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German Pages 334 [337] Year 2019
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Das Erste Vatikanische Konzil
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Julia Knop/Michael Seewald (Hrsg.)
Das Erste Vatikanische Konzil Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27136-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-74395-7 eBook (epub): ISBN 978-3-534-74396-4
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Inhalt Vorwort (Julia Knop, Michael Seewald)
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DAS KONZIL IM KONTEXT SEINER ZEIT „Woher der religiöse Zweifel?“ Zur Krisendiagnostik deutschsprachiger Apologeten im Umfeld des Ersten Vaticanums (Florian Baab) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Positionierung der Kirche in der Moderne. Hintergrund der Unfehlbarkeitsdiskussion (Klaus Schatz) . . . . . . . . . . . . . . .
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OFFENBARUNG, GLAUBE UND VERNUNFT Recta ratio fundamenta fidei demonstret? Das Spannungsverhältnis von Glaube und Vernunft in der Sicht des Ersten Vaticanums (Ursula Schumacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kommunikation der Offenbarung. Das revelatorische Prinzip von Dei filius (1870) im Vergleich zu Dei verbum (1965) (Bernhard Fresacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vom Lehren zum Hören? Offenbarungsmodelle und Evangelisierungskonzepte im Übergang vom Ersten zum Zweiten Vaticanum (Christian Bauer) . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gottesbeweise, Offenbarung und propositionaler Gehalt. Über den Glauben nachdenken mit Dei Filius (Benedikt Paul Göcke) 117 DIE THEOLOGIE DES PAPSTAMTES Päpstliche Unfehlbarkeit – oder: Dogmen als Machtworte? (Hans-Joachim Höhn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Im Zeichen des Jurisdiktionsprimats (Georg Bier) . . . . . . . . . . 155
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Inhalt
Der Papst – kirchenrechtlich ein absolutistischer Wahlmonarch (Thomas Schüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Der Papst als Souverän und die Kirche als Gemeinschaft. Zur dogmatischen Weiterentwicklung des Ersten Vatikanischen Konzils (Michael Seewald) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Synodalität von oben nach unten. Der lange Schatten des Ersten Vaticanums (Julia Knop) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Ecclesia docens – Ecclesia discens: Von der Hartnäckigkeit eines Vorurteils und wie man es verabschieden kann (Johanna Rahner) . 233 „The Medium is the Message“. Zur medialen Selbstdarstellung des Papsttums heute (Mariano Barbato) . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 DAS KONZIL ALS ÖKUMENISCHE HERAUSFORDERUNG Das Papstamt aus evangelischer Sicht. Ökumenische Herausforderungen des Ersten Vaticanums (Anne Käfer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 „Wir halten fest an der alten Verfassung der Kirche“. Ein Blick auf das Erste Vatikanische Konzil und seine Folgen aus alt-katholischer Sicht (Andreas Krebs) . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Das Erste Vatikanische Konzil im Spiegel der rumänischorthodoxen Theologie (Daniel Benga) . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Aufzuheben? Ökumenische Aspekte in der Rezeption des Ersten Vatikanischen Konzils (Dorothea Sattler) . . . . . . . . . . 318
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . 333
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Vorwort Als das Erste Vaticanum am 8. Dezember 1869 eröffnet wurde, ging eine Phase von über dreihundert Jahren zu Ende, in der kein – der katholischen Bedeutung des Wortes nach – Ökumenisches Konzil stattfand. Zwischen dem Tridentinum und dem Ersten Vaticanum hatte sich die Welt und mit ihr die Kirche grundlegend verändert. Ein großer Teil jener Dynamiken und Ideen, die wir heute als „modern“ bezeichnen, sind zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert entstanden. Die Art und Weise, in der die Dogmatischen Konstitutionen des Ersten Vatikanischen Konzils, Dei Filius und Pastor Aeternus, die katholische Kirche in der Moderne zu verorten suchten, prägt das Gesicht dieser Kirche bis heute. Den 150. Jahrestag der Eröffnung des Konzils nehmen wir daher zum Anlass, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Konfessionen und aus unterschiedlichen (vornehmlich theologischen) Disziplinen zu befragen, inwieweit die Festlegungen dieses Konzils oder die aus ihnen resultierenden strukturellen Konsequenzen die Selbstdeutung der Kirche noch heute beeinflussen oder gar bestimmen. Bei der Frage nach der Stellung des Papstes und der ökumenischen Problematik des Petrusdienstes dürfte die bleibende Relevanz offensichtlich sein. Das Konzil hat aber auch Wegweisendes zum Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft sowie Offenbarung und Erkenntnis formuliert, über das es sich zu diskutieren lohnt. Wir danken Susanne Fischer von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt, die diesen Band angeregt und geduldig begleitet hat. Die formale Bearbeitung der Beiträge wurde von Mitarbeitenden und Hilfskräften an den Universitäten Erfurt und Münster übernommen. Wir danken Dr. Johannes Elberskirch und Dominique-Marcel Kosack sowie Michelle Dylong, Anna Lintz, Maximilian Mattner und Ludwig Motz. Erfurt und Münster, im Oktober 2019 Julia Knop und Michael Seewald
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Das Konzil im Kontext seiner Zeit
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Florian Baab
„Woher der religiöse Zweifel?“ Zur Krisendiagnostik deutschsprachiger Apologeten im Umfeld des Ersten Vaticanums Wer nach belastbaren Informationen zur deutschsprachigen katholischen Universitätstheologie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sucht, wird schnell feststellen, dass auf diesem Feld neben den Originalquellen und zeitgenössischen Studien kaum aktuelle Literatur zur Verfügung steht. Anders verhält es sich bekanntlich mit den theologischen Strömungen im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils, die inzwischen als breit rezipiert gelten können. Eine Konsequenz dieses proportionalen Missverhältnisses ist es, dass die Entwürfe der Generation im Umfeld des Ersten Vaticanums häufig genug im Spiegel der Innovationen des Zweiten Vaticanums betrachtet werden und daher als diffuse Mischung überkommener Traditionalismen erscheinen müssen: Die „Neuscholastik“ sei das dominante Modell der Zeit gewesen; das Kernanliegen ihrer Vertreter habe im klerikalen Kampf gegen die nicht mehr zu leugnenden Errungenschaften der Moderne bestanden; Stichworte wie Antimodernismus, Exklusivismus, Infallibilismus und Monogenismus stehen flankierend bereit, um die Theologie der 1850er bis 1890er Jahre als ein Agglomerat von Theoremen erscheinen zu lassen, die sich für die eigentlichen Fragen ihrer Zeit kaum empfänglich zeigten. Auch wenn es nicht in Zweifel gezogen werden kann, dass sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein lange nötiger Prozess der innerkirchlichen Modernisierung und Liberalisierung vollzogen hat, wäre doch eigens durch eine Lektüre der Originaltexte zu prüfen, ob die Theologen im Umfeld des Ersten Vaticanums sich tatsächlich als derart unsensibel für die Herausforderungen und Diskurse ihrer Zeit erweisen, wie gerne insinuiert wird. Das Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es daher, am Beispiel zweier Apologien dieser Epoche aufzuzeigen, dass zumindest ein Mangel an zeitdiagnostischer Sensibilität kein generelles Charakteristikum der damaligen Theologie war. Im Gegenteil zeigen sich die Theo-
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logen des 19. Jahrhunderts, so antiquiert manche ihrer Thesen im Einzelnen wirken mögen, als versierte theologische Krisendiagnostiker, an deren Analysen sich zum Teil heute noch anschließen lässt.
1. Franz Hettinger (1819–1890) und seine „Apologie des Christentums“ Franz Hettinger galt zu Lebzeiten als einer der bedeutenden Systematiker seiner Generation: Nach der Promotion (1845) am germanischen Kolleg in Rom und einigen Jahren der Tätigkeit sowohl in der Seelsorge wie auch in der akademischen Theologie erfolgte 1852 die Ernennung zum Subregens am Würzburger Klerikalseminar. Es folgten Berufungen zum Professor der Patrologie (1857), der Apologetik und Homiletik (1867) und der Dogmatik (1884) jeweils an der Universität Würzburg, an der er zudem zweimal das Amt des Rektors ausübte. Als Konsultator wirkte er ab 1868 an der Vorbereitung des Konzils mit. 1 Hettingers „Apologie des Christentums“ erschien erstmals 1863. Es handelt sich ursprünglich um eine Sammlung von Vorträgen „für Studierende aus allen Fakultäten“. Er wolle, so der Autor in seinem Vorwort, „den christlichen Glauben mit dem Ideenkreise der intelligenten Welt vermitteln, irrige Anschauungen berichtigen, und dort, wo das geistige Leben bereits zwiespältig geworden, heilend und versöhnend einwirken“. 2 Das Werk erfuhr zu Lebzeiten Hettingers sechs Auflagen und nach seinem Tod vier weitere. Dieser Erfolg ist sicher zu einem wesentlichen Teil darauf zurückzuführen, dass es Hettinger gelang, ein grundlegendes Bedürfnis katholischer Intellektueller in der zweiten Jahrhunderthälfte zu bedienen: In einer Zeit, in der die Divergenzen zwischen einer traditionell christlichen Weltauffassung und den inzwischen zur Verfügung stehenden weltanschaulichen Alternativen niemandem mehr verborgen blieben, betonte Hettinger, es sei „ein Gesetz im Reiche Gottes und seiner Gnade, 1
Vgl. Josef Hasenfuß, Hettinger, Franz, in: Neue Deutsche Biographie 9, Berlin 1972, 30 f.; Johann Baptist Renninger, Prälat Hettinger. Ein Lebensbild, in: Der Katholik 77 (1890), 385–402. 2 Franz Hettinger, Apologie des Christentums. Erster Band: Der Beweis des Christentums. Erste Abtheilung, Freiburg i. Br. 61885, V.
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dass aller Kampf gegen ihn und sein ewiges Werk ein Segen werden muss für die Kirche, die immer wieder neu gestärkt aus ihm hervor geht.“ 3 In diesem Sinne suchte er insbesondere im ersten Band seines Werks mit dem Titel „Der Beweis des Christentums“ die direkte Konfrontation mit gegnerischen Modellen, hauptsächlich mit den primären Protagonisten des seit der Jahrhundertmitte erstarkten Materialismus. Hettingers Selbstsicht als Apologet und die Erwartungshaltung der Zeitgenossen an eine katholische Apologetik ergänzten sich dabei im Ziel der vollständigen Ausräumung etwaiger Irritationen: Es handelt sich um eine klassische demonstratio christiana, die darauf ausgelegt ist, externe kritische Anfragen zugunsten des Christentums zu lösen. Das Panorama der gegnerischen Positionen, die Hettinger dabei zu Wort kommen lässt, deckt die ganze Breite der in der zweiten Jahrhunderthälfte verfügbaren Religionskritik ab: Feuerbach und Strauß, Haeckel und Büchner, Moleschott und Eduard von Hartmann werden ausgiebig zitiert und widerlegt (als Traditionsquellen dienen dabei nicht nur Augustinus und Thomas, sondern auch Bacon, Goethe und Schelling); auch Darwins „Deszendenztheorie“, von deren Unvereinbarkeit mit der christlichen Schöpfungslehre Hettinger überzeugt ist, wird ausgiebig besprochen. Da keiner dieser einzelnen Dispute hier in der gebotenen Ausführlichkeit zur Sprache kommen kann, soll im Folgenden lediglich das in den Blick genommen werden, was Hettinger seinem Werk als eine zeitdiagnostische Eröffnung voranstellt – das erste Kapitel mit dem Titel „Der religiöse Zweifel“.
1.1 Der religiöse Zweifel: Ein neues Problem und seine Diagnostik Denn eines ist neu: Hettinger muss eingestehen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der sich noch vorhergehende Generationen zum Glauben bekannt haben, massiv geschwunden ist. Der „religiöse Zweifel“ ist daher das erste Objekt seiner Betrachtungen. Hettinger schreibt: „Woher der religiöse Zweifel? Wie ist der unermesslichen Tatsache des Christentums gegenüber der religiöse Zweifel überhaupt nur möglich? Da steht die christliche Wahrheit mit ihrer Machtentfaltung und Segenswirkung, wie sie 3
Das Zitat stammt aus dem Vorwort einer im Jahr 1875 eigens publizierten Schrift gegen D. F. Strauß und sein Werk „Der alte und der neue Glaube“: Franz Hettinger, David Friedrich Strauß. Ein Lebens- und Literaturbild, Freiburg i. Br. 1875, 3.
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nur einmal die Erde gesehen, und dies seit Jahrtausenden und bis zur Gegenwart herab; sie ist in vollster Wahrheit jener Baum geworden, welcher die ganze Welt überschattet – die Mutter der Völker, die sie alle in ihrem Schoße getragen und an ihrer Brust zu höherem Leben genährt hat. Nationen sind gekommen und gegangen, die Kirche stand an ihrer Wiege und an ihrem Grab; sie ist nicht vorübergegangen. Neue Geschlechter erschienen, neue Zeiten brachen an; alles ist wieder verschwunden, die Kirche steht. So oft wähnten ihre Feinde, sie vernichtet zu haben; schon schickten sie sich an, dem entseelten Leichnam, wie sie glaubten, das Grab zu graben. Aber wie neugeboren ist sie noch jedes Mal hervorgegangen aus dem Feuer der Verfolgung.“ 4
So scheint es klar, dass bereits die historische Kontinuität der Institution Kirche in der Lage ist, auch den Anspruch der Wahrheit ihrer Glaubenslehren zu begründen. Die Geschichte, so der Fortgang des Zitats, habe es „bewiesen auf allen ihren Blättern“, dass der Kirche als der „Trägerin des Glaubens […] die Unverweslichkeit eingehaucht ist“; alle „großen weltgeschichtlichen Ereignisse“ werden daher zum Hinweis „auf die Hand Gottes, die unsichtbar und doch so sichtbar sie leitet“. 5 Weit besser als jeder theoretische Beweis belegt daher nach Hettinger der faktische Lauf der Geschichte die universalen Ansprüche des Christentums: Geschichte bedeutet Bewahrheitung des Christentums, und Christentum bedeutet Wahrheit in Geschichte. Im heutigen Diskurs würde wohl kaum ein Theologe mehr wagen, solch eine zirkuläre Logik explizit zu vertreten; Hettinger dagegen scheut sich nicht, sie demonstrativ an den Anfang seines Werkes zu setzen.
1.2 Der erste Grund des Zweifels: Überhöhte Erkenntnisideale Umso mehr stellt sich für Hettinger nun aufgrund dieser offensichtlichen Fakten die Frage nach dem Ursprung des „religiösen Zweifels“, der ja – wenn man seinem Argument der traditionalistischen Evidenz des Christentums folgt – als zutiefst irrational erscheinen muss. Als eine „erste Ursache“ nennt er die „Unkenntnis der wahren Natur und Bedürfnisse des menschlichen Geistes“. Ein heranwachsender „junger Mensch“ ist ihm zufolge besonders gefährdet, in diesem Punkt einer „falschen oder
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Hettinger, Apologie, 6. Ebd., 7.
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doch einseitigen Auffassung“ zu erliegen: Der „Verstand will verstehen, die schwellende Geisteskraft sich erproben, alles fassen, alles begreifen, will sich des Gesamtgebietes der Wahrheit bemächtigen“ – so stoße das „Feuer der Jugend“ auf einen „Mangel an Erfahrung in der Arbeit des Geistes“, es ergebe sich die „Forderung einer fälschlich sogenannten Wissenschaftlichkeit, die alles verwirft, die Übereinstimmung aller Jahrhunderte und aller Geister“, so lange sie sich nicht „vor dem eigenen Geiste […] bewährt“ habe. Hettingers Referenz ist an dieser Stelle Goethes Faust und dessen Bestreben, „dass ich erkenne, was die Welt / im Innersten zusammenhält“. 6 Aus der Perspektive Hettingers handelt es sich also um eine radikale Abkehr vom (richtigen) Weg der kirchlichen Traditionsorientierung und eine Hinwendung zu einem (falschen) Subjektivismus, der glaubt, Erkenntnisse in erster Linie aus dem Fundus der eigenen Evidenzen generieren zu können. Die Lösung dieses Problems, zu der Hettinger findet, besteht in einer Korrektur des überhöhten Erkenntnisideals, das diesem Wissenschaftsverständnis zugrunde liegt: Ermuntert von den Fortschritten der neueren Forschung sähen viele gegenwärtig den „Traum einer absoluten Wissenschaft“ als erreichbar; ihr Ziel sei „die völlig adäquate Erkenntnis alles dessen, was da ist“. Diese Vorstellung, „in einem einzigen Blicke das Gesamtgebiet der intelligiblen Welt“ zu überschauen, sei jedoch „ein Ideal […], das nur in Gott, der die Wahrheit selbst ist, zur Wirklichkeit wird“. 7 Für den Menschen gelte dagegen: „Die Deutlichkeit ist eine Ausnahme, das Geheimnis ist die Regel – im Inneren der Dinge liegt eine Größe, die über alle Betrachtung hinausgeht.“ 8 So ergibt sich letztlich als Überwindung des von Hettinger identifizierten Subjektivismus nicht, wie man hätte erwarten können, die Einsicht, dass adäquate Erkenntnis nur unter christlichen Vorzeichen möglich ist, sondern die Einsicht, dass adäquate Erkenntnis dem Subjekt unmöglich ist. Evident ist und bleibt die „christliche Wahrheit“ daher in erster Linie aufgrund ihres unleugbaren Wesens als historisch wirksame Tatsache; ein Subjektivismus, der dies nicht anerkennen möchte, kann durch die Haltung korrigiert werden, 6
Ebd., 7 f. – Dass Faust zur Stillung dieses Verlangens einen Pakt mit dem Bösen eingehen musste, dürfte Hettinger bei seinen Lesern als bekannt vorausgesetzt haben. 7 Ebd., 11 f. 8 Ebd., 17.
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dass jedes menschliche Erkenntnissystem weit hinter dem Ideal einer göttlichen Durchschauung der Dinge zurückbleibt.
1.3 Der zweite Grund des Zweifels: Gleichgültigkeit Die zweite von Hettinger erkannte Ursache des „religiösen Zweifels“ ist die „Gleichgültigkeit für das Höhere“: Bei vielen Menschen, so seine Diagnose, sei alles „höhere Streben“ erlahmt, die geistige Tätigkeit beschränke sich „auf den engen Kreis des Nächstliegenden, Notwendigen und Nutzbringenden“; die „religiöse Erkenntnis“ sei „verschüttet und fast vergessen unter dem Staube des alltäglichen Lebens mit seinen Sorgen und Mühen, seinen Zerstreuungen und Genüssen“. 9 Wo in diesem Sinne nur die „materiellen Interessen […] zur Herrschaft gelangt sind“, könne „nimmer, selbst nur auf wenige Stunden, jene hehre Stille, Sammlung und Verinnerlichung der Seele“ eintreten, „da diese, ungestört von dem betäubenden Gewühle der dem Irdischen zugewandten Gedanken, die Stimme der Wahrheit […] vernehmen könnte“. 10 Betrachtet man diese Diagnose im Spiegel der theologischen Anthropologie, wie sie uns aus dem Kontext späterer Ansätze vertraut ist, fällt auf, dass Hettinger Religion in nur schwachem Maße als anthropologische Konstante wertet: Karl Rahner, der hier exemplarisch als Vertreter der Theoriebildungen im Umfeld des Zweiten Vaticanums genannt sei, reagiert einige Jahrzehnte später auf das nicht mehr zu leugnende Faktum der fortschreitenden Säkularisierung mit seiner Konzeption der „transzendentalen Erfahrung“, die er als Verweis darauf verstanden wissen möchte, dass auch derjenige, der vermeintlich keine religiöse Orientierung hat, der christlichen Heilsordnung vollständig eingegliedert ist: „Diese Erfahrung als unthematisch und bleibend waltende – die Gotteserkenntnis, die wir immer vollziehen, gerade wenn wir an alles andere denken und mit allem anderen umgehen als mit Gott – ist der dauernde Grund, aus dem jene thematische Gotteserkenntnis erwächst, die wir im explizit religiösen Tun und in der philosophischen Reflexion vollziehen.“ 11
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Ebd., 20 f. Ebd., 26. 11 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br. 122008, 56. 10
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Die Gottesfrage stellt sich also nach Rahner implizit auch dem, der sie nicht explizit stellt, da sie zu den Grundlagen des menschlichen Wesens gehört. Die Konsequenz ist, dass die religiöse Indifferenz (oder, mit Hettinger: die „Gleichgültigkeit für das Höhere“) im Denken Rahners und vieler seiner Zeitgenossen und Schüler keinen Raum hat: Jeder, der vordergründig gleichgültig gegenüber Gott ist, stellt die Gottesfrage zumindest „unthematisch“ in allen anderen Vollzügen seiner Existenz. Hettinger dagegen wäre, wie eben gesehen, der Meinung, dass religiöse Gleichgültigkeit bedingt ist durch eine tatsächliche Fokussierung auf andere Belange des menschlichen Lebens. So zeigt sich, dass es offensichtlich auch seine Vorteile hat, das Christentum nicht als eine Frage der Anthropologie, sondern des persönlichen Bekenntnisses zu fassen: Das Phänomen der Areligiosität wird auf diese Weise als solches ernst genommen; wer sich die Gottesfrage nicht stellt, stellt sie sich nicht implizit doch, sondern – tatsächlich nicht.
1.4 Der dritte Grund des Zweifels: Leidenschaft Als einen dritten „Grund des Zweifels“ identifiziert Hettinger die „Leidenschaft“: Wenn erst die „Seele der Tummelplatz geworden“ sei, „auf dem die wilden Begierden wie entfesselte Bestien einander bekämpfen und sich zerfleischen“, werde der Mensch – so Hettinger unter Berufung auf Platons „Timaios“ – „auch nur sterbliche Gedanken haben“ statt „zur Unsterblichkeit [zu] gelangen“. Hettinger betont, dass „Sinnlichkeit und Geist, Vernunft und Leidenschaft“ in jedem Menschen als widerstrebende Elemente präsent seien; er verlange daher „nicht dies […], dass der Kampf aufgehört [hat] und beendet ist zwischen dem niederen und höheren Menschen […], wohl aber dies, dass er begonnen hat, dass es der Seele einmal Ernst ist mit ihrer Selbstbefreiung“. 12 Je nach der Stärke der Leidenschaften divergiere dabei die Haltung zur „Wahrheit“ des Christentums: „Entweder fürchtet der Mensch die christliche Wahrheit, oder er wünscht sie. Je tiefer der sittliche Verfall, desto größer die Furcht und innere Abneigung, die alles aufbietet, sich der Wucht ihrer Anklagen zu entziehen. Wer sie nicht zu fürchten hat, wem sie eine Quelle höheren Lichtes, reicherer Erkenntnis 12
Hettinger, Apologie, 30 f.
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und sittlicher Erhebung aufschließt, der wird emsig suchend und raschen Schrittes die Wege gehen, die zu ihr hinführen. Er ist ein Freier und die Wahrheit wird immer mehr ihn frei machen.“ 13
Diese innere Umkehr, die Zügelung der Leidenschaften, ist allerdings, wie Hettinger betont, dem Menschen nicht aus eigener Kraft möglich; „das vermag nur einer, Gott und seine Gnade, die in geheimnisvollem Ringen […] den lange widerstrebenden Willen überwindet“. In diesem Sinne sei „jede Rückkehr aus Zweifel und Unglaube eine Wiedergeburt, zu welcher der Mensch sich vorbereiten und mitwirken mag, die aber nur Gottes Gnade beginnt und vollendet“. 14 Dem gegenwärtigen Systematiker wird angesichts dieses dritten von Hettinger genannten Punktes womöglich auffallen, dass ihm hierzu selbst nur wenig einfällt: Das Motiv der Leidenschaften und der Emotionalität ist in der systematischen Theologie seit Jahrzehnten ein nur marginal bearbeitetes, obwohl es durchaus aktuell und relevant ist – genannt sei nur das stetig virulente Thema „Missbrauch“, mit dem die Kirche mehr als andere Institutionen ein Problem zu haben scheint. Dass zur Unterbestimmung dieser Thematik auch ein überhöhtes Verständnis menschlicher Autonomie einen Beitrag geleistet haben mag, wurde bisher nur wenig gesehen. Die Väter des Zweiten Vaticanums behandeln die Leidenschaften in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“; die entsprechende Passage im Abschnitt 17 „Die hohe Bedeutung der Freiheit“ lautet: „Die Würde des Menschen erfordert also, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang. Eine solche Würde aber erlangt der Mensch, wenn er sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften befreit und so sein Ziel in freier Wahl des Guten verfolgt und sich die geeigneten Hilfsmittel wirksam und in angestrengtem Bemühen verschafft“ (DH 4317).
Eine derartige aus individueller Freiheit ermöglichte Elimination der Leidenschaften ist nun gar nicht das, was Hettinger im Sinn hat: Der Mensch kann aus seiner Sicht nur zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer Beschränkung seiner Leidenschaften kommen; er kann sich „vorbereiten
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Ebd., 41. Ebd., 43.
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und mitwirken“, alles Weitere ist Sache der göttlichen Gnade. In keiner Weise ist es dabei das Ziel, „dass stete Stille in der Seele herrsche, […] durch keine leidenschaftliche Aufwallung getrübt“, sondern nur, dass sie nicht mehr „willenlose Sklavin finsterer Gewalten“ ist. 15 Die Frage sei erlaubt: Entspricht nicht Hettingers Konzept – die Zügelung der Leidenschaften als durch den Menschen initiierter Akt göttlicher Gnade – einer theologischen Anthropologie, die in gesundem Maße sowohl Autonomie wie auch Selbstbeschränkung berücksichtigt? Hat daher die Generation der Konzilstheologen der Autonomie des Menschen, wenn es um die heikle Frage der Selbstkontrolle geht, womöglich etwas mehr zugetraut, als sie leisten kann? 16
2. Albert Maria Weiß (1844–1925) und seine „Apologie des Christentums“ Auch Albert Maria Weiß gehört zu den prägenden Gestalten der Theologie seiner Zeit: Nach dem Theologiestudium in München und der Promotion (1870) trat er in Graz in den Dominikanerorden ein. 1890 wurde er als Professor für Gesellschaftswissenschaften an die neu gegründete Universität Fribourg berufen; 1897 erhielt er dort den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät. 17 Sein Hauptwerk, die fünf Bände umfassende „Apologie des Christentums“ erschien zwischen 1889 und 1904 in vier Auflagen. Vergleicht man die Apologien der beiden Theologen Hettinger und Weiß in ihrer Grundmotivation, fällt schnell auf, dass der um eine Gene15
Ebd., 31. Natürlich kann diese knappe Konfrontation von Hettingers Thesen mit einem kurzen Ausschnitt aus „Gaudium et spes“ keine adäquate Bestimmung der Rolle des Autonomiegedankens im Kontext des II. Vaticanum erbringen. Allerdings scheint mir die generelle These, dass die Konzilstheologen des 20. Jahrhunderts das autonome Subjekt (mit bis in die Gegenwart reichenden Konsequenzen) übermäßig stark bestimmt haben, plausibel und einer weiteren Verfolgung wert. 17 Siehe hierzu Karl Josef Rivinius, Art. Weiss, Albert Maria, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 13, Herzberg 1998, 647–652; Gallus M. Häfele, P. Albert Maria Weiß OP, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 79 (1926), 281–296. 552– 567. 774–784. 16
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ration jüngere Weiß sich nicht mehr in der Lage sieht, in gleichem Maße wie Hettinger von einer selbstverständlichen Evidenz der „Wahrheit des Christentums“ auszugehen: Die wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die vermeintliche Unanfechtbarkeit der Glaubensinhalte bereits so stark in Frage gestellt, dass nicht mehr nur vom „religiösen Zweifel“, sondern von einer handfesten Krise gesprochen werden muss. Weiß’ Reaktionsmuster auf diese von ihm konstatierten Auflösungserscheinungen ist ein doppeltes: Einerseits ist seine Zeitdiagnose, anders als die des vornehmzurückhaltenden Hettinger, geprägt von deutlicher Polemik, andererseits setzt er nun nicht mehr die aus der Geschichte evidente Wahrheit des Christentums, sondern die „Idee des Menschen und der Menschheit“ als Ausgangspunkt seiner apologetischen Bemühungen. Wie schon Hettinger umschreibt Weiß am Beginn seines Werks die Grundanlage der fünf Bücher und den Anlass ihrer Entstehung. Auch in diesem Fall ist es diese den eigentlichen Ausführungen vorausgehende Krisendiagnostik, die hier näher in den Blick genommen werden soll.
2.1 „Alles ist in Frage gestellt“: Die Hilflosigkeit des Theologisierens im ‚fin de siècle‘ Der Apologet, so schreibt Weiß auf den ersten Seiten seiner „Apologie“, sehe sich heute mit einer „außerordentlich schwierigen“ Aufgabe konfrontiert: Seine Situation gleiche der „jener Ureuropäer, die nur mit gezücktem Schwerte Schritt für Schritt ihre Wanderzüge zu machen wagten“. Es gebe „keinen bestimmten Feind mehr und kein abgegrenztes Schlachtfeld“, die „Zustände in der moralischen und in der wissenschaftlichen Welt“ könnten „nicht gestaltloser sein“: „Alles ist in Frage gestellt, alles in Fluss geraten, alles zu einem unergründlichen Brei von Urschleim durcheinandergerührt.“ 18 Die Verursacher dieser Krise sieht er indes als gut benennbar: Auf dem „Gebiete der Biologie“ habe der Darwinismus „alle Wesen […] auf einen Begriff, den der allgemeinen Gallerte, zurückgeführt“, unter „seinem Zeichen“ stehe inzwischen „unsere ganze Kultur
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Albert Maria Weiß, Apologie des Christentums. Erster Band: Der ganze Mensch. Handbuch der Ethik, Freiburg i. Br. 31894, 2 f.
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und Geistesbildung“. 19 Die „vergleichende Religionswissenschaft, das jüngste Kind des Positivismus“ behaupte zudem, „dass Christus und Buddha, dass Somnambulismus, Tischrücken, Spiritismus und Prophetentum […] ein und dasselbe seien“. 20 Künstler schließlich malten „blaue Gesichter, grüne Augen, silberne Lippen, und alle Welt staunt das gespenstische Machwerk an, denn so ist es modern“. 21 Kurz: „Der ruhige Denker und Staatsbürger, der auf Ordnung und Herkommen hält, steht wie verwirrt vor diesem Chaos und denkt, der Ausdruck ‚fin de siècle‘, den man dieser Kultur gegeben hat, dürfte wirklich der Sache entsprechen. Dem modernen Menschen aber ist nie wohler, als wo alles seine natürliche Form und Farbe verloren hat. Jetzt, versichert er, seien die Dinge erst in ihr wahres Licht gestellt.“ 22
Diese durch Weiß konstatierte Hinfälligkeit aller bisherigen geordneten Verhältnisse steht in auffälligem Kontrast zu der distanzierten Gelassenheit, mit der noch Hettinger den „religiösen Zweifel“ als ein erklärungsbedürftiges Sonderphänomen betrachtet hatte. Für Weiß liegt es vielmehr auf der Hand, dass man sich „unter solchen Umständen“ nicht zu wundern brauche, „wenn die Welt zuletzt an keine Wahrheit, am wenigsten an eine religiöse Wahrheit mehr glaubt“. 23 Die Menschen seien „dem Christentum bereits zu sehr entfremdet, als dass man hoffen könnte, sie ihm noch einmal zugänglich zu machen“; es wundere daher nicht, dass „unter der kleinen Schar von Sehenden oft Bitterkeit, noch öfter Mutlosigkeit überhand nimmt“. 24 Bis zu diesem Punkt bietet Weiß ein markantes Beispiel eines Theologen, der die Vermittlungskrise des Christentums auf einen als maßlos empfundenen wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt zurückführt: Die „Zerfahrenheit der Wissenschaft“, in der „jeder seinen eigenen Einfällen“ folge, der „Krieg aller gegen alle auf sozialem Gebiete“, die „Souveränität des Individuums“, der „Libertinismus“, schließlich Kants „Erhebung des Eigenwillens auf den Lehrstuhl des Gesetzgebers“ – all das 19 20 21 22 23 24
Ebd., 3 f. Ebd., 7. Ebd., 8. Ebd., 8. Ebd., 9. Ebd., 11.
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hat eine allumfassende „Verwirrung“ zur Folge, deren logische Konsequenz die „Zerstörung aller wirklichen Religion“ ist. 25 Wie sich hier deutlich zeigt, sind Klagen über eine in weltanschaulicher und normativer Hinsicht orientierungslose Moderne und die Konstatierung eines allumfassenden „Relativismus“ als Gefahr für das Christentum nicht erst ein Kennzeichen konservativer Theologen des 20. Jahrhunderts.
2.2 Gott, die wahre Ehre der Menschheit: Eine Apologetik auf anthropologischer Basis Bemerkenswert ist nun die Lösung, zu der Weiß findet, um der christlichen Apologetik doch noch zu ihrem Recht zu verhelfen: Wenn man sich frage, ob all diese unterschiedlichen Gegenwartsströmungen nicht letztlich doch eine Gemeinsamkeit hätten, müsse man zu dem Ergebnis kommen, dass es „die Vergötterung des von Gott losgelösten, einzig auf sich selbst bauenden Menschen“ sei, „das sogenannte freie Menschentum“. In dieser Idee liege der „Schlüssel zum Verständnis der heutigen Welt“: 26 „Die Menschheit mag alles in Abrede stellen, Schöpfung, Sündenfall, Erlösung, Ewigkeit und Unsterblichkeit, sie mag in ihrer Gottentfremdung so weit fortschreiten, dass sie Gott […] das höchste Übel nennt, dann glaubt sie erst an eines umso fester, an sich selber. Darum leugnet, lästert, verwünscht sie eben Gott, weil sie an ihm eine unübersteigbare Schranke findet, die sie hindert, bis zur Selbstvergötterung zu schreiten.“ 27
Dieser „Menschheitskult“ bezeuge nun, dass das „heutige Geschlecht“ sich „wenigstens einen Glauben“ nicht nehmen lasse – den Glauben an den Menschen. Eine Apologie, „wie sie den Bedürfnissen unserer Zeit angemessen erscheint“, könne daher „getrost auf die Idee des Menschen und der Menschheit“ bauen. 28 Weiß hat also – beachtlich für diese Zeit – eine Apologie auf anthropologischer Basis im Sinn. Ihre Berechtigung erfährt sie dadurch, dass sie, anders als der herrschende „atomistische Subjektivismus und Individualismus“, den „ganzen Menschen“ berücksichtigen möchte, sein „geistiges Leben“, seine „Kultur und Sittlichkeit“, 25 26 27 28
Ebd., 12. Ebd., 14. Ebd., 14 f. Ebd., 15 f.
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und die auf diese Weise den Irrungen der Gegenwart die Erkenntnis vorauszuhaben meint, „dass man den Menschen und seine Tätigkeit nicht in Stücke reißen kann“. 29 – So liegt für Weiß letztlich die Rechtfertigung des Christentums darin, dass es das fragmentierte Menschenbild des fin de siècle wieder in eine neue Einheit überführen kann, deren letzter Garant der im Schwinden begriffene Gottesgedanke ist. Man habe beispielsweise nicht zu fragen, ob der Mensch „sich oder dem Staate“ angehöre, denn „jedes im Katechismus unterrichtete Schulkind“ erkenne deutlich, dass schon die Frage falsch, weil ohne Transzendenzbezug gestellt sei: „Wem gehört der Mensch an, sich, der Menschheit, oder dem ewigen, unendlichen Reiche Gottes? Darauf aber gibt es nur eine Antwort: Allen dreien zugleich. So verschieden auch der Umfang dieser drei Begriffe ist, so bilden sie doch drei konzentrische Kreise, deren Mittelpunkt für jeden sein eigenes Gewissen ist. Nur indem einer gleichmäßig seine Pflichten gegen alle drei erfüllt, wird er seiner Aufgabe gerecht.“ 30
Das Christentum ist damit die einzige Instanz, die in einer moralisch orientierungslosen Zeit Ausgleich und Stabilität gewährleistet: Es begreife, anders als all die von Weiß als extremistisch empfundenen Gegenwartsströmungen, „dass die Wahrheit in der Mitte liegt“, 31 indem es sowohl die Rechte wie auch die Pflichten des Individuums garantiere und dafür sorge, dass „die Einrichtungen in der Menschheit einigermaßen den Anordnungen des göttlichen Weltplanes entsprechen“. 32 Und nicht zuletzt werde durch es wieder der vollumfängliche „Sinn für die wahre Ehre der Menschheit eröffnet“: die Rückbindung an „Gott, unseren Ursprung, den Quell alles Guten, unser Ziel“. 33 Aus heutiger Perspektive ist die von Weiß vorgebrachte Krisendiagnostik und sein Versuch der Rückbindung des „subjektivistischen“ Zeitgeistes an den Gottesgedanken ein interessantes Zeugnis einer Übergangszeit: Das alte naturrechtliche Begründungsmuster, das die Stabilität der menschlichen Sozialstrukturen alleine auf Basis des Gottesbezugs für gewährleistet hält, bildet den Zielpunkt seiner Argumentation; zugleich 29 30 31 32 33
Ebd., 20 f. Ebd., 23. Ebd., 22. Ebd., 25. Ebd., 27.
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gründet sein apologetischer Versuch auf dem Gedanken, man müsse, um die Gehalte des Christentums plausibel begründen zu können, die zeitgenössische Wende zur „Menschheit“ mitvollziehen. Hier deutet sich erstmals eine Entwicklung an, die in der katholischen Theologie einige Jahrzehnte später, im Umfeld des Zweiten Vaticanums, unter dem Schlagwort der „anthropologischen Wende“ voll zum Tragen kommen sollte. Diese bemerkenswerte Innovation tritt in dieser Frühform freilich noch nicht als ein durchdachtes Theorem, sondern als ein gewissermaßen aus der Not geborener Mitvollzug gegenwärtiger Geisteshaltungen auf: Auf die Klage, die zeitgenössische Weltorientierung sei zu einem „schwankenden Grunde“ heterogener Denkarten geworden, folgt die Feststellung, dass all diese Auffassungsweisen sich ja immerhin auf den Menschen und die „Menschheit“ bezögen. Was bleibt dem Apologeten? Er hat sich, so Weiß – man könnte ergänzen: notgedrungenerweise – diesem Bezugspunkt anzuschließen und darzulegen, wieso einzig die christliche Art der Weltauffassung der Anthropologie vollends gerecht wird. Dieses Manöver ist ohne Zweifel weder subtil noch methodisch elaboriert, aber mit Blick auf den weiteren Gang der systematischen Theologie muss man sagen: es ist in seiner Unverstelltheit wenigstens ehrlich. Der Leitgedanke Weiß’ ist das Problem der Glaubensvermittlung in Zeiten des weltanschaulichen Pluralismus, seine Reaktion ist die explizite Wende zum Menschen und zur „Menschheit“. Der Leitgedanke der deutschen Universitätstheologen der Enkelgeneration, die der „anthropologischen Wende“ später durch weitaus reflektiertere und theoretisch fundiertere Begründungsversuche zum Durchbruch verhalfen, ist eine Lesart der conditio humana, die – wie oben am Beispiel Rahners gesehen – alle menschlichen Vollzüge mit einem impliziten (!) Gottesbezug versieht. Weiß konstatiert bereits am Ende des 19. Jahrhunderts einen allgemeinen Relevanzverlust christlich-theologischer Denkmotive; die Theologen nach der Mitte des 20. Jahrhunderts dagegen konnten eben diese Problematik mit einer umfassenden Theorie des homo naturaliter religiosus als irrelevant abtun. Der innertheologische Erfolg ihres Modells beruht daher auch auf den Strategien der Problemvermeidung, die es ermöglicht: Folgt man ihm, hat man die Frage nach den eigentlichen Gründen des Schwundes einer christlichen Weltauffassung genauso wenig zu stellen, wie die damit verbundene Frage nach den realen Erfolgsaussichten der eigenen apologetischen Arbeit.
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3. Das Ende der gewissen Gotteserkenntnis: Apologetik und Fundamentaltheologie als Diagnosen mangelnder Vermittelbarkeit Sowohl der Kleutgen-Schüler und Konzilskonsultator Franz Hettinger wie auch der Dominikanertheologe Albert Maria Weiß sind, wie sich in dieser kurzen Betrachtung gezeigt hat, für überraschende Einsichten gut. An ihnen wird – unter anderem – deutlich, wie sehr sich die Wahrnehmung der Situation des Christentums in der Öffentlichkeit binnen einer Generation gewandelt hatte. Hettingers Ausgangspunkt ist das Konzept einer allein durch die historische Wirkmacht der Kirche belegten „christlichen Wahrheit“. Die darin zum Ausdruck kommende Zirkellogik – Geschichte bedeutet Bewahrheitung des Christentums, Christentum bedeutet Wahrheit in Geschichte – steht bereits dem um eine Generation jüngeren Weiß als Argumentationsbasis nicht mehr zur Verfügung. Interessanterweise kann nun Hettinger, gerade weil er seinen Ausgangspunkt für derart unangreifbar hält, die eigenen Geltungsansprüche im Anschluss bei seiner Diagnostik des „religiösen Zweifels“ eher locker handhaben. Der erste „Grund des Zweifels“ nimmt die weltanschaulichen Gegner, allen voran die Materialisten, in den Blick und macht diesen den Vorwurf, sie würden subjektive Erkenntnisse als absolut setzen und letztlich das „Gesamtgebiet der intelligiblen Welt“ durchschauen wollen (ein dem damaligen Materialismus gegenüber durchaus berechtigter Einwand) 34 – der Christ dagegen sei hier bescheidener, er überlasse solche Erkenntnisfähigkeiten allein Gott und sehe in allen Dingen ein letztes und unauflösbares „Geheimnis“. Die „Gleichgültigkeit“, die als „zweiter Grund“ des Zweifels identifiziert wird, kommt der eigentlich fast trivialen, theologisch aber dennoch nicht unbedeutenden Feststellung gleich, dass der Alltag vieler Menschen keinen Raum lässt für das „Höhere“ – religiöses Empfinden, so Hettingers Standpunkt, ist keine anthropologische Konstante, sondern eine eingeprägte und immer wieder einzuübende Praxis. Die „Leidenschaft“ schließlich, die als „dritter Grund“ des
34
Vgl. Florian Baab, Geltung und Sein. Philosophiehistorische Überlegungen in theologischer Absicht, in: Michael Seewald (Hg.), Glaube ohne Wahrheit? Theologie und Kirche vor den Anfragen des Relativismus, Freiburg i. Br. 2018, 37–55.
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Zweifels fungiert, steht im Sinne einer Zweiteilung des menschlichen Wesens für ein Überhandnehmen der „niederen“ Begierden, die für das „höhere“ Streben keinen Raum mehr lässt. Erlösen kann sich der Mensch hiervon nicht selbst – das, so Hettinger, ist Sache der Gnade. Gut zwanzig Jahre später als Hettinger sieht sich Albert Maria Weiß bereits nicht mehr in der Lage, mit Gelassenheit auf die Situation des Christentums in den intellektuellen Debatten seiner Zeit zu blicken: Der Darwinismus ist zum Leitmodell der Naturerklärung geworden, die Religionen werden zum Gegenstand wissenschaftlich-komparativer Untersuchung, auch auf sozialem Gebiet ist der Reformdrang unübersehbar; kurz: alle althergebrachten Werte scheinen gegen Ende des Jahrhunderts außer Geltung, und mit ihnen auch der christliche Glaube. Da die Menschen aber bei allen Modernisierungstendenzen immer noch an „sich selber“ glauben, stellt Weiß seine Apologetik unter den Gedanken „des Menschen und der Menschheit“: Ohne Gott, so der Kern seines Argumentes, verfügt der Mensch über keinen Grund- und Abschlussgedanken und auch die menschlichen Sozialstrukturen, die Verfasstheit des Staates mit Rechten und Pflichten, drohen in das Extrem eines zügellosen „Libertinismus“ abzugleiten. Die altbekannte Strategie einer naturrechtlichen Letztbegründung des christlichen status quo wird auf diese Weise verbunden mit der innovativen – dabei aber noch wenig Reflexionstiefe erreichenden – Bemühung um eine anthropologische Fundierung der Theologie. Sowohl Hettingers wie auch Weiß’ Diagnosen sind sicherlich nicht geeignet, in gegenwärtigen theologischen Diskursen Anwendung zu finden – zu obsolet sind ihre Ausgangspunkte, zu fern der historische Kontext, aus dem heraus sie ihre Überlegungen anstellen. Allerdings lässt sich abschließend ein Punkt betonen, in dem ihre Haltung auch gegenwärtigen Systematikern zumindest zu denken geben kann: Die Diagnose beider Theologen entspricht der überraschend fortschrittlich anmutenden Einsicht, dass der Glaube ein Vermittlungsproblem hat; zugleich sind sie bescheiden genug, davon auszugehen, dass sich dieses Vermittlungsproblem auch durch ihre apologetische Arbeit nicht lösen lässt. „Hat [dieses Buch]“, so schreibt Hettinger im Vorwort seines Werkes, „auch nur in einem Einzigen die Glaubensfreudigkeit gestärkt, auch nur einen Wankenden gestützt, so ist dem Verfasser der beste Lohn geworden.“ 35 – 35
Hettinger, Apologie, VI.
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Man könnte es auch so formulieren: Das Faktum des „religiösen Zweifels“ und der prinzipiellen Infragestellung des Christentums ist nichts, das sich allein durch theoretische Argumentation aus der Welt schaffen lässt. Fundamentaltheologie ist daher nicht nur die Verteidigung der Inhalte des Glaubens, sondern zuvor noch die Diagnose, dass sich religiöser Glaube seit Beginn der Moderne in einer Krise befindet, der man mit einer Verteidigung der Inhalte des Glaubens meint begegnen zu müssen.
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Positionierung der Kirche in der Moderne Hintergrund der Unfehlbarkeitsdiskussion Über die päpstliche Unfehlbarkeit wurde sowohl auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/1870) selbst debattiert wie auch in den begleitenden literarischen Kontroversen, sei es in Schriften von Konzilsvätern, sei es außerhalb des Konzils. 1 Dabei bildeten die theologischen bzw. historischen Argumente nur einen Teil der komplexen Debatte. Es wurde auch breit über die sogenannte „Opportunität“ oder „Inopportunität“ der Unfehlbarkeitsdefinition gestritten. Diese „Opportunitätsargumente“ hat man leicht auf kirchenpolitische Befürchtungen reduziert, die, zumindest in dem Ausmaß wie sie an die Wand gemalt wurden, nicht eingetreten seien. Nun ist natürlich zu sagen, dass beide Seiten, Definitionsgegner und Definitionsbefürworter, ihr Schreckensszenario ausmalten für den Fall, dass die Unfehlbarkeit definiert bzw. umgekehrt für den Fall, dass sie nicht definiert und das Konzil aus Furcht vor der Welt vor ihrer Definition zurückschrecken würde; und ob die Majorität hier weniger übertrieb als die Minorität, lässt sich infolge des Nicht-Eintretens des einen Eventualfalles nicht ausmachen. Aber hinter den „Opportunitätsgründen“ steckt doch mehr. Es ist der (je nachdem positiv oder negativ eingeschätzte) historische Stellenwert und die Funktion der päpstlichen Unfehlbarkeit innerhalb einer immer stärker durch Wandel, Dynamik und Instabilität gekennzeichneten Welt. Letzten Endes ging es dabei um den Ort und die primäre Rolle der Kirche innerhalb der Moderne.
1
Vgl. dazu die Überblicke bei Klaus Schatz, Vaticanum I 1869–1870 1. Vor der Eröffnung, Paderborn 1992, 213–277; Ders., Vaticanum I 1869–1870 2. Von der Eröffnung bis zur Konstitution ‚Dei Filius‘, Paderborn 1993, 209–215.226–264.
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1. Die „Verwirrung der Gläubigen“, die öffentliche Meinung und die Probleme kritischer Katholiken Dass eine Nicht-Definition nicht einfach den Status quo wiederherstelle, ist eines der Hauptargumente der Majorität. Die Verwirrung der Gläubigen fordere, entsprechend der Worte Jesu „Was man euch im Verborgenen sagt, das verkündet von den Dächern“ und „Stellt euer Licht nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter“, vom Konzil ein klares Wort. 2 Ein Schweigen, so wird immer wieder argumentiert, würde in dieser Situation einer negativen Vorentscheidung in der Sache selbst gleichkommen: für die Welt wäre evident, dass das Konzil damit dogmatisch die Fehlbarkeit des Papstes in Glaubensentscheidungen sanktioniert habe; es wäre nicht plausibel zu machen, dass die Streitfrage im bisherigen Stand sei. 3 Es wäre zudem ein Zeichen der Schwäche des Konzils, ein Triumph der Feinde. Denn es wäre klar, dass das Konzil vor dem Sturm des Protestes der Kirchengegner zurückgewichen wäre. Innerkirchlich aber würde es eine immense Autoritätskrise zur Folge haben. Die ganzen Häresien der Vergangenheit würden, so führt Raess von Straßburg aus, wieder erneut ihr Haupt erheben, vom Gallikanismus in Frankreich über den Febronianismus in Deutschland bis zum Josephinismus in Österreich, und dies mit Unterstützung der Regierungen und mancher Theologen, die mehr um ihre eigene Unfehlbarkeit als die des Papstes besorgt sind. 4 Die 2
Kurienkardinal Patrizi am 14. 5. (Mansi 52, 40C/D), Dechamps (Mecheln-Brüssel) am 17. 5. (70B), Trucchi (Forlì) am 21. 5. (179). 3 Dusmet (Catania) am 14. 5. (ebd., 48D–49A), Moreno (Valladolid) am 19. 5. (127), Leahy (Cashel) am 21. 5. (169A/B), Raess von Straßburg (173C. 175 f.), Trucchi (179D), de Preux von Sitten am 24. 5. (222 f.), Mac Evilly (Galway) am 25. 5. (268 f.), Gastaldi (Saluzzo) am 30. 5. (330C/D), Lynch (Toronto) am 23. 6. (862A), Keane (Cloyne) am 25. 6. (869A). – Das Argument wird bereits durch Willibald Apollinaris Maier, den Konzilstheologen von Bischof Senestrey von Regensburg, im Januar-Postulat für die Unfehlbarkeit vorgebracht (Ignatius von Senestrey, Wie es zur Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit kam. Tagebuch vom 1. Vatikanischen Konzil, herausgegeben und kommentiert von Klaus Schatz S.J. (Frankfurter Theologische Studien 24) Frankfurt a. M. 1977, 143); ebenso bildet es am 9. 2. 1870 in der Postulatenkommission ein entscheidendes Motiv, die Frage dem Konzil zur Entscheidung vorzulegen (Mansi 51, 689A, 692B). 4 Mansi 52, 176A/B.
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Autonomie-Tendenz gegenüber dem Lehramt, so kann man diese Argumentation zusammenzufassen, gilt zwar als im Augenblick zurückgedrängt, jedoch in keiner Weise überwunden, sondern ist nach wie vor, besonders bei manchen Theologen, sehr lebendig und bereit, jede Unsicherheit des Konzils sofort zu ihren Gunsten auszunutzen. Vorrang haben in jedem Fall jene Gläubigen, die Sicherheit suchen und die durch Kontroversen nur verunsichert werden. Demgegenüber erwidert die Minorität, diese Erregung, zu deren Bannung man jetzt die Unfehlbarkeitsdefinition heraufbeschwöre, sei durch die Agitation von Univers und Civiltà Cattolica künstlich geschürt. 5 Wenn diese Argumentation gelte, so Dupanloup von Orléans in seiner schriftlichen Antwort an Dechamps, dann könnte man folgende Taktik anwenden: „Wir werden eine ganz besonders heikle Streitfrage aufwerfen. Natürlich wird sich Opposition und Widerstand erheben, und dann werden wir sagen: Das Stillschweigen des ökumenischen Konzils ist nicht mehr möglich!“ 6
Und das Beispiel des Tridentinums, das die Fragen nach dem ius divinum und dem Ursprung der bischöflichen Jurisdiktionsgewalt offen gelassen habe, zeige, dass es nicht nötig sei, auf jede heiß diskutierte Frage eine verbindliche konziliare Antwort zu geben, wenn eine Lösung noch nicht reif und ein Konsens noch nicht möglich sei. Dies gelte umso mehr, als gerade damals der Primat in ganz anderer Weise angegriffen wurde als heute. 7 Schließlich, so gibt Ketteler von Mainz zu bedenken, würden Aversionen nur durch ausgewogene Gesamtdarstellung der Wahrheit behoben, während eine isolierte Herausstellung der päpstlichen Prärogativen das Gegenteil von Beruhigung bewirke. 8 Die Majorität argumentiert aber auch im Blick auf die Zukunft. Hier geht sie vor allem davon aus, dass infolge der schnelleren Kommunikation 5
Schwarzenberg (Prag) am 17. 5. (ebd., 99C). Acta et decreta Sacrorum Conciliorum Recentiorum. Collectio Lacensis VII, Freiburg i. Br. 1892 (zit.: CL), 1332d. 7 Schwarzenberg am 17. 5. (Mansi 52, 99C), Simor (Gran) am 20. 5. (139–142), Ketteler (Mainz) am 23. 5. (204B/C), Domenec (Pittsburgh) am 3. 6. (428 f.). Ebenso schon vorher Dupanloup in seiner Kontroverse mit Dechamps (CL 1334b–1335a. 1337b-1338c). 8 Mansi 52, 203C–204B. 6
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und Verbreitung der Ideen der Irrtum eine ganz andere Dynamik entfalten würde. Es kämen daher glaubensgefährdende Krisen auf die Kirche zu, die schnelles Handeln erfordern und ohne eine intakte und vorbehaltlos anerkannte päpstliche Autorität nicht gemeistert werden können. 9 Demgegenüber argumentiert Kardinal Rauscher von Wien, die Gefährdung des Glaubens komme jetzt und in der Zukunft gerade nicht mehr in erster Linie von Einzelhäresien, sondern von einer grundlegend säkularisierten Lebensanschauung her, deren Gegensatz zum katholischen Glauben jedoch ohnehin evident sei. Anderseits machten es die modernen Kommunikationsmöglichkeiten gerade viel leichter als früher, den Konsens der Kirche festzustellen und kollegial-konziliar zu handeln. 10 Ein beliebtes und häufig wiederkehrendes Argument der Majorität lautet schließlich: Der verbissene Kampf der Kirchengegner, der „Söhne der Finsternis“, gegen die Definition beweist, dass sie vom Heiligen Geist stammt. 11 Dagegen weisen freilich Minoritätsbischöfe auf Gegner der katholischen Kirche hin, denen die Definition gerade willkommen ist, um ein klares Feindbild zu haben und die katholische Kirche leichter zu bekämpfen. 12 Dass das Argument der Majorität schon historisch fragwürdig war, beweist gerade das politische Verhalten der meisten anti-klerikalen Liberalen, die zwar propagandistisch sehr interessiert waren, die Unfehlbarkeit zu bekämpfen, jedoch gar nicht daran, ihre Definition politisch zu verhindern oder abzumildern; sie brauchten sie vielmehr geradezu als Feindbild zu ihrer eigenen Selbstprofilierung. Interessiert an diplomatischen Interventionen zur Verhinderung extremer Konzilsbeschlüsse waren überwiegend liberale katholische Politiker vom Schlage des französi-
9
So Kardinal Patrizi am 14. 5. (ebd., 41D–42A), Gastaldi (Saluzzo) am 30. 5. (330D– 331A), d’Avanzo (Calvi) am 20. 6. (766B/C), Régnier (Cambrai) in einem Brief vom 15. 5. an seinen Klerus (CL 1415d). 10 So in seiner (anonymen, für die Konzilsväter bestimmten) Schrift: ‚Observationes quaedam de infallibilitatis Ecclesiae subiecto‘, Neapel 1870, 83–87. 11 So Gastaldi (Saluzzo) am 30. 5. (Mansi 52, 330B/C) und 2. 7. (1037C/D), Dusmet am 14. 5. (49B), Leahy am 21. 5. (165A), am selben Tage Trucchi (181 f.) und Petagna von Castellamare (190A), Mac Evilly am 25. 5. (266). 12 So Schwarzenberg für hussitische Bestrebungen in Böhmen (ebd., 98B), Connolly (Halifax, Kanada) am 31. 5. (375A), Stroßmayer (Djakovo) am 2. 6. (403B).
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schen Außenministers Daru, die gerade die Spaltung zwischen Kirche und profaner Gesellschaft verhindern wollten. 13 Die Deutung der faktischen Aversion der meisten Zeitgenossen und auch vieler, vor allem gebildeter Katholiken gegenüber der päpstlichen Unfehlbarkeit lief auf die Frage hinaus, wie ein Phänomen wie die „öffentliche Meinung“ im Lichte des Glaubens zu bewerten war. Rivet von Dijon bemühte sich in seiner Rede vom 14. Mai um eine differenzierte Sicht; aus ihr spricht vor allem eine sonst selten anzutreffende Wahrnehmung der Kompliziertheit der Glaubenssituation gebildeter Katholiken. Diese „öffentliche Meinung“, so betont der Bischof von Dijon, sei nicht einfach Ausdruck eines depravierten Geistes: sie entstamme zum Teil eigenständigem Denken (ex efformata ratiocinio conscientia), außerdem geschichtlicher Erfahrung der Profan- und Kirchengeschichte, ferner der Übermacht der heutigen Ideen (hodiernarum idearum praepotentia), schließlich der von Jugend an eingesogenen gegenteiligen Überzeugung. Hier seien viele Katholiken einfach überfordert: sie nehmen trotz allem die Glaubensmysterien und die Unfehlbarkeit der Kirche an, unterwerfen ihren von Konflikten hin und hergerissenen Geist dem Evangelium und der Kirche, seien aber nie dazu zu bringen, die persönliche Unfehlbarkeit des Papstes zu akzeptieren, besonders weil sie wissen, dass auch unter den Glaubenslehrern selbst hier sehr kontroverse Ansichten existieren. Diese Erwägungen seien von sehr großem Gewicht. Denn wer wisse nicht, dass die öffentliche Meinung sozusagen Königin der Welt sei? Diese möge oft irren und auf Irrwege führen; irgendwie müsse man sich doch mit ihr vergleichen. 14 Weiter argumentiert er mit dem modernen Trend zur demokratischen Mitbestimmung. Es gehe nicht darum, dass auch die Kirche sich diesen Spielregeln unterwerfe, was kein Katholik verlange. Man müsse jedoch sehen, dass dadurch eine Atmosphäre geschaffen werde, die der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit nicht förderlich sei. Es komme darauf an, diese uns anvertrauten Herden und ihr Wohl vor Augen zu haben, gerade die, welche, durch die Definition vielleicht abgeschreckt, sich für immer von Kirche und Glauben abwenden oder vom Eintritt in die Kirche zurückschrecken. Es sei kein Zweifel, dass sich sehr viele Men13
Schatz, Vaticanum I 1869–1870 1, 275–277; Ders., Vaticanum I 1869–1870, Bd. II, 281–293. 14 Mansi 52, 51B/C.
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schen stillschweigend von der Kirche zurückziehen; er könne eine Menge von Briefen von Männern wissenschaftlicher Qualifikation und politisch hoher Stellung zeigen: wenn die Väter diese lesen würden, „wären Sie äußerst bestürzt über die gegenwärtige geistige Situation, und zweifellos würde Ihnen diese Sache von höchstem Grad der Wichtigkeit erscheinen“ 15. Ähnlich argumentierte der Pariser Erzbischof Darboy am 20. Mai; hat freilich Rivet stärker die Entfremdung der Gebildeten von der Kirche im Blick, so Darboy eher die Zusammenarbeit von Kirche und Staat. In Europa sei die Situation dadurch charakterisiert, dass die Kirche immer mehr aus den entscheidenden Bereichen des öffentlichen Lebens verbannt sei. In dieser Situation suche man denen, die nicht bereit seien, die alten Lasten zu tragen, neue aufzuerlegen. Wie sei es mit dem Syllabus: habe er heilende Kraft gehabt? Die Unfehlbarkeits-Definition würde die Vorurteile gegen die päpstliche Autorität nicht beheben, sondern vielmehr noch verstärken und vor allem die Tendenzen zur Trennung von Kirche und Staat verstärken, zumal wenn die Unfehlbarkeit in moribus nicht klar abgegrenzt sei gegenüber einem weitgehend ins Politische hineinreichenden Interventionsrecht. Er wolle im Übrigen nicht einem unkritischen Nachgeben gegenüber der öffentlichen Meinung das Wort reden, aber auch nicht dem entgegengesetzten Extrem; weiser sei es, mit ihr oftmals sich zu vergleichen, auf jeden Fall ihr Rechenschaft zu tragen. Er wisse weiter, dass die Kirche nicht den weltlichen Arm brauche; aber sie schlage auch Mitwirkung und Hilfe des Staates nicht ab. 16 Demgegenüber kennen Raess (Straßburg) 17 und Gastaldi (Saluzzo) 18 prinzipiell keine Rücksichtnahme auf die „öffentliche Meinung“, wo es um die Sache der „Wahrheit“ gehe. Die Wahrheit und nicht die öffentliche Meinung, so führt Raess aus, sei für uns Königin der Welt. Die Kirche habe immer über die ihr in allen Jahrhunderten feindliche öffentliche Meinung triumphiert. Auf sie in Sachen der Wahrheit Rücksicht zu nehmen, sei „weltliche Furcht“, sei Menschenfurcht, die sich mit christlicher Freiheit nicht vertrage. Was die Schwierigkeiten auch von Katholiken be15 16 17 18
Ebd., 53C–54A. Ebd., 161 f. Ebd., 175A/B. Ebd., 329A.
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treffe, so seien sie, so Raess, entweder gar keine Katholiken, wenn sie die päpstliche Unfehlbarkeit auch nicht auf die Autorität der Kirche hin annehmen würden; denn dann leugnen sie auch die Unfehlbarkeit der Kirche. Sage man jedoch, es seien „Schwache im Glauben“, auf die Rücksicht genommen werden müsse, so liege die Lösung in der Belehrung durch bischöfliche Hirtenbriefe und durch die Pfarrer. Wenn sie gutgläubig sind, dann lassen sie sich belehren. 19 In ähnlicher Weise argumentiert Erzbischof Manning von Westminster: Wenn man sage, die Gläubigen seien in bestimmten Ländern darauf nicht vorbereitet, dann stimme dies entweder nicht – dann trage es nichts zur Sache bei oder es stimme – dann beweise es erst recht die Notwendigkeit der Definition, da es zeige, dass die Wahrheit verdunkelt sei. 20 Gegen solche einfachen Alternativen wendet sich wiederum der englische Bischof Clifford von Clifton: Wenn man argumentiere, die Kirche werde durch die Wahrheit, nicht durch die öffentliche Meinung regiert, dann sei dies gewiss insofern wahr, als die Kirche die Wahrheit aus Menschenfurcht nicht verschweigen dürfe. Aber wenn man damit meine, dass, sofern nur die Wahrheit gesagt wird, es nicht in höchstem Maße auf die Klugheit ankommt oder man auf die öffentliche Meinung überhaupt nicht zu schauen braucht, sondern alles dem Himmel überlässt: dann wäre dies nicht Glauben, sondern Fanatismus. Auch wenn die Kirche nicht durch die öffentliche Meinung regiert werde: sie dürfe sie auch nicht ungestraft verachten. Die Pforten der Hölle würden die Kirche gewiss nicht überwältigen – aber wer verbürgt, dass ihr nicht erhebliche Verluste zugefügt werden, wenn man nicht mit höchster Klugheit vorangeht? Dürfe man die warnende Stimme der Bischöfe aus Ländern, in denen die Sache der Kirche gefährdet ist, geringachten? Gebe es hier wirklich keine andere Pflicht für die Kirche, als ohne Rücksicht auf Verluste die Wahrheit zu verkünden und die Zeichen der Zeit und die öffentliche Meinung völlig zu verachten? Ferner seien Erfolge in letzter Zeit für die Kirche in Deutschland und den angelsächsischen Ländern erzielt worden, während die überwiegend negative Bilanz vor allem in den lateinischen Ländern zu verzeichnen sei. Wenn dann gerade die Bischöfe aus den ersteren Ländern warnen, sei diese Stimme von höchstem Gewicht. Wenn schließlich Raess 19 20
Ebd., 174A/B; ähnlich Petagna (190B). Ebd., 254 f.
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bei den Schwierigkeiten der gebildeten Katholiken argumentiert habe, entweder handle es sich um gute Katholiken, dann würden sie keine Schwierigkeiten haben, die Definition anzunehmen, oder um schlechte, dann brauche man auf sie keine Rücksicht zu nehmen, dann sei dies zu primitiv. Unter Katholiken und zumal gebildeten Katholiken gebe es sehr verschiedene Grade der Glaubensfestigkeit und des Glaubenseifers. Aber sie lebten in Tuchfühlung und Auseinandersetzung mit den Protestanten. Es sei sehr gefährlich und eine sehr große Versuchung gegen den Glauben, diesen Menschen ein neues Joch aufzuerlegen, zumal wenn es den Anschein erweckt, dass ihre Freiheit beschnitten wird. Wenn aber ein isoliertes Dekret über die Unfehlbarkeit ohne Einfügung in das Kirchenschema erlassen werde, zumal wenn man dann noch die begleitenden extremen Theorien im Blick habe, die überall verbreitet seien bzw. von den Promotoren der Definition verbreitet würden und gegen die keine Sicherung geschehe, dann sei es unvermeidlich, dass diese Menschen Anstoß nehmen und zu Indifferentismus und Unglauben getrieben werden. Es sei höchst unchristlich und ungerecht, Menschen als im Grunde nicht mehr katholisch abzuschreiben, denen es vor allem zu verdanken sei, dass die Kirche in vielen Ländern frei sei. 21 Er sei höchst betroffen, wenn er Stimmen vernehme, wie: Die sollen gehen; es ist ihr Schaden und nicht der der Kirche; die Kirche wird triumphieren und am Ende stärker sein. Dies sei nicht die Stimme der katholischen Kirche, die nicht nur Lehrmeisterin, sondern auch Mutter sei. 22 In gleicher Weise hatte schon Dupanloup gegenüber Dechamps argumentiert: Wenn man von den Katholiken, die möglicherweise nach der Definition abfallen, sage, es seien faule Früchte, die ohnehin bald vom Baume fallen: „gut, dann verlange ich jedenfalls, dass es nicht die Kirche ist, die den Stoß gibt, der sie zu Fall bringt“. Bei der ohnehin gegebenen kirchenfeindlichen oder reservierten Haltung praktisch des ganzen politisch, wirtschaftlich und kulturell einflussreichen Besitz- und Bildungsbürgertums werde eine Definition schwerste Konflikte und möglicherweise die Trennung von Kirche und Staat nach sich ziehen. „Man hat hier von Opposition gesprochen. Nein, was man gehört hat, das ist die
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Ebd., 277–279. Ebd., 279D; ähnlich Vancsa (Fogaras, Siebenbürgen) am 2. 6. (384 f.).
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Aufwühlung ihres Herzens als Hirten und Väter, das ist ein Teil der Geburtsschmerzen, die sie für die Seelen erleiden. Wissen Sie, Monseigneur, was ich Ihnen von meiner Seite zum Vorwurf mache? Das ist nicht, dass Sie unsere Meinungen mit Füßen treten: das ist, dass Sie unsere Ängste um die Seelen mit Füßen treten!“ Man habe leicht sagen, dies sei eine Flut, die vorbeigehe – diese Flut könne im Vorbeigehen unschätzbare Ruinen anrichten, und ihr Vorbeigang könne lang dauern. Vor 300 Jahren sei auch eine solche Flut gekommen, und sie habe sich noch nicht zurückgezogen. Wenn man sage, die Kirche habe die Verheißung: aber die einzelnen Nationen haben sie nicht. Die Seelen, die verlorengehen, gehen für immer verloren; und die späten Gewinne, die die Vorsehung an die Stelle der Verluste treten lässt, hindern nicht, dass die Kirche jetzt teuer zahlt. 23 Ähnlich argumentiert der Schweizer Bischof Greith von St. Gallen, der einzige Schweizer Bischof, der der Minorität angehört, am 1. Juli: Man müsse vor allem alles vermeiden, was nach Absolutismus rieche und entsprechende Emotionen wecke. In diesem Sinne müsse man auch auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen. Denn da die Kirche nicht in den Wolken, sondern in dieser Welt ihre Mission versehe, könne sie den heutigen Zeitgeist nicht einfach ignorieren: nicht in dem Sinne, dass sie ihn einfach als Norm und Maßstab anerkenne, aber wohl als Spiegel zur Unterscheidung, was die Zeitgenossen auf ihren schwachen Schultern tragen können, was sie absolut ablehnen und womit der Einheit der Kirche gedient sei. Die Tradition der Kirche kenne Beispiele für entsprechendes Verhalten und dies zu einer Zeit, da die Könige die Kirche mit dem Schwert schützten. Damit die Kirche ihren heilenden Einfluss auf die Gesellschaft wiederherstellen kann, komme es vor allem darauf an, die Bande des zerbrochenen Friedens mit der profanen Gesellschaft neu zu binden, Verbitterungen und Aggressionen abzubauen, anstatt sie noch zu schüren. Würden die Völker etwa in geistlicher Beziehung einen Absolutismus dulden, den sie in weltlicher Beziehung nie mehr anerkennen? 24 Die Antwort der Gegenseite auf diese Bedenken lautet im Wesentlichen: Priorität in einem solchen Konflikt hat einmal die Wahrheit und ihre unverkürzte Darstellung, welche, wenn ihre Bestreitung ihre Definition
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CL 1329 f. Mansi 52, 998 f.
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erheischt, niemals der Opportunität hintangestellt werden kann. 25 Pastoral aber haben die treuen Katholiken Priorität, die eine Entscheidung des Konzils erwarten und durch die öffentlichen Auseinandersetzungen verwirrt sind, jedenfalls vor Gelehrten, die zwar publizistisch und politisch von großem Einfluss, aber innerlich vom protestantischen Denken angesteckt seien. 26
2. Kirche und Nichtkatholiken Für die Minorität spielte eine große Rolle die Reaktion der Nichtkatholiken, vor allem der Protestanten, und dies in mehrfacher Hinsicht. Schwarzenberg befürchtete bei den Tschechen 27 und Stroßmayer von Djakovo bei den Kroaten 28, dass die Definition nationalistischen Abfallbewegungen von der katholischen Kirche Auftrieb geben würde – was sich sicher in beiden Fällen als unbegründet erwies. Häufiger wurde angeführt, dass die Situation der Verteidiger des katholischen Glaubens schwieriger sein würde. Sie wären, wie der irische Erzbischof Mac Hale von Tuam ausführte, in der Situation der Juden, die beim Neubau des Tempels die Kelle in der einen und das Schwert in der anderen Hand tragen mussten, zumal in Irland, wo die Priester darauf nicht vorbereitet und ohnehin mit Arbeit überlastet seien. 29 Dieses Moment wurde besonders für die angelsächsischen Länder angeführt. Für die katholische Apologetik werde die Situation deshalb peinlich, weil genau jenes absolutistisch-papalistische Zerrbild des Katholizismus, von dem man sich immer distanziert und das man als Popanz abgetan habe, jetzt anscheinend bestätigt werde. Die katholische Apologetik habe sich gerade in England 25
So Manning (ebd., 255B, ähnlich de Preux am 24. 5. (ebd., 222 f.) und Gastaldi am 30. 5. (329 f.). 26 So Raess am 21. 5. (Ebd., 174C/D), Cousseau (Angoulême) am 23. 5. (211–213). Mit der Priorität des katholischen Volkes und seinem Anspruch, vor Verwirrung geschützt zu werden und Klarheit zu erhalten, war bereits im Januarpostulat zur Vorlage der Unfehlbarkeitsfrage vor das Konzil argumentiert worden (Mansi 51, 647D). 27 Mansi 52, 98B/C. 28 Ebd., 403C/D. 29 Ebd., 150 f.
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immer bemüht zu zeigen, dass die katholische Kirche kein Despotismus und keine Tyrannis sei, so führt Clifford am 25. Mai aus. 30 Faktisch habe die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit in der Verkündigung keine Rolle gespielt. Ähnliches galt für die USA. Domenec von Pittsburgh 31 und Whelan von Wheeling 32 betonten, ebenso wie vorher schon Vérot von St. Augustine 33, bisher habe die katholische Apologetik immer die Behauptung, die Katholiken glaubten an die Unfehlbarkeit des Papstes, als Unterstellung abgetan. Gegenüber den Protestanten, die uns die dunklen Seiten der Papstgeschichte vorhalten, hätten wir immer erwidert, als Katholiken seien wir nicht verpflichtet, zu allem zu stehen, was von Päpsten gesagt oder getan worden sei; denn der Papst bleibe vielmehr ein Mensch, der sündigen und irren könne; beides habe man auf eine Stufe gestellt. Die spezifisch ultramontanen Lehren würden dort mit „italienisch“ gleichgesetzt und schon aus nationalem Affekt abgelehnt. Nach der Definition müsste man nun sagen: Wir haben geirrt, wir sind zu Lügnern geworden! Noch schlimmer werde sein, dass die Protestanten sagen würden, die Katholiken hätten zu ihrer Glaubensregel etwas hinzugefügt; und damit entfalle jenes Argument der Konstanz unter Hinweis auf die Veränderlichkeit des Protestantismus, das bisher das stärkste Argument der katholischen Apologetik darstellte. Eine besondere Rolle spielte im englischen Bereich der Eid der englischen Bischöfe vor der Katholikenemanzipation von 1829, dass unter anderem die päpstliche Unfehlbarkeit nicht katholische Glaubenswahrheit sei. War es ehrlich, nun, da die politische Gleichberechtigung der Katholiken errungen war, gleichsam die Katze aus dem Sack zu lassen? Auf das Problem dieses Eides hatte vor allem Clifford in seinen schriftlichen Bemerkungen zum Caput addendum hingewiesen. 34 Die irischen Bischöfe Mac Evilly von Galway 35 und Gilooly von Elphin 36 erwiderten: Dieser Eid wird nicht zum Meineid, denn er traf damals zu: die päpstliche
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Ebd., 275B–D. Ebd., 426C. Ebd., 870C/D. In seiner schriftlichen Eingabe zum ‚Caput addendum‘ (Mansi 51, 1006B). Mansi 51, 1032C/D; ebenso kurz Moriarty von Kerry (ebd., 1026B). Mansi 52, 264A/B. Ebd., 417A.
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Unfehlbarkeit war und ist bis jetzt noch nicht katholisches Dogma, so dass seine Leugner noch nicht Häretiker sind. Im Übrigen müsse man, so Mac Evilly, der brutalen Realität ins Auge schauen: Was bei den Protestanten zähle, seien nicht moralische Faktoren wie guter Wille und Behebung von Missverständnissen, sondern nur Macht. Was die Katholikenemanzipation bewirkte, war einzig und allein, dass die Katholiken einen Machtfaktor darstellten. Wenn die protestantischen Regierungen könnten, würden sie noch heute die Katholiken unterdrücken; und wenn sie das Schwert der Verfolgung aus der Scheide ziehen wollten, bedürfe es dazu weder der Unfehlbarkeitsdefinition, noch würde ihre Unterlassung sie daran hindern. 37 Diese gewiss von starkem anti-britischem Affekt gespeisten Ausführungen entbehrten sicher nicht jedes Fundamentes. Nur vereinfachten sie sicher einen Tatbestand, der nach handelnden Personen sehr zu differenzieren war. Was die damalige britische Führung betraf, so trafen sie in gewissem Maße auf den rabiat anti-katholischen Außenminister Clarendon zu, in keiner Weise jedoch auf den Premier Gladstone. Nur war eben gerade Gladstone – und hier stimmte das übliche Weltbild der Definitionsbefürworter nicht – Verfechter einer diplomatischen Aktion gegen die Unfehlbarkeitsdefinition, die er als Gefährdung seiner Versöhnungspolitik gegenüber den irischen Katholiken ansah, während Clarendon meinte, man solle hier die katholische Kirche in ihr eigenes Verderben laufen lassen. 38 Die Ausführungen von Mac Evilly riefen auch am selben Tage den Protest Cliffords hervor: Wer so rede, habe keine Ahnung, wie die Katholiken in England und Nordamerika mit den Protestanten gesellschaftlich engstens zusammenleben und auf menschlich gute und vertrauensvolle Beziehungen angewiesen seien. 39 Und die Geschichte Englands zeige, wie er an einigen Beispielen aufzeigt, dass maßloses und realitätsfernes Verhalten katastrophale Folgen für die katholische Sache gehabt habe; gerade die Katholiken Englands hätten die Erfahrung machen müssen, „dass die größten Feinde der Religion ihre maßlosen Verteidiger sind“ 40. 37 38 39 40
Ebd., 264 f., ebenso 271 f. (im nichtgehaltenen Teil der Rede). Schatz, Vaticanum I 1869–1870, II, 288–290. Mansi 52, 279B–D. Ebd., 281C.
