundeskanzler hat sich darauf beschränkt, die Arbeit seines Fachministers politisch zu unterstützen, ihn gelegentlich zu bremsen, im Großen und Ganzen aber die Reform vorantreiben zu lassen. Die Fachleute waren damals ziemlich übereinstimmend der Meinung, dass der Modernisierungs- und Finanzierungsbedarf von der guten alten Postverwaltung mit mehr als einer halben Million gewerkschaftlich gut organisierter Postbeamter und Angestellter nicht mehr zu bewältigen gewesen wäre. Die Vorbereitungsphase fiel in die späten achtziger Jahre. Kurz bevor der Wiedervereinigungsprozess in Gang kam, am 1. Juli 1989, trat die Postreform I in Kraft. Auch hier war die Liberalisierungspolitik der EU ein wichtiger Faktor. Die Bundesrepublik hätte sich isoliert, wären keine neuen Organisationen für den Telekom-Bereich geschaffen worden. Als es zur Wiedervereinigung kam, wurde gleichfalls deutlich, dass der hohe Investitionsbedarf in den neuen Ländern auf mittlere Sicht nur durch den Börsengang zu finanzieren war. Auch auf diesem Feld reichte die Reform weit in die neunziger Jahre hinein. Die Postreform II mit der Gründung dreier Aktiengesellschaften Deutsche Telekom AG, Deutsche Post AG und Deutsche Postbank AG trat am 1. Januar 1995 in Kraft.20 Was eben über die generelle Ambivalenz von Reformen ausgeführt wurde, gilt auch für diese Reform. Zum einen führte sie zu erheblichen Preissenkungen. Ohne die Reform hätte Deutschland nicht so rasch Anschluss an das Internet-Zeitalter gefunden. Ob sich indessen die Postbank hält, ist unklar. Und viele zweifeln daran, ob der Aufbau des international tätigen Logistikkonzerns Deutsche Post AG den Service für den Postkunden nicht bereits erheblich ver-
19 Dazu Kenneth DYSON/Peter HUMPHREYS (Hg.), The Political Economy of Communications. International and European Dimensions, London 1990, und Clemens FUEST, Weltweiter Privatisierungstrend in der Telekommunikation, Köln 1992. 20 Siehe zum gesamten Reformprozess Eva-Maria RITTER, Deutsche Telekommunikationspolitik 1989–2003 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 142), Bonn 2004.
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schlechtert hat und weiterhin verschlechtern wird. Tatsache ist jedenfalls, dass in den neunziger Jahren im Post- und Fernmeldewesen die Reform eines Teilbereichs erfolgte, mittels derer das vorherige System völlig erneuert wurde. Wie unwiderstehlich der sachliche Druck zur Aufgabe der Behördenpost war, zeigte übrigens die Tatsache, dass selbst die SPD-Opposition den Grundgesetzänderungen des Artikels 87 zugestimmt hat. Im Vergleich mit der Postreform hat der Bundeskanzler an der Bahnreform persönlich intensiven Anteil genommen. Während die Postreform bereits auf dem Weg war, als der Investitionsbedarf bei der Wiedervereinigung zusätzlichen Handlungsdruck erzeugte, befand sich die Bahnreform 1989 erst in der Konzeptphase. Am 12. Juli 1989 hat die Bundesregierung die Regierungskommission Bundesbahn eingesetzt.21 Im Fall der Postreform war der zuständige Ressortchef Schwarz-Schilling die treibende Kraft, im Fall der Bahnreform der seit Herbst 1990 amtierende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bundesbahn (seit Herbst 1991 auch der Reichsbahn) Heinz Dürr. Eine Vielzahl von Faktoren erzwang eine Reform: die Verschuldung (1988 bereits 3,9 Mrd. mit rasch wachsender Tendenz), die verschlechterte Ertragslage, der Zwang zur technischen Modernisierung der Strecken und des Fahrzeugparks, die Erwartung einer Liberalisierung des europäischen Bahnverkehrs, der ungeheure Investitionsbedarf in den neuen Ländern, das Risiko, bei einer Fortführung der Beamtenbahn würden zu den rund 140.000 Beamten im Bahndienst weitere Zehntausende von Bahnbediensteten aus der ehemaligen DDR hinzukommen, die gleichfalls hätten verbeamtet werden müssen. Ein nicht unwichtiger Faktor war auch das Beispiel der damals als erfolgreich eingeschätzten Bahnprivatisierung in Japan. Auch hier ist es unmöglich, auf Einzelheiten einzugehen. Wiederum wurde die Form einer Aktiengesellschaft gewählt, und einmal mehr ließ sich das Gesetzespaket nur deshalb erfolgreich durch die parlamentarischen Gremien steuern, weil auch die oppositionelle, im Bundesrat dominierende SPD der Grundgesetzänderung zustimmte. Dass mit der Reform eine spürbare Modernisierung des Schienenverkehrs ermöglicht wurde, ist aus heutiger Sicht nicht zu bestreiten. Zugleich muss auf die Ambivalenzen hingewiesen werden. Die ländlichen Bahnhöfe sowie viele der kleineren Vorortsbahnhöfe sind in einem betrüblichen Zustand und wie bei der Reform der Bundespost zahlt der individuelle Kunde durch Verschlechterung des Service bei der Fahrkartenausga-
21 Zum Folgenden siehe Hans-Peter SCHWARZ, Wiedervereinigung und Bahnreform 1989– 1994, in: Lothar GALL und Manfred POHL (Hg.), Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 377–418. Zur Rolle Helmut Kohls siehe den anschaulichen Bericht von Heinz DÜRR, In der ersten Reihe. Aufzeichnungen eines Unerschrockenen, Berlin 2008.
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be. Dass die Reformen in beiden Fällen auch vom Personal der neuen AGs kritisiert werden, sei immerhin erwähnt. Richten wir den Blick nun auf ein weiteres Reformprojekt der frühen neunziger Jahre: die bereits erwähnte Pflegeversicherung. Kein Reformvorhaben hat die Bundesregierung, die Koalitionsparteien und die Fraktionen zwischen 1990 und 1994 so stark beschäftigt und auch entzweit wie das Projekt der umlagefinanzierten Pflegeversicherung. Das Konzept selbst kam von den Sozialpolitikern der CDU und der CSU und ist schließlich von Norbert Blüm mit größter Hartnäckigkeit allen Beteiligten abgerungen worden. Helmut Kohl war von der sachlichen Notwendigkeit überzeugt, das System der Sozialversicherung um eine fünfte Säule zu ergänzen, würdigte allerdings durchaus das Argument, dass sich die ohnehin schon sehr hohe Belastung des Faktors Arbeit dadurch noch vergrößere. Ohne seine massive Unterstützung wäre das Projekt am Widerstand der FDP und der Wirtschaftsverbände gescheitert. Auch hier verbietet es sich, ins Detail einzutreten.22 Um die Zustimmung der Wirtschaft und der FDP zu erreichen, wurde schließlich (außer in Sachsen) der Buß- und Bettag abgeschafft – ein einmaliges Beispiel bisher eines staatlichen Eingriffs in das seit der Frühzeit der Bundesrepublik etablierte System großzügig bemessener kirchlicher Feiertage. Wie so oft bei derartigen Reformen zeigte sich freilich, dass die Hoffnung auf ein im Wesentlichen beitragsfinanziertes System zu optimistisch gewesen war. Um 2001 waren Einnahmen und Ausgaben noch einigermaßen im Gleichgewicht. 