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Was die Protestanten betraf, so lauteten die Hauptargumente der Majorität: Die Mehrzahl, zumal der liberalen Protestanten, seien durch viel fundamentalere Dissenspunkte von der katholischen Kirche getrennt als nur die päpstliche Unfehlbarkeit. Insbesondere Schaepman von Utrecht zeichnete hier am 31. Mai aus seiner niederländischen Erfahrung ein sehr dunkles Bild: Die lutherische oder calvinistische Orthodoxie sei praktisch tot, es herrsche bei den Gebildeten der theologische Liberalismus und Rationalismus, in den niederen Klassen religiöse Gleichgültigkeit einerseits, Sektenwirrwarr anderseits. 41 Suchende und der katholischen Kirche gegenüber offene Protestanten aber – so wurde immer wieder argumentiert – suchen in ihr nicht Kontroverse und Pluralität, sondern Einheit, Eindeutigkeit und Sicherheit in den Stürmen der Welt; sie würden daher durch die Unfehlbarkeitsdefinition nicht abgestoßen, sondern angezogen, da sie diese als logische Konsequenz des katholischen Kirchenprinzips empfinden. Innerkatholische Kontroversen und Unklarheiten über das genaue Subjekt der kirchlichen Unfehlbarkeit schwächten aber das Argument der Einheit und hielten suchende Protestanten von der Konversion ab. 42 Besonders imponierten hier die Ausführungen Mannings am 25. Mai, da er aus seiner eigenen persönlichen Erfahrung als Konvertit und vor allem, wie er zu Beginn hervorhob, aus der Sicht der katholischen Kirche „ab extra“, von den Nichtkatholiken und Protestanten aus, sprach. 43 Als er sich zuerst als Protestant mit der katholischen Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche beschäftigt habe, sei seine Hauptschwierigkeit gerade ihre fehlende Eindeutigkeit und Bestimmtheit gewesen. Er habe nicht verstehen können, dass hier über ihr Subjekt Kontroversen bestanden und man nicht sicher wusste, welches Konzil ökumenisch sei. Er habe nicht verstehen können, wie weder der Papst ohne das Konzil noch das Konzil ohne den Papst unfehlbar wäre, und doch beide zusammen; nicht, wie die Kirche verpflichtet sei, dem Papst zu gehorchen, wenn
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Ebd., 351 f. So Kardinal Patrizi am 14. 5. (ebd., 41B/C), Kardinal Cullen (Dublin) am 19. 5. (122A), Manning am 25. 5. (255–259), Mac Evilly (nicht gehaltener Teil der Rede: 270 f.), Schaepman am 31. 5. (352C/D), Ballerini (lat. Patriarch v. Alexandrien) am 20. 6. (773D–774A), Lynch am 23. 6. (861C/D), Dorrian (Down-Connor) in nicht gehaltener Rede (1068C-1069A). 43 Ebd., 250 f. 42
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er fehlbar ist, da sie dann im Falle eines Irrtums entweder aus der Wahrheit herausfällt oder sich gegen ihr Haupt erheben muss. Die päpstliche Unfehlbarkeit erschien zweifelhaft, da sie von Katholiken selbst bekämpft wurde, die konziliare Unfehlbarkeit, da Konstanz und Basel von den Gallikanern angenommen, von den Ultramontanen zurückgewiesen wurden; er habe kein Kriterium finden können, wodurch sich die ökumenischen von den nicht-ökumenischen Konzilien unterschieden. Die ganze Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche sei ihm durch diese Unklarheiten zweifelhaft erschienen. Aus seiner ganzen persönlichen Erfahrung als Konvertit und als Helfer bei anderen Konversionen könne er zweierlei sagen: 1. der einzige Grund zur Konversion sei die Unfehlbarkeit der Kirche; 2. nichts verunklare und stelle diese Lehre so sehr in Frage wie die Infragestellung der Unfehlbarkeit des Papstes und die daraus folgenden inner-katholischen Kontroversen. 44 Die Protestanten in England betrachteten die päpstliche Unfehlbarkeit als notwendige logische Konsequenz der katholischen Lehre; der Gallikanismus dagegen werde nicht ernstgenommen: man betrachte ihn nicht als genuin katholisch, führe ihn allenfalls schadenfroh als Gegenargument an, dass es mit der vielgepriesenen Einheit der Katholiken doch nicht so weit her sei. Mannings Behauptung, die Unfehlbarkeitsdefinition fördere gerade die Konversion zur katholischen Kirche statt sie zu behindern, blieb freilich nicht unwidersprochen. Connolly von Halifax 45 und Whelan 46 wiesen darauf hin, dass diese Erfahrung nicht repräsentativ sei: gegenüber den protestantischen Vorurteilen bemühe man sich, diese Lehre als frei und kontrovers darzustellen und ein Bild des Katholizismus zu vermitteln, das diesen Klischees widerspreche. Ähnlich wurde beiderseits über die Wirkung hinsichtlich der Ostkirche argumentiert. Der melkitische Patriarch Jussef von Antiochien wies am 19. Mai darauf hin, einziges Fundament einer Einheit mit der Orthodoxie sei und bleibe das Florentinum sowie die Selbständigkeit der Patriarchate, die dort als Basis und Bedingung der Union ausgehandelt worden sei. 47 Eine solche Union, so führte jedoch am folgenden Tage 44 45 46 47
Ebd., 257B–258A. Ebd., 375A. Ebd., 871B/C. Ebd., 133–137.
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Maddalena von Korfu aus, sei aber in absehbarer Zeit illusorisch. Denn die griechische Kirche sei seit acht Jahrhunderten zu einem „sterilen und dunklen Zeugnis der göttlichen Rache“ geworden. Ihr geistiger und theologischer Tiefstand und die Verbindung der Orthodoxie mit dem griechischen Nationalismus machten jede Hoffnung auf eine Union zunichte. Die einzige Chance sieht er darin, dass der Säkularisierungsprozess und die liberalen Ideen auch die griechische Kirche in eine tiefgreifende Krise hineinziehen, aus der sie dann nur den Ausweg der Einheit mit Rom sehe. Wenn es aber zu einer Union kommen sollte, wäre die päpstliche Unfehlbarkeit deshalb kein Hinderungsgrund, weil die Griechen, wenn auch oft unaufrichtig, so doch nicht dumm sind: sie würden klar und messerscharf schließen, dass aus der Anerkennung des Papstes als Haupt der Kirche im Sinne des Konzils von Florenz die Unfehlbarkeit des Papstes als notwendige logische Konsequenz hervorgeht. 48 Ganz andere Stimmen kamen jedoch aus Österreich-Ungarn. Bonnaz von Csanad bestätigte zwar die triste Situation speziell der griechischen Kirche, warnte jedoch vor Generalisierung: unter den Orthodoxen Ungarns, das heißt des heute rumänischen Siebenbürgen, sei die Situation besser und die Bereitschaft zur Einheit größer. 49 Er und ebenso Vancsa von Fogaras 50 betonten, die einzig mögliche Basis der Einheit sowohl mit den derzeitigen Unierten wie mit den Orthodoxen sei und bleibe das Florentinum.
3. Kirche und profane Gesellschaft Allgemein präsent war in der Minorität die Befürchtung einer generellen atmosphärischen Verschärfung der kirchenpolitischen Situation in vielen Staaten. Näher ausgeführt wurde dies am 17. Mai von Greith für die Schweiz. Angesichts der bevorstehenden Revision der Bundesverfassung in zentralistischem Sinne und der ohnehin aufgestauten Emotionen würde hier die Unfehlbarkeitsdefinition wie ein Funken im Pulverfass wirken. 51 Sein Walliser Kollege de Preux tat diese Befürchtungen eine Woche 48 49 50 51
Ebd., 152 f. Ebd., 303 f. Ebd., 380–386. Ebd., 77A/B.
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später als gegenstandslos ab: die Unfehlbarkeitsdefinition würde den Kirchengegnern keinen wirklichen Grund für kirchenfeindliche Maßnahmen bieten, allenfalls einen willkommenen Vorwand; dies heiße jedoch, dass sie, wenn dieser sich ihnen nicht darbietet, den nächsten anderen wählen würden. 52 Greith erwiderte am 1. Juli: de Preux habe im Wallis zwar im Ganzen eine ruhige Situation, wenn auch hier, wie er ihm in einer nur für einen Schweizer verständlichen Anspielung klarmachte, manchmal Bären aus den Höhlen am Fuße der Berge (Bären = Berner, Agitatoren aus dem protestantischen Kanton Bern) unter den Schafen wüteten. 53 Aber der Wallis sei nicht die Schweiz, wo überall sonst eine explosive Situation herrsche, die zu äußerster Vorsicht mahne. Bezeichnend ist hier für die Argumentation der Majorität: die eventuellen kirchenfeindlichen Maßnahmen werden personalisiert, auf bewusste Pläne und Strategien reduziert; aus dieser Sicht wird mit Recht argumentiert, dass ein nüchtern denkender Politiker von der Unfehlbarkeit nichts zu fürchten hat und diese allenfalls nur Vorwand sein kann. Was fehlt, ist der Blick für das Atmosphärische, für den Sog öffentlicher Stimmungen, mit denen dann auch Regierungen, die nicht von vornherein kirchenfeindlich waren, zu rechnen hatten, oder die von Politikern, die primär andere Ziele verfolgten, wie zum Beispiel Bismarck, in ihr Kalkül einbezogen wurden. Diese Sicht für das Atmosphärische war bei der Minorität stärker ausgeprägt. Im Übrigen lautete ein Hauptargument der Majorität, der Staat habe von der Unfehlbarkeitsdefinition nichts zu fürchten, müsste ihr vielmehr dankbar sein: denn im Papsttum und seiner Unfehlbarkeit werde das Autoritätsprinzip verkündet, in dem letzten Endes auch das Heil der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Rettung liege. So verkündete Gastaldi (Saluzzo) am 11. Juni: „Jede Autorität ist heute überall in Mißkredit geraten; jede Autorität steht in unserer Zeit im Schußfeld, nicht nur die königliche, sondern auch die väterliche. Bewahren wir daher die erste Autorität, welche die Kraft hat, jede an-
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Ebd., 221. Ebd., 997B.
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dere Autorität zu bewahren, nämlich die Autorität des Papstes, und so werden wir für das Wohl der Kirche sorgen“ 54.
Demgegenüber wenden Schwarzenberg und Ketteler ein, das Autoritätsprinzip sei nicht gleich Absolutismus; der Absolutismus habe vielmehr in logischer Konsequenz zum Umschlag in der Revolution geführt. „Sehen wir zu, daß wir nicht ähnliche Erfahrungen in der heiligen Kirche machen müssen!“ 55. Und inmitten zunehmender Unmutsäußerungen seitens der Majorität verkündete Ketteler am Schluss seiner Rede vom 23. Mai: „Gewiß klagt alle Welt, daß jede, sowohl weltliche als auch geistliche Autorität in unseren Tagen mit Füßen getreten wird. Alle Menschen guten Willens wünschen, daß wir die Autorität verteidigen und voll herausstellen. Aber die Welt ist auch von einer anderen allgemeinen Überzeugung bestimmt, nämlich dem Abscheu vor jeder Form des Absolutismus, aus welchem so viele Übel für die Menschheit entsprungen sind: denn der Absolutismus korrumpiert und erniedrigt den Menschen. Verkünden Sie also, ehrwürdige Väter, verkünden Sie der ganzen Welt, daß die Autorität der Kirche […] Fundament jeder Autorität ist! Aber zeigen Sie zugleich, daß es in der Kirche keine willkürliche, gesetzlose und absolutistische Gewalt gibt […], daß es in ihr nur einen Herrn und absoluten Monarchen gibt: Jesus Christus, der die Kirche mit seinem eigenen Blut erworben hat! Nur wer Beides leistet, sorgt richtig für das Wohl der Kirche und die Autorität des Heiligen Stuhles.“ 56
Der Vergleich mit dem Absolutismus traf eine empfindliche Stelle. Sich rundheraus zu ihm zu bekennen, sei es auch nur für den kirchlichen Bereich, dazu war kaum jemand von der Majorität bereit; dazu war das Wort und die Sache viel zu sehr negativ belastet. Im Allgemeinen leugneten die Redner der Majorität den Absolutismus, insofern damit Willkür und Auslieferung an die Subjektivität eines Einzelnen gemeint sei. Denn der Papst sei an die Offenbarung gebunden; der Vergleich mit absoluter Fürstenmacht ziehe nicht, da die Fürsten keine Verheißung hätten. Die unfehlbare Wahrheitsgarantie sei gerade der subjektiven Willkür ent-
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Ebd., 617B/C. Ähnlich Patrizi am 14. 5. (41C), Dusmet (49B/C), Salzano (Kurie) am 2. 6. (414A), schließlich Gasser am 11. 7. (1230C/D) und 16. 7. (1317B/C). 55 Schwarzenberg am 18. 5. (ebd., 99B); ähnlicher Vergleich bei Ketteler am 23. 5. (209A). 56 Ebd., 210D–211A.
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gegengesetzt. 57 Ferré von Casale gesteht freilich andererseits zu, dass in rein verfassungsrechtlicher Hinsicht die päpstliche Vollmacht absolutistisch sei, insofern Gewaltenteilung und rechtliche Begrenzung durch eine andere Instanz ausgeschlossen sei. 58 Dass die Kraft der Kirche in einer Welt, die sich vom Absolutismus abwende und parlamentarischen Formen zuwende, gerade in ihrer konziliar-synodalen Struktur liege, wird am 2. Juni besonders von Stroßmayer betont: die Kirche habe durch ihre Konzilien der Welt einmal ein Beispiel gemeinsamer Beratung gegeben. In der heutigen Demokratisierung und Parlamentarisierung liege wiederum ein Zeichen der Zeit für die Kirche, hier den Völkern positive Führung zu bieten, und dies umso mehr, als die modernen Verkehrsmöglichkeiten konziliare Beratung in viel größerem Ausmaß ermöglichten, als dies in der Vergangenheit möglich war. 59 Ähnlich argumentiert drei Wochen später Losanna von Biella: Die Gegner schieben die katholische Kirche in die absolutistische Ecke, identifizieren sie mit der schwärzesten Reaktion; schlagen wir sie stattdessen, wie schon Augustinus sagt, mit ihren eigenen Waffen, indem wir das genuin katholische Prinzip des Konzils und des Konsenses betonen! 60 Was das Verhältnis von Kirche und Staat betrifft, so gibt es einmal die Erwartung einer Trendwende: die Unfehlbarkeitsdefinition als Heilmittel für die kranke Welt, indem sie das Autoritätsprinzip betont, das die Welt heute brauche. So am 16. Juli, zwei Tage vor der feierlichen Definition, Gasser von Brixen: „Es läßt sich nicht leugnen, daß es mit der menschlichen Gesellschaft bereits so weit gekommen ist, daß die letzten Fundamente menschlicher Gemeinschaftsordnung ins Wanken gekommen sind. Für diesen miserablen Zustand der menschlichen Gesellschaft gibt es kein anderes Heilmittel als durch die Kirche Gottes, in welcher eine von Gott gestiftete und unfehlbare Autorität existiert […]. Damit Aller Augen auf diesen Felsen Petri gerichtet werden, den die Pforten der Hölle nicht überwinden können, dazu glaube ich, hat es
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So am folgenden Tag Salas v. Concepción (ebd., 237 f.) und Rota v. Guastalla (248), am 30. 6. Ferré v. Casale (948C/D), am 1. 7. Payá y Rico v. Cuenca (981 f.), schließlich in nicht mehr gehaltener Rede Kurienerzbischof Franchi (1064C). 58 Ebd., 948C/D. 59 Ebd., 396 f. 60 Ebd., 863D–864A.
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Gott gewollt, daß in diesen Tagen die Unfehlbarkeit des Papstes dem Vatikanischen Konzil vorgelegt worden ist.“ 61
Neben dieser Erwartung einer „Trendwende“ im Sinne der Wiederzuwendung zum Autoritätsprinzip ist in infallibilistischen Kreisen vor allem Frankreichs eine apokalyptische Variante dieser Erwartung verbreitet, etwa bei dem Laien und Journalisten Louis Veuillot. Ihre idealtypische Form lautet etwa: Die Welt, die staatliche Ordnung, steuert auf eine Katastrophe hin, vielleicht auf eine allgemeine Revolution. Aber nach dieser Katastrophe wird die Führerschaft der Kirche wieder benötigt; nach dieser Sintflut entsteht eine neue Welt; und die Zukunftsträger, so heißt es nicht selten, seien dann nicht mehr die derzeitigen Staaten und Regierungen, sondern die Völker, welche auf der Seite der Kirche und des Papstes stehen, ja die Demokratien, die dann wieder christliche Staaten bilden. Die Unfehlbarkeit des Papstes ist gleichsam der Leitstern für diese neue Welt; sie ist das Banner, das die Kirche bereithält für die Stunde Null. So formuliert es ein französischer Autor Magendie: „Wahrlich, in der Verkündigung der Unfehlbarkeit werden vor dem einherschreitenden Papstkönig die Berge zu Tälern werden, Schwierigkeiten, vor denen man wie vor unübersteigbaren Felsen ängstlich zurückschreckt, werden vergehen wie Dunst in der Morgensonne, und ein neues Zeitalter wird sich über die elektrisierten Nationen erheben. Aber diese Jahre der Glorie, die gegenwärtige Welt ist ihrer nicht würdig, und wir haben nur eine schwache Hoffnung ihr Zeuge zu sein“. 62
Häufiger ist jedoch bei der Majorität die Perspektive verbreitet: die Welt gehe ohnehin ihre eigenen Wege. Die Kirche tue gut daran, sich auf sich selbst zurückzuziehen, auf das Zentrum ihrer eigenen Gewissheit. Sie soll vor allem Distanz vor den Staaten bewahren: denn seitdem die Staaten nicht mehr christlich sind, sondern ihre eigenen Wege gehen, gezieme es auch der Kirche, ohne Rücksicht auf die Verbindung mit dem Staat ihren eigenen Weg zu gehen. So Salas von Concepción (Chile) am 24. Mai: „Wo sind denn in diesen traurigen Zeitumständen, in denen wir uns befinden, die wahrhaft katholischen Regierungen, dass man von ihnen in kirch-
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Ebd., 1317B/C. M. A. Magendie, Sophismes de Mgr. Dupanloup dans la question de l’infaillibilité du Pape, Paris 1870, 38 f.
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lichen Dingen Ratschläge annehmen möchte? […] Wir, die wir auf ganz andere Weise die Geschäfte Gottes und der Kirche führen, wir, Nachfolger der Apostel, wir, gleichsam Söhne des Lichtes und der Propheten, wir sollen zu den Palästen unserer Cäsaren gehen, um zu erfahren, was ihren Wünschen und Erwartungen entspricht oder nicht, bevor wir etwas über den Glauben definieren?“63
Die Primatsdefinitionen erscheinen so als Akt der inneren Emanzipation der Kirche vom Staat und von der Gesellschaft. Und entsprechend gilt: Weil die bergende christliche Gesellschaft nicht mehr existiert, müssen, so führt der Kurienerzbischof Salzano am 2. Juni nicht ohne scharfsinnigen historischen Blick aus, die rein kirchlichen Autoritätsstrukturen stärker und geschlossener sein: infolge des unseligen Prinzips der Trennung von Kirche und Staat müssen die Bande der kirchlichen Hierarchie enger gezogen sein, um, von menschlichen Mitteln entblößt innerlich an Geschlossenheit zu gewinnen. 64 Auch in dieser Hinsicht ist die Definition der Papstdogmen und insbesondere der päpstlichen Unfehlbarkeit im Verständnis der Majorität eine Reaktion auf das Zerbrechen der Societas christiana. Ihre bergende Selbstverständlichkeit, die auch den Glauben des Einzelnen trug, ist dahin. So lange sie noch lebendig war, konnte die Kirche mit dem Gallikanismus und der Leugnung der päpstlichen Unfehlbarkeit immerhin leben; für den einzelnen Christen bedeutete dies noch keine generelle existenzielle Unsicherheit. Die moderne Welt sei aber eine Welt des ständigen Wandels und der Ungewissheit. Um in dieser Welt sowohl Zeugnis ablegen zu können von der Offenbarung Gottes wie ihre eigene Einheit behaupten zu können, müsse die Kirche das Eindeutige, Feste, Verlässliche bezeugen, den unwandelbaren Fels in der Brandung der Zeit. Bzw.: inmitten einer Welt des ständigen Wechsels, der Revolutionen, der Diskontinuitäten, müsse die Kirche, um nicht selber von der Flut weggeschwemmt zu werden, sich auf ihr institutionelles Zentrum der Gewissheit und der Einheit konzentrieren. Sie habe vor der Welt das Andere zu bezeugen, das die Welt nicht kennt: die Gewissheit inmitten des Zweifels, die Autorität inmitten der Diskussion und des Fragens, die Tradition und Vorgegebenheit inmitten der Versuche des Menschen, selbst seine Ord63 64
Mansi 52, 233C–234B. Ebenso Lynch (Toronto) am 23. 6. (ebd., 861B). Ebd., 414C/D.
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nung zu gestalten. Entsprechend argumentierte der Innsbrucker Jesuit Wieser, durchaus mit historischer Perspektive, in einer Schrift gegen Döllinger: Jede geschichtlich neue Epoche, in welcher sich die Kirche aus früheren politischen, nationalen oder kulturellen Bindungen löse, sei eine neue Stunde für den Primat. Und derzeit sei dies die Lösung des früheren Verhältnisses von Kirche und Staat einerseits, das Zusammenrücken der Welt durch den modernen Verkehr anderseits. Und die innere „Abgrenzung“ von der Welt, welche die Unfehlbarkeit bewirke, sei gerade deshalb notwendig, weil die äußeren Grenzzäune der christlichen Gesellschaft fallen. 65 Also auch hier: Primatsdefinition und Unfehlbarkeit als Sich-Stellen der Kirche auf sich selbst nach dem Zerbrechen der Societas christiana. Beide Seiten werfen sich Furcht und Unglauben vor. Auch vor der Definition der Immaculata Conceptio, so der chilenische Bischof Salas von Concepción, habe man ähnliche Ängste gehabt; und damals wie heute gelte das Wort „Kleingläubige, warum habt ihr gezweifelt?“ (Mt 8,26). „Wenn die Definition einmal erlassen ist, wird die Wahrheit strahlend hervortreten, die Wolken verschwinden, der Sturm hört auf, eine große Ruhe tritt ein, und es wird Friede sein“. 66 Bravard von Coutances wendet hier ein: Gebe Gott, dass diese Ruhe nicht die Friedhofsruhe (pax cadaverum) ist und dass nicht in Europa solche Schismen und Katastrophen entstehen, dass unseren Völkern der Glaube genommen wird! Aber im Übrigen wirft er gerade den Infallibilisten ungläubige Angst vor: Entspreche es denn der Würde des Konzils, auf Aufregung und Agitation sofort zu reagieren? Warum sind wir so furchtsam? „Sind wir nicht in einem Schiff, das immer von den Fluten hin und hergeworfen, dennoch niemals versinkt, und froh und triumphierend zu den ewigen Ufern rudert?“ In dem größten Sturm steuere man auch nicht direkt gegen den Wind. So würde das Konzil auch am klügsten handeln, wenn es einfach mit seinen Arbeiten fortfährt und zum Primat erst kommt, wenn er dran ist. 67 In beiden Fällen ist es jeweils die Angst der Anderen, nie die eigene, die
65
Johann Wieser, Die Unfehlbarkeit des Papstes und die Münchener ‚Erwägungen‘, Graz 1870, 117–119. 123. 66 Mansi 52, 232C. Ähnlich Dechamps (71A/B) und Rota (244 f.). 67 Ebd., 307B–D.
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Positionierung der Kirche in der Moderne
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„ungläubig“ ist und aus der mangelndes Vertrauen auf den Heiligen Geist spricht.
4. Schlussbemerkungen Zusammenfassend kann man sagen: Es liegen jeweils unterschiedliche Optionen und Prioritäten für das Verhältnis von Kirche und Moderne vor. Beide Seiten sehen die päpstliche Unfehlbarkeit und ihre Definition nicht nur als rein innerkirchliche Größe, sondern als eine Weise, wie die Kirche ihre Relation zur profanen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bestimmt. Dabei liegt für die Majorität diese Funktion vor allem darin, Hort der Sicherheit, Eindeutigkeit und Festigkeit in einer Welt zu sein, in der sonst alles im Wandel und nichts mehr verlässlich ist. Sie hat „portus salutis“ zu sein, in welchem die Menschen „inter mundi tempestates“ sicher ruhen können. 68 Die Menschen, ernüchtert von den Illusionen, ermüdet von der Gegenwart, voller Angst vor der Zukunft, erwarteten vom Papst Sicherheit. 69 Auf der anderen Seite lag die primäre Option darin, wie es Greith ausdrückte, „pacis disruptae vincula cum publica societate religare potius quam rescindere“ 70, also es nicht zum schroffen Bruch und zur radikalen Antithese zwischen Kirche und moderner Gesellschaft kommen zu lassen. War die Majorität tendenziell geneigt, an einer Versöhnung mit der modernen Gesellschaft zu verzweifeln, da diese von einer eindeutigen Anti-Haltung gegenüber Christentum und Kirche bestimmt sei, deren Hauptobjekt wiederum der Primat sei, so ging die Minorität nicht von einer pauschal negativen Sicht aus, sondern sah bei allem Bedenklichen positive Elemente und christliche Fermente in ihr. Sie lehnte deshalb radikale Lösungen ab und forderte einen geduldigen Unterscheidungsprozess. Beide Seiten verstehen ihre Option als Reaktion und Antwort auf die Herausforderung der Moderne. Auch die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit ist grundlegend ein „Modernisierungsphänomen“ und nur von da aus ganz zu verstehen. Beide Seiten sehen gerade in dem Verlust 68 69 70
So Patrizi am 14. 5. (ebd., 41C). So Dusmet am selben Tag (ebd., 49A). Ebd., 999C.
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fester Ordnungen und Orientierungen, in dem ständigen Wandel, das Spezifikum der Moderne; die Majorität meist noch radikaler als die Minorität. Die Antwort darauf sieht die Majorität in dem, was der Moderne gerade fehlt: dem Festen, absolut Eindeutigen. Die Kirche hat vor allem „Gegengesellschaft“, radikale Alternative zur „Welt“ zu sein. Die Minorität sieht die Heilung viel mehr in dem geduldigen Mitgehen und in einem Unterscheidungsprozess, der weder auf radikale Absonderung noch auf Angleichung hinausläuft, wohl aber davon ausgeht, dass auch die Kirche Teil dieser Welt ist. Es sind Mentalitäten, die sich auch heute nicht weniger gegenüberstehen; und nicht wenige Argumente wären austauschbar mit denen der innerkirchlichen Kontroversen der letzten Jahrzehnte, ob es sich um theologische Fragen wie die des Priestertums der Frau handelt oder um den Wandel der Sexualmoral.
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Offenbarung, Glaube und Vernunft
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Recta ratio fundamenta fidei demonstret? Das Spannungsverhältnis von Glaube und Vernunft in der Sicht des Ersten Vaticanums
1. Hinführung Den besten Ruf genießen die Darlegungen der dogmatischen Konstitution Dei filius zu den Themen Glaube, Vernunft und Offenbarung in der jüngeren Theologie nicht. Lange Zeit als lehramtliches Bollwerk gegenüber rationalistischen, atheistischen und fideistischen Infragestellungen gesunder katholischer Kirchenlehre gefeiert, 1 haftet ihnen in neuerer Zeit eher der Geruch einer Wegbereiterschaft für den „neuscholastische[n] Rationalismus“ 2 und der Fundierung eines intellektualistisch verengten und auf einem instruktionstheoretischen Offenbarungsbegriff aufruhenden Glaubenskonzepts an, 3 kurz: die Konstitution und die Theologie, für die sie steht, wird als veritable „Erblast“ 4 für die weitere theologische Entfaltung der hier verhandelten Themen angesehen. Trotzdem – oder vielleicht sogar gerade angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der diese Bewertung inzwischen vertreten wird – lohnt sich 150 Jahre nach den Ereignissen, die am 24. April 1870 zur einstimmigen Annahme der Kon-
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Vgl. dazu exemplarisch den Kommentar zu Dei filius von Matthias Joseph Scheeben, Das ökumenische Concil vom Jahre 1869, 2, Regensburg u. a. 1870, 217–286. 2 Joseph Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg i. Br. 42005, 110. 3 Vgl. Johanna Rahner, Glaube. Katholische Thesen zu einem scheinbar protestantischen Thema, in: Jörg Frey u. a. (Hg.), Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, Tübingen 2017, 857–876, hier: 868–870. 4 Rahner, Glaube, 868.
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stitution Dei filius durch die Konzilsväter des Ersten Vaticanums führten, 5 wohl erneut die sine ira et studio vollzogene theologiehistorische Untersuchung der konziliaren Aussageabsichten. Die folgenden Ausführungen suchen dazu beizutragen, indem in einem ersten Schritt die in Dei filius vertretene Deutung des Spannungsverhältnisses von Glaube und Vernunft erhoben (2) und anschließend eine Einordnung und Bewertung dieser Aussagen aus aktueller theologischer Sicht vorgenommen wird (3).
2. Das Verhältnis von Glaube und Vernunft gemäß der dogmatischen Konstitution Dei filius 2.1 Glaubendes und vernünftiges Erkennen: Spezifika zweier Erkenntnisordnungen Sucht man die durch das Erste Vaticanum vertretene Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft zu erfassen, so dürfte zunächst von grundlegend-einordnender Bedeutung der Verweis darauf sein, dass Glauben und Erkennen je als noetische Vollzüge sui generis konzipiert werden. Die Rahmenvorstellung, in die diese Überzeugung gekleidet wird, ist die Annahme einer doppelten Erkenntnisordnung, in der die jeweiligen Erkenntnismodi sowohl im principium – hier der übernatürliche Glaube, dort das natürliche Licht der Vernunft – als auch im obiectum verschieden sind, wobei der Erkenntnisgegenstand der Vernunft die natürlich erreichbare Gotteserkenntnis und die praeambula fidei sind, während sich der Glaube zusätzlich auch auf die mysteria in Deo abscondita, also auf die notwendig zu offenbarenden Glaubensgeheimnisse richtet (DH 3015). In der übernatürlichen Erkenntnisordnung geht es also um die Glaubenseinsicht, die – gestützt auf die dem supranaturalen göttlichen Wirken zuzurechnende Offenbarung – die von Gott erschlossenen Heilsmysterien 5
Zur Vorgeschichte vgl. Cuthbert Butler, Das I. Vatikanische Konzil, übersetzt, eingeleitet und mit einem Nachwort versehen von Hugo Lang, München 21961, 164– 179. 248–262; Herrmann J. Pottmeyer, Der Glaube vor dem Anspruch der Wissenschaft. Die Konstitution über den katholischen Glauben ‚Dei Filius‘ des 1. Vatikanischen Konzils und die unveröffentlichten theologischen Voten der vorbereitenden Kommission (Freiburger Theologische Studien 87), Freiburg i. Br. 1968, 45–58.
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bejahend anerkennt. Der „Glaube“ im engeren Wortsinn 6 ist nach dem Zweiten Vaticanum dabei der „volle Gehorsam des Verstandes und des Willens“ gegenüber dem offenbarenden Gott (DH 3008) und definiert sich durch die Annahme des von Gott Geoffenbarten als „wahr“ (DH 3008) – ein Anerkennungsvorgang, der sich jedoch stets aufgrund „der Autorität des offenbarenden Gottes“ und nicht etwa auf Basis „der vom natürlichen Licht der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge“ (DH 3008) vollzieht. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass dieser eigentliche, heilsrelevante Glaube nach Dafürhalten des Ersten Vaticanums grundsätzlich nicht ohne den Beistand der göttlichen Gnade zustande kommen kann (DH 3010); und dies gilt, wie in antihermesianischer Stoßrichtung festgehalten wird, 7 sowohl für das, was im Rückgriff auf Gal 5,6 als fides (viva), quae per charitatem operatur oder fides charitate formata 8 bezeichnet wird, als auch für die nicht von den anderen theologalen Tugenden Hoffnung und Liebe begleitete fides sterilis, 9 also den bloßen Zustimmungsglauben (vgl. DH 3010). Die praeambula fidei als Gegenstand der zweiten, der natürlichen Erkenntnis zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie im Licht der natürlichen Vernunft und ohne unmittelbaren göttlichen Beistand wie etwa die übernatürliche Offenbarung oder das Gnadenlicht zugänglich sind. Freilich betrachtet das Konzil auch diese „natürliche“ Erkenntnis als eine in die von Gott errichtete Heilsökonomie eingeordnete Gegebenheit: Sie ist erst qua Schöpfung ermöglicht und somit prinzipiell als „vernehmende[s] Erkennen“ 10 zu verstehen; und auch eine Deutung, die in dieser natür6
Also: Der übernatürliche Glaube im Gegensatz zu einer auf der natürlichen Gotteserkenntnis aufruhenden fides late dicta; hier besteht wegen der uneigentlichen Begriffsverwendung ein beträchtliches Missverstehenspotential. 7 Vgl. Jean-Michel-Alfred Vacant, Études théologiques sur les constitutions du Concile du Vatican d’après les actes du Concile 2. Chapitres III et IV et conclusion, Paris u. a. 1895, 70–72. 8 Vgl. Giovanni Perrone, Praelectiones theologicae 6. De gratia et de sacramentis in genere, Rom 21843, 266, Nr. 528. 272, Nr. 539. 9 Vgl. Perrone, Praelectiones 6, 266, Nr. 528. 10 Pottmeyer, Glaube, 202. Stefan Oster kann daher die personale Erkenntnistheorie des Zweiten Vaticanums als Fortführung des die natürliche Gotteserkenntnis betonenden Ansatzes seines Vorgängerkonzils qualifizieren, vgl. Stefan Oster, Welche natürliche Vernunft? Eine kritische Erwiderung auf Wolfgang Beinert über die Fra-
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lichen Erkenntnis das unthematische Fortwirken einer Uroffenbarung am Werk sieht, kann gerade angesichts der unter den Konzilsvätern verbreiteten Befürwortung eines schwachen Traditionalismus 11 wenigstens nicht als ausgeschlossen gelten. Eine aktual übernatürliche Hilfe beim Zustandekommen dieser Erkenntnis wird aber nicht angenommen. Und im Zentrum des konziliaren Verständnisses dieser natürlichen Erkenntnisordnung – wie wohl übrigens auch der Rezeption von Dei filius – steht nun die Aussage, dass Gott als Ursprung und Ziel der Dinge aus der Schöpfung „gewiss“ erkannt werden kann (certo cognosci posse, DH 3004, vgl. DH 3026). Ob und inwieweit das Erste Vaticanum – einer verbreiteten Deutung entsprechend 12 – mit dieser Formulierung jedoch tatsächlich eine Beweisbarkeit Gottes im strengen Begriffssinne definiert hat, bleibt zu prüfen. Auffällig ist dabei zunächst, dass entgegen der vorgeschlagenen Emendation eines Konzilsvaters die Rede von einem Gottesbeweis – konkret also die Verwendung des Begriffs demonstrari – zugunsten des schwächeren Ausdrucks certo cognosci vermieden wird. 13 Freilich: In einer anderen Textpassage von Dei filius (DH 3019) findet der hier zurückgewiesene Ausdruck in einem ganz ähnlichen Kontext doch Verwendung, sodass die besagte terminologische Entscheidung kein besonders stabiles Fundament für eine Relativierung des konziliaren Erkenntnisoptimismus hergibt 14 – zumal dann, wenn man die (freilich keineswegs unumstritge, ob Gott mit Sicherheit erkannt werden kann, in: Münchener Theologische Zeitschrift 61 (2010), 226–239, hier: 239. 11 Einer schwachen Version des Traditionalismus zufolge ist die Vernunft in statu isto zum Mindesten auf die Unterweisung durch andere Menschen angewiesen, um die erforderlichen Hilfsmittel zur natürlichen Gotteserkenntnis zu erhalten; vgl. Pottmeyer, Glaube, 179 f. 12 Vgl. Fergus Kerr, Knowing God by reason alone: What Vatican I never said, in: New blackfriars 91 (2010), 215–228, hier: 216 f. mit Verweis auf Denys Turner, Faith, Reason and the Existence of God, Cambridge 2004, IX.XI.8 u. ö.; Lawrence Moonan, … certo cognosci posse. What precisely did Vatican I define?, in: Annuarium historiae conciliorum 42 (2010), 193–202, hier: 193. 13 Vgl. die Relatio Bischof Gassers über die Arbeit der Glaubensdeputation in der 40. und 41. Generalkongregation am 4./5. April (Mansi 51, 276A–B). Vgl. Pottmeyer, Glaube, 177. 14 So sehr ansonsten seiner Argumentation zuzustimmen ist, hier thematisiert Kerr nur die einmalige Vermeidung des Verbs demonstrari, nicht aber die Tatsache, dass
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tene) Einfügung des Wörtchens certo im Zuge der Überarbeitung des ursprünglichen Schemas mitbedenkt. 15 Durchaus zur Infragestellung einer rationalistischen Maximalauslegung des betreffenden Passus beizutragen geeignet ist hingegen ein Blick auf den Umgang des Konzils mit der quaestio facti, also mit der Frage, ob es im Falle der natürlichen Gotteserkenntnis um geschichtlich konkrete, gar allgemeine Erkenntnismöglichkeiten oder nur um eine der menschlichen Natur theoretisch und prinzipiell erschwingliche Einsicht geht: Selbst wenn nämlich in der späteren neuscholastischen Deutungstradition (unter Berufung auf Dei filius!) jegliche Form des Nichterkennens Gottes „geradezu als Fall für den Psychiater“ 16 bewertet wurde, 17 lässt sich unter Berufung auf die Konzilsdokumentation gut eine gegenläufige Auslegung des Konzilstextes selbst fundieren, die die Auffassung vertritt, dass Dei filius ausdrücklich nicht die individuellen, konkret-geschichtlichen Möglichkeiten, sondern nur die Affirmation angezielt hat, dass der menschlichen Vernunft an sich, also gänzlich unter Absehung von der Frage faktischer Realisierung eine bestimmte Erkenntnispotentialität gegeben ist. 18 Besonders – aber keineswegs ausschließlich! 19 – neuere Auslegungen von Dei filius „minimieren“ also „den Umfang der Potentiaes an anderer Stelle in vergleichbarem Sinnzusammenhang doch verwendet wird, vgl. Kerr, Knowing, 218. 222 f. 15 Vgl. Mansi 53, 222D. Dazu auch Jean-Michel-Alfred Vacant, Études théologiques sur les constitutions du Concile du Vatican d’après les actes du Concile 1. Prologue, chapitres I et II, Paris u. a. 1895, 302. 16 Wolfgang Beinert, Deus certo cognosci potest? Die ‚natürliche Gotteserkenntnis‘ im Licht der katholischen dogmatischen Gotteslehre, in: Münchener Theologische Zeitschrift 59 (2008), 211–230, hier: 224. 17 Vgl. die Zusammenstellung bei Beinert, Deus, 222–224; vgl. auch Kerr, Knowing, 218 f., 224. 18 Vgl. Kerr, Knowing, 221 f.; Jürgen Werbick, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg i. Br. 2000, 267; Pottmeyer, Glaube, 186.189 f.; Klaus Schatz, Vaticanum I 1869–1870 2. Von der Eröffnung bis zur Konstitution ‚Dei Filius‘, Paderborn 1993, 327 f. Zu der Unterscheidung zwischen einer für alle Einzelfälle Gültigkeit beanspruchenden Norm und einer Feststellung „dessen, was an und für sich ist oder gilt“, vgl. Heinrich Petri, Glaube und Gotteserkenntnis. Von der Reformation bis zur Gegenwart (Handbuch der Dogmengeschichte I/2c), Freiburg i. Br. 1985, 161 u. ö. 19 Vgl. etwa die einschlägigen Überlegungen bei Vacant, Études I, 287–292.295.
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lität so weit, dass sie zur bloßen Hypothese wird“; 20 in neuscholastischer Diktion: Es geht um die Existenz einer physischen, nicht einer moralischen Möglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis. 21 Die solcherart affirmierte Potentialität wird damit gewissermaßen zu einem erkenntnistheoretischen Grenzbegriff, der die prinzipielle Würde und Reichweite der menschlichen Vernunft nach dem Willen des Schöpfers offenhält, ohne jedoch eine historisch-faktische Einlösbarkeit dieser Möglichkeit bereits im Vorfeld zur Begegnung mit der übernatürlichen Offenbarung zu postulieren. Für diese Auslegung des zentralen Passus in DH 3004 spricht zunächst die sich im Konzilstext gleich anschließende (DH 3005) Feststellung, dass auch jene Glaubensgehalte, die „der menschlichen Vernunft an sich nicht unzugänglich“ sind, infralapsarisch nur aufgrund der Offenbarung allgemein, leicht und sicher erkannt werden können, 22 während die auf sich gestellte Vernunft die praeambula fidei allenfalls mit großer Anstrengung, mit verbleibenden Zweifeln oder beigemischten Irrtümern erkennt – wenn überhaupt. Es wird also eine faktische Verdunkelung der natürlichen Erkenntnispotenzen und eine damit einhergehende Verschlechterung ihrer an sich gegebenen Erkenntnisaussichten im Blick auf Gott angenommen, die die übernatürliche Offenbarung für einen Großteil der Menschen zwar nicht absolut oder physisch, wohl aber relativ bzw. moralisch notwendig macht. 23 Einen starken Beleg für diese Deutung stellen auch mehrere Äußerungen Bischof Vinzenz Gassers, des Relators der Glaubensdeputation, dar, in denen er explizit festhält, dass es bei der Aussage zur natürlichen Gotteserkenntnis nach dem Verständnis der erarbeitenden Kommission um die Prinzipien, nicht aber den konkreten Gebrauch der Vernunft gehe. 24 20
Beinert, Deus, 224. Vgl. Vacant, Études I, 310. 22 Vgl. Heinrich Fries, Die Offenbarung, in: Johannes Feiner, Magnus Löhrer (Hg.), Mysterium Salutis. Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik 1. Die Grundlagen heilsgeschichtlicher Dogmatik, Einsiedeln u. a. 1965, 159–238, hier: 164. 23 Vgl. Scheeben, Concil, 230. 24 „… duo, quae non sunt confundenda, scilicet principia rationis et exercitium rationis“, Mansi 51, 418D. Vgl. ebd., 292A; vgl. zudem die Tendenz des Konzils, jene Änderungsvorschläge zu verwerfen, die eine konkrete historische Situiertheit der erkennenden Vernunft impliziert hätten, vgl. Vacant, Études I, 289. 21
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Als Auslegungshintergrund ist des Weiteren auch die Natur-GnadeFrage zu berücksichtigen, als deren „Teilproblem“ 25 die Vernunft-GlaubeVerhältnisbestimmung im Zugriff des Ersten Vaticanums reflektiert wird. Dieses Spannungsverhältnis ist hier insofern relevant, als in der neuscholastischen Theologie die Konzeption rein natürlicher geistiger Vorgänge insgesamt ja nur als erkenntnistheoretisches Hilfskonstrukt fungiert: Die Gegebenheit einer rein natürlichen Gotteserkenntnis etwa ist nicht nur durch die konkrete Bedingtheit des infralapsarisch verschlechterten Erkenntnispotentials verschleiert, sondern sie lässt sich charitologisch betrachtet bereits insofern nicht fixieren, als konkret-faktisch nie mit Klarheit entschieden werden kann, welche Einsicht nicht doch auf eine quoad modum übernatürliche, innere Erkenntnishilfe zurückgeht. Rein natürliche Erkenntnisprozesse sind in statu isto, also angesichts der konkretgeschichtlichen Situiertheit menschlichen Erkennens auch unter dem Seziermesser des scholastischen Deutungszugriffs nicht in klarer Abgrenzung zu isolieren, was der Schultheologie an sich auch durchaus bewusst war. Vor diesem Hintergrund erscheint jedenfalls die in den Konzilsakten dokumentierte Debatte darüber, ob je ein heidnischer Philosoph, insbesondere Platon und eventuell Aristoteles, die vom Konzil als möglich postulierte natürliche Gotteserkenntnis erreicht habe, 26 akademisch bzw. sogar inkonsistent. 27 Es lässt sich jedoch festhalten, dass das Konzil die quaestio facti zumindest offenhält 28 und ganz bewusst jede Aussage zu den näheren historischen Umständen der Realisierbarkeit jener natürlichen Potentialität vermeidet, um die es hier geht. 29 Damit kann im Hinblick auf die Grundaussagen von Dei filius zu den menschlichen Möglichkeiten der Gotteserkenntnis Folgendes festgehalten werden: Zum einen verweigert das Konzil – in Abgrenzung von der fideistischen und traditionalistischen Leugnung jeglicher valider Quelle von Wahrheitserkenntnis jenseits der Offenbarung – entschieden die 25
Petri, Glaube, 141.154. Vgl. Mansi 51, 132C-D. 399C-D; Mansi 52, 417A–418C. 27 Konsequenterweise (wenn auch freilich ohne Bezugnahme auf die Schwierigkeit, das Fehlen übernatürlicher Gnadenhilfe zu erkennen) geübte Kritik an diesem Argument bei Vacant, Études I, 310 f. 28 Vgl. Édouard Hamel, Lumen rationis et lux Evangelii, in: Periodica de re morali canonica liturgica 59 (1970), 215–250, hier: 221. 29 Vgl. Kerr, Knowing, 222. 26
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Preisgabe eines Grundvertrauens in die der menschlichen Vernunft von Gott eingestiftete „grundsätzliche Befähigung […] zu einer übersinnlichen metaphysischen Wahrheitserkenntnis“ 30 und vertritt, berücksichtigt man auch den weiteren Darlegungsduktus, einen insgesamt recht starken Erkenntnisoptimismus, der später zum maßgeblichen Vorzeichen für die Wirkungsgeschichte des Konzilstextes wird. Andererseits bleiben in Zurückweisung des Rationalismus jedoch durchaus auch die Grenzen der faktischen Realisierbarkeit dieser natürlichen menschlichen Potenz im Blick, sodass gegenüber der verbreiteten Annahme, Dei filius habe eine rational allgemein nachvollziehbare Beweisbarkeit der Existenz Gottes im strengen Sinne definiert, deutliche Zurückhaltung geboten ist. 31 Hier offenbart sich bereits eine spürbare Ambivalenz dieses Dokuments, die sich aus der inhomogenen, apologetisch-polemischen Gemengelage ergibt, in deren Kontext Dei filius entsteht. Festzuhalten ist jedenfalls aber, dass das Konzil, wenn es in atheismus- und agnostizismuskritischer Absicht eine vernunftgemäß begründete Glaubenspflicht formuliert, implizit, aber doch eindeutig zwischen einer allenfalls theoretisch erreichbaren Gotteserkenntnis auf natürlich-rationalem Beweisweg und der nach Dafürhalten der Konzilsväter für alle Menschen annehmbaren übernatürlichen Offenbarung als deren Grundlage differenziert.
2.2 Überschneidungsbereiche der beiden Erkenntnisordnungen: Glaube und Vernunft in reziproker Verwiesenheit Die Analogie zur Natur-Gnade-Thematik legt bereits nahe, dass die natürliche und die übernatürliche Erkenntnisordnung nicht hermetisch gegeneinander abgeschlossen sind, sondern vielmehr in ihren jeweiligen Wirkprozessen ineinandergreifen. In einem nächsten Schritt gilt es daher, das Zu- und Miteinander von vernünftiger und glaubender Erkenntnis noch präziser zu bestimmen. Mit Dei filius lassen sich dabei zwei zentrale Dimensionen benennen: der Ausschluss eines Widerspruchs zwischen Vernunft- und Glaubenserkenntnis (2.2.1) und das Wirken der Vernunft im Rahmen von Fundierung und Reflexion des Glaubens (2.2.2).
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Pottmeyer, Glaube, 189 f. So urteilen auch Kerr, Knowing, und Moonan, certo.
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2.2.1 Kein Widerspruch zwischen Glaube und Vernunft Zwar betrachtet Dei filius die natürlichen und die übernatürlichen Erkenntnispotenzen vor dem Hintergrund des übernatürlichen Ziels, auf das Gott den Menschen hinordnet, als hierarchisch gestaffelte Vollzüge. Die Möglichkeit eines Widerspruchs zwischen einer glaubens- und einer vernunftbasierten Erkenntnis schließt das Konzil auf dem Boden der scholastischen Tradition jedoch apodiktisch aus, da wahre Erkenntnis, sei sie natürlicher oder übernatürlicher Provenienz, stets auf denselben Quell, auf den offenbarenden Gott, zurückgeht. Dies ist erkenntnistheoretisch insofern bemerkenswert, als das Konzil nicht nur – wie gesehen – auch für die natürliche Vernunft keine autonome, sondern eine letztlich gottgeschenkte Erkenntnis annimmt, 32 sondern zudem im Blick auf den Glauben einen Rationalitätsanspruch voraussetzt, der nicht schon qua Kompetenzzuschreibung a priori ausschließt, dass überhaupt ein Widerspruch zwischen Glaubens- und Vernunftaussagen möglich ist. 33 Vor diesem Hintergrund würde das Auftreten eines apparenten Widerspruchs zwischen Glaubens- und Vernunfterkenntnis nun aber implizieren, dass Gott täuscht bzw. sich widerspricht oder dass zwei Wahrheiten in einem irreduziblen Gegensatz zueinander stehen, was beides nicht sein kann (DH 3017). Wenn also trotzdem ein Widerspruch zwischen natürlich gewonnener Erkenntnis und Glaubensgehalten zu bestehen scheint, liegt es in der Sicht des Ersten Vaticanums daran, dass entweder eine nicht von der Kirche lehrmäßig bewahrheitete Glaubensdeutung oder ein Irrtum der natürlichen Vernunft vorliegt (DH 3017) – und in beiden Fällen, also explizit auch im Blick auf das Wirken von Philosophie und Wissenschaft, sieht Dei filius Recht und Pflicht des kirchlichen Lehramts zur Steuerung gegeben (DH 3018). Die Option einer schiedlichfriedlichen Koexistenz zwischen Glaubens- und Vernunfterkenntnis deutet sich schwach zwar in dem Zugeständnis spezifischer Methoden an profane (und nicht in grenzüberschreitender oder irrender Weise glaubensrelevante Aussagen verbreitende) Wissenschaften an (DH 3019) – ein solches Miteinander kann aber vom Ersten Vaticanum ganz offen-
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Vgl. Pottmeyer, Glaube, 199.202. Vgl. Scheeben, Concil, 275.
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sichtlich nur als eine Gegebenheit zu den Bedingungen der kirchlichen Wahrheitsprüfungsinstanz gesehen werden. 2.2.2 Die ratio im Dienst der fides Die beiden Erkenntnisordnungen sind also durch die gemeinsame Quelle gewissermaßen an der Wurzel verbunden; ihr Zueinander beschränkt sich in der Sicht von Dei filius aber keinesfalls auf eine bloße Widerspruchsfreiheit. Vielmehr wird – in aller Kürze und vor dem Hintergrund eines theonomen Wahrheitskonzepts – durchaus auch dem Glauben eine erkenntnisfördernde Wirkung für die „menschlichen Künste und Wissenschaften“ zugeschrieben (DH 3019); 34 insbesondere aber kommt der natürlichen Vernunft in der Sicht des Konzils eine wesentliche Funktion für den Glaubensvollzug zu. Dabei denkt Dei filius zum einen an die weitgehend unstrittige Feststellung, dass die Vernunft durch ihre Rolle im Rahmen der Glaubensreflexion einer fides quaerens intellectum unersetzliche Dienste erweist. Das Konzil benennt zwei Wege, auf denen sich diese rationale Suche nach einem tieferen Verständnis der im Glauben bejahten Gehalte vollziehen kann: Dies ist zum einen die Analogie zwischen natürlicher und übernatürlicher Ordnung, die einen Zugang zu den Glaubensmysterien eröffnet, und zum anderen eine „aufgrund des Zusammenhanges der Geheimnisse selbst untereinander“ gegebene Erkenntnismöglichkeit (DH 3016) – eine Formulierung, die im Sinne der neuscholastischen „Spekulation“ als Anwendung der logischen Erkenntnisregeln auf die Ausdeutung der übernatürlichen Offenbarungswahrheiten zu deuten ist. 35 Freilich: Trotz dieser vernünftigen Zugänge bleibt die menschliche Glaubenserkenntnis stets und unhintergehbar „von einem gewissen Dunkel umhüllt“ (DH 3016). Für eine Deutung des Zueinanders von fides und ratio noch interessanter ist aber ein zweiter, grundlegender Dienst, den die Vernunft dem Glauben leistet: ihr Wirken im Kontext der Glaubensbegründung. Dazu 34
Für eine neuscholastische Ausbuchstabierung dieser Konzilsaussage vgl. Franz Hettinger, Lehrbuch der Fundamental-Theologie oder Apologetik, Freiburg i. Br. 21888, § 75, II, 901 f. 35 Eine nähere Ausdeutung bei Hettinger, Lehrbuch, § 76, IV, 906 f.
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formuliert das Erste Vaticanum: „[D]ie rechte Vernunft beweist (demonstret) die Grundlagen des Glaubens“ (DH 3019); schon der äußeren Gründe wegen wird daher eine „Gewissheit“ im Glauben als erreichbar angesehen (certiores faciat), die „sich auf eine unerschütterliche Grundlage stützt“ (firmissimo […] fundamento, DH 3014). Wie versteht das Konzil diese Grundlegung? Zunächst liegt auf der Hand, dass es Dei filius hier um eine Zurückweisung von fideistischen oder traditionalistischen Deutungen der Begründungsstrukturen des Glaubens geht. Der Glaube gründet sich auch nicht auf ein bloßes Gefühl, sondern er ist „mit der Vernunft übereinstimmend“ (DH 3009), wenigstens der Möglichkeit nach, also rational legitimiert: ein obsequium rationabile. 36 Zur Gewährleistung dieses Rationalitätsanspruchs wird nun ein bestimmter Fundierungsdienst postuliert, den die Vernunft der Glaubenszustimmung leistet: der Aufweis der Faktizität und der göttlichen Urheberschaft der im Christentum geglaubten Offenbarung. Dies erfolgt durch die Anführung „äußerer Beweise“ für die Offenbarung, konkret durch den Verweis auf „Wunder und Weissagungen“, die im Alten und Neuen Testament bezeugt sind und als „ganz sichere und dem Erkenntnisvermögen aller angepasste Zeichen der göttlichen Offenbarung“ bewertet werden (DH 3009) – in thomistischer Tradition: als beglaubigende „Siegel“ 37 von Gott. Zu diesen Beglaubigungszeichen zählt „wegen ihrer wunderbaren Ausbreitung, außerordentlichen Heiligkeit und unerschöpflichen Fruchtbarkeit an allem Guten, wegen ihrer katholischen Einheit und unbesiegten Beständigkeit“ (DH 3013) auch die katholische Kirche selbst „als Zeichen, das aufgerichtet ist für die Völker“ (DH 3013). Auf das sich hier manifestierende Kirchenbild und das weitgehende Desinteresse des Konzils gegenüber inneren Glaubwürdigkeitskriterien wird an anderer Stelle wenigstens kurz noch einzugehen sein. Hier stellt sich jedoch zunächst – nicht zuletzt angesichts der in diesem Kontext nun erfolgten Verwendung des vorher vermiedenen Begriffs demonstrari – die Frage nach dem Charakter dieser rationalen Einsicht und ihrem Stellenwert für den regulären Glaubensweg. Und dabei ist neben der von Dei filius an sich zweifelsfrei ausgedrückten Überzeugung einer rationalen 36 37
Vgl. Scheeben, Concil, 247; vgl. Pottmeyer, Glaube, 192. Scheeben, Concil, 248.
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Begründbarkeit der Wahrheit der Offenbarung zugleich erneut ein praktischer Vorbehalt zu notieren: Denn die Konzilsväter „äußerten Skepsis gegenüber der faktischen Wirksamkeit der äußeren Kriterien und lehnten es ab, die rationale Überzeugung von der Offenbarungstatsache zur notwendigen Vorbedingung für eine verantwortete Glaubensentscheidung zu machen“ 38 – eine auf äußeren rationalen Kriterien beruhende Glaubensfundierung wird also, wie die Konzilsdokumentation zeigt, bei allem Erkenntnisoptimismus wenigstens für die Mehrheit der Gläubigen nicht als regulärer Teilschritt auf dem faktischen Glaubensweg, sondern eher als Thema der Theologie und zudem auch nicht losgelöst vom Gnadenwirken betrachtet. 39 Stellt man diese praktischen Vorbehalte in Rechnung, so geht es dem Konzil hier im Letzten abermals um nicht mehr und nicht weniger als die „Voraussetzung dafür, daß der Glaube eine auch vor der Vernunft verantwortete Antwort des Menschen auf den Offenbarungsanspruch Gottes sein kann“. 40 Gegen diese Deutung ließe sich freilich der Einwand anführen, dass eine rein hypothetisch mögliche Vernunftbegründung noch nicht die konziliar postulierte faktische Rationalität eines jeden vollmenschlichen Glaubensaktes zu sichern vermag; die Konzilsdokumentation verdeutlicht jedoch, dass man diese Vernünftigkeit des Glaubens – 38
Hermann J. Pottmeyer, Zeichen und Kriterien der Glaubwürdigkeit des Christentums, in: Walter Kern u. a. (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie 4. Traktat Theologische Erkenntnislehre, Tübingen u. a. 22000, 265–299, hier: 273. 39 Vgl. dazu die Darstellung und Auswertung der Konzilsdiskussionen bei Peter Walter, Die Frage der Glaubensbegründung aus innerer Erfahrung auf dem I. Vatikanum. Die Stellungnahme des Konzils vor dem Hintergrund der zeitgenössischen römischen Theologie (Tübinger Theologische Studien 16), Mainz 1980, 192–208. 254. Insbesondere zu erwähnen sind die einschlägigen Passagen in Voten von Bischof José Caixal y Estradé (Mansi 50, 158A–C. 311A–B), Bischof Lorenzo Gastaldi (173B–C), Bischof Simone Spilotros (259C) und Bischof Emanuel Del Valle (269C– D). Franzelin stimmt diesen Einwänden prinzipiell zu: der Großteil der Gläubigen ist zur besagten philosophischen Bewertung der Glaubwürdigkeitsgründe „impar omnino“ (333A). Es geht im Schema daher vielmehr um die Möglichkeiten der Vernunft an sich („rationi per se spectatae factum revelationis est cognoscibile“ (333C)). 40 Pottmeyer, Glaube, 171, vgl. auch Pottmeyer, Glaube, 191; Helmut Pfeiffer, Gott offenbart sich. Das Reifen und Entstehen des Offenbarungsverständnisses im ersten und zweiten vatikanischen Konzil (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23, Theologie, 185), Frankfurt a. M. u. a. 1982, 30.
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neben der theoretisch gesicherten prinzipiellen Möglichkeit eines natürlichen Aufweises – auch durch die allgemein angenommene vernünftige Unterfassung des übernatürlich induzierten Glaubwürdigkeitsurteils als gewährleistet ansehen konnte. 41 Noch einmal anders formuliert: Die angezielte Rationalität des Glaubens kann auch durch eine erst auf der Basis der Offenbarung erfolgende Reflexion gesichert werden, da „Gott faktisch, um die Menschen desto stärker an die Offenbarung zu fesseln, die Dinge in der Regel so ordnet, daß die Menschen nur im Anschluß an die einmal gegebene Offenbarung alles das finden, was zur gesunden und normalen Entwicklung der Vernunft nothwendig ist“. 42
2.3 Wissen statt Glauben? Angesichts des – zum Mindesten theoretisch fraglos gegebenen – Erkenntnisoptimismus des Konzils drängt sich eine Folgefrage auf, deren Betrachtung noch einen weiteren Aspekt des Glaube-Vernunft-Verhältnisses gemäß Dei filius aufzudecken erlaubt: Würde nicht ein starker oder sogar rational zwingender Aufweis der Existenz Gottes und einer göttlichen Urheberschaft der christlichen Offenbarung die Spezifika des Glaubens als eines noetischen Vollzugs aufheben? Dies ist eine Frage, die sich die Theologen im Umfeld des Ersten Vaticanums durchaus gestellt haben; „wenn wir […] das Erkennen vor dem Glauben ein Wissen und nicht etwa ein Meinen nennen, weil es von Gewißheit begleitet ist“, so notiert der bei der Erarbeitung des letzten Schemas von Dei filius theologisch hauptverantwortliche 43 Joseph Kleutgen, „so sieht man nicht, wie mit ihm die Freiheit des Glaubens bestehen könne“. 44 Auch in den Konzilsaussagen ist diese Spannung wenigstens latent spürbar, sodass sich ein Blick auf die im neuscholastischen Denken anzutreffenden einschlägigen Lösungsstrategien nahelegt. Der vorgegebene Rahmen gebietet hier freilich den Verzicht auf eine Darstellung der Schulsubtilitäten und stattdessen die 41
„Omnes […] rationales credimus; sed non per demonstrationem syllogisticam, […] sed per iudicium credibilitatis verbi auditus fidei, […] illuminati in mente per lumen supernae vocationis.“ Votum des Bischofs Caixal y Estradé (Mansi 50, 310D). 42 Scheeben, Concil, 230. 43 Vgl. Walter, Frage, 209 f.; Schatz, Vaticanum I, 313; Pottmeyer, Glaube, 97. 44 Joseph Kleutgen, Theologie der Vorzeit, 4, Münster 21873, 403.
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Beschränkung auf das hinsichtlich des heilsrelevanten Glaubens schulübergreifend geteilte Postulat einer willentlichen Unterwerfung des Menschen unter Gott – und damit auf die ethisch qualifizierbare Dimension des Glaubens. Es ist nämlich mitnichten so, dass nach der Auffassung der neuscholastischen Glaubenstheologie ein rationaler, ja selbst ein zwingender Aufweis der Existenz Gottes oder einer von Gott beglaubigten Offenbarung schon den Glaubensakt im engeren Sinne fundieren oder vorwegnehmen würde, denn dieser wird gerade nicht als „durch einleuchtenden Beweis aufgenöthigtes Fürwahrhalten“, 45 sondern vielmehr als willentliche Bejahung des rational bis hin zur Gewissheit vergegenwärtigten Gehorsamsanspruches Gottes konzipiert, 46 stellt also einen ganzheitlichen und über die rationale Einsicht klar hinausgehenden Akt des glaubenden Menschen dar. Die Gegenprobe bietet der Verweis auf den Dämonenglauben, 47 der zwar ein Wissen um Gottes Macht, ebenso aber auch eine willentliche Auflehnung dagegen einschließt und damit das Fehlen einer zwingenden Verbindung zwischen der Erkenntnis von Gottes Anspruch und einer Anerkennung desselben illustriert. 48 Tatsächlich sieht auch Dei 45
Scheeben, Concil, 246. „Diesem [sc. dem christlichen Glauben] nämlich ist es wesentlich, vom Willen des Menschen abzuhangen, so zwar daß die Vernunft nicht durch die Gesetze des Denkens genöthigt, sondern durch einen freien Entschluß des Willens bestimmt wird, der geoffenbarten Wahrheit beizupflichten“, Kleutgen, Vorzeit, 430. Dieser Entschluss ist im Sinne einer Absage an „die Anmaßung, den Grund alles Wissens in sich selbst zu suchen“, ein Inbegriff rechten Freiheitsgebrauchs, Kleutgen, Vorzeit, 270. Vgl. weiterhin Giovanni Perrone, Praelectiones theologicae 3. De locis theologicis, pars II, Regensburg 211854, 264–266, Nr. 28; Scheeben, Concil, 243–246; Vacant, Études II, 77–82; Petri, Glaube, 144; Uwe Gerber, Katholischer Glaubensbegriff. Die Frage nach dem Glaubensbegriff in der katholischen Theologie vom I. Vatikanum bis zur Gegenwart, Gütersloh 1966, 51 f. 47 Vgl. Scheeben, Concil, 250, mit Verweis auf Jak 2,19: „Auch die Teufel glauben und zittern.“ Kleutgen konstatiert, dass „der Glaube der Dämonen darum ein […] erzwungener und als solcher vom Glauben des Christen wesentlich verschieden ist, weil ihnen die Thatsache der Offenbarung evident ist“, Kleutgen, Vorzeit, 461 – den Dämonenglauben trennt also vom menschlichen Glauben sowohl das Fehlen der willentlichen Unterwerfung durch Gott als auch das des freiheitlichen Glaubensassenses. 48 Sehr deutlich formuliert bei Perrone: „Potest utique aliquis credere sine demons46
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filius das Motiv des Glaubens nicht in „der vom natürlichen Licht der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge“, sondern in „der Autorität des offenbarenden Gottes selbst“ begründet (DH 3008), der der Mensch sich unterwirft. Und daher ist nach Scheebens Dafürhalten „von der ‚regelrechten Beweisbarkeit der Thatsache der Offenbarung durch äußere ganz sichere Zeichen‘, wie das Concil sie versteht, für den sittlichen und übernatürlichen Charakter des Glaubens nicht das Mindeste zu fürchten“. 49 Damit ist ein weiteres Charakteristikum der Glaubensdeutung von Dei filius angesprochen: Gemeint ist die – angesichts der häufig und nicht zu Unrecht geäußerten Feststellung, dass die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube primär auf der Ebene noetischer Vollzüge durchbuchstabiert wird, zunächst vielleicht unerwartete – Tatsache, dass das Konzil seine Darlegungen zum Glaubensakt mit einer signifikanten ethischen Aufladung versieht. Der übernatürliche Glaube gilt dem Konzil als von Gott auferlegte Pflicht (DH 3012), zu deren Erfüllung die „vom Glauben erleuchtete Vernunft […] fleißig, fromm und nüchtern“ zu wirken hat (DH 3016). Auch die Zustimmung zum glaubenskonstituierenden Wirken der Gnade wird als ein freier Akt des Menschen qualifiziert (DH 3010). Daraus folgt in der Sicht des Konzils: Wer auf die Autorität des offenbarenden Gottes und der von ihm beglaubigten Kirche hin nicht glaubt, verfehlt sich, und zwar keineswegs nur rational (Raum für die Möglichkeit eines nicht schuldhaften Nichtglaubens im Einflussbereich der katholischen Kirche wird auch nicht in Ansätzen eröffnet). Und so klar sich diese ethische Qualifikation des Nichtglaubens in den Kontext der apologetisch-polemischen Haltung des Ersten Vaticanums gegenüber Atheismus und Agnostizismus einordnen lässt, sie bliebe angesichts des konziliaren Erkenntnisoptimismus doch prinzipiell unverständlich, wenn durch ein rationales Erkennen bereits die Essenz des Glaubensaktes vorweggenommen oder ersetzt werden könnte.
tratione; potest e contra cognoscere demonstrationem, et non credere; potest credere naturali quadam fide, illius demonstrationis vi, et tamen fide supernaturali ac divina, nempe sicut oportet ad salutem, non credere“, Perrone, Praelectiones 3, 306, Nr. 112. 49 Scheeben, Concil, 249.
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3. Fides und ratio gemäß Dei filius: Eine Einordnung 150 Jahre danach Rückblickende Bewertungen stehen prinzipiell in der Gefahr, anachronistische Überheblichkeit an den Tag zu legen. Auch für eine Beurteilung der Glaubenstheologie des Ersten Vaticanums gilt: Sie ist „zu verstehen und zu würdigen aus der damaligen Situation“ 50 heraus, und das bedeutet eben auch, unter Berücksichtigung der von den Konzilsvätern intensiv wahrgenommenen multiplen Herausforderung durch Rationalismus, Fideismus und Traditionalismus sowie Atheismus und Agnostizismus – um nur die Hauptfronten zu benennen. Der konziliare Versuch, dieser komplexen Defensivposition gerecht zu werden, führte fraglos zu mancher aus heutiger Sicht zeitbedingten Reaktionsstrategie und auch zu einem in sich nicht ganz spannungsfreien Textresultat, ist aber in seiner Intention zu würdigen, zwischen verschiedenen Anliegen zu vermitteln und eine Antwort auf die Herausforderungen der Zeit zu geben. Dies gilt es stets zu bedenken, wenn im Folgenden dennoch eine Einordnung der Konzilsaussagen zum Thema Glaube und Vernunft versucht werden soll. Dabei legt sich insbesondere die Befassung mit drei Themenaspekten nahe: (1) dem Glaube-Vernunft-Verhältnis als solchem, (2) dem Glaubensbegriff des Konzils und schließlich (3) der ekklesiologischen Grundlage, die im Hintergrund der hier dargestellten Themenaspekte von Dei filius steht. (1) Im Blick auf die vom Ersten Vaticanum vorgelegte Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft dürften einige gängige Negativurteile zu modifizieren bzw. zumindest stärker auf die spätere neuscholastische Rezeption zu beziehen sein. Insbesondere der häufig mit Dei filius in Verbindung gebrachte Rationalismusvorwurf ist auf der Basis der vorangegangenen Darlegungen zu relativieren: Das Konzil selbst entfaltet in diesem Dokument nicht nur einen spezifisch theologischen Vernunftbegriff, 51 sondern bewahrt dabei allem Erkenntnisoptimismus zum Trotz auch einen bleibenden Respekt vor dem Glaubensgeheimnis und 50
Heinrich Fries, Offenbarung und Glaube in der Sicht des Ersten und des Zweiten Vatikanums, in: Georg Schwaiger (Hg.), Hundert Jahre nach dem Ersten Vatikanum, Regensburg 1970, 69–86, hier: 77. 51 Vgl. Pottmeyer, Glaube, 82.
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vor allem ein Bewusstsein für die faktischen Grenzen glaubensfundierender Erkenntnis. Eine rationalistische Einseitigkeit der Konzilsaussagen müsste auch schon rein historisch betrachtet als extrem unwahrscheinlich bewertet werden, weil der Rationalismus von vielen Konzilsvätern als die Hauptherausforderung der Zeit und als Grundlage aller das Fundament des Christentums bedrohenden Denkströmungen identifiziert wurde, 52 sodass es geradezu als Hauptanliegen des Ersten Vaticanums gelten kann, „dem Anspruch einer absoluten Autonomie der Vernunft entgegenzutreten“. 53 Mehrfach wurde daher angemerkt, dass hinsichtlich rationalistischer Tendenzen klar zwischen der neuscholastischen Rezeptionsgeschichte und der Konzilsintention selbst zu unterscheiden ist. 54 Ja, vor dem Hintergrund der auf dem Ersten Vaticanum stark empfundenen Notwendigkeit einer Rationalismusabwehr ist es vielmehr sogar geradezu bemerkenswert, dass Dei filius das Heil nicht in fideistischer oder traditionalistischer, immanentistischer oder biblizistischer Dialogverweigerung sucht, sondern das aufklärerische Anliegen einer Wertschätzung des Vernunftvermögens und einer Zurückweisung blinder Autoritätshörigkeit durchaus positiv rezipiert: 55 „Die Konstitution vollzieht in Wirklichkeit nichts Geringeres als die feierliche Anerkennung der Wahrheitsmomente im Anliegen der Aufklärung“. 56 Als bis heute bleibend relevante Vorgabe für die Glaube-Vernunft-Verhältnisbestimmung ist damit jedenfalls zu vermerken, dass das Erste Vaticanum „eine Glaubensentscheidung in intellektueller Redlichkeit zu ermöglichen und sich der Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Vernunft“ 57 zu stellen
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Eine Zusammenstellung entsprechender Voten und Meinungsäußerungen bei Pottmeyer, Glaube, 31–33.39.59 f. Vgl. auch Roger Aubert, Vaticanum I (Geschichte der ökumenischen Konzilien 12), Mainz 1965, 229; Kerr, Knowing, 218. 53 Pottmeyer, Glaube, 60. Vgl. Pfeiffer, Gott, 24; Pottmeyer, Glaube, 201. 54 Vgl. Werbick, Glauben, 270; Pottmeyer, Glaube, 12; Beinert, Deus, 222–224; Schatz, Vaticanum, 353; Kerr, Knowing, 218 f. 55 Vgl. Pottmeyer, Glaube, 193; Pfeiffer, Gott, 47. 56 Pottmeyer, Glaube, 460. 57 Pottmeyer, Zeichen, 269; vgl. Leo Scheffczyk, Die dogmatische Konstitution ‚Über den katholischen Glauben‘ des Vatikanum I und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Theologie, in: Münchener Theologische Zeitschrift 22 (1971), 76–94, hier: 90 f.; Walter, Frage, 270; Wilhelm Keilbach, Natürliche Gotteserkenntnis und vernunft-
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sucht – und dabei letztlich auch den „Öffentlichkeitscharakter“ 58 des Glaubens, also ein den Glauben betreffendes Verantwortungs- und Plausibilisierungspostulat, formuliert. Die am 14. September 1998 unterzeichnete Enzyklika Fides et ratio Papst Johannes Paul II., die in der Rezeption häufig dafür gelobt wurde, dass hier eine christliche Erkenntnistheorie „die menschliche Vernunft und damit die Philosophie an ihre eigenen Fähigkeiten“ 59 erinnere, steht gerade in dieser Hinsicht ganz in der Tradition von Dei filius. 60 Dass die Glaube-Vernunft-Verhältnisbestimmung des Ersten Vaticanums auch von zeitbedingten Ausdrucksformen und Gehalten geprägt ist, soll damit gar nicht bestritten werden. Eine aktualisierende theologische Reflexion kann jedoch durchaus an Vorgaben und Grundanliegen von Dei filius anknüpfen, wenn beispielsweise die subjektive Evidenz des Glaubens nicht mehr als eine primär rationale, sondern als eine existentielle Gegebenheit ausbuchstabiert 61 oder wenn der Gedanke formuliert wird, dass Gottes Selbstoffenbarung (wenigstens der logischen, wenn nicht der chronologischen Ordnung nach) nie einen noch nicht aus der Weltwahrnehmung auf eine mögliche göttliche Manifestation vorbereiteten Menschen trifft. 62 (2) Auch im Blick auf den Glaubensbegriff des Konzils ist, wie deutlich geworden sein dürfte, Vorsicht gegenüber gängigen und allzu ein-
gemäße Glaubensbegründung, in: Georg Schwaiger (Hg.), Hundert Jahre nach dem Ersten Vatikanum, Regensburg 1970, 51–68, hier: 64. 58 Walter, Frage, 270. 59 Friedo Ricken, Glauben weil es vernünftig ist, Stuttgart 2007, 155. Vgl. auch Max Seckler, Vernunft und Glaube, Philosophie und Theologie. Der innovative Beitrag der Enzyklika ‚Fides et Ratio‘ vom 14. Sept. 1998 zur Theologischen Erkenntnislehre, in: Theologische Quartalschrift 184 (2004), 77–91, hier: 83 f. 60 Sie beruft sich auch auf Dei filius als „einen normativen Bezugspunkt für eine einwandfreie und konsequente christliche Reflexion“ des Verhältnisses von Glaube und Vernunft (Johannes Paul II., Enzyklika ‚Fides et ratio‘ über das Verhältnis von Glaube und Vernunft (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 135), Bonn 72014, Nr. 52, 73). 61 Vgl. Gregor Maria Hoff, Die Grenzen des Denkbaren. Überlegungen zum Glaubenszugang im Anschluss an ‚Fides et ratio‘, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 29 (2000), 451–461, hier: 455 f. 62 Vgl. Hamel, Lumen, 226 f.
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fachen Darstellungen zu wahren. Selbst wenn der Hinweis ohne jeden Zweifel zutreffend ist, dass das Konzil in der Bemühung um Aktualität und in der Abgrenzung von problematisierten theologischen Tendenzen der Zeit einen einseitigen, zu starken Akzent auf den Aspekt der fides quae, auf die inhaltliche Annahme von Glaubensgehalten legt, 63 so vermeidet es andererseits doch eine intellektualistisch verengte Glaubenskonzeption durch sein Postulat eines vollpersonalen Engagements des Menschen im Glaubensakt; 64 Formulierungen wie: „Glaube ist eine Angelegenheit des menschlichen Intellekts“ 65 sind also unzutreffend, und zwar nicht nur im Blick auf Dei filius, sondern auch auf die neuscholastische Glaubenskonzeption allgemein. 66 Freilich: Diese willentliche Beteiligung am Zustandekommen des Glaubensaktes wird stark hierarchisch, in den Kategorien von Gehorsam und Unterordnung ausbuchstabiert und taugt damit für die heutige Rezeption nicht als Muster, sondern allenfalls als Mahnung dahingehend, das metaphysische Gefälle zwischen Gott und Mensch bei aller Berechtigung und Relevanz kommunikationstheoretischer Glaubens- und Offenbarungsdeutungen nicht unversehens einzuebnen. Und auch gegenüber der stark ethischen Aufladung der Glaubensentscheidung, die in der Positionierung des Ersten Vaticanums von einer dezidierten apologetisch-polemischen Frontstellung gegen Atheismus und Agnostizismus her zu verstehen ist, dürften sich aus aktueller Perspektive Anfragen nahelegen. (3) Am stärksten von einer zeitbedingten Signatur geprägt erscheinen schließlich jene Passagen von Dei filius, in denen sich ein unkritisches und vor allem unhistorisches Verständnis der katholischen Kirche und der in ihr und durch sie gewährleisteten Wahrheitserkenntnis manifestiert. Exemplarisch, kurz und abschließend sei dies an den Themenkom63
Vgl. Pfeiffer, Gott, 41; Fries, Offenbarung, 78. Scheeben kann sogar formulieren: „Die so entstehende Annahme der Thatsache der Offenbarung ist […] selbstverständlich kein bloßer aufgenöthigter Vernunftschluß; weil aus Ehrfurcht gegen die Auktorität Gottes hervorgehend und in dem unbegrenzten Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit Gottes wurzelnd, ist sie […] ein Akt […] des innigsten Anschlusses an Gott“, Scheeben, Concil, 250 (Hervorhebungen U. S.). 65 Rahner, Glaube, 869. 66 Vgl. Hettinger, Lehrbuch, § 68, I, 870: „Der Glaube ist sowohl ein Act der Erkenntniß als des Willens“. 64
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plexen der Beglaubigungsgründe für die Offenbarung und der doppelten Erkenntnisordnung verdeutlicht: Im Hinblick auf Erstere ist neben dem untragbar triumphalistischen Kirchenbild des Konzils vor allem sein Desinteresse an inneren Gründen anzufragen, das – selbst wenn aus den Konzilsakten hervorgeht, dass es Dei filius nur „um die grundsätzliche Möglichkeit und Berechtigung der äußeren Zeichen, nicht um ihre Ausschließlichkeit“ 67 ging – als Einseitigkeit wahrgenommen wurde und eine Steilvorlage für das Auftreten und den Siegeszug der Immanenzapologetik darstellen musste. Und so überzeugend zweitens die schöpfungstheologisch fundierte Bekräftigung erscheint, dass ein Widerspruch zwischen vernünftig erkannter und im Glauben erfasster Wahrheit generell unmöglich ist, so problematisch ist der Weg, den das Erste Vaticanum zur Einlösung dieser Überzeugung beschreitet: Der Irrtum wird prinzipiell auf Seiten der natürlichen Vernunft (oder bei einer häretischen Glaubensdeutung) angesiedelt, während jede Möglichkeit einer Fehlinterpretation oder auch nur Deutungsbedürftigkeit kirchlich vorgelegter Glaubenslehren prinzipiell undenkbar und jeder Gedanke an eine potentielle noetische Grenzüberschreitung vonseiten des kirchlichen Lehramts ebenso ausgeschlossen bleibt wie die Annahme zeitbedingter Einflussfaktoren im Prozess kirchlicher Erkenntnis. Dogmenhermeneutik stellt keinen Weg dar, um beispielsweise naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Weltentstehung als mit kirchlichen Lehren vereinbar aufzuweisen (vgl. DH 3043). Und gerade damit perpetuiert Dei filius das für die katholische Restauration des 19. Jahrhunderts maßgebliche Empfinden einer Unvereinbarkeit der modernen Wissenschaften und des lehramtlichen Autoritätspostulats. 68
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Schatz, Vaticanum, 334 mit Verweis auf Mansi 51, 331D. Vgl. Pottmeyer, Glaube, 28 f.
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Kommunikation der Offenbarung Das revelatorische Prinzip von Dei filius (1870) im Vergleich zu Dei verbum (1965) 1. Einleitung Offenbarung im Singular ist in der semantischen „Sattelzeit“ 1 des 19. Jahrhunderts zu einem Prinzip der Theologie 2 avanciert, konfessionell katholisch zur Sicherung kirchlicher Autorität gegenüber wissenschaftlicher Kritik, in Form eines „ekklesialen Offenbarungszirkels“ 3: Zu glauben sei, was das Magisterium der Kirche „als göttlich geoffenbart zu glauben“ (DH 3011) definiere. Hierzu gehöre, dass diesem Magisterium seine Definitionsautorität von Gott her zukomme. In diesem Sinn sei schließlich durch das päpstliche Magisterium als „ein von Gott geoffenbartes Dogma“ zu definieren, dass dessen „ex cathedra“-Definitionen infallible und irreformable Qualität – „ex sese non autem ex consensu ecclesiae“ – besäßen (DH 3074). Historisch betrachtet ist darin der – massenmedial erstmals in einer solchen Dimension ausgefochtene – neuscholastische Pyrrhussieg der ultramontanen Majorität um Papst Pius IX. im Ersten 1
Reinhard Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 1, Stuttgart 1972, XIII–XXVII, hier: XV. Vgl. Ders., Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, 10–28. 2 Vgl. Peter Eicher, Offenbarung. Prinzip neuzeitlicher Theologie, München 1977. Gregor Maria Hoff, Offenbarungen Gottes? Eine theologische Problemgeschichte, Regensburg 2007. Michael Bongardt, Einführung in die Theologie der Offenbarung, Darmstadt 2009. 3 Jürgen Werbick, Art. Offenbarung V. Christentum 2. Dogmatisch a) Katholisches Verständnis, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 6, Tübingen 42003, 477–479, hier: 477 f. Vgl. Hubert Wolf, Verdammtes Licht. Der Katholizismus und die Aufklärung, München 2019.
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Vatikanischen Konzil zu sehen. 4 Die in der Theologie beharrlich wiederholte These Max Secklers 5, dass demgegenüber das Zweite Vatikanische Konzil eine Wende von einem instruktionstheoretischen zu einem kommunikationstheoretischen Offenbarungsmodell vollzogen habe, trifft meines Erachtens nicht die wesentlichen semantischen An- und Umbaumaßnahmen. Schon in Bezug auf die Rede von einer Wende scheint mir Zurückhaltung geboten, und für nicht minder problematisch halte ich die hierbei vertretene Vorstellung von Kommunikation. 6 Im Folgenden will ich zunächst Secklers These kurz skizzieren und eine Alternative zu 4
Zur Geschichte des Ersten Vatikanischen Konzils vgl. die für diesen Beitrag insbesondere herangezogenen Werke von John W. O’Malley, Vatican I. The Council and the Making of the Ultramontane Church, Cambridge, MA 2018. Klaus Schatz, Vaticanum I 1869–1870 1–3, Paderborn 1992–1994. Hermann J. Pottmeyer, Der Glaube vor dem Anspruch der Wissenschaft. Die Konstitution über den katholischen Glauben ‚Dei filius‘ des ersten Vatikanischen Konzils und die unveröffentlichten theologischen Voten der vorbereitenden Kommission, Freiburg i. Br. 1968. Ders., Unfehlbarkeit und Souveränität. Die päpstliche Unfehlbarkeit im System der ultramontanen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts, Mainz 1975. Cuthbert Butler, The Vatican Council. The Story told from Inside in Bishop Ullathorne’s Letters 1– 2, London 1930; deutsch: Das I. Vatikanische Konzil, München 1961. Sowie zur historischen Verortung im 19. Jahrhundert insbesondere Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Richard J. Evans, The Pursuit of Power. Europe 1815–1914, London 2016; deutsch: Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815–1914, München 2018. Christopher Clark, Wolfram Kaiser (Hg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge, MA 2004; deutsch: Kulturkampf in Europa im 19. Jahrhundert, Leipzig 2003, darin insbesondere Christopher Clark, Der neue Katholizismus und der europäische Kulturkampf, 14–37. 5 Max Seckler, Aufklärung und Offenbarung, in: im jüdischen und christlichen Glaubensverständnis, Freiburg i. Br. 1981, 214–236. Ders., Der Begriff der Offenbarung, in: Walter Kern u. a. (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie 2. Traktat Offenbarung, Tübingen u. a. 1985, 60–83. 6 Vgl. ausführlicher hierzu Bernhard Fresacher, Kommunikation. Verheißungen und Grenzen eines theologischen Leitbegriffs, Freiburg i. Br. 2006. Ders., Einheit und Unterschied. Christologische Reminiszenzen zur kommunikativen Rationalität des christlichen Glaubens, in: Theologie und Glaube 103 (2013), 318–341. Ders., Lücke im System. Kommunikationstheoretische Zumutungen für die Theologie, in: Günter Kruck, Joachim Valentin (Hg.), Rationalitätstypen in der Theologie, Freiburg i. Br. 2017, 51–76.
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dieser vorschlagen (2–4), sodann Dei filius und Dei verbum einem Textvergleich unterziehen (5–6) 7 und schließlich einige Schlussfolgerungen anstellen (7).
2. Von der Instruktion zur Kommunikation In Secklers Offenbarungstypologie sind vom biblischen epiphanischen Modell ein mittelalterliches instruktionstheoretisches und ein modernes kommunikationstheoretisches Modell unterschieden. Während im epiphanischen Verständnis der Akzent auf dem Ereignis der Erscheinung des Göttlichen als einem Heilsgeschehen liege, hebe das instruktionstheoretische Verständnis „den informativen und in Lehre umsetzbaren theoretischen Teil der Heilsgeschichte“ 8 hervor. In Auseinandersetzung mit der Offenbarungskritik der Aufklärungsphilosophie und der Naturwissenschaften, die einerseits für inhaltliche Kritisierbarkeit und andererseits für Übereinstimmung von Inhalt und Form („Selbstoffenbarung“) plädierten, sei dieses Verständnis im 19. Jahrhundert supranaturalistisch, „doktrinalistisch und konzeptualistisch eingeengt“ 9 worden, das heißt: auf übernatürliche Belehrungen fokussiert, die systematisch als Wissen („doctrina“) zu fassen und zu vermitteln seien.
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Die folgenden Übersetzungen der lateinischen Texte ins Deutsche beziehen sich für Dei filius primär auf Conciliorum Oecumenicorum Decreta 3. Die Konzilien der Neuzeit, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth, Paderborn 32002, 804–811. Sekundär auch auf Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 452017 (DH) und auf eigene Wortwahl. Für Dei verbum primär auf Heinrich Suso Brechter OSB u. a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil 2, Freiburg i. Br. 21967, 497–583. Sekundär auch auf Peter Hünermann (Hg.), Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen, in: Ders., Bernd Jochen Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1, Freiburg i. Br. 2004, 363–386 und auf eigene Wortwahl. 8 Seckler, Der Begriff der Offenbarung, 64. 9 Ebd. 65 f.
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„Im Verein mit den verschiedenen Abschirmtechniken wurden die Freiheit und Souveränität Gottes, der offenbaren kann ‚quaecumque vult‘, und die Positivität der Glaubenslehre zunehmend in den Vordergrund gerückt, der Glaube dementsprechend primär als Akt der intellektuellen Unterwerfung konzipiert – einer Unterwerfung, welche sich, dem gewählten Ansatz entsprechend, nur noch auf extrinsezistische Glaubwürdigkeitsargumentationen zu stützen vermochte.“ 10
In diesem Sinn seien „Wunder und Prophezeiungen“, die im epiphanischen Verständnis intrinsisch zu Offenbarungen gehörten, nach Dei filius als „externa argumenta“ (DH 3009) der Glaubenszustimmung zu betrachten. Mit Dei verbum hingegen sei in einem „epochalen Einschnitt“ eine „grundsätzliche Überwindung des instruktionstheoretischen Modells“ und seiner „konzeptualistisch-doktrinalistischen Engführungen der Schultheologie“ 11 erreicht. Demnach sei Offenbarung „kommunikationstheoretisch als interpersonale Seinsmitteilung [zu konzipieren]. Gemäß diesem personal qualifizierten kommunikationstheoretischen Offenbarungsverständnis eröffnet sich im Akt der Offenbarung ein ‚Zugang zum Vater‘, in welchem die Menschen Miterben und Schicksalsgenossen der göttlichen Natur (consortes divinae naturae) werden, und zwar in der freiesten und personhaftesten Form einer Verbindung, die möglich ist: als ‚Freunde‘.“ 12
Die Zitate im Zitat stammen aus Dei verbum 2. Nach Seckler sei dieses Verständnis auch als „kommunikationstheoretisch-partizipativ“ zu bezeichnen, insofern es um eine „Selbst-mit-teilung zur realen Teil-habe an den bona divina“ 13 gehe. Daraus seien fünf Kriterien abzuleiten: (1) Ausrichtung auf Heilung, (2) Bezug auf Erfüllung in Gott, (3) auf Grundlage von Freiheit, (4) „reales Ins-Spiel-Kommen des Ändernden“ und (5) öffentliche Nachvollziehbarkeit. 14 Im Unterschied zum Ersten Vatikanischen Konzil sei also nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil theologisch – in meinen Worten ausgedrückt – eine heilsame, transzendie-
10 11 12 13 14
Seckler, Aufklärung und Offenbarung, 56 f. Ders., Der Begriff der Offenbarung, 66. Ders., Aufklärung und Offenbarung, 57 f. Ders., Der Begriff der Offenbarung, 67. Ebd. 81 f.
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rende, verändernde, freiheitsbasierte und diskursive Wirklichkeit als Offenbarung zu bezeichnen. Nach Seckler sei diese – mit Karl Barth gesprochen – „eine Wirklichkeit, deren Möglichkeit schlechterdings in ihr selber liegt, die wir in alle Ewigkeit nur aus sich selber, nicht aber von anderswoher verstehen, ableiten, begründen können“ 15. Insofern finde „nicht die Offenbarung selbst, wohl aber alles theologische Reden von ihr […] im Wissen des Menschen um sich selbst und doch auch an der Denkbarkeit des möglich-unmöglichen Letzten, zu dem er herausgerufen ist, eine unüberspringbare kritische Instanz, wie auch umgekehrt der Offenbarungsglaube ein vernunftkritisches Potential mit sich bringt“ 16.
Dieser Schluss zeigt die ambivalente historische Genese des revelatorischen Prinzips im Raum der katholischen Theologie: Vorgabe und Vorgang, Abhängigkeit und Freiheit, Unantastbarkeit und Kritisierbarkeit. Secklers Kontrastierung von instruktionstheoretischem (Dei filius) und kommunikationstheoretischem (Dei verbum) Offenbarungsmodell lenkt den Blick insbesondere auf eine Verschiebung vom Kognitiven hin zum Partizipativen. Sie übersieht dabei – zumindest in ihrer Terminologie –, dass Instruktion selbst eine Form von Kommunikation ist und dass Kommunikation nicht in Interpersonalität kulminiert. Dei verbum unterscheidet sich von Dei filius nach meiner Einschätzung vielmehr in anderer Hinsicht. 17
3. Von der Doktrinalität zur Souveränität In der Scholastik ist mit Instruktion zunächst der pädagogische Vorgang des Unterrichts gemeint. Diesem Konzept sind auch die konfessionellen Katechismen seit Reformation und Trienter Konzil verpflichtet. 18 Durch seine scholastische Zuordnung zur wissenschaftlichen Lehre („doctrina“ 15
Ebd. zitiert aus Karl Barth, Offenbarung, Kirche, Theologie, München 1934, 20. Ebd. 82 f. 17 Ich danke Leonhard Hell für wichtige Hinweise nicht nur zu Secklers These, sondern insbesondere auch zu meiner hier vorgeschlagenen alternativen Typologie. 18 Concilium Tridentinum, Decretum primum: recipiuntur libri sacri et traditiones apostolorum und Concilium Tridentinum, Decretum secundum: super lectione et praedicatione, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta 3, 663 f. und 667–670; Catechismus romanus seu catechismus ex decreto Concilii Tridentini ad parochos 16
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und „scientia“) wird Geoffenbartes für Anforderungen der Erkenntnis und des Wissens zugänglich: innerhalb der diskursiven Räume rationalen Argumentierens. 19 Die Summa theologiae des Thomas von Aquin ist in ihrer Methodik ebenso wie in ihrer Offenbarungstheologie 20 beredtes Zeugnis hierfür. Zum biblischen Verständnis, das von einer Unantastbarkeit göttlichen Wirkens in Erscheinungen und Geistergriffenheiten ausgeht, tritt ein kritisches Moment hinzu. Von der Autorität prophetischer Berufungen wird der Blick auf den Inhalt der prophetischen Worte gelenkt, wie im 1. Korintherbrief des Paulus (1 Kor 14, vgl. Lk 24) auf die Hermeneutik oder in der Scholastik auf den „intellectus fidei“. Woran lassen sich falsche Prophetinnen und Propheten erkennen? Darin besteht der Gewinn eines instruktionstheoretischen Offenbarungsmodells: Es rückt die Inhaltlichkeit des Geoffenbarten und damit dessen Kritisierbarkeit ins Blickfeld des religiösen Glaubens. In Bezug auf das biblische Verständnis würde ich statt des Epiphanischen mit Paul Ricœur 21 die Bezeichnung des Prophetischen bevorzugen, da es dessen beide Aspekte umfasst: Ergriffenheit und Botschaft. Die im 19. Jahrhundert zum Problem gewordene Wissenschaftlichkeit des Geoffenbarten hat konfessionell unterschiedliche Antworten gefunden: Der Subjektivität des religiösen Glaubens stellte die römischkatholische Theologie dessen Magisterialität gegenüber. Demnach nimmt das bischöfliche und päpstliche Magisterium der Kirche den bib-
Pii V Pont. Max. Iussu editus, editioni praefuit Petrus Rodriguez, Vatikanstadt 1989, Praefatio 1–4. 19 Zur dogmengeschichtlichen Verortung vgl. die für diesen Beitrag insbesondere herangezogenen Werke von Michael Seybold, Die Offenbarung. Von der Schrift bis zum Ausgang der Scholastik (Handbuch der Dogmengeschichte 1/1a), Freiburg i. Br. 1971. Leo Scheffczyk, Hans Waldenfels, Die Offenbarung. Von der Reformation bis zur Gegenwart (Handbuch der Dogmengeschichte 1/1b), Freiburg i. Br. 1977 sowie zur Scholastik von Frank Rexroth, Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters, München 2018. 20 Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1 (Opera omnia, Editio Leonina 4), Rom 1888, 6 f. 21 Vgl. Paul Ricœur, Hermeneutik der Idee der Offenbarung, in: Ders., An den Grenzen der Hermeneutik, Freiburg i. Br. 2008, 41–83. Hierzu auch Knut Wenzel, Offenbarung – Text – Subjekt. Grundlegungen der Fundamentaltheologie, Freiburg i. Br. 2016.
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lischen Topos der Unantastbarkeit des Prophetischen ein. Nach der Definition von Dei filius hat dieses zu definieren, was als von Gott geoffenbart zu glauben ist (DH 3011). Diese revelatorische Definitionskompetenz kommt von oben, göttlich autorisiert, durch päpstliche Souveränität an der Spitze gesichert, im Instrument des Dogmas, einer Innovation des 19. Jahrhunderts, mit infallibler und irreformabler Qualität ausgestattet. Der Inhalt des Geoffenbarten in den heiligen Büchern und Traditionen ist demnach nicht wissenschaftlicher Kritik zugänglich, sondern ausschließlich durch dessen göttliche „auctoritas“ begründet (DH 3006. 3008). Eine Subsumption beider Modelle, des Doktrinalitäts- und des Souveränitätsmodells, unter dem Label „instruktionstheoretisch“ lenkt von deren wesentlichen Unterschieden ab. Während das eine den hermeneutischen und diskursiven Raum des Intellekts und des Arguments vorsieht, geht das andere vom autoritären Raum einer einzigen Definitionskompetenz aus, die für den religiösen Glauben Zustimmung, Gehorsam und Unterwerfung verlangt. Dabei löst Dei filius das scholastische Modell nicht ab, sondern schreibt es neuscholastisch fort. Thomas von Aquin und das Trienter Konzil dienen als Referenzen – ebenso wie biblische und patristische Texte.
4. Von der Souveränität zur Konnektivität Dasselbe gilt für Dei verbum. Es ersetzt das Souveränitätsmodell nicht, sondern bestätigt es und ergänzt es um ein weiteres, das ich als Konnektivitätsmodell bezeichnen würde: „Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären (authentice interpretandi) ist nur (soli) dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht (auctoritas) im Namen Jesu Christi ausgeübt wird.“ (DV 10)
Nach dieser Bestätigung von Dei filius (DH 3007) folgt die Ergänzung, die ihrerseits nochmals eine Bestätigung (DH 3011) enthält: „Das Lehramt ist nicht über (non supra) dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehr-
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furcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens (ex hoc uno fidei deposito) schöpft. Es zeigt sich also, dass die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluss Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass keines ohne die anderen besteht und dass alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen (inter se connecti et consociari, ut unum sine aliis non consistat, omniaque simul, singula suo modo sub actione unius Spiritus Sancti, ad animarum salutem efficaciter conferant).“ (DV 10)
Demnach ist das Magisterium der Kirche nicht in souveräner Überordnung eines Topos zu konzipieren, sondern in Konnektivität „omniaque simul, singula suo modo“ mit anderen Topoi – „sub actione unius Spiritus Sancti“, nicht alles andere „sub magisterio ecclesiae“ (DH 3014). In diesem Sinn ist vom „depositum“ unter der Voraussetzung der „actio“ zu sprechen, von einer revelatorischen Vorgabe im Zusammenhang eines revelatorischen Vorgangs. Ich komme darauf zurück. Eindrücklich zeigt sich an diesem Textausschnitt von Dei verbum, dass hier nicht Vorhergehendes substitutiv überwunden, sondern diesem etwas additiv hinzugefügt wird, wie bei einem Gebäude, das erweitert, oder bei einem Programm, das fortgeschrieben wird. 22 Auf diese Weise verändert sich die Gesamtarchitektur, die Gesamtoptik, die Gesamtperspektive. Die gesamte dogmatische Konstitution besteht in einer Komposition aus Bestätigungen und Ergänzungen. Damit sind bis heute umstrittene Fragen der Interpretation aufgeworfen. Ist Dei verbum von seinen bestätigenden oder von seinen ergänzenden Aussagen her zu interpretieren? Ist Dei filius von Dei verbum her zu verstehen oder Dei verbum von Dei filius her?
22
Vgl. hierzu beispielsweise die Analysen zum Begriff der „Dogmenentwicklung“ in Michael Seewald, Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg i. Br. 2018 oder zum Begriff der Reform in Julia Knop, Hermeneutik der Reform – Reform der Hermeneutik. Über Fortschritt und Erneuerung in kirchlicher Überlieferung, in: Internationale katholische Zeitschrift 46 (2017), 255–267 sowie meine gedächtnistheoretischen Analysen in Bernhard Fresacher, Gedächtnis im Wandel. Zur Verarbeitung von Traditionsbrüchen in der Kirche, Innsbruck u. a. 1996.
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Die Rede von einem „epochalen Einschnitt“ oder einer „grundsätzlichen Überwindung“ lenkt von der Komplexität solcher An- und Umbaumaßnahmen ab, wie sie Konzilsbeschlüsse darstellen, sowie von den Fragen der Interpretation, die sie aufwerfen. Dei filius und Dei verbum bilden demgegenüber keine Ausnahme. Die römisch-katholische Kirche hat sich strukturell im 19. Jahrhundert formiert: konfessionell, organisiert, international, zentriert, mit einer einheitlichen Liturgie, unter dem einen Papst an der Spitze, in der einen Hauptstadt Rom. Daran hat das Zweite Vatikanische Konzil bislang nichts grundlegend geändert. Papst Franziskus selbst und vermutlich die Majorität der katholischen Bischöfe weltweit berufen sich auf die vom Zweiten Vatikanischen Konzil bestätigte Offenbarungsdogmatik des Ersten Vatikanischen Konzils, in der sie ihr Magisterium begründet sehen. Offenbarung bleibt in dieser Sicht Vorgabe („depositum“), auch wenn sie in Dei verbum als Vorgang („actio“) definiert ist. Die massenmediale Wahrnehmung fördert diese Sicht zudem durch eine Personalisierung des Religiösen, forciert seit dem 19. Jahrhundert, und kommt dadurch in der Tendenz dem Souveränitätsmodell entgegen. Die in Dei verbum gegenüber Dei filius gesetzten Akzente hingegen liegen, so meine These, nicht primär in einem personalen Verständnis von Kommunikation oder Partizipation.
5. Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei filius (1870) Dei filius basiert auf einem, seinerseits auf einem biblischen Prophetiemodell aufgebauten, scholastischen Doktrinalitätsmodell von Offenbarung in konfessionell katholischer, neuscholastischer Fortschreibung hin zu einem Souveränitätsmodell unter dem alten Leitmotiv einer irdischen „ecclesia militans“ (Dei filius Vorwort) auf dem Weg zu einer himmlischen „ecclesia triumphans“, in seiner prägend von Robert Bellarmins Ekklesiologie her neu bestimmten, vornehmlich kontroverstheologischen, von Papst Pius IX. auf zeitgeistige „errores“ ausgeweiteten Ausrichtung. Diese antizeitgeistige Ausrichtung, wie sie in der päpstlichen Enzyklika „Quanta cura“ und ihrer anhängenden „Syllabus“-Auflistung von 80 „errores“, veröffentlicht im Zusammenhang der Ankündigung des Konzils, am 8. Dezember 1864, am Fest der „Immaculata conceptio“
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Mariens, 23 zehn Jahre nach ihrer päpstlichen Definition als Dogma, im Vordergrund stand und im Vorbereitungsschema der dogmatischen Konstitution „de doctrina catholica contra multiplices errores ex rationalismo derivatos“ vorgesehen war, ist allerdings in Umfang und Inhalt der vier Kapitel der vom Ersten Vatikanischen Konzil am 24. April 1870 verabschiedeten dogmatischen Konstitution „de fide catholica“ und ihrer Kanones deutlich zurückgenommen. Der Grundton der Abwehr irriger Meinungen und falscher Lehren bleibt jedoch erhalten. Deren volatiler Pluralität ist die stabile Identität des einen, doktrinal bestimmten und magisteriell vorgelegten Glaubens gegenübergestellt: „Demzufolge ist die Lage derer, die sich durch das himmlische Geschenk des Glaubens der katholischen Wahrheit angeschlossen haben, gänzlich verschieden von der jener, die, von menschlichen Meinungen geleitet, einer falschen Religion folgen. Denn alle, die den Glauben unter der Führung des Magisteriums der Kirche angenommen haben, können niemals einen berechtigten Grund haben, den Glauben zu wechseln oder ihn wieder in Zweifel zu ziehen.“ (DH 3014, vgl. DH 3036)
Wie lässt sich das revelatorische Modell von Dei filius rekonstruieren? In einem Gefälle von oben nach unten ist Gott, „ineffabiliter excelsus“ (DH 3001), alleiniger Autor („auctor“ mit höchster „auctoritas“ DH 3006. 3008. 3032), der aus dem Mund Christi selbst oder durch Eingebung des Heiligen Geistes von den Aposteln angenommenen und gleichsam von Hand zu Hand bis heute überlieferten („ipsius Christi ore […] aut […] Spiritu sancto dictante quasi per manus traditae“) „geschriebenen Bücher und ungeschriebenen Traditionen“ (DH 3006). Diese enthalten die „übernatürliche Offenbarung“ („supernaturalis revelatio“), die dem Menschen seine von Gott bestimmte Ausrichtung („ordinavit“) auf sein übernatürliches Ziel („ad finem supernaturalem“) ermöglicht, die Partizipation an den „bona divina“, die jede menschliche Erkenntnis übersteigen („superant“ DH 3005, „excedunt“ DH 3016, vgl. DH 3028). Die Bücher des Alten und Neuen Testaments sind weder aufgrund ihrer historischen Genese, noch aufgrund ihrer inhaltlichen Irrtumslosigkeit normativ, sondern allein aus dem Grund, „weil sie, durch Eingebung des Heiligen Geis-
23
Dieses Datum verbindet Erstes und Zweites Vatikanisches Konzil: Das eine begann am 8. 12. 1869 im Petersdom, das andere endete dort am 8. 12. 1965.
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tes geschrieben, Gott als Autor haben und als solche der Kirche übergeben worden sind“ (DH 3006, vgl. DH 3029. 3032). Dieser allein kommt die Interpretationskompetenz zu, als Unterscheidungskompetenz zwischen wahrem und falschem Sinn. Die legitime Instanz hierfür ist das Magisterium der Kirche: „Nun ist mit göttlichem und katholischem Glauben all das zu glauben, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche entweder durch feierliches Urteil oder durch das ordentliche und allgemeine Magisterium als göttlich geoffenbart zu glauben vorgelegt wird.“ (DH 3011)
Die Kirche ist „magistra“, „custos“ und „mater“ in der Institution des päpstlichen und des bischöflichen Magisteriums (DH 3007. 3012). Dieses definiert in Form von „doctrinae“ und „dogmata“, was als von Gott geoffenbart zu glauben ist – einschließlich seiner eigenen Institution („ekklesialer Offenbarungszirkel“). Glauben geschieht unter der Obhut des Magisteriums der Kirche („sub ecclesiae magisterio“ DH 3014) und besteht primär im Akt der Zustimmung („assensus fidei“), der Unterwerfung („ratio […] subiecta“) und des Gehorsams („intellectus et voluntatis obsequium“ DH 3008). „Subjekt“ ist das Untergeordnete. Dass dieser Akt in Freiheit vollzogen werden kann, ist Gottes Hilfe („aspirante et adiuvante gratia“ DH 3008, „liberam […] oboedientiam“ DH 3010, vgl. DH 3035) zu verdanken, „extern“ durch „göttliche Fakten“ als „Argumente“, „insbesondere Wunder und Prophezeiungen“ (DH 3009, vgl. DH 3033. 3034), und „intern“ durch eine Freude, ein gutes Gefühl, eine süße Bereitschaft zur Zustimmung („suavitatem in consentiendo et credendo veritati“ DH 3010) motiviert. Im Unterschied zu und unabhängig von dieser „supernaturalen“ Form, in der Gott „sich selbst und die ewigen Dekrete seines Willens“ (DH 3004) offenbart, im Sinn einer Enthüllung und Mitteilung von verborgenen Geheimnissen („mysteria […] abscondita“ DH 3015, vgl. DH 3041), und extern und intern hilft, daran zu glauben, lässt dieser sich auch „natural“ „durch das natürliche Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen sicher erkennen“ (DH 3004, vgl. DH 3026). Was aber gilt im Fall eines Dissenses zwischen diesen beiden Erkenntnisweisen? In diesem Fall ist dem Glauben aufgrund „supernaturaler“ Offenbarung recht zu geben gegenüber „naturaler“ Erkenntnis aufgrund wis-
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senschaftlicher Forschung („humanarum artium et disciplinarum culturae“ DH 3019). Künste und Wissenschaften 24 haben dann entsprechend nachzubessern. Es besteht ein Gefälle in der Auflösung des Dissenses („fides […] supra rationem“ DH 3017, vgl. DH 3042): Die rechte – vom Glauben erleuchtete – Vernunft hat die Fundamente des Glaubens aufzuzeigen und sich durch diesen von Irrtümern befreien zu lassen: „recta ratio fidei fundamenta demonstret, eiusque lumina illustrata rerum divinarum scientiam excolat, fides vero rationem ab erroribus liberet […]“ (DH 3019). 25 Unter Anerkennung der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung in ihren „eigenen Prinzipien und Methoden“ ist die Kirche „eifrig darauf bedacht, dass sie nicht die göttliche Lehre bekämpfen und Irrtümer in sich aufnehmen oder in Überschreitung der eigenen Grenzen das, was Sache des Glaubens ist, an sich reißen und verwirren“ (DH 3019). Das Offenbarungsmodell des Ersten Vatikanischen Konzils besteht in einem vertikalen Gefälle. Die Bewegung geht von oben nach unten: vom Göttlichen hinunter zum Menschlichen, vom Übernatürlichen hinunter zum Natürlichen, vom Magisterium hinunter zu den Gläubigen, vom Glauben hinunter zur Vernunft, von Doktrin und Dogma hinunter zu Künsten und Wissenschaften. Offenbarung ist als göttliche Vorgabe („depositum“) von oben konzipiert, die die göttlich vorgesehene Ausrichtung des menschlichen Denkens und Handelns auf ihr geheimes Ziel im Göttlichen hin schriftlich und nicht schriftlich, in heiligen Büchern und Traditionen enthüllt. Der Glaube sichert diese Ausrichtung durch Zustimmung, Gehorsam und Unterwerfung gegenüber dem sonst nicht anders
24
Alle mir bekannten deutschen Übersetzungen entscheiden sich hier für „Kunst und Wissenschaft“ oder „Künste und Wissenschaften“. Mit „artes“ sind hier eher jene klassisch damit bezeichneten wissenschaftlichen Disziplinen gemeint, die unter anderem auch Mathematik und Naturwissenschaften mit einschließen, als künstlerische Ausdrucksformen im modernen Sinn. Ich übernehme im Folgenden die deutsche Übersetzung „Künste und Wissenschaften“. 25 Vgl. ausführlicher hierzu Bernhard Fresacher, Lücke im System. Kommunikationstheoretische Zumutungen für die Theologie, in: Günter Kruck, Joachim Valentin (Hg.), Rationalitätstypen in der Theologie, Freiburg i. Br. 2017, 51–76. Ders., Wer glaubt, hört auf zu denken!? Religion nach der Aufklärung und die Aufgaben der christlichen Theologie heute, in: Ders. (Hg.), Neue Sprachen für Gott. Aufbrüche in Medien, Literatur und Wissenschaft, Ostfildern 2010, 67–97.
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zugänglichen Geoffenbarten. Dieses bedarf immer wieder seiner genauen Definition zum Schutz gegen zeitgeistige Meinungen, die in die Irre führen. Zu dieser Definition des als göttlich geoffenbart zu Glaubenden ist ausschließlich die ebenfalls göttliche Institution des Magisteriums der Kirche legitimiert. Dieses sorgt durch doktrinale und dogmatische Verlautbarungen für Einheit und Eindeutigkeit in Pluralität und Dissens der Zeit. Künste und Wissenschaften helfen hierbei, wenn sie in Freiheit mit ihren jeweils eigenen Prinzipien und Methoden die Fundamente dieses Glaubens bestätigen. Andernfalls sind sie von magisterieller Seite in ihre Schranken zu weisen. Letztendlich strafen sie sich selbst Lügen, wenn sie dem Glauben der Kirche widersprechen. Es geht um Reinheit und ihre Erhaltung durch souveräne Herrschaft. 26 Dieser Sicht entspricht bereits die päpstliche Definition der „Immaculata conceptio“ am 8. Dezember 1854, früh im langen Pontifikat von Papst Pius IX., in seiner Vorliebe für Wunder und für Souveränität, kurzum: für „Supernaturalität“, neuscholastisch unter Federführung des kurzerhand rehabilitierten Jesuiten-Theologen Josef Kleutgen 27 entfaltet im „ekklesialen Offenbarungszirkel“ des Ersten Vatikanischen Konzils. Eine Erforschung der Zusammenhänge von Doktrinalität, Souveränität und Sexualität im 19. Jahrhundert und darüber hinaus käme hier vermutlich zu aufschlussreichen Ergebnissen. In diesen Zusammenhängen findet der Glaube primär Halt in einer Rangordnung, die „supernatural“ vom Deus „ineffabiliter excelsus“ (DH 3001) oben über den Mund Christi, Inspiration, Schriften und Traditionen sowie die dogmatischen und disziplinären Definitionen des Magisteriums der Kirche zu den Gläubigen unten führt, die mit Blick auf ihr „supernaturales“ Ziel oben diesen Definitionen folgend („sub ecclesiae magisterio“ DH 3014) bei ihren Pflichten unten bleiben, sie gegen „errores“ verteidigen und „niemals einen berechtigten Grund haben, den Glauben zu wechseln oder ihn wieder in Zweifel zu
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Offensichtlich korrelierte im 19. Jahrhundert ein gesteigertes Schutzbedürfnis doktrinaler Reinheit mit einem gesteigerten Schutzbedürfnis sexueller Reinheit, wofür nicht zuletzt auch der in der katholischen Bevölkerung hoch verehrte Papst Pius IX. in seiner Person und in seiner souveränen dogmatischen Definition der Immaculata conceptio Mariens stand. 27 Vgl. Hubert Wolf, Die Nonnen von Sant’Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München 2013.
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ziehen“ (DH 3014, vgl. DH 3036). Einerseits werden damit Doppelmoral und Scheinheiligkeit unausweichlich, entschärft durch eine moderne Differenzierung von öffentlich und privat. Andererseits werden Unterschiede zwischen „Dei mysteria abscondita“ und „revelata“, „fidei fundamenta“ sowie „ecclesiae doctrinae“ und „dogmata“ kaum noch erkennbar, göttliche Offenbarung und ihre magisterielle Definition rücken eng zusammen und kirchliche Autorität tritt in die Sphäre göttlicher Autorität ein.
6. Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum (1965) Dei verbum baut auf dem Offenbarungsmodell von Dei filius auf und verändert es dadurch, dass es weglässt und hinzufügt, dadurch, dass es Sätze und Satzteile umgruppiert, vorordnet und nachordnet, und dadurch, dass es selektiv zitiert, kompiliert und rekontextualisiert. Anstelle einer „ecclesia militans“ beginnt die vom Zweiten Vatikanischen Konzil am 18. November 1965 verabschiedete dogmatische Konstitution „de divina revelatione“ voll Zuversicht, voll Vertrauen, voll Glauben: „fidenter“ (DV 1). Dahinter steckt eine historische Entwicklung: Zwischen Erstem und Zweitem Vatikanischen Konzil lagen europäische und weltweite Kriege mit unvorstellbar vielen Toten und Versehrten, das Ende primär monarchischer und aristokratischer Herrschaft, die Unabhängigkeit europäischer Kolonien in Asien, Ozeanien, Afrika und Südamerika sowie wissenschaftliche und technische Innovationen in Medizin, Industrie, Wirtschaft und Kommunikation, die auch in der Theologie zu, vom päpstlichen und bischöflichen Magisterium als modernistisch abzulehnenden, Neuansätzen beitrugen, abgesehen von einer kleinen altkatholischen bzw. christkatholischen Kirche, die sich nach dem Ersten Vatikanischen Konzil insbesondere im Dissens zur Infallibilitätsdefinition zu formieren begann. Bis nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil waren konfessionell katholischer Klerus und Hochschultheologie zum sogenannten „Antimodernisteneid“ (DH 3537–3550) verpflichtet (1910– 1967). Der „Kalte Krieg“ weckte in den 1960er Jahren eine Sehnsucht nach weltweitem Frieden. Erstmals gab es die Institution der Vereinten Nationen, deren Mitglieder 1948 eine Menschenrechtscharta beschlossen. Im selben Jahr wurde in Amsterdam der Weltkirchenrat gegründet. Die
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christlichen Konfessionen bewegten sich ökumenisch, biblisch und liturgisch aufeinander zu. Mit Papst Johannes XXIII. und seinem Konzilsprogramm hielt ein Hauch dieser Aufbruchsstimmung, die auf Dialog und Kooperation für einen weltweiten Frieden setzte, Einzug in die römisch-katholische Kirche. Eine Minorität von Kardinälen, Bischöfen und Theologen organisierte mit allen Mitteln den Widerstand im Kampf um eine Bestätigung und Forcierung der Theologie des Ersten Vatikanischen Konzils. Diesem Ziel sollte auch das unter Mitwirkung des Jesuiten-Theologen Sebastian Tromp erarbeitete Vorbereitungsschema der dogmatischen Konstitution „de fontibus revelationis“ dienen, das vom Leitmotiv einer „ecclesia militans“ aus konstruiert ist. 28 Von einer Majorität abgelehnt, entstand auf Basis von Stellungnahmen und Alternativentwürfen theologischer Periti, unter anderem von Karl Rahner, Joseph Ratzinger, Yves M. Congar und Jean Daniélou sowie Edward Schillebeeckx, der nie offizieller Peritus war, aus einer frühen Krise des Konzils heraus über viele Zwischenschritte bis hin zur letzten Session eine neue Textkomposition, die nicht mehr von zwei Quellen ausgeht, Schriften und Traditionen, in denen die Offenbarung enthalten ist, wie sie vom Magisterium der Kirche in Verlautbarungen zu glauben vorgegeben wird. Vor allem in ihren ersten beiden Kapiteln, auf die sich mein Textvergleich im Wesentlichen beschränkt, sind An- und Umbaumaßnahmen am revelatorischen Souveränitätsmodell des Ersten Vatikanischen Konzils vorgenommen, stark beeinflusst von Rahners Offenbarungstheologie aus den 1940er und 1950er Jahren, die dieses Modell in ein dynamisches, heilsgeschichtliches Dialogmodell einzubetten versucht: „Offenbarung ist im ersten Ansatz nicht die Mitteilung einer bestimmten Anzahl von Sätzen, einer Summe, die dann beliebig vermehrbar gedacht werden kann oder die plötzlich und willkürlich begrenzt wird, sondern ein geschichtlicher Dialog zwischen Gott und dem Menschen, in dem etwas geschieht und die Mitteilung sich auf das Geschehen, das Handeln Gottes bezieht, und der auf einen ganz bestimmten Endpunkt hinsteuert, in welchem das Geschehen und darum die Mitteilung zu ihrem nicht mehr über-
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Vgl. Karim Schelkens, Catholic Theology of Revelation on the Eve of Vatican II. A Redaction History of the Schema ‚De fontibus revelationis‘ (1960–1962), Leiden u. a. 2010.
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bietbaren Höhepunkt und so zu ihrem Abschluss kommen. Offenbarung ist ein Heilsgeschehen und diesbezüglich eine Mitteilung von ‚Wahrheiten‘.“ 29
Dei verbum beginnt in seinem ersten Kapitel „De ipsa revelatione“ mit einer theologischen Einbettung des Offenbarungsmodells von Dei filius in ein dynamisches Modell einer heilsamen Konversation zwischen Gefährten und Freunden: „divinae naturae consortes […] homines tamquam amicos alloquitur et cum eis conversatur“ (DV 2, vgl. DV 8). Dem Gefälle einer Bewegung von oben nach unten ist eine Metaphorik des Ge29
Karl Rahner, Zur Frage der Dogmenentwicklung, in: Ders., Schriften zur Theologie 1, Einsiedeln 1954, 49–90. Weichenstellend hierfür ist sein 1941, während des 2. Weltkriegs veröffentlichtes, von Johann B. Metz zum Zweiten Vatikanischen Konzil neu bearbeitetes Werk: Karl Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, München 1963. Vgl. Joseph Ratzinger, Offenbarung – Schrift – Überlieferung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 67 (1958), 13–27. Karl Rahner, Joseph Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung, Freiburg i. Br. 1965. Rahners unter Mitarbeit von Ratzinger in der Konzilssprache Latein zu Beginn des Konzils im Herbst 1962 für die Bischöfe alternativ zum Vorbereitungsschema De fontibus revelationis verfasster Entwurf De revelatione Dei et hominis in Jesu Christi facta findet sich in deutscher Übersetzung in Elmar Klinger, Klaus Wittstadt (Hg.), Glaube im Prozess. Christsein nach dem II. Vatikanum (Festschrift für Karl Rahner), Freiburg i. Br. 1984, 33–51. Zur Geschichte und zur Interpretation von Dei verbum im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils vgl. die für diesen Beitrag insbesondere herangezogenen Werke von Joseph Ratzinger, Kommentar zum Prooemium, I. und II. Kapitel, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil 2, Freiburg i. Br. 21967, 498–528. 571–581. Hans Waldenfels, Offenbarung. Das Zweite Vatikanische Konzil auf dem Hintergrund der neueren Theologie, München 1969. Giuseppe Alberigo, Alberto Melloni (Hg.), Storia del Concilio Vaticano II 1–5, Bologna u. a. 1995–2001; deutsch: Giuseppe Alberigo u. a. (Hg.), Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, Mainz u. a. 1997–2002. Helmut Hoping, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, in: Peter Hünermann, Bernd Jochen Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweite Vatikanischen Konzil 3, Freiburg i. Br. 2005, 695–831. Eilert Herms, Glaubensgewissheit nach römisch-katholischer Lehre, in: Ders., Lubomir Žak (Hg.), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen 2008, 3–50: „Dei verbum folgt Dei filius aufs Engste, teils als Rekapitulation, teils als Vertiefung.“ Ebd., 37. Christoph Theobald, ‚Dans les traces …‘. de la constitution ‚Dei verbum‘ du concile Vatican II, Paris 2009. Jörg Ernesti u. a. (Hg.), Selbstbesinnung und Öffnung für die Moderne. 50 Jahre II. Vatikanisches Konzil, Paderborn 2013.
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sprächs auf Augenhöhe gegenübergestellt, mit Akzent auf dem Geschehen in Konnektivität von Tat und Wort, Lehre und Wirklichkeit: „revelationis oeconomia […] gestis verbisque intrinsece inter se connexis, ita ut opera, in historia salutis a Deo patrata, doctrinam et res verbis significatas manifestent ac corroborent“ (DV 2, vgl. DV 3. 4. 8. 10). Dabei sind die göttlichen Fakten (Dei filius) bzw. Werke (Dei verbum) nicht extrinsisch „äußere Argumente“, die im Verbund mit innerer Bereitschaft zum Glauben als Zustimmung zum Geoffenbarten motivieren, sondern intrinsisch Form des Offenbarungsgeschehens selbst in seiner heilsamen Wirkung. Offenbarung richtet nicht nur auf das einstige Heil im Göttlichen aus, sondern wirkt – wie in der biblischen und nachbiblischen Vergangenheit auch – bereits jetzt heilsam, in Gesten und Worten, doktrinal und real. Aussagen dieser Art finden sich in den Artikeln der folgenden Kapitel von Dei verbum mehrfach an der Seite von Zitaten aus und Referenzen auf Dei filius. Dabei kommt es auf leichte Veränderungen an. Der Satz, „Dennoch hat es seiner Weisheit und Güte gefallen, dem Menschengeschlecht sich selbst und die ewigen Dekrete seines Willens auf einem anderen, nämlich übernatürlichen Weg zu offenbaren – attamen placuisse eius sapientiae et bonitati, alia, eaque supernaturali via, se ipsum ac aeterna voluntatis suae decreta humano generi revelari“ (DH 3004),
beispielsweise findet sich zwei Mal in Dei verbum zitiert. Beide Male fehlt die Qualifizierung als übernatürlich („supernaturalis“) im Unterschied und in Überordnung zu natürlicher („naturalis“) Erkenntnis. Beim ersten Mal ist mit Referenz auf Eph 1,9 der Begriff „decreta“ durch den Begriff „sacramentum“ ersetzt und das Verb „revelare“ nur auf Gott selbst bezogen: „Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun – placuit Deo in sua bonitate et sapientia Seipsum revelare et notum facere sacramentum voluntatis suae“ (DV 2). Beim zweiten Mal sind statt des Verbs „revelare“ die Verben „manifestare ac communicare“ verwendet: „Durch seine Offenbarung wollte Gott sich selbst und die ewigen Dekrete seines Willens über das Heil der Menschen kundtun und mitteilen – divina revelatione Deus Seipsum atque aeterna voluntatis suae decreta circa hominum salutem manifestare ac communicare voluit“ (DV 6).
Infolge solcher und ähnlicher Kompositionen erscheint das Gefälle zwischen übernatürlicher Offenbarung und natürlicher Erkenntnis, zwischen
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magisterieller Autorität und gläubigem Gehorsam sowie zwischen göttlicher Vorgabe und heilsamem Vorgang zurückgenommen. Nicht nur die Kirche, sondern das ganze Universum wird unter ein gemeinsames Vorzeichen gestellt: das Hören („audiens“ DV 1, „audit“ DV 10). Dieses sorgt für eine grundlegende Gleichrangigkeit aller auf Erden, mit denen die Kirche (nicht in konfessionellem Sinn) in der Fremde pilgert („peregrinans“ DV 7, vgl. DH 3016), begleitet von „Gott mit uns“ (DV 4). Es bezeichnet eine universale Wirklichkeit in Bezug auf die ganze Welt („mundus universus“, DV 1), „zum Heil aller Völker“ („ad salutem cunctarum gentium“ DV 7). Im Kontext dieses Grundtons universaler heilsgeschichtlicher Gleichrangigkeit stechen Zitate aus und Referenzen auf Dei filius zum Glaubensgehorsam (DV 5, DH 3008–3014), zu Inspiration, Schrift und Tradition, im Singular im Unterschied zum Pluralgebrauch in Dei filius (DV 7–9, DH 3006), oder zum Magisterium der Kirche (DV 10, DH 3007. 3011. 3012) umso mehr hervor. Dasselbe gilt für die Betonung des dynamischen Vorgangs gegenüber der präskriptiven Vorgabe der Offenbarung. Während Dei verbum einerseits in seiner Gliederung zwischen Offenbarung (Kapitel 1: „De ipsa revelatione“) und Weitergabe (Kapitel 2: „De divinae revelationis transmissione“) unterscheidet, ist andererseits beides in seiner theologischen Beschreibung zu einer trinitarischen – dialogischen und heilsamen – revelatorischen „Ökonomie“ miteinander verbunden: als „depositum“ und „fundamentum“ verflüssigt zu einem sprudelnden Quellwasser („scaturigine“ DV 9), das Schrift und Tradition speist (nicht diese sind, wie vom Vorbereitungsschema vorgesehen, Quellen der Offenbarung), zu einem erotischen Kolloquium („Sponsa colloquitur“ DV 8 im Unterschied zu „divinum depositum Christi sponsae tradita“ DH 3020), zu einer Resonanz des Heiligen Geistes in der Kirche und in der Welt („Spiritus Sancti, per quem viva vox Evangelii in Ecclesia, et per ipsam in mundo resonat“ DV 8), zu einer Einführung in alle Wahrheit („in omnem veritatem inducit“ DV 8) und zu einem Wohnen in Überfülle („abundanter inhabitare“ DV 8), mit wachsendem („crescit“ DV 8), fortschreitendem („proficit“ DV 8) und sich entwickelndem („evadat“ DV 5) Verständnis der Offenbarung und der überlieferten Dinge und Worte („revelationis intelligentia“ DV 5, „tam rerum quam verborum traditorum perceptio“ DV 8), die auf diese Weise Gott wie durch einen Spiegel, „veluti speculum“ (DV 7), erkennen lassen. Die Referenz auf 1 Korinther 13 ist offensichtlich. Die
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Akzente verlagern sich von der Mitteilung hin zum Verstehen, vom Diktat hin zur Resonanz, von der kompasshaften Ausrichtung auf das Heil danach hin zum heilsamen Geschehen unterwegs in der Kontingenz der Zeit. 30 Wie sich dadurch auch der Blick auf Inspiration, Schrift, Tradition und Magisterium verschiebt, zeigt sich in Dei verbum 9 und 10. Das „unter Anhauchung des Heiligen Geistes – Divino aflante spiritu“ (DV 9, zugleich Titel jener Enzyklika Papst Pius XII. von 1943, die Brücken zu den Bibelwissenschaften und den Naturwissenschaften baute, vgl. DV 11) Verschriftlichte hat demnach nicht nur – wie in Dei filius (DH 3006) – Gott zum Autor, „auctorem“, sondern auch die Menschen als echte Autoren „veri auctores“ (DV 11, vgl. DV 12. 13) und zwischen Vorstehern und Gläubigen soll ein Zusammenklang („conspiratio“ DV 10) herrschen, nicht „sub ecclesiae magisterio“ (DH 3014), sondern „sub actione unius Spiritus Sancti“ (DV 10), und zwar so, dass Schrift, Tradition und Magisterium „miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass keines ohne die anderen bestehen und dass alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen – ita inter se connecti et consociari, ut unum sine aliis non consistat, omniaque simul, singula suo modo sub actione Spiritus Sancti, ad salutem efficaciter conferant“ (DV 10). Die Einheit liegt nicht beim Magisterium der Kirche, sondern beim Heiligen Geist. Für das Magisterium gilt das Prinzip der Konnektivität, bekräftigt mit dem viermaligen Suffix „con-“. Auf diese Weise ist es „nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm – non supra verbum Dei est, sed eidem ministrat“ (DV 10). Diese Defintion ist allerdings ihrerseits eine magisterielle, die im Übrigen mit Referenz auf Dei filius eingeleitet ist: „Die Aufgabe aber, das geschriebene und überlieferte Wort Gottes verbindlich zu interpretieren, ist nur dem lebendigen Magisterium der Kirche anvertraut, dessen Autorität im Namen Jesu Christi ausgeübt wird.“ (DV 10, vgl. DH 3007. 3011. 3012)
30
Vgl. hierzu auch Bernhard Fresacher, Poesie und Theologie. Die Resonanzmetaphorik des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Lebendige Seelsorge 67 (2016), 74–77.
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7. Vom Gefälle zur Augenhöhe Fragen des Verhältnisses von Konnektivität und Souveränität bleiben ungeklärt: Wie sollen Schrift und Tradition das Magisterium kontrollieren, wenn dieses sich die alleinige Autorität zuschreibt, sie verbindlich zu interpretieren? Sprechen die Metaphoriken des Überquellens, der Erotik, des Gesprächs, der Resonanz, des Weges, des Wachstums eher für konnektive oder eher für souveräne Strukturen? Ist Souveränität unter konnektiven Voraussetzungen vorstellbar oder umgekehrt Konnektivität unter souveränen Voraussetzungen? In welchem Verhältnis zueinander sind Doktrinalität und Realität („doctrinam et res“ DV 2) zu verstehen? Reicht der Offenbarungsvorgang über Konfessionalität und Kirchlichkeit hinaus? Sind Konfessions- und Religionsunterschiede und -wechsel revelatorisch relevant? Wie ist Offenbarung theologisch zu konzipieren, wenn ihre Kommunikation primär nicht vertikal von oben nach unten verläuft, sondern horizontal auf Augenhöhe wie in Freundschaften, wenn ihre Einheit primär nicht in der Souveränität eines Topos an der Spitze repräsentiert ist, sondern in der Konnektivität verschiedener gleichrangiger Topoi, und wenn ihre Form primär nicht in einer vorgegebenen Ausrichtung auf danach besteht, sondern in einem heilsamen Vorgang schon jetzt? Mit welchen Konsequenzen für die Institution eines Magisteriums? Mit welchen Konsequenzen für ihr Verhältnis zu wissenschaftlichen und anderen Rationalitäten? Dei verbum lässt im Verbund mit Dei filius bis heute viele dieser Fragen offen. Zum Teil finden sie sich an anderen Stellen des Zweiten Vatikanischen Konzils ansatzweise aufgegriffen, insbesondere in Lumen gentium, Nostra aetate, Gaudium et spes und Dignitatis humanae, werfen aber auch dort erneut weitere Fragen auf, die auf ihre theologische Bearbeitung warten, und zwar auf eine Weise, die nicht nur an personalen, sondern ebenso an strukturellen Aspekten einer Umstellung von Kampf- auf Vertrauensmodus („ecclesia militans“ – „fidenter“) interessiert ist, ohne dass ihr dafür die Position einer übergeordneten Gesamtperspektive gegenüber säkularen Teilperspektiven zur Verfügung stünde. 31 Mit einer 31
Vielversprechend könnte die neue „Topologische Dogmatik“ von Gregor Maria Hoff und Hans-Joachim Sander werden, von der der erste Band zu Schöpfung, Anthropologie, Gnade und Eschatologie erschienen ist: Hans-Joachim Sander, Glau-
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Fokussierung auf Interpersonalität übersieht man einen wesentlichen Akzent von Dei verbum gegenüber Dei filius, nämlich die Empfehlung, Ungleichheit nicht vertikal, sondern horizontal zu verstehen, das heißt: nicht in einem Gefälle von oben nach unten, sondern in einer Gleichrangigkeit von Verschiedenen. Ob sich unter diesen Voraussetzungen Souveränität nach dem Offenbarungsmodell des Ersten Vatikanischen Konzils weiter halten kann, ohne auf Dauer dem Konnektivitätsmodell des Zweiten Vatikanischen Konzils zu widersprechen, erscheint zumindest unter Bedingungen einer modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts fraglich.
bensräume – Topologische Dogmatik 1. Glaubensräumen nachgehen, Ostfildern 2019. Vgl. kritisch zu insbesondere in pentekostal geprägten Bewegungen vertretenen kämpferischen, aus revelatorisch vermeintlich besserer Überblicksperspektive gewonnenen Positionen (Widerspruch nach außen, Zustimmung nach innen) beispielsweise Ursula Nothelle-Wildfeuer, Magnus Striet (Hg.), Einfach nur Jesus? Eine Kritik am ‚Mission Manifest‘, Freiburg i. Br. 2018.
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Vom Lehren zum Hören? Offenbarungsmodelle und Evangelisierungskonzepte im Übergang vom Ersten zum Zweiten Vaticanum Shift from teaching to learning – dieses hochschuldidaktische Gegenwartspostulat pointiert in treffender Weise, offenbarungstheologisch wie evangelisierungspastoral, die konziliare Passage vom Ersten zum Zweiten Vaticanum: ein Übergang vom einseitigen Lehren zu einem wechselseitigen Lernen. Oder anders gesagt: ein Wechsel vom monologischen Sprechen zum dialogischen Hören. Das Zweite Vaticanum hat das nachtridentinische Kirchenformat des Ersten Vaticanums nämlich zumindest konzeptionell überwunden, das dem Klerus („Ecclesia docens“) und den Laien („Ecclesia audiens“) klar voneinander abgegrenzte Rollenmodelle zuschrieb. Die vormalige Ecclesia docens wird nun auch selbst zu einer Ecclesia audiens – und die eine, ganze und unteilbare Kirche somit zu einer creatura verbi, zu einer aufmerksamen „Hörerin“ 1 des heilsgeschichtlich inkarnierten „Gotteswortes im Menschenwort“ (DV 13), die ihre pastorale Mission in der Welt aus den Quellen der Offenbarung heraus erneuert: „Dei verbum religiose audiens […]“ (DV 1). Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden nicht nur um theologische Denkformen, sondern auch um entsprechende pastorale Handlungsmuster 2. Denkformen theologischer Offenbarungsmodelle 3 und 1
Vgl. Karl Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, München 1941 – ein offenbarungstheologisches Schüsselwerk, das sich nicht nur anthropologisch, sondern auch ekklesiologisch lesen lässt. 2 Als es seine „Lehre über die göttliche Offenbarung und deren Weitergabe“ (DV 1) vorlegte, hat das II. Vaticanum beides bereits im Prozess der Offenbarung selbst miteinander verbunden: „Die Ökonomie der Offenbarung ereignet sich in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind [intrinsece inter se connexis]: so dass die Werke, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten offenbaren und bekräftigen, und die Worte die Werke verkündigen und das Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten lassen.“ (DV 2).
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Handlungsmuster pastoraler Evangelisierungskonzepte 4 stehen nämlich in einem ebenso konstitutiven wie spannungsvollen Wechselverhältnis zueinander. Anders gesagt: Wie jemand Offenbarung theologisch fasst, prägt auch das jeweilige pastorale Verständnis von Evangelisierung – und umgekehrt. Fasst man die theologische Theorie der Offenbarung in der Spur des Ersten Vaticanums „instruktionstheoretisch“ 5, so folgt man in der evangelisatorischen Praxis in der Regel einem Modell monologischen Lehrens. Fasst man die theologische Theorie der Offenbarung jedoch in der Spur des Zweiten Vaticanums „kommunikationstheoretisch“ 6, ergibt sich für die evangelisatorische Praxis in der Regel ein Modell dialogischen Hörens. Lernendes Hören statt lehrendes Sprechen: für diesen kirchenamtlichen Paradigmenwechsel steht das Zweite Vaticanum – und zugleich scheiden sich daran noch immer die Geister. Ausgehend von der Bischofssynode 1974, einem in seiner entsprechenden Signifikanz exemplarischen Diskursereignis (1), konstelliert der folgende Beitrag zunächst das zweitvatikanische Offenbarungsmodell mit den Evangelisierungskonzepten der Päpste Paul VI. und Franziskus (2) und sodann das erstvatikanische Offenbarungsmodell mit dem Neuevangelisierungskonzept der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. (3) – um anschließend an unausgeschöpfte Potenziale des nachsynodalen Schreibens Evangelii nuntiandi zu erinnern (4): aus der Differenz entsprechend postkolonial-explorativer bzw. kolonial-expansiver Evangelisierungskonzepte 7 heraus lassen sich von dorther zum Schluss noch einige offenbarungstheologi-
3
Vgl. Avery Dulles, Models of Revelation, New York 1983. Vgl. Rolf Zerfaß, Die kirchlichen Grundvollzüge – im Horizont der Gottesherrschaft, in: Konferenz der bayrischen Pastoraltheologen (Hg.), Das Handeln der Kirche in der Welt von heute. Ein pastoraltheologischer Grundriß, München 1994, 32– 50, hier: 46–50. 5 Max Seckler, Dei verbum religiose audiens. Wandlungen im christlichen Offenbarungsverständnis, in: Walter Strolz, Jakob J. Petuchowski (Hg.), Offenbarung im jüdischen und christlichen Glaubensverständnis (Quaestiones disputatae 92), Freiburg i. Br. 1981, 214–236, hier: 224. 6 Ebd. 7 Vgl. Christian Bauer, Mission, in: Christine Büchner, Gerrit Spallek (Hg.), Auf den Punkt gebracht. Grundbegriffe der Theologie, Ostfildern 2017, 157–169. 4
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sche Hinweise für die Zukunft geben (5). Leitend ist dabei die Verhältnisbestimmung, die das Zweite Vaticanum – die eigene Offenbarungskonstitution aufnehmend und weiterführend – in seiner Pastoralkonstitution 8 für die Wechselseitigkeit von Offenbarung und Evangelisierung vornimmt: „Als Gott sich seinem Volk […] selbst offenbarte [sese revelans], hat er in den verschiedenen Zeiten gemäß der jeweils eigenen Kultur gesprochen. In gleicher Weise zieht die Kirche […] die Errungenschaften der einzelnen Kulturen heran, um in ihrer Verkündigung die Botschaft Christi [nuntium Christi in sua praedicatione] bei allen Völkern zu verbreiten und auszufalten, um sie zu erforschen und tiefer zu verstehen, um sie in der liturgischen Feier und im Leben der vielgestaltigen Gemeinschaft der Gläubigen besser auszudrücken.“ (GS 58)
Diese kontextualisierende Verbindung von Offenbarung und Evangelisierung wird nicht nur heilsuniversal entgrenzt, sondern im Sinne einer lernbereiten Pastoral des Hörens auch in wechselseitigen Austauschprozessen verortet: „Zugleich ist die zu allen Völkern […] gesandte Kirche mit keinem Stamm oder keiner Nation, mit keiner besonderen Art des Verhaltens […] ausschließlich und unlösbar verknüpft. Ihrer eigenen Tradition treu und zugleich ihrer universalen Mission bewusst, vermag sie mit den verschiedenen Formen der Kultur in eine Gemeinschaft zu treten, durch die sowohl die Kirche selbst als auch die verschiedenen Kulturen bereichert werden.“ (GS 58)
8
Gaudium et spes kann neben Dei verbum als zweite Offenbarungskonstitution des Konzils gelten (zum offenbarungstheologischen Charakter von Gaudium et spes vgl. Christian Bauer, Zeichen der Präsenz Gottes. Gaudium et spes als zweite Offenbarungskonstitution des Konzils, in: Zeitschrift für Katholische Theologie (2014), 64–79 sowie zum evangelisierungspastoralen Charakter von Dei verbum vgl. Hanjo Sauer, Erfahrung und Glaube. Die Begründung des pastoralen Prinzips durch die Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils, Frankfurt a. M. u. a. 1993).
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1. Division of the waters – die Bischofssynode 1974 zwischen Offenbarungsmodellen und Evangelisierungskonzepten Zur Eröffnung des theologischen „Weltkongresses“ 9 der Zeitschrift Concilium zum fünften Jahrestag des Konzilsabschlusses 1970 in Brüssel erinnerte Kardinal Suenens an dessen konsensuale Entscheidungen: „In Irland gibt es einen den Touristen wohlbekannten Ort, der ‚the meeting of the waters‘ heißt. Es ist ein Tal, worin zwei Flüsse sich ungestüm ineinander ergießen, um in der Folge nur noch einen einzigen, friedlich dahinziehenden Strom zu bilden.“ 10
Mit Blick auf die Konflikte des Après-Concile, die innerkirchlich zu nachhaltigen Entzweiungen führten, spielte die wenig später abgehaltene Bischofssynode zur Evangelisierung in der Welt von heute eine Schlüsselrolle. Schon der Titel erinnerte an die konziliare Pastoralkonstitution („Kirche in der Welt von heute“) und deutete auf diese Weise an, dass es um einen neuen Gesamtbegriff 11 für die Pastoral der Kirche gehen sollte – was auch das breite Themenspektrum der Synode verdeutlicht: neben der gesellschaftlichen Säkularisierung in Europa drängen neue Themen wie die politische Befreiung in Lateinamerika, die christliche Inkulturation in
9
Ludwig Kaufmann, Schluss mit den Spezialisten Gottes. Der Theologenkongress in Brüssel, in: Concilium 6 (1970), 186–188, hier: 187. 10 Leo Suenens, Eröffnungsrede. Einige aktuelle theologische Aufgaben, in: Die Zukunft der Kirche. Berichtband des Concilium-Kongresses, Zürich u. a. 1971, 30–40, hier: 33. 11 Paul VI., Apostolisches Schreiben ‚Evangelii nuntiandi‘ Seiner Heiligkeit Papst Paul VI. an den Episkopat, den Klerus und alle Gläubigen der Katholischen Kirche über die Evangelisierung in der Welt von heute (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 2), Bonn 1975, Nr. 14: „Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren […].“. Siehe auch das Leitwort der CELAM-Versammlung von Puebla 1979: Evangelisierung Lateinamerikas in Gegenwart und Zukunft. Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die Evangelisierung Lateinamerikas in Gegenwart und Zukunft. Dokument der III. Generalkonferenz des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla (Stimmen der Weltkirche 8), Bonn 1979, 3–5. 7–13.
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Afrika und der interreligiöse Dialog in Asien auf die Agenda 12. Angesichts dieser kontinentalen Herausforderungen markiert die Synode von 1974 mit ihren inneren Spannungen keine harmonisch konvergierende confluence zweier Flüsse (wie in Lyon), sondern vielmehr die postkonziliare diffluence einer Weltkirche am Scheideweg – ein Auseinanderfließen zweier Ströme, eine division of the waters. Auf der Bischofssynode von 1974 trat somit erstmals weltöffentlich sichtbar auseinander, was auf dem Konzil noch gelungen war, in minoritätssensiblen Majoritätstexten 13 zusammenzuhalten: zwei unterschiedliche Evangelisierungskonzepte, deren offenbarungstheologische Differenz sich mit dem Ersten und dem Zweiten Vaticanum verbinden lässt. Beide prallten auf der Synode aufeinander, allerdings ohne ein konsensuales Endergebnis. Die personale Kontinuität zu den konziliaren Auseinandersetzungen signalisieren Namen wie Felici oder Siri auf der einen und Suenens oder Döpfner auf der anderen Seite. Die gesamte Liste der Synodenväter 14 liest sich wie ein Who is who der wichtigsten Konzilsdebatten. An der Synode waren mit Albino Luciani (also: Papst Johannes Paul I.) und Karol Wojtyła (also: Papst Johannes Paul II.) zudem auch zwei spätere Päpste beteiligt – letztgenannter sogar in prominenter Rolle. Die Synode selbst konnte sich in ihren „letzten dramatischen Tagen und Stunden“ 15 in wesentlichen Fragen nicht einigen: „Es gelang der Synode […] nicht, ihre […] Erkenntnisse in einem ursprünglich geplanten Schlussdokument zusammenzufassen […]. Stattdessen übergab sie am Schluss ihr gesamtes Material dem Papst, der auf dieser Grundlage ein Jahr später das Apostolische Schreiben ‚Evangelii nuntiandi‘ veröffentlichte. Aber gerade ihr […] Scheitern ist das Interessanteste an dieser Synode.“ 16
12
Vgl. Giovanni Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974. Terza assemblea generale (27 settembre – 26 ottobre 1974), Vatikan 1975, 1004 f. zum Panorama der genannten kontinentalen Schwerpunktthemen. 13 Vgl. Christian Bauer, Optionen des Konzils. Umrisse einer konstellativen Hermeneutik des Zweiten Vatikanums, in: Zeitschrift für katholische Theologie 134 (2012), 141–162, hier: 142–145. 14 Vgl. Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974, 1027–1037. 15 Hermann J. Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität. Die Bischofssynode von 1974, in: Theologie und Glaube 86 (1996), 167–180, hier: 178. 16 Ebd., 167 f. Vgl. Caprile, Il sinodo die vescovi 1974, 1017–1023.
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Gescheitert war sie nämlich letzten Endes am Gegensatz zweier unterschiedlicher Evangelisierungskonzepte. Personaler Ausdruck dieser Differenz waren die beiden Spezialsekretäre: Duraisamy Amalorpavadass vom indischen National Biblical, Catechetical and Liturgical Centre in Bangalore, dem die Verantwortung für den ersten, stärker erfahrungsbezogenen Teil der Synode übertragen wurde, und Domenico Grasso SJ von der römischen Gregoriana, der für den zweiten, stärker theologisch ausgerichteten Teil verantwortlich war. Indien stand gegen Rom, Induktion gegen Deduktion 17, Ecclesia audiens gegen Ecclesia docens, Praxisdiskurse zweitvatikanischer Evangelisierungspastoral gegen Diskurspraktiken erstvatikanischer Offenbarungstheologie: „Grasso und Amalorpavadass […] konnten zu keiner Zusammenarbeit finden, und daran scheiterte das Schlussdokument. Es scheiterte aber nicht am Kontrast zweier Persönlichkeiten, sondern am Kontrast des klassischen Theologiekonzepts mit der neuartigen Konzeption theologischer Erkenntnis, die konsequent von der Pluralität der Erfahrungen ausgeht.“ 18
Grassos Beiträge waren einer eher „klassischen Konzeption“ 19 von Offenbarung und Evangelisierung verpflichtet:
17
Möglicherweise hätte man ein anderes Ergebnis erzielen können, wenn man sich stattdessen auf einen abduktiven Prozess eingelassen hätte, in dem Offenbarungstheologie und Evangelisierungspastoral einander in Form einer kreativen Differenz zugeordnet werden. Theologische Induktion schließt von pastoralen Einzelfällen über sich daraus ergebende Folgerungen auf dogmatische Allgemeingesetze. Und theologische Deduktion von dogmatischen Allgemeingesetzen über sich daraus ergebende Folgerungen auf pastorale Einzelfälle. Theologische Abduktion hingegen setzt pastorale Einzelfälle und dogmatische Allgemeingesetze in eine produktive Spannungseinheit, aus der sie dann ihre jeweiligen Folgerungen zieht – und zwar ohne sie nach einer der beiden Seiten hin aufzulösen. Abduktiv verfahrende Theologie hält die Spannung zwischen ihnen und überschreitet somit die komplementäre Dichotomie von Induktion und Deduktion. Sie bricht mit der verfahrenslogischen Linearität von Deduktion bzw. Induktion und produziert stattdessen hypothetische Folgerungen im Sinne von experimentellen Handlungsinspirationen. 18 Hermann J. Pottmeyer, Von der Bischofssynode 1974 zur Apostolischen Exhortation ‚Evangelii nuntiandi‘. Die Entwicklung des Themas Evangelisierung in: Istituto Paolo VI (Hg.), L’esortazione apostolica di Paolo VI ‚Evangelii nuntiandi‘. Storia, Contenuti, Ricezione, Brescia 1998, 91–115, hier: 96. 19 Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität, 170.
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„Im Prinzip geht diese von einer gesicherten [offenbarungs-] theologischen Tradition aus, auf deren Basis ein klarer Begriff von ‚Evangelisation‘ zu bestimmen ist, der im Blick auf die heutige Situation durch neue Akzente zu erweitern ist. Im Grunde geht diese Konzeption von der Einheit […] des Begriffs, nicht von der Pluralität der Erfahrungen aus.“ 20
Genau diesen Weg beschreitet jedoch der von Amalorpavadass vertretene Ansatz einer Offenbarungstheologie, welche die jeweiligen „Zeichen der Zeit“ (GS 4) nicht nur als evangelisierungspastoral relevant einschätzt, sondern auch als offenbarungstheologisch revelant. 21 Papst Paul VI. sollte in seinem nachsynodalen Lehrschreiben Evangelii nuntiandi dieser zweitvatikanischen Spur folgen, indem er von offenbarungsträchtigen „Zeichen Gottes“ (EN 75) sprach, welche die „Evangelisierung entdeckt und innerhalb der Geschichte zur Geltung bringt“ (EN 75). Bereits 1968 hatte die CELAM-Konferenz von Medellin nicht nur die Evangelisierung mit den „Zeichen der Zeit“ 22 verbunden, sondern diese auch als einen „theologischen Ort“ 23 bezeichnet: „Seitdem ist unter den Theologen umstritten, ob die ‚Zeichen der Zeit‘ ein eigener locus theologicus neben den klassischen loci sind […]. Jedenfalls öffnet sich eine Theologie, die die ‚Zeichen der Zeit‘ beachtet, neuen Erfahrungen […]. […] Gerade das Thema ‚Evangelisierung‘ lud nun dazu ein, diesen Weg auch auf der Synode zu versuchen. Schon bei der Planung […] hatte man sich dafür entschieden, nicht mit der Diskussion eines Textes zu beginnen, sondern mit dem Austausch von Erfahrungen. Erst dann sollte die theologische Reflexion folgen.“ 24
Dieser neue, evangelisierungspastoral konstituierte Ansatz kollidierte mit dem Denken der traditionellen römischen Schultheologie:
20
Ebd. Vgl. Bauer, Zeichen der Präsenz Gottes. 22 Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates, Die Kirche in der gegenwärtigen Umwandlung Lateinamerikas im Lichte des Konzils (http://www. iupax.at/fileadmin/documents/pdf_soziallehre/1968-celam-medellin-die-kirche-inder-gegenwaertigen-umwandlung-lateinamerikas-im-lichte-des-konzils.pdf), [Zugriff: 01. August 2019], 49. 23 Ebd. 24 Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität, 169 f. 21
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„Die klassisch gewordene Theologie, die von Texten und Begriffen ausgeht, tut sich mit dieser Aufgabe schwer. Sie orientiert sich einseitig an früheren Erfahrungen und ist vor allem an Bewahrung und Kontinuität interessiert.“ 25
Mit Blick auf die theologische Differenz von Grasso und Amalorpavadass sprach der französische Erzbischof Etchegaray von einer „opposition de signification doctrinale“ 26, die unterschiedliche Offenbarungsmodelle und Evangelisierungskonzepte zu einer konfliktiven Gesamtkonstellation zusammenspanne: „Nach der einen [am Ersten Vaticanum orientierten Konzeption] sei die Kirche die Hüterin einer Lehre und dazu gesandt, diese Lehre mit göttlicher Autorität in der Welt zu verbreiten; nach der anderen [am Zweiten Vaticanum orientierten] solle sie vor allem die Zeichen der Zeit verstehen: das Zutagetreten des göttlichen […] Wirkens […] in der Geschichte. […] Die einen meinen, der Auftrag der Evangelisation bestehe in der Überlieferung einer [offenbarungstheologisch] objektiven Lehre, für die anderen sei die Evangelisation ganz darauf gerichtet, dass das Mysterium Christi durch die christliche Erfahrung [evangelisierungspastoral] vergegenwärtigt werde.“ 27
2. Ecclesia audiens – Evangelisierung im offenbarungstheologischen Horizont des Zweiten Vaticanums Papst Paul VI. schaffte mit Evangelii nuntiandi jene vorwärtsweisende Synthese, welche „der Synode selbst nicht gelang“ 28. Wohl auch deshalb fand dieses teilweise noch immer prophetische Lehrdokument vor allem im Süden der Weltkirche ein „positives Echo“ 29. So ist es denn auch si25
Ebd., 169. Marie-Dominique Chenu pointierte das Problem mit Blick auf die neuen Theologien in den Kirchen des Südens folgendermaßen: „[Theologische Einsicht] entwickelt sich nicht in erster Linie im Ausgang von Texten [à partir des textes] […]. Theologie im Ausgang von der Praxis [à partir de la pratique] – das heißt […] die Praxis selbst […] tritt in das theologische Gewebe […] ein.“ (MarieDominique Chenu, Théologiens du tiers monde, in: Concilium 17 (1981), 37–44, hier: 41 f.). 26 Zitiert nach Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität, 170. 27 Zusammengefasst ebd., 170–173. 28 Ebd., 179. 29 Ebd., 180.