2003 war bereits ein Defizit von 700 Mio. Euro zu verzeichnen, und die Vorzeigereform der frühen neunziger Jahre wurde zum Teilaspekt eines kaum mehr finanzierbaren Gesundheitswesens. Die theoretisch denkbaren, zugleich aber unwillkommenen Alternativen, die bereits bei der allgemeinen Krankenversicherung seit Jahrzehnten für politischen Streit sorgten, wurden nun auch bei der Pflegeversicherung hin und her gewendet: Aufhebung der beitragsfreien Mitversicherung von Ehegatten, Einbeziehung der bisher Privatversicherten in die umlagefinanzierte Pflegeversicherung, Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, Einführung eines Bundeszuschusses, Ausweitung der Einkommensarten zur Finanzierung oder aber partieller oder vollständiger Wechsel zu einer kapitalfundierten Pflegeversicherung. Der Streit dauert bis zum heutigen Tag an und wird nur deshalb erwähnt, um an das bereits Angedeutete zu erinnern, dass Reformen unablässig „Adjustierungen“ im Gefolge haben, ohne die Reformdiskussion je ruhigstellen zu können. Allzu viel Freude hatten die Befürworter der umlagefinanzierten Pflegeversicherung auf längere Sicht jedenfalls nicht an einem Projekt, das über eine ganze Legislaturperiode der frühen neunziger Jahre hinweg für heftigsten Streit gesorgt hatte. 22 Siehe dazu „Die Ära Kohl im Gespräch: VIII. Die Sozialpolitik vor und nach der Wiedervereinigung“, in: HPM 15 (2008), S. 233–287, in diesem Band S. 421–458.
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So könnte nun Bereich für Bereich abgeklopft werden: die Ansätze zur Gesundheitsreform, die 1997/98 am Widerstand der SPD im Bundesrat auf Sand geratene sogenannte Große Steuerreform, die Rentenreform unter Einführung eines demographischen Faktors bei allseits bedauertem Abgehen von der ursprünglich bruttolohnbezogenen Rente. Genauso wie unter früheren und nachfolgenden Koalitionsregierungen zeigte sich auch unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls in den neunziger Jahren, dass zwar überall Reformbedarf bestand mit entsprechenden Ankündigungen, Reforminitiativen und Gesetzgebungsprojekten, ohne dass sich von der Natur der Sache her aber dauerhafte Lösungen erreichen ließen. Wer diesbezüglich im Nachhinein dem Bundeskanzler der neunziger Jahre ein Übermaß an Herumfummeln, Zögern und Kompromissbereitschaft vorhält, verkennt die Eigenart von Teilreformen in völlig verfilzten Bereichen wie dem Steuersystem, dem Gesundheitssystem oder dem Rentensystem, wo im Regelfall nie mehr drin ist als mühsame „Adjustierungen“. Auf diesen Feldern erinnert jeder Bundeskanzler an den berühmten, mit Schlangen ringenden Laokoon aus der homerischen Sage, selbst ein Riese wie Helmut Kohl. Fassen wir zum Schluss die Hauptpunkte nochmals zusammen. Anders, als es die Fama will, hat Helmut Kohl in den neunziger Jahren zwei ganz große Reformen von weitreichender Bedeutung zustande gebracht: die Rundumreform der neuen Länder, ohne dabei die alte Bundesrepublik zu denaturieren, und die Europäisierung des deutschen politischen Systems und der deutschen Wirtschaft – eine Reformleistung, deren weitreichende Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Somit hat er sich als Kanzler des großen Übergangs von der alten zur neuen Bundesrepublik bewährt, noch mehr aber als Gestalter des Vereinten Europa, dessen heutige Form ohne ihn nicht vorstellbar wäre.