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cherlich kein Zufall, dass sich gerade der argentinische Papst Franziskus nicht nur immer wieder auf seinen inzwischen heiliggesprochenen Vorgänger bezieht, sondern auch auf diesen Text – so zum Beispiel in seinem ersten eigenen Lehrschreiben Evangelii gaudium, das schon in seinem Titel eine programmatische Verknüpfung von Evangelii nuntiandi und Gaudium et spes darstellt. Papst Franziskus zufolge ist Evangelii nuntiandi das „wichtigste Dokument der Nachkonzilszeit“ 30 und Evangelii gaudium ein „Aggiornamento, eine Nachahmung von Evangelii nuntiandi für das heute“ 31. Der im Heiligen Jahr 1975 veröffentlichte Text spielt konzilshermeneutisch eine zentrale Rolle im Pontifikat Pauls VI. – zehn Jahre nach jenem Zweiten Vaticanum, mit dem „sich die Kirche im Evangelium“ 32 zu betrachten versuchte. Paul VI. zufolge lässt sich das gesamte Konzil 33 in dem einen Anliegen zusammenfassen, die Kirche „geeigneter zu machen, der Menschheit des 20. Jahrhunderts das Evangelium auszurichten“ (EN 2): „[Es geht letztlich um] das grundlegende Problem, das sich die Kirche heute stellt und das man so formulieren könnte: Ist die Kirche – ja oder nein – nach dem Konzil und dank des Konzils, das für sie in dieser geschichtlichen Wende eine Stunde Gottes gewesen ist, fähiger geworden, das Evangelium zu verkündigen [ad Evangelium annuntiandum] […]?“ (EN 4)
30
Franziskus, Ansprache von Papst Franziskus an die Teilnehmer der Studientagung der Diözese Rom (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2019/ may/documents/papa-francesco_20190509_convegno-diocesi-diroma.html), [Zugriff: 01. August 2019]. 31 Ebd. 32 Marie-Dominique Chenu, Kirche der Armen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Concilium 13 (1977), 232–235, hier: 232. 33 Der Evangelisierungsbegriff bietet eine „Zusammenfassung der Lehre des Konzils“ (Elmar Klinger, Der Glaube des Konzils. Ein dogmatischer Fortschritt, in: Ders., Klaus Wittstadt (Hg.) Glaube im Prozeß (Festschrift für Karl Rahner), Freiburg i. Br. 1984, 615–626, hier: 622), er ist dessen authentische „Quintessenz“ (Ottmar Fuchs, Was ist Neuevangelisierung, in: Stimmen der Zeit 210 (1992), 465–473, hier: 465) und keine beliebig zu befüllende „Stopfgans“ (Ottmar Fuchs, Ist der Begriff der Evangelisierung eine ‚Stopfgans‘ ?, in: Katechetische Blätter 112 (1987), 498–514). „Nimmt man die Theologie des Zweiten Vatikanums als hermeneutischen Hintergrund, dann lässt das Verständnis dieses Begriffes nichts an Klarheit zu wünschen übrig.“ (ebd., 504).
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Evangelium nuntiare – in dieser Wendung spielt der Überbringer, die Überbringerin des Evangeliums eine tragende Rolle. Nuntiare heißt primär nuntius, nuntia sein: Sendbote, Sendbotin im neutestamentlichen Sinne von apostolos, apostola. Dabei geht es in der Nachfolge Jesu weniger um ein bestimmtes Tun als vielmehr um ein ganzheitliches, dem Evangelium entsprechendes Sein: „Die Verkündigung muss vor allem durch ein Zeugnis erfolgen. Das geschieht z. B., wenn ein einzelner Christ oder eine Gruppe von Christen inmitten der menschlichen Gemeinschaft […] ihre Hoffnung auf etwas bekunden, das man nicht sieht und von dem man nicht einmal zu träumen wagt. Durch dieses Zeugnis ohne Worte wecken jene Christen in den Herzen derer, die ihr Leben sehen, unwiderstehliche Fragen: Warum sind jene so? Warum leben sie auf diese Weise? Was – oder wer – ist es, das sie beseelt? Warum sind sie mit uns?“ (EN 21)
Schon das Zweite Vaticanum hatte Evangelisierung als eine jesusbewegte „Verkündigung der Botschaft Christi durch das Zeugnis des Lebens und das Wort“ (LG 35) definiert. Und auch die von Amalorpavadass erstellte Zusammenfassung des ersten Teils der Bischofssynode von 1974 – „ohne Zweifel das interessanteste Dokument der Synode“ 34 – fasste Evangelisierung als eine ganzheitlich nachfolgebereite „Verkündigung der guten Botschaft vom Heil in Jesus Christus für alle Menschen durch Worte, Taten und das Leben“ 35: „Das Evangelium ist nicht wie eine Summe von Doktrinen zu verkünden, sondern als Leben, wie es Jesus Christus selbst tat.“ 36 Damit ist eine klare Differenz zum instruktionstheoretischen Offenbarungsmodell des Ersten Vaticanum markiert. Evangelisieren bedeutet jesusförmig werden, in die Spur seiner Nachfolge treten und hineingerissen werden in jene Dynamik der anbrechenden Gottesherrschaft, die alle daran Beteiligten erfasst: „Ihr Ziel ist nicht Rückgewinnung in die Kirche, sondern Gewinnung des Glaubens, Entdeckung seiner befreienden Macht […]. Wo den Armen das Evangelium, den Gefangenen Befreiung, den Blinden das Augenlicht und allen Schuldbeladenen die große Amnestie Gottes geschenkt wird […],
34 35 36
Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität, 174. Zitiert nach Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974, 941. Zitiert nach ebd., 941 f.
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kommt eine spezifische Dynamik der Gottesherrschaft in Gang, die […] auch die Reichen, die Sehenden, die Freien und Gerechten zur Umkehr einlädt!“ 37
In seinem Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland anlässlich des synodalen Weges der deutschen katholischen Kirche, betont Papst Franziskus einen entsprechenden „Primat der Evangelisierung“ 38, der alle anvisierten Bemühungen um Kirchenreform prägen müsse. Rolf Zerfaß kommentiert kritisch: „Evangelisation ist in Deutschland ein Fremdwort geblieben. Erst allmählich […] entdecken wir, worum es dabei überhaupt geht: nicht um die Verbesserung […] des methodischen Repertoires unserer Katechese […], sondern um den Abschied von einem pastoralen Konzept der ‚Christianisierung‘ […]. […] In der Konsequenz dieses Christianisierungskonzepts bleibt der einzelne immer Objekt pastoraler (d. h. letztlich klerikaler) Anstrengungen.“ 39
Seiner eigenen Kirchenvision einer postklerikalen, synodal verfassten Societas Jesu 40 entsprechend, setzt Papst Franziskus auch in diesem Zusammenhang auf die Nachfolge Jesu auf den Straßen der eigenen Gegenwart: „Evangelisierung ist ein Weg der Jüngerschaft“ 41. Dabei verzichtet auch er, wie auch bereits Paul VI. in Evangelii nuntiandi, auf den missverständlichen Begriff der Mission: „Paul Vl. hat […] den Begriff Evangelisierung der Weltkirche angeboten unter ausdrücklichem Verzicht auf die bis dahin führenden Begriffe ‚Mission‘ oder ‚Katechese‘. Die Mission schien ihm als Leitwort pastoralen Handelns zu stark durch die Kolonisierungsgeschichte diskreditiert und unter dem Ver37
Rolf Zerfaß, Was sind letztlich unsere Ziele? Pastoralpsychologische Thesen zur Motivationskrise in der Pastoral der Kirchenfremden, in: Katholische Glaubensinformation (Hg.), Erfahrungen mit Randchristen. Neue Horizonte für die Seelsorge, Freiburg i. Br. 1985, 43–64, hier: 52 f. 38 Franziskus, Schreiben von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/letters/2019/documents/ papa-francesco_20190629_lettera-fedeligermania.html), [Zugriff 01. August 2019], Nr. 7. 39 Zerfaß, Was sind letztlich unsere Ziele, 52. 40 Vgl. Christian Bauer, Kirche als Societas Jesu. Mit Papst Franziskus auf die Spur der Nachfolge, in: Paul M. Zulehner, Thomas Halik (Hg.), Rückenwind für den Papst. Warum wir Pro Pope Francis sind, Darmstadt 2018, 120–127. 41 Franziskus, Schreiben von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 7.
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dacht eines expansiven kirchlichen Denkens zu stehen; der Begriff Katechese war zu kognitiv mit dem Anspruch der Doktrin belastet, um zum Ausdruck zu bringen, was ihm vor Augen stand: eine Neuformulierung der kirchlichen Aufgabe insgesamt […]. […] Katechese und Mission sind allenfalls Teilaspekte dieses Evangelisierungsprozesses.“ 42
Im Hintergrund steht ein postkolonial-exploratives Evangelisierungskonzept im Sinne jener ersten französischen Arbeiterpriester 43, mit denen Paul VI. als damals zuständiger Substitut im römischen Staatssekretariat 44 unmittelbar zu tun hatte. Diese „Fallschirmspringer Gottes“ 45, die hinter die feindlichen Linien des Arbeitermilieus springen wollten, um es von innen heraus zu bekehren, haben zwar mit einem sehr klassischen, kolonial-expansiven Missionsbegriff begonnen – im direkten Kontakt mit dem kirchenfremden Milieu jedoch haben sie jenes Evangelium, das sie ihren Kameradinnen und Kameraden hatten bringen wollen, überhaupt erst verstanden. Nicht sie haben die Arbeiter zur Kirche bekehrt, sondern diese sie zum Evangelium. Evangelisierung in diesem Sinn gründet nicht mehr auf „einbahnigen Beziehungen“ 46 zwischen Lehrenden und Hörenden, sondern auf einem „Prinzip der Wechselseitigkeit“ 47: „Darum ist schließlich Evangelisation ein Prozess, dem die Kirche selber sich ebenso ausliefern muss wie alle, an die sie sich richtet. […] Evan42
Zerfaß, Die kirchlichen Grundvollzüge, 47. Vgl. Christian Bauer, Priester im Blaumann. Impulse aus der französischen Bewegung der Arbeiterpriester, in: Rainer Buchner, Johann Pock (Hg.), Klerus und Pastoral (Werkstatt Theologie – Praxisorientierte Studien und Diskurse 14), Berlin u. a. 2010, 115–148. 44 Eine weitere Fährte nach Frankreich verläuft über den späteren Pariser Erzbischof Pierre Veuillot, der damals nicht nur ein enger Mitarbeiter Montinis, sondern auch der geistliche Begleiter Madeleine Delbrêls war. Über Veuillot dürfte Paul VI. auch deren fast wortgleiches, biographisch beglaubigtes Evangelisierungskonzept kennengelernt haben: „Die Evangelisierung der Welt, ihr Heil, ist der eigentliche Beruf der Kirche.“ (Madeleine Delbrêl, Gebet in einem weltlichen Leben (Beten heute 4), Einsiedeln 51993, 123). 45 Zitiert nach Franz Benz, Die neuen französischen Seelsorgsmethoden und ihre Bedeutung für Deutschland, in: Theologische Quartalschrift 131 (1951), 208–247, hier: 240. 46 Zerfaß, Die kirchlichen Grundvollzüge, 48. 47 Ebd. 43
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gelisiert werden immer beide oder niemand: die Welt und die Kirche, die Hörer und die Prediger, die Kranken und die Gesunden, die Laien und die Bischöfe, die Zweifelnden und die Glaubenden. Denn alle sind im Glauben Anfänger, alle haben die Umkehr noch vor sich. Alle […] stehen bereits in der Dynamik des andrängenden Gottesreiches und unter der Führung seines Geistes.“ 48
3. Ecclesia docens – Neuevangelisierung im offenbarungstheologischen Horizont des Ersten Vaticanums Vier Jahre nach der Bischofssynode von 1974 wurde einer ihrer Hauptakteure zum Papst gewählt: der polnische Erzbischof Karol Wojtyła, der 1948 mit einer Dissertation bei Réginald Garrigou-Lagrange in Rom promoviert wurde und somit als ein Vertreter klassischer römischer Schultheologie gelten kann. Am 8. Oktober 1974 hatte er mit einer von Domenico Grasso verfassten Relatio 49 den zweiten Teil der Synode eröffnet, welcher die im ersten Teil geteilten Erfahrungen theologisch sichten und verarbeiten sollte. Seine Relatio begann in traditionell-deduktiver Weise zunächst mit dem evangelisatorischen Mandat Jesu Christi 50 und traf damit genau den „wunden Punkt der Synodenarbeit, wie nämlich Induktion und theologische Reflexion miteinander zu verbinden seien“ 51. Auch die ebenfalls von Grasso erstellte Synthese 52 der nachfolgenden Plenumsdebatten wurde am 14. Oktober durch Kardinal Wojtyła in der Synodenaula verlesen. Entsprechende Linien lassen sich in das lange Doppelpontifikat (1978–2013) der beiden Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ausziehen, in denen der restaurative 53 Gedanke einer Neue48
Zerfaß, Was sind letztlich unsere Ziele, 53 f. 59. Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974, 965–990. 50 Vgl. Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974, 966 f. Von dorther entwickelte die Relatio ihre zentralen Themen: Sendung der Apostel, Bekehrung der Seelen und Würde des Menschen. 51 Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität, 177. 52 Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974, 991–1006. 53 Vgl. Joseph Ratzinger, Zur Lage des Glaubens. Ein Gespräch mit Vittorio Messori, München 1985, 35 f. 49
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vangelisierung Europas eine zentrale Rolle spielte. Joseph Ratzinger, als Präfekt der Glaubenskongregation (1982–2005) der theologische Architekt des Pontifikats von Karol Wojtyła, sprach von einem der wesentlichen „Angelpunkte seines umfassenden Lehramtes“ 54. Rolf Zerfaß zum damit verbundenen Konzept einer „Christianisierung von oben“ 55, wie sie in exemplarischer Weise auch das durch Johannes Paul II. massiv geförderte Opus Dei vertritt: „Der Zusatzpartikel ‚Neu-‘ bzw. ‚Re-‘Evangelisierung gibt einen Hinweis darauf, dass wir es auch bei Johannes Paul II. mit einem anderen Konzept [als bei Papst Paul VI.] zu tun haben. Es geht dem Papst um die neuerliche Durchdringung der Kultur […] mit der christlichen Botschaft. Es geht ihm um eine Re-Christianisierung […] von oben nach unten […]. Dies ist das genaue Gegenteil der Evangelisierungskonzeption der Kirchen in der Dritten Welt. Orthodoxie ist wieder wichtiger als Orthopraxie (Weltkatechismus, Einsatz der Kommunikationsmedien, Papstreisen etc.); die Wechselseitigkeit im Evangelisierungsprozess wird aufgehoben zugunsten des alten Autoritätsgefälles zwischen Priester und Laien, Papst und Bischöfen, Lehramt und Theologen; auf Optionen wird verzichtet zugunsten eines Kurses, der jedes Innovationsrisiko vermeidet und stattdessen auf einen restaurativen und integralistischen Trend setzt.“ 56
Der Neuevangelisierungsbegriff geht zurück auf einen Vortrag, den Johannes Paul II. am 11. Oktober 1985 auf einem Symposion des Rates der europäischen Bischofskonferenzen zum Thema Säkularisierung und Evangelisierung gehalten hatte. Darin appellierte er gegen das „Vergessen des Eigenen“ 57 an die „gemeinsamen Wurzeln“ 58 eines Europa, das
54
Benedikt XVI., Motu proprio ‚Ubicumque et semper‘ (http://w2.vatican.va/con tent/benedict-xvi/de/apost_letters/documents/hf_ben-xvi_apl_20100921_ubicum que-et-semper.pdf), [Zugriff: 01. August 2019], 2. 55 Zerfaß, Die kirchlichen Grundvollzüge, 49. 56 Ebd. 57 Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des VI. Symposions des Rates der europäischen Bischofskonferenzen (http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/it/ speeches/1985/october/documents/hf_jpii_spe_19851011_partecipanti-simposio. html), [Zugriff 01. August 2019], Nr. 3. 58 Ebd., Nr. 2.
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„christliche Wurzeln“ 59 habe. Es gelte daher, die „Seele des Kontinents“ 60 wiederzugewinnen und das „gigantische Vorhaben“ 61 einer Wiederevangelisierung des Kontinents anzugehen. Diese Idee „vertiefte“ 62 er seither in zahlreichen Ansprachen und Lehrschreiben. So sprach er 1990 in seiner Enzyklika Redemptoris missio 63 von einer „neuen Evangelisierung der christlichen Völker“ (RM 2), die nicht nur einen neuen „missionarischen Schwung“ (RM 2) erfordere, sondern auch eine Stabilisierung der eigenen „christlichen Identität“ (RM 2) ermögliche: „Der Glaube wird stark durch Weitergabe!“ (RM 2). Bereits 1988 hatte er in seinem nachsynodalen Schreiben Christifideles laici 64 eine „Vertiefung eines reinen und festen Glaubens“ (CL 34) angemahnt, welche die „christliche Substanz“ (CL 34) der Gesellschaft erneuern müsse. Für diese päpstliche Leitidee stehen auch einige Ereignisse, die in exemplarischer Weise eine erstvatikanische Restauration des Verhältnisses von Offenbarung und Evangelisierung darstellen – um nur zwei markante Beispiele zu nennen: – Die 1986 eingeführten Weltjugendtage waren für Papst Johannes Paul II. ein bevorzugtes Instrument der Neuevangelisierung. Dabei wurden nun auch wieder Katechesen gehalten, bei denen Bischöfe sprechen und Jugendliche hören – eine Rückkehr der evangelisatorischen Einbahnstraße. – 1992 wurde durch die Apostolische Konstitution Fidei depositum ein neuer Weltkatechismus der katholischen Kirche in Kraft gesetzt, der unter der Ägide von Joseph Ratzinger erstellt worden ist. Als Papst Benedikt XVI. führte er diese evangelisatorische Linie des von ihm mitgeprägten Vorgängerpontifikats weiter. So errichtete er beispielsweise 2010 in einem Motu proprio unter dem programmatischen Titel Ubicumque et semper einen neuen Päpstlichen Rat zur Förderung der 59
Ebd., Nr. 3. Ebd., Nr. 5. 61 Ebd., Nr. 14. 62 Benedikt XVI., Ubicumque et semper, 2. 63 Johannes Paul II., Enzyklika ‚Redemptoris missio‘ über die fortdauernde Gültigkeit des missionarischen Auftrages vom 7. Dezember 1990 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 100), Bonn 1990. 64 Johannes Paul II., Nachsynodales Schreiben ‚Christifideles laici‘ über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt vom 30. Dezember 1988 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 87), Bonn 41991. 60
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Neuevangelisierung. Und auch die im Oktober 2012 versammelte Bischofssynode widmete sich dem Thema Neuevangelisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens – wobei Evangelii gaudium, das nachsynodale Schreiben seines Nachfolgers Franziskus bereits ganz andere Schwerpunkte setzte. Offenbarungstheologisch ist dieser evangelisierungspastorale Ansatz der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. eher mit dem Ersten als mit dem Zweiten Vaticanum verbunden. Max Seckler spricht mit Blick auf die schultheologisch geprägte Offenbarungstheologie des Ersten Vaticanums von einem „Offenbarungs-Intellektualismus“ 65, in welchem der in der Hl. Schrift überlieferte historisch-konkrete „Erfahrungsplural ‚Offenbarungen‘“ 66 zu einem systematisierendabstrakten „Reflexionssingular ‚Offenbarung‘“ 67 transformiert worden sei: „Offenbarung wird zum apologetischen Beweisgrund des Christentums. […] Diese Offenbarung ist nun intellektualistisch gedacht als ein Vorgang der übernatürlichen göttlichen Belehrung. Offenbarung bedeutet: Mitteilung von Heilswissen durch Gott. Offenbarung ist der heilnotwendige Instruktionsvorgang […], in welchem Gott das Heilswissen gibt.“ 68
Dieses „göttliche Instruktionsgeschehen“ 69 liegt nicht nur dem Offenbarungsmodell des Ersten Vaticanums zugrunde, sondern auch dem Evangelisierungskonzept der Pontifikate von Johannes Paul und Benedikt. Das Zweite Vaticanum jedoch hatte den damit verbundenen „Reflexionssingular“ 70 der einen göttlichen Offenbarung wieder heilsökonomisch in einen „Erfahrungsplural“ 71 der vielen geschichtlichen Offenbarungen Gottes überführt – durchaus im Sinne des erstvatikanischen „nexus mysteriorum inter se“ (Dei filius 4, vgl. DH 3016). Damit hat das Zweite Vaticanum die instruktionistische Offenbarungstheologie seines Vorgängerkonzils in Richtung einer „kommunikationstheoretisch“ 72 gefassten 65 66 67 68 69 70 71 72
Seckler, Dei verbum religiose audiens, 223. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 224. Ebd., 223. Ebd. Ebd., 224.
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„Selbstmitteilung Gottes“ (vgl. DV 2) überschritten: Gott offenbart nicht etwas (im Sinne von Satzwahrheiten), sondern sich selbst (im Sinne eines Beziehungsaktes). Diese „theologische Neubesinnung zwischen den Konzilien“ 73 war auf das damals vorherrschende „Offenbarungsverständnis und einige daraus resultierende Praktiken“ 74 gerichtet – auch hier hängen Offenbarungsmodelle und Evangelisierungskonzepte in wechselseitiger Konstitutivität zusammen. In Dei filius heißt es zunächst, ganz im Sinne des Instruktionsparadigmas: „Da der Mensch ganz von Gott […] abhängt und die geschaffene Vernunft der ungeschaffenen Wahrheit völlig unterworfen ist, sind wir angehalten, dem offenbarenden Gott im Glauben vollen Gehorsam des Verstandes und des Willens zu leisten. Dieser Glaube aber […] ist […] eine übernatürliche Tugend, durch die wir […] glauben, dass das von ihm Geoffenbarte wahr ist […] wegen der Autorität des offenbarenden Gottes selbst […]“ (Dei filius 3, vgl. DH 3008)
Mit diesem autoritär gefassten Offenbarungsmodell ist im Ersten Vaticanum das monologische Evangelisierungskonzept einer selbstgewissen Komm-her-Pastoral verbunden, das erst durch das Zweite Vaticanum in Richtung des dialogischen Evangelisierungskonzeptes einer lernbereiten Geh-hin-Pastoral 75 überschritten wurde, die mit einem amikal 76 gefassten Offenbarungsmodell einhergeht: „Damit wir aber der Pflicht, den wahren Glauben zu umfassen und in ihm beständig zu verharren, Genüge tun könnten, hat Gott durch seinen einziggeborenen Sohn die Kirche eingesetzt […], dass sie als Hüterin und Lehrerin des geoffenbarten Wortes von allen erkannt werden kann. […] So kommt es, dass sie […] sowohl (jene) zu sich einlädt, die noch nicht geglaubt haben, als auch ihren Kindern die Gewissheit verleiht, dass der Glaube, den sie bekennen, sich auf eine unerschütterliche Grundlage stützt.“ (Dei filius 3, vgl. DH 3012. 3014)
73
Ebd., 225. Ebd., 226. 75 Vgl. Christian Bauer, Lerne am Herd die Würde des Gastes. Für den missionarischen Ortswechsel einer ‚Geh-hin-Kirche‘, in: Diakonia 41 (2010), 351–358. 76 Gott spricht im Akt der Offenbarung die Menschen an „wie Freunde“ (DV 2). 74
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4. Evangelii nuntiandi – unausgeschöpfte Potenziale in Zeiten der selbstverschuldeten Kirchenkrise Evangelisierung im Sinne der Päpste Paul VI. und Franziskus ist anders. Sie verortet die gesamte Pastoral der Kirche in einem ungleich weiteren „Horizont der Gottesherrschaft“ 77. Im Rahmen einer entsprechenden „Reich-Gottes-Theologie“ 78 dezentriert sie kirchliche Selbstfokussierungen und rückt alle Pastoral unter den befreienden Primat der Gottesherrschaft: „Evangelisieren besagt für die Kirche, die Frohbotschaft in alle Bereiche der Menschheit zu tragen und sie durch deren Einfluss von innen her umzuwandeln und die Menschen selbst zu erneuern.“ (EN 18)
Angesichts der gegenwärtigen Glaubwürdigkeitskrise der Kirche aufgrund des in ihren eigenen Reihen grassierenden sexuellen und geistlichen Machtmissbrauchs erscheint ein für Evangelii nuntiandi wesentlicher Punkt aus der Synthese von Amalorpavadass heute besonders dringlich: die theologisch wie pastoral überhaupt nicht triviale Frage nach dem schlechten „Image der Kirche“ 79 in der Welt ihrer Zeit. Aus heutiger Sicht ist es bemerkenswert, dass Amalorpavadass dabei kritische Stimmen des Außen im kirchlichen Innen hörbar macht: „Die Kirche hat, vor allem in Asien, noch immer ein fremdes und europäisches Gesicht. Sie scheint noch immer mit Kolonialmächten verbunden zu sein und mit fremden politischen Systemen einherzugehen. […] Sie erscheint allzu sehr wie eine institutionalisierte Struktur und wie ein System, das gegen das sich erhebende Volk gerichtet ist. Sie ist übermäßig verrechtlicht, autoritär und rigide. Und schließlich antwortet sie in ihrem Leben nicht in Treue dem Evangelium und ist nicht durchscheinend auf das Vorbild Christi hin.“ 80
Da die Kirche dem Evangelium damit selbst im Wege steht, muss sie mit ihrer eigenen Evangelisierung beginnen: „Daher ist es nötig, dass die Kirche sich selbst evangelisiert. Vor allem muss sie sich selbst den Vorgaben des Evangeliums konform umgestalten und sich 77 78 79 80
So der Untertitel von Zerfaß, Die kirchlichen Grundvollzüge. Fuchs, Was ist Neuevangelisierung, 466 f. Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität, 175. Zitiert nach Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974, 938.
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unablässig so erneuern und reformieren, dass sie wirksames Werkzeug der Evangelisierung von anderen wird. Dieser Vorgang der Selbstevangelisierung und der Selbsterneuerung ist ein dauerhafter Prozess, der eine ständige Selbsterforschung erfordert und zu einer tiefgreifenden Umkehr drängt.“ 81
Paul VI. hat dieses Motiv aufgenommen und die Kirche als eine „evangelisierte und evangelisierende Gemeinschaft“ 82 bezeichnet: „Die Kirche, Trägerin der Evangelisierung, beginnt damit, sich selbst zu evangelisieren. […] Das Zweite Vatikanische Konzil hat daran erinnert, und auch die Synode von 1974 hat dieses Thema von der Kirche, die sich durch eine beständige Bekehrung und Erneuerung selbst evangelisiert, um die Welt glaubwürdig zu evangelisieren, mit Nachdruck aufgegriffen.“ 83
Diese selbstkritische Haltung ist das Gegenteil einer „kirchenintegralistischen Eroberungsmentalität“ 84 im Horizont eines gesellschaftlich restaurativen „Christianisierungsbegriffs“ 85: „Evangelisierung ist […] nicht nur ein Vermittlungsbegriff der Kirche nach außen, sondern [ein] […] Identitätsbegriff der Kirche selbst. Sie […] verwirklicht sich […] umso mehr, als sie sich evangelisiert. […] Geht die Kirche den Weg ihrer eigenen Selbstevangelisierung, dann braucht sie sich um die Wirkung keine Sorgen zu machen. […] Denn die Menschen werden umso mehr wieder in die Innenbereiche der Kirche hineinkommen, wie Christen und Kirchen absichtslos […] ihr Bestes wollen, auch und gerade dann, wenn sie sich nicht integrieren.“ 86
Angesichts dieser bleibenden Notwendigkeit kirchlicher Selbstevangelisierung spricht Papst Franziskus heute von einer conversión pastoral 87, die die Kirche selbst in ihrem eigenen Gotteszeugnis evangeliumsgemäßer zu gestalten vermag. Denn eine menschenfeindliche Kirche ist 81
Ebd. Paul VI., Apostolisches Schreiben ‚Evangelii nuntiandi‘, Nr. 13, 16. (Zwischenüberschrift der offiziellen deutschen Übersetzung). 83 Ebd., Nr. 15, 17–19. Zitiert in: Franziskus, Schreiben von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 7. 84 Fuchs, Was ist Neuevangelisierung, 468. 85 Ebd., 467. 86 Ebd., 468. 470. 87 Vgl. exemplarisch Franziskus, Schreiben von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 6. 82
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ein veritables Evangelisierungshindernis: Klerikalismus ist strukturelle Sünde 88, oder positiv formuliert: Kirchenreform ist Gotteszeugnis 89. Eine entsprechende „Auto-Evangelisation der Kirche“ 90 betrifft die gesamte Pastoral – bis hin zu Fragen der kirchlichen Basisgemeinden 91, ortskirchlicher Dezentralisierung 92 und neuen Kirchenämtern 93. Amalorpavadass über den vielgestaltigen Ad-extra-Dialog einer Kirche, die auch in diesem Sinne eine Ecclesia audiens ist: „[Christinnen und Christen] […] müssen bereit sein, anderen zuzuhören [ad audiendos alios] und aus ihrer eigenen religiösen Erfahrung heraus zu sprechen, denn sie wissen ganz genau, dass Gott sich uns auf verborgene Weise sowohl im eigenen Leben als auch in den religiösen Traditionen der mit uns ins Gespräch tretenden Menschen zeigt […].“ 94
5. Resümee mit Ausblick – negative Offenbarungstheologie als Chance der Evangelisierungspastoral? Zahlreiche gegenwärtige Missionskonzepte stehen, bis hinein in ihre offenbarungstheologischen Grundannahmen, in Spannung zu diesem zweitvatikanischen Evangelisierungskonzept. Konkret greifbar wird das in Büchern wie dem 2018 veröffentlichten Mission Manifest, in Bewegungen wie der Salzburger Loretto-Gemeinschaft, in geistlichen Aktionen wie den Nightfever-Events, auf bischöflichen Homepages wie der Website von Stefan Oster oder auch in einschlägigen rechtskatholischen Internetforen. Deren äußere Verpackung erscheint zwar häufig auf den ersten Blick durchaus zeitgemäß, ihre Inhalte zeugen jedoch von einem autoritären,
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Vgl. Christian Bauer, Macht in der Kirche. Für einen postklerikalen, synodalen Aufbruch in: Stimmen der Zeit 237 (2019), 531–543. 89 Vgl. Christian Bauer, Maria Mesrian, Kirchenreform JETZT. Der katholische Mainstream begehrt auf (https://www.feinschwarz.net/kirchenreform-jetzt-der-ka tholische-mainstream-begehrt-auf/), [Zugriff: 01. August 2019]. 90 Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität, 175. 91 Vgl. Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974. 92 Vgl. ebd., 939 f. 93 Vgl. ebd., 949 f. 94 Zitiert nach Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974, 942 f.
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identitären und klerikalen Glauben. Neuere evangelisatorische Erscheinungen wie diese liegen auf der Linie eines erstvatikanischen Offenbarungsmodells bzw. Evangelisierungskonzepts. Die beiden von der Bischofssynode 1974 ausgehenden genealogischen Linien, jene von Johannes Paul II. zu Benedikt XVI. und die von Paul VI. zu Franziskus, stellen vor die konzilstheologische Entscheidungsfrage: „Kirchenräson oder Proexistenz“ 95, welcher Weg führt in die Zukunft? Vielleicht könnte man bei ihrer Beantwortung noch einmal bei Domenico Grassos Synthese des zweiten Teils der Bischofssynode von 1974 ansetzen, deren Zwischenüberschriften „polare Spannungen“ 96 über ein ausgleichendes „sowohl – als auch“ zu lösen versuchten: Heiliger Geist und menschliches Element, Verkündigung der Doktrin und Zeugnis des Lebens, Einheit und Pluralismus, Unversehrtheit und Anpassung, Kontinuität und Bruch, Säkularisierung und Religion, Volk Gottes und Hierarchie. 97 Dieses additive „sowohl – als auch“ 98 ist zweifellos ein Fortschritt gegenüber einem adversativen „entweder – oder“ 99, aber es ist bei weitem noch nicht genug. Es braucht vielmehr ein depotenzierendes „weder – noch“ 100, dessen doppelte Verneinung kirchengeschlossene wie weltoffene Gottesdiskurse auf ein „Drittes“ 101 hin offenhält und überschreitet – auf ein Drittes, das offenbarungstheologisch weder rein instruktionstheoretisch noch rein kommunikationstheoretisch zu fassen ist und das evangelisierungspastoral weder identitär im Eigenen noch alteritär im Anderen fixierbar ist: das unendliche Geheimnis der „Unbegreiflichkeit Gottes selber“ 102. Im Rahmen einer negativen Offenbarungstheo95
Fuchs, Was ist Neuevangelisierung, 467. Pottmeyer, Kontextualität und Pluralität, 177. 97 Vgl. Caprile, Il sinodo dei vescovi 1974, 991–1006. 98 Michel de Certeau, La faiblesse de croire, Paris 1987, 223. 99 Ebd. 100 Ebd. 101 „Differenztheoretisch entstehen ‚Effekte des Dritten‘ immer dann, wenn intellektuelle Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum […] Problem wird.“ (Albrecht Koschorke, Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, in: Eva Esslinger u. a. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, 9–31, hier: 11). 102 Karl Rahner, Erfahrungen eines katholischen Theologen, in: Karl Lehmann 96
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logie 103 gilt es, dabei angesichts entsprechender „Sperrzonen um das Geheimnis“ 104 die „unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein“ 105 evangelisierungspastoral als den „einzigen festen Punkt unseres Erkennens“ 106 zu gestalten. Theologische und kirchliche Sprache stoßen hier an eine epistemische Grenze, welche die Sprache der Poesie nicht selten leichter zu überschreiten vermag: Sprich auch Du, sprich als letzter, sag deinen Spruch. Sprich – Doch scheide das Nein nicht vom Ja. Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm den Schatten. Gib ihm Schatten genug, gib ihm so viel, als du um dich verteilt weißt zwischen Mittnacht und Mittag und Mittnacht. Blicke umher: sieh, wie’s lebendig wird rings Beim Tode! Lebendig! (Hg.), Vor dem Geheimnis Gottes den Menschen verstehen. Karl Rahner zum 80. Geburtstag, Freiburg i. Br. 1984, 105–119, hier: 107. 103 So wäre beispielsweise auch die weiter oben erwähnte amikale Offenbarungstheologie von Dei verbum („Gott spricht die Menschen an wie Freunde“) im Horizont negativer Theologie zu präzisieren, um ein kommunikationstheoretisches Missverständnis von Offenbarung zu vermeiden: Denn erstens spricht hier kein anthropomorpher Gott die Menschen an, sondern der „unsichtbare Gott“ (DV 2). Zweitens spricht er sie an („alloquitur“), es liegt also kein symmetrischer Sprechakt vor: Glaube kommt vom Hören – und: Offenbarung ist die asymmetrische Anrede des Menschen durch Gott, kein freundschaftliches Zwiegespräch unter Gleichen. Und drittens spricht er die Menschen darin an wie Freunde („tamquam amicos“) und nicht als Freunde. Es gilt also auch hier die Analogieregel des Vierten Lateranense: Zwischen der amikalen Offenbarung Gottes und der freundschaftlichen Kommunikation unter Menschen gibt es eine gewisse Ähnlichkeit („similitudo“) bei bleibend größerer Unähnlichkeit („dissimilitudo). 104 Nelly Sachs, Fahrt ins Staublose, Zürich 1966, 310. 105 Rahner, Erfahrungen eines katholischen Theologen, 106. 106 Ebd., 107.
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Wahr spricht, wer Schatten spricht. Nun aber schrumpft der Ort, wo Du stehst: Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin? Steige, taste empor. Dünner wirst Du, unkenntlicher, feiner! Feiner: ein Faden, an dem er herabwill, der Stern: um unten zu schwimmen, unten, wo er sich schimmern sieht: in der Dünung wandernder Worte.
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Gottesbeweise, Offenbarung und propositionaler Gehalt Über den Glauben nachdenken mit Dei filius Im Folgenden wird zunächst dafür argumentiert, dass die in Dei filius vertretene Position der Möglichkeit einer gewissen Erkenntnis der Existenz Gottes auch unter den Vorzeichen gegenwärtig geführter metaphysischer Diskurse rational verantwortet vertreten werden kann und ein metatheologischer Grundpfeiler der Identität römisch-katholischen Glaubens ist. Im Anschluss daran wird argumentiert, dass nicht nur die Möglichkeit einer gewissen Erkenntnis der Existenz Gottes, sondern darüber hinaus auch die in Dei filius vertretene These, dass die Heilige Schrift einen durch Gott geoffenbarten propositionalen Gehalt vermittelt, der als Offenbarungswissen zwar die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen übersteigt, aber nicht der Vernunfterkenntnis des Menschen entgegensteht, ein konstitutives Element katholischen Glaubens ist: Ohne die Annahme einer übervernünftigen göttlichen Offenbarung ließe sich der katholische Glaube nicht von einer ausschließlich philosophischen Theologie unterscheiden. Im Anschluss wird dafür argumentiert, dass die in Dei filius vertretene Position zur Rechtfertigung des Glaubens durch göttliches Handeln in der Welt eine auch unter den Vorzeichen gegenwärtiger Diskurse rational verantwortbare erkenntnistheoretische Annahme und in Bezug auf die Auferweckung Jesu Christi eine conditio sine qua non des Glaubens ist.
1. Die Möglichkeit der Gottesbeweise in Dei filius Die Frage nach der Möglichkeit der theoretischen Erkenntnis der Existenz Gottes ist die Frage nach der Möglichkeit schlüssiger Argumente für die Schlussfolgerung, dass Gott existiert. Da das Wort „Gott“ verwendet werden kann, um verschiedene Begriffe auszudrücken, ist es für jeden
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Gottesbeweis notwendig, zu spezifizieren, welcher Begriff mit dem Wort „Gott“ im jeweiligen Argument assoziiert ist. Traditionellerweise wird das Wort „Gott“ so verstanden, dass es eine Kennzeichnung für den ersten und letzten Grund aller geschaffenen Dinge ausdrückt. Die Aussage „Gott existiert“ ist dann gleichbedeutend mit der Aussage, dass ein erster und letzter Grund aller geschaffenen Dinge existiert. 1 Ein schlüssiges Argument für die Existenz Gottes ist ein Argument, das folgender Bedingung genügt: Die Prämissen sind wahr und aufgrund der Wahrheit der Prämissen ist es vernünftig von der Wahrheit der Schlussfolgerung „Gott existiert“ auszugehen. Prinzipiell sind drei Arten von Argumenten für die Existenz Gottes denkbar: abduktive, induktive, und deduktive. Ein abduktives Argument für die Existenz Gottes geht basierend auf der Wahrheit seiner Prämissen davon aus, dass die Existenz Gottes die beste Erklärung für die Wahrheit der Prämissen ist. Ein induktives Argument für die Existenz Gottes geht davon aus, dass es basierend auf der Wahrheit der Prämissen hinreichend wahrscheinlich ist, dass Gott existiert, und dass es daher vernunftgemäß ist, die Existenz Gottes anzunehmen. 2 Ein deduktiv schlüssiges Argument für die Existenz Gottes ist ein Argument, dass basierend auf der Wahrheit seiner Prämissen die Wahrheit der Schlussfolgerung, dass Gott existiert, impliziert: Im Falle eines deduktiv schlüssigen Argumentes für die Existenz Gottes sind die 1
Das Wort „Gott“ kann aber auch als Eigenname oder als Prädikat „ ist Gott“ verstanden werden. Im ersten Fall besagt die Aussage „Gott existiert“, dass der Eigenname „Gott“ eine Denotation hat, während im zweiten Fall die Aussage „Gott existiert“ behauptet, dass es eine Entität gibt, welche die Eigenschaft exemplifiziert, Gott zu sein. Vgl. auch Joachim Bromand, Guido Kreis, Was sind Gottesbeweise?, in: Dies. (Hg.), Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, Frankfurt a. M. 2011, 9–28, hier: 21. Bei dem Ausdruck „Gott“ könnte es sich „um einen Namen, um eine Kennzeichnung oder um einen Ausdruck für ein Prädikat handeln.“ 2 Vgl. Igor Douven, Abduction (The Stanford Encyclopedia of Philosophy (https:// plato.stanford.edu/entries/abduction/) [Zugriff: 15. 07. 2019]: „[T]he best way to distinguish between induction and abduction is this: both are ampliative, meaning that the conclusion goes beyond what is (logically) contained in the premises (which is why they are non-necessary inferences), but in abduction there is an implicit or explicit appeal to explanatory considerations, whereas in induction there is not; in induction, there is only an appeal to observed frequencies or statistics. (I emphasize ‚only,‘ because in abduction there may also be an appeal to frequencies or statistics, as the example about the elephants exhibits.)“
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Prämissen des Argumentes also wahr und es ist nicht möglich, dass die Prämissen wahr sind und die Schlussfolgerung falsch. Ein deduktiv schlüssiges Argument für die These, dass Gott existiert, ist daher ein Argument, dass zur gewissen Erkenntnis der Existenz Gottes führt, da es basierend auf wahren Prämissen aufgrund seiner logischen Form die Existenz Gottes logisch notwendigerweise impliziert. 3 Die in Dei filius (und Dei verbum) vertretene These, dass „Deum, rerum omnium principium et finem, naturali humanae rationis lumine e rebus creatis certo cognosci posse“ (DH 3004) bedeutet also, dass es möglich ist, schlüssige deduktive Argumente für die Existenz Gottes zu formulieren, die basierend auf wahren Prämissen aufgrund ihrer logischen Form logisch notwendigerweise die Aussage implizieren, dass ein Ursprung und Endziel aller Dinge existiert. Der systematische Stellenwert für den römisch-katholischen Glauben, den Dei filius dieser These zuordnet, wird in den Canones deutlich formuliert: „Si quis dixerit, Deum unum et verum, Creatorem et Dominum nostrum, per ea, quae facta sunt, naturali rationis humanae lumine certo cognosci non posse; anathema sit“ (DH 3026). Dei filius selbst formuliert aber keinen Gottesbeweis, sondern belässt es bei der These über die Möglichkeit deduktiv schlüssiger Argumente für die Existenz Gottes. Es formuliert also nur ein metatheologisches Axiom über die Möglichkeit der menschlichen Vernunft, erkennen zu können, dass ein erster und letzter Grund des Seins der Welt existiert, ohne selbst den Weg eines Gottesbeweises zu beschreiten. 4
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Vgl. für eine weitergehende Analyse der Struktur von Gottesbeweisen Benedikt Paul Göcke, An Analytic Theologian’s Stance on the Existence of God, in: European Journal for Philosophy of Religion 5/2 (2013), 129–146. Bromand, Kreis, Was sind Gottesbeweise? sowie Thomas Buchheim u. a. (Hg.), Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft (Collegium Metaphysicum 4), Tübingen 22017. 4 Vgl. Denys Turner, Faith, Reason, and the Existence of God, Cambridge u. a. 2004, 5: „[T]he logical oddity would seem to be that of declaring a priori that a proposition is rationally demonstrable in the absence of any commitment to how and by what means that proposition might be demonstrated. But it is not clear that there is any real logical oddity there, since, as mathematicians say is the case, there are mathematical procedures for proving the provability of a theorem which are not themselves proofs of the theorem.“
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Die in Dei filius vertretene Position bezüglich der Möglichkeit einer gewissen Erkenntnis der Existenz Gottes kann unter den Vorzeichen gegenwärtig geführter metaphysischer Diskurse weiterhin rational verantwortet werden und ist ein systematischer Grundpfeiler der Identität römisch-katholischen Glaubens. Um zu zeigen, dass die These der Beweisbarkeit der Existenz Gottes weiterhin rational vertreten werden kann, ist es hilfreich, zunächst darauf aufmerksam zu machen, dass die These der Beweisbarkeit der Existenz Gottes nie widerlegt worden ist: Es findet sich in der Diskussion der Gottesfrage kein deduktiv schlüssiges Argument mit der Schlussfolgerung „Es ist nicht möglich, dass ein deduktiv schlüssiges Argument für die Existenz Gottes formuliert werden kann.“ 5 Ein solches Metaargument über die Möglichkeit der Vernunft wäre aber nötig, um zu zeigen, dass die in Dei filius vertretene metatheologische These nicht länger rational verteidigt werden kann, da es mit Gewissheit zeigen würde, dass die Aussage „Gott existiert“ mit den Mitteln der Vernunft nicht entschieden werden kann und daher die Frage nach der Existenz Gottes notwendigerweise die Fähigkeiten der Vernunft transzendiert und ein epistemologischer Blindspot ist. Es ist aber nicht nur der Fall, dass es bis dato kein schlüssiges deduktives Argument gegen die Beweisbarkeit der Existenz Gottes gibt, welches die Theologie zwingen würde, das metatheologische Axiom der Beweisbarkeit der Existenz Gottes aufzugeben. Vielmehr lässt sich zeigen, dass deduktiv schlüssige Argumente für die Existenz Gottes aus logischer Perspektive sowohl in schwacher als auch in starker Form prinzipiell möglich 5
Hildegard Peters, Am rechten Platz? Theologie an der Universität – Grundlegendes und Weiterführendes zu einer Streitfrage, in: Dies., Ulrich Lüke (Hg.), Wissenschaft – Wahrheit – Weisheit. Theologische Standortbestimmungen (Quaestiones disputatae 293), Freiburg i. Br. 2018 vertritt beispielsweise die folgende These: „In der Philosophie verbreitete sich spätestens mit Kants Kritik der Gottesbeweise die Auffassung, dass ein Beweis der Existenz Gottes nicht möglich ist.“ Da Kant nie einen überzeugenden Beweis für die Unmöglichkeit eines Argumentes für die Existenz Gottes vorgelegt hat und da in der Philosophie spätestens seit Aufkommen der modernen Logik die Frage der Gottesbeweise wieder virulent diskutiert wird, ist es fraglich, wie Peters zu ihrer Einschätzung gelangt. Es ist sicherlich falsch, dass sich in der Philosophie die Auffassung verbreitet hat, dass ein Beweis der Existenz Gottes prinzipiell unmöglich ist.
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sind. Die schwache These der Beweisbarkeit der Existenz Gottes besagt, dass es logisch möglich ist, die metaphysische Möglichkeit der Existenz Gottes zu beweisen. Die starke These besagt, dass es logisch möglich ist, die metaphysische Wirklichkeit der Existenz Gottes zu beweisen. Alles, was nötig ist, für die logische Möglichkeit eines schwachen Beweises der Existenz Gottes, ist ein deduktiv gültiges Argument für die Schlussfolgerung „Es ist möglich, dass Gott existiert“ oder „Es ist möglich, dass es einen ersten und letzten Grund der Wirklichkeit gibt“. Wenn die Prämissen dieses Argumentes nicht selbstwidersprüchlich sind und daher wahr sein können, dann liegt in diesem Fall ein möglicherweise deduktiv schlüssiges Argument für die mögliche Existenz Gottes vor. Alles, was nötig ist, für die Möglichkeit eines starken Beweises der Existenz Gottes, ist ein deduktiv gültiges Argument für die Schlussfolgerung „Gott existiert“ oder „Es gibt einen ersten und letzten Grund der Wirklichkeit“. Wenn dessen Prämissen nicht selbstwidersprüchlich sind und daher wahr sein können, dann liegt ein möglicherweise deduktiv schlüssiges Argument für die Existenz Gottes vor. Wenn es aber deduktiv gültige Argumente für die Möglichkeit und Tatsächlichkeit der Existenz Gottes gibt, deren Prämissen wahr sein können und im Falle ihrer Wahrheit die Schlussfolgerungen „Es ist möglich, dass Gott existiert“ bzw. „Gott existiert“ aufgrund ihrer logischen Form implizieren, dann ist es prinzipiell möglich, deduktiv schlüssige Argumente für die Existenz Gottes zu formulieren. 6 Auf der logischen Möglichkeit der Formulierung schwacher und starker Gottesbeweise aufbauend kann weiterhin gezeigt werden, dass die Möglichkeit der schwachen und der starken Beweisbarkeit der Existenz Gottes konstitutiv für den katholischen Glauben ist: Solange er den Anspruch erhebt, dass die objektive Wahrheit seiner philosophischen praeambula fidei mit den Mitteln der Vernunft gewiss erkennbar ist, solange 6
Die Geschichte der Philosophie hat zahlreiche Argumente für die Existenz Gottes zu bieten, die sich als deduktiv gültige Argumente formulieren lassen und im Falle der Wahrheit der Prämissen die Wahrheit der Schlussfolgerung der Existenz Gottes implizieren. Gaven Kerr, Aquinas’s Way to God. The Proof in ‚De Ente et Essentia‘, Oxford 2015 argumentiert beispielsweise überzeugend, dass der von Thomas von Aquin in De ente et essentia vorgebrachte rein philosophische Gottesbeweis unter Bezug auf die gegenwärtigen Erkenntnisse in Philosophie und Naturwissenschaft ein deduktiv schlüssiges Argument für die Existenz Gottes ist.
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also der Anspruch erhoben wird, dass vor dem Hintergrund unserer epistemischen Situation die praeambula fidei die Wirklichkeit adäquat erfassen, setzt der katholische Glaube die Möglichkeit von Gottesbeweisen voraus. Per reductio ad absurdum kann zunächst gezeigt werden, dass die katholische Theologie auf die Möglichkeit von Argumenten für die mögliche Existenz Gottes verpflichtet ist. Es muss aus Sicht der katholischen Theologie erkenntnistheoretisch möglich sein, die mögliche Existenz Gottes durch schlüssige Argumente zu rechtfertigen, was bedeutet, dass es möglich sein muss, schlüssige Argumente zu formulieren, deren Schlussfolgerung lautet: „Es ist metaphysisch möglich, dass Gott existiert.“ Wäre es nicht möglich, die mögliche metaphysische Existenz Gottes zu beweisen, dann wäre dies gleichbedeutend damit, dass nicht gezeigt werden könnte, dass die Existenz Gottes überhaupt konsistent gedacht werden kann, da jeder Beweis der möglichen Existenz Gottes ein Beweis der Konsistenz der Annahme der Existenz Gottes und unserer epistemischen Situation ist: Er zeigt, dass relativ zu den explizit formulierten Hintergrundannahmen die Existenz Gottes konsistent gedacht werden kann, da sie unseren Hintergrundannahmen nicht widerspricht. In Anbetracht des Vernunftanspruchs katholischen Glaubens kann die katholische Theologie also nur dann auf die schwache metatheologische These der Beweisbarkeit der Existenz Gottes verzichten, wenn sie negiert, dass bewiesen werden kann, dass die menschliche Vernunft erkennen kann, dass die Existenz Gottes überhaupt konsistent gedacht werden kann. Damit aber wäre die katholische Theologie auf dem Weg zum Fundamentalismus und Fideismus. Der katholische Glaube behauptet aber nicht nur die mögliche Existenz Gottes im Sinne der schwachen Beweisbarkeit der Existenz Gottes. Er behauptet, dass Gott tatsächlich existiert. Die Behauptung, dass Gott tatsächlich existiert, ist als Teil der praeambula fidei ein konstitutives Element katholischen Glaubens und eine metaphysische Aussage über die fundamentale Grundstruktur der Wirklichkeit. Wenn sie als vernunftgemäße Aussage verstanden wird, dann steht sie eo ipso im Raum der Gründe. Sie ist also begründungspflichtig. Da Begründungen Argumente sind, folgt, dass die Aussage „Gott existiert“ eine Aussage ist, deren Wahrheit, wenn sie als vernunftgemäße Aussage über die Wirklichkeit verstanden wird, die nicht jedem unmittelbar gewiss ist, prinzipiell durch schlüs-
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sige Argumente begründet werden können muss und, wie gezeigt, auch prinzipiell begründet werden kann. Da deduktiv schlüssige Argumente aus erkenntnistheoretischer Sicht die Königsklasse der Begründungen für eine Schlussfolgerung konstituieren und im Falle der Existenz Gottes zeigen, dass diese unter Bezug auf unsere epistemische Situation, das heißt, vor dem Hintergrund unserer weltanschaulichen Annahmen, mit Gewissheit zu erkennen ist, da sie durch die unsere Weltanschauung konstituierenden Annahmen impliziert wird, besagt das metatheologische Axiom der Beweisbarkeit der Existenz Gottes, dass es prinzipiell möglich ist, unter Bezug auf unsere epistemische Situation die Existenz Gottes mittels deduktiv schlüssiger Argumente zu begründen: Aus Sicht des katholischen Glaubens ist die Welt so beschaffen, dass alleine mit den Mitteln der Vernunft prinzipiell erkannt werden kann, dass es einen ersten und letzten Grund des Seins der Welt gibt. 7 Wenn dieser Anspruch aufgegeben werden würde, dann würde der Glaube auf der einen Seite eine Behauptung über die fundamentale Grundstruktur der Wirklichkeit aufstellen – dass Gott existiert –, von der er auf der anderen Seite zugleich behaupten würde, dass die Wahrheit dieser Aussage prinzipiell nicht durch die Vernunft eingeholt werden kann. Er würde behaupten, dass es einen ersten und letzten Grund des Seins der Welt gibt, den wir Gott nennen, dieser aber mit den Mitteln der Vernunft nicht erkannt werden
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Vgl. Bromand, Kreis, Was sind Gottesbeweise?, 10: „Die Gottesbeweise sind exemplarisch für das, was die Philosophie als Wissenschaft überhaupt leisten kann. Es geht um den Versuch, mit dem logischen Instrument des Beweises die Existenz eines metaphysischen Gegenstandes zu demonstrieren. So wenig religiöser Glaube und religiöse Praxis notwendige Zugangsvoraussetzungen zu einem Gottesbeweis darstellen, so sehr erhebt er auch den Anspruch, in jedem Punkt rational nachvollziehbar zu sein.“ Vgl. auch Klaus Müller, Gott-Rede als Teil der Universitas. Christliche Theologie als akademische Disziplin, in: Clauß Peter Sajak, Rauf Ceylan (Hg.), Freiheit der Forschung und Lehre? Das wissenschaftsorganisatorische Verhältnis der Theologie zu den Religionsgemeinschaften, Wiesbaden 2017, 7–29, hier: 8: „Die christliche Theologie musste sich schon in der Frühzeit ihres Auftretens ihren Platz im Ensemble ernstzunehmender Welt- und Selbstbeschreibungen des Menschen und damit der Wissenschaften erkämpfen. Und sie tat das dadurch, dass sie für sich in Anspruch nahm, in ihren Diskursen nicht einfach von Ethik, Politik und Poesie zu handeln (das alles auch), sondern Erkenntnis von Welt, Leben und Wirklichkeit im Ganzen zu sein.“
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könnte. Damit würde der Glaube Gefahr laufen, einen performatorischen Widerspruch zu begehen – der philosophische Gedanke der Existenz Gottes als Grund des Seins der Welt kommt unter Einklammerung des ontologischen Argumentes ja nur aufgrund der metaphysischen Erklärungsbedürftigkeit des Seins der Welt ins Spiel – oder zu Fundamentalismus, Fideismus oder Irrationalismus werden. Die Negation des in Dei filius formulierten metatheologischen Axioms über die Beweisbarkeit der Existenz Gottes kann also nur dann verteidigt werden, wenn ineins damit der katholische Glaube den Anspruch aufgibt, dass die These der Existenz Gottes als Teil der praeambula fidei eine vernunftgemäße Annahme über die fundamentale Struktur der Wirklichkeit ist, deren Wahrheit hinreichend gewiss begründet werden kann. Das metatheologische Axiom, das Dei filius formuliert, kann also nur dann aufgegeben werden, wenn der katholische Glaube die hinreichende Begründbarkeit seiner eigenen Vernünftigkeit negiert. Die über die schwache These der Beweisbarkeit der möglichen Existenz Gottes hinausgehende starke metatheologische These der Beweisbarkeit der Existenz Gottes ist daher eigentlich nichts anderes als Ausdruck des Selbstverständnisses des katholischen Glaubens, den Anspruch auf die erkennbare Wahrheit seiner praeambula fidei prinzipiell auch einlösen zu können. Sie besagt im Kern, dass der katholische Glaube nicht fundamentalistisch oder fideistisch die Existenz Gottes performatorisch nur mittels Kraft einer politischen Behauptung vorbringt, sondern prinzipiell in der Lage ist, von religiösen Überzeugungen unabhängige allgemeinverbindliche Argumente für die Existenz eines ersten und letzten Grundes der Wirklichkeit zu formulieren und damit eine solide Basis in der Vernunft hat. 8 Obwohl aus theologischer Perspektive, besonders vonseiten 8
Vgl. Turner, Faith, Reason, and the Existence of God, 5: „The council’s decree is as if to say: if human reason is to serve faith, and so theology, within that strategy of ‚seeking understanding‘, then it must be equipped to do so. And the view of Vatican I seems to be that that capacity of reason must be such that the certain knowledge of God from creatures lies within its own reach strictly as reason. Hence, it is not so much that having to hand some rational proof of the existence of God is required by faith, still less that faith can dictate which arguments validly prove it. The council’s decree is negative: to deny reason that capacity is so to attenuate its scope as to limit excessively its service to faith.“ Vgl. Edgar Morscher, Was sind und sollen die Gottesbeweise? Bemerkungen zu Anselms Gottesbeweis(en), in: Friedo Ricken (Hg.),
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eines theologischen Antirealismus, in der neueren Diskussion oft die Sorge geäußert wird, die Möglichkeit eines Gottesbeweises führe zum Fundamentalismus oder gar zum „Gottesstaat“, ist es genau umgekehrt: Die Annahme der Beweisbarkeit der Existenz Gottes ist ein erkenntnistheoretischer Schutz gegen religiösen Fundamentalismus, Fideismus und Irrationalismus. 9
2. Offenbarung und propositionaler Gehalt Neben dem metatheologischen Axiom der Beweisbarkeit der Existenz Gottes setzt der katholische Glaube, wie Dei filius spezifiziert, auch voraus, dass die Heilige Schrift einen durch Gott geoffenbarten propositionalen Gehalt vermittelt, der als Offenbarungswissen zwar die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen übersteigt, aber nicht der Vernunfterkenntnis des Menschen entgegensteht. Im Folgenden wird argumenKlassische Gottesbeweise in der Sicht der gegenwärtigen Logik und Wissenschaftstheorie (Münchener philosophische Studien 4), Stuttgart 21998, 60–84, hier: 73: „Selbstverständlich folgt auch aus der Unhaltbarkeit aller Gottesbeweise noch lange nicht, dass Gott nicht existiert: Auch wenn alle bisherigen Gottesbeweise gescheitert wären, hieße das noch nicht, daß ein solcher Beweis prinzipiell unmöglich und die Existenz Gottes unbeweisbar ist.“ 9 Zur Angst der Theologie vor der Möglichkeit von Gottesbeweisen vgl. Turner, Faith, Reason, and the Existence of God, 261: „Why […] this theologically motivated resistance to proof of God, this fear of the light of human reason, this faith-induced loss of intellectual nerve? There are all too many explanations of political, economic, social and cultural kinds for a nihilistic post-modern irrationalism: for, contemplating the vicissitudes of the last appalling century, strewn as our inheritance of it is with the debris of officially declared military violence, of systematic economic exploitation, of racism, genocide, and of the consequent near too many explosions of terrorism, who should be surprised if our age should look into the mirror of such history, and declare itself to be ‚post-modern‘, since all its values appear to have been dissolved in the corrosive acid of ‚alterity‘ ? Yet it can seem to be an intellectual and moral betrayal of their God-given task that the theologians too should with such casualness and with careless inattention to their own traditions, and on their own ground of faith, find reasons to collude in this trahison des clercs, and should abandon so lightly their responsibilities to engage our atheological age on terms of argument.“
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tiert, dass auch diese These über bleibende systematische Relevanz für den katholischen Glauben verfügt und ihre Negation nur um den Preis einer Transformation des katholischen Glaubens in eine rein philosophische Metaphysik zu haben ist. Wenn göttliche Offenbarung dem menschlichen Geist keinen propositionalen Gehalt vermitteln kann, dann kann sie dem Menschen keine Informationen mitteilen. Wenn göttliche Offenbarung dem Menschen keine Informationen mitteilen kann, dann kann sie dem Menschen keine Informationen über die Wirklichkeit und ihren letzten Grund mitteilen. Wenn göttliche Offenbarung dem Menschen keine Informationen über die Wirklichkeit und ihren letzten Grund mitteilen kann, dann kann göttliche Offenbarung keinen Einfluss auf die Weltanschauung der Menschen und somit keinen Einfluss auf das Leben des Menschen haben. Wenn göttliche Offenbarung keinen Einfluss auf die Weltanschauung der Menschen und somit keinen Einfluss auf das Leben des Menschen haben kann, dann ist die Annahme einer göttlichen Offenbarung sinnlos: Göttliche Offenbarung ohne propositionalen Gehalt könnte für den Glauben keine systematische Rolle in der Reflexion über Existenz und Wesen Gottes, die Wirklichkeit sowie die Stellung des Menschen in der Wirklichkeit spielen. Göttliche Offenbarung, die einen propositionalen Gehalt vermittelt, vermittelt einen Gehalt, der sich grammatikalisch als wohlgeformter Behauptungssatz formulieren lässt und dadurch den propositionalen Gehalt – die entsprechende Proposition – sprachlich zum Ausdruck bringt. Wäre dies nicht der Fall, dann könnte der Mensch prinzipiell die göttliche Offenbarung nicht einmal ansatzweise verstehen, da Propositionen als Gegenstand intentionaler Einstellungen diejenigen Entitäten sind, auf die sich der menschliche Geist notwendigerweise bezieht, wenn er sich auf einen semantischen Inhalt bezieht. Grammatikalisch wohlgeformte Behauptungssätze sind Sätze, denen in einer bivalenten Logik entweder der Wahrheitswert „Wahr“ oder der Wahrheitswert „Falsch“ zugeschrieben wird. Ein Behauptungssatz, der eine Proposition ausdrückt, ist im Rahmen eines realistischen Wahrheitsverständnisses wahr genau dann, wenn es sich in der Wirklichkeit so verhält, wie es der Satz behauptet. Es folgt, dass göttliche Offenbarung, die einen propositionalen Gehalt vermittelt, sich in grammatikalisch wohlgeformten Behauptungssätzen formulieren lässt, die genau dann wahr
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sind, wenn es sich in der Wirklichkeit so verhält, wie es der jeweilige Satz behauptet. Wenn ein durch göttliche Offenbarung vermittelter propositionaler Gehalt in einem wahren Satz ausgedrückt wird, dann handelt es sich um eine als Satzwahrheit formulierte göttliche Offenbarung. Einer Person kann Offenbarungswissen zugeschrieben werden, wenn die Person einen Satz, der einen propositionalen Gehalt göttlicher Offenbarung ausdrückt, für wahr hält, dieser Satz wahr ist, und die Person gerechtfertigt ist, in ihrer Überzeugung, dass der Satz wahr ist. Offenbarungswissen als Behauptungssatz formuliert drückt also eine durch göttliche Offenbarung vermittelte wahre Proposition aus, die gerechtfertigerweise für wahr gehalten wird. Die erkenntnistheoretisch entscheidende Frage ist, wann eine Person gerechtfertigt ist, eine vermeintliche göttliche Offenbarung für wahr zu halten. 10 Wenn der propositionale Gehalt der göttlichen Offenbarung allein durch die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen, also durch die Vernunft oder durch die Sinne, gerechtfertigt werden könnte, dann wäre die Annahme einer erkenntnistheoretischen und theologischen Sonderstellung der Heiligen Schrift, die den propositionalen Gehalt der Offenbarung enthält, nicht zu rechtfertigen, da sie in diesem Fall ein Buch unter Büchern wäre, das keine Wahrheiten enthält, die nicht auch mit den natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen gerechtfertigt werden könnten. Die Heilige Schrift wäre aus systematischer Sicht, als Buch, das vorgibt, relevante Informationen über Existenz und Wesen Gottes sowie die Stellung des Menschen in der Wirklichkeit zu enthalten, schlicht irrelevant: Keine wahre Aussage der Heiligen Schrift könnte nicht alleine durch die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen gerechtfertigt werden und keine Aussage der Heiligen Schrift, die nicht durch die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen gerechtfertigt werden kann, könnte rational begründbare Informationen über Gott, die Welt, und die Stellung des Menschen in der Welt enthalten. 11 10
Die Fragen, inwiefern Offenbarungswissen tradiert werden kann, und ob zu Recht ein erkenntnistheoretischer Anspruch auf tradiertes Offenbarungswissen, etwa im Rahmen einer sozialen Erkenntnistheorie besteht, wird im Folgenden ausgeklammert. 11 Die Heilige Schrift könnte dieser Option nach nur noch erzieherischen Charakter haben, wie schon Gotthold E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Ber-
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Der katholische Glaube würde zu einer ausschließlich philosophischen Weltanschauung und damit zu einer rein rationalen Metaphysik, die weder der Annahme der Dreieinigkeit Gottes noch derjenigen der Inkarnation Jesu Christi bedürfte. Da die Heilige Schrift aber Aussagen impliziert, die, wenn sie wahr sind, nicht aus der Vernunft deduziert werden können, wie beispielsweise die Aussage, dass Jesus von Nazareth der Christus ist, der von den Toten auferstanden ist, und diese Aussagen für das Wesen des katholischen Glaubens konstitutiv sind, ist er daher aus systematischer Perspektive solange darauf verpflichtet, dass die Heilige Schrift Wahrheiten impliziert, die nicht alleine durch die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen gerechtfertigt werden können, wie er sich von einer rein philosophischen Theologie unterscheiden möchte. Wie Dei filius es formuliert: „Attamen placuisse eius [Gottes] sapientiae et bonitati, alia, eaque supernaturali via se ipsum ac aeterna voluntatis suae decreata humano generi revelare“ (DH 3004). 12 Dass die Heilige Schrift einen propositionalen Gehalt impliziert, der nicht alleine durch die Vernunft gerechtfertigt werden kann, bedeutet nicht, dass die Heilige Schrift einen propositionalen Gehalt enthält, welcher der Vernunft entgegensteht und daher unvernünftig oder vernunft-
lin 1780, 10 f. (§ 4) argumentiert hat: „Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selbst haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.“ 12 Vgl. Hansjürgen Verweyen, Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg 32000, 228: „Offenbarung im Sinne von Judentum, Christentum und Islam meint […] die Kundgabe eines göttlichen Anspruchs als von außen an meine Vernunft herangetragen, nicht aus ihrer eigenen Intentionalität gezeugt oder produzierbar. Sie wird hier als Gabe eines Anderen verstanden, die diesen Charakter als Gabe unauslöschlich behält.“ Vgl. auch Hubert Filser, Theologisch-dogmatische Erkenntnislehre, in: Thomas Schärtl, Thomas Marschler (Hg.), Dogmatik heute. Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Regensburg 2014, 19–61, hier: 22: „Sinnmitte und zentrale Prinzipien der theologisch-dogmatischen Erkenntnislehre sind nach einhelliger Ansicht der Dogmatiker die Themenbereiche Offenbarung und Glaube, denn der Mensch ist bleibend von der göttlichen Offenbarung abhängig bzw. auf sie bezogen und nimmt diese im Glauben an.“
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widrig ist. 13 Der erkenntnistheoretische Punkt des Begriffs der übernatürlichen Offenbarung besteht genau nicht darin, dass man den propositionalen Gehalt einer übernatürlichen Offenbarung als unvernünftigen oder vernunftwidrigen propositionalen Gehalt klassifiziert, sondern als übervernünftigen propositionalen Gehalt erkennt, welcher der Vernunft nicht entgegenstehen kann. Wie Thomas von Aquin argumentiert: „Obwohl nun die genannte Wahrheit des christlichen Glaubens das Fassungsvermögen der menschlichen Vernunft übersteigt, so kann doch das, was der Vernunft von Natur aus gegeben ist, dieser Wahrheit nicht entgegengesetzt sein. […] Was immer also derartigen Prinzipien entgegengesetzt ist, das steht gegen die göttliche Weisheit. Es kann also nicht von Gott sein. Das nun, was auf Grund göttlicher Offenbarung durch den Glauben festgehalten wird, kann nicht der natürlichen Erkenntnis entgegengesetzt sein“ 14. 13
Dass die Annahme einer göttlichen Offenbarung, die dem Menschen einen propositionalen Gehalt vermittelt, dessen Wahrheit alleine durch die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen nicht gerechtfertigt werden kann, in gegenwärtigen Diskursen nicht länger als erkenntnistheoretisch satisfaktionsfähig betrachtet wird, scheint daran zu liegen, dass eine solche Art göttlicher Offenbarung ihrem propositionalen Gehalt nach als unvernünftig und vernunftwidrig missverstanden wird. Peters, Am rechten Platz?, 69 scheint beispielsweise anzunehmen, dass Glaubenswahrheiten nicht rational durchdrungen werden können: „Weil Glaubenswahrheiten erstens nicht auf rationalem Wege erkannt werden können und zweitens auch nach ihrer Offenbarung nicht rational durchdrungen werden können, muss der Wahrheitserweis für die als geoffenbart geltenden Aussagen auf rein äußerlichem Wege […] erfolgen.“ Obwohl Glaubenswahrheiten durch die Vernunft nicht notwendigerweise vollständig durchdrungen werden können, ist sich zumindest Dei filius klar darüber, dass sie auch nicht vollständig undurchdringbar sind: „Ac ratio quidem, fide illustrata, cum sedulo, pie et sobrie quaerit, aliquam, Deo dante, mysteriorum intelligentiam eamque fructuosissimam assequitur, tum ex eorum, quae naturaliter cognoscit, analogia, tum e mysteriorum ipsorum nexu inter se et cum fine hominis ultimo; numquam tamen idonea redditur ad ea perspicienda instar veritatum, quae proprium ipsius obiectum constituunt“ (DH 3016). 14 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I, 7 (Opera omnia, Editio Leonina 13), Rom 1918, 19: „Quamvis autem praedicta veritas fidei Christianae humanae rationis capacitatem excedat, haec tamen quae ratio naturaliter indita habet, huic veritati contraria esse non possunt. […] Quicquid igitur principiis huiusmodi contrarium est, divinae sapientiae contrariatur. Non igitur a Deo esse potest. Ea igitur quae ex revelatione divina per fidem tenentur, non possunt naturali cognitioni esse contraria.“ Wie Charles Morerod OP, All Theologians Are Philosophers, Whether Know-
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Da der katholische Glaube, solange er sich von einer ausschließlich philosophischen Metaphysik unterscheiden möchte, voraussetzt, dass der propositionale Gehalt der göttlichen Offenbarung weder durch die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen allein gerechtfertigt werden noch der menschlichen Vernunft widersprechen kann, impliziert er also, dass der propositionale Gehalt göttlicher Offenbarung eine konsistente und kohärente Erweiterung des durch die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen rechtfertigbaren Wissens ist. Es folgt, dass ein zentrales Kriterium der Rechtfertigung des Wahrheitsanspruchs einer vermeintlichen göttlichen Offenbarung darin besteht, dass nichts als zum Offenbarungswissen führende göttliche Offenbarung gerechtfertigt werden kann, was der Vernunft widerspricht. Da das Kriterium der Vernunftkonsistenz aber nur ein notwendiges Kriterium der Rechtfertigung von Offenbarungswissen ist, muss es noch durch ein hinreichendes Kriterium ergänzt werden. Das hinreichende Kriterium, dafür, dass ein propositionaler Gehalt als Offenbarungswissen gerechtfertigt werden kann, wird laut Dei filius mittels des Bezugs auf göttliches Handeln in der Welt wie folgt spezifiziert: „Ut nihilominus fidei nostrae obsequium rationi consentaneum [vgl. Röm 12, 1] esset, voluit Deus cum internis Spiritus Sancti auxiliis externa iungi revelationis suae argumenta, facta scilicet divina, atque imprimis miracula et prophetias, quae cum Dei omnipotentiarn et infinitam scientiam luculenter commonstrent, divinae revelationis signa sunt certissima et omnium intelligentiae accommodata“ (DH 3009).
Das hinreichende Kriterium der Rechtfertigung dafür, dass ein bestimmter propositionaler Gehalt für eine bestimmte Person als Offenbarungswissen klassifiziert werden kann, besteht also laut Dei filius darin, dass dasjenige, was er über die Wirklichkeit aussagt, durch Wunder und Weissagungen, also durch göttliche Handlungen in der Welt, als wahr erwiesen wird, da göttliche Handlungen in der Welt „divinae revelationis signa ingly or Not, in: Matthew L. Lamb (Hg.), Theology needs philosophy. Acting against Reason is contrary to the Nature of God, Washington D.C. 2016, 3–18, hier: 13 erklärt, „this text makes a first distinction, which many do not notice: something can be over the power of our reason without being irrational. It is over, precisely, not against, and this is not because of a lack of intelligibility, but because of the weakness of our intellect.“
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sunt certissima“ (DH 3009). Basierend auf der notwendigen und hinreichenden Bedingung der Rechtfertigung vermeintlichen Offenbarungswissens einer Person ergibt sich laut Dei filius also Folgendes: Ein Satz, den eine Person für wahr hält, ist genau dann Offenbarungswissen, wenn er der Vernunft nicht widerspricht, eine konsistente und kohärente Erweiterung des durch die natürlichen Erkenntnisvermögen Erkennbaren ist – notwendige Bedingung – und die Wahrheit dieses Satzes für die Person einsichtig durch göttliches Handeln in der Welt bestätigt wird – hinreichende Bedingung. Die in Dei filius spezifizierte These der Rechtfertigung des Offenbarungswissens durch göttliches Handeln in der Welt kann auch unter den Vorzeichen der gegenwärtigen Debatten rational verantwortet werden. Die entscheidende Frage ist schlicht die, ob es möglich ist, dass Gott in der Welt auf eine Art und Weise handeln kann, die hinreichend ist, um einen Menschen dazu epistemisch zu berechtigen, von der Wahrheit eines Satzes auszugehen, die er zwar durch den Gebrauch seiner natürlichen Erkenntnisvermögen nicht hinreichend erkennen kann, von der er aber erkennen kann, dass sie nicht in Widerspruch zur Vernunft steht. Da es zahlreiche Modelle des Handelns Gottes in der Welt gibt, die zeigen, dass die Möglichkeit göttlichen Handelns in der Welt auch unter den Vorzeichen gegenwärtig geführter Debatten in Philosophie und Naturwissenschaft eine erkenntnistheoretisch und metaphysisch vernünftige Annahme ist, kann das in Dei filius vorgetragene Verständnis der Rechtfertigung des Offenbarungswissen aus philosophischer Sicht auch weiterhin rational verantwortet angenommen werden. 15 Das in Dei filius vorgetragene Offenbarungsverständnis kann aber nicht nur aus Sicht der Philosophie rational vertreten werden. Wer überhaupt noch von der Relevanz einer über philosophische Erkenntnisse hinausgehenden göttlichen Offenbarung sprechen möchte, der wird, ob nun ein instruktionstheoretisches oder ein kommunikationstheoretisches Modell der Offenbarung im Hintergrund steht, nicht negieren können, dass Gott in der Lage sein muss, den Menschen für sie relevante Informa15
Siehe Benedikt Paul Göcke, Ruben Schneider (Hg.), Gottes Handeln in der Welt. Probleme und Möglichkeiten aus Sicht der Theologie und analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017 zur Frage nach der Möglichkeit des Handelns Gottes in der Welt.
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tionen mitteilen zu können, die sie in der Form von Satzwahrheiten dann auch ausdrücken und hinreichend genug verstehen können müssen. Und Gott wird es auf eine Art und Weise tun können müssen, die sicherstellt, dass der Akt der Informationsübertragung zumindest in den für das Heil der Menschen notwendigen Punkten nicht vollständig scheitert. 16 Auch wenn bei vielen vermeintlichen Offenbarungswahrheiten kritisch nachgefragt werden kann, ob sie der notwendigen Bedingung eines jeden Offenbarungswissens entsprechen, ist die Annahme eines durch göttliches Handeln bestätigten Offenbarungswissens in mindestens einem Fall konstitutiv für den katholischen Glauben, der, auch wenn es vielen Theologinnen und Theologen der gegenwärtigen Debatten unangenehm zu sein scheint, auf einem metaphysischen Wunder basiert: Der Auferweckung Jesu Christi von den Toten. Dass Jesus von Nazareth der Christus
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Perry Schmidt-Leukel, Demonstratio christiana, in: Heinrich Döring, u. a. (Hg.), Den Glauben Denken. Neue Wege der Fundamentaltheologie, Freiburg 1993, 49– 146, hier: 61 f. charakterisiert die beiden relevanten Paradigmen göttlicher Offenbarung wie folgt: „In der Bestimmung des Offenbarungsinhalts stehen zwei Konzeptionen zur Debatte: Nach dem sogenannten ‚instruktionstheoretischen‘ Modell teilt Gott in der Offenbarung gewisse Aussagen bzw. Sachverhalte [sic] mit, die vom Menschen zu glauben sind und berechtigter Weise geglaubt werden können, weil Gott weder irrt noch betrügt. Nach dem ‚personalistischen‘ bzw. ‚kommunikationstheoretischen‘ Modell teilt Gott in der Offenbarung sich selbst mit, wobei jene Aussagen, die im ersten Modell als geoffenbarte Inhalten gelten, nun als Artikulation der menschlichen Reaktion auf die göttliche Selbstmitteilung anzusehen wären.“ Es scheint ein Taschenspielertrick der theologischen Diskussion zu sein, wenn ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Modellen zementiert werden soll: Dass Gott den Menschen einen propositionalen Gehalt mitteilt, wird von beiden Modellen göttlicher Offenbarung impliziert. Selbstverständlich offenbart sich Gott auch im sogenannten instruktionstheoretischen Modell selbst, denn was soll Gott sonst mitteilen, außer Wahrheiten, die in seinem Wesen gründen? Und selbstverständlich muss auch im kommunikationstheoretischen Modell der Offenbarung Gott einen propositionalen Gehalt kommunizieren, der, wenn Gott nicht das Risiko eingehen möchte, systematisch missverstanden zu werden, zumindest in für das Heil des Menschen notwendigen Fällen, auch eine eindeutige Mitteilung einer Information sein muss. Auch wenn jedes Modell vor der Herausforderung steht, zu erklären, wie Gott den Menschen diese Informationen mitteilt. Aber daraus, dass wir nicht wissen, wie Gott den Menschen Wahrheiten offenbart, folgt nicht, dass er den Menschen keine Wahrheiten offenbaren kann.
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ist, ist dadurch gerechtfertigt, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. 17 Paulus formuliert dies sehr deutlich: „Wenn aber verkündet wird, dass Christus von den Toten auferweckt worden ist, wie können dann einige von euch sagen: Eine Auferstehung der Toten gibt es nicht? Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dann ist unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube. Wir werden dann auch als falsche Zeugen Gottes entlarvt, weil wir im Widerspruch zu Gott das Zeugnis abgelegt haben: Er hat Christus auferweckt. Er hat ihn eben nicht auferweckt, wenn Tote nicht auferweckt werden. Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden. Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos und ihr seid immer noch in euren Sünden; und auch die in Christus Entschlafenen sind dann verloren. Wenn wir allein für dieses Leben unsere Hoffnung auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen. Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen.“ (1 Kor 15, 12–19)
Da die Auferweckung Jesu Christi, wenn sie stattgefunden hat, metaphysisch das Resultat direkten göttlichen Handelns in der Welt gewesen ist, und somit als göttliches Wunder bezeichnet werden muss, folgt, dass der Glaube daran, dass Jesus der Christus ist, zumindest für die es Bezeugenden, im Sinne von Dei filius, durch göttliches Handeln in der Welt als wahr erwiesen worden und damit als Offenbarungswissen gerechtfertigt worden ist.
3. Über die bleibende Relevanz von Dei filius Dei filius vertritt neben der These, dass die Existenz Gottes mit Gewissheit bewiesen werden kann, die These, dass Offenbarungswissen ein übervernünftiges Wissen ist, das aus erkenntnistheoretischer Perspektive für die Autorinnen und Autoren der Heiligen Schrift durch göttliches Han17
Wie Bernd Irlenborn, Epistemische Bedingtheit und assertorische Absolutheit. Zum Problem von Wahrheit und Geschichte in der Theologie, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 3 (2004), 27–44, hier: 27 es formuliert: „Die christliche Theologie hat aufgrund eines geschichtlichen Ereignisses einen geschichtlich nicht überbietbaren Wahrheitsanspruch zu rechtfertigen: Die Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus behauptet trotz der epistemischen Bedingtheit menschlichen Erkennens einen unbedingten Wahrheitsanspruch.“
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deln in der Welt gerechtfertigt war. Auf die These der Beweisbarkeit der Existenz Gottes kann der katholische Glaube nur verzichten, wenn er seine eigene Vernünftigkeit negiert. Auf die These, dass Offenbarungswissen ein übervernünftiges Wissen ist, das durch göttliches Handeln in der Welt gerechtfertigt werden kann, kann der katholische Glaube nur verzichten, wenn er entweder den Weg in Richtung einer ausschließlich philosophischen Metaphysik einschlägt oder darauf verzichtet, dass die biblisch bezeugte Auferweckung Jesu Christi ein metaphysisches Wunder gewesen ist. Da die Auferweckung Jesu Christi aber nur als metaphysisches Wunder gedacht werden kann, würde dies bedeuten, dass Jesus von Nazareth zwar ein großartiger Lehrer der Menschheit gewesen sein mag, aber mehr auch nicht. Die bleibende Relevanz von Dei filius besteht daher darin, dass es weiterhin den metatheologischen Rahmen der Reflexion katholischen Glaubens absteckt.
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Päpstliche Unfehlbarkeit – oder: Dogmen als Machtworte? Dunkle Wolken ziehen am 18. Juli 1870 über dem Vatikan auf. Bereits während der namentlichen Abstimmung über die Dogmatische Konstitution Pastor aeternus entlädt sich ein starkes Gewitter. Als Papst Pius IX. gegen 12 Uhr mittags das „Unfehlbarkeitsdogma“ verlesen und feierlich bestätigen will, muss er gegen heftige Donnerschläge ankämpfen. In der Konzilsaula herrscht überdies Finsternis. Die Verlesung der Abstimmung und des Konzilstextes erfolgt bei flackerndem Kerzenlicht. Draußen schlagen immer wieder Blitze ein. Wie diese Umstände zu deuten sind, ist für geraume Zeit nicht weniger ein Streitthema gewesen als der Inhalt des Dogmas. Soll man den Donnerhall als Zeichen göttlichen Beistandes oder als Ausdruck himmlischen Grolls verstehen? Dürfen sich die Verfechter des Dogmas auf den Berg Sinai versetzt fühlen, auf dem unter Blitz und Donner Mose die Zehn Gebote empfängt? Oder werden die wenigen zur Abstimmung erschienenen Gegner des Dogmas zu Zeugen, wie sich sogar die Natur mit ihren Mächten und Gewalten gegen das zu erwartende Ergebnis wehrt? Bis heute gehört das Unfehlbarkeitsdogma zum schwierigen Erbe des Ersten Vatikanischen Konzils. Bis in die Gegenwart wird es zum Auslöser heftiger Debatten, sobald es auch nur ansatzhaft für die Durchsetzung bestimmter Lehrinhalte in Anspruch genommen wird. Kaum geringer ist die Empörung, wenn seine theologische Berechtigung generell bezweifelt oder seine praktische Anwendbarkeit bestritten werden. Die von Hans Küng in den 1970er Jahren ausgelöste Grundsatzdebatte endete für den Initiator mit dem Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis (1979). 1 Dieser 1
Hans Küng, Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich u. a. 1970. Die für den „Fall Küng“ einschlägigen Texte sind – nach den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung chronologisch und sachlich geordnet sowie autobiographisch erläutert – zugänglich in: Hans Küng, Unfehlbarkeit (Sämtliche Werke 5), Freiburg i. Br. 2016. Vgl. auch Ders., Fehlbar? Eine Bilanz, Zürich u. a. 1973. Karl Rahner (Hg.), Zum Problem
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disziplinarische Reflexionsstopp hat sich jedoch als höchst problematischer Versuch einer Problemlösung herausgestellt. Das Bestreben des kirchlichen Lehramtes, über die Unfehlbarkeitsdiskussion ein letztes (unfehlbares?) Wort zu sprechen und in anderen dogmatisch relevanten Fragen ebenfalls das letzte Wort zu behalten, erwies sich als erfolglos. Stattdessen wurden dadurch Skepsis und Misstrauen geschürt: Wer mit aller Macht etwas durchsetzen will, setzt häufig nur sein Streben nach der Macht durch. Ohnehin ist fraglich, ob der Anspruch des Evangeliums mit einem Machtwort zur Geltung gebracht werden kann. Die folgenden Überlegungen wollen einem evangeliumsgemäßen Verständnis von Unfehlbarkeit auf die Spur kommen. Vielleicht steigen dadurch die Chancen, endlich jene Hypothek abzutragen, die seit 1870 auf der katholischen Theologie lastet und ihr immer wieder den Vorwurf einträgt, mit dem Unfehlbarkeitsdogma in einem absolutistischen System autoritärer Machtausübung den Schlussstein gesetzt zu haben. Allerdings sieht dieser Versuch davon ab, den theologiegeschichtlichen Hintergrund der Genese des Unfehlbarkeitsdogmas 2 erneut aufzurollen und noch einmal die Kontroversen um seine Verhandlung während des Ersten Vaticanums nachzuerzählen. Zu diesen Themen liegen zahlreiche Publikationen vor, für deren Vermehrung kein aktueller Bedarf feststellbar ist. 3 Dies gilt auch für die Rekonstruktion jener politischen und ideologischen KonstelUnfehlbarkeit. Antwort auf die Anfragen von Hans Küng (Quaestiones disputatae 54), Freiburg i. Br. 1971. 2 Vgl. etwa Ulrich Horst, Päpstliche Unfehlbarkeit wider konziliare Superiorität? Studien zur Geschichte eines (ekklesiologischen) Antagonismus vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Paderborn 2016. Ders., Unfehlbarkeit und Geschichte. Studien zur Unfehlbarkeitsdiskussion von Melchior Cano bis zum I. Vatikanischen Konzil (Walberberger Studien der Albertus-Magnus-Akademie, Theologische Reihe 12), Mainz 1982. Hermann J. Pottmeyer, Unfehlbarkeit und Souveränität. Die päpstliche Unfehlbarkeit im System der ultramontanen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts (Tübinger Theologische Studien 5), Mainz 1975. 3 Siehe dazu die umfassende Darstellung von Klaus Schatz, Vaticanum I 1869–1870 3. Unfehlbarkeitsdiskussion und Rezeption, Paderborn 1994 (Literatur). Vgl. auch Hermann J. Pottmeyer, Die jüngere Diskussion über die Definition des päpstlichen Primats durch das I. Vaticanum, in: Catholica 61 (2007), 67–80. Ders., Die Rolle des Papsttums im Dritten Jahrtausend (Quaestiones disputatae 179), Freiburg i. Br. 1999, 31–94. Bernward Schmidt, Kleine Geschichte des Ersten Vatikanischen Konzils, Freiburg i. Br. 2019, 219–256, 279–289.
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lationen im 19. Jahrhundert, welche die Durchsetzung des päpstlichen Jurisdiktionsprimates und einer dogmatischen Definition päpstlicher Unfehlbarkeit für die „ultramontanen“ Kräfte in der katholischen Kirche sogar als unumgänglich erscheinen ließen, um ihr nach dem Zerfall der „universitas christiana“ nach außen politische Unabhängigkeit und nach innen Zusammenhalt und Einheit zu sichern. Verzichtet wird schließlich auch auf Reflexionen zur Wirkungsgeschichte des Unfehlbarkeitsdogmas, das für erhebliche ökumenische Verwerfungen gesorgt hat 4 und im Katholizismus zur Abspaltung der alt- bzw. christkatholischen Kirche in Mitteleuropa führte. 5 Stattdessen soll es um eine Hermeneutik der Konzilsentscheidung gehen, die am Wortlaut des Dogmas ansetzt, seinen fundamentaltheologisch relevanten Gehalt zu erheben versucht und bereits dadurch die Grenzen päpstlicher Machtausübung umreißt (1.). 6 Dabei werden zwei Interpretationszugänge gegeneinander abgewogen, die als „extrinsezis-
4
Folgt man Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 61975, 628–652, so hat sich hier die katholische Kirche über das Wort Gottes gestellt und sich eine Autorität angemaßt, die in einer frevelhaften „pantheistischen“ Identifizierung der Kirche mit der Offenbarung gründet. 5 Siehe dazu Günter Eßer, Die Alt-Katholischen Kirchen (Bensheimer Hefte 116), Göttingen 2016. 6 Diese Einschränkung lässt sich auch dadurch rechtfertigen, dass in den Diskussionen der letzten Jahre die Genese und historische Kontingenz des Unfehlbarkeitsdogmas immer seltener als Bezugsgröße für die kritische Prüfung seines Geltungsanspruchs bzw. seiner Stringenz, Konsistenz und Kohärenz herangezogen wurde. Als weitaus wichtiger hat sich seitdem die Prüfung ekklesiologischer und amtstheologischer Argumente bei der Operationalisierung des Dogmas sowie die Anwendung theologisch-epistemologischer Argumente bei der Analyse seines Gehaltes erwiesen. Vgl. dazu u. a. Peter Knauer, Was bedeutet „Unfehlbarkeit“?, in: Theologie und Glaube 105 (2015), 216–227. Elmar Klinger, Macht und Autorität. Die Unfehlbarkeit des Papstes – ein Sprachproblem, in: Mariano Delgado u. a. (Hg.), Das Christentum in der Religionsgeschichte (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 16), Freiburg i. Ue. 2011, 165–178. Thomas Schärtl, Können Sätze unfehlbar sein? Sprachphilosophische Überlegungen in theologischer Absicht, in: Catholica 57 (2003), 124–148. Hermann J. Pottmeyer, Auf fehlbare Weise unfehlbar? Zu einer neuen Form päpstlichen Lehrens, in: Stimmen der Zeit 217 (1999), 233– 242. Hans Waldenfels, „Unfehlbar“. Überlegungen zur Verbindlichkeit christlicher Lehre, in: Stimmen der Zeit 214 (1996), 147–159.
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tisch“ und „intrinsezistisch“ 7 charakterisierbar sind (2.). Im ersten Fall geht es darum, die päpstliche Unfehlbarkeit als äußere „Garantie“ für die Authentizität der Weitergabe des christlichen Glaubens auszuweisen und die Kriterien für ihre sachgemäße Ausübung durch den Inhaber des höchsten kirchlichen Lehramtes festzustellen. Im zweiten Fall werden Inhalt und Geltungsanspruch des Redens von Unfehlbarkeit in Beziehung gesetzt zum Inhalt authentischer Glaubensverkündigung, wobei evangeliumsgemäße Kriterien für die Ermittlung dieser Authentizität eine besondere Rolle spielen. Das Ergebnis dieser Abwägung fließt ein in das abschließende Plädoyer für ein Verständnis der Kategorie „Unfehlbarkeit“, das sie als existenzielle Verlässlichkeit der im Evangelium offenbar werdenden Zuwendung Gottes zum Menschen ausbuchstabiert (3.). Dass dieses Verständnis auch unmittelbar Folgen hat für eine Ausübung des Papstamtes, die auf Machtworte verzichtet, wird sich gleichsam von selbst ergeben (4.).
1. Irrtumsfrei und unabänderlich – oder: Wie definiert das Erste Vaticanum die päpstliche Unfehlbarkeit? Zwar wird das Thema „Unfehlbarkeit“ in der Systematischen Theologie meist im ekklesiologischen Kontext bei der Erörterung des „Petrusamtes“ behandelt. 8 Es hat aber eine zumindest ebenso große Relevanz für eine theologische Erkenntnislehre. 9 Dort wird diskutiert, ob und inwieweit 7
Zu diesem Begriffspaar siehe Max Seckler, Fundamentaltheologie. Aufgaben und Aufbau, Begriff und Namen, in: Walter Kern u. a. (Hg.) Handbuch der Fundamentaltheologie 4. Traktat theologische Erkenntnislehre, Tübingen u. a. 22000, 331–402, hier: 398–400. 8 Vgl. exemplarisch Georg Kraus, Die Kirche. Gemeinschaft des Heils: Ekklesiologie im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils, Regensburg 2012, 347–357. Wolfgang Klausnitzer, Kirche, Kirchen und Ökumene, Regensburg 2010, 288–303. Jürgen Werbick, Grundfragen der Ekklesiologie, Freiburg i. Br. 2009, 170–178. Walter Simonis, Die Kirche Christi. Ekklesiologie, Düsseldorf 2005, 166–180. Jürgen Werbick, Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg i. Br. 1994, 384. 397. Medard Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 1992, 359– 366. Ulrich Horst, Umstrittene Fragen der Ekklesiologie, Regensburg 1971, 146–157. 9 Vgl. etwa Hans-Joachim Höhn, Praxis des Evangeliums – Partituren des Glaubens.
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die authentische Vergegenwärtigung der in Jesus von Nazareth Gestalt und Ereignis gewordenen Selbstoffenbarung Gottes durch das Zusammenspiel der Größen „Heilige Schrift – Tradition – Lehramt“ gewährleistet werden kann. Mittels dieses Arrangements will sich die Theologie aus einer Verlegenheit befreien, in die sie unweigerlich gerät, wenn sie von einer geschichtlichen Selbstvergegenwärtigung Gottes spricht und für dieses Geschehen das Merkmal der Unüberbietbarkeit beansprucht. Dieser Anspruch ist verbunden mit einem partikularen Ereignis in der Vergangenheit: das Leben und Sterben Jesu von Nazareth und die Nachricht von seiner Auferweckung. Wenn nun diese Ereignisfolge den Grund des Glaubens ausmacht, stellt sich das Problem, wie in der Gegenwart noch eine Begründung dieses Glaubens möglich sein kann, wenn dieser Grund dem Glaubenden im zeitlichen Sinne entzogen ist. Will man nämlich dem Glauben auf den Grund gehen, muss dieser Grund präsent und seine Präsenz auf Dauer zugänglich sein. Für das Christentum ergibt sich daraus die Herausforderung, das (vergangene) Ereignis einer Selbstvergegenwärtigung Gottes in der Zeit jeweils neu zu vergegenwärtigen. Denn nur wenn es möglich ist, trotz des zeitlichen Abstandes zum historischen Grundgeschehen der Offenbarung mit diesem Geschehen „gleichzeitig“ zu werden, ist die Annahme dieser Botschaft verantwortbar. Zur Bewältigung dieser Fragen wird in der Theologie auf die Bezeugungsinstanzen der Selbstmitteilung Gottes verwiesen: Heilige Schrift – Tradition – Lehramt. Allerdings löst diese Auskunft umgehend kritische Nachfragen aus: Gibt es im Blick auf den in der Theologie- und Kirchengeschichte immer wieder aufbrechenden Biblizismus, Traditionalismus und Dogmatismus nicht genügend Gründe für die Annahme, dass diese Größen das Evangelium Jesu von der unbedingten Zuwendung Gottes zum Menschen eher entstellt und den Zugang zu ihm verstellt haben? Häufig weichen Theologen diesem Einwand aus und verweisen auf beWege theologischer Erkenntnis, Würzburg 2015, 68–108. Wolfgang Beinert, Kann man dem Glauben trauen? Grundlagen theologischer Erkenntnis, Regensburg 2004, 118–138. Peter Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube – Überlieferung – Theologie als Sprach- und Wahrheitsgeschehen, Münster 2003, 252–275. Avery Dulles, Lehramt und Unfehlbarkeit, in: Walter Kern u. a. (Hg.) Handbuch der Fundamentaltheologie 4. Traktat theologische Erkenntnislehre, Tübingen u. a. 22000, 109–130. Walter Kern, Franz-Josef Niemann, Theologische Erkenntnislehre, Düsseldorf 1981, 153–172.
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sondere Vorkehrungen, die verhindern sollen, was kritisiert wird: Das Neue Testament ist ursprüngliches und für alle anderen Vermittlungsweisen maßgebliches Glaubenszeugnis. Über die authentische Überlieferung und Auslegung des Schriftzeugnisses wacht das kirchliche Lehramt. Was von Christen untrüglich zu glauben ist, halten seine unter dem Beistand des Hl. Geistes gefällten unfehlbaren Lehrentscheidungen fest. Damit Christen ebenso untrüglich sicher sein können, dass eine unfehlbare Lehrentscheidung vorliegt, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die das Subjekt, den Gegenstand und den Inhalt sowie den Vollzug einer Lehraussage betreffen. In der Konstitution Pastor aeternus des Ersten Vatikanischen Konzils heißt es hierzu (DH 3074): 10 Romanum Pontificem, cum ex Cathedra loquitur, id est, cum omnium Christianorum Pastoris et Doctoris munere fungens, pro suprema sua Apostolica auctoritate doctrinam de fide vel moribus ab universa Ecclesia tenendam definit, per assistentiam divinam, ipsi in beato Petro promissam, ea infallibilitate pollere, qua divinus Redemptor Ecclesiam suam in definienda doctrina de fide vel moribus instructam esse voluit; ideoque eiusmodi Romani Pontificis definitiones ex sese, non autem ex consensu Ecclesiae irreformabiles esse.
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„Wenn der Römische Bischof ‚ex cathedra‘ spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, dass eine Lehre über den Glauben oder das sittliche Leben von der gesamten Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er durch den ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistand jene Unfehlbarkeit, mit welcher der göttliche Erlöser seine Kirche in einer zu entscheidenden Lehre über den Glauben oder das sittliche Leben ausgestattet wissen wollte. Daher sind solche Entscheidungen des römischen Papstes aus sich heraus, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich.
Zur Textinterpretation siehe auch Peter Neuner, Der lange Schatten des I. Vatikanums. Wie das Konzil die Kirche heute noch blockiert, Freiburg i. Br. 2019, 54–70. Wolfgang Klausnitzer, Wie bleibt die Kirche in der Wahrheit? Fundamentaltheologische Klarstellungen und Fragen zum Dogma der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 124 (2002), 18–41, hier: 26– 29. Ders., Kirche, Kirchen und Ökumene, Regensburg 2010, 291–300. Heinrich Fries, Fundmentaltheologie, Graz u. a. 1985, 480–496 (Literatur). Hermann J. Pottmeyer, Das Unfehlbarkeitsdogma im Streit der Interpretationen, in: Karl Lehmann (Hg.), Das Petrusamt. Geschichtliche Stationen seines Verständnisses und gegenwärtige Positionen, München u. a. 1982, 89–109.
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Inwieweit diese Definition für sich eine theologische Plausibilität beanspruchen kann, ergibt sich aus den Koordinaten, mit denen auf dem Konzil die Größen „Offenbarung“ und „Glaube“ bestimmt werden. Das Erste Vaticanum hat in seiner Dogmatischen Konstitution über den katholischen Glauben Dei filius eine Konzeption gewählt, die Offenbarung als einen Akt der Mitteilung versteht, durch den Gott dem Menschen „die ewigen Ratschlüsse seines Heilswillens“ (DH 3004) kundgibt. Diesen Ratschlüssen hat der Mensch zu folgen, um sein Heil zu erlangen. Jesus Christus, der Mittler dieser göttlichen Beschlüsse, hat als Sohn Gottes dieses Heilswissen unmittelbar von Gott, gibt es an die Apostel und deren Nachfolger zuverlässig weiter, so dass diese ihrerseits den Bestand göttlicher Heilswahrheiten durch die Geschichte hindurch tradieren können. Sie haben Kenntnis über jene Inhalte, worüber Gott die Menschen belehrt und instruiert wissen will, und sie können gewährleisten, dass die Glaubenden zweifelsfrei wissen können, was sie zu glauben haben. Da der Glaube in der bereitwilligen Übernahme der von den Aposteln und ihren Nachfolgern vorgelegten „Heilslehre“ besteht, hängt es von der unverfälschten Weitergabe dieser Lehre ab, ob auf Dauer identifizierbar bleibt, was Gott in Wahrheit und Wirklichkeit dem Menschen offenbart hat und was der Mensch im Gehorsam gegenüber Gott anzunehmen und zu befolgen hat. Um dies sicherzustellen, ist der Kirche ein Beistand verliehen, kraft dessen sie untrüglich erkennen und definitiv bestimmen kann, was Gott für und von dem Menschen will. Kraft dieses Beistandes ist sie auch in der Lage, „infallibel“ festzustellen und in verbindlichen Auskünften eindeutig darüber zu informieren, was der Mensch um seines Heiles willen wissen und befolgen muss. „Und dieser Eindeutigkeit ist am besten gedient, wenn es eine Eindeutigkeit in der Zuständigkeit für die Definition der heilsnotwendigen Glaubenswahrheiten gibt. Eindeutigkeit erfordert Rechtssicherheit. Rechtssicherheit aber ist am besten dadurch gewährleistet, dass die Bedingungen klar gegeben und nachvollzogen werden können, unter denen eine Festlegung Gültigkeit erlangt.“ 11
Für Eindeutigkeit in der Zuständigkeit für die verbindliche Feststellung von authentischen Glaubensaussagen und für die notwendige Sicherheit
11
Werbick, Grundfragen der Ekklesiologie, 171.
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beim Vollzug dieser Feststellung will das „Unfehlbarkeitsdogma“ sorgen. Geklärt wird, wer gleichsam als Vollzugsorgan in Betracht kommt: der römische Papst, wenn er in Ausübung seines Amtes als Lehrer der Gesamtkirche agiert. Angegeben wird auch, woran erkennbar ist, ob er kraft seines Amts tätig ist: Er muss „ex cathedra“ zur Gesamtkirche sprechen. Zwar ist in diesem Fall die Gesamtkirche lediglich die Adressatin seiner Lehrverkündigung und Subjekt unfehlbarer Glaubensverkündigung ist der Papst kraft seines Amtes. Aber ihm kommt diese Unfehlbarkeit nicht exklusiv oder als persönliches Privileg zu. Vielmehr wird durch ihn (in einzelnen Akten) manifest, womit die gesamte Kirche ausgestattet ist: Infallibilität. Die Infallibilität von Papst und Kirche ist gleichsam eine „Resonanzgröße“, das heißt, Verkünder und Empfänger von Glaubenswahrheiten befinden sich in demselben „Schwingungsbereich“, innerhalb dessen ein Impuls einen Widerhall auslösen kann (vergleichbar dem Mitschwingen einer nicht gespielten Gitarrensaite, wenn ein gleichgestimmtes Instrument ertönt). Aus dem der Kirche verheißenen Beistand bzw. ihrem Eingestimmtsein auf die Heilsratschlüsse Gottes ergibt sich auch, dass sie nicht von sich aus hervorbringen kann, was sie ausmacht, womit sie steht und fällt und was für die Glaubenden als letztgültiges, unhintergehbares und unüberholbares („irreformabile“) Glaubensgut anzusehen ist. Was für die Kirche und ihren Glauben konstitutiv ist, wird nicht von ihr selbst konstituiert, das heißt, es ist aus sich heraus („ex sese“), nicht aufgrund der Zustimmung der Gemeinschaft der Glaubenden gültig und verbindlich. 12 Die Wendung „ex sese“ bezieht sich nicht auf die Person des Papstes, als könne er allein, quasi, im Alleingang und an nichts gebunden, selbstherrlich dekretieren, was in der Kirche als unabänderlich zu gelten habe. Grammatisch ist dieses Reflexivpronomen auf das Subjekt des Satzes („definitiones“) zu beziehen. Demnach müssen die betreffenden Lehrent12
Auch die Verfechter einer „Konsenstheorie der Wahrheit“ vertreten nicht die Auffassung, dass eine Meinung oder Auffassung durch Zustimmung (der Adressaten eines Sprechaktes) „wahr“ wird, sondern dass ihre Wahrheit, das heißt, sachliche Richtigkeit und argumentative Vertretbarkeit, der Zustimmung vorausgeht. Insofern gilt: Das Wahre zeichnet sich auch dadurch aus, dass es Zustimmung verdient. Vgl. Peter Scharr, Consensus fidelium. Zur Unfehlbarkeit der Kirche aus der Perspektive einer Konsenstheorie der Wahrheit (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 6), Würzburg 1992.
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scheidungen derart sein, dass sie nicht wegen der Autorität des Papstes, sondern wegen ihres Gegenstandes und Inhaltes als unwiderruflich oder unabänderlich in Betracht kommen. Um dies zu klären, müssen Gegenstandsbereich, Referenzgröße und Reichweite infallibler Lehrentscheidungen bestimmt werden. Laut Erstem Vaticanum kommt hierfür allein der Bereich von Glaube und Sitten in Frage. Maßgeblich für den Inhalt einer Lehrentscheidung ist der Bestand jenes geoffenbarten „Heilswissens“, welcher das „depositum fidei“ ausmacht: „Den Nachfolgern des Petrus wurde der Heilige Geist nämlich nicht verheißen, damit sie durch seine Offenbarung eine neue Lehre ans Licht brächten, sondern damit sie mit seinem Beistand die durch die Apostel überlieferte Offenbarung bzw. die Hinterlassenschaft des Glaubens heilig bewahren und getreu auslegen“ (DH 3070). Damit wird klargestellt, woran der Papst bei infalliblen Lehrentscheidungen gebunden ist: Gegenstand und Inhalt seiner Entscheidung müssen materialiter aus dem „depositum fidei“ stammen und sie müssen interpretierbar sein als Auslegung jener göttlichen Ratschlüsse, in denen der Heilswille Gottes offenbar wird.
2. Unter besonderen Umständen – oder: Lässt sich Unfehlbarkeit formal hinreichend bestimmen? Von einem dem Paradigma „Instruktion“ verpflichteten Offenbarungsund Glaubensverständnis her erschließt sich auch, dass das Erste Vaticanum ein „extrinsezistisches“ Konzept von „Unfehlbarkeit“ vertritt, das die Authentizität, Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit von Glaubensaussagen von bestimmten äußeren Bedingungen und Umständen ihrer „Definition“ ableitet. Dass Schrift, Tradition und Lehramt glaubwürdige Bezeugungsinstanzen einer göttlichen Offenbarung sind, macht man in diesem Konzept nicht allein daran fest, dass diese Größen die Beglaubigung der Inhalte des christlichen Glaubens und ihrer Weitergabe leisten (das heißt, gleichsam als Bürgen auftreten). Vielmehr will man nachweisen, dass sie ihrerseits durch bestimmte äußere Umstände als rechtens verbürgt sind: Das Neue Testament ist das früheste Zeugnis der Verkündigung Jesu. Als in diesem Sinne Ur-Kunde des Glaubens ist es wegen seiner apostolischen Verfasserschaft zugleich sein ursprüngliches und für alle anderen Vermittlungsweisen maßgebliches Zeugnis. Die Wahrheit
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dieses Zeugnisses sieht man verbürgt durch die „Inspiration“ der Autoren der neutestamentlichen Schriften. Die Tradition besteht dann in der ungebrochenen, kontinuierlichen Weitergabe dieses ursprünglichen Zeugnisses – beginnend bei den Zeugen der Verkündigung Jesu und über die schriftliche und mündliche Überlieferung ihres Zeugnisses sich fortsetzend bis in die Gegenwart. Die Authentizität dieser Überlieferung sieht man wiederum verbürgt durch die „externe“ Instanz des kirchlichen Lehramtes, das sich wiederum auf den „äußeren“ Beistand des Hl. Geistes berufen kann. Die extrinsezistische Deutung des Zusammenwirkens von Schrift, Tradition und Dogma/Lehramt weist den Konstruktionsfehler auf, dass sie den Nachweis einer authentischen Weitergabe der christlichen Botschaft bereits dadurch erfüllt sieht, dass die jeweils beteiligten Größen mit bestimmten Gütesiegeln ausgestattet werden. Dieses Vorgehen, das uns auch bei säkularen Zertifizierungsverfahren („Blauer Engel“, Bio-Produkte, TÜV-Zeichen etc.) begegnet, führt jedoch nicht zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Inhalt, sondern sorgt eher dafür, dass dieser entweder unkritisch angenommen wird oder dass kritische Rückfragen an die Qualität des Gütesiegels gestellt werden. Bei diesen Nachfragen droht überdies ein „regressus ad infinitum“. Man kann und muss permanent das Zertifizieren von Zertifizierungen zertifizieren, ohne dass jemals das Beglaubigen von Beglaubigungen zu einem glaubwürdigen Abschluss kommt. 13 Jede formale Bestimmung, unter welchen äußeren Umständen berechtigterweise ein Unfehlbarkeitsanspruch erhoben werden kann, bedarf weiterer Prüfkriterien, anhand derer diese Berechtigung verifiziert werden kann. So lässt etwa die Angabe „ex cathedra“ weithin offen, ob 13
Nur vermeintlich lässt sich dies umgehen, wenn zur supranaturalistischen adhoc-Annahme eines Eingreifens des Hl. Geistes gegriffen wird, dessen Intervention entweder eine päpstliche Fehlentscheidung verhindern oder eine notwendige Klärung herbeiführen soll. In beiden Fällen wird sogleich die Frage nach Kriterien für eine Erkenntnis solcher „geistgewirkter“ Aktionen bzw. nach der Möglichkeit der Erstellung solcher Kriterien aufgeworfen. Letztlich droht hier ein „Münchhausentrilemma“ (vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Studien in den Grenzbereichen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 9), Tübingen 1968): unendlicher Regress oder Zirkelschluss oder willkürlicher Abbruch des Begründungsverfahrens mit dogmatischer Setzung einer „Letztbegründung“.
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damit eine besondere Formel oder ein spezifischer Ablauf der Proklamation unfehlbarer Lehrentscheidungen im Unterschied zur „nicht unfehlbaren“ Glaubensverkündigung gemeint ist. Hierfür müssten weitere Kriterien gefunden werden, über deren Anwendung wiederum weitere Ausführungsbestimmungen zu erlassen wären. Das Erste Vaticanum hat diese Fragen nicht explizit geklärt. Der Vermutung, dass päpstliche Lehrentscheide „ex opere operato“ ihre Gültigkeit und Wirksamkeit entfalten, wird keine Nahrung gegeben. 14 Das kirchliche „Unfehlbarkeitsdogma“ schafft zwar Eindeutigkeit und Rechtssicherheit hinsichtlich der Zuständigkeit für die Definition verbindlicher Glaubensaussagen („Papst und Gemeinschaft der Bischöfe in Einheit mit dem Papst“). Es nennt Basis und Geltungsgrenzen dogmatischer Festlegungen („Hinterlage der göttlichen Offenbarung“). Aber es bleibt vage bei der Festlegung von Bedingungen, unter denen eine solche Definition gültig („ex cathedra“) aufgestellt wird. Und ebenso lässt es offen, in welcher Hinsicht sich der Gegenstandsbereich möglicher unfehlbarer Lehrentscheidungen nicht allein auf die christliche Glaubenslehre, sondern auch auf das sittliche Leben der Glaubenden („mores“) erstreckt. 15 Geht es dabei um einen Bestand sittlicher Normen, deren Kenntnis sich ebenfalls einer göttlichen Offenbarung verdankt? Handelt es sich um Normen und Werte, die exklusiv christlich sind und das Pro14
Im CIC/1917 can. 1323 § 3 findet sich die lapidare Aussage: „Declarata seu definita dogmatice res nulla intelligitur, nisi id manifeste constiterit.“ Im CIC/1983 can. 749 § 3 heißt es: „Als unfehlbar definiert ist eine Lehre anzusehen, wenn dies offensichtlich feststeht.“ Es ist bemerkenswert, dass sich im historischen Rückblick ohnehin nur wenige Lehrentscheide ermitteln lassen, die – wie das Dogma von der „leiblichen Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel“ (1950) – dezidiert für sich diesen „definitiven“ Status reklamieren können. Vgl. dazu ausführlich Klaus Schatz, Welche bisherigen Lehrentscheidungen sind ‚ex cathedra‘ ?, in: Werner Löser u. a. (Hg.), Dogmengeschichte und katholische Theologie, Würzburg 1985, 404–422. 15 Der Terminus „Sitten“ hat in der Theologie geraume Zeit nicht für die Auslegung des Glaubens im Medium der Moral bzw. für ein außerhalb des Glaubens zu verortendes Sinn- und Handlungsfeld gestanden. Vielmehr waren damit vor allem Praktiken gemeint, die im weitesten Sinn jenes „Brauchtum“ umfassen, das der Auferbauung und Ausgestaltung eines gottgefälligen Lebens im Raum der Kirche dient. Vgl. dazu Johannes Beumer, Res fidei et morum. Die Entwicklung eines theologischen Begriffs in den Dekreten der drei letzten Ökumenischen Konzilien, in: Annuarium Historiae Conciliorum 2 (1970), 112–134.
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prium des Christseins ausmachen? Will man klarstellen, dass der Glaube nicht folgenlos ist für das moralische Handeln des Menschen? Oder beansprucht das kirchliche Lehramt eine eigene Auslegungskompetenz für das „natürliche Sittengesetz“, das doch eigentlich mit den Mitteln der Vernunft hinreichend erkennbar ist? 16
3. Worauf unbedingt Verlass ist – oder: Was macht die existenziell relevante Wahrheit des Glaubens aus? Bei dem Versuch einer extrinsezistischen Absicherung der authentischen Weitergabe und Auslegung des Evangeliums spielt die existenzielle Relevanz des Evangeliums, die mit den „Heilsratschlüssen“ Gottes in Beziehung zu setzen ist, keine kriteriologisch bedeutsame Rolle. Sämtliche Indikatoren einer unfehlbaren Lehrentscheidung werden bezogen auf „Äußerlichkeiten“ ihres Zustandekommens und auf Vollmachten der daran beteiligten Personen, die ihnen kraft ihres Amtes zukommen. Dabei wird ausgeblendet, dass ohne eine inhaltliche Bestimmung, was am Heilswillen Gottes bzw. am christlichen Glauben selbst weder relativierbar noch material überbietbar ist, gerade nicht erfasst wird, was Glaubensaussagen „ex sese“ zustimmungsfähig, unüberholbar und endgültig („irreformabel“) macht. 17 Hierfür kommen nur solche existenziell belangvollen (Heils-)Wahrheiten in Betracht, auf die man sich im Guten wie im Schlechten verlassen kann, weil sie etwas Beständiges und Bleibendes vergegenwärtigen, das im Leben wie im Sterben trägt. Unter dieser Rücksicht muss „Unfehlbarkeit“ als „unbedingte Verlässlichkeit“ verstanden und auf den Inhalt des christlichen Glaubens, das heißt, auf die Heilszusage der Gemeinschaft mit Gott bezogen werden. Vor diesem Hintergrund wird das eingangs angesprochene Problem der „Ungleichzeitigkeit“ virulent, wenn es gilt, in der Gegenwart dem 16
Vgl. hierzu ausführlich Josef Schuster, Ethos und kirchliches Lehramt. Zur Kompetenz des Lehramtes in Fragen der natürlichen Sittlichkeit (Frankfurter Theologische Studien 31), Frankfurt 1984. 17 Zum Folgenden siehe auch Hans-Joachim Höhn, Unfehlbar? Über die Suche nach existenziell verlässlichen Wahrheiten, in: Michael Seewald (Hg.), Glaube ohne Wahrheit?, Freiburg i. Br. 2018, 119–137.
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Glauben auf den Grund zu gehen. Wer sein Leben gründen will auf die Botschaft Jesu, dass jeder Mensch Adressat einer unbedingten und unwiderruflichen Zuwendung Gottes ist, gegen die auch der Tod nicht ankommt, kann sich der Vertrauenswürdigkeit dieser Botschaft nicht anders vergewissern als in der direkten Begegnung mit dieser Zusage, deren Wahrheit den Glauben zugleich weckt und trägt. Kirchliche Glaubenslehre ist nur dann authentisch, wenn sie wie die Verkündigung Jesu in Wort und Tat erschließt, wovon sie spricht bzw. wenn sie wie eine Partitur vergegenwärtigt, worauf sie verweist: Gottes voraussetzungs- und ausnahmslose Zuwendung zum Menschen. Diese Koinzidenz von Vollzug und Gehalt hat kriteriologische Bedeutung für alle bei der geschichtlichen Erschließung und Vermittlung des Evangeliums beteiligten Instanzen. Ein Dogma ist daher nur insoweit normativ für die Weitergabe des Glaubens, wie es selbst zur Partitur einer Übersetzung von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung Gottes zum Menschen wird. Will man keinem extrinsezistischen Missverständnis der Kategorie „Unfehlbarkeit“ erliegen, muss man ihre Bedeutung ableiten vom Gehalt der christlichen Botschaft und zeigen, dass dieser Gehalt die Charakteristika einer existenziellen Wahrheit besitzt. Dann gilt: „Der Anspruch auf Unfehlbarkeit kann einer Glaubensaussage nicht äußerlich sein, weil Glaube im Sinn der christlichen Botschaft sich nur auf schlechthin Verlässliches beziehen kann.“ 18 Eine Botschaft kann nur dann „aus sich“ wahr sein, wenn sich die Wirklichkeit, von der sie redet, durch diese Botschaft selbst einstellt – wie dies etwa der Fall ist bei einer Partitur, die man spielen muss, damit man hören kann, was sie zeigt. Alle Prädikate, die bei der extrinsezistischen Deutung des Unfehlbarkeitsdogmas dem Verfahren und Resultat oder dem Autor einer dogmatischen Letztentscheidung zugeschrieben werden, charakterisieren vor diesem Hintergrund zunächst die Grundbotschaft Jesu vom unkündbaren, untrüglichen und unüberholbaren, existenziell verlässlichen Entgegenkommen Gottes. Das Evangelium ist jedoch nicht derart „irrtumslos“, dass die Orientierung an ihm den Menschen davor schützt, im Leben Fehler zu machen und in mancherlei Angelegenheiten in die Irre zu gehen. Vielmehr kann sie ihn davor bewahren, sein Leben für „Irrsinn“ zu 18
Peter Knauer, Der Glaube kommt vom Hören. Ökumenische Fundamentaltheologie, Norderstedt 72015, 299.
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halten, weil er meint, sich in dieser Welt nur den Tod zu holen. Gegen den „Fehlschluss“ eines nichtigen Daseins steht die Zusage von Gottes Solidarität mit dem Menschen, die den Tod entmachtet und überdauert. Sich darauf einzulassen heißt zu finden, worauf der Vollzug des Glaubens aus ist: das Verlässliche angesichts des Vergänglichen, Stehvermögen im Unbeständigen, Halt trotz des Haltlosen. „Unfehlbarkeit“ ist demnach keine Eigenschaft von kirchlichen Amtsträgern, die bestimmte Aussagen über Glaube und Moral machen, und ebenso wenig ein Qualitätssiegel für das dabei gewählte Vorgehen. Vielmehr kann nur jener Inhalt von Aussagen, die man dem „depositum fidei“ zurechnet, „unfehlbar“ sein, wenn man sich darauf ohne Wenn und Aber im Leben und angesichts des Todes verlassen kann. Nur solche Aussagen vermitteln – wie es in der Dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Offenbarung heißt – jene Wahrheit, die Gott „um unseres Heiles willen […] aufgezeichnet haben wollte“ (DV 11). Was nicht den Charakter einer solchen Heilswahrheit hat, kann nicht als Gegenstand einer unfehlbaren Glaubenslehre in Betracht kommen.
4. Kompetenzanmaßung – oder: Woran zeigt sich ein verfehltes Verständnis von Unfehlbarkeit? Ein „intrinsezistisch“, das heißt, in der Kernbotschaft des Evangeliums verankertes Verständnis von Unfehlbarkeit schränkt den Inhalt und Radius dogmatischer Letztentscheidungen erheblich ein. Insofern widerstreitet es einer in den letzten Jahrzehnten beobachtbaren Tendenz in der Ausübung des päpstlichen Lehramtes, welche Gegenstandsbereich, Reichweite und Verbindlichkeit päpstlicher Lehräußerungen zu Glaubens- und Sittenfragen ausweiten oder in die Nähe unfehlbarer Lehrentscheide rücken wollen. Dazu gehört nicht zuletzt der Versuch, die Enzyklika Humanae vitae (1968) von Papst Paul VI. mit ihren Aussagen zum Verbot künstlicher Verhütungsmittel als zum verbindlichen Glaubensgut gehörig zu deklarieren. 19 Noch intensiver sind die Bemühungen, die im 19
Zu einer differenzierten Evaluation von Anspruch und Gehalt des Textes siehe Konrad Hilpert, Sigrid Müller (Hg.), Humanae vitae – die anstößige Enzyklika. Eine kritische Würdigung, Freiburg i. Br. 2018.
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Apostolischen Schreiben Ordinatio sacerdotalis (1994) von Papst Johannes Paul II. ausgesprochene Nichtzulassung von Frauen zur Priesterweihe als zum verbindlichen Glaubensgut gehörend und daher als „irreformabel“ der weiteren Diskussion zu entziehen. 20 Um solche Versuche zu erleichtern, hat man einen theologisch fragwürdigen Zusatz in die kirchenrechtlichen Bestimmungen zu den Inhalten der definitiven Glaubenslehre eingefügt. Das Motu Proprio von Papst Johannes Paul II. Ad tuendam fidem (1998) erinnert an den Treueid sowie an ein erweitertes Glaubensbekenntnis, die bei der Übernahme zahlreicher kirchlicher Ämter abzulegen sind, und schärft bei dieser Gelegenheit ein, dass bei definitiven Lehrinhalten zu unterscheiden ist, ob sie als formell von Gott geoffenbarte Wahrheiten zu glauben („credenda“) sind oder ob sie als mittelbar aus der Offenbarung folgend endgültig zu bewahren („tenenda“) sind. Kirchenrechtlich findet die schleichende Ausdehnung des Bereiches definitiver Glaubens- und Sittenlehre und der Zuständigkeit des Lehramtes für dessen Bestimmung ihren Niederschlag in einer Ergänzung von c.750 CIC/1983. Demnach muss „fest angenommen und bewahrt werden […] auch alles und jedes Einzelne, was vom Lehramt der Kirche in der Glaubens- und Sittenlehre definitiv vorgelegt wird, also das, was zur unversehrten Bewahrung und zur getreuen Darlegung des Glaubensgutes erforderlich ist“ (§ 2). Damit wird die Relation „Offenbarung-Glaube“ kriteriologisch relativiert und kirchliche Mutmaßungen über Erforder-
20
Am 28. 10. 1995 veröffentlichte die römische Glaubenskongregation eine Klarstellung zu aufgekommenen Zweifeln an der Verbindlichkeit dieser Entscheidung: „Diese Lehre fordert eine endgültige Zustimmung, weil sie auf dem geschriebenen Wort Gottes gründet und in der Überlieferung der Kirche von Anfang an beständig bewahrt und angewandt, vom ordentlichen und universalen Lehramt der Kirche unfehlbar vorgetragen worden ist.“ (L’Osservatore Romano. Deutsche Ausgabe vom 24. 11. 1995, 4). Zum Arsenal extrinsezistischer „Begründungen“ dieser Position siehe Norbert Lüdecke, Also doch ein Dogma? Fragen zum Verbindlichkeitsanspruch der Lehre über die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen aus kanonistischer Perspektive, in: Wolfgang Bock, Wolfgang Lienemann (Hg.), Frauenordination. Studien zu Kirchenrecht und Theologie 3, Heidelberg 2000, 41–119. Vgl. hierzu die Gegenposition von Johanna Rahner, Eine Frage der Theologie. Wie definitiv ist das Verbot der Frauenordination?, in: Herder Korrespondenz 71 (2017), 48–51. Norbert Scholl, Päpstliche Unfehlbarkeit. Warum eine kritische Revision jetzt notwendig ist, in: Stimmen der Zeit 143 (2018), 483–493.
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nisse zu Tradition und Interpretation des Glaubens rücken auf in den Rang definitiver Glaubenslehre. Kriterien für die Bestimmung der Unversehrtheit des zu Bewahrenden, für die Authentizität seiner Deutung und die Ermittlung hierfür zu leistender Erfordernisse werden nicht angegeben. Es liegt die Vermutung nahe, dass zu diesen Erfordernissen vor allem zählt, was die äußeren Bedingungen und Umstände kirchlicher Glaubensvermittlung verlangen. Welche Ansprüche vom Evangelium ausgehen, bleibt unerwähnt. Unfehlbarkeitsansprüche treten hier im Doppelpack auf und verfehlen doppelt, was sie letztlich legitimieren könnte. In vielen Fällen ist für lehramtliche Entscheidungen eine andere prekäre Doppelcodierung auszumachen. Das heißt, sie bestehen aus mindestens zwei Komponenten, die in eine nicht immer kohärente Beziehung gesetzt werden: aus einem Tatsachenurteil und aus einem normativen Werturteil. In einem Tatsachenurteil wird ein biologischer oder historischer Sachverhalt zur Kenntnis genommen, in einer normativen Aussage wird dazu wertend Stellung bezogen. Die Überzeugungskraft und die Gültigkeit einer lehramtlichen Äußerung sind jedoch nicht nur von der Normativität der theologischen Referenzgröße, sondern auch von der Richtigkeit der darin enthaltenen Tatsachenaussage abhängig. Eine solche Stellungnahme ist wiederum theologisch doppelt prekär, wenn sie ihren normativen Referenzpunkt in einer extrinsezistischen Berufung auf Schrift, Tradition und Lehramt hat und/oder wenn sich auf ein falsifizierbares Tatsachenurteil stützt. Eine fehlerhafte und fehlerbehaftete Beanspruchung von Unfehlbarkeit liegt vor, wenn einerseits die im Tatsachenurteil unterstellten Sachverhalte nachweislich nicht der Fall sind und/oder wenn eine lediglich extrinsezistische Bestätigung eines theologischen Werturteils vorgenommen wird. Bei solchen lehramtlichen Äußerungen zeigt sich: Theologisches Urteilen erwächst aus Bedingungszusammenhängen, die dem Glauben äußerlich sind und von denen her diesem Urteil zugleich seine materiale Bestimmung und situative Relevanz zuwachsen. Korrekturen im Bereich des Tatsachenurteils ziehen dann zwangsläufig Korrekturen auf der Ebene der dogmatischen Urteilsbildung und Handlungsorientierung nach sich. Sie können also keineswegs als „irreformabile“ ausgegeben werden. Mehr noch: Die Ergebnisse der auf empirischem oder historischem Weg unternommenen Tatsachenfeststellung sind per se korrekturoffen, irrtumsanfällig und fallibel. Für die Frage nach der Geltungsbasis einer als „unfehlbar“ präsentier-
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ten Glaubenslehre ergibt sich somit das Problem, dass man letztlich nicht an extrinsezistischen Sachverhalten und Maßstäben eine hinreichende Orientierung findet. Woran man Maß nehmen muss, wenn man eine dogmatisch überzeugende Aussage machen will, ist ohne intrinsezistische, von der Grundaussage des Evangeliums abgeleitete Kriterien nicht angebbar. Ist der Nachweis nicht möglich, dass es sich bei bestimmten Aussagen des kirchlichen Lehramtes um eine Begegnungsweise mit der christlichen Botschaft handelt, der man anders als im Vertrauen auf ihre existenzielle Verlässlichkeit nicht gerecht wird, kann es sich nicht mehr um Partituren des Glaubens handeln, deren Wahrheit und Wirklichkeit nur über ihren Vollzug zugänglich ist. In diesem Fall können mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit auftretende Lehrinhalte keine Rezeption mehr einfordern. Diese Bedingung der existenziellen Verlässlichkeit erfüllt kein unter jeweils anderer Rücksicht „wahrer“ Satz der historischen, empirischen oder praktischen Vernunft – weder jeweils für sich noch im Verbund mit Glaubensangelegenheiten. Sollte etwa versucht werden, die kirchenrechtlich fixierte Nichtzulassung von Frauen zu kirchlichen Weiheämtern weiterhin historisch abzustützen oder zusätzlich durch skurrile, scheinbar naturwissenschaftlich grundierte Behauptungen zur theologischen Relevanz der Geschlechterdifferenz 21 zu rechtfertigen und mitsamt dieser Begründung zugleich in den Rang eines Dogmas zu erheben, so könnte der damit verbundene Geltungsanspruch nicht eingelöst werden. So wenig – wie im Falle der Enzyklika von Papst Pius XII. Humani generis (1950) – monogenistische Spekulationen über den biologischen Ursprung der gesamten Menschheit aus einem einzigen „Urelternpaar“ ein Gegenstand des Glaubens (und eines Dogmas) sein können, so wenig trifft dies für historische Rekonstruktionen der Kirchenorganisation oder des Zugangs zu kirchlichen Ämtern zu. Sie liefern keine existenziellen Wahrheiten und ihre historische Richtigkeit ist der Falsifizierung ausgesetzt. Überdies ist kaum nachvollziehbar, dass ein Dogma, das prononciert eine negative Aussage hinsichtlich der liturgischen Repräsentanz des unbedingten Heilswillens Gottes formuliert, in Entsprechung zur Unbe21
Zu welchen bizarren Verrenkungen manche Theologen zur Verteidigung dieser Position bereit sind, demonstriert Ulrich Lüke, Jesu Männlichkeit oder Jesu Menschlichkeit? Humanwissenschaftliche und theologische Anfragen „an das nur Männern vorbehaltene Priesteramt“, in: Theologische Quartalschrift 198 (2018), 183–199.
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dingtheit dieses Heilswillens steht. Die Behauptung eines göttlichen Heilsratschlusses, der Frauen vom Priesteramt ausschließt, gibt bei gleichzeitiger Beteuerung der Gottebenbildlichkeit von Mann und Frau ein unlösbares Rätsel auf. Es muss in solchen Fällen nicht verwundern, wenn das päpstliche Lehramt auf seinem Unfehlbarkeitsanspruch einfach sitzen bleibt. Man nimmt ihm dann im Kirchenvolk weder den Anspruch ab, das Sagen zu haben, noch folgt man ihm in der Sache, zu der es meint, etwas zu sagen zu haben.
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Im Zeichen des Jurisdiktionsprimats Wird nach den strukturellen und mentalitätsmäßigen Langzeitwirkungen des Ersten Vatikanischen Konzils und näherhin nach den Konsequenzen des Dogmas vom Jurisdiktionsprimat gefragt, fällt der Blick des Kirchenrechtlers sogleich auf c. 331 des derzeit geltenden, im Codex Iuris Canonici (CIC) kodifizierten kirchlichen Rechts (bzw. auf die gleichlautende Bestimmung des c. 43 im Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen): „Der Bischof der Kirche von Rom […] verfügt […] kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann.“ 1
Die Attribute, mit denen die päpstliche Gewalt hier näher bestimmt wird, sind aus der Definition des Jurisdiktionsprimats im dritten Kapitel der Dogmatischen Konstitution Pastor Aeternus übernommen. Bis in den Wortlaut hinein bietet die Norm eine getreue Umsetzung der dogmatisch-theologischen Vorgaben des Ersten Vatikanischen Konzils. 2
1. Eine kurze Entfaltung des Jurisdiktionsprimats Die Gewalt des Papstes ist höchste kirchliche Gewalt. Deshalb kann es in der Kirche niemanden geben, der fähig wäre, über den Papst zu richten
1
Der maßgebliche lateinische Gesetzestext lautet: „Ecclesiae Romanae Episcopus […] vi muneris sui suprema, plena, immediata et universali in Ecclesia gaudet ordinaria potestate, quam semper libere exercere valet.“ 2 In der entscheidenden Passage von Pastor Aeternus heißt es: „Si quis itaque dixerit, Romanum Pontificem habere tantummodo officium inspectionis vel directionis, non autem plenam et supremam potestatem iuris dictionis in universam Ecclesiam, […] aut hanc eius potestatem non esse ordinariam et immediatam sive in omnes ac singulas ecclesias sive in omnes et singulos pastores et fideles: anathema sit“ (Dogmatische Konstitution Pastor Aeternus, in: Acta Sanctae Sedis 6 (1870/71), 40–47, hier: 44 f., auch: DH 3064; Hervorhebungen: GB).
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und seine Entscheidungen zu überstimmen oder zu korrigieren. 3 Gäbe es eine solche Instanz, müsste sie mit höherer Gewalt ausgestattet sein als der Papst und die päpstliche Gewalt wäre nicht Höchstgewalt. Auch ein Ökumenisches Konzil steht nicht über dem Papst. Die im Mittelalter ausnahmsweise als zulässig angesehene Möglichkeit, gegen eine Maßnahme des Papstes das Konzil anzurufen, 4 ist nach geltendem Kirchenrecht eine Straftat (c. 1372 CIC). 5 Die Höchstgewalt erstreckt sich nicht nur auf rechtserhebliche Entscheidungen des Papstes. Auch seine lehrmäßigen Positionen entziehen sich rechtlich der Überprüfung durch eine andere Instanz. 6 Die Feststellung, eine vom Papst vertretene Auffassung sei falsch oder gar häretisch, wäre Ausdruck eines Urteils über den Papst, das wegen seines Jurisdiktionsprimats einem anderen Menschen nicht zusteht. Die Jurisdiktionsgewalt des Papstes ist zudem umfassende Vollgewalt: Sie bezieht sich auf alle Sachbereiche. Nach lehramtlichem Selbstverständnis gibt es nichts, was einer Regelung durch den Papst entzogen wäre. 7 Er ist oberster Lehrer der Kirche und ihr oberster Priester und 3
Diese Konsequenz aus dem Jurisdiktionsprimat wird auch in Pastor Aeternus gezogen: Das „Urteil des Apostolischen Stuhls, über dessen Autorität hinaus es keine größere gibt, darf von niemandem neu erörtert werden, und keinem ist es erlaubt, über sein Urteil zu urteilen“ (DH 3063). C. 1404 CIC verdichtet diese Aussage (wie schon der gleichlautende c. 1556 CIC/1917) zu der Norm: „Prima Sedes a nemine iudicatur.“ 4 Diese Idee des so genannten „Konziliarismus“ kulminiert im Dekret Haec Sancta des Konzils von Konstanz (Mansi 27, 590–591), vgl. zu diesem Dekret: Klaus Schatz, Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, Paderborn 22008, 139 f., 145–147; zum Konziliarismus allgemein vgl. ebd., 123–164. 5 C. 1372 CIC sieht die Verhängung einer Beugestrafe vor. Nach c. 2332 CIC/1917 galten jene, die gegen Entscheidungen des Papstes an ein Ökumenisches Konzil appellierten, als der Häresie verdächtig; sie zogen sich die Tatstrafe der Exkommunikation zu. Solche Strafbestimmungen sind in Pastor Aeternus grundgelegt. Danach „irren vom rechten Pfad der Wahrheit ab, die behaupten, man dürfe von den Urteilen der Römischen Bischöfe an ein ökumenisches Konzil als an eine gegenüber dem Römischen Bischof höhere Autorität Berufung einlegen.“ (DH 3063). 6 Nach Pastor Aeternus erstreckt sich der Jurisdiktionsprimat sowohl auf Angelegenheiten, die Disziplin und Leitung der Kirche betreffen, als auch „in rebus, quae ad fidem et mores“, also auf Glaubens- und Sittenfragen (DH 3064). 7 Seinen rechtlichen Ausdruck findet dieses Selbstverständnis in c. 747 § 2 CIC, wonach es der Kirche – und folglich insbesondere dem Papst als höchster kirchlicher
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Liturge. Als oberster Leiter der Kirche ist der Papst höchster Gesetzgeber, höchster Richter und Letztentscheider im Bereich der kirchlichen Verwaltung. Er verfügt insbesondere über die Kompetenz-Kompetenz, das heißt: Er legt die Reichweite aller Zuständigkeiten – inklusive seiner eigenen – fest. Eine Gewaltenteilung, wie sie zum Selbstverständnis demokratisch verfasster Staaten gehört, gibt es in der monarchisch verfassten römischkatholischen Kirche nicht; sie wäre mit der Rechtsstellung des Papstes als absolutem Souverän unvereinbar. Die Jurisdiktionsgewalt des Papstes ist unmittelbare und universale Gewalt, sie gilt weltweit und gegenüber allen Katholikinnen und Katholiken – auch gegenüber den Bischöfen. Der Papst kann sich mithin unmittelbar in die Amtsausübung jedes Bischofs einschalten. Seine Gewalt erstreckt sich nicht nur auf die Gesamtkirche; vielmehr besitzt er, wie c. 333 § 1 CIC klarstellt, „auch über alle Teilkirchen und deren Verbände einen Vorrang ordentlicher Gewalt“. 8 Der Papst kann in jeder Diözese jederzeit – nicht nur im Ausnahme- oder Konfliktfall – tun, was der Diözesanbischof zu tun vermag. Macht er von dieser Möglichkeit Gebrauch, hat seine Maßnahme als Ausübung päpstlicher Höchstgewalt Vorrang vor etwaigen Maßnahmen des Bischofs. Die so konzipierte Höchstgewalt kann der Papst nach c. 331 CIC jederzeit frei ausüben. Frei ist er nicht zuletzt im Umgang mit den rechtlichen Bestimmungen. Sofern es ihm gerechtfertigt erscheint, kann er sich jederzeit darüber hinwegsetzen. Wann es gerechtfertigt ist, entscheidet er allein. Der Papst ist dominus canonum, Herr des Gesetzes. Jede rechtliche Bindung oder Einschränkung im Ob und im Wie päpstlichen Handelns ist ausgeschlossen. Der Papst ist nur seinem Gewissen, dem inneren Anspruch seines Amtes, der Offenbarung und der Kirche verpflichtet. Was vor diesem Hintergrund vom Papst gefordert ist, entscheidet – in seiner
Autorität – zukommt, über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es erfordern. Ob und wann dieses Erfordernis im Einzelfall besteht, entscheidet der Papst. 8 Vgl. auch dazu Pastor Aeternus: „Wir lehren demnach und erklären, dass die Römische Kirche auf Anordnung des Herrn den Vorrang der ordentlichen Vollmacht über alle anderen hat […] ihr gegenüber sind die Hirten und Gläubigen jeglichen Ritus und Ranges […] zu hierarchischer Unterordnung und wahrem Gehorsam verpflichtet.“ (DH 3060).
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Verantwortung vor Gott – allein der Papst. Auch darin zeigt sich seine Kompetenz-Kompetenz.
2. Rechtliche Abhängigkeit der Bischöfe vom Papst Von der dogmatischen Definition des Ersten Vaticanums her ist der Papst als Alleinherrscher konzipiert. Die kodikarischen Normen bilden diese theologische Vorgabe ab und entfalten sie. Es wird deutlich: In rechtlicher Hinsicht sind dem Papst keine Grenzen gesetzt. Der Papst kann alles! Und: Er allein verfügt über solche Machtfülle! Für Autoritäten neben dem Papst ist in dieser Konzeption kein Platz. Zwar waren einzelne Diskussionsbeiträge während des Ersten Vatikanischen Konzils darauf bedacht, die Vorrangstellung des Papstes zu relativieren und die Bedeutung des Bischofsstandes und der Einzelbischöfe zu betonen. In der dogmatischen Definition des Konzils und den daraus abgeleiteten rechtlichen Bestimmungen schlug sich das jedoch nicht nieder. Die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils befassten sich ausführlicher mit den Bischöfen und ihren Kompetenzen. Das Bischofskollegium rückte als weiterer Träger kirchlicher Höchstgewalt neben dem Papst in den Blick (LG 22). Am hierarchischen Gefälle zwischen Papst und Bischöfen hat sich dadurch rechtlich nichts geändert. Die Ausübung kirchlicher Höchstgewalt durch das Bischofskollegium ist in doppelter Weise abhängig vom Papst: Es existiert erstens nicht ohne den Papst als Haupt des Kollegiums und kann Akte kirchlicher Höchstgewalt nicht ohne die Mitwirkung dieses Hauptes setzen (c. 336 CIC); zweitens entscheidet allein der Papst, ob er Akte kirchlicher Höchstgewalt persönlich setzt oder ob er das Bischofskollegium beteiligt (c. 333 § 2 CIC). Die einzelnen Diözesanbischöfe sind zwar von Rechts wegen mit jenen Kompetenzen ausgestattet, die sie für die Wahrnehmung ihrer Leitungsaufgabe benötigen – was dafür im Einzelnen erforderlich ist, entscheidet jedoch der Papst. Er hat das Recht, bischöfliche Kompetenzen fallweise oder auf Dauer einzuschränken (c. 381 § 1 CIC) und jederzeit in die diözesanbischöfliche Leitung der Teilkirche einzugreifen (c. 333 § 1 CIC). 9 9
Vgl. Georg Bier, Die Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Codex Iuris
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3. Primatsgeprägte Alltagskultur … Die skizzierte Rechtslage ist nicht bloß ein theoretisches Konzept, das nur in seltenen Konfliktfällen Bedeutung entfaltet und im Übrigen ohne praktische Relevanz bleibt. Vielmehr hat sich in der römisch-katholischen Kirche im Horizont des Dogmas vom Jurisdiktionsprimat und seiner rechtlichen Ausgestaltung eine Alltagskultur etabliert, die vom Jurisdiktionsprimat und seiner Geltendmachung beeinflusst und geprägt wird – mal unmittelbarer und mal beiläufiger, mal mehr und mal weniger direkt.
3.1 … in Angelegenheiten von Lehre und Disziplin Bei den „großen“, innerkirchlich – zumindest hierzulande – als wichtig angesehenen Fragen von kirchlicher Lehre und kirchlicher Disziplin bilden die Vorgaben des päpstlichen Lehramts nach kirchlichem Selbstverständnis die einzige, universalkirchlich verbindliche Richtschnur. Das zeigt sich exemplarisch im kirchenamtlichen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Jahrzehntelang war maßgeblich, was Papst Johannes Paul II. 1981 in seinem Schreiben Familiaris consortio 10 vorgegeben hatte: Bei allem Verständnis für die unterschiedlichen Situationen einzelner Betroffener sei unbedingt und strikt daran festzuhalten, dass wiederverheiratete Geschiedene keinesfalls zum Eucharistieempfang zugelassen werden könnten (Familiaris consortio 84). Die in der theologischen Wissenschaft formulierten kritischen Anfragen an diese Vorgabe verhallten ungehört. Ergebnislos blieb 1993 auch ein vielbeachteter Vorstoß der deutschen (Erz-)Bischöfe Saier, Lehmann und Kasper, die sich in einem gemeinsamen Hirtenwort für eine vorsichtige und behutsame Lockerung des rigorosen Verbots aussprachen. 11 Nachdem die Kongregation Canonici von 1983 (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 32), Würzburg 2001, 140–144. 10 Johannes Paul II., Nachsynodales Schreiben ‚Familiaris consortio‘ vom 22. November 1981, in: Acta Apostolicae Sedis 74 (1982), 81–191. 11 Die Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz, Hirtenschreiben und Grundsätze ‚Zur seelsorglichen Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen und von Wiederverheirateten Geschiedenen‘ vom 10. Juli 1993, hg. von den Bischöflichen Ordinariaten der Oberrheinischen Kirchenprovinz, Freiburg i. Br. 1993; die Grundsätze sind auch publiziert in: Herder Korrespondenz 47 (1993), 460–467.
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für die Glaubenslehre – mit ausdrücklicher Billigung des Papstes – interveniert hatte, 12 räumten die Bischöfe ein, die von ihnen entwickelten Grundsätze seien universalkirchlich nicht akzeptiert, und zogen die zentralen Aussagen ihres Hirtenworts zurück. 13 Im Jahr 2000 schärfte der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte die päpstliche Vorgabe nochmals ein und bezeichnete abweichende Auffassungen als eindeutig irreführend (chiaramente fuorviante). 14 Durch sein Schreiben Amoris laetitia 15 hat Papst Franziskus die bisherige Position modifiziert. Als päpstliche Lehre gilt jetzt: Unter bestimmten Umständen können wiederverheiratete Geschiedene zum Empfang der Eucharistie hinzutreten. 16 Manche mögen 12
Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben ‚Annus internationalis‘ vom 14. September 1994, in: Acta Apostolicae Sedis 86 (1994), 974–979; deutsche Übersetzung in: Herder Korrespondenz 48 (1994), 565–568. 13 Die Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz, Brief an die hauptamtlich in der Seelsorge tätigen Damen und Herren in den Diözesen Freiburg i. Br., Mainz und Rottenburg-Stuttgart, in: Herder Korrespondenz 48 (1994), 569–571. 14 Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Erklärung vom 24. Juni 2000, in: Communicationes 32 (2000), 159–162, hier: 160. 15 Franziskus, Nachsynodales Schreiben ‚Amoris laetitia‘ vom 19. März 2016, in: Acta Apostolicae Sedis 108 (2016), 311–446. 16 Die intensiv diskutierte Frage über Inhalt, Stellenwert und Verbindlichkeit der in Amoris laetitia vorgetragenen Position hat Papst Franziskus wie folgt beantwortet: In einem in den Acta Apostolicae Sedis abgedruckten Brief an den Delegaten der Pastoralregion Buenos Aires dankt der Papst den Bischöfen der Pastoralregion für ihre „sehr gute“ und „umfassende“ Erläuterung seiner Ausführungen im 8. Kapitel von Amoris laetitia und erklärt, es gebe keine anderen Interpretationen. Die Interpretation selbst ist der ebenfalls abgedruckten Handreichung der argentinischen Bischöfe zu entnehmen; nach ihrem Verständnis von Amoris laetitia kann es Umstände geben, unter denen wiederverheirateten Geschiedenen der Zugang zum Sakrament der Vergebung und zur Eucharistie eröffnet werden kann. Papst Franziskus ordnet an, beide Dokumente – seinen Brief und die Handreichung – als Ausdruck seines authentischen Lehramts (velut magisterium authenticum) in den Acta Apostolicae Sedis abzudrucken. Der Vorgang – amtlich publiziert in: Acta Apostolicae Sedis 108 (2016), 1071–1074 – ist ungewöhnlich, weil der Papst hier gewissermaßen „über Bande spielt“ und das genaue Verständnis der von ihm vertretenen Lehre nicht in eigenen Worten darlegt. Am Inhalt dieser Lehre bestehen gleichwohl keine Zweifel, auch nicht an ihrer Verbindlichkeit: Es handelt sich um eine vom Papst vorgelegte Lehre, der nach c. 752 CIC alle Gläubigen mit religiösem Gehorsam des Verstandes und des Willens zu folgen haben.
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diese Kurskorrektur als späten Erfolg der Kritiker verbuchen, andere als Reaktion des Papstes auf das Votum der Bischofssynode von 2015. Welcher dieser Faktoren für den Papst welche Rolle spielte, ist unbekannt. Entscheidend ist: Ausschlaggebend war allein der Wille des Papstes, die kirchliche Lehre zu ändern (bzw. „weiterzuentwickeln“, wie es in manchen Stellungnahmen heißt – wohl um jenen entgegenzukommen, die die Lehre in diesem Punkt für nicht änderbar hielten). Ohne den Änderungswillen des Papstes wären Mehrheitsvoten, Kritik und andere Impulse bedeutungslos geblieben. Was der Papst jetzt lehrt, entspricht sehr weitgehend dem Vorschlag deutscher Bischöfe von 1993. Sie konnten damals gegen die Lehrvorgabe von Papst Johannes Paul II. nicht bestehen. Die zentralen Aspekte ihres Vorschlags hat sich Papst Franziskus zwanzig Jahre später in souveräner Wahrnehmung seiner lehramtlichen Höchstkompetenz zu Eigen gemacht – übrigens sekundiert von Kardinal Kasper, 17 einem der seinerzeit beteiligten Bischöfe. Alles hängt vom Papst ab! Im Blick auf den Priestermangel wird seit vielen Jahren über Voraussetzungen des Zugangs zum Weihesakrament und deren mögliche Änderungen diskutiert. Die Debatte um die Zulassung von Frauen zur Priesterweihe hat Papst Johannes Paul II. endgültig beendet, indem er erklärte, die Unmöglichkeit der Priesterweihe werde von den über den Erdkreis verstreuten Bischöfen einmütig als definitiv verpflichtend und folglich unfehlbar gelehrt. 18 Das bedeutet: Selbst wenn ein Papst seine Höchst17
Auf Wunsch des Papstes hielt Kardinal Kasper beim außerordentlichen Kardinalskonsistorium im Februar 2014 einen Vortrag, in dem er auch seine Position zum Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen entfaltete: Walter Kasper, Das Evangelium von der Familie. Die Rede vor dem Konsistorium, Freiburg i. Br. 2014. Vgl. auch Ders., Nochmals: Zulassung von wiederverheiratet Geschiedenen zu den Sakramenten? Ein dorniges und komplexes Problem, in: Stimmen der Zeit 140 (2015), 435–445. 18 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben ‚Ordinatio sacerdotalis‘ vom 22. Mai 1994, in: Acta Apostolicae Sedis 86 (1994), 545–548. Die Unfehlbarkeit der Lehre resultiert nicht aus dem Schreiben des Papstes, sondern daraus, dass die über den Erdkreis verstreuten Bischöfe unter Wahrung der Gemeinschaft untereinander und mit dem Papst hinsichtlich dieser Lehre zu ein und demselben als definitiv verpflichtenden Urteil gelangt sind. Vgl. zu dieser Form unfehlbaren Lehrens LG 25: „Die einzelnen Bischöfe besitzen zwar nicht den Vorzug der Unfehlbarkeit; wenn sie aber,
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gewalt in Anspruch nähme, könnte er diese Lehre nach lehramtlichem Selbstverständnis nicht ändern. In Übereinstimmung damit hat Papst Franziskus mehrfach betont, hinsichtlich der endgültig gelehrten Unmöglichkeit der Frauenpriesterweihe gebe es keinen weiteren Spielraum. 19 Gleichwohl wird die Unabänderlichkeit dieser Lehre von Theologinnen und Theologen weiterhin bestritten. 20 Aber selbst wenn sie Recht hätten (eine Annahme, die wegen der Unfehlbarkeit der vorgetragenen Lehre nicht einmal als Hypothese statthaft ist): Der einzige, von dem in dieser Frage eine Veränderung ausgehen könnte – mit revolutionären und unabsehbaren Folgen für die Kirche und ihr Selbstverständnis –, wäre der
in der Welt räumlich getrennt, jedoch in Wahrung des Gemeinschaftsbandes untereinander und mit dem Nachfolger Petri, authentisch in Glaubens- und Sittensachen lehren und eine bestimmte Lehre übereinstimmend als endgültig verpflichtend vortragen, so verkündigen sie auf unfehlbare Weise die Lehre Christi.“ Vgl. außerdem den zweiten Halbsatz von c. 749 § 2 CIC. Eine solche Lehre könne – wie eine Nota doctrinalis der Kongregation für die Glaubenslehre vom 29. Juni 1998 (Acta Apostolicae Sedis 90 (1998), 544–551) klarstellt – vom Papst bestätigt oder bekräftigt werden, auch ohne eine feierliche Definition vorzunehmen, und zwar indem er erklärt, dass die Lehre zum depositum fidei gehört oder zu jenen Wahrheiten der katholischen Lehre, die zur unversehrten Bewahrung und getreuen Auslegung des depositum fidei erforderlich sind. Die Erklärung, in welcher der Papst die Lehre bestätigt oder bekräftigt, sei in diesem Fall kein Akt der Dogmatisierung, sondern eine formale Bestätigung, dass eine Wahrheit bereits im Besitz der Kirche ist und von ihr unfehlbar weitergegeben wird, vgl. Nota doctrinalis 9, in: Acta Apostolicae Sedis 90 (1998), 547 f. Nach amtlichem Verständnis ist im Fall des Apostolischen Schreibens Ordinatio sacerdotalis genau dies geschehen, vgl. ebd. 11, 549–551. Vgl. umfassend: Norbert Lüdecke, Also doch ein Dogma? Fragen zum Verbindlichkeitsanspruch der Lehre über die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen aus kanonistischer Perspektive, in: Wolfgang Bock, Wolfgang Linnemann (Hg.), Frauenordination (Studien zu Kirchenrecht und Theologie 3), Heidelberg 2000, 41–119. 19 Vgl. z. B. Franziskus, Pressekonferenz während des Rückflugs aus Brasilien vom 28. Juli 2013, in: L’Osservatore Romano vom 31. Juli 2013, 6: „Zur Frauenordination hat sich die Kirche bereits geäußert und sie sagt: Nein. Das hat Johannes Paul II. gesagt, und zwar mit einer definitiven Erklärung. Jene Tür ist geschlossen.“ (Übersetzung GB) 20 Vgl. z. B. Michael Seewald, Zölibatäre Frauen weihen, in: Herder Korrespondenz 71 (6/2017), 49–51; Johanna Rahner, Eine Frage der Theologie, in: Herder Korrespondenz 71 (8/2017), 48–51.
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Papst. Alle anderen, die eine entsprechende Initiative ergriffen, könnten vom Papst in die Schranken gewiesen werden. Mehr Spielraum in Sachen Weihesakrament gibt es hinsichtlich des Zölibats. Es ist möglich und wird im Einzelfall auch praktiziert, verheiratete Männer zu weihen oder geweihten Männern die Eheschließung zu erlauben; für Priester derzeit allerdings nur in Verbindung mit der Entlassung aus dem klerikalen Stand. 21 Die erforderlichen Ausnahmegenehmigungen sind von Rechts wegen dem Apostolischen Stuhl vorbehalten (cann. 1047 § 2 n. 3, 1078 § 2 n. 1 CIC). Eine grundlegende Änderung der gegenwärtigen Disziplin müsste mithin vom Papst ausgehen. Entsprechende Wünsche werden mitunter von Gläubigen und Bischöfen formuliert; solange der Papst nicht initiativ wird, wird es bei einem Wunsch bleiben. Weitere Beispiele, welche die Papstzentrierung in Lehre und Disziplin illustrieren: • die Auseinandersetzung um die Schwangerenkonfliktberatung in der Bundesrepublik, in der Papst Johannes Paul II. zwischen 1999 und 2001 seine Position gegen die Gewissensentscheidung einzelner deutscher Diözesanbischöfe durchgesetzt hat; 22 dem Limburger Bischof Kamphaus entzog er gar die Zuständigkeit für diese Einzelfrage, um die Angelegenheit durch einen vom ihm eingesetzten Apostolischen Administrator in seinem Sinne ordnen zu lassen 23; • die Mitarbeit von Laien in der pfarrlichen Seelsorge; gegenüber Initiativen, Laien mehr Verantwortung zu übertragen, hat sich der Apostolische Stuhl in der Vergangenheit deutlich positioniert, insbesondere in einer interdikasteriellen Instruktion aus dem Jahr 1997. 24 Darin wird mit Nachdruck davor gewarnt, durch eine zu weitreichende Einbeziehung von Laien die Bedeutung des amtlichen Priestertums zu 21
Vgl. Rafael M. Rieger, Das Ausscheiden aus dem klerikalen Stand, in: Stephan Haering u. a. (Hg.), Handbuch des Katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015, 410–429, hier: 421–426. 22 Vgl. Bier, Rechtsstellung, 168–171, mit weiteren Referenzen. 23 Johannes Paul II., Schreiben an den Bischof von Limburg vom 7. März 2002 (https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/letters/2002/documents/hf_jp-ii_let _20020307_bishop-limburg.html), [Zugriff: 23. Juli 2019]. 24 Kongregation für den Klerus u. a., Instruktion ‚Ecclesiae de mysterio‘ vom 15. August 1997, in: Acta Apostolicae Sedis 89 (1997), 852–877.
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verdunkeln. 25 Das hat in der Bundesrepublik dazu beigetragen, Konzepte der Einbeziehung in pfarrliche Leitungsaufgaben – etwa gemäß c. 517 § 2 CIC 26 – nicht weiterzuverfolgen, 27 und dürfte eine Ursache dafür sein, weshalb deutschen Bischöfen hinsichtlich der Neuordnung der Seelsorge zurzeit wenig mehr einfällt, als die Zahl der Pfarreien an die sinkende Zahl der künftig noch verfügbaren Priester anzupassen; die derzeit viel diskutierte Frage nach dem Umgang der Kirche mit homosexuell orientierten Menschen; auch hier wären Veränderungen nur absehbar, wenn der Papst sich des Themas annähme. Sowohl die von manchen gewünschte lehramtliche Neubewertung praktizierter Homosexualität 28 als auch die Zulassung homosexueller Männer zum Weihesakrament 29 oder eine – wie auch immer konzipierte – kirchenrechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften bedürften einer päpstlichen Initiative.
Vgl. ebd., Theologische Prinzipien 2.4. Vgl. z. B. die Beiträge im Sammelband von: Michael Böhnke, Thomas Schüller (Hg.), Gemeindeleitung durch Laien? Internationale Erfahrungen und Erkenntnisse, Regensburg 2011. 27 Vgl. Kongregation für den Klerus, Instruktion ‚Ecclesia de mysterio‘ 4, wo ausführlich geregelt ist, wie c. 517 § 2 CIC anzuwenden ist. Ermahnungen zu einer zurückhaltenden Anwendung des c. 517 § 2 finden sich außerdem in einer weiteren Instruktion der Kongregation für den Klerus, ‚Der Priester, Hirte und Leiter der Pfarrgemeinde‘ vom 4. August 2002 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 157), Nr. 23–25. Nach c. 34 CIC legen Instruktionen die Vorgehensweisen dar, die bei der Ausführung von Gesetzen zu beachten sind; Gesetzesanwender sind zu ihrer Beachtung verpflichtet. 28 Für die lehramtlich verbindliche Position der katholischen Kirche zur Homosexualität siehe KKK 2357–2359. 29 Derzeit maßgeblich: Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instruktion vom 4. November 2005, in: Acta Apostolicae Sedis 97 (2005), 1007–1013. Papst Benedikt XVI. hat die Instruktion approbiert und ihre Publikation angeordnet (vgl. ebd., 1013). Danach können zu den heiligen Weihen jene Männer nicht zugelassen werden, die Homosexualität praktizieren, tiefsitzende homosexuelle Tendenzen haben oder eine so genannte homosexuelle Kultur unterstützen (vgl. ebd., 1009). Auf wiederholt vorgetragene Kritik, das der Instruktion zugrundeliegende Verständnis von Homosexualität sei humanwissenschaftlich nicht haltbar, hat der Apostolische Stuhl bislang nicht reagiert. 26
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3.2 … in der kirchlichen Gesetzgebung Die Alltagskultur einer Gemeinschaft wird maßgeblich beeinflusst durch deren Rechtsordnung. Diese gibt den Rahmen vor, in dem sich alltägliches Leben entfalten kann. Im Idealfall gilt dabei: Ius sequitur vitam – das Recht folgt der Lebenswirklichkeit, anstatt die Menschen unter eine vorgegebene Ordnung zu zwingen, die ihnen nicht entspricht. Dies gelingt tendenziell am besten, wenn Rechtsetzung rückgebunden ist an gesellschaftliche Diskurse und Meinungsbildungsprozesse. In der katholischen Kirche ist der Raum für solche Prozesse stark eingeschränkt. Der sensus fidei der Gläubigen wird nach Lumen gentium 12 zwar wertgeschätzt, steht aber unter der Leitung des kirchlichen Lehramts. Ob es im Einzelfall der sensus fidei oder lediglich der Zeitgeist ist, der sich zu Wort meldet, erkennen zuverlässig und verbindlich nur die Träger des kirchlichen Lehramts – Papst und Bischöfe. An universalkirchlichen Gesetzgebungsprozessen können, insoweit folgerichtig, neben dem Papst nur die Bischöfe maßgeblich beteiligt sein. Die bischöfliche Beteiligung ist in der Regel überschaubar. Im Vorfeld der Promulgation des CIC von 1983 wurde der Weltepiskopat nur in einer ersten Phase konsultiert und um Stellungnahmen zu Textentwürfen gebeten. Weitere – von den Bischöfen gewünschte – Konsultationen ließ Papst Johannes Paul II. nicht zu. Zuletzt überarbeitete er den Text mit einer sehr kleinen Gruppe von Beratern und nahm dabei noch gravierende Änderungen vor; so strich er beispielsweise die Normen zur kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, deren Einrichtung als eines von zehn Leitprinzipien der Codexrevision benannt worden war. 30 Seither haben die Päpste universalkirchliche Gesetze ausnahmslos aus eigenem Antrieb erlassen – sei es, dass sie kodikarische Normen verändert oder ergänzt, sei es, dass sie zusätzliche Gesetze erlassen haben. Nicht zuletzt Papst Franziskus hat nach seinem Amtsantritt eine rege Gesetzgebungstätigkeit entfaltet. Mit seiner in einem kleinen Mitarbeiterkreis erarbeiteten Änderung des Eheprozessrechts 31 überraschte er dem Vernehmen nach sogar die zuständigen Behörden der Römischen Kurie. 30
Vgl. Norbert Lüdecke, Der Codex Iuris Canonici von 1983. Krönung des II. Vatikanischen Konzils?, in: Hubert Wolf, Claus Arnold (Hg.), Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, Paderborn u. a. 2000, 209–237, hier: 229–236. 31 Franziskus, Motu Proprio ‚Mitis Iudex Dominus Iesus‘ vom 15. August 2015, in: Acta Apostolicae Sedis 107 (2015), 958–967.
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Hingegen hat er eine von Papst Benedikt XVI. initiierte Reform des kirchlichen Strafrechts – ein weit fortgeschrittenes Gesetzgebungsvorhaben, bei dem erstmals seit 1983 die Bischöfe konsultiert wurden – bislang nicht weiterverfolgt. 32 Die Päpste sind nicht nur von Rechts wegen oberste Gesetzgeber, sie nehmen diese Aufgabe auch alleinverantwortlich wahr, wobei sie jene Materien rechtlich ordnen, die sie selbst für wichtig halten, während andere Projekte in den Hintergrund treten.
3.3 … in der Leitung der Kirche Die dogmatisch vorgegebene und rechtlich verankerte Höchst- und Letztzuständigkeit des Papstes in allen Bereichen des kirchlichen Lebens lässt sich systemisch nicht damit vereinbaren, Dritte an der Wahrnehmung von Leitungsaufgaben zu beteiligen. Neben einem Letzt- und Alleinentscheider ist kein Raum für Mitentscheider. Einen Versuch, der Quadratur des Kreises zumindest nahezukommen, haben die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils unternommen. Ermutigt durch die positiven Erfahrungen der konziliaren Versammlungsdynamik verfolgten sie das Anliegen, einen ständigen Bischofsrat zu errichten, der den Papst bei der Leitung der Gesamtkirche unterstützen sollte. Nicht wenige dachten an einen Rat mit entscheidender Stimme. Papst Paul VI. beendete diese Debatten, indem er durch einen primatialen Akt die Bischofssynode einrichtete und damit den Konzilsvätern die Möglichkeit nahm, noch länger über weitergehende Wünsche zu diskutieren. 33 Geschaffen wurde ein Hilfsorgan, das vollständig vom Papst abhängig ist. Es tritt nur zusammen, wenn der Papst es wünscht, es behandelt nur die Themen, die er ihm vorgibt, es hat regelmäßig nur beratende Funktion. Der Papst allein entscheidet, wie er mit den Beratungsergebnissen umgeht. Von der Möglichkeit, der Bischofssynode im Einzelfall Entscheidungskompetenz zuzu32
Vgl. Markus Graulich, Die große Strafrechtsreform der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus, in: Matthias Pulte (Hg.), Tendenzen der kirchlichen Strafentwicklung (Kirchen- und Staatskirchenrecht 25), Paderborn 2017, 11–22. Nach Graulich hat die für die Revision zuständige Kommission ihre Arbeit im Juni 2015 abgeschlossen, vgl. ebd., 17. Aus welchen Gründen der überarbeitete Gesetzestext bislang nicht promulgiert worden ist, ob er künftig promulgiert wird und wann dies ggf. geschieht, ist nicht bekannt. 33 Vgl. Bier, Rechtsstellung 318 f., mit weiteren Hinweisen.
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weisen, hat bislang kein Papst Gebrauch gemacht; selbst in diesem Fall wäre ein Beschluss, dem der Papst nicht beitritt und den er nicht in Kraft setzt, von Rechts wegen unwirksam (c. 343 CIC). Die von Papst Franziskus im September 2018 erlassene überarbeitete Rechtsordnung für die Bischofssynode 34 hat im Detail manche Änderung gebracht, Funktion und Kompetenz der Bischofssynode aber nicht verändert. Was für die Bischofssynode gilt, gilt auch für andere Mitwirkungsorgane des Papstes wie das Kardinalskollegium oder den von Papst Franziskus zu Beginn seines Pontifikats errichteten Kardinalsrat: Sie beraten den Papst, wenn er es wünscht, Entscheidungsgewalt kommt ihnen nicht zu. Auch das ständige Mitwirkungsorgan der Römischen Kurie nimmt seine Aufgaben im Namen und Auftrag des Papstes und in seiner Autorität wahr (c. 360 CIC). Möglicherweise haben hochrangige Mitarbeiter kurialer Behörden aufgrund der Nähe zum Papst und wegen der Möglichkeit, anstehende Fragen mit ihm persönlich zu erörtern, im Einzelfall die Chance, Einfluss auf päpstliche Entscheidungen zu nehmen. Gleichwohl bleibt der Papst alleiniger Entscheider. Die Römische Kurie und ihre Mitarbeiter sind lediglich das Instrument, mit dessen Hilfe er seine primatiale Höchstgewalt ausübt.
3.4 … in der Leitung der einzelnen Teilkirchen Die Kompetenz des Papstes, jederzeit in die Leitung einer Teilkirche einzugreifen (c. 333 § 1 CIC), wird mitunter beschwichtigend so interpretiert, als dürfe der Papst nur intervenieren, wenn der Diözesanbischof ausfällt oder versagt. 35 Das kann schon deshalb nicht zutreffen, weil der Papst bei der Ausübung seiner unbeschränkten Höchstgewalt nicht eingeschränkt sein kann. Indem der Papst eingreift, zeigt er vielmehr an, dass er eine Intervention für erforderlich und gerechtfertigt hält. Nicht immer ist der Eingriff des Papstes in diözesane Belange so deutlich erkennbar wie im Zuge der Auseinandersetzung um die Schwange34
Franziskus, Motu Proprio ‚Episcopalis Communio‘ vom 15. September 2018, amtlich publiziert in: L’Osservatore Romano vom 19. September 2018, 4–6. 35 Vgl. die Zusammenstellung zahlreicher einschlägiger – nicht nur in der Kanonistik, sondern auch in der Dogmatik vertretenen – Positionen bei Bier, Rechtsstellung, 147 f.
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renkonfliktberatung in der Bundesrepublik, als Papst Johannes Paul II. seine Position gegen die Gewissensentscheidung einzelner Bischöfe durchsetzte. 36 Weniger offensichtlich, aber in der Wirkung nachhaltiger macht der Papst seinen Einfluss geltend, wenn er für eine Diözese einen neuen Diözesanbischof bestellt und mit dieser Personalentscheidung eine maßgebliche Weichenstellung für die Zukunft der Diözese vornimmt. Zwar holt er vor der Bischofsbestellung Vorschläge aus dem Umfeld der betroffenen Diözese ein (c. 377 CIC), in seiner Entscheidung bleibt er gleichwohl frei. Auch das Bischofswahlrecht in einigen Diözesen des deutschen Sprachraums – weltkirchlich eine zu vernachlässigende Ausnahme – schränkt seine Freiheit nur unwesentlich ein: Er legt dem Wahlgremium eine Kandidatenliste vor und reduziert damit die Auswahl von vornherein auf ihm genehme Personen. 37 Es wäre theologisch möglich und rechtshistorisch keine Neuerung, den Teilkirchen bei der Kandidatenauswahl verbindlichere Mitwirkungsrechte einzuräumen oder ihnen sogar eine freie Bischofswahl zuzubilligen. 38 Auf entsprechende Initiativen der jüngeren Vergangenheit hat der Apostolische Stuhl nicht reagiert; vielmehr wird nach Bischofsbestellungen immer wieder kolportiert, die Wünsche der Teilkirche seien übergangen worden. Dass eine päpstliche Intervention in die Diözesanleitung im Einzelfall hilfreich sein kann, zeigt der so genannte „Missbrauchsskandal“. Im Umgang mit Sexualstraftaten von Klerikern haben zahlreiche Diözesanbischöfe versagt und sich zur sachgerechten Wahrnehmung ihrer Leitungsaufgabe als unfähig erwiesen. 39 Das – wenn auch mitunter zögerliche – Eingreifen der Päpste hat hier (noch) größeren Schaden abge36
Vgl. oben Anm. 22 und 23. Vgl. Bier, Rechtsstellung, 103–105. 38 Eine Wahl des Kathedralkapitels ohne Bindung an eine vom Apostolischen Stuhl vorgelegte Liste gibt es derzeit in den Diözesen St. Gallen und Basel, vgl. ebd., 105 f. Zur rechtshistorischen Entwicklung weiterhin einschlägig: Hubert Müller, Der Anteil der Laien an der Bischofswahl. Ein Beitrag zur Geschichte der Kanonistik von Gratian bis Gregor IX. (Kanonistische Studien und Texte 29), Amsterdam 1977, sowie der instruktive Überblick ebd., 9–22. 39 Dies hat jüngst die von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene „MHG-Studie“ deutlich gemacht (https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse _downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf), [Zugriff: 23. Juli 2019]. Vgl. außerdem Norbert Lüdecke, Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen 37
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wendet. Abseits solch eklatanten bischöflichen Fehlverhaltens kann die päpstliche Einflussnahme auf diözesane Angelegenheiten jedoch Fragen aufwerfen. Das scheint Papst Franziskus ähnlich zu sehen. Kurz nach Beginn seines Pontifikats erklärte er im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium 40, es sei „nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen“. Er spüre daher die „Notwendigkeit, in einer heilsamen ‚Dezentralisierung‘ voranzuschreiten“ (Evangelii gaudium 16). Indes gilt auch hier: Wie viel Dezentralisierung erforderlich und zulässig ist, entscheidet der Papst. Als sich eine Mehrheit der deutschen Bischöfe im Frühjahr 2018 in der Frage des Kommunionempfangs für nicht-katholische Partner in konfessionsverschiedenen Ehen auf eine „Handreichung“ verständigte, wies der Papst die Beschwerde einer kleinen Minderheit nicht etwa zurück und akzeptierte einen möglicherweise kritisierbaren, aber kollegial gefassten Mehrheitsbeschluss eines dezentralen Organs. Vielmehr ließ er der Bischofskonferenz mitteilen, er sei „zur Auffassung gekommen, dass das Dokument nicht zur Veröffentlichung reif“ sei. 41 Und soeben hat sich Papst Franziskus in einem Schreiben „an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ zu einem von der Deutschen Bischofskonferenz angeregten „synodalen Weg“ geäußert, dessen konkrete Gestalt noch gar nicht feststeht. 42 Der Deutungsstreit darüber, ob das Schreiben als Zuspruch oder vorsorgliche Intervention zu verstehen ist, hat bereits begonnen. Bischöfe könnten aus solchen Vorgängen den Schluss ziehen, es lohne sich nicht, eigene Impulse zu setzen, weil am Ende ohnehin der Papst entscheidet. Wenn theologische Meinungsverschiedenheiten unter Bischöfen nicht im Diskurs geklärt und im Einzelfall auch ausgehalten werden müssen, weil der Papst, sobald er von interessierter Seite zu Hilfe durch Priester aus kirchenrechtlicher Sicht, in: Münchener Theologische Zeitschrift 62 (2011), 33–60. 40 Franziskus, Apostolisches Schreiben ‚Evangelii Gaudium‘ vom 24. November 2013, in: Acta Apostolicae Sedis 105 (2013), 1019–1137; deutsch: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 194, Bonn 2014. 41 Der gesamte Vorgang ist dokumentiert unter https://www.dbk.de/themen/oeku mene, [Zugriff: 23. Juli 2019]. 42 Dokumentiert unter https://www.dbk.de/themen/der-synodale-weg, [Zugriff: 23. Juli 2019].
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gerufen wird, die streitenden Parteien nicht auffordert, ihr Problem selbstständig zu lösen, sondern seine eigene Position zur Richtschnur macht – warum sollten Bischöfe überhaupt noch theologische Fragestellungen angehen oder gar selbst entscheiden? Folgerichtig gehören der Hinweis, ein Problem könne nur weltkirchlich gelöst werden, und die Auskunft, eine an sich wünschenswerte Vorgehensweise sei weltkirchlich nicht vermittelbar, zum Standardrepertoire bischöflicher Verantwortungs-Zurückweisungs-Rhetorik. Der Papst muss gar nicht mehr intervenieren, bereits die bloße Möglichkeit seiner Intervention lähmt bischöfliche Eigeninitiativen. Auch auf diese Weise beeinflusst der Jurisdiktionsprimat kirchliche Alltagskultur.
4. Es kommt auf den Papst an Die römisch-katholische Kirche ist papstzentriert – nicht in jedem Detail des kirchlichen Alltags, sehr wohl aber hinsichtlich der Rahmenbedingungen, die diesen Alltag maßgeblich prägen. Es kann diskutiert werden, inwieweit Persönlichkeit, Amtsverständnis und Amtsausübung einzelner Päpste zu solcher Zentrierung beitragen und sie womöglich verstärken. Sie ergibt sich aber im Kern aus dem Dogma vom Jurisdiktionsprimat. Da der Papst in allen wesentlichen Fragen das letzte Wort hat, kann es anderen kirchlichen Autoritäten sinnvoll erscheinen, dieses letzte Wort abzuwarten, anstatt sich mit einem eigenen vorletzten Wort dem Risiko einer Korrektur durch den Papst auszusetzen. Dabei wird es auch künftig bleiben, denn der Jurisdiktionsprimat ist nach kirchlichem Selbstverständnis eine unfehlbar gelehrte Glaubenswahrheit, die nicht geändert werden kann und – da zum Glaubensschatz der Kirche gehörig – auch nicht geändert werden muss. Zwar könnte ein Papst seine primatiale Gewalt zurückhaltend einsetzen oder sich dazu verpflichten, sie nicht auszuüben; eine solche Selbstverpflichtung wäre jedoch jederzeit widerrufbar. Ob und wann ein Widerruf erforderlich wäre, entschiede allein der Papst – und schon das Wissen darum dürfte zur Folge haben, dass der Jurisdiktionsprimat Wirkung entfaltet. Es könnte nämlich niemand sicher sein, ob nicht gerade die eigene Initiative für den Papst zum Anlass würde, die primatiale Gewalt zu (re)aktivieren. Katholikinnen und Katholiken mögen diese Zusammenhänge nicht
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immer gründlich reflektieren; sie haben sie aber weitgehend internalisiert. Jedes Mal, wenn Gläubige über innerkirchliche Weichenstellungen diskutieren, wenn sie Wünsche formulieren oder Forderungen erheben, richtet sich ihr Blick, sofern sie überhaupt noch mit Veränderungen rechnen, nach „Rom“ und auf den Papst. Auch wenn sie ihr Anliegen an ihren Bischof herantragen, verbindet sich damit die Erwartung, er werde in ihrem Sinne beim Papst vorstellig. Im Umfeld von Papstwahlen wird häufig die Hoffnung geäußert, der künftige Papst möge sich als derjenige erweisen, der ersehnte Veränderungen – über deren Ziele die Ansichten mitunter weit auseinandergehen – endlich in Angriff nimmt. Das ist der vielleicht deutlichste Ausdruck dafür, wie sehr das Gottesvolk das katholische essential verinnerlicht hat, wonach es in der katholischen Kirche letztlich allein auf den Papst ankommt.
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Der Papst 1 – kirchenrechtlich ein absolutistischer Wahlmonarch Es gehörte in der nachkonziliaren Rezeption der Beschlüsse auf dem Zweiten Vaticanum – hier in besonderer Weise LG und CD – und deren kirchenrechtlicher Implementierung in den beiden Codices von 1983 und 1990 zum guten Ton verfassungsrechtlicher Beiträge derjenigen Kanonisten, die dieses Konzil als Studierende 2 oder junge Priester erlebt hatten, auf folgende Aspekte hinzuweisen: das Papstamt, das auf dem Ersten Vaticanum seine maximale lehramtliche Entfaltung mit dem Lehr- und Jurisdiktionsprimat erfahren habe, sei nun eingehegt durch die Einbindung in das Bischofskollegium, es liege eine ausbalancierte Verhältnisbestimmung von Universal- und Teilkirchen nach LG 23 vor und auch das Bi1
Vgl. grundlegend: Barbara Ries, Amt und Vollmacht des Papstes. Eine theologisch-rechtliche Untersuchung zur Gestalt des Petrusamtes in der Kanonistik des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster 2003; Dies., Petrusdienst – Dienst an der Einheit. Katholische und ökumenische Perspektiven, in: Sabine Demel, Ludger Müller (Hg.), Krönung oder Entwertung des Konzils? Das Verfassungsrecht der katholischen Kirche im Spiegel der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, Trier 2007, 104–126; Thomas Stubenrauch, Der Papst als ‚primus inter pares‘ und höchste Autorität in der katholischen Kirche. Zur Rezeption eines zentralen Themas des II. Vatikanischen Konzils in den beiden kirchlichen Gesetzbüchern, in: Sabine Demel, Ludger Müller (Hg.), Krönung oder Entwertung des Konzils? Das Verfassungsrecht der katholischen Kirche im Spiegel der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, Trier 2007, 74–103; Aymans-Mörsdorf, KanR II, 191–223; Sabrina Pfannkuche, Papst und Bischofskollegium als Träger höchster Leitungsvollmacht, Paderborn 2011; Oscar Stoffel, MK CIC, cann. 330–341 (14. Erg.-Lfg. Codex April 1991); Georg Bier, Norbert Lüdecke, Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung, Stuttgart 2012, 113–129. 2 In der deutschsprachigen Kanonistik ist zuerst an meinen Doktorvater Hubert Müller, dann an Winfried Aymans, Heribert Schmitz, Klaus Mörsdorf und Peter Krämer zu denken.
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schofsamt mit seinen ursprünglichen Rechten sei rehabilitiert worden. 3 Noch 2003 stellt Barbara Ries in diesem Gefolge fest: „Die Kirche kann nach dem Vaticanum II nicht mehr als absolutistisch-monarchische Institution verstanden werden.“ 4 Und trotzdem ist dieser Beitrag so überschrieben, da die geltende Rechtslage den Papst als Wahlmonarchen konfiguriert, der nach eigenem Ermessen mit Höchstgewalt völlig frei handeln kann, wie es ihm in der Sache richtig und angemessen zu sein scheint. Beispiele gefällig? Nachdem der Codex von 1983 nicht mehr die Rechtsfigur des Apostolischen Administrators 5 enthielt und auch im langen Pontifikat von Papst Johannes Paul II. diese Rechtsfigur nicht mehr auftauchte, setzt Papst Franziskus wieder verstärkt auf diese Möglichkeit, in von Problemen belasteten Diözesen sowohl während der Vakanz des bischöflichen Stuhls, aber auch bei besetztem bischöflichen Stuhl Apostolische Administratoren einzusetzen, die allein ihm während ihrer Amtszeit rechenschaftspflichtig und zum Gehorsam verpflichtet sind. Es begann mit dem Bistum Limburg 6 nach dem Amtsverzicht von Bischof Tebartz-van Elst, wiederholt sich gerade in den Bistümern Gurk-Klagenfurt 7 und Chur 8 und auch im Erzbistum Lyon, wo de iure Kardinal Bar3
Vgl. Lüdecke, Bier, Kirchenrecht, 119. Ries, Amt, 322 f., Anm. 132. 5 Vgl. Georg May, Bemerkungen zu den Apostolischen Administratoren und Administrationen, in: Anna Egler, Wilhelm Rees (Hg.), Schriften zum Kirchenrecht. Ausgewählte Aufsätze von Georg May (KStT 47), Berlin 2003, 259–274; Daniel Laske, Der Apostolische Administrator. Altes Recht für neue Herausforderungen? (unveröffentlichte Lizentiatsarbeit), Münster 2015. 6 Vgl. KABl Limburg 4/2014, 55. 7 Vgl. https://www.kathpress.at/goto/dossier/1782182/Neuer_Administrator_f__r_ Di__zese_Gurk_Klagenfurt, [Zugriff: 09. 07. 2019]. Der Apostolische Administrator „sede vacante et ad nutum Sanctae Sedis“ ist in diesem Fall der amtierende Militärbischof von Österreich. Damit wurde der vom Domkapitel gewählte Diözesanadministrator nach weniger als einem Jahr Amtszeit abgelöst. Hintergrund dieser Maßnahme ist der Bericht einer vom Papst angeordneten Visitation dieser Diözese, nachdem gegen den ehemaligen Bischof schwere Vorwürfe im Bereich der kirchlichen Vermögensverwaltung auftauchten. 8 Vgl. https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2019-05/schweiz-kirche-churhuonder-administrator-ernennungen-papst.html, [Zugriff: 09. 07. 2019]. In diesem Fall gestaltet sich die Suche nach einem Nachfolger des umstrittenen ehemaligen Bischofs Huonder schwierig, so dass sich der Papst veranlasst sah, auf diese Rechts4
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barin als Erzbischof nach seiner Verurteilung wegen Vertuschung von sexuellem Missbrauch noch im Amt ist, aber seine Amtsgeschäfte bis zur Entscheidung über seine Berufung gegen das Urteil ruhen lässt, wurde ihm ein Apostolischer Administrator zur Seite gestellt. 9 Dem Domkapitel wird in diesen Situationen verwehrt, einen eigenen Diözesanadministrator zu wählen. Die Apostolischen Administratoren sind allein dem Papst verpflichtet und haben seinen Weisungen zu folgen. 10 Was die direkten Eingriffsmöglichkeiten des Papstes in eine Teilkirche angeht, so war hierfür die Weisung von Papst Johannes Paul II. in der jüngeren deutschen Kirchengeschichte das signifikanteste Beispiel, mit der er 1999 die deutschen Bischöfe anwies, aus der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung auszusteigen. Als der Limburger Bischof Franz Kamphaus mit Berufung auf sein Gewissen und seine fachliche Überzeugung, nur so tatsächlich die Frauen in der Beratung, die in einer Notlage um eine rechte Entscheidung ringen, erreichen zu können, sich weigerte, dieser päpstlichen Weisung zu folgen, entzog ihm Papst Johannes Paul II. 2001 diese Kompetenz und beauftragte den Limburger Weihbischof Gerhard Pieschl, den Ausstieg aller Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen im Bistum Limburg zu exekutieren. 11 „Der Papst setzte seinen Vorrang durch, indem er die diözesanbischöfliche Gewalt ad casum einschränkte.“ 12 Nun könnte ein interessierter Zeitgenosse einwenden, die Zeiten hätfigur zurückzugreifen und den ehemaligen Bischof von Reykjavik als Apostolischen Administrator einzusetzen. 9 Vgl. https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/ersatz-fur-barbarinpapst-ernennt-ubergangsleiter-fur-erzbistum-lyon, [Zugriff: 09. 07. 2019]. Die genaue Bezeichnung lautet: Apostolischer Administrator „sede plena et ad nutum Sanctae Sedis“, also ein Apostolischer Administrator nach dem Willen des Heiligen Stuhls bei besetztem Bischofsstuhl. Schon 2018 gab es einen vergleichbaren Fall in Brasilien, vgl. https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2018-03/brasilien-bischofdiebstahl-spende-administrator-papst-peixoto.html, [Zugriff: 09. 07. 2019]. Hier lag der Fall so, dass der amtierende Bischof des Bistums Formosa wegen Unterschlagung in U-Haft genommen wurde. 10 Vgl. Kongregation für die Bischöfe, Allgemeines Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe vom 22. Februar 2004 (VApSt; 173), Nr. 73 und Nr. 244. 11 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/papst-untersagt-konfliktberatung-kamp haus-will-im-amt-bleiben-148220.html, [Zugriff: 09. 07. 2019]. 12 Lüdecke, Bier, Kirchenrecht, 124.
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ten sich verändert und bei Papst Franziskus könne so etwas nicht mehr geschehen. Dieser spreche doch von „heilsamer Dezentralisierung“ 13 und fordere eine Aufwertung der Bischofssynode und Bischofskonferenz anlässlich der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum der Bischofssynode 14 im Jahr 2015. Diese Äußerungen sind belegt, nur hat Papst Franziskus diesen Worten bisher keine handfesten kirchenrechtlichen Taten folgen lassen. So hat er beispielsweise die bereits bestehende Möglichkeit, der Bischofssynode 15 nach c. 343 CIC Beschlusskompetenz zu übertragen, wie bereits seine Vorgänger noch nicht umgesetzt. Von daher ist es Ziel dieses Beitrages, kirchenrechtlich die geltende Rechtslage ungeschönt und korrekt darzustellen, um vor falschen und überzogenen Erwartungen zu bewahren. Am Ende soll allerdings eine perspektivische Linie aufgezeigt werden, wie viel an dogmatischer und kirchenrechtlicher Revision, man könnte auch Abrüstung lehramtlicher Zuspitzungen sagen, notwendig wäre, um das Amt des Papstes wieder ekklesiologisch, verfassungsrechtlich und ökumenisch anschlussfähig werden zu lassen. Doch zunächst hat das geltende Recht das Wort.
1. Zur Konzeption des Papstamtes im Codex Im zweiten Teil des zweiten Buches im Codex, das mit De populo Dei überschrieben ist, geht es in den cc. 330 bis 572 CIC in einem ersten Abschnitt (cc. 330–367 CIC) um die höchste Autorität der Kirche („de suprema ecclesiae auctoritate“) und in einem zweiten Kapitel (cc. 368– 572 CIC) um die Teilkirchen und deren Verbände („de ecclesiis particu13
Franziskus, Apostolisches Schreiben ‚Evangelii gaudium‘ vom 24. November 2013, in: Acta Apostolicae Sedis 105 (2013), 1019–1137, hier: Nr. 16; vgl. auch http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papafrancesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html#Anliegen_und_Gren zen_dieses_Schreibens, [Zugriff: 09. 07. 2019]. 14 Vgl. Franziskus, Ansprache vom 17. Oktober 2015, in: Acta Apostolicae Sedis 107 (2015), 1138–1145; vgl. auch http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/ 2015/october/documents/papa-francesco_20151017_50-anniversario-sinodo.html, [Zugriff: 09. 07. 2019]. 15 Vgl. Helmut Finzel, Die Bischofssynode. Zwischen päpstlichen Primat und bischöflicher Kollegialität (Kanonistische Reihe 27), St. Ottilien 2016.
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laribus deque earundem coetibus“). Auf den ersten Blick erstaunlich, handeln nur fünf, wenn man den Eingangskanon 330 CIC hinzunimmt, sechs Canones über den Papst (cc. 330–335 CIC). 16 Ungeachtet der Feststellung, diese wenigen Normen seien nichtsdestotrotz inhaltsreich 17, ist die Bedeutung des Papstes aber nur zu ermessen, wenn man alle über den Codex verstreuten Normen mit in den Blick nimmt, die die weitgehenden Kompetenzen und Aufgaben des Papstes 18 festlegen. 19 Während der alte Codex von 1917 keine Normen zum Bischofskollegium kannte, also ganz vom Ersten Vaticanum und seiner Lehre vom Jurisdiktionsprimat des Papstes bestimmt war, dafür aber wenigstens dem Ökumenischen Konzil einige Normen vergönnte, ist es nun im geltenden Codex von 1983 genau andersherum: Papst und Bischofskollegium werden vor allem in den cc. 330 und 336 CIC aufeinander bezogen als die beiden Träger der Höchstgewalt in der Kirche, dafür wird das Ökumenische Konzil nur am Rande behandelt als die feierliche Form, in der das Bischofskollegium sub et cum Petro, seinem Haupt dem Papst, seine Höchstgewalt ausübt (c. 337 § 1 CIC). Sicherlich spiegelt sich im geltenden Verfassungsrecht „stets das ekklesiologische Selbstverständnis der Kirche wider. Der CIC von 1917 war juristische Konkretisierung der Theologie von Vat. I mit einer überstarken Betonung des Papstamtes […] Vat. II hat nun die primatiale Ekklesiologie vom Vat. I mit der Lehre der bischöflichen Kollegialität ergänzt (LG 18). Demzufolge wird im Gesetzbuch von 1983 das Bischofskollegium gegenüber dem Papst stärker herausgehoben“ 20. Aber ändert sich damit die dominierende primatiale Ausrichtung des Codex von 1917? Der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke hat bereits früh darauf hingewiesen, dass Papst Johannes Paul II. in seiner Promulgationskonstitution 21 zum CIC davon spricht, dass „dieser Akt von Unserer päpstlichen Autorität ausgeht und daher primatialen Charakter an16
Vgl. Ries, Amt, 300; Aymans-Mörsdorf KanR II, 200. Vgl. Jean Gaudemet, Le droit canonique, Paris 1989, 65. 18 An zwei Beispielen wird dies deutlich. So „hat der Papst kraft des Leitungsprimats die oberste Verwaltung und Verfügung über alle Kirchengüter“ (c. 1254 CIC) und „kann von niemanden vor Gericht gezogen werden“ (c. 1404 CIC). 19 Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, 200. 20 Stoffel, Einleitung vor 330, 3. 21 Vgl. Johannes Paul II., Apostolische Konstitution ‚Sacrae Disciplinae Leges‘ vom 25. Januar 1983, in: Acta Apostolicae Sedis 75 (1983), 7–14. 17
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nimmt“ 22 und als Versuch zu verstehen sei, „die konziliare Ekklesiologie in die kanonistische Sprache zu übersetzen“ 23. Aus seinen präzisen Analysen der Stellung des Papstes im Codex folgert er abschließend in einer These: „Der CIC schafft mit dem Material des II. Vatikanischen Konzils eine kirchliche Ordnungsgestalt, welche die Ekklesiologie des Ersten unbehelligt läßt und zusätzlich abstützt.“ 24 In späteren Beiträgen hat Lüdecke diese These zugespitzt. Der Codex stehe auf dem Boden des Zweiten Vatikanischen Konzils, unabhängig davon, ob seine Normen mit dessen Lehren übereinstimmen. „Der Papst ist an die Lehren des II. Vatikanums nicht gebunden.“ 25 Prägnant auf den Punkt gebracht: „Codex sehen, Konzil verstehen.“ 26 Und dabei sei hermeneutisch zu beachten: „Codex sticht Konzil.“ 27 Diese pointierten Thesen lösen bis heute energische Gegenreaktionen in Dogmatik 28 und Kirchenrecht 29 aus. Doch wie immer man im Detail zu diesen Thesen steht, so ist tatsächlich gemäß c. 17 CIC 30, der die verbindlichen Interpretationsmethoden zur Auslegung von Gesetzestexten abschließend festlegt, am Normwortlaut zu 22
Ebd., 10. Ebd., 11. Vgl. dazu Norbert Lüdecke, Der Codex Iuris Canonici von 1983: „Krönung“ des II. Vatikanischen Konzils?, in: Hubert Wolf, Claus Arnold (Hg.), Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum (Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums 4), Paderborn 2000, 209–237, hier: 222. 24 Ebd., 237. 25 Lüdecke, Bier, Kirchenrecht, 40. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Vgl. für viele kritische Stimmen aus der Dogmatik Peter Hünermann, Ist der CIC revisionsbedürftig?, in: Theologie der Gegenwart 50 (2007), 15–30. 29 Vgl. für viele kritische Stimmen Myriam Wijlens, Das II. Vatikanum als Fundament für die Anwendung des Rechtes. Hermeneutische Reflexionen und praktische Konsequenzen, in: Theologie der Gegenwart 50 (2007), 2–14; Dies., Die Verbindlichkeit des II. Vatikanischen Konzils. Eine kirchenrechtliche Betrachtung, in: Christoph Böttigheimer (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil: Programmatik-Rezeption-Vision, Freiburg i. Br. 2014, 37–64. 30 Vgl. Thomas Schüller, Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der ‚salus animarum‘. Ein kanonistischer Beitrag zu Methodenproblemen der Kirchenrechtstheorie (fzK 14), Würzburg 1993, 217–264; Bernd T. Drößler, Bemerkungen zur Interpretationstheorie des CIC/1983, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 153 (1984), 3–34. 23
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prüfen, ob das Kirchenrecht dem Ersten oder doch mehr dem Zweiten Vaticanum folgt, was die Rechtsstellung des Papstes angeht. Dabei ist aber lehramtlich schon vorab festzustellen, dass trotz aller Aufbrüche auf dem Zweiten Vaticanum keiner der Konzilsväter die Lehren des Ersten Vaticanums in Frage gestellt hat. 31 Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, wie bei den Quellenbelegen zu einzelnen Canones, die den Papst behandeln, die Nota explicativa praevia von Papst Paul VI. zu Lumen Gentium, 32 eine Rolle spielt oder nicht. Ein letzter Hinweis zur Gesamtkomposition der hier nun näher zu analysierenden Normen: ursprünglich sollten sie in der Lex Ecclesiae Fundamentalis (LEF) in den cann. 29–39 ihren Platz finden. 33 Da aber dieses geplante Grundgesetz mit den Normen göttlichen Rechts nicht realisiert wurde, 34 wanderten diese Normen an den beschriebenen Ort im Verfassungsrecht des Codex.
2. Die Titel des Papstes – ehrenvolles Tableau unbegrenzter Höchstgewalt 35 Im Unterschied zum Codex von 1917 bietet c. 331 CIC deutlich mehr Titel für den Papst auf. Der alte Codex sprach „nur“ von Romanus Ponti31
Vgl. Wolfgang Beinert, Geschlossenes Papalsystem? Die Lehre von den Prärogativen des Papstes in der Kirche und die ökumenischen Perspektiven, in: Catholica 66 (2012), 96–108, hier 104: „Wer aber einen wirklichen Ausgleich zum Papalismus erwartet hatte, wurde enttäuscht: Das Zweite stellte sich ganz hinter die Papstdogmen des Ersten Vatikanischen Konzils – und damit unter die hierarchologische Idee.“ 32 Vgl. http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/ vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html, [Zugriff: 09. 07. 2019]; vgl. Medard Kehl, Art. Nota explicativa praevia, in: Lexikon für Theologie und Kirche 7, Freiburg i. Br. 31998, 917 f.; Joseph Ratzinger, Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf 1969, 190–200, besonders 195 ff., wo Ratzinger darauf hinweist, dass Äußerungen wie, der Papst könne seine Gewalt nach Belieben ausüben und auch entscheiden, ob und in welcher Weise das Bischofskollegium als solches tätig werden könne, Formulierungen seien, die „wenig glücklich sind“ (ebd., 196). 33 Vgl. Stoffel, Einleitung vor 330, 6. 34 Vgl. Winfried Aymans, Das Projekt einer Lex Ecclesiae Fundamentalis, in: Ders., Kirchenrechtliche Beiträge zur Ekklesiologie (Kan.Stud I, 42), Berlin 1995, 303–319. 35 Vgl. Hugo Schwendenwein, Die Katholische Kirche. Aufbau und rechtliche Organisation (BzMK 37), Essen 2003, 207–210.
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fex und Beati in primatu successor. 36 Im CIC von 1983 finden wir in c. 331 CIC die Bezeichnungen Romanus Pontifex, successor Petri, Ecclesiae Romanae Episcopus, caput (Collegium Episcoporum), Vicarius Christi und Pastor universae Ecclesiae. Hinzu kommen weitere Titel, die nicht nur bloße Ehrentitel sind, und im Annuario Pontificio nachlesbar sind: „Vescovo di Roma, Vicario di Gesù Cristo, Successore del Principe degli Apostoli, Sommo Pontefice della Chiesa universale, Primate d’Italia, Arcivescovo e Metropolita della Provincia Romana, Sovrano dello Stato della Città del Vaticano, Servo dei Servi di Dio“ 37. Lange Zeit führte der Papst auch den Titel Patriarch des Abendlandes (Patriarca dell’Occidente) bis Papst Benedikt XVI. 2006 38 entschied, fortan auf diesen Titel zu verzichten. 39 Die Erklärungsversuche zur Abschaffung dieses Titels 40 können den Verdacht nicht entkräften, dass mit diesem Schritt eine wichtige Brücke für den Dialog mit den Ostkirchen ohne Not abgerissen wurde, die möglicherweise tragfähig gewesen wäre, über eine neue Form der Ausübung des Papstamtes 41 in einer revitalisierten Relecture der altkirchlichen Pa36
Vgl. Ries, Amt, 302. Annuario Pontificio 2018, Vatikanstadt 2018, 24. 38 Vgl. Communiqué concernant la supression du titre de „Patriarche d’Occident“ dans l’Annuaire pontifical 2006. Conseil pontifical pour la promotion de l’unite des chretiens, in: Istina 51 (2006), 9 f. 39 Vgl. Thomas Schüller, Pluralisierung der Kirche des Abendlandes? Kanonistische Konsequenzen aus der Aufhebung des päpstlichen Titels ‚Patriarch des Abendlandes‘, in: Dominicus Meier u. a. (Hg.), Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute (Festschrift für Klaus Lüdicke, BzMK 55), Essen 2008, 575–592. 40 Vgl. Communiqué, 9–11, bei der der damalige Präsident des Rates für die Einheit der Christen, Kardinal Walter Kasper, als Gründe für diese Entscheidung anführt, dass mit diesem Titel nie ein fest umrissenes Territorium verbunden gewesen sei und letztlich so dieser Titel geschichtlich obsolet geworden sei, da kein Territorium benannt werden könne, in dem der Bischof von Rom seine Jurisdiktionsgewalt ausüben könne. 41 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika ‚Ut unum sint‘ über den Einsatz in der Ökumene vom 25. Mai 1995 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121), Bonn 1995, 67; vgl. Ries, Petrusdienst, 118: „In der Tat wäre eine Differenzierung zwischen dem Papst als dem Patriarchen und dem Träger des Petrusamtes ein möglicher Schritt, das Papstamt aus den bestehenden rechtlichen Strukturen der katholischen Kirche herauszulösen.“ 37
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triarchatsstruktur nachzudenken. Bei den nicht im Codex aufgeführten Titeln, die der Papst trägt, ist nicht zu unterschätzen, dass in einer Reihe von ihnen konkrete verfassungsrechtliche Kompetenzen und damit Jurisdiktionsgewalt ausgeübt wird, 42 nach außen allerdings diese Titel in dem gesamtkirchlichen und mit Höchstgewalt ausgestatteten Amt des Papstes aufzugehen scheinen. 43 Zunächst spricht c. 330 CIC davon, dass der Papst Nachfolger Petri („successor Petri“) sei und auch in c. 331 CIC wird der Papst als derjenige bezeichnet, in dem das vom Herrn einzig dem Petrus, dem Ersten der Apostel, übertragene und seinen Nachfolgern zu vermittelnde Amt fortdauert. Im alten Codex war in c. 218 CIC/1917 von „Beati Petri in primatu successor“ die Rede, kennzeichnet also ganz im Gefolge des Ersten Vaticanums den Papst als Nachfolger Petri im Primat 44, während in den cc. 330 und 331 CIC die Bezogenheit des Petrusnachfolgers auf das Bischofskollegium in primatialer Unabhängigkeit betont wird. Die entsprechenden Passagen aus LG 18 45 zu diesem Titel beziehen aber das Erste Vaticanum ausdrücklich bis in die Belegung mit Fußnoten 46 mit ein. Mit Pottmeyer lässt sich zumindest ab dem 3. Jahrhundert sagen, dass dieser Titel mit der Vorstellung verbunden ist, „daß eine ununterbrochene Sukzession den heutigen Papst mit Petrus als dem ersten Bischof von Rom verbindet; auf diese Weise seien die Beauftragung und Bevollmächtigung des Petrus durch Christus und die damit verbundenen Verheißungen auf den jeweiligen Papst übergegangen“ 47. Dieser Titel wird dem ius divinum zugewiesen, während die Verbindung mit dem Bischofsstuhl von Rom als geschichtlich kontingent in der Kirchenrechtswissenschaft eingestuft
42
Vgl. Stoffel, MK 331, 3. Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, 201. 44 Vgl. Ries, Amt, 303. 45 Vgl. LG 18: „Damit aber der Episkopat selbst einer und ungeteilt sei, hat er den heiligen Petrus an die Spitze der übrigen Apostel gestellt und in ihm ein immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft eingesetzt (37).“ 46 So zum Beispiel Fußnote 37 zu LG 18: „Vgl. I. Vat. Konzil, Sess. IV, Const. Dogm. Pastor æternus: Denz. 1821 (3050 f.).“ 47 Hermann Josef Pottmeyer, Der Papst, Zeuge Jesu Christi in der Nachfolge Petri, in: Karl Lehmann (Hg.), In der Nachfolge Christi, Freiburg i. Br. 1980, 55–91, hier: 63 f. 43
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wird, die sich der historischen Entwicklung verdanke, 48 aber nicht bedeute, dass die petrinische Tradition nicht auch „auf einen anderen Sitz verlagert werden könnte“ 49. Nur in c. 331 CIC und erstmalig im kodifizierten Recht – der Codex von 1917 kannte diesen Titel nicht – ist vom Bischof der Kirche von Rom („Ecclesiae Romanae Episcopus“) die Rede. Für Aymans-Mörsdorf besteht in diesem Titel „die wichtigste ämterrechtliche Entsprechung zu der ekklesiologischen Tatsache“, „daß die Gesamtkirche in und aus Teilkirchen besteht, mithin materiell nicht eine von den Teilkirchen losgelöste eigene Identität hat“ 50. Hierfür spricht im aktuellen Pontifikat, dass Papst Franziskus nicht müde wird zu betonen, dass er Bischof von Rom ist. Dabei kann er auf LG 22 Bezug nehmen, wo mehrfach darauf verwiesen, wird, dass der Papst als Bischof von Rom der Nachfolger Petri ist. Zunächst ist der Papst also Ortsbischof und besitzt alle entsprechenden Vollmachten. Da aber historisch gewachsen mit dem Bischof von Rom das Papstamt verbunden ist, leitet der Papst faktisch seine Diözese nicht selber, sondern überträgt diese Aufgabe einem Kardinalvikar, „der diese im Namen und im Auftrag des Papstes mit ordentlicher, stellvertretender Vollmacht leitet“ 51. 52 Der Titel Stellvertreter Christi („Vicarius Christi“) hat eine bewegte rechtsgeschichtliche Entwicklung genommen 53 und wird vom Ersten 54
48
Vgl. Schwendenwein, Kirche, 208. Hinsichtlich der Qualifizierung als göttliches Recht ist auf I. Vaticanum Pastor Aeternus 3 f.; LG 18 b; OE 3 hinzuweisen. 49 Aymans-Mörsdorf KanR II, 201. 50 Ebd. 51 Vgl. Stoffel, MK 331, 2. 52 Paul VI., Apostolische Konstitution ‚Vicarius Potestatis in urbe‘ vom 6. Januar 1977, in: Acta Apostolicae Sedis 69 (1977), 5–18. Während der Vakanz des bischöflichen Stuhls, d. h. während der Phase der Wahl eines neuen Papstes, fungiert der Kardinalvikar wie ein Diözesanadministrator, da eine Diözese niemals ohne Leitung auskommen kann. Johannes Paul II., Apostolische Konstitution ‚Ecclesia in Urbe‘ vom 1. Januar 1998, in: Acta Apostolicae Sedis 90 (1998), 177–193 hat die Arbeitsweise des Vikariates geregelt, das die Bezeichnung „Vicariato di Roma“ führt. Vgl. Schwendenwein, Kirche, 208. 53 Vgl. Yves Congar, Titel, welche für den Papst verwendet werden, in: Concilium 11 (1975), 538–544, hier 540 f.; vgl. Ries, Amt, 305 f. 54 Vgl. Pastor Aeternus 3 f.
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und Zweiten Vaticanum zunächst nur für den Papst 55 und in LG 21.27 auch für alle Bischöfe verwendet. Der alte Codex verzichtete auf diesen Titel. Alle Bischöfe und damit auch der Papst als Bischof von Rom empfangen von Christus in der Weihe ihre Vollmacht und üben sie in seinem Namen aus. Er bringt also die „Funktion der Repräsentanz Christi“ 56 zum Ausdruck. Es fällt auf, dass im Codex nur dem Papst dieser Titel zugesprochen wird, während er in den cc. 375 und 391 CIC bei den Bischöfen bzw. Diözesanbischöfen fehlt. Georg Bier fragt demnach nicht ohne Grund, ob die Bischöfe tatsächlich noch Stellvertreter Christi sind oder nicht doch eher solche des Papstes. Man müsse konstatieren, dass der Codex von 1983 allein dem Papst diesen Titel exklusiv zugesprochen habe und er dementsprechend kirchenrechtlich für die Bischöfe keine rechtliche Relevanz habe. 57 Dieser Sachverhalt wird in der Kirchenrechtswissenschaft bedauert und als verfassungsrechtliche Verengung betrachtet. 58 Allerdings ist zu konstatieren, dass der gleiche päpstliche Gesetzgeber 1990 im CCEO den Titel Vicarius Christi sowohl dem Papst (c. 43 CCEO) als auch den Bischöfen (Eparchen) (c. 178 CCEO) zugesprochen hat. Ob von daher bei der Zusammenschau beider Codices noch davon gesprochen werden kann, die Diözesanbischöfe seien im lateinischen Rechtskreis Verwaltungsbeamte des Papstes, 59 ist zumindest kritisch zu hinterfragen. Von besonderer Bedeutung ist der Titel Haupt des Bischofskollegiums, der im alten Codex nicht auftauchte und nun in den cc. 331 und 336 CIC erscheint. Als Bischof ist der Papst Mitglied des Bischofskollegiums und als Bischof von Rom deren Haupt, wie Petrus Haupt des Apostelkollegiums war. 60 Auch hier greift das Zweite Vaticanum in LG 21,22 und 25 zum Teil mehrfach auf diesen Terminus „caput collegii“ zurück. Allerdings übernimmt LG 18 auch die Redeweise aus dem Ersten Vatica55
Vgl. LG 18 und 22. Stoffel, MK 331, 3. 57 Vgl. Georg Bier, Die Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Codex Iuris Canonici von 1983 (fzK 32), Würzburg 2001, 35–38, besonders 38. 58 Vgl. Peter Krämer, Art. Päpstliche Titulaturen, in: Lexikon für Theologie und Kirche 7, Freiburg i. Br. 31998, 1343; vgl. Stubenrauch, Der Papst als ‚primus inter pares‘ und höchste Autorität in der katholischen Kirche, 74–103, hier: 91. 59 Vgl. Bier, Rechtsstellung, 376. 60 Vgl. Stoffel, MK 331, 3. 56
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num vom sichtbaren Oberhaupt der ganzen Kirche („totius Ecclesiae visibile caput“ 61) mit denen andere Bezeichnungen wie Hirte der ganzen Kirche („totius Ecclesiae pastor“, LG 22), Hirte der Gesamtkirche („universae Ecclesiae Pastor“ 62), Oberster Hirte der Kirche („supremus Ecclesiae pastor“ 63) und Bischof der katholischen Kirche („catholicae Ecclesiae episcopus“) 64 verbunden sind. Die genaue Verhältnisbestimmung von Papst und Bischofskollegium wird noch vertiefter anzuschauen sein. Die Auswahl der vorgestellten Titel markiert die herausgehobene und unangefochtene Stellung des Papstes und akzentuiert ihn zugleich als obersten Bischof der Universalkirche. Nicht vergessen werden darf, dass der Papst natürlich auch ein staatlicher Souverän ist, und zwar des Vatikanstaates. 65 Diese weltliche Souveränität wurde in den Lateranverträgen vom 11. 2. 1929 66 bekräftigt bzw. historisch betrachtet wiederhergestellt.
3. Die Vollmacht des Papstes Nach c. 331 CIC/c. 43 CCEO verfügt der Papst kraft seines Amtes in der Kirche über die höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann. In dieser Formulierung der päpstlichen potestas leuchtet ein Desiderat hinsichtlich der lehramtlichen Vorgaben beider vatikanischen Konzilien auf, das nach Kurt Koch darin besteht, „dass zwar die Grenzen der Unfehlbarkeit, nicht hingegen die Grenzen der Jurisdiktion des Papstes festgeschrieben worden sind“ 67. Dies bedingt die kirchenrechtliche Folge, dass der Jurisdiktionsprimat durch keine menschliche Gewalt und damit auch nicht durch eine kirchenrecht61
Vgl. Pastor Aeternus 1. C. 331 CIC. 63 C. 333 § 2 CIC. 64 Vgl. Georg May, Ego N.N. Catholicae Episcopus. Entstehung, Entwicklung und Bedeutung einer Unterschriftsformel im Hinblick auf den Universalepiskopat des Papstes, Berlin 1995. 65 Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, 212–214. 66 Vgl. Michael Mitterhofer, Kirche und Staat in Italien mit besonderer Berücksichtigung Südtirols, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts (3. Auflage), 1914– 1942, besonders 1919–1922. 67 Kurt Koch, Gelähmte Ökumene. Was jetzt zu tun ist, Freiburg i. Br. 1991, 180. 62
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liche Norm eingeschränkt ist. 68 Diese nichtexistente Konditionierung der päpstlichen Vollmacht wird in LG 22 bestätigt: „Der Bischof von Rom hat nämlich kraft seines Amtes als Stellvertreter Christi und Hirte der ganzen Kirche volle, höchste und universale Gewalt über die Kirche und kann sie immer frei ausüben.“ Von daher ist Knut Walf recht zu geben, wenn er darauf hinweist, dass im gegenwärtigen kirchlichen Rechtssystem „letztendlich kein Rechtsmittel gegen Amtsmissbrauch im höchsten Amt“ vorhanden ist. „Nur das Vertrauen darauf, daß der Papst sein Amt im Geist Christi ausübt, gibt diesem geistlichen Recht ein wenig Sicherheit.“ 69 Es wird noch zu zeigen sein, dass keine kirchliche Instanz existiert, die den Papst bei Amtsmissbrauch sanktionieren, geschweige denn amtsentheben könnte. Im Unterschied zum c. 218 § 2 CIC/1917 fällt bei den Attributen der päpstlichen Gewalt zunächst auf, dass sie nicht mehr wie im alten Codex als vere episcopalis bezeichnet wird. Die Gewalt des Papstes ist potestas ordinaria, also Amtsgewalt, d. h. eine Gewalt, die aus dem Amt des Papstes folgt. 70 Sie wird nicht delegiert, denn dies würde eine Instanz über dem Papst bedeuten, die ihm seine potestas delegiert. Diese Amtsgewalt ist eine Gewalt, die in der Kirche ausgeübt wird und die direkt von Gott ausgeht und somit göttlichen Rechts ist. Ohne diese Amtsgewalt des Papstes, d. h. ohne den Papst hätte die Kirche verfassungsrechtlich nicht ihre Vollgestalt. Aus diesen grundlegenden Überlegungen leiten sich die aufgezählten Attribute dieser Amtsgewalt ab. Im Unterschied zu c. 218 § 2 CIC, wo von „a quavis humana auctoritate independens“ die Rede war, also die Unabhängigkeit des Papstes von jeglicher ziviler Autorität 71, entlehnt c. 331 CIC aus LG 22 die Formulierung, dass der Papst sein Amt „quam semper libere exercere valet“. Damit wird der Adressat dieser Aussage ausgeweitet auch auf kirchliche Autoritäten, die den Papst zu einem 68
Vgl. Schwendenwein, Kirche, 199. Knut Walf, Einführung in das neue katholische Kirchenrecht, Zürich u. a. 1984, 74. 70 Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, 205. Die Begriffe ordentliche Gewalt und kraft seines Amtes sind inhaltlich deckungsgleich. Deshalb verzichtet LG 22 auch auf „ordinaria“. Der päpstliche Gesetzgeber unterstreicht in c. 331 CIC mit potestas ordinaria nachdrücklich die aus dem Amt direkt hervorgehende Gewalt des päpstlichen Amtsträgers. 71 Vgl. Stoffel, MK 331, 4. 69
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bestimmten Handeln zwingen könnten. Der Papst darf bei der Ausübung seines Amtes durch keine kirchliche Instanz gebunden werden, vor allem auch nicht durch das Bischofskollegium, sei es in feierlicher oder ordentlicher Form. 72 Die Amtsgewalt des Papstes ist sodann aufgrund der Bischofsweihe 73 auf die drei munera 74 des Leitens (munus regendi), des Heiligens (munus sanctificandi) und des Lehrens (munus docendi) bezogen. Damit ist die Amtsgewalt des Papstes auf alle Angelegenheiten der Kirche bezogen und in formaler Hinsicht umfasst die Primatialgewalt die drei Funktionen der Leitungsgewalt: Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. 75 Der Papst ist oberster Gesetzgeber, höchster Richter und höchster Verwalter. Er entscheidet nach c. 333 § 2 CIC, ob er diese Funktionen persönlich oder kollegial ausüben will. 76 Als oberster Gesetzgeber kann der Papst, nur gebunden an das ius divinum, für die Gesamtkirche wie aber auch für jede passiv gesetzesfähige Gemeinschaft Rechtsnormen erlassen. Als Herr der Gesetze (dominus canonum) kann der Papst jederzeit Gesetze erlassen, aufheben und ändern. Als oberster Richter 77 kann der Papst von niemandem vor Gericht gezogen werden (c. 1404 CIC). Wer versuchen sollte, sich gegen eine Maßnahme des Papstes an ein Ökumenisches Konzil oder das Bischofskollegium zu wenden, soll mit einer Beugestrafe belegt werden (c. 1372 CIC) 78. Von daher ist es nur konsequent, dass gegen ein Urteil oder einen sonstigen rechtsverbindlichen Entscheid des Papstes keine Berufung oder Beschwerde möglich ist
72
Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, 209 f. Vgl. c. 332 § 1 CIC, der dafür sorgt, dass es keinen Papst mehr geben kann, der nicht zum Bischof geweiht ist. Dort heißt es: „Wenn der gewählte noch nicht Bischof ist, ist er sofort zum Bischof zu weihen.“ 74 Vgl. immer noch grundlegend Ludwig Schick, Das dreifache Amt Christi und der Kirche. Zur Entstehung und Entwicklung der Trilogien, Frankfurt 1982. 75 Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, 206. 76 Vgl. Ries, Amt, 313. In c. 333 § 2 CIC ist zu lesen: „Der Papst steht bei der Ausübung seines Amtes als oberster Hirte der Kirche stets in Gemeinschaft mit den übrigen Bischöfen, ja sogar mit der ganzen Kirche; er aber hat das Recht, entsprechend den Erfordernissen der Kirche darüber zu bestimmen, ob er dieses Amt persönlich oder im kollegialen Verbund ausübt.“ 77 Vgl. c. 1442 CIC: „Der Papst ist der oberste Richter für den gesamten katholischen Erdkreis.“ 78 Vgl. Lüdicke, MK 1372. 73
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(c. 333 § 2 CIC). „Der Papst ist Letztinstanz in der Kirche.“ 79 Jeder Gläubige hat das Recht, die ihn betreffende Streit- oder Strafsache in jeder Phase auch eines laufenden Prozesses dem Papst zur Entscheidung vorzulegen (c. 1417 § 1 CIC) 80. Umgekehrt kann der Papst gemäß c. 1405 § 1 Nr. 4 CIC alle Streit- und Strafsachen an sich ziehen und entscheiden. 81 Als oberstem Verwalter aller Angelegenheiten sind dem Papst zum Beispiel alle fünf Jahre von den Bischöfen Berichte über ihre Arbeit bei den Ad-limina-Besuchen (c. 400 CIC) 82 vorzulegen. Dabei wird der Papst von der Römischen Kurie (c. 360 CIC) unterstützt. 83 Was nun die beiden Bereiche des munus sanctificandi und docendi angeht, so fällt im Bereich des Heiligungsdienstes besonders ins Gewicht, dass zwar alle Bischöfe Wächter des gesamten liturgischen Lebens sind (c. 835 § 1 CIC; vgl. LG 26), wohingegen die Regelung der heiligen Liturgie allein dem Apostolischen Stuhl zusteht, den Diözesanbischöfen aber nur von Rechts wegen. 84 Es ist Sache des Apostolischen Stuhls, die heilige Liturgie zu ordnen, die liturgischen Bücher herauszugeben, ihre Übersetzungen in die Volkssprachen zu überprüfen und darüber zu wachen, dass die liturgische Ordnung getreulich eingehalten wird. 85 Auf der Grundlage der beiden Vatikanischen Konzilien 86 normiert der Codex, dass dem Papst Unfehlbarkeit im Lehramt kraft seines Amtes zukommt. Dies liegt dann vor, wenn er als oberster Hirt und Lehrer spricht, die Geschwister im Glauben im Glauben stärken möchte, eine
79
Aymans-Mörsdorf KanR II, 212. Vgl. Lüdicke, MK 1417,1, der auf die Vorgängernorm c. 1469 CIC/1917 verweist. 81 Vgl. Stoffel, MK 331, 5. 82 Vgl. Johann Hirnsperger, Der Ad-limina-Besuch des Bischofs. Zur neueren Entwicklung der rechtlichen Grundlagen, in: Ders. (Hg.), Ausgewählte Beiträge zum kanonischen Recht, Metten 2011, 23–46. 83 Vgl. zu den aktuellen Anstrengungen von Papst Franziskus, der Römischen Kurie in der Nachfolge von Pastor Bonus eine neue Rechtsgrundlage zu geben, Thomas Schüller, Der gute Hirte 2. Papst Franziskus und seine Kurienreform, in: Herder Korrespondenz Spezial 1/2019. Mythos Vatikan. Das Heil verwalten, 58–60. 84 Vgl. c. 838 § 1 CIC. Grundlegend hierzu Stefan Rau, Die Feiern der Gemeinden und das Recht der Kirche (Münsteraner Theologische Abhandlungen; 12), Münster 1990. 85 Vgl. c. 838 § 2 CIC. 86 Vgl. Pastor Aeternus 4: „De Romani Pontificis infallibili magisterio“; LG 22 f. 80
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Glaubens- und Sittenlehre verpflichtend verkündet und dies in einer Form vornimmt, die unzweifelhaft offenkundig ist (c. 749 § 3 CIC). 87 Die Auswirkungen dieser Entscheidungen beider Vatikanischen Konzilien liegen nun nicht in einer Fülle von Ex-cathedra-Entscheidungen des Papstes, sondern in einer schleichenden Okkupierung des ordentlichen unfehlbaren Lehramtes durch den Papst, das so weder in den konziliaren Lehrentscheidungen noch im Codex zu finden ist, aber intensiv während der Codexreform diskutiert wurde – im Kontext der Abfassung des c. 749 § 3 CIC, in dem die Frage diskutiert wurde, wer und wie, d. h. auf welche Weise, die Offenkundigkeit einer unfehlbaren Lehre des ordentlichen Lehramtes des Bischofskollegiums mit und unter dem Papst feststellen kann. 88 Welche weitreichenden Folgen diese Option inzwischen lehrrechtlich zeitigt, wird an Entscheidungen wie Ordinatio sacerdotalis 89 und Ad tuendam fidem 90 deutlich. In der ersten Entscheidung stellt Papst Johannes Paul II. einen synchronen und diachronen Konsens des Bischofskollegiums fest und sorgt für offenkundige Unfehlbarkeit der Lehre, die nach dem zweiten Text 1998 und dem Katechismus 91 zu einem Dogma ganz eigener Art erhoben wird, da bestimmte Inhalte dem sogenannten Sekundärbereich zugeordnet werden, die aus Sicht des päpstlichen Lehramtes in einem notwendigen Zusammenhang mit der Offenbarung gebracht werden, ohne die diese nicht vollständig erkannt und geglaubt werden könnte. „Diese neue Art von Dogmen, die im strengen Sinne nicht mehr theologal geglaubt, sondern bloß noch legaliter im Sinne der fides tenenda festgehalten werden können, nehmen die juridische Autorität der Kirche in einer nur noch auf sich selbst – jedenfalls nicht mehr streng auf der Offenbarung – gründenden Weise in Anspruch.“ 92 87
Grundlegend Norbert Lüdecke, Die Grundnormen des katholischen Lehrrechts in den päpstlichen Gesetzbüchern und neueren Äußerungen in päpstlicher Autorität (fzK 28), Würzburg 1997, 230–293; vgl. Ries, Amt, 313 f.; vgl. Mussinghoff, MK 749. 88 Vgl. Lüdecke, Grundnormen, 289–294. 89 Vgl. Johannes Paul II, Apostolisches Schreiben ‚Ordinatio Sacerdotalis‘ vom 22. Mai 1994, in: Acta Apostolicae Sedis 86 (1994), 545–548. 90 Vgl. Johannes Paul II., Motu proprio ‚Ad tuendam fidem‘ vom 18. Juni 1998, in: Acta Apostolicae Sedis 90 (1998), 457–461; den lehrrechtlichen Kommentar der Glaubenskongregation hierzu in: Acta Apostolicae Sedis 90 (1998), 544–551. 91 Vgl. KKK 88. 92 Michael Seewald, Reform. Dieselbe Kirche anders denken, Freiburg i. Br. 2019, 73.
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Dem Papst kommt die „Kompetenz der Kompetenz“ 93 zu, darüber zu entscheiden, wie die Höchstgewalt in der Kirche in den exemplarisch beschriebenen munera ausgeübt wird, die auch dem Bischofskollegium mit und unter dem Papst zukommt. Aus sich heraus kann das Bischofskollegium nicht darüber befinden, ob es aktualisiert Höchstgewalt ausüben möchte oder nicht. Darüber entscheidet allein der Papst, auch in welcher Form (feierlich-ordentlich).
4. Papst – Bischofskollegium So sehr auf dem Zweiten Vaticanum darum gerungen wurde, Papst und Bischofskollegium wieder näher aufeinander zu beziehen, wird man nicht nur mit Blick auf die NEP, die Papst Paul VI. Lumen gentium anfügen ließ, sondern auch mit Blick auf die cc. 330 und 336 CIC vor überzogenen Erwartungen einer etwaigen Einhegung des Papstes in das Bischofskollegium warnen müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Zunächst übernimmt c. 330 CIC nahezu wörtlich LG 22, wobei die Erläuterungen der NEP mitzulesen sind. Danach bilden der Papst, der Nachfolger Petri, und die Bischöfe, die Nachfolger der Apostel, untereinander ein einziges Kollegium wie nach der Anordnung des Herrn, der heilige Petrus und die übrigen Apostel ein Kollegium gebildet haben. 94 Unbestritten wird das Bischofskollegium als Nachfolgeorgan des Apostelkollegiums konfiguriert. Dabei sind weder Petrus losgelöst vom Apostelkollegium noch der Papst vom Bischofskollegium zu denken. Beide verdanken ihren Ursprung dem Herrn selbst und sind somit unbestritten dem göttlichen Recht zuzuordnen. Aber schon c. 330 CIC verdeutlicht, dass zwischen diesen beiden Ordnungen keine Identität besteht, sondern nur eine Verhältnisgleichheit. Von daher ist im Canon selbst von „pari Die juridische Umsetzung erfolgte durch die Neueinführung des c. 750 § 2 CIC und ihrer strafrechtlichen Absicherung in c. 1371 Nr. 1 CIC; vgl. Acta Apostolicae Sedis 90 (1998), 460. 93 Aymans-Mörsdorf KanR II, 211. 94 Vgl. LG 22: „Wie nach der Verfügung des Herrn der heilige Petrus und die übrigen Apostel ein einziges apostolisches Kollegium bilden, so sind in entsprechender Weise der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, und die Bischöfe, die Nachfolger der Apostel, untereinander verbunden.“
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ratione“, d. h. in entsprechender Weise die Rede. Ganz im Gefolge der NEP geht somit die außerordentliche Vollmacht der Apostel nicht auf ihre Nachfolger über, sondern nur die Funktionen des authentischen Lehrens, des Heiligens und Leitens. Ebenso ist in NEP 1 mitzulesen, dass keine Gleichheit zwischen Haupt und Gliedern anzunehmen und dass auch der Begriff des Kollegiums nicht juridisch zu verstehen sei im Sinne der Übertragung der Vollmacht des Kollegiums an sein Haupt, was den Eindruck von gleichrangigen Subjekten insinuieren würde. Während der Papst als direkter Nachfolger Petri identifiziert wird und somit Haupt des Bischofskollegiums ist, aber nicht Nachfolger Christi, werden die Mitglieder des Bischofskollegiums keinen konkreten Aposteln zugeordnet. Fragt man nach dem genauen Zusammenspiel von Papst und Bischofskollegium, so bleibt nach c. 330 CIC vieles auf den ersten Blick noch in der Schwebe, wird dann aber durch die cc. 334 und 336 CIC deutlicher geklärt. Mit Joseph Ratzinger gesprochen ist der Primat nicht bloß eine Funktion des Episkopates, andererseits aber auch der Episkopat nicht bloß ein Instrument des Primates. 95 Entscheidend ist das Prinzip der Kollegialität, das theologisch in der Bischofsweihe gründet. Dieses weist aber eine doppelte Grenze auf: einerseits die Abhängigkeit des Kollegiums vom Papst und andererseits die Unabhängigkeit des Papstes vom Kollegium. 96 Grundlagen der Mitgliedschaft im Bischofskollegium sind nach c. 336 CIC die Bischofsweihe 97 und die hierarchische Gemeinschaft untereinander (vgl. LG 22). Seltsam genug wird nicht nur vier Mal die Rede vom Haupt des Kollegiums bemüht, um scheinbar auch dem letzten Normrezipienten klar zu machen, wer das Sagen im Kollegium hat, sondern der Papst wird nicht wie in LG selbst, leider aber in der NEP, als Romanus Pontifex 98 bezeichnet, sondern als Summus Pontifex 99, eine Bezeichnung, die nach LG 18–20 ausschließlich Jesus Christus vorbehalten wird. Damit kommt es zu einer Überbetonung des Papstes als Haupt des Bischofskol95
Vgl. Ratzinger, Volk, 140. Vgl. Stoffel, MK 330, 5. 97 Leider übernimmt c. 336 CIC die aus LG 22 stammende und missverständliche Formulierung „sacramentalis consecratio“, während der c. 49 CCEO theologisch stimmiger von „sacramentalis ordinatio“ spricht und somit keinen Zweifel an der Sakramentalität der Bischofsweihe aufkommen lässt. Vgl. Stubenrauch, Papst, 95. 98 Vgl. aber c. 49 CCEO, wo wieder vom Romanus Pontifex die Rede ist. 99 Die NEP entlehnt diesen Begriff aus Pastor Aeternus 3. 96
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legiums. Das hat weitreichende Folgen auch für den kirchenrechtlichen Befund: So sehr im Bischofskollegium das Apostelkollegium fortdauert, so kann es nach c. 336 CIC nur „zusammen mit seinem Haupt und niemals ohne dieses Haupt“ existieren und agieren. Die Stellung des Papstes als Haupt des Kollegiums, als Hirte der Gesamtkirche und Stellvertreter Christi bleibt trotz seiner Einbindung als Bischof von Rom in das Bischofskollegium ungeschmälert erhalten. Als Papst kann er allein handeln, während das Bischofskollegium nur mit dem Papst als seinem Haupt handeln kann. So kann der Papst als Hirte der Gesamtkirche alleine für die Kirche handeln, das Bischofskollegium aber nur mit dem Papst. Die Aktivitäten des Papstes als „Träger des Primates erfolgen nicht im Namen des Bischofskollegiums, sondern im Auftrag und in der Vollmacht Christi“ 100. Obgleich das Bischofskollegium ein fortdauerndes, eigenständiges Rechtssubjekt als Kollegium ist, 101 damit den Träger auch von Höchstgewalt in der Kirche darstellt, ist es doch der Papst, der nach c. 333 § 2 CIC darüber entscheidet, ob er sein Amt persönlich oder kollegial ausübt. 102 Diese Kompetenz-Kompetenz-Regelung verdeutlicht den uneingeschränkten Handlungsspielraum, der in dieser Form dem Bischofskollegium rechtlich nicht zukommt. Gleichwohl wird seine Höchstgewalt als universal und voll bezeichnet („subiectum quoque supremae et plenae potestatis“). Sie bezieht sich also auch auf die Universalkirche, umgreift alle beschriebenen munera und dementsprechend umfasst es auch umfassende Leitungsgewalt. „Das Bischofskollegium ist mit seiner Höchstgewalt beispielsweise nicht sektoral auf Akte der Gesetzgebung beschränkt, sondern kann auch in den Bereichen der Verwaltung und Rechtsprechung tätig werden, mag dies praktisch auch so gut wie nie geschehen.“ 103 Doch selbst die Beschlüsse auf einem Ökumenischen Konzil, oder verstreut über den Erdkreis 104, in der Lehre, bedürfen nach c. 341 CIC der Genehmigung durch den Papst oder müssen wie beim Thema Verbot der Frauenordination nach c. 749 § 3 CIC vom Papst um ihrer eindeutigen Erkennbarkeit willen festgestellt werden, damit sie verbind100 101 102 103 104
Schwendenwein, Kirche, 217 mit Bezug auf Stoffel, MK 336, 3. Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, 216. Vgl. c. 333 § 2 CIC. Aymans-Mörsdorf KanR II, 218. Vgl. c. 749 § 2 CIC.
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lich für alle Gläubigen werden. Somit mag die Höchstgewalt voll genannt werden, im Vergleich dazu ist die Höchstgewalt des Papstes voller, weil alle kollegialen Akte des Bischofskollegiums nicht nur mit ihm, sondern mit seiner ausdrücklichen Zustimmung erfolgen müssen. Zudem kann der Papst ohne Rückbindung an das Bischofskollegium völlig frei seine Höchstgewalt einsetzen. Sicher bleiben Papst und Bischofskollegium theologisch eindeutig aufeinander bezogen. Rechtlich wird dem Papst aber keine Verpflichtung auferlegt, in bestimmten Sektoren kollegial handeln zu müssen. Bis heute zwischen Dogmatik und Kanonistik umstritten ist die Frage, die damit weiterhin der wissenschaftlichen Diskussion offensteht, weil sie letztlich nicht vom Lehramt der Kirche verbindlich entschieden wurde, ob es nun zwei Träger der Höchstgewalt in der Kirche gibt oder doch nur einen Träger der Höchstgewalt in zwei Ausformungen. In der Kirchenrechtswissenschaft wird bis heute mehrheitlich die Position von zwei inadäquat voneinander verschiedenen Trägern der Höchstgewalt in der Kirche eingenommen: 105 „der Papst als Stellvertreter Jesu Christi einerseits und das Bischofskollegium mit dem Papst als seinem Haupt verbunden andererseits. Beide Vollmachtsträger sind in der Person des Papstes miteinander verbunden, so daß es zwischen ihnen nicht zu einem Widerspruch kommen kann. Bei primatialem Vorgehen wird die Vollmacht tätig, die dem Papst unabhängig vom Kollegium persönlich zukommt.“ 106 Demgegenüber vertrat zum Beispiel Karl Rahner die Auffassung, dass die Ausübung der Höchstgewalt in einer funktionellen Zweiheit bei gleichzeitiger Annahme des Bischofskollegiums als einzigem Träger mit dem Papst als seinem Haupt zu sehen sei. 107 Die päpstliche Primatialgewalt stelle die äußerste Verdichtung jener einen kirchlichen Höchstgewalt dar,
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Maßgeblich immer noch: Klaus Mörsdorf, Die hierarchische Verfassung der Kirche, insbesondere der Episkopat, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 134 (1965), 88–97, hier: 90; Wilhelm Bertrams, Die Einheit von Papst und Bischofskollegium in der Ausübung der Hirtengewalt durch den Träger des Petrusamtes, in: Gregorianum 48 (1967), 28–48. 106 Hubert Müller, Träger der obersten Leitungsgewalt, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts (1. Auflage), 248–252, hier: 248 f. 107 Vgl. Karl Rahner, Über das ius divinum des Episkopates, in: Ders., Josef Ratzinger, Episkopat und Primat (Quaestiones Disputatae 11), Freiburg i. Br. 1961, 86–93.
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die in ihrer breitesten Entfaltung dem gesamten Bischofskollegium zukomme. 108
5. Papst – einzelner Diözesanbischof Zu den Eigentümlichkeiten des kirchlichen Verfassungsrechtes gehört die Tatsache, dass sowohl der Diözesanbischof nach c. 381 § 1 CIC in der ihm anvertrauten Diözese alle ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare Gewalt besitzt, die zur Ausübung seines Hirtendienstes erforderlich ist und gleichzeitig in c. 333 § 1 CIC festgestellt wird, dass dem Papst kraft seines Amtes nicht nur Gewalt im Hinblick auf die Gesamtkirche zukommt, sondern dass er auch über alle Teilkirchen und deren Verbänden einen Vorrang ordentlicher Gewalt besitzt. Diese im Ersten Vaticanum 109 und auf dem Zweiten Vaticanum 110 vorgenommene Festlegung führt zur Konkurrenz zweier konkurrierender Jurisdiktionsgewalten in einer Teilkirche: die des Papstes, der im Ernstfall der Vorrang zukommt, und die des Diözesanbischofs. 111 Durch diesen Vorrang solle aber nach c. 333 § 1 CIC die eigenberechtigte, ordentliche und unmittelbare Gewalt der Diözesanbischöfe gestärkt und geschützt werden, die diese für ihre Teilkirchen, die ihnen anvertraut wurden, ausüben. Es wurden in der Kirchenrechtswissenschaft vielfältige Bemühungen unternommen, diesen Vorrang des Papstes einzuhegen in ein System von Bedingungen und Situationen. Eine Richtung zielt darauf ab, nur dann diesen Vorrang des Papstes zur Anwendung kommen zu lassen, wenn vor Ort der Diözesanbischof ausfällt oder durch eine Situation vor Ort so starker Schaden für 108
Vgl. Winfried Aymans, Papst und Bischofskollegium als Träger der kirchlichen Hirtengewalt, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 135 (1966), 136–147, hier: 146 f. 109 Vgl. Pastor Aeternus 3. 110 Vgl. CD 2a: „In dieser Kirche besitzt der römische Bischof als Nachfolger des Petrus, dem Christus seine Schafe und Lämmer zu weiden anvertraute, aufgrund göttlicher Einsetzung die höchste, volle, unmittelbare und universale Seelsorgsgewalt. Weil er also als Hirte aller Gläubigen gesandt ist, für das Gemeinwohl der ganzen Kirche und für das Wohl der einzelnen Kirchen zu sorgen, hat er den Vorrang der ordentlichen Gewalt über alle Kirchen.“ 111 Vgl. Stoffel, MK 333, 2.
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die Kirche droht, dass der Papst eingreifen muss. 112 Dabei sei der Papst an Schrift und Tradition gebunden. 113 Zudem streite die Rechtsvermutung immer für das Subsidiaritätsprinzip 114 und letztlich sei es dann die Macht des Heiligen Geistes als überrechtlichem Prinzip, die schon zur Gelassenheit anrege und dafür Sorge, dass der Papst nur wirklich dann seinen Vorrang einsetze, wenn es in der Sache geboten sei. 115 Aber selbst in diese Richtung wohlmeinende Kirchenrechtler müssen konstatieren, dass die Freiheit des Papstes in der Ausübung seines Amtes keiner rechtlichen Beschränkung unterliegt. 116 Damit ist Georg Bier recht zu geben, dass es allein Sache des Papstes ist, darüber zu entscheiden, ob er in eine Teilkirche interveniert. Interveniert er, ist dieser primatiale Akt per se geeignet und zielt darauf ab, die potestas ordinaria des zuständigen Diözesanbischofs zu stärken und zu schützen. 117 Dazu zählt Bier auch Präventivmaßnahmen des Papstes, aber auch Interaktionen in eine Diözese ohne konkreten Anlass. 118 Der Mainzer Kanonist Georg May bringt es noch deutlicher auf den Punkt: „Mit dem Wort semper in c. 331 ist der irrigen Meinung vorgebeugt, der Papst könne seine Gewalt nur unter außergewöhnlichen Umständen ausüben. […] Der Papst kann seine Vollmacht auch frei ausüben, was besagt, daß er nicht an Bedingungen oder Vorgaben anderer gebunden ist.“ 119 Zu dieser Unmittelbarkeit des Papstes gehört als ihre Kehrseite, dass jeder Gläubige „sich in jeder Sache unmittelbar und unter Umgehung aller ordentlicherweise zuständigen Instan112
Vgl. Peter Krämer, Kirchenrecht II. Ortskirche – Gesamtkirche, Stuttgart 1993, 101. 113 Vgl. Stoffel, MK 333, 2. 114 Vgl. Matthäus Kaiser, Das Prinzip der Subsidiarität in der Verfassung der Kirche, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 133 (1964), 3–13. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass trotz der Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip kein Papst, der von seinem Vorrang ordentlicher Gewalt Gebrauch macht, von irgendeiner Instanz für einen unrechtmäßigen Eingriff rechtswirksam gerügt oder gar der Rechtswidrigkeit seines Handelns überführt werden könnte. 115 Vgl. Krämer, Kirchenrecht II, 101 f. mit Verweis auf Hubert Müller, Die Stellung des Diözesanbischofs in der Partikularkirche aufgrund des Codex Iuris Canonici von 1983, in: Theologie und Glaube 76 (1986), 94–110, hier: 106. 116 Vgl. Stoffel, MK 333, 2. 117 Vgl. Bier, Rechtsstellung, 151 f. 118 Vgl. ebd., 152. 119 May, Episcopus, 532.
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zen direkt an den ‚Heiligen Vater‘ wenden“ 120 kann. Diese Form des katholischen Volkssportes der rechtlich legitimen Denunziation destabilisiert natürlich die Amtsgewalt und damit die faktische Stellung eines Diözesanbischofs in seiner Diözese. Während der spätere CCEO manche terminologische Ungenauigkeit des Codex von 1983 in diesem Themenfeld verbessern konnte, ist er bei diesem Sachverhalt eher noch ernüchternder. Heißt es im c. 333 § 2 CIC zumindest noch, dass der Einsatz des Vorrangs der Gewalt des Papstes den Diözesanbischof stärken und schützen soll, sieht c. 178 CCEO 121 auch diese Konditionierung nicht vor, sondern normiert, dass zwar auch der Eparchialbischof eigenberechtigte, ordentliche und unmittelbare Gewalt besitze, die jedoch „letztlich von der höchsten Autorität geregelt wird und durch bestimmte Grenzen hinsichtlich des Nutzens für die Kirche oder die Gläubigen eingeschränkt werden“ 122 könne.
6. Ausblick: eine andere Art, das Papsttum zu denken? Es dürfte deutlich geworden sein, dass das kirchliche Gesetzbuch von 1983 wie auch der CCEO von 1990 ohne jede Einschränkung die primatiale Stellung des Papstes absichern und letztlich ausbauen. In einer klaren Linie vom Ersten Vaticanum über das Zweite Vaticanum mit besonderer Einbeziehung der NEP wird somit kirchenrechtlich der Papst als absolutistischer Wahlmonarch perpetuiert und auf unbestimmte Zeit rechtlich zementiert. Hier helfen auch keine noch so gut gemeinten „Containerbegriffe“ 123 wie „synodaler Weg“, der nach Michael Seewald nur Druck aus dem Kessel, aber nicht zu wirklichen Veränderungen der Sozialgestalt der 120
Johannes Neumann, Grundriß des katholischen Kirchenrechts, Darmstadt 1981, 137. 121 C. 178 CCEO: „Episcopus eparchialis, cui scilicet eparchia nomine proprio pascenda concredita est, eam ut vicarius et legatus Christi regit; potestas, quae ipse nomine Christi personaliter fungitur, est propria, ordinaria et immediata, etsi a suprema Ecclesiae auctoritate exercitium eiusdem potestatis ultimatum regitur et certis limitibus intuitu utilitatis Ecclesiae vel christifidelium circumscribi potest.“ 122 Ries, Amt, 320. 123 Vgl. Daniel Bogner, Ihr macht uns die Kirche kaputt … doch wir lassen das nicht zu!, Freiburg i. Br. 2019, 96.
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Kirche führen soll 124, oder „Communio“ 125, der eher die kirchenrechtlich exakt beschriebenen Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen Papst und Diözesanbischöfen kaschiert. Gefordert ist eine ernsthafte, von ökumenischer Grundhaltung getragene Relecture der Papstdogmen auf dem Ersten Vaticanum, das heißt einer in der Sache gebotenen Abrüstung primatialer Machtansprüche, die im Kern jedoch den Dienst an der Einheit der Christenheit nicht nivelliert. Eine solche „Dogmenentwicklung zwischen geschichtlicher Kontingenz und gläubiger Hoffnung“ 126 steht aber noch aus und braucht allein den, den es betrifft: den Papst!
124
Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/katholische-kirche-wenn-paepste-pein lich-werden.886.de.html?dram:article_id=453944, [Zugriff: 21. 07. 2019]. 125 Vgl. Oskar Saier, ‚Communio‘ in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, München 1973. 126 Michael Seewald, Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg i. Br. 2019, 290.
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Der Papst als Souverän und die Kirche als Gemeinschaft Zur dogmatischen Weiterentwicklung des Ersten Vatikanischen Konzils
1. Einleitung Lehramtliche Bezugnahmen auf lehramtliche Texte und Referenzen von Konzilien auf Konzilien sind meist von Kontinuitätskosmetik bestimmt. Man betont gerne, dass man eingeschlagene Wege weitergehe, getroffene Festlegungen schadlos halte und bereits angesprochene Themen vertiefe. Von dieser Technik macht auch das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Selbstpositionierung gegenüber dem Ersten Vaticanum Gebrauch. Die Dogmatische Konstitution Lumen Gentium betont, dass die Kirche auf dem Zweiten Vaticanum „das Thema der vorausgehenden Konzilien fortführen“ (LG 1) wolle und dass „diese heilige Synode den Weg des Ersten Vatikanischen Konzils fortsetzt“ (LG 18). Dort, wo Kontinuität eigens affirmativ bekräftigt werden muss, liegt sie nicht offen zutage, so dass sich zumindest ein zweiter Blick lohnt, um zu betrachten, in welchem Maße die behauptete Kontinuität tatsächlich vorhanden ist. 1 Die folgenden Überlegungen versuchen darzustellen, wie das Erste Vatikanische Konzil sich ein Bedrohungsnarrativ zu eigen machte und eine theologische Strategie entwickelte, die man als dogmatische Entdifferenzierung bezeichnen könnte. Das Zweite Vatikanische Konzil hingegen, so ist zu zeigen, mühte sich um eine dogmatische Redifferenzierung, die das Erste Vaticanum 1
So lautet eine der Interpretationsregeln von Otto Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte, Kevelaer 42012, 154: „Wenn in den Konzilstexten etwas besonders eingeschärft wird, besteht der dringende Verdacht, daß es gerade relativiert und abgeschwächt werden soll.“
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nicht negierte, in deren Licht es aber die Festlegungen des Ersten Vaticanums weiterzuentwickeln suchte.
2. Im Angesicht eines Bedrohungsnarrativs Betrachtet man die Liste der heute aus katholischer Sicht als ökumenisch anerkannten Konzilien, so fällt auf, dass es keinen vergleichbar lange andauernden Ausfall des synodalen Moments auf universalkirchlicher Ebene gab, wie jene über dreihundert Jahre, die zwischen dem Tridentinum und dem Ersten Vaticanum liegen. 2 Entsprechend umfangreich waren die Veränderungen, zu denen bis dato jede konziliare Verständigung innerhalb der katholischen Kirche fehlte.
2
Der Begriff des Ökumenischen Konzils deckt „keine univoke, sondern eine in den verschiedenen Epochen sehr disparate Realität ab.“ (Klaus Schatz, Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, Paderborn 22008, 17) Schatz unterscheidet drei „strukturverschiedene Konzilstypen“, die in der katholischen Kirche unter diesem Terminus firmieren: die kaiserlichen Reichskonzilien der Antike, die mittelalterlichen Konzilien der lateinischen Christenheit und die neuzeitlichen Synoden der katholischen Konfessionskirche. Die derzeit aus katholischer Sicht als ökumenisch qualifizierten 21 Synoden – in deren Zählung das Erste Vaticanum das 20. Ökumenische Konzil bildet – verdanken sich einer neuzeitlichen Systematisierung, die die papale Anerkennung als Kriterium der Ökumenizität betrachtet (vgl. Karl-August Fink, Konziliengeschichtsschreibung im Wandel?, in: Ders., Das Konstanzer Konzil. Umstrittene Rezeption, herausgegeben mit einer Einführung von Joachim Köhler [Theologie, Forschung und Wissenschaft 52], Münster 2016, 117– 126). Im Mittelalter wäre eine Theorie, die etwa die Lateransynoden in eine Reihe mit dem Konzil von Nicaea stellt, inakzeptabel gewesen. Papst Eugen IV. unterschied im 15. Jahrhundert ein „concilium oecumenicum“, an dessen Zustandekommen auch Vertreter der Ostkirchen teilnehmen mussten, von einem „concilium generale“, das eine für die lateinische Westkirche verbindliche Synode war (vgl. Hermann Josef Sieben, Kleines Lexikon zur Geschichte der Konzilsidee, Paderborn 2018, 36 f.). Der Aufstieg des Papalen zum Erkennungsmerkmal des Ökumenischen ist ein Reflex neuzeitlicher Konfessionstheologie, die aus katholischer Sicht Wert darauf legte, dass die Einheit der Kirche Jesu Christi in der katholischen Kirche unter Leitung des Papstes bewahrt worden sei, weshalb diese Kirche sich auch als fähig betrachtete, allein – ohne Vertreter der nicht mit Rom unierten Ostkirchen und ohne die evangelischen Christen – ein Ökumenisches Konzil zu veranstalten.
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Als das Tridentinum im Jahr 1545 nach langem Tauziehen zusammentrat, war Martin Luther noch am Leben, Vertreter der evangelischen Reichsstände nahmen zeitweise am Konzil teil und es erschien ungewiss, wie weit die Reformation sich über die erste Generation ihrer Vertreter hinaus würde festigen können. In der Folgezeit entwickelten sich in Europa und anderen Teilen der Welt mehr oder minder stabile Kulturen christlicher Multikonfessionalität. Während die katholische Kirche zunächst im 16. Jahrhundert damit umgehen musste, dass ihr christliche Herrscher gegenüberstanden, die die kirchliche Autorität in religiösen Fragen nicht mehr anerkannten, zeichneten sich durch die politischen Umwälzungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts selbst in vorwiegend katholisch geprägten Ländern tiefgreifende, teils paradoxale Veränderungen im Verhältnis des Staates zur Kirche ab. Entweder Religion wurde eine Angelegenheit, aus der der Staat sich weitgehend zurückzog, was der Kirche nicht recht war, oder aber Religion wurde im Sinne staatskirchlicher Tendenzen derart politisiert, dass die Herrscher sich als die in religiösen Fragen eigentlich Zuständigen betrachteten, was der Kirche ebenfalls nicht behagte. Am Vorabend des Ersten Vatikanischen Konzils gab es in Europa – außer dem in seiner Ausdehnung geschrumpften und in seinem Bestand bedrohten Kirchenstaat – kein einziges Land mehr, das der seit der Spätantike favorisierten, an den Politischen Augustinismus angelehnten Staatstheorie der Päpste entsprochen hätte, der zufolge der Staat sich in religiösen Fragen zugunsten der katholischen Lehre zu positionieren und der kirchlichen Hierarchie in ihrer Heilssendung zu dienen habe. 3 Vormals mächtige Verbünde, wie die gallikanisch geprägte Kirche Frankreichs unter Führung des ancien régime oder die Reichskirche in Deutschland, die einerseits die Präsenz des Katholischen im politischen Leben Europas sicherten, andererseits dem Machtanspruch der Päpste Grenzen setzten, waren untergegangen. Dadurch konnte der Papst als Institution, die die Revolutionen und die Säkularisation überstanden hatte, seine in3
Zu dieser Diagnose und ihrer Rolle bei der Vorbereitung des Konzils vgl. Klaus Schatz, Vaticanum I. 1869–1870, 1: Vor der Eröffnung (Konziliengeschichte Reihe A: Darstellungen), Paderborn 1992, 151. Zum Arbeitsbegriff des Politischen Augustinismus vgl. Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft. Mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Freiburg i. Br. 32014, 70–72.
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nerkirchliche Stellung festigen. Er musste aber gleichzeitig mit dem verstärkten Druck umgehen, der durch einen veränderten Diskursrahmen auf der katholischen Kirche lastete. Diese nur skizzenhaft angedeuteten Entwicklungen waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der konziliaren Thematisierung auf im katholischen Sinne universalkirchlicher Ebene entzogen. Es gab zwar Provinzial- und Partikularsynoden, angefangen von Versammlungen, wie etwa den Mailänder Synoden unter dem Einfluss des Karl Borromäus, die sich mit der Umsetzung des Tridentinums befassten, bis hin zu den Provinzialkonzilien im Pontifikat Pius IX. In der Periode zwischen dem Tridentinum und dem Ersten Vaticanum fanden auch in ihrem Charakter und Verbindlichkeitsgrad umstrittene Versammlungen statt, die sich mit dogmatischen Fragen beschäftigten, zum Beispiel die französische Klerusversammlung 1682 oder die unter dem Schutz des damaligen Großherzogs der Toskana und des späteren Kaisers Leopold II. abgehaltene Synode von Pistoia 1786. Diese Synoden oder synodalen Versammlungen gerieten jedoch in Konflikt mit dem Papst und fanden keine offizielle Anerkennung durch die katholische Kirche. Trotz des nicht gänzlichen Erlöschens synodaler Aspekte ist es dem Papstamt in nachtridentinischer Zeit gelungen, das konziliare Moment der Kirchenleitung zugunsten des primatialen weitgehend auszuschalten. Wie die Kirche auf neuere Fragestellungen antworten sollte, entschied in erster Linie der Römische Pontifex. Er tat dies meist in einer kondamnierenden Grundhaltung. Dieser Habitus sollte nach den Wünschen Pius IX. auch das von ihm einberufene Konzil prägen. Nicht zufällig artikulierte der Papst seine Konzilsidee zum ersten Mal im zeitlichen Umfeld der Veröffentlichung von Quanta cura und des Syllabus errorum. Am 6. Dezember 1864, zwei Tage vor der Publikation dieser Enzyklika und der Liste von aus Sicht des Papstes verurteilungswürdigen Irrtümern, bat Pius IX. die Mitglieder der Ritenkongregation, bald danach dann alle Kurienkardinäle, um eine vertrauliche Einschätzung zu seiner Idee, ein Ökumenisches Konzil einzuberufen. 4 Dieser zeitliche Kontext steckte auch den sachlichen Rahmen des Konzils ab. Man fühlte sich bedroht und reagierte verurteilend. Bereits ein flüchtiger Blick in die Konzilsakten belegt dies. In seinem Eröffnungsdekret benennt der Papst die extirpatio grassantium errorum, 4
Vgl. Schatz, Vaticanum I (Bd. 1), 93.
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die Ausrottung der um sich greifenden Irrtümer, als Konzilsziel. 5 Die Dogmatische Konstitution Dei Filius über den katholischen Glauben meint, eine impietas circumquaque grassans (COD III, 805, 3), einen überall wuchernden Frevel feststellen zu können, der auch die Söhne der katholischen Kirche vom Weg wahrer Frömmigkeit abbringe. Die Konzilsväter sehen, angesichts der wahrgenommenen Dramatik vermutlich bewusst tautologisch formuliert, die „inneren Eingeweide“ (intima viscera) der Kirche erschüttert (COD III, 805, 11), weshalb es gelte, alle Irrtümer zurückzuweisen und zu verurteilen (COD III, 805, 29 f.). Die nach den Konzilsplänen erste Dogmatische Konstitution über die Kirche Pastor Aeternus, der aufgrund des vorzeitigen Konzilsabbruchs keine zweite mehr folgen sollte, glaubt, die Primatialstellung des Petrus im Kreis der Apostel und die des Papstes im Kreis der Kirche gegen ihr entgegenstehende, höchst verderbliche Irrtümer bekräftigen zu müssen (COD III, 812, 13). Manche Frevler beabsichtigten gar, so die Wahrnehmung des Konzils, die von Christus eingerichtete Regierungsform der Kirche umzustürzen und die bestehende Ordnung zu zerstören (COD III, 812, 31). Gegen alle, die die Autorität des Nachfolgers Petri und damit der katholischen Kirche herabsetzen, müsse das Konzil daher entschieden vorgehen (COD III, 816, 23 f.). Diese Formulierungen zeigen: Die Mehrheit der Konzilsväter – freilich nicht alle katholischen Zeitgenossen 6 – teilte mit Pius IX. ein recht
5
Vgl. Conciliorum Oecumenicorum Decreta, curantibus Josepho Alberigo, Josepho A. Dossetti, Perikle-P. Joannou, Claudio Leonardi, Paulo Prodi, consultante Huberto Jedin. Lateinisch-deutsche Ausgabe: Dekrete der Ökumenischen Konzilien 3: Konzilien der Neuzeit, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth, Paderborn 32002, 802 (Z. 5 f.). Künftig mit Seitenzahl und Zeilenangabe zitiert: COD III. 6 John Henry Newman etwa gab in einem während des Konzils, am 28. Januar 1870, verfassten Brief zu bedenken, dass dogmatische Definitionen stets in Abwehr zu einer Bedrohung erfolgen, die das zu Definierende in Frage stelle. Eine solche Bedrohung, die die Definition des päpstlichen Jurisdiktionsprimats oder gar der Unfehlbarkeit des Papstes rechtfertigen würde, sah Newman in seiner Zeit nicht. Daher betrachtete er diese in seinen Augen unnötige Definition als „einen Luxus der Frömmigkeit“, die die Gläubigen missachte und bloß von „einer aggressiven, unverschämten Fraktion“ vorangetrieben werde. Newman ist gar der Überzeugung, dass eine
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undifferenziertes Bedrohungsnarrativ und eine Strategie, wie die Kirche der empfundenen Bedrohung begegnen solle. Die für das Konzil leitende Bedrohungserzählung deutete die Moderne, wie der Syllabus errorum (DH 2901–2980) dokumentiert, als eine kirchenfeindliche und von Irrtümern durchtränkte Angelegenheit. Die Rede von der Moderne ist in diesem Zusammenhang mehrdeutig. Es gilt, den heute gebräuchlichen, vielgestaltigen Arbeitsbegriff von dem zu unterscheiden, was Pius IX. und andere katholische Theologen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts meinten, wenn sie von den errores moderni, den errores temporum modernorum oder den errores modernorum sprachen. Letztere verstanden unter der Moderne pejorativ „einfach die Zeit, in der sie gerade lebten (englisch age), womit sie nun allerdings eine negative Wertung verbanden. Die ‚Moderne‘, der ‚moderne Mensch‘, die ‚moderne Kultur‘, die ‚moderne Wissenschaftlichkeit‘, die ‚moderne Denk- und Sprechweise‘, so hieß es, sei nichts anderes als der Abfall von den Werten des Christentums, wie sie im Mittelalter [als der Moderne gegenübergestelltes, katholisches Ideal- und Sehnsuchtszeitalter; M. S.] gegolten hatten.“ 7 Die kirchliche Reaktion auf die in ihren religiösen Auswirkungen undifferenziert wahrgenommene Moderne war ein ebenso undifferenzierter Gestus des Verurteilens. Dieser Gestus wirkte sich auch auf die Kirche selbst aus, da die hergebrachte Vielfalt, bisweilen gar Uneindeutigkeit der kirchlichen Verfassung ebenfalls entdifferenziert wurde: Der Papst stieg, ungeachtet der Rolle, die andere Instanzen – zum Beispiel die Bischöfe – bis dato in dogmatische Definition der Unfehlbarkeit das Reich Gottes in seinem Erscheinen weit zurückwerfen werde. John Henry Newman an William Bernard Ullathorne, 28. Januar 1871, zitiert nach: The Letters and Diaries of John Henry Newman (Band 25: The Vatican Council, January 1870 to December 1871), edited by the Birmingham Oratory with notes and an introduction by Charles Stephen Dessain and Thomas Gornwell, Oxford 1973, 18 f.: „What have we done to be treated, as the faithful never were treated before? When has a definition of doctrine de fide been a luxury of devotion, and not a stern painful necessity? Why should an aggressive insolent faction be allowed to ‚make the heart of the just to mourn, whom the Lord hath not made sorrowful‘ ? […] If it is God’s will that the Pope’s infallibility should be defined, then it is His blessed will to throw back ‚the times and the moments‘ of that triumph which He has destined for His kingdom.“ 7 Otto Weiß, Aufklärung, Modernismus, Postmoderne. Das Ringen der Theologie um eine zeitgemäße Glaubensverantwortung, Regensburg 2017, 28.
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der Kirche innehatten, zum alleinigen und souveränen Monarchen über der kirchlichen societas perfecta auf.
3. Juridische Entdifferenzierungen: Der Papst als Souverän über der Kirche In der öffentlichen Wahrnehmung des Ersten Vatikanischen Konzils steht die Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes bei Ausübung seines außerordentlichen Lehramtes im Vordergrund. Dieser Eindruck ist nicht falsch, droht aber zu verkennen, dass die Unfehlbarkeit nur im Rahmen des päpstlichen Jurisdiktionsprimats behandelt werden konnte und gleichsam der doktrinale Ausfluss der souveränen, päpstlichen Rechtssetzungskompetenz ist. Die dogmatische Beschreibung dieser Kompetenz, vor allem im Verhältnis zu anderen möglichen Subjekten ekklesialer Rechtssetzung, wie den Staaten oder den Bischöfen, bildete das Grundthema des Konzils. Erst in dessen Verlauf hat sich die Frage nach dem Primat des Papstes auf die in ultramontanen Kreisen favorisierte Theorie päpstlicher Unfehlbarkeit hin zugespitzt. Hermann Josef Pottmeyer konnte nachweisen, dass „die päpstliche Unfehlbarkeit für die ultramontane Theologie im wesentlichen eine verfassungspolitische Frage war: Es ging um Unabhängigkeit nach außen und klare Entscheidungskompetenz nach innen. Die Übernahme des absolutistischen Souveränitätsbegriffs hat die Unfehlbarkeitsfrage im 19. Jahrhundert wesentlich bestimmt.“ 8 Souveränität oder maiestas bezeichnet in diesem Zusammenhang das Recht, eine letztinstanzliche, verbindliche Entscheidung zu treffen und die Verfügungsgewalt über die nötigen Mittel, um die getroffene Entscheidung auch durchzusetzen. Ein Kennzeichen des Souveräns besteht darin, dass er seinen Entscheidungen aus sich heraus Gültigkeit zu verleihen vermag, also auf keine Approbation angewiesen und keiner Kontrollinstanz unterworfen ist. Die (zumindest idealiter bestehende) Fähigkeit, absolut losgelöst von allen Bindungen Verbindlichkeiten zu setzen, rückt 8
Hermann Josef Pottmeyer, Unfehlbarkeit und Souveränität. Die päpstliche Unfehlbarkeit im System der ultramontanen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts (Tübinger Theologische Studien 5), Mainz 1975, 353.
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die Majestät des Souveräns unverkennbar in die Nähe des Schöpfergottes. Jean Bodin, ein bedeutender Souveränitätstheoretiker der Frühen Neuzeit, bringt dies zum Ausdruck: „Diximus jura maiestatis eum habere, qui post Deum immortalem subditus sit nemini“ 9, Souveränitätsrechte kommen demjenigen zu, der nach Maßgabe des unsterblichen Gottes niemandem Untertan ist. Der Souverän ist in diesem Sinne irdischer Stellvertreter Gottes oder, wie es bei Thomas Hobbes heißt, gar „ein sterblicher Gott“ 10. Es ist wenig überraschend, dass die bei Bodin und Hobbes anzutreffende Verbindung von Souveränität und Göttlichkeit auch im Umkreis der Diskussionen über die Souveränität und Unfehlbarkeit des Papstes auf dem Ersten Vatikanischen Konzil eine Rolle spielte. Manch radikaler Infallibilist, wie der spätere Kardinal Gaspard Mermillod, vertrat die These von der dreifachen Inkarnation Gottes: Gott werde Mensch in Jesus Christus, in den konsekrierten eucharistischen Gaben und in der Person des Papstes. Zahlreiche Antiinfallibilisten hingegen hielten die Definition des unumschränkten päpstlichen Primates samt doktrinaler Unfehlbarkeit nicht nur für zeitlich inopportun oder theologisch falsch, sondern auch für ein Sakrileg. Bischof Joseph Georg Stroßmayer, einer der bedeutendsten Wortführer der Minorität, schrieb in einem Brief mit Blick auf das Konzilsregiment Pius IX.: „Die römischen Kaiser wurden durch einen servilen Senat zum Gott erhoben; heute macht jemand sich selbst zum Gott, und wir sollen es unterschreiben.“ 11 Die Idee, dass der Papst nicht nur als Herrscher des Kirchenstaates politisch in den Kreis der Souveräne gehöre und sich seine kirchliche Souveränität nicht bloß auf disziplinarische Fragen beschränke, sondern sich theologisch in Gestalt dogmatischer Unfehlbarkeit niederschlagen müsse, ist ein Produkt des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Zwei Persönlichkeiten sind mit dieser Theorie eng verbunden: Mauro Cappellari, der unter dem Namen Gregor XVI. selbst Papst werden sollte und der Vorgänger Pius IX. war, sowie der französische Staatstheoretiker Joseph 9
Jean Bodin, De republica libri sex, Frankfurt 1646, I 10 (169). Zur Deutung dieses Begriffs vgl. Ludwig Siep, Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015, 26 f. 11 Beide Zitate (Mermillod und Stroßmayer) finden sich bei: Klaus Schatz, Vaticanum I. 1869–1870, 2: Von der Eröffnung bis zur Konstitution ‚Dei Filius‘ (Konziliengeschichte Reihe A: Darstellungen), Paderborn 1993, 178–181. 10
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de Maistre. 1799, während der französischen Gefangenschaft und im Jahr des Todes Pius VI., veröffentlichte Cappellari sein Werk Il trionfo della Santa Sede e della Chiesa contro gli assalti dei novatori. 12 Darin vertrat er die Ansicht, dass Christus der Kirche eine stabile, historisch invariable Verfassung gegeben habe. An die Spitze dieser Kirche habe Gott den mit den Rechten eines Souveräns ausgestatteten Papst gestellt. Die päpstliche Souveränität betreffe nicht nur die disziplinarische Ordnung der Kirche, sondern auch ihre Glaubenslehre. Dem Papst allein komme es daher zu, über Wahrheit und Irrtum, Häresie und Rechtgläubigkeit zu entscheiden. Die Glaubensverbindlichkeit dieser Entscheidung begründe sich aus sich selbst heraus und bedürfe keiner Zustimmung durch andere Instanzen der Kirche, weshalb es auch keine Appellationsinstanz über dem Papst geben könne. Joseph de Maistre entwickelte eine ähnliche Vorstellung. Weil das Wort des Souveräns in seiner Wahrheit nicht angezweifelt und in seiner Geltung nicht negiert werden könne, ziehe die Souveränität des Papstes, die auch in dogmatischen Fragen gelte, notwendigerweise die Unfehlbarkeit des Papstes nach sich. Sei „die monarchische Form“ der Kirche, so de Maistre, „erst einmal etabliert, ist die Unfehlbarkeit nichts anderes als eine notwendige Konsequenz der Suprematie. Anders gesagt: Es handelt sich um ein und dieselbe Sache unter zwei verschiedenen Bezeichnungen.“ 13 Solche Ideen begannen im Katholizismus des 19. Jahrhunderts bereits vor dem Ersten Vaticanum zu wirken. Angesichts der Umbrüche, denen die Kirche sich vor allem nach der Französischen Revolution gegenübergestellt sah und zu denen sie meinte, dogmatisch meist verurteilend Stellung nehmen zu müssen, erhielt die Lehrverkündigung ein stärker dezisionistisches, das Moment des Entscheidens hervorhebendes Gepräge. Die Vorstellung, dass die Kirche lediglich Zeugnis von etwas ihr Anvertrautem zu geben habe, aber auch der Papst keine Entscheidungsgewalt über das depositum fidei besitze, trat in den Hintergrund. Diese Tendenz 12
Vgl. Ulrich Horst, Unfehlbarkeit und Geschichte. Studien zur Unfehlbarkeitsdiskussion von Melchior Cano bis zum 1. Vatikanischen Konzil, Mainz 1982, 78–120. 13 Joseph de Maistre, Du pape (Œuvres du Comte J. de Maistre), Paris 1841, 249: „La forme monarchique une fois établie, l’infaillibilité n’est plus qu’une conséquence nécessaire de la suprématie, ou plutôt, c’est la même chose absolument sous deux noms différen[t]s.“
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einer entscheidungsförmigen Ausrichtung, die auch in der „Erfindung des ordentlichen Lehramts“ 14 ihren Niederschlag fand, zog einen sich zunehmend steigernden Autoritätsbegriff nach sich. Der Papst wurde zu der Gestalt, die für die Kirche ex auctoritate (eine im Umfeld des Ersten Vaticanums oft anzutreffende Wendung) handeln konnte. Die Dogmatische Konstitution Pastor Aeternus geht davon aus, dass Jesus dem Apostel Petrus persönlich immediate et directe „den Jurisdiktionsprimat über die gesamte Kirche Gottes“ (COD III, 812, 16–18) verliehen habe. Weil dieser Primat „bis heute und allezeit in seinen Nachfolgern, den Bischöfen des heiligen Römischen Stuhles“ (COD III, 813, 9–11), fortbestehe, gelte: „Der heilige Apostolische Stuhl und der Römische Pontifex hat über den gesamten Erdkreis den Primat inne.“ (COD III, 813, 30 f.). Betrachtet man die Aussage in ihrem logischen Zusammenhang, zeigt sich: Von der These des petrinischen Primats im ersten Kapitel der Konstitution und der Behauptung des Übergangs dieses Primats auf die Nachfolger Petri im zweiten Kapitel wird im dritten Kapitel darauf geschlossen, dass dem jeweiligen Papst der petrinische Primat zukomme. Dabei wird deutlich, dass es sich ausschließlich, aber auch restlos um einen Primat über die Kirche – nicht etwa über alle staatliche Gewalt – handle. Weil diese Begrenzung in der zitierten conclusio jedoch, möglicherweise in bewusst gewählter Mehrdeutigkeit, nicht ausgesprochen wird, sondern undifferenziert von einem primatus in universum orbem die Rede ist, sahen sich jene Kritiker bestätigt, die Pius IX. und dem Konzil vorwarfen, einen Primat auch über die Fürsten und Nationen in politischen Fragen anzustreben. Pastor Aeternus vollzieht jedoch weniger einen Ausgriff in den Bereich des Politischen, sondern wendet sich vielmehr vom Juridischen ins Dogmatische. Die Konstitution stellt fest: „Im apostolischen Primat, den der Römische Pontifex als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus über die ganze Kirche innehat, ist auch die höchste Gewalt des Lehramtes [suprema potestas magisterii] eingeschlossen.“ (COD III, 815, 5 f.). Die Lehre der Kirche wird hier nicht mehr in der Kategorie des testimonium, der verbindlichen Zeugnisgabe, sondern in der der potestas, der souveränen Vorlage durch 14
Hubert Wolf, ‚Wahr ist, was gelehrt wird‘ statt ‚Gelehrt wird, was wahr ist‘ ? Zur Erfindung des ordentlichen Lehramts, in: Thomas Schmeller, Martin Ebner, Rudolf Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext (Quaestiones disputatae 239), Freiburg i. Br. 2010, 236–259.
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den Papst, ausgedrückt. Legt der Papst etwas ex cathedra vor, besitzt dies, wie bei Souveränen üblich, seine Geltung aus sich heraus (ex sese), nicht aber durch die Zustimmung derjenigen, die der souveräne Richterspruch bindet (non autem ex consensu ecclesiae). Weil das gesetzgebende Wort des Souveräns von niemanden – außer dem jenseits aller Kontrollinstanzen stehenden Souverän selbst – verändert werden kann, ist es irreformabile (COD III, 816, 27–32).
4. Das Problem der Geschichtlichkeit des Glaubens Die christliche Glaubenslehre ist einerseits geschichtlich bedingt, sie stellt andererseits normativ verbindliche Ansprüche, deren Geltung über die historischen Kontexte ihrer Genesis hinausreichen. Der Begriff der Geschichtlichkeit ist, wo er nicht bloß die Tatsächlichkeit einer sich auf die Vergangenheit beziehenden Behauptung bezeichnet, in den vergangenen Jahrzehnten fast inflationär und vor allem in der Rezeption Martin Heideggers mit einem gewissen Pathos versehen verwendet worden. Dabei ließe sich Geschichtlichkeit mit Walter Kasper nüchtern verstehen als ein „Wechselprozess zwischen Subjekt und Objekt, ein Vermittlungsgeschehen von Welt und Mensch, in dem die Welt den Menschen bestimmt und der Mensch die Welt“ 15. Anders gesagt: Jeder Mensch findet sich in Situationen, die er nicht selbst hervorgebracht hat, die aber auf ihn einwirken und die ihm bestimmte Themen oder Fragestellungen gleichsam aufzwingen. In seiner Freiheit ist der Mensch jedoch nicht bloß rezeptiv, sondern auch spontan und kann sich zu dem, was er vorfindet, verhalten. Er ist damit nicht nur Objekt des auf ihn Einwirkenden, sondern wirkt als Subjekt zurück auf die Welt. Er findet sich in der Geschichte vor und schreibt zugleich an der Geschichte weiter, indem er gewisse Ordnungen durch Wiederholung reproduziert, durch Aussetzen unterbricht oder durch sein Handeln transformiert. Versteht man die christliche Glaubenslehre als geschichtlich bestimmt, bedeutet dies: Sie, die in einem gewissen zeitlichen Kontext entstanden ist, kann nur als Antwort auf politische, soziale oder intellektuelle Gegebenheiten ihrer Konstitutionsphase verstanden werden. Die Glau15
Walter Kasper, Jesus der Christus (Gesammelte Schriften 3), Freiburg i. Br. 2007, 95.
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benslehre ist aber dem Anspruch nach, mit dem die Kirche sie vorträgt, nicht nur wahr relativ zu einem bestimmten Paradigma – seien es Zeit, Kultur oder Weltbild 16 – sondern auch in einem über die Paradigmen ihrer Entstehung hinausreichenden, gleichsam absoluten Sinne. Dieser absolute Sinn ist jedoch nur geschichtlich erkennbar und muss daher angesichts von Umbrüchen sozialer, politischer oder intellektueller Art stets neu bedacht und gleichsam „geborgen“ werden. Dabei genügt es nicht, ein naives Kern-Schale-Modell zugrunde zu legen. Es gibt keinen trennscharf sezierbaren Kern, der sich von der zeitbedingt ihn umgebenden Schale schadlos ablösen ließe. Das Zeitbedingte vom bleibend Gültigen zu unterscheiden, ist eine theologische Operation, die durch eine instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität geprägt bleibt. „Identität und Verwandlung machen zusammen das Wesen von Geschichte aus. […] Wo bloße Identität vorliegt, ist nichts geschehen; wo bloße Verschiedenheit festzustellen ist, kann ebenfalls nicht von Geschichte die Rede sein.“ 17 Das genaue Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, Identität und Verschiedenheit bei der Weiterentwicklung von Glaubenslehren zu ermitteln, ist ein konfliktträchtiger Vorgang. Mit Blick auf die normative Bedeutung, die den Bedrohungsnarrativen und Strategien des Ersten Vaticanums heute zukommen sollte, haben sich drei Richtungen herausgebildet. Die erste Gruppe behauptet, dass die Bedrohungslage, die dem Ersten Vaticanum seinem Selbstbild nach zugrunde lag, unverändert fortbestehe, weshalb auch die Strategien des Ersten Vaticanums ohne Abstriche in Geltung bleiben müssen. Ein prominenter, zugleich aber paradoxaler Vertreter dieser Richtung ist Marcel Lefebvre. Lefebvre ist der Ansicht, dass die modernen Irrtümer durch eine veränderte Positionierung des Zweiten Vatikanischen Konzils zur 16
Dass eine Aussage nur wahr sei relativ zu einem variablen Paradigma, mit dessen Varianz auch die Wahrheit einer Aussage stehe oder falle, ist Kernaussage des alethischen Relativismus, der mit der christlichen Glaubenslehre intellektuell kaum zu vereinen ist. Zur Auseinandersetzung mit diesem Problem vgl. Michael Seewald, Theologie und Kirche vor den Anfragen des Relativismus. Begriffliche Differenzierungen, sachliche Herausforderungen und thematische Perspektiven, in: Ders. (Hg.), Glaube ohne Wahrheit? Theologie und Kirche vor den Anfragen des Relativismus, Freiburg i. Br. 2018, 11–34. 17 Joseph Ratzinger, Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie (Gesammelte Schriften 9/1), Freiburg i. Br. 2016, 571.
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Moderne in die Kirche eingedrungen seien und nur eine Rückkehr zu der von Pius IX. und Pius X. eingeschlagenen Strategie, „einen instinktiven Abscheu vor Neuerungen, vor der Veränderung und dem Wechsel“ 18 zu pflegen, die Kirche in die Wahrheit zurückführe. Dem diametral gegenüber steht eine zweite Gruppe, die den Beschlüssen des Ersten Vatikanischen Konzils keinerlei Gültigkeit mehr zuerkennt. Dazu gehört etwa August Bernhard Hasler, der aufgrund theologischer Probleme und äußerer Mängel, etwa der fehlenden Freiheit konziliarer Beratungen oder des (angeblich) zweifelhaften Geisteszustands Pius IX., eine umfassende Revision des Ersten Vaticanums fordert. 19 Eine dritte Gruppe geht – in Abgrenzung sowohl zu reaktionären wie auch zu revisionistischen Tendenzen – davon aus, dass das Bedrohungsnarrativ, das dem Ersten Vatikanischen Konzil zugrundelag, nicht mehr haltbar sei und deshalb auch die Antworten des Ersten Vaticanums nicht ungebrochen in die Gegenwart hinein überführt werden können. Im Ersten Vaticanum sei aber bei allem Problematischen etwas zum Vorschein gekommen, das für die katholische Kirche bleibende Bedeutung besitze. So versteht Hermann Josef Pottmeyer das Konzil als ein Momentum in der Entwicklung des ekklesialen Selbstbewusstseins. Die Vorstellung „einer kontinuierlichen logischen oder organischen Entwicklung“ des Petrusdienstes sieht Pottmeyer als „historisch wie theologisch problematisch“ an; er geht stattdessen davon aus, dass die auf dem Ersten Vaticanum dogmatisierte Gestalt des Papstamtes „nicht einfachhin als progressive Entwicklung aus dem biblischen Petrusauftrag zu verstehen“ 20 sei, sondern eine Etappe auf dem Weg kirchlicher Selbstverständigung, aber nicht den finalen Stand dieses Prozesses darstelle. „Was sich also im Aufstieg des Papstes zum Monarchen der Kirche abspielte, war nicht die logische oder organische Entfaltung der petrinischen Idee oder die konsequente Realisation des Petrusauf18
Marcel Lefebvre, Ich klage das Konzil an!, Stuttgart 2009, 117 f. Die Interpretation, mit der Lefebvre das Erste Vaticanum versieht, ist selektiv. Er übernimmt das antimoderne Grundnarrativ des Konzils und dessen kondamnierende Strategie, aber nicht dessen Primatslehre – zumindest nicht in effektiver Hinsicht. 19 Vgl. Bernhard August Hasler, Pius IX. (1846–1878), päpstliche Unfehlbarkeit und 1. Vatikanisches Konzil. Dogmatisierung und Durchsetzung einer Ideologie (2. Bd.), Stuttgart 1977, 527–538. 20 Hermann Josef Pottmeyer, Die Rolle des Papsttums im Dritten Jahrtausend (Quaestiones disputatae 179), Freiburg i. Br. 1999, 19.
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trags. Vielmehr war dieser Aufstieg Teil der Entwicklung des Bewußtseins der Kirche von sich selbst, nicht nur Hüterin und Zeugin eines überlieferten Erbes zu sein, sondern auch aktive Gestalterin dieses Erbes oder – modern gesprochen – aktives Subjekt der eigenen Geschichte. Das war die Entwicklung hinter der ‚Entwicklung‘ des Petrusamtes zum monarchischen Primat. Es war eine einseitige Entwicklung, weil sich das neue Bewußtsein der Kirche von sich selbst vornehmlich im Papst darstellte. […] Erst das 2. Vatikanum wird anerkennen, daß nicht der Papst allein, sondern auch die Bischöfe, ja, jeder Katholik – je nach Berufung und Auftrag – Handelnder in der Kirche ist und die Aktivität der Kirche mitträgt.“ 21 Auf dieser Spur lohnt es sich weiterzudenken.
5. Redifferenzierungen: Kirchliche Selbstdeutungen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil Eine allzu schematische Gegenüberstellung der beiden Konzilien würde weder dem Ersten noch dem Zweiten Vaticanum gerecht werden. 22 Dennoch ist unverkennbar, dass das Zweite Vaticanum die Bedrohungslage, die die Moderne in der Wahrnehmung des Ersten Vaticanums noch für die Kirche darstellte, anders einschätzt, und sich deshalb auch in anderer Weise zur Moderne in Beziehung setzt. Während die Enzyklika Quanta cura, der Syllabus errorum und das im Kontext der Veröffentlichung dieser Dokumente angedachte sowie zu deren sachlicher Bestätigung einberufene Ersten Vaticanum die Moderne als eine Zeit deuten, die darauf abzielt, „die Religion aus der öffentlichen Gesellschaft zu verdrängen“ (DH 2891), denkt das Zweite Vaticanum auch darüber nach, „was die moderne Welt an Vorteilen bietet.“ (GS 52) Die Pastoralkonstitution Gau21
Ebd., 29. Das zeigt sich etwa bei der Offenbarungslehre. Die Vorstellung, dass ein rein instruktionstheoretisches Verständnis auf dem Ersten einem kommunikationstheoretischen Offenbarungsbegriff auf dem Zweiten Vaticanum gegenüberstehe, greift zu kurz. Denn auch das Erste Vatikanische Konzil bekennt, dass es Gott gefallen habe, „sich selbst und die ewigen Dekrete seines Willens“ (COD III, 806, 11) kundzutun. Die Betonung lag selbstverständlich auf den Gott als Souverän kennzeichnenden Dekreten, also gesetzesähnlichen Erlassen, die er den Menschen mitteilt. Dennoch ist die Idee der Selbstoffenbarung nicht abwesend.
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dium et Spes sieht die Kirche nicht einseitig als Heilsinstitution, die einer restlos verdorbenen Zeit göttliche Gnadengeschenke vermittelt, sondern würdigt auch die „Hilfe, welche die Kirche von der heutigen Welt erfährt“ (GS 44). Dabei wird gar festgestellt: „Ja, selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben.“ (GS 44) Es ist nicht überspekulativ zu vermuten, dass mit den „Gegnern“ auch jene Kräfte gemeint sein könnten, gegen die das Erste Vatikanische Konzil zu Felde zog. In diesem Sinne könnte man Gaudium et Spes als einen „Gegensyllabus“ 23 bezeichnen. Die konziliare Neubewertung der Moderne ging nicht mit einer „naiven Zustimmung zur Welt“ einher, wie Joseph Ratzinger sie manchen Interpreten vorwarf. Das Zweite Vaticanum versuchte sich stattdessen an einer differenzierten Deutung seiner Zeit und unterschied sich darin von seiner Vorgängersynode. Während das Erste Vaticanum aus einer undifferenzierten Bedrohungsanalyse heraus eine Strategie der theologischen Entdifferenzierung betrieb, 24 die den Papst als alleinigen Souverän unter Ausschaltung aller anderen Instanzen, vor allem der Bischöfe und der Gemeinschaft der Gläubigen, über die Kirche erhob, mühte sich das Zweite Vaticanum um eine Strategie der Redifferenzierung, also der Wiedergewinnung von in der Tradition bereits vorhandenen, aber im Laufe der Geschichte verlorenen Differenzierungen innerhalb der Kirche. 25 Das zeigt sich an verschiedenen 23
Klaus Müller, In der Endlosschleife von Vernunft und Glaube. Einmal mehr Athen versus Jerusalem (via Jena und Oxford) (Pontes 50), Münster 2012, 31. 24 Wie undifferenziert die Bedrohungswahrnehmung der Teilnehmer des Ersten Vaticanums war, zeigt sich am so genannten Stroßmayer-Zwischenfall vom 22. März 1870, „dem größten Eklat, den das 1. Vatikanum erlebt hat.“ (Schatz, Vaticanum I [Bd. 2], 190) Bischof Joseph Georg Stroßmayer wies in seiner Rede darauf hin, dass die Protestanten zwar objektiv im Irrtum und deshalb Häretiker seien, aber subjektiv dennoch redlich glauben könnten. Daraufhin wurde er von der Konzilsmehrheit im Petersdom niedergebrüllt. Als Stroßmayer wiederholte, dass er die These, alle Übel gingen vom Protestantismus aus, nicht teile, und betonte, dass es auch unter den Protestanten viele gebe, die an Jesus Christus glauben, steigerte sich die Erregung der Majorität zu einem Tumult, so dass Stroßmayer seine Rede abbrechen musste. 25 Was hier unter dem Begriff der Redifferenzierung beschrieben wird, könnte mit dem korrespondieren, was in anderen, stärker traditionstheoretisch interessierten Kontexten auch „ressourcement“ genannt wird. Zu diesem Begriff vgl. Massimo Faggioli, Sacrosanctum Concilium – Schlüssel zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg i. Br. 2015, 83–88.
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ekklesiologischen Themen: an der Selbstverortung der Kirche im „Übergang von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Gesamtwirklichkeit zu einem mehr dynamischen und evolutiven Verständnis“ (GS 5), an der ekklesialen Selbstkritik, die ausdrückt, dass die Kirche „stets der Reinigung bedürftig“ bleibe und „immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ (LG 8) zu gehen habe, obwohl oder gerade weil „diese pilgernde Kirche zum Heile notwendig sei“ (LG 14), sowie an der Lehre, dass die theologische Qualität des Kircheseins nichts Monolithisches ist, sondern sich die Kirche aus vielen „Elementen“ zusammensetzt, die der „Kirche Christi eigene Gaben“ sind und „auf die katholische Einheit hindrängen“ (LG 8). Im Bereich der Amtstheologie zeigt sich das Redifferenzierungsstreben des Konzils in dem Versuch, den Papst stärker in das Bischofskollegium und das Amt als ganzes stärker in die Gemeinschaft der Gläubigen einzubinden, um die „Einheit im Leib Christi“ nicht durch einen monarchischen Souverän an der Spitze der Kirche, sondern durch „die Vielfalt der Gnadengaben, Dienstleistungen und Tätigkeiten“ zu verbürgen, durch die „der eine und gleiche Geist wirkt“ (LG 32). Der in Taufe und Firmung empfangene Geist gewährt nach Lehre des Konzils Anteil an den drei Ämtern Christi: dem prophetischen, dem priesterlichen und dem königlichen Amt. Damit dehnt das Konzil die tria-munera-Lehre, in deren neuzeitlicher Ausprägung es exklusiv den Klerikern zukam, zu lehren (prophetisches Amt), zu heiligen (priesterliches Amt) und zu leiten (königliches Amt), aus. Es differenziert zwischen einem sacerdotium commune, einem gemeinsamen Priestertum aller Getauften, und einem hierarchisch strukturierten sacerdotium ministeriale, einem Dienstpriestertum der Ordinierten (LG 10). Das Zweite Vaticanum ordnet dabei das Sein der Getauften und das Handeln der Amtsträger einander in sprachlich auffälliger, theologisch noch nicht hinreichend ausgewerteter Weise zu. 26 Das munus (in diesem Zusammenhang: das Amt) aller Getauften wird adjektivisch bestimmt. Es ist vom munus propheticum, dem munus sacerdotale und dem munus regale die Rede. Adjektive beschreiben Seinsqualitäten. Das munus der Ordinierten hingegen wird verbaladjektivisch anhand von Gerundivformen beschrieben: munus docendi, munus sanctificandi, mu26
Zur tria-munera-Lehre des Zweiten Vaticanums vgl. Thomas Ruster, Balance of Powers. Für eine neue Gestalt des kirchlichen Amtes, Regensburg 2019, 176–199.
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nus regendi. Durch diese Formen wird ein Handeln und – versteht man das Gerundivum als participium necessitatis – gar ein notwendiges Handeln ausgedrückt. Dass vom Sein der Gläubigen und dem Handeln der Amtsträger die Rede ist, lässt sich verschiedentlich deuten. Man könnte den Gläubigen eine wesenhafte Passivität unterstellen, die der Formung durch amtliche Aktivität bedarf. Sinnvoller und der Tendenz des Konzils entsprechender, das Amt in die Gemeinschaft der Kirche einzuordnen anstatt es aus ihr herauszuheben, wäre es jedoch, das Handeln der Amtsträger als aktivische Umsetzung dessen zu begreifen, was die Gemeinschaft der Gläubigen bereits ist. Anders gesagt: Der Amtsträger kann nichts erwirken, was die Kirche ihrem Sein nach nicht schon wäre und ihr nichts schenken, was sie nicht schon empfangen hätte. Der Ordinierte besitzt lediglich die sacra potestas (LG 10), das Sein der Kirche offiziös zu vollziehen: in der Verkündigung des Evangeliums, der Feier der Sakramente und der Leitung der Gemeinde. Der Ordinierte wird von Amts wegen dazu beauftragt sicherzustellen, dass das, was alle Gläubigen kraft der Taufe bereits sind – nämlich Propheten, Priester und Könige –, in der Kirche zu prophetischem Reden, priesterlichem Handeln und königlichem Dienen aktuiert wird. An dieser Aktuierung wirkt der Ordinierte lediglich kraft seiner potestas mit, ohne diese Aktuierung selbst zu konstituieren. Das hat Folgen für die Frage nach den verbindlichen Bezeugungsinstanzen des Glaubens. Das Konzil bekennt: „Das heilige Gottesvolk nimmt auch teil an dem prophetischen Amt Christi, in der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch ein Leben in Glauben und Liebe, in der Darbringung des Lobesopfers an Gott als Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen (vgl. Hebr 13,15). Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht irren.“ (LG 12) Die primäre Instanz, die die Authentizität des Glaubens verbürgt, ist für Lumen Gentium die Gemeinschaft der Getauften. Dem Volk Gottes als ganzem komme indefectibilitas zu. Das in der Kirchenkonstitution erst nachrangig behandelte Lehramt des Papstes wird dadurch nicht überflüssig, aber die päpstliche potestas erhält einen neuen Ort innerhalb der differenzierten Architektur der Kirche: Die potestas ist jene Vollmacht, die in doktrinaler Weise das aktualiter ausspricht, was die Gläubigen per vitam fidei et caritatis vollziehen. Die amtliche Aktuierung, wie der Papst sie zu leisten berechtigt ist, findet sich nach dem Willen des Zweiten Vaticanums wiederum in das
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collegium episcoporum, den ordo episcoporum oder das corpus episcoporum eingebunden, ohne davon im rechtlichen Sinne abhängig zu sein. Die Vielfalt der Begriffe (collegium, ordo, corpus), die sich nach Auskunft der relatio generalis zu Lumen Gentium 22 bewusst in der Kirchenkonstitution finden, 27 spiegelt Konflikte, zu deren Verständnis die Papaltheorie des Ersten Vaticanums unentbehrlich ist. Eine Minderheit der Konzilsväter des Zweiten Vatikanischen Konzils, die in den Abstimmungen nie mehr als ein Drittel der Voten erreichte, hegte die Befürchtung, dass die Aufwertung der Gemeinschaft der Bischöfe zu einem Kollegium, das mit dem Papst als seinem Haupt „Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche“ (LG 22) sei, die auf dem Ersten Vaticanum definierte Stellung des Papstes gefährden würde. Diese Minorität, deren Wortführer Bischof Franjo Franić war, stand sowohl der Lehre von der Sakramentalität des Bischofsamtes als auch der Kollegialitätsidee ablehnend gegenüber. Eine Lehrentscheidung über die Sakramentalität der Bischofsweihe sei, so Franić, der sonst kein Freund freier Theologie war, unter Verweis auf die in dieser Frage aufrechtzuerhaltende „libertas disputandi“ 28 der Theologen, unangebracht. Die Kollegialitätsidee kommentierte Franić folgendermaßen: „In Wahrheit war die Lehre von der Kollegialität der Bischöfe, wie sie im Schema dargelegt wird, eine Lehre, die bis vor wenigen Jahren nur von ganz wenigen Theologen vertreten wurde, die fast allen widersprachen. Und jetzt ist es der Wille von irgendwelchen Leuten, dass diese so unausgereifte Lehre den Beifall des Konzils erhalten solle.“ 29 In Lumen Gentium ist trotz dieser Widerstände, aber auch in Rezeption der vorgetragenen Kritik, vom Kollegium der Bischöfe in einer zwei-
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Vgl. Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II. Volumen III (Periodus tertia), pars I (Sessio publica IV. Congregationes generales LXXXLXXXII), Vatikanstadt 1973, 243. 28 Franjo Franić, Relatio quae difficultates movet, in: Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II. Volumen III (Periodus tertia), pars II (Sessio publica IV. Congregationes generales LXXXIII–LXXXIX), Vatikanstadt 1974, 193–201, hier: 193. 29 Ebd., 197 f.: „Revera doctrina de collegialitate episcoporum, prout in schemate proponitur, erat ante paucos annos doctrina quam nonnisi paucissimi theologi defendebant, fere omnibus contradicentibus. Et nunc est aliquorum voluntas quod haec doctrina adeo immatura accipiat Concilii approbationem.“
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fach gestuften Proportionalitätsanalogie die Rede. 30 Die erste Stelle in der Kirchenkonstitution, wo sich das Wort collegium findet, ist Lumen Gentium 19: „Der Herr Jesus rief, nachdem er sich betend an den Vater gewandt hatte, die zu sich, die er selbst wollte, und bestimmte zwölf, damit sie bei ihm seien und er sie sende, um das Reich Gottes zu verkündigen (vgl. Mk 3,13–19; Mt 10,1–42). Diese Apostel (vgl. Lk 6,13) setzte er nach Art eines Kollegiums oder eines festen Kreises ein, an dessen Spitze er den aus ihrer Mitte erwählten Petrus stellte (vgl. Joh 21,15–17).“ (LG 19) Die Kirchenkonstitution behauptet nicht, dass Jesus einfach ein Kollegium gegründet, sondern dass er aus seiner Jüngerschar den Zwölferkreis bestimmt und ihn „ad modum collegii seu coetus stabilis“, nach Art eines Kollegiums oder eines festen Verbundes, eingesetzt habe. Das Konzil wendet damit den nicht biblischen Begriff des Kollegiums, den Joseph Ratzinger als „interpretative Zutat des Konzils zum Schrifttext“ und als „den Versuch, die Sache der Schrift in die Begrifflichkeit der Theologie zu übersetzen“ 31, bezeichnet, in ganz bestimmter Hinsicht, also analog, auf biblische Zusammenhänge an. Das Zueinander der Mitglieder des Zwölferkreises wird mit dem Zueinander der Mitglieder eines Kollegiums in Beziehung gesetzt. Eine zweite Ebene der Analogie beschreitet das Konzil, wenn es den historisch singulären Kontext der Einsetzung der Zwölf und ihr analoges Dasein als Kollegium auf die Nachfolger der Apostel bezieht, die ebenfalls, nun nach Analogie des Zwölferkreises, ein Kollegium bilden: „Wie [sicut] nach der Verfügung des Herrn der heilige Petrus und die übrigen Apostel ein einziges apostolisches Kollegium bilden, so sind in entsprechender Weise [pari ratione] der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, und die Bischöfe, die Nachfolger der Apostel, untereinander verbunden.“ (LG 22) Die Konstruktion „sicut … pari ratione“ zeigt eine Proportionalitätsanalogie an: So, wie die Apostel samt des Petrus nach Art eines Kollegiums strukturiert sind, sind auch die Bischöfe als Nachfolger 30
Die folgende Deutung bischöflicher Kollegialität im Sinne einer zweifach gestuften Proportionalitätsanalogie wurde bisher in der Forschung noch nicht vertreten. Einen Überblick zur Diskussion bietet Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche ‚Lumen gentium‘, in: Ders., Bernd Jochen Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 2, Freiburg i. Br. 2004, 263–582, hier: 406–460. 31 Joseph Ratzinger, Die bischöfliche Kollegialität nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils (Gesammelte Schriften 7/2), Freiburg i. Br. 2012, 661.
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der Apostel in Einheit mit dem Papst als dem Nachfolger Petri nach Art eines Kollegiums verbunden. Die Textgeschichte dieser Formulierung legt den bei aller Ähnlichkeit auch auf Unähnlichkeit hin ausgerichteten Charakter der Kollegialitätslehre offen. In einer früheren Fassung hieß es nämlich nicht sicut … pari ratione, sondern sicut … eadem ratione, 32 was bedeutet hätte, dass die Kollegialität der Bischöfe mit ihrem Haupt, dem Papst, nicht bloß „entsprechend“ der Kollegialität der Apostel zu denken, sondern „gleichermaßen“ wie dieses Kollegium zu verstehen gewesen wäre. Warum legte man solch großen Wert auf dieses Moment der Unähnlichkeit? Die erste Fassung des Schemas de ecclesia auf dem Ersten Vatikanischen Konzil enthielt einen Anathematismus: „Wer sagen sollte, die Kirche sei keine perfekte Gesellschaft, sondern ein Kollegium, wie es in der bürgerlichen Gesellschaft oder im Staat anzutreffen sei, damit die Kirche der weltlichen Herrschaft unterworfen werde, sei im Bann.“ 33 Das Erste Vaticanum verstand also den Begriff des Kollegiums als Gegensatz zur societas perfecta mit dem souveränen Papst an der Spitze. Dass mit der Annahme der Kollegialitätsidee die kirchliche Verfassung egalisiert werden könnte, war ein „immer wieder mit großer Sicherheit vorgetragene[s] Bedenken“ 34, auf das in Gestalt der Nota explicativa praevia – einem in seiner Verbindlichkeit umstrittenen Zusatz der Theologischen Kommission zu Lumen Gentium – eingegangen wurde. Der Papst könne seine Vollmachten der Nota zufolge ad placitum, nach Gutdünken und eigenem Gefallen so ausüben, wie er wolle (LG-NEP 4). Er wäre, wenn er dies täte, genau der Souverän, zu dem ihn das Erste Vaticanum gemacht hat. Eine solche Ausübung des Papstamtes würde jedoch dem Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils, das Amt in die Gemeinschaft der Kirche und den Papst in das Bischofskollegium dogmatisch einzubinden, zuwiderlaufen – von den offenen Fragen um die Nota 32
So der Hinweis von Joseph Ratzinger, Kommentar zu den ‚Bekanntmachungen, die der Generalsekretär des Konzils in der 123. Generalkongregation am 16. November 1964 mitgeteilt hat‘ (Gesammelte Schriften 7/2), Freiburg i. Br. 2012, 703. 33 Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio (Bd. 51: Sacrosancti oecumenici concilii Vaticani pars secunda. Acta synodalia), edidit Ludovicus Petit et Ioannes Dominicus Mansi, Arnheim 1926, 552: „Si quis dixerit, ecclesiam non esse societatem perfectam, sed collegium; aut ita in civili societate seu in statu esse, ut saeculari dominationi subiiciatur; anathema sit.“ 34 Ratzinger, Kommentar zu den ‚Bekanntmachungen‘, 703.
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explicativa praevia ganz zu schweigen: „War sie lediglich ein Arbeitsinstrument der Konzilsleitung zur Sedierung der Minorität? Oder sollte sie zu einer verpflichtenden Norm für die Interpretation des dritten Kapitels von Lumen Gentium werden, eine Auffassung, die nachweislich nur wenige Konzilsväter vertraten? Fakt ist: Die Konzilsväter haben über die Nota nicht abgestimmt und es ist eine offene Frage, ob Paul VI. sie zusammen mit Lumen Gentium approbiert hat.“ 35 Dass die Nota aus kontinuitätskosmetischen Gründen als Anhang überhaupt nötig wurde, ist ein Hinweis, in welchem Maße der Haupttext von Lumen Gentium eine Weiterentwicklung des Ersten Vatikanischen Konzils betreibt. Als eine solche Weiterentwicklung sollte er auch gelesen werden.
6. Ausblick Geht man davon aus, dass auf dem Ersten Vatikanischen Konzil ein (wenn auch durch undifferenzierte Bedrohungsnarrative in seiner Ausgestaltung problematisches) Bewusstsein für die Dynamik kirchlicher Selbstpositionierungen in der Kategorie der potestas entstanden ist, und kombiniert dies mit der Amtstheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, ergeben sich dogmatisch noch bei weitem nicht ausgeschöpfte Perspektiven. Bei aller Unentbehrlichkeit des ordinierten Amtes mit den Bischöfen an der Spitze, die kollegial wiederum mit dem Papst als ihrem Haupt verbunden sind, lässt das Zweite Vaticanum keinen Zweifel daran, dass die Gemeinschaft der Glaubenden der primäre Träger des Glaubens in prophetischer, priesterlicher und königlicher Gestalt ist. Dieser Gemeinschaft die Stimme und das Gewicht zu geben, das ihr theologisch zukommt, ist ein gerade erst begonnener Weg in der Rezeption der vergangenen beiden Konzilien.
35
Franz Xaver Bischof, Steinbruch Konzil? Zur Kontinuität und Diskontinuität kirchlicher Lehrentscheidungen, in: Münchener Theologische Zeitschrift 59 (2008), 194–210, hier: 206.
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Synodalität von oben nach unten Der lange Schatten des Ersten Vaticanums
Die Bischofssynode ist eines der Formate, mit dem in der römisch-katholischen Kirche des 20. und 21. Jahrhunderts die typisch katholische Verschränkung von Orts- und Universalkirche, Bischöfen und Papst, Kollegium und Primat, Communio und Hierarchie operationalisiert werden sollte. Die Bischofssynode wird daher auch als Moment der ekklesialen Neubestimmung des Zweiten Vaticanums verstanden, das die Engführung kirchlicher Leitungsgewalt auf die Suprematie des Papstes durch das Erste Vaticanum um kollegiale sowie ortskirchliche Momente erweitert habe. Die Einrichtung dieser Synode, die 1965 durch Paul VI. erfolgte, verdanke sich dieser theologischen Einbettung des Primats in das Kollegium der Bischöfe, insbesondere der „Sorge um die Wirksamkeit der bischöflichen Kollegialität für die Gesamtkirche über die Konzilsversammlung hinaus“ 1. Im aktuellen Pontifikat hat Synodalität neu an Bedeutung gewonnen. Franziskus rezipiert sie nicht nur als Organisationsform von Beratungsund Entscheidungsprozessen der Kirchenleitung, sondern macht sie als nötiges Charakteristikum des kirchlichen Lebens im Ganzen stark. Ausgerechnet von der Spitze einer strikt hierarchisch konzipierten Gemeinschaft wird nun also ein horizontales Moment in Erinnerung gerufen und gefördert. Die Kirche möge synodal(er) werden, weil der Papst dies für richtig hält. Doch was kann Synodalität in einer dezidiert nicht egalitär, sondern als Communio hierarchica konzipierten Kirche bedeuten? Gelingt es wirklich, die primatiale Engführung kirchlicher Leitungsvollmacht, welche das Erste Vaticanum festgeschrieben hat, durch Integration synodaler Vollzüge welt- und ortskirchlich abzufedern – und ist das überhaupt gewollt? Was bedeutet Synodalität, verstanden als gesamt1
Winfried Aymans, Art. Bischofssynode, in: Lexikon für Theologie und Kirche 2 (31994), 502–504, hier: 502.
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kirchlicher Stil: Findet der sensus fidelium nun auch strukturellen Niederschlag in katholischer Synodalität? Wohl kaum, denn Franziskus bemüht zur Beschreibung dieser Tugend weiterhin eine vertikale Metaphorik: An erster Stelle stehe zwar, so formulierte er im Brief an die deutschen Katholikinnen und Katholiken (29. 6. 2019) anlässlich des anstehenden Synodalen Weges der deutschen Kirche, die (beratende) „Synodalität von unten [der Basis] nach oben [zur Hierarchie], [und] dann erst kommt die Synodalität von oben nach unten“ 2, die Entscheidungsfindung durch die Kirchenleitung. Doch der zweite Schritt definiert weiterhin in alleiniger Verantwortung das Ergebnis synodaler Prozesse. Wie weit also reicht der Schatten des Ersten Vatikanischen Konzils in Struktur und Mentalität der römisch-katholischen Kirche des 21. Jahrhunderts hinein?
1. Die römische Bischofssynode: Synodalität nach päpstlicher Façon Das Zweite Vatikanische Konzil, das sich in seinen Texten stets als „Heilige Synode“ bezeichnet, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Verhältnis von Papst und Bischöfen, Primatialität und Kollegialität besser auszutarieren als dies im vorzeitig abgebrochenen Ersten Vatikanischen Konzil geschehen war. In Pastor Aeternus war der päpstliche Primat als unmittelbare und universale, jederzeit ausübbare Vollmacht festgeschrieben worden (DH 3050–3075). Dieses Konzept von Leitungsgewalt ist nicht nur unvereinbar mit modernen demokratischen Grundprinzipien der Gewaltenteilung. Es veranlasste bereits Zeitgenossen wie den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck zu der Sorge, seit Pastor Aeternus seien die Bischöfe vollends zu päpstlichen Beamten geworden. 3 Die Eigenständig2
Franziskus, Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland vom 29. Juni 2019 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 220), Bonn 2019, Nr. 3, 8. 3 Er verfasste am 14. Mai 1872, mitten im so genannten „Kulturkampf“, ein Schreiben, das zunächst zweieinhalb Jahre in der Schublade lag, bis es im Dezember 1874 seinen Weg in das Amtsblatt des Deutschen Reichs fand: die so genannte CircularDepesche an die deutschen Botschafter in Petersburg, Rom, London, Wien, München, Lissabon und Den Haag über die Konsequenzen der Konstitution Pastor Aeternus des Ersten Vatikanischen Konzils. Man sollte allerdings dem deutschen Reichskanzler kein Unrecht tun; theologische Motive sind ihm nicht vorzuwerfen. Otto
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keit der (deutschen) Bischöfe sei durch die Erklärung des Jurisdiktionsprimats und der päpstlichen Unfehlbarkeit faktisch aufgehoben; ihre Eigenrechte seien vom Papst absorbiert worden, der ihren Handlungsspielraum jederzeit aufheben könnte. Zwar besteht weithin Konsens darüber, dass das Dogma vom päpstlichen Primat nicht maximalistisch interpretiert werden darf. Doch das Antwortschreiben der deutschen Bischöfe (DH 3112–3116) an den Kanzler beruhigte wohl eher den Papst 4 als dass es die Sachlage zufriedenstellend erklärt, gar ihre Problematik gelöst hätte: Die Zugriffsrechte des deutschen Reichs auf Katholiken seien durch die Papstdogmen nicht eingeschränkt (DH 3114); der Begriff der absoluten Monarchie sei für päpstliche Hoheitsrechte völlig unangemessen (DH 3114). Die katholische Kirche dürfe gar nicht staatsanalog verstanden werden. Es sei überdies ein Missverständnis zu meinen, mit Pastor Aeternus sei „die bischöfliche Jurisdiktion […] in der päpstlichen aufgegangen“, der Papst „im Prinzip an die Stelle jedes einzelnen Bischofs getreten“ und die Bischöfe letztlich „nur noch seine Werkzeuge“ oder „Beamten“ (DH 3112: falsche Lehre). Das Erste Vaticanum habe überhaupt nichts gelehrt, was nicht schon vorher – immer, überall und genauso – gegolten hätte. Spätestens an dieser
von Bismarck schlug nicht Alarm, weil er die sacra potestas des Ortsbischofs gefährdet sah, die diesem nicht vom Papst, sondern von Christus verliehen wurde. Ihm ging es auch nicht darum, bischöfliche Kollegialität auf weltkirchlicher Ebene gegenüber einem monarchisch fixierten Papsttum stark zu machen. Er schlug Alarm, weil er die deutschen Bischöfe nun als Beamte eines fremden staatlichen Souveräns sah, der zudem kraft seiner beanspruchten Unfehlbarkeit als absoluter Monarch auch in die Belange des deutschen Reiches hineinregieren könne. Doch kein Bürger des deutschen Reichs, erst recht keine Bildungs- und Kultureinrichtung wie die Kirche, dürfe Handlanger oder Spielball eines anderen staatlichen Souveräns sein. 4 Pius IX. war voll des Lobes und bestätigte die Erklärung der deutschen Bischöfe. Sie sei eine „geschickte“ und „glänzende“ Erläuterung der Lehre der Kirche, die nachweise, „dass es in den angegriffenen Definitionen [des Ersten Vatikanischen Konzils] überhaupt nichts gibt, was neu wäre oder irgendetwas in den alten Beziehungen [zwischen Papst und Bischöfen oder zwischen Bischöfen und deutschem Reich] veränderte“ (DH 3117). Sie nehme darüber hinaus den öffentlichen Medien den Wind aus den Segeln, die versuchten, den deutschen Episkopat gegen den Heiligen Stuhl auszuspielen (DH 3117), indem sie ihm unterstellten, die kontinuierliche Lehre der Kirche zu relativieren und das Erste Vaticanum weichzuspülen.
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Stelle wird man und hat man seit langem von dogmen- und theologiehistorischer Seite mit guten Gründen Einspruch erhoben. 5 Die Passagen aus Lumen Gentium (21. 11. 1964) der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, die sich mit der Kollegialität der Bischöfe und dem Primat des Papstes befassen (LG 18–25), werden nun gemeinhin als vorsichtige Korrektur der im Vorgängerkonzil forcierten primatialen Einseitigkeiten beschrieben; als Korrektur freilich, die nicht durch formelle Revision, sondern durch Kontextualisierung der Beschlüsse von 1870 geschehe. 6 Juxtapositionen in den Konzilstexten und eine selektive Aufnahme der Konzilstexte in kirchenrechtliche Bestimmungen wurden dabei, auch darüber herrscht Konsens, in Kauf genommen. 7 Die Kollegialität der Bischöfe und der Primat des Papstes könnten wie zwei (allerdings strikt asymmetrisch) aufeinander bezogene und verwiesene Pole kirchlicher Leitungsgewalt verstanden werden, die im Leben der Kirche und in der konkreten Amtsführung eines Papstes mehr Spielraum zuließen als zumindest eine maximalistische Interpretation der Papstdogmen es insinuiert. 8 Mit der vorsichtigen Reform werden in Lumen Gentium zugleich unmissverständliche Kontinuitätssignale verbunden: Der ein knappes Jahrhundert zuvor fixierte päpstliche Primat sollte nicht revidiert, vielmehr 5
Vgl. bereits den Literaturbericht von Heinrich Bacht, Primat und Episkopat im Spannungsfeld der beiden Vatikanischen Konzile, in: Leo Scheffczyk u. a. (Hg.), Wahrheit und Verkündigung 2, Festschrift für Michael Schmaus, München u. a. 1967, 1447–1466. 6 Vgl. Jan-Heiner Tück, Die Kollegialität der Bischöfe – ein ‚trojanisches Pferd‘ ? Ekklesiologische Anmerkungen zur Kritik Marcel Lefebvres, in: Theologie und Philosophie 84 (2009), 547–575. 7 Vgl. Myriam Wijlens, Reform durch ein Reset der konziliaren Hermeneutik. Kollegialität – Synodalität – Sensus Fidei, in: Bernd Oberdorfer, Oliver Schuegraf (Hg.), Reform im Katholizismus. Traditionstreue und Veränderung in der römisch-katholischen Theologie und Kirche (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 119) Leipzig 2018, 363–391, hier: 374 f. 8 Nicht zuletzt ihre päpstliche Rezeptionsgeschichte zeige, dass „das Dogma von 1870 […] offen [sei] für die Möglichkeit unterschiedlicher Formen der Ausübung des Primats“ sowie für „eine Communio-Ekklesiologie“ im Sinne des Zweiten Vaticanum. Beide Zitate: Hermann J. Pottmeyer, Die jüngere Diskussion über die Definition des päpstlichen Primats durch das I. Vaticanum, in: Catholica (Münster) 61 (2007), 67–80, hier: 79.
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der „Weg des ersten Vatikanischen Konzils fort[gesetzt]“ (LG 18) werden. Dessen „Lehre über Einrichtung, Dauer, Gewalt und Sinn des dem Bischof von Rom zukommenden heiligen Primates sowie über dessen unfehlbares Lehramt […] [sollte] abermals allen Gläubigen fest zu glauben vor[gelegt werden]. Das damals Begonnene fortführend, hat sie [die heilige Synode] sich entschlossen, nun die Lehre von den Bischöfen, den Nachfolgern der Apostel, die mit dem Nachfolger Petri, dem Stellvertreter Christi und sichtbaren Haupt der ganzen Kirche, zusammen das Haus des lebendigen Gottes leiten, vor allen zu bekennen und zu erklären.“ (LG 18) Im Konzilsdekret Christus Dominus über die Hirtenaufgabe der Bischöfe (28. 10. 1965), das vier Wochen vor Lumen Gentium und der dort formulierten asymmetrisch-polaren Zuordnung kollegialer bischöflicher und primatialer päpstlicher Leitungsgewalt promulgiert wurde, war der Wunsch ausgesprochen worden, synodale Strukturen und Institutionen, die in der katholischen Kirche über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten waren, neu zu beleben: „Diese Heilige Ökumenische Synode wünscht, dass die ehrwürdigen Einrichtungen der Synoden und Konzilien mit neuer Kraft aufblühen; dadurch soll besser und wirksamer für das Wachstum des Glaubens und die Erhaltung der Disziplin in den verschiedenen Kirchen, entsprechend den Gegebenheiten der Zeit, gesorgt werden.“ (CD 36) Als Vorbild dienten altkirchliche Formate wie Synoden, Provinzial- und Plenarkonzile. Ihr Impact: die Bündelung der (Flieh-) Kräfte unter den Bischöfen, „um sowohl das gemeinsame Wohl wie auch das Wohl der einzelnen Kirchen zu fördern“ (CD 36), denn genau das sei schließlich ihre (der Bischöfe) Mission. Die Bischofssynode ist nach katholischer Façon demnach – das ist die eine Seite – ein koordiniertes Spitzentreffen, das kirchliche Leitungsfiguren zu kollegialem Handeln und einmütiger Meinungsfindung anregt. Eines ihrer Ziele ist es, die Communio der Bischöfe zu fördern. Das horizontale Moment, das jeder Synodalität innewohnt – Beratung auf Augenhöhe – bezieht sich in katholischer Lesart auf die Ebene der Bischöfe: Synodalität steht synonym für bischöfliche Kollegialität. Zugleich – das ist die andere Seite – handelt es sich um ein Format, das die vertikale Communio der katholischen Kirche, die communio hierarchica, bis in die höchste Leitungsebene hinein operationalisiert: Die zu einer Synode versammelten Bischöfe leisten, so heißt es zu Beginn des Bischofsdekrets, dem obersten Hirten der Kirche (dem Papst) Beistand, und zwar „in der
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vom Papst bestimmten oder noch zu bestimmenden Art und Weise“ (CD 5). Bischöfliche Synodalität komme der ganzen Kirche deshalb zugute, weil und insofern sie den „Austausch zwischen dem Papst und einer Vertretung des Weltepiskopats institutionell verankert“ 9. Paul VI., dessen primatiale Unterschrift die kollegial erarbeiteten Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils überhaupt erst in Kraft setzte, hatte am 15. 9. 1965, also noch vor Abschluss von Christus Dominus, eigeninitiativ – motu proprio – die Bischofssynode als zentrale gesamtkirchliche Einrichtung instituiert. Damit ist er kraft seiner primatialen Vollmacht einer konziliaren Ausgestaltung dieses Formats zu einem Organ bischöflicher Kollegialität zuvorgekommen. Er konzipierte die Bischofssynode stattdessen als Beratungsorgan des Papstes, 10 das den Bischöfen die „Gelegenheit [gebe], in noch offenkundigerer und wirksamerer Weise an Unserer [des Papstes] Sorge für die Gesamtkirche teilzunehmen“ (Einleitung). 11 Die Bischofssynode nach Maßgabe Pauls VI. ist daher kein Konzil im Kleinen, das – zusammen mit dem Bischof von Rom – die höchste Lehrvollmacht innehat. Sie leistet vielmehr beratende Zuarbeit zur Suprematie des Bischofs von Rom. Auf einer Synode entscheiden die Bischöfe der Weltkirche nicht kraft ihrer kollegialen Leitungsvollmacht, sondern wenn und insofern der Papst ihnen Entscheidungsvollmacht gibt – was bisher noch nie geschehen ist. Er ist es, der die Synode einberuft und ihre qua Amt bestellten bzw. seitens der Ortskirchen nominierten Mitglieder ([Erz-] Bischöfe und Ordensmänner) 12 bestätigt. Er bestimmt als Leiter der Versammlung ihre Themen und Arbeitsformate und die Tagesordnung (Apostolica sollicitudo III). Er interpretiert und definiert die Ergebnisse einer Bischofssynode, normalerweise durch ein nachsynodales apos9
Wijlens, Reform durch ein Reset, 373. Aymans, Bischofssynode, 503. 11 Diese Bischofssynode sei „a) eine zentrale kirchliche Einrichtung; b) eine Vertretung des ganzen katholischen Episkopates; c) ihrem Wesen nach ständig; d) der Struktur nach zeitlich befristet in der Erfüllung der jeweils gestellten Aufgaben.“ Paul VI., Motu Proprio ‚Apostolica sollicitudo‘ I, in: Acta Apostolicae Sedis 57 (1965), 776. 12 Bis zu 15 % der Versammlung können nach Paul VI., ‚Apostolica sollicitudo‘ X, 779 zudem weitere Bischöfe, Ordensmitglieder (offenbar auch weibliche) und Sachverständige (nur Geistliche) sein. 10
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tolisches Schreiben, in dem er weder an die Entwicklung der bischöflichen Debatte noch an Mehrheitsvoten aus der Synodenaula gebunden ist. Die primatiale Prägung, die Paul VI. katholischer Synodalität eingeschrieben hat – wohl auch, um eine kritische Minderheit von Konzilsvätern zu beruhigen, die den Primat des Papstes durch ein „Übermaß“ bischöflicher Kollegialität gefährdet sahen –, hält sich bis heute auch durch alle Änderungen der Statuten der Weltbischofssynode durch. Episkopale Kollegialität, so sie im Format der Synode ausgeübt wird, ist der primatialen Vollmacht beratend zu- und im Ergebnis grundsätzlich untergeordnet.
2. Gemeinsam vorangehen: Synodalität im Pontifikat von Papst Franziskus Seit ihrer Einrichtung 1965 hat es in Rom in unregelmäßigen Abständen 15 ordentliche Generalversammlungen und, die Amazonas-Synode im Oktober 2019 eingerechnet, vier außerordentliche Versammlungen der Weltbischofssynode gegeben. 13 In der Wahl der Themen, aber auch in der Form der Debatte und der Weise, wie deren Entwicklung und Ergebnisse in die jeweils mit einigem zeitlichem Abstand promulgierten nachsynodalen Schreiben der Päpste eingegangen sind, zeigen sich zwischen den jeweiligen Pontifikaten signifikante Unterschiede. Die Spielräume, die in der jeweiligen Ausübung des Primats fraglos gegeben sind und im persönlichen Ermessen des jeweiligen Papstes liegen, werden auch an der konkreten Durchführung einer Bischofssynode sichtbar. Es zeigt sich erneut: Die katholische Bischofssynode ist im Kern ein päpstliches Format. Während die Synoden unter Paul VI. besonders Fragen der kirchlichen Mission behandelten (Glaube 1967, Evangelisierung 1974, Katechese 1977) 14, traktierten die zur Weltbischofssynode geladenen Bischöfe unter Johannes Paul II. kirchliche Stände, Ämter und Aufgaben sowie deren Profile und wechselseitige Abgrenzung (Familie 1980, Laien 1988, Pries-
13
Hinzu kommt eine Reihe von Sonderversammlungen, die regionenspezifische Themen und Teilnehmerkreise betrafen. 14 Die II. Ordentliche Generalversammlung der Weltbischofssynode brachte 1971 ein Papier zum Amtspriestertum und eines zur Gerechtigkeit hervor.
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terbildung 1992, das geweihte Leben 1996, Bischof 2001). 15 Benedikt XVI. berief Weltbischofssynoden zur Mission und zum Gottesdienst der Kirche ein (Eucharistie 2005, Wort Gottes 2008, Evangelisierung 2012). Die bisher von Franziskus einberufenen Synoden greifen Lebensphasen und -umstände und ihre Herausforderungen im Leben der Gläubigen auf (Familie 2015, Jugend 2018). Ganz offensichtlich haben Person und Perspektive des jeweiligen Papstes auch Einfluss auf die konkrete Durchführung und die gesamtkirchliche Bedeutung einer Synode. Manch Bischofsversammlung trat in der kirchenöffentlichen Wahrnehmung weit hinter das entsprechende postsynodale päpstliche Schreiben zurück, das, mit hohem Geltungsanspruch versehen, wirkmächtiger wurde als die Debatten der Bischöfe selbst; man denke etwa an Johannes Pauls II. nachsynodales apostolisches Schreiben Familiaris Consortio (1981) oder an das im Übergang zweier Pontifikate zu verortende apostolische Schreiben Evangelii Gaudium (2013), mit dem Franziskus die noch von seinem Vorgänger 2012 einberufene und geleitete Bischofssynode auswertete und zugleich die Weichen seines Pontifikats stellte. Nicht nur Themen, Formate und Abschlusstexte der Synoden, auch Haltungen und Diskussionskulturen spiegeln die Art und Weise der bischöflichen Zuarbeit zur primatialen Kirchenleitung. Franziskus äußerte anlässlich der Eröffnung der III. Außerordentlichen Weltbischofssynode zur Familie am 6. 10. 2014 Bedauern darüber, dass in vorangegangenen Synoden und Konsistorien Bischöfe und Kardinäle, anstatt offen die Bedürfnisse, Erfahrungen und Herausforderungen ihrer Ortskirchen vorzutragen, in vorauseilendem Gehorsam dem Papst nach dem Mund reden zu wollen schienen, und ermutigte stattdessen zur Parrhesia, zur christlichen Freiheit der Rede. 16 Synodalität meine nicht nur eine Struktur, nicht nur die Einrichtung der Weltorganisation Kirche, sondern zunächst
15
Einen anderen thematischen Zuschnitt hatte die VI. Ordentliche Generalversammlung zum Thema Buße und Versöhnung im Jahr 1980. 16 Franziskus, Grußadresse zur Eröffnung der Dritten Außerordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode, in: Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen 273), Bonn 2014, 80–82.
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und vor allem eine kirchliche Geisteshaltung: den Mut zum offenen Wort, das freimütig gesprochen und demütig angehört werden möge. Am 15. 9. 2018, auf den Tag genau 53 Jahre nach Erscheinen von Apostolica sollicitudo, erließ Franziskus mit der Apostolischen Konstitution Episcopalis communio über die Bischofssynode deren neue Statuten. Sie hob anderslautende Bestimmungen sowohl des CIC 1983 und des CCEO als auch ihrer Vorgängerdokumente, also des Motu Proprio Apostolica sollicitudo Pauls VI. und des von Benedikt XVI. 2006 erlassenen Ordo synodi episcoporum auf. Zur 50-Jahr-Feier der Wiedererrichtung der Bischofssynode, die während der XIV. Ordentlichen Versammlung der Bischofssynode, der so genannten Familiensynode, stattfand, hatte er bereits einige theologische Leitlinien skizziert. Erwähnenswert sind besonders zwei Punkte: Franziskus thematisiert insgesamt weniger die Bischofssynode als Institution denn Synodalität als ekklesiales Prinzip, das er als „konstitutive Dimension der Kirche“ 17 beschreibt: Synodalität bedeute „gemeinsam voranzugehen – Laien, Hirten und der Bischof von Rom“ 18. Was auf der Ebene der Kirchenleitung gelte – der freimütige Austausch zwischen Bischöfen und Papst –, möge auch auf partikularund ortskirchlichen Ebenen verwirklicht werden. Dazu setzt er bei der Konzilsaussage von der Unfehlbarkeit des Gottesvolkes an, das, sofern es zu einem einmütigen Urteil gelangt, in Glaubensfragen nicht irren kann (vgl. Lumen Gentium 12). Damit wird zumindest die Idee der Synodalität zu einer gesamtkirchlichen und nicht mehr nur amtlichen Aufgabe. Dieser Ansatz führt Franziskus allerdings nicht zu einer strukturellen Ausweitung des Kreises stimmberechtigter Synodaler, sondern (nur) zur verbindlichen Implementierung vorbereitender Umfragen unter den Gläubigen. 19 17
Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode vom 17. Oktober 2015, in: Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute Texte zur Bischofssynode 2015 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen 276), Bonn 2015, 23–33, hier: 28. 18 Ebd., 24. 19 Das wird in Art. 6 der Apostolischen Konstitution Episcopalis communio entfaltet. Operative Organe der Umfragen sind die synodalen Strukturen vor Ort, also Diözesansynoden bzw. Bischofskonferenzen, die dazu auf ortskirchliche Strukturen und Gremien zurückgreifen sollen, ohne darauf eingeschränkt zu sein. Weitere Neuerungen sind die Implementierung von Elementen, Strukturen und Kommis-
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Charakteristikum einer synodalen Kirche sei das Zuhören: „Es ist ein wechselseitiges Anhören, bei dem jeder etwas zu lernen hat: das gläubige Volk, das Bischofskollegium, der Bischof von Rom – jeder im Hinhören auf die anderen und alle im Hinhören auf den Heiligen Geist, den ‚Geist der Wahrheit‘ (Joh 14,17), um zu erkennen, was er ‚den Kirchen sagt‘ (vgl. Offb 2,7)“ 20. Vermittels des guten Hörens zwischen den Ständen in der Kirche werde die Machtverteilung in der communio hierarchica geistlich aufgehoben, die hierarchische Pyramide der kirchlichen Leitung vom Kopf auf die Füße gestellt – freilich ohne zugleich die soziale Realität innerkirchlicher Machtverhältnisse in irgendeiner Weise anzutasten. Insofern der Bischof von Rom den bischöflichen Leitern der Ortskirchen und die Ortsbischöfe den Gläubigen vor Ort zuhörten, seien sie der „Basis“ zugeordnet. Leitung werde, ohne aufzuhören, Leitung zu sein, durch Zuhören zu einem geistlichen Dienst. „Darum werden diejenigen, welche die Autorität ausüben, ‚ministri – Diener‘ genannt, denn im ursprünglichen Sinn des Wortes ‚minister‘ sind sie die kleinsten von allen. Im Dienst am Volk Gottes wird jeder Bischof für den ihm anvertrauten Teil der Herde zum vicarius Christi […]. Und in gleicher Sichtweise ist der Nachfolger Petri nichts anderes als der servus servorum Dei – der Diener der Diener Gottes.“ 21 Die Internationale Theologische Kommission, das theologische Referat der Glaubenskongregation, publizierte am 2. 3. 2018 mit Zustimmung des Papstes ein Papier zur „Synodalität in Leben und Sendung der Kirche“ 22. Darin werden Impulse des Papstes und Anliegen der Kurie aufsionen zur Vorbereitung einer Synode und zur Umsetzung ihrer Ergebnisse, die Möglichkeit, dass Hochschulen eigeninitiativ Studien einbringen können, die Erweiterung des beratenden Gremiums um nichtbischöfliche Mitglieder, freilich ohne Stimmrecht (Art. 12), sowie detaillierte Kautelen zur Abfassung und zum formalen Rang des möglichst einmütig beschlossenen Schlussdokuments (Art. 17), das, wenn es „ausdrücklich vom Papst approbiert wurde“, „Anteil am ordentlichen Lehramt des Nachfolgers Petri“ – also keine eigene Autorität – habe (Art. 18 § 1). 20 Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode, 27. 21 Ebd., 29. 22 Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche vom 2. März 2018 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 215), Bonn 2018.
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gegriffen, die, so die Autoren des Textes, „der theologischen Vertiefung und Bedeutung dieser Verpflichtung [zur kirchlichen Synodalität] dienlich sein können, sowie einige pastorale Orientierungen“ (Nr. 1) gegeben, wie die römisch-katholische Kirche die ihrem Profil eigene Synodalität konkretisieren möge. Gleich zu Beginn wird „Synodalität“ als Idee der breiten „Beteiligung des ganzen Gottesvolkes am Leben und an der Sendung der Kirche“ (Nr. 7) stark gemacht: Synodalität sei ein katholischer Stil, ein „modus vivendi et operandi der Kirche“ (Nr. 6). Unmittelbar im Anschluss wird erneut die bischöfliche Kollegialität als spezifische und authentische Verwirklichung gesamtkirchlicher Synodalität im katholischen Verständnis in Erinnerung gerufen. Einen synodalen Stil mögen alle pflegen; synodale Strukturen bleiben exklusiv den Bischöfen vorbehalten, denn „jede authentische [römisch-katholische] Manifestation von Synodalität erforder[e] […] wesentlich die Ausübung durch das kollegiale Bischofsamt“ 23. Alternative Formate kirchlicher Synodalität, wie sie in den lutherischen, reformierten oder anglikanischen Traditionen gepflegt werden, welche durchweg Repräsentanten des ganzen Gottesvolkes und nicht nur Bischöfe in synodal organisierte Leitungsstrukturen einbinden, werden kurz referiert, jedoch bereits mit dem Hinweis eingeleitet, dass es sich dabei um Formen von Synodalität handle, die „im Kontext einer Ekklesiologie […] [entstanden seien], die sich von der katholischen Tradition entfernen“ (Nr. 36). Maßgeblich für die römisch-katholische Tradition und Konkretion von Synodalität seien aber die Papstdogmen des Ersten und die vorsichtig erneuerte Verhältnisbestimmung von Kollegialität und Primat des Zweiten Vaticanums: die communio hierarchica. In den Passagen zur Konkretisierung und Operationalisierung von Synodalität greifen die altbekannten Unterscheidungen von Gläubigen und Hirten, sensus fidelium und amtlicher Lehr- und Leitungsvollmacht; hinzu kommen Mahnungen zur Unterscheidung kirchlicher von demokratischen Strukturen (Nr. 62–69). Jegliche Verwechslung katholischer Synodalität mit einem „ekklesiologischen Konziliarismus“ oder „politischen Parlamentarismus“ müsse ausgeschlossen werden – eine Begründung dieser ebenso traditionellen wie konstruierten Alternative fehlt indes. Die typisch katholische standesbezogene Trennung von Beratung 23
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und Entscheidung, Berater/inne/n und Entscheidern wird eigens (Nr. 68) in Erinnerung gerufen. Der vormals einseitig betonte Gehorsam der Gläubigen (ecclesia audiens – ecclesia docens) ist nun zwar um das verbindliche Hören der Hirten ergänzt worden. Wie bei der Kontextualisierung der Leitungsgewalt des Papstes des Ersten durch die Unterstützung des bischöflichen Kollegiums durch das Zweite Vaticanum wird auch hier Überkommenes (die Konzentration aller kirchlicher Macht auf das Amt) also nicht im Ansatz korrigiert oder revidiert, sondern kontextualisiert und um vor allem spirituelle Dimensionen angereichert: Die Bischöfe sollen mit den Gläubigen ins Gespräch treten, die Gläubigen sollen ihre Einschätzung zu Gehör bringen – vorausgesetzt freilich, ihr sensus fidei ist durch „Zustimmung zum Amt und seinen Moral- und Glaubenslehren“ (Nr. 108) hinreichend kirchlich gebildet. Doch das, was den Bischöfen von den Gläubigen durch Umfragen und Erhebungen oder durch Expertisen zu Gehör gebracht wird, bleibt im Vorfeld von deren Beratung und Entscheidung. An eine Teilhabe der Gläubigen an kirchlichen Entscheidungen ist weiterhin nicht gedacht. Entschieden wird allein auf amtlicher Ebene (Nr. 67–70). Auch eigeninitiative Wortmeldungen der Gläubigen, die anstehende Themen identifizieren, Debatten eröffnen und Herausforderungen oder neue Erkenntnisse markieren, sind im Papier der Theologenkommission nicht vorgesehen. Denn, so die Begründung, „der synodale Vorgang muss sich im Leib einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft vollziehen. In einer Diözese, zum Beispiel, muss zwischen dem Prozess der Erarbeitung einer Entscheidung (decision-making) durch gemeinsame Unterscheidung, Beratung und Zusammenarbeit und dem pastoralen Treffen einer Entscheidung (decision-taking) unterschieden werden, das der bischöflichen Autorität zusteht, dem Garanten der Apostolizität und der Katholizität. Die Erarbeitung ist eine synodale Aufgabe, die Entscheidung ist eine Verantwortung des Amtes.“ (Nr. 69) Auf universalkirchlicher Ebene entspricht dieser Aufteilung von Konsultation (der „Laien“), Unterscheidung (diverser diözesaner Gremien) und Entscheidung (des Bischofs) die Zuordnung von „Laien“, Bischöfen und Papst. Immer sollen zunächst alle gehört werden, dann einige kraft hierarchischer Beauftragung beraten und am Ende einer kraft Amtes entscheiden (Nr. 64).
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3. Synodalität vor Ort: Eine Ortskirche macht sich auf den Weg Ob auf welt- oder teilkirchlicher Ebene: Alle Formate synodaler Prozesse, die das geltende katholische Kirchenrecht kennt und definiert, sind hierarchisch strukturiert und exklusiv amtlich gefasst. Neu sind im Pontifikat von Franziskus lediglich die Ermutigung zu einem gesamtkirchlichen synodalen Stil und die institutionalisierte Konsultation der „Basis“ im Vorfeld synodaler Ereignisse. Die primatiale Engführung synodaler Prozesse, die am Ende alles auf die Deutungshoheit und Entscheidungskompetenz einer intensiv und umfassend beratenen Leitungsfigur zulaufen lässt, ist auch unter Franziskus nicht aufgebrochen, im Papier der Internationalen Theologenkommission vielmehr eigens betont worden. Der amtlich gedachten communio hierarchica entspricht eine weiterhin standesbezogene communicatio hierarchica. Diese Konstellation, die in demokratisch sozialisierten Gesellschaften kaum mehr vermittelbar ist, wird auch innerhalb der Kirche zunehmend angefragt. Der ökumenische Vergleich zeigt, dass sie keineswegs alternativlos ist. Die römisch-katholische Konzentration aller Leitungs- und Entscheidungsmacht auf das in sich noch einmal hierarchisch strukturierte Amt scheint jedenfalls in der derzeitigen „Missbrauchskrise“ nicht hilfreich zu sein, um die anstehenden Probleme nachhaltig und überzeugend zu bearbeiten. Denn die Krise der Kirche stellt sich aktuell vor allem als Krise des Amtes dar. Sie hat durch die in der ganzen Weltkirche aufgedeckte Unzahl sexualisierter Gewaltverbrechen durch Kleriker und ihre Vertuschung und Verharmlosung innerhalb kirchlicher Strukturen ein bisher unbekanntes Ausmaß angenommen und unzählige Menschen nicht nur aus der Kirche getrieben, sondern oft auch ihres Gottvertrauens beraubt. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der so genannten MHG-Stu24 die , welche aktenkundigen (!) Missbrauch von Kindern und Jugend24
Harald Dreßing u. a., Forschungsprojekt ‚Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/ diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf), [Zugriff: 24. September 2019].
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lichen durch katholische Kleriker dokumentiert und analysiert hat, beschäftigten sich die deutschen Bischöfe im März 2019 im Rahmen eines Studientages mit drei großen Themenfeldern, in denen spezifisch katholisches Gefährdungspotenzial für sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch durch Priester und Bischöfe, für deren systematische Vertuschung sowie ganz grundsätzlich Entwicklungs- und Korrekturbedarf für kirchliches Leben und kirchliche Lehre identifiziert worden war: Es ging um Theologie und Soziologie amtlicher Macht in der Kirche, um Fragen der priesterlichen Lebensform und um kirchliche Sexualmoral. 25 Um diese Themen umfassend zu bearbeiten und nötige Reformen zu inaugurieren, beschloss die Bischofskonferenz auf ihrer Vollversammlung am 14. 3. 2019 im emsländischen Lingen, „einen verbindlichen Synodalen Weg als Kirche in Deutschland zu gehen, der eine strukturierte Debatte ermöglicht und in einem verabredeten Zeitraum stattfindet und zwar gemeinsam mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Wir werden Formate für offene Debatten schaffen und uns an Verfahren binden, die eine verantwortliche Teilhabe von Frauen und Männern aus unseren Bistümern ermöglichen. Wir wollen eine hörende Kirche sein. Wir brauchen den Rat von Menschen außerhalb der Kirche.“ 26 Die Konsequenz, den seither nicht ganz unproblematisch „Synodaler Weg“ genannten Prozess in der deutschen Kirche gemeinsam mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) zu verantworten, und die Selbstverpflichtung der Bischöfe, zu den genannten Themen in Foren 27 und Plenarversammlungen in verbindlichen Formaten ergebnisoffene Debatten zu führen, stehen für eine ernsthafte und ernst zu nehmende 25
Vgl. https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/studientag-zum-thema-diefrage-nach-der-zaesur-zu-uebergreifenden-fragen-die-sich-gegenwaertig-stel/de tail/, [Zugriff: 24. September 2019]. 26 So der Vorsitzende der DBK, Reinhard Marx, in der Abschluss-Pressekonferenz der Vollversammlung der DBK in Lingen am 14. März 2019 (https://www.dbk.de/ themen/der-synodale-weg/), [Zugriff: 24. September 2019]. 27 In Lingen wurde die Bildung von drei Foren verabredet, die jeweils von einer Doppelspitze, einem Mitglied der DBK und einem Mitglied des ZdK moderiert werden und deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer von beiden den Prozess verantwortenden Seiten bestellt wurden. Sie arbeiten zu „Macht, Partizipation und Gewaltenteilung“, „Sexualmoral“ und „Priesterliche Lebensform“. Das bald auf Initiative des ZdK ergänzte vierte Forum steht unter der Überschrift „Frauen in Diensten und
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Weiterentwicklung katholisch gedachter Synodalität. Das universalkirchlich verpflichtende „Hören“ der Bischöfe auf die Gläubigen soll, ortskirchlich übersetzt, nicht mehr nur eine Phase im Vorfeld, sondern prägendes Moment des ganzen Weges und noch seiner Zielgerade, der Beschlussfassung, sein. Entscheidungen sollen nicht bloß kraft formaler (bischöflicher) Autorität fallen, sondern auf der Grundlage eines womöglich mühsam errungenen Konsenses der ganzen Kirche beziehungsweise ihrer Delegierten und Repräsentanten erfolgen. Das Format dieses Prozesses musste, dies war von Beginn an klar, ein Format sui generis sein: ein Format, in dem eine gesamtkirchliche Haltung der Synodalität endlich auch strukturelle Konsequenzen zeitigt. Das kirchenrechtlich definierte Format eines Partikularkonzils, eines Plenarkonzils der katholischen Kirche in Deutschland, wäre nicht geeignet, um die drängenden Fragen und Herausforderungen zu bearbeiten. Wenn Macht- und sexualisierter Missbrauch und seine institutionelle Vertuschung und Verharmlosung durch exklusive amtliche Strukturen der Kirche systemisch begünstigt und ihre Ahndung systemisch erschwert werden, muss eine nachhaltige Aufarbeitung und Korrektur kirchlicher Mentalitäten genau solche exklusiven Strukturen durchbrechen und einer echten Partizipation des ganzen Gottesvolkes Raum geben. Wie das strukturell, im Rahmen von bindenden Statuten, abgebildet werden wird, bleibt noch abzuwarten. Umfassende Partizipation im kommunikativen Prozess selbst einzulösen dürfte für alle Beteiligten eine Herausforderung sein; allzu lang wurde eine hierarchische Kommunikationskultur in der katholischen Kirche eingeübt und seitens der Kirchenleitungen wieder und wieder eingefordert. Die ersten Schritte dieses Prozesses waren auch kaum initiiert, als kuriale Dikasterien eingriffen und hierarchisch-amtliche Grundsätze römisch-katholischer Synodalität anmahnten. Jenseits der kirchenrechtlich definierten synodalen Formate sei kein weiteres statthaft, schon gar nicht eines, das auf einer „Parität von Bischöfen und Laien“ aufbaue. Keine Teilkirche dürfe sich anmaßen, über Themen, die die Weltkirche betreffen und zu denen es bereits lehramtliche Antworten gebe, auch nur zu beraten, geschweige denn zu entscheiden. Die deutsche Initiative, die Ämtern der Kirche“. Zur Zusammensetzung der vorbereitenden Foren vgl. https:// www.dbk.de/themen/der-synodale-weg/, [Zugriff: 24. September 2019].
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Machtfrage in der katholischen Kirche neu und anders zu stellen, kommentierte Rom im traditionellen Habitus amtlicher Macht: „Wie kann eine Versammlung einer Teilkirche über Themen der Weltkirche beschließen und wie kann sich eine Bischofskonferenz von einer Versammlung dominieren lassen, von der die meisten Mitglieder keine Bischöfe sind?“ 28 Was aus dem synodalen Weg der Kirche in Deutschland wird, bleibt abzuwarten. Er hätte das Potenzial, den kirchlich erst noch zu kultivierenden Stil von Synodalität in echte synodale Strukturen zu überführen. Er könnte entsprechende Erfahrungen in die Weltkirche einbringen und das römisch-katholische Paradox einer exklusiv amtlich und hierarchisch konzipierten Synodalität zugunsten echter Partizipation des ganzen Gottesvolkes an der Gestaltung der Kirche aufbrechen – wenn am Ende der Schatten des Ersten Vaticanums nicht doch länger ist und solche katholischen Aufbrüche einer Ortskirche kraft primatialer Autorität im Keim erstickt werden. Der Preis wäre hoch.
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So zu lesen im von der Bischofskongregation beauftragten Rechtsgutachten vom 01. August 2019 zu einer älteren Version der Statuten des synodalen Weges in Deutschland, das den Mitgliedern der DBK am 04. September 2019 zugestellt wurde (https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2019/201909-04-Schreiben-Rom-mit-Anlage-dt-Uebersetzung.pdf), [Zugriff: 24. September 2019].
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Ecclesia docens – Ecclesia discens: Von der Hartnäckigkeit eines Vorurteils und wie man es verabschieden kann „Die katholische Kirche ist die Gesellschaft oder Versammlung aller Getauften, die sich auf Erden zum gleichen Glauben und Gesetz Jesu Christi bekennen, an den gleichen Sakramenten teilnehmen und den rechtmäßigen Hirten, vor allem dem römischen Papst, gehorchen.“ (Pius X., Großer Katechismus, 9. Artikel, § 2, 1. Frage) Genaugenommen ist die Unterscheidung von Ecclesia docens und Ecclesia discens, also die Unterscheidung zwischen einer lehrenden und einer lernenden, gar einer befehlenden und einer gehorchenden Kirche, als Grunddifferenz in dem einen Volk Gottes ein neuzeitliches Problem, besser: Sie wird in der Neuzeit zum Problem. In früheren Epochen schienen die Dinge noch einfacher: Ob die im Gefolge der Konstantinischen Wende einsetzende ‚Professionalisierung‘, d. h. Klerikalisierung des kirchlichen Handelns samt der damit verbundenen erworbenen Inkompetenz der Nicht-Kleriker (was dann auf Dauer aus den ‚idiotes‘, also denen, die keine Befehlsgewalt haben, dann doch die ‚Idioten‘, d. h. Nichtwissenden, werden lässt), oder der zwischen Papst und Kaiser ausgetragene mittelalterliche Streit um die höchste Macht auf Erden – ihr Ergebnis war stets das Gleiche: die scheinbar naturgegebene, prinzipielle Unterschiedenheit zweier ‚genera‘ in der Kirche. Diese Differenz gereichte den einen zur spezifischen Identität und den anderen – soziologisch gesprochen – zum Kriterium ihrer ‚Exklusion‘ und – theologisch gesprochen – zum Kriterium ihrer ‚Entwürdigung‘. Denn über Bord geworfen war die Idee von der alle Unterschiede aufhebenden (vgl. Gal 3,28), in Taufe und Firmung gründenden Würde aller Glieder des ‚einen Volk Gottes‘. Als hätte man die Mahnung des Augustinus vergessen, der diesen biblisch fundierten
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Primat der Ontologie der Gnade prägnant mit dem Satz auf den Punkt bringt: „Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ!“ 1 Synodal-konsensuelle Elemente finden sich allenfalls noch an der Spitze der kirchlichen Hierarchiepyramide. Aber selbst diese werden in der spätmittelalterlichen Kirche zu Gunsten eines absolutistischen Papalismus gekappt, wie er am Ende aus den Streitigkeiten um Avignoner Exil, abendländisches Schisma und Konziliarismus – wo die patristische consensus-Idee noch einmal ein kurzfristiges revival erlebt – als Sieger hervorgeht. Die letzten Mitspracherechte des Kardinalskollegiums werden im Gefolge der Reformation gekappt; das Kollegium degeneriert zum Papstwahlgremium und das Tridentinum scheut die theologische Klärung der Kollegialität von Episkopat und Primat wie der Teufel das Weihwasser. Für die Laien aber ist aus dem ihnen eigenen theologischen sensus als Wahrheitsquelle und dem ekklesialen consensus als Quelle der Rechtgläubigkeit die Verpflichtung zum gehorsamen assensus, der Zustimmung zu den Weisungen der kirchlichen Autorität, geworden. Spätestens mit der Reformation wird eine römisch-katholische Betonung der gemeinsamen Sendung aller gar theologisch problematisch. Es gab sie als theologische Grundprinzipien noch bei Cusanus und im Umfeld des Konziliarismus etc., nun aber werden sie ‚unzeitgemäß‘, weil der Häresie verdächtig. Denn es sind gerade die Reformatoren, die die theologische Problematik erkennen, sie kritisieren und radikal Abhilfe schaffen. Martin Luther betont in kaum zu übertreffender Polemik, dass alles, „was aus der Taufe gekrochen ist“, sich „rühmen mag, dass es schon Priester, Bischof und Papst geweiht sei“ 2. Gegen den Papalismus und gegen den Klerikalismus der römischen Kirche seiner Zeit vertritt er den Primat des Evangeliums, des Wortes Gottes und das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. Dies bleibt freilich – insbesondere bedingt durch die nachtridentinische Überhöhung der Gegensätze zwischen reformatorischer und katholischer Theologie – im binnenkatholischen Bereich ohne Folgen. Die frühneuzeitliche Katholische Kirche des Konfessionalismus versucht die Situation durch eine massive Neubefestigung der Privilegien des Klerikerstandes zu 1
Augustinus, Sermo 340,1 (PL 38, 1483). Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation (1520), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 6, Weimar 1908, 407, Z. 13–15.22 f. sowie ebd., 408, Z. 11 f.
2
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retten. 3 Nachtridentinisch entwickelt sich hieraus im binnenkatholischen Bereich eine Weihe- und Klerusideologie, die bis in das 20. Jahrhundert hinein erhalten bleibt und heute nicht nur in manchen katholischen Zirkeln wieder fröhlich Urstand feiert. 4 Diese sakramenten-, besser: amtstheologisch begründete (Grund-) Differenz, die sich über Jahrhunderte hinweg in die ‚Identität‘ des Katholischen eingeschrieben hat, wird indes erst im 19. Jahrhundert offenbarungstheologisch kurzgeschlossen und damit entwickelt sich die Katholische Kirche zu einem in sich geschlossenen, doktrinären Zwei-Klassen-System von Autorität auf der einen und Gehorsam auf der anderen Seite.
1. Wie aus einer theologischen Unterscheidung ein System der Ungleichheit wird Liturgisch sehen sich die Nicht-Kleriker auch vor dem 19. Jahrhundert schon seit längerem in die Rolle der Zuschauer eines mystischen Schauspiels gedrängt, als im 19. Jahrhundert dann in der nachaufklärerisch einsetzenden Entfremdung von Kirche und Welt und in der Zeit einer zum Absolutismus zurückdrängenden Restauration die societas inaequalis et perfecta der Klerikerkirche einem hierarchisierten Kirchenbild die offen3
Der im Zweiten Vaticanum wiederentdeckte Gedanke an eine gemeinsame Teilhabe aller am dreifachen Amt Christi als Priester, Hirte und Lehrer entstammt reformatorischen Quellen, die erst im 19. Jahrhundert von katholischen Theologen positiv aufgenommen werden und sich erst im 20. Jahrhundert auf dem Konzil auch katholischerseits durchsetzen können. 4 Ein guter Anhaltspunkt für diese theologisch verbrämte Ideologie ist der im Gefolge des Trienter Konzils abgefasste Catechismus romanus: „Zuerst muss daher den Gläubigen dargelegt werden, wie groß der Adel und die Erhabenheit dieses Standes ist, wenn wir nämlich seine höchste Stufe, d. i. das Priestertum betrachten. Denn da die Bischöfe und Priester gleichsam Gottes Dolmetscher und Botschafter sind, welche in seinem Namen die Menschen das göttliche Gesetz und in Lebensvorschriften lehren und die Person Gottes selbst auf Erden vertreten: so ist offenbar ihr Amt ein solches, dass man sich kein höheres ausdenken kann, daher sie mit Recht nicht nur Engel, sondern auch Götter genannt werden, weil sie des unsterblichen Gottes Kraft und Hoheit bei uns vertreten“ (Catechismus romanus seu catechismus ex decreto Concilii Tridentini ad parochos Pii V Pont. Max. Iussu editus, editioni praefuit Petrus Rodriguez, Vatikanstadt 1989, II,VII,2; vgl. auch ebd. II,VII,5).
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barungstheologische ‚Spitze‘ aufsetzt: Unfehlbarkeit auf der einen und die gehorsame Glaubenspflicht auf der anderen Seite – so die Zuschreibungen der Offenbarungskonstitution des Ersten Vatikanischen Konzils (vgl. DH 3011). Die dabei im Hintergrund leitende Denkform ist zunächst als eine Re-Aktion auf die als Gefährdung empfundenen (Um-)Brucherfahrungen der Moderne (Französische Revolution, Säkularisierung, Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Rechtsprinzipien [Religions-, Glaubens-, Gewissensfreiheit, der Idee Demokratie und den damit verbundenen bürgerlichen Grund-, aber auch Verfassungsrechten]; dazu kommen die demographischen und sozialen Umwälzungen des Industriezeitalters) zu interpretieren und tritt daher auf den ersten Blick als eine modernitätsfeindliche Neukonstruktion des Katholischen in den Blick. Diese Selbststilisierung zeichnet sich durch eine selbst als programmatisch behauptete Innovationsintoleranz bzw. Innovationsverweigerung aus. Ein ausgeprägter aufklärungsfeindlicher, ahistorischer ‚Anti-Modernismus‘ wird zum selbstgewählten Markenzeichen der Katholischen Kirche. Dazu ‚erfindet‘ die (nicht nur lehramtliche) katholische Theologie des 19. Jahrhunderts in Abwehr einer „als modernistisch empfundenen Theorie von einer Dogmengeschichte“ 5 auf verschiedensten Feldern eine ‚feste‘, immer gleichbleibende und eindeutige ‚Tradition‘ als Konstruktions- und Selektionsprozess. Diese ‚Tradition‘ dient letztlich nur dazu, sich gegen die Kontingenzerfahrungen der eigenen Lehre und Strukturen abzuschotten und so deren Störungspotential wie auch das Mehrdeutigkeitspotential eines Plurals gar unterschiedlicher ‚Traditionen‘ zu eliminieren. Die Kirche steht unter einem Vereindeutigungszwang und entwickelt eine ausgeprägte Ambiguitäts-Intoleranz. Dazu wird in einem „papalistisch übersteigerten Traditionsverständnis die maßgebliche Autorität aus der Vergangenheit […] in die Gegenwart verlagert […]: ‚la traditione sono io‘ (Pius IX.).“ 6 Das instruktionstheoretische Offenbarungsmodell des Ersten Vatikanischen Konzils stellt dabei das zentrale Element dieser ‚Neu-Konstrukti5
Vgl. Georg Essen, Die Geschichte, die aus der Wahrheit kommt. Reflexionen zu einer innerkirchlichen Kultur der Innovationstoleranz, in: Wilhelm Damberg, Matthias Sellmann (Hg.), Die Theologie und ‚das Neue‘. Perspektiven zum kreativen Zusammenhang von Innovation und Tradition, Freiburg i. Br. 2015, 176, Anm. 11. 6 Ebd.
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on‘ des Katholischen dar, dessen ‚Rückseite‘ die nun offenbarungstheologisch begründete Festschreibung der Grunddifferenz einer Ecclesia docens und einer Ecclesia discens darstellt: Ein voluntaristisch enggeführter Offenbarungsglaube (Gott als Gesetzgeber, der die ‚Dekrete seines Willens‘ offenbart [vgl. DH 3004]; das Lehramt als allein autorisierte Tradentin dieses Willens [vgl. DH 3012]) begründet ein autoritär hierarchisches Kirchenbild, das die Kirche notwendig in eine Ecclesia docens und eine Ecclesia discens aufteilen muss (vgl. DH 3011). Denn Glaube wird als Gehorsam verstanden (vgl. DH 3008), der – als gehorsame ‚Unterwerfung‘ unter den sich offenbarenden Gott wie unter die Entscheide der Kirche als dessen Tradentin verstanden – letztlich eine äußere Gehorsamspflicht an die Stelle der inneren Überzeugung treten lässt. Ein verrechtlichter, veräußerlichter Begriff von kirchlicher Lehre etabliert ein Verständnis von ‚Glaube‘ als formales ‚Festhalten an …‘, mit dem ein doktrinalistisch verengter Begriff von Überlieferung und Tradition (verbunden mit einem zeitunabhängigen Wahrheitsbegriff) und ein kognitivistisches Offenbarungsverständnis (Glaubensinhalte werden so als übergeschichtliche Satzwahrheiten gedeutet und quasi rechtspositivistisch begründet: auctoritas non veritas facit doctrinam) korrelieren. Die (traditionelle Gestalt der) infallibilitas/indefectibilitas Ecclesiae wird mit der (anti-modernistischen Form) der irreformibilitas sententiarum in eins gesetzt, was zugleich einen notwendig stets mitlaufenden Korrekturmodus ausschließt und die verbindliche Glaubensbezeugung „in lehrrechtliche Kategorien überführt“ 7. So wird „die für den christlichen Glauben unentbehrliche, epistemische Autorität der Kirche von einer juridischen Autorität überformt, die meint, ihre Stärke dadurch erweisen zu müssen, dass sie sich in einer Sprache des Ultimativen und Endgültigen ausdrückt“ 8. In doktrinärer Perspektive stilisiert sich daher Überlieferung/Tradition als ewig-unveränderliches depositum des ein für allemal Geoffenbarten, das nur noch von der allein zuständigen Autorität des Lehramts verbindlich ausgelegt werden kann (und es kann eigentlich nur noch ‚expliziert‘ werden – ein ‚Lernen‘, gar von ‚Neuem‘, oder eine ‚andere Sicht der Dinge‘ sieht dieses ‚System‘ selbst für das Lehramt nicht vor). Im Konfliktfall, um der Eindeutigkeit willen, wird dieses Geoffenbarte von 7 8
Michael Seewald, Reform. Dieselbe Kirche anders denken, Freiburg i. Br. 2019, 72. Ebd.
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ebendiesem höchsten Lehramt mit der ihr allein zukommenden potestas autoritativ entschieden und unfehlbar festgelegt. Roman Siebenrock spricht hier – geistesgeschichtlich ebenso prägnant wie stimmig – von der katholischen Variante eines ekklesiologischen ‚Deismus‘ : „Kirchengründung (‚Heilsanstalt‘) als Übergabe der christologischen Vollmacht an die Apostel (mit Petrus an der Spitze) wird offenbarungstheologisch erweitert. Dieses Konzept rechnet nicht mehr mit der universalen Präsenz des Reiches Gottes in der Geschichte (diese ist gegen Gott abgeschlossen: ‚Natur‘ [vs. Gnade; J. R.]). Deshalb kann die Kirche nichts Neues lernen. Vielmehr ist der Zugang allgemein sakramental-ekklesiologisch vermittelt“ 9. Die systemischen Konsequenzen sind eindeutig: „Deshalb kann […] der gehorchenden Kirche keine eigenständige theologisch-epistemische Kompetenz eingeräumt werden. Mit der nach dem Ende der ‚Feudalkirche‘ zur Vollendung gelangten Einheit von Jurisdiktion und Ordination ist das System ‚abgeschlossen‘.“ 10 In der Folge haben wir es mit einer Verrechtlichung der Theologie und des Lehramts zu tun, die an die Stelle der ‚Bezeugung der Wahrheit‘ als Aufgabe tritt, das heißt, äußerer Gehorsam, hierarchisch organisierte Machtstrukturen verdrängen die bisherigen Prinzipien von innerer Einsicht, argumentativer Absicherung und Begründungsleistung, der vernünftigen Durchdringung und kognitiven Hilfeleistung. 11 Kurz: Es handelt sich um „eine der kühnsten Neuerungen“, die mit allen Grundprinzipien der klassischen Traditionsbildung und des klassischen Traditionsverständnisses bricht, 12 die sie zugleich aber als die eigentliche Tra9
Roman Siebenrock, Ein Pyrrhussieg: Zum Verhältnis von Dogma und Geschichte im 19. Jahrhundert; noch unveröffentlichtes Paper, gehalten bei der Tagung der Arbeitsgemeinschaft katholische Dogmatik und Fundamentaltheologie: „Im Schatten der Missbrauchskrise. Anfragen an Struktur und Amtsverständnis der römisch-katholischen Kirche“, in St. Virgil, Salzburg 16. bis 18. September 2019. 10 Ebd. 11 Vgl. Seewald, Reform, 67 ff. 12 Vgl. Karl Rahner, Karl Lehmann, Geschichtlichkeit der Vermittlung, in: Karl Rahner, Sämtliche Werke 22/1a: Dogmatik nach dem Konzil. Grundlegung der Theologie, Gotteslehre und Christologie, bearbeitet von Peter Walter und Michael Hauber, Freiburg i. Br. 2013, 109–160, hier: 109–116. In Rekurs auf Gerhard Ebelings Kritik am katholischen Verständnis von Dogmengeschichte: „Der modernistische, allgemeingeschichtliche Entwicklungsgedanke wurde übertrumpft durch den kir-
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dition (invention of tradition) darstellt und so letztlich eine ideologiedurchtränkte Konstruktion von Tradition unter der ‚Fassade eines Konservativismus‘ letztlich ‚Geschichtspolitik‘ betreibt. 13 Diese wird durch eine monarchisch-ständische Ordnung abgesichert, die sie zugleich als Sakralinstitution theologisch überhöht und die (soziologisch-rechtliche) Differenz von Ecclesia discens und Ecclesia docens nun auch offenbarungstheologisch zementiert: „Das Lehramt […] versteht seinen Dienst am Glauben vor allem als Abwehr eines als bedrohlich wahrgenommenen Weltzustands […]. Das Volk Gottes ist beständig ‚von Verirrungen und Glaubensschwäche‘ bedroht, die das Lehramt aufgrund des privilegierten, göttlichen Beistandes, der ihm zuteilwird, nicht affizieren. Aus diesem Grund vermag das Lehramt, das sich in der Endgültigkeit des Heilswerkes Christi gegründet sieht, den Glauben objektiv, ursprünglich und irrtumsfrei in Gestalt von Propositionen vorzulegen.“ 14
2. Warum und wie ein solches ‚System‘ notwendig in die Aporie gerät Doch dieses System des ekklesiologischen Deismus erweist sich bereits im Vorfeld seiner lehramtlich verbindlichen Etablierung als ideologieanfällig und im letzten aporetisch. So wird im Umfeld des ersten Mariendogmas 1854, als man angesichts des Fehlens beziehungsweise der Ambiguität anderer Quellen der Tradition – für die Frage der Dogmatisierung der ‚ohne Erbsünde empfangenen Gottesmutter Maria‘ ist das Schriftzeugnis
chengeschichtlichen Entwicklungsgedanken. Indem dieser kirchengeschichtliche Entwicklungsgedanke verkoppelt wurde mit der Unfehlbarkeitserklärung des Papstes, fand das Problem des Verhältnisses von Offenbarung und Geschichte eine grandiose Lösung. Der Traditionsbegriff wurde völlig gemeistert durch den papalistischen Kirchenbegriff, die maßgebende Autorität aus der Vergangenheit verlagert in die Gegenwart […] Aus dem uminterpretierten Traditionsbegriff ist die prinzipielle Emanzipation von der Geschichte geworden“ (Gerhard Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem; zitiert nach ebd., 112). 13 Seewald, Reform, 66. 14 Ebd., 73.
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dünn, ein Konsens der Väter nicht vorhanden, die Theologiegeschichte und das Lehramt erweisen sich als uneindeutig, selbst die großen theologischen Schulen sind in der Sache heillos zerstritten – explizit auf den Glaubenssinn der Gläubigen rekurriert, um darin eine legitimierende Quelle der anstehenden dogmatischen Entscheidung zu finden, ein Alternativmodell sichtbar. Kein geringerer als John Henry Newman ist es, der sich Überlegungen im Umfeld der Dogmatisierung 1854 aus der Feder des ‚Vaters der Römischen Schule‘, Guiseppe Perrones, zu Nutze macht, um die strikte Gegenübersetzung einer Ecclesia docens zu einer Ecclesia discens in Frage zu stellen und das ekklesiologische Potenzial des Glaubenssinns der Gläubigen neu zu beleben. Perrone hatte in seinen Überlegungen im Vorfeld des Mariendogmas im Anschluss an Johann Adam Möhler die Idee einer lebendigen Überlieferung als Aktualisierung der Lehre der Kirche etabliert und dabei das Bewusstsein und Leben der Gläubigen als Quelle der Kenntnis der Lehre der Kirche als eigene Größe hervorgehoben. 15 Freilich ist ihr lebendiges Zeugnis nicht einfach von dem des Lehramts zu trennen. So ordnet Perrone „den sensus beziehungsweise consensus fidelium unter die übrigen Instrumente und Dokumente der Tradition ein. Er ist Ausdruck des allgemeinen Bewusstseins der Kirche und Niederschlag, Spiegelbild, Ausdruck der Verkündigung der lehrenden Kirche. Als solcher kann er der lehrenden Kirche wiederum dienen zur Feststellung der zu verkündenden oder der schon verkündeten Wahrheit“ 16. Dabei ist klar: „Die Gläubigen bezeugen nur, was ihnen von ihren Hirten gelehrt worden ist“ 17. So ist der sensus fidelium letztlich nur das Spiegelbild der autoritativen Lehre des Lehramts, in dem sich die Bischöfe selbst erkennen. Wie unterschiedlich diese Metaphorik indes versteh- und deutbar ist, zeigen die Konsequenzen, die Newman aus dem mit Perrone geteilten Sachverhalt zieht. Für Newman ist das Volk zwar ‚Spiegel‘, ein Spiegel, „in dem sich die Bischöfe selbst erkennen“, für dieses Spiegel-Sein aber gilt: „Sehr wohl, so meine ich, kann jemand seinen Spiegel befragen (consult) und auf diese Weise
15
Vgl. Walter Kasper, Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule, in: Ders., Gesammelte Schriften 1, Freiburg i. Br. 2011, 185 f. 16 Ebd., 187. 17 Ebd., 186.
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etwas über sich selbst erkennen, was er auf keine andere Weise erfahren würde“ 18. So fasst Newman diese Eigenschaft des ganzen Gottesvolkes im Gegensatz zur römischen Schule als durchaus aktive und vor allem selbstständige Eigenschaft auf: „Nach Newman ist er [der sensus fidelium; JR] nicht nur Echo der Lehrverkündigung der Kirche, sondern er besitzt auch seine Unmittelbarkeit zum Heiligen Geist. Die apostolische Tradition ist nach Newman nämlich nicht allein der lehrenden Kirche anvertraut, was die Meinung Perrones ist, sie ist ‚der ganzen Kirche in ihren verschiedenen Organen und Ämtern per modus unius (auf einmal) anvertraut‘. Damit steht aber das Zeugnis der Laien nicht nur in Abhängigkeit vom Zeugnis des Lehramts, sondern auch in polarer Spannung und in relativer Selbstständigkeit zu ihm“ 19. Diese aktive Befähigung und die dazu notwendige Selbstständigkeit haben auch Rückwirkung auf die innere Konstitution von Kirche. Während Perrone am offenbarungstheologisch begründeten Unterschied von Ecclesia docens und Ecclesia discens und einer strikten Unterordnung von letzterer unter erstere festhalten muss – „Organ der Tradition ist für Perrone nur das Lehramt der Kirche, nicht die Gesamtkirche in ihrer hierarchisch gegliederten Vielfalt“ 20 –, vermag Newman hier zu differenzieren: Die „Gabe der Beurteilung, Unterscheidung, Definition, Verkündigung und Einschärfung irgendeines Teils der Tradition“ liegt zwar „einzig und allein bei der ‚ecclesia docens‘“ 21, freilich ist diese ‚exklusive‘ Zuständigkeit zugleich zu relativieren. Denn die lehrende Kirche muss ein „gesamtheitliches Glaubenszeugnis (consensus fidelium) als iudicium oder instrumentum berücksichtigen und befragen […], wenn eine Glaubensentscheidung zu treffen“ ist 22. Newman rekurriert zur historischen Illustration dieser theologischen Grundüberzeugung auf die nachnizä18
John Henry Newman, On Consulting the Faithful in Matters of Christian Doctrine, deutsch: Über das Zeugnis von Laien in Fragen der Glaubenslehre, in: Ders., Ausgewählte Werke 4: Polemische Schriften. Abhandlungen zu Fragen der Zeit und der Glaubenslehre, Mainz 1959, 269; zitiert nach Kasper, Lehre, 187. 19 Kasper, Lehre, 190. 20 Ebd., 301. 21 Newman, Zeugnis, 263; zitiert nach Kasper, Lehre, 190. 22 Heike Grieser, Hören auf das Gottesvolk? Bemerkungen aus kirchenhistorischer Perspektive zu einer Herausforderung seit frühchristlicher Zeit, in: Thomas Söding
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nischen Auseinandersetzungen. 23 Hier zeigt sich, dass er die Geschichtlichkeit kirchlicher Lehre und kirchlicher Lehrentwicklung ernster nimmt als Perrone. In seiner theologischen Begründung gewinnt Newman neuen Zugang zur altkirchlichen Idee des consensus und dem sich darin widerspiegelnden Gedanken einer Unfehlbarkeit des Gottesvolkes selbst, die er als ‚Subjektwerdung‘ der Glaubenden und nicht einfach als formalen Restbestand in Gestalt eines passiven Glaubensgehorsams versteht. 24 Denn gerade die arianischen Streitigkeiten des 4. Jahrhunderts machen deutlich, – so Newman – dass „die ‚Ecclesia docens‘ nicht allezeit das aktive Werkzeug der unfehlbaren Kirche ist“ 25. Die Unfehlbarkeit des Lehramts war nach Newman zwar „auch in dieser Zeit immer gegeben, sie war virtuell immer vorhanden, aber sie wurde nicht aktiv ausgeübt; die Unfehlbarkeit der Gesamtkirche kam damals durch das Zeugnis der Laien zur Auswirkung. Diese sind dann aber aktives, relativ selbständiges Werkzeug der unfehlbaren Kirche“ 26. Das Zeugnis der Laien ist also aktives instrumentum traditionis und nicht einfach nur ‚Spiegel‘ oder medium traditionis, also schlichte ‚Verkörperung der Lehre der Hirten‘. 27 Die Gläubigen besitzen nach Newman eben nicht nur eine passive Unfehlbarkeit, weil die apostolische Tradition nicht nur den Bischöfen, dem Lehramt, so noch Perrone und die ganze römische Schule, sondern der Gesamtkirche anvertraut ist. 28 Die göttliche Tradition ist daher nicht einfach identisch mit der autoritativen doctrina der Kirche, mit der sie zum Beispiel Perrone kurzschließt. 29 (Hg.), Der Spürsinn des Gottesvolkes. Eine Diskussion mit der Internationalen Theologischen Kommission, Freiburg i. Br. 2016, 159–189, hier: 159 f. 23 Ebd., 160. 24 Newman, Zeugnis, 270–290. 25 John Henry Newman, Über die Befragung der Gläubigen in Dingen der christlichen Lehre, in: Hochland 40 (1947/48), 279; zitiert nach Kasper, Lehre, 192. 26 Kasper, Lehre, 192. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd., 192 f. 29 Vgl. ebd., 194.298. „Den Traditionsbegriff Perones kennzeichnet etwas in sich Ruhendes, sich selbst Genügsames, Selbstverständliches und Beharrendes. Dieser Traditionsbegriff ist ganz aus dem Geist der römischen Restaurationszeit herausgewachsen […] Ein solcher Traditionsbegriff erliegt der Gefahr, einseitig die beständige Gegenwart der Lehre der Apostel in der Lehre der gegenwärtigen Kirche zu
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Walter Kasper hebt hier zu Recht das je unterschiedliche Verständnis von Glaube und – diesem folgend – von Offenbarung und Lehre/Dogma bei Perrone und Newman hervor. Glaube ist für Newman „nicht in erster Linie ein Erfassen von Wahrheiten“ und damit wie bei Perrone ein „vom Willen befohlener übernatürlicher Akt des Verstandes, ein Erfassen von bestimmten Glaubenssätzen“, sondern ein „Akt, der in das Ganze der Person eingebettet ist, nämlich Gehorsam, Hingabe, Unterwerfung, Wagnis auf den lebendig erfassten wirklichen Gott hin, die Bewegung des ganzen Menschen auf Gott hin“ 30. Offenbarung ist in der Folge eine lebendige Idee, und deren Analyse und Abstraktion entwickeln sich, können weiterreichen, sich vertiefen, sich verändern, weil sie von der „Eigenart des jeweiligen Zeitalters“ 31 geprägt sind. Das depositum fidei ist für Newman daher „etwas, das wächst und erst am Ende vollendet ist, während für Perrone das depositum nicht des Wachstums fähig ist, sondern ‚semper enim hoc immutabile mansit‘“ 32. Weil es aber für Newman der Geist ist, der „die Kirche immer [lehrt], wie es für eine Zeit entsprechend ist“ 33, wächst die Wahrheit des Glaubens nicht nur formaliter, für uns beziehungsweise in unserer Erkenntnis, sondern materialiter, in sich; dazu aber ist das Bekenntnis zur aktiven Assistenz des Geistes für alle und in allen die entscheidende theologische Voraussetzung. 34 Diese Einsicht freilich unterläuft eine strikte Trennung von Ecclesia docens und Ecclesia discens schon im Prinzip. Denn auf den sensus fidelium als vom Geist Gottes selbst initiierte Bewegung des Glaubens kann man eben nicht nur dann zurückgreifen, wenn es kirchenpolitisch opportun erscheint, wie dies zum Beispiel der betonen. Die Lehre der Kirche als regula fidei proxima wird damit zur regula fidei suprema gemacht, die zugleich die beiden regulae fidei remotae aufsaugt. Er widerspricht der ganzen Tradition der Väterzeit wie der Scholastik […]. Damit steht die rechte heilsgeschichtliche Einordnung der Kirche und ihrer Verkündigung auf dem Spiel, wonach die Zeit der Offenbarung, die Verkündigung der Apostel immer als Norm über der Verkündigung der Kirche bleibt und nie mit ihr identisch werden kann“ (Ebd., 299 f.). 30 Ebd., 224 f. 31 Newman-Perrone-Paper, 417; zitiert nach Kasper, Lehre, 226. 32 Kasper, Lehre, 227. 33 Ebd., 230. 34 Vgl. ebd., 231 f.
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im Vorfeld des Mariendogmas von 1854 eifrig den Glaubenssinn der Laien als Quelle von Tradition verteidigende Perrone tut, um ihn am Ende doch wieder der Autorität des Lehramtes unterzuordnen, sondern man muss ihn in seiner Eigenständigkeit ernst nehmen: „Die Unmittelbarkeit des Glaubenszeugnisses der Laien zum Heiligen Geist und seine relative Selbständigkeit gegenüber dem Zeugnis der lehrenden Kirche hat aber zur Folge, dass dieses Zeugnis nicht nur als locus theologicus, nicht mehr rein passiv verstanden werden kann, sondern auch als aktives Werkzeug der unfehlbaren Kirche gelten muss.“ 35 Der sensus fidelium ist ein pneumatologisch fundiertes, theologisches Grundprinzip und das hat Konsequenzen, wie das Zweite Vatikanische Konzil deutlich macht.
3. Wie Veränderung möglich wird In der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, Lumen gentium, wird der ‚Glaubenssinn der Gläubigen‘ zum ersten Mal in der Theologiegeschichte ausführlich betrachtet: Wie alle am Priestertum Christi teilhaben, so nimmt das Volk Gottes auch als Ganzes an Christi prophetischem Amt teil, nämlich im lebendigen, durch die Gemeinschaft abgelegten Zeugnis des Glaubens (vgl. LG 12,1). Aus der Passivität des Zuhörens und gläubigen Annehmens wird ein aktives Mitwirken aller in der Glaubensüberlieferung und als solches wird es durch das Konzil ausdrücklich und betont ins Recht gesetzt. Jedes nachkonziliare Nachdenken über Theologie, Sinn und Struktur von Kirche muss sich daher an einem Grundgedanken messen lassen: zunächst von dem zu handeln, was alle angeht. Dieser Begriff des ‚Glaubenssinns der Gläubigen‘ verbindet sich aufs Engste mit einem aktiven Verständnis des Rezeptionsgedankens: Es kommt bei der Wahrheitsfindung auch darauf an, was akzeptiert und angeeignet wird und so seine Wirkung entfalten kann. Dies hat freilich nur Sinn in einem kirchlichen Gefüge, das nicht von vornherein in eine hörend-gehorchende und eine lehrend-leitende Kirche aufgespalten ist, sondern auch Annahme und Akzeptanz als Wirkung des Heiligen Geistes wahrzunehmen bereit ist. So ersetzt das Konzil die traditionelle Hervorkehrung der Ungleichheit (Lehrende und Hörende) durch die Betonung 35
Ebd., 191.
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der prinzipiellen Gleichheit aller Glieder und Gruppen der Kirche in Bezug auf Verantwortung für Gestalt und Überlieferung des Glaubens, wie Teilhabe an Funktion und Aufgabe der Kirche (vgl. LG 32). Aus einer bisher eher im Hypothetischen verbleibenden ‚passiven Unfehlbarkeit‘ der Kirche als Ganzer wird im Zweiten Vaticanum also ein aktives Medium der Glaubensüberlieferung. Damit ist aber „Unverirrlichkeit […] zunächst eine Eigenschaft des Gottesvolkes als Ganzes und nicht das Prädikat eines Amtes oder eines Amtsträgers“ 36. Über die Art und Weise dieser Unverirrlichkeit und die damit verbundene konkrete Verhältnisbestimmung des Glaubenszeugnisses aller und des Glaubenszeugnisses des hierarchischen Lehramts verliert der Text aufgrund seines eher harmonisierenden Integrationsmodells kein weiteres Wort. Indes scheint der potenzielle Antagonismus von hierarchischem Lehramt und Glaubenssinn aller Gläubigen, der sich hinter den mitunter allzu harmonisierenden Formeln verbirgt, explizit festgeschrieben. 37 So etabliert sich der Glaubenssinn aber als eigenständige Bezeugungsinstanz und als aktive, pneumatologisch fundierte Eigenschaft der ganzen Kirche: „Es gibt eine echte Unfehlbarkeit der Kirche in credendo, ja diese scheint sogar als Grundlage der kirchlichen Unfehlbarkeit überhaupt. […] Der Glaubenssinn steht […] zwar in Verbindung mit dem Lehramt – eben wegen des einen und gleichen Geistes, der in allen wirkt –, kann aber von diesem nicht aufgesogen oder aufgehoben werden.“ 38 Die theologische Wahrheit des sensus fidelium begründet sich indes im Zweiten Vaticanum zuallererst in seiner offenbarungstheologischen Würde. In der Offenbarungskonstitution des Konzils, Dei verbum, wechselt das Grundverständnis von Offenbarung von einem Verständnis als ‚feststehender Lehre‘ hin zu einem Verständnis des umfassenden Geschehens der Selbstmitteilung Gottes in Jesus von Nazaret: „In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 1 Tim 1, 17) aus über36
Bernd Jochen Hilberath, Theologie des Laien – Zu den Spannungen zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Laien-Instruktion, in: Stimmen der Zeit 217 (1999), 219–232, hier: 223. 37 Vgl. ebd., 223. 38 Wolfgang Beinert, Der Glaubenssinn der Gläubigen in Theologie- und Dogmengeschichte – Ein Überblick, in: Dietrich Wiederkehr (Hg.), Der Glaubenssinn des Gottesvolkes – Konkurrent oder Partner des Lehramtes? (Quaestiones disputatae 151), Freiburg i. Br., 1994, 55–131, hier: 102 f.
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strömender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 11; Joh 15, 14 f.) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen“ (DV 2, DH 4202). Offenbarung ist kommunikativ-partizipatorische Teilhabegewährung an der Gemeinschaft mit Gott. Nicht mehr einzelne Lehrsätze, sondern Gottes personale Selbstoffenbarung ist das zu Überliefernde und damit die eigentliche Grundbewegung von ‚Tradition‘ 39 (vgl. DV 8). Daher bestimmt das Zweite Vaticanum die Aktualität dieser Heilsgemeinschaft mit Gott im Leben und Dasein der ganzen Kirche, und damit die gesamte Lebenspraxis aller als Medium der Überlieferung. Alle ‚Glieder der Kirche‘ haben bezüglich der Vermittlung der Offenbarung „ihren je eigenen Auftrag, der mit dem Bekenntnis und dem Zeugnis verbunden ist, zu dem alle berufen sind“ 40. So betont das Zweite Vaticanum ein ganzheitliches – kommunikativ und personal orientiertes – Offenbarungs- und Glaubensverständnis und hat damit auch ein anderes Verständnis von so etwas wie Glaubenswahrheit und deren Vermittlung oder Weitergabe. Betont das Erste Vaticanum noch die Unterwerfung unter den göttlichen Willen, den Glaubensgehorsam als Pflicht, kennzeichnet Dei Verbum den menschlichen Glauben als freie Tat des Menschen, mit der er sich Gott anvertraut, sich ihm ganz hingibt und daher sich auch mit ganzem Verstand und ganzem Willen Gott unterordnen will: „Dem offenbarenden Gott ist der ‚Gehorsam des Glaubens‘ (Röm 16, 26; vgl. Röm 1, 5; 2 Kor 10, 5 f.) zu leisten. Darin überantwortet sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit, indem er sich ‚dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft‘ und seiner Offenbarung willig zustimmt. Dieser Glaube kann nicht vollzogen werden ohne die zuvorkommende und helfende Gnade Gottes und ohne den inneren Beistand des Heiligen Geistes, der das Herz bewegen und Gott zuwenden, die Augen des Verstandes öffnen und ‚es jedem leicht machen muss, der Wahrheit zuzustimmen und zu glauben‘. Dieser Geist vervollkommnet den Glauben ständig 39
Vgl. dazu auch Dietrich Wiederkehr, Das Prinzip Überlieferung, in: Walter Kern u. a., Handbuch der Fundamentaltheologie 4: Traktat Theologische Erkenntnislehre, 100–123, hier: 110 ff. 40 Martin Löhrer, Vergegenwärtigung der Offenbarung durch die Kirche. 2. Abschnitt: Träger der Vermittlung, in: Ders., Johannes Feiner (Hg.), Mysterium Salutis 1, 545–605, hier: 546 f.
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durch seine Gaben, um das Verständnis der Offenbarung mehr und mehr zu vertiefen“ (DV 5; DH 4205). Glaube ist Beziehung, lebendiges Miteinander von Mensch und Gott. Glaube ist die ganzheitliche, vertrauensvoll zu vollziehende ‚Antwort‘ auf die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus von Nazaret. Die Zustimmung des Menschen zu dieser Anrede Gottes, das existentielle Sich-Selbst-Verstehen des Menschen gehört ebenso dazu wie der Gegenwartsbezug und die Kontextgebundenheit, ja geschichtliche Vermittlung und kulturelle Kodierung, samt der darin begründeten Zweideutigkeit und Kontingenz. Geschichte und Welt sind Erkenntnisorte der Offenbarung. Gerade in der rechtlichen Umsetzung der dialogisch-kommunikativen Struktur des In-der-Wahrheit-Bleibens sind je länger je deutlicher nach dem Konzil und in der Rezeption desselben die entscheidenden Desiderate spürbar. 41 Auch hier deckt die spannungsvolle nachkonziliare Rezeption und ihre bis heute andauernde Problemgeschichte nichts anderes auf als die mehr oder minder gut verborgenen Schwächen der Konzilstexte selbst. Die Hoffnung des Konzils, die konziliare Position und damit der offene Konflikt, der auf dem Konzil nur ansatzweise ausgetragen wurde, würden sich in der nachkonziliaren Rezeption und theologischen Reflexion der Texte klären lassen, hat sich nicht erfüllt. Die aus dem 19. Jahrhundert übernommene Erblast erweist sich als fatal. Die eine nachkonziliare Interpretationstendenz „begreift Kirche als communio ecclesiarum und communio fidelium. Sie möchte, daß außer den Institutionen der Ämter auch die gemeinsame Verantwortung eine wirksame institutionelle Ausprägung auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens findet. Sie vertritt diese manchmal in einer Weise, daß die besondere Verantwortung der Hirten undeutlich wird“, die andere Interpretationstendenz „betont die besondere Sendung und Verantwortung der Amtsträger manchmal so stark, daß sie zur alleinigen Verantwortung wird. Diese Tendenz sieht die Formen der Mitverantwortung in Konkurrenz zur Autorität der Hirten“ 42 – mögen sich indes vielleicht noch zu Recht auf einige Konzilstexte, insbesondere auf das III. Kapitel der Kirchenkonstitu41
Vgl. Bernd Jochen Hilberath, Die Wahrheit des Glaubens. Anmerkungen zum Prozess der Glaubenskommunikation, in: Ders. (Hg.) Dimensionen der Wahrheit – Hans Küngs Anfrage im Disput, Kontakte 7, Tübingen 1999, 51–80, hier: 75. 42 Hermann J. Pottmeyer, Die zwiespältige Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums –
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tion berufen, weil in ihr unverkennbar zwei Ekklesiologien recht unvermittelt nebeneinander zu stehen kommen. 43 Denn die im III. Kapitel von Lumen gentium entfaltete communio hierarchica wird unter vollkommener Ausblendung des im II. Kapitel noch dominierenden Leitgedankens einer Volk-Gottes-Ekklesiologie konzipiert, sei dies nun mit Blick auf die theologische Aufwertung des Bischofsamtes, die Vollmachten des Bischofskollegiums in ihrem Verhältnis zur Primatialgewalt oder die theologische Differenzierung der amtlichen Dienste in der Kirche. Diese theologische Aufwertung des Bischofsamts durch das Konzil wirkt ekklesiologisch wie die sprichwörtliche ‚Dame ohne Unterleib‘. Eine ähnliche Beobachtung lässt sich für das Bischofsdekret des Konzils, Christus Dominus, festhalten: Auch hier wird eine „Hirtenaufgabe entwickelt ohne Rücksicht auf die Schafe“ 44. Christus Dominus verbleibt ebenso wie die Kirchenkonstitution selbst in seinen Ausführungen zum Bischofsamt unter der Leitperspektive: Zentrale – Ortkirche, Papst – Einzelbischof. Eine Wiederentdeckung des Subsidiaritätsprinzips zur Stärkung der Eigenrechte der Ortskirche und die Einrichtung institutioneller Repräsentationsorgane mit Entscheidungsbefugnis zu ihrer synodalen Ausübung steht also nicht nur einfachhin ‚aus‘ ; es steht eine Revision theologischer Begründungsformen wie dogmatischer Bewertung aus, die über die Ausführungen des Konzils selbst hinaus eingefordert und ausgestaltet werden muss, da sie dort allenfalls fragmentarisch angedacht worden sind beziehungsweise die Regularien des Konzils selbst im Identitätsstrom des 19. Jahrhundert verbleiben oder sich von dieser Denkform eben gerade nicht verabschiedet haben. Für eine solche Re-Vision ist die Prioritätensetzung der Offenbarungskonstitution eindeutig: „Der Stil der Kommunikation in der KirUrsache nachkonziliarer Konflikte, in: Trierer Theologische Zeitschrift 92 (1983), 272–283, hier: 275. 43 Jener bereits zitierte Satz zu Beginn des III. Kapitels – „Um Gottes Volk zu weiden und immerfort zu mehren, hat Christus der Herr in seiner Kirche verschiedene Dienstämter eingesetzt“ (LG 18) – kann geradezu als Paradigma für diese Unvermitteltheit der beiden Ekklesiologien gelten. 44 Guido Bausenhart, Das Bischofsamt. Intentionen, Impulse und Weichenstellungen des Konzils, in: Sabine Demel, Klaus Lüdicke (Hg.), Zwischen Vollmacht und Ohnmacht. Die Hirtengewalt des Diözesanbischofs und ihre Grenzen, Freiburg i. Br. 2015, 90–109, hier: 103.
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che und des Umgangs miteinander ist […] alles andere als beliebig. Der Maßstab dafür ist der Umgang Gottes mit uns, der das Kommen des Reiches damit beginnt, daß er uns wie Freunde anredet und wie mit Freunden mit uns verkehrt, um uns in seine Gemeinschaft einzuladen (DV 2).“ 45 Ein solches Verständnis duldet nun aber nicht jeden Stil und legitimiert nicht jede Struktur der Vollmachtausübung. Denn wenn „einmal alle Glaubenden als das Subjekt ‚Volk Gottes‘ eingesetzt sind, muss dies über kurz oder lang die bisherige Autoritäts- und auch Machtverteilung verändern“ 46.
4. Warum sich etwas ändern muss Es streiten in der Folge zwei nicht zu harmonisierende Positionen miteinander, von denen die eine aufgrund des juridischen Beharrungsvermögens der von ihr besetzten ekklesiologischen Positionen auch noch explizit rechtlich wirksam wird. Das im Gefolge dieses Beharrungsvermögens sichtbar werdende Desiderat einer auch rechtlichen, das heißt strukturell-sichtbaren Umsetzung der theologisch neu eröffneten Perspektive des Konzils führt in der Folge zu jener Glaubwürdigkeitskrise, die in den letzten Jahren immer spürbarer wird und die auch und gerade eine Beteiligungskrise ist. Denn „Beteiligung braucht […] nicht nur Bereitschaft, Einsatz und Dauer. Dazu bedarf es Strukturen und Prozeduren. Je umfassender die Beteiligung sein soll, desto demokratischer und durchsichtiger müssen die Verfahren sein, um alle Beteiligten einzubeziehen.“ 47 Angesichts dieser Notwendigkeit kommt die strukturelle Krise der Katholischen Kirche auf allen Ebenen heute mit Vehemenz zum Tragen. Hier 45
Hermann J. Pottmeyer, Die Rolle des Papsttums im Dritten Jahrtausend, Freiburg i. Br. 1999, 133 f. Dieser Umgang ist keineswegs nur eine Frage des Stils, sondern der konkreten rechtlich und strukturell verbindlichen Umsetzung (vgl. ebd., 134). 46 Dietrich Wiederkehr, Sensus vor Consensus: auf dem Weg zu einem partizipativen Glauben. Reflexionen einer Wahrheitspolitik, in: Ders. (Hg.), Der Glaubenssinn des Gottesvolkes – Konkurrent oder Partner des Lehramtes (Quaestiones disputatae 151), Freiburg i. Br. 1994, 182–206, hier: 183. 47 Edmund Arens, Gotteskrise, nein – Kirchenkrise, Ende offen, in: Marianne Heimbach-Steins u. a. (Hg.), Kirche 2011: ein notwendiger Aufbruch. Argumente zum Memorandum, Freiburg i. Br. 2011, 71–80, hier: 75.
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müsste Kirche wieder neu lernen, jenen Raum zu bieten, in dem die Strukturen des Miteinanders so lebensdienlich und -tauglich erfahren werden, dass sie eben nicht Glauben verhindern, weil Kirche durch ihre eigene Anstößigkeit das Antlitz Gottes eher verdunkelt und so der neuen Bewusstwerdung der Frage nach Gott im Wege steht. Dabei muss ‚Demokratie‘ – im Sinne der Etablierung von synodalen Strukturen, die eine lebendige Mitwirkung und angemessene Beteiligung aller ermöglichen – kein Tabu oder gar Schimpfwort sein. Denn es ist – so hielt Rahner im Vorfeld der Würzburger Synode fest – eben durchaus mit der bischöflichen Struktur der Katholischen Kirche vereinbar, dass Laiengremien nicht nur Beratungs-, sondern auch Entscheidungskompetenz haben, denn: „Wenn und insofern bei solchen Entscheidungen einem Bischof ein persönliches und unübertragbares Recht einzuräumen ist, das qualitativ anders ist als ein gegebenes oder denkbares Mitspracherecht anderer Glieder in der Kirche, so bedeutet dies noch lange nicht, daß immer und in jedem Fall und bei jeder Materie einer Entscheidung alle (Priester und Laien) hinsichtlich solcher Entscheidungen nur eine beratende Funktion haben könnten. Eine solche Behauptung läßt sich aus der orthodoxen Theologie des Bischofsamtes nicht wirklich deduzieren und widerspricht auch der faktischen Praxis der Kirche durch alle Jahrhunderte hindurch bis auf den heutigen Tag. Der Hirt soll Hirt bleiben, aber er soll darum noch lange nicht seine Schafe – wie Schafe behandeln. Wenn dies aber nicht sein soll, dann muß es, gestuft und je nach der fraglichen Materie differenziert, mindestens in vielen Fällen heute auch ein Recht der Priester und der Laien geben, nach dem sie in einer deliberativen und nicht bloß konsultativen Weise an den Entscheidungen der Kirche mitwirken. Ein solches Verlangen darf nicht von vornherein und grundsätzlich als eine solche Demokratisierung der Kirche verdächtigt werden, die im Widerspruch zum Wesen der Kirche steht.“ 48
48
Karl Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg i. Br. 1972, 129 f. In der traditionellen Denkform verfangen scheinen daher auch immer noch die Ausführungen der Internationalen Theologenkommission zur Synodalität, wenn dort in der Nr. 69 formuliert wird: „In einer Diözese, zum Beispiel, muss zwischen dem Prozess der Erarbeitung einer Entscheidung (decision-making) durch gemeinsame Unterscheidung, Beratung und Zusammenarbeit und dem pastoralen Treffen einer Entscheidung (decision-taking) unterschieden werden, das der bischöflichen Autorität zusteht, dem Garanten der Apostolizität und der Katholizität. Die Erarbeitung ist eine synodale Aufgabe, die Entscheidung ist eine Verantwortung
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Selbstverständlich schöpft die Kirche die entscheidende Kriteriologie zur Etablierung und Beurteilung ihrer Strukturen zunächst aus ihrer theologischen und damit ihrer