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Auswahlbibliographie
Auswahlbibliographie
MITARBEITER
DES
BANDES
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Auswahlbibliographie
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Günter BUCHSTAB, Dr. phil., bis Februar 2009 Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin Claus DETJEN, Journalist, Verleger, Zeitungsverlag Schwäbisch Hall GmbH Klaus VON DOHNANYI, Dr. jur., Bundesminister a. D., von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Stefan FRÖHLICH, Dr. phil., Professor für Politische Wissenschaft, FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg Manuela GLAAB, Dr. phil., Leiterin der Forschungsgruppe Deutschland am Centrum für angewandte Politikforschung (C.A.P.) der Ludwig-Maximilians-Universität München Hans Günter HOCKERTS, Dr. phil., Professor für Neueste Geschichte, LudwigMaximilians-Universität München Walter HORNSTEIN, Dr. phil., em. Professor für Sozialisationsforschung, Gauting Hanns Jürgen KÜSTERS, Dr. rer. pol., Hauptabteilungsleiter Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin; apl. Professor für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Norbert LAMMERT, Dr. rer. soc., Professor, MdB, Präsident des Deutschen Bundestages, stv. Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Berlin Ulrich LAPPENKÜPER, Dr. phil., Professor, Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh; Professor für Neuere Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Klaus LARRES, Dr. phil., Professor für Geschichte und Internationale Beziehungen, University of Ulster, Großbritannien Werner LINK, Dr. phil., em. Professor für Politikwissenschaft, Universität zu Köln Klaus W. LIPPOLD, Dr. rer. pol., 1983–2009 MdB, Offenbach Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Dr. rer. pol., Professorin für Politische Wissenschaft, Institut für Politikwissenschaft und Sozialforschung, JuliusMaximilians-Universität Würzburg Ursula MÜNCH, Dr. phil., Professorin für Innenpolitik und Vergleichende Regierungslehre, Universität der Bundeswehr München Anton PFEIFER, Staatsminister a. D., bis 2009 stv. Vorsitzender der KonradAdenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin Michael RICHTER, Dr. phil., Hannah-Arendt-Institut, Dresden Gerhard A. RITTER, Dr. phil., em. Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München Andreas RÖDDER, Dr. phil., Professor für Neueste Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Mitarbeiter des Bandes
Helmut RÖSCHEISEN, Dr. rer. soc., seit 1980 Generalsekretär des Deutschen Naturschutzrings, Bonn Peter SCHIWY, Dr. jur., Rechtsanwalt, Intendant a. D.; Honorarprofessor für Gesundheitsrecht, Medienrecht und Medienpolitik, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Manfred G. SCHMIDT, Dr. rer. pol., Professor für Politische Wissenschaft, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Beate SCHNEIDER, Dr. phil., Professorin für Journalistik, Medienwissenschaft und Medienmanagement, Hochschule für Musik und Theater Hannover Oscar SCHNEIDER, Dr. jur., Bundesminister a. D., Nürnberg Günther SCHULZ, Dr. phil., Professor, Leiter der Abteilung Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Hans-Peter SCHWARZ, Dr. phil., Dr. h.c., em. Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte, Gauting Christian SCHWARZ-SCHILLING, Dr. phil., Bundesminister a. D.; Hoher Repräsentant und EU Sonderbeauftragter in Bosnien und Herzegowina a. D.; Professor an der „Sarajevo School of Science and Technology“ Gerhard STOLTENBERG (†), Dr. phil., Bundesminister a. D. Bernhard VOGEL, Dr. phil., Ministerpräsident a. D.; Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin Matthias Theodor VOGT, Dr. phil., Professor für Kulturpolitik, Hochschule Zittau/Görlitz Gerhard VOSS, Dr. rer. pol., bis 2005 Leiter der Forschungsstelle Ökonomie/ Ökologie beim Kölner Institut der deutschen Wirtschaft Helmut WEIDNER, Dr. phil., Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Privatdozent für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin Jürgen WILKE, Dr. phil., Professor für Publizistik, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dorothee WILMS, Dr. rer. pol., Dipl. Volkswirtin, Bundesministerin a. D., Köln Andreas WIRSCHING, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg Reimut ZOHLNHÖFER, Dr. rer. pol., Professor für Politikwissenschaft, OttoFriedrich-Universität Bamberg Werner ZOHLNHÖFER, Dr. rer. pol., em. Professor für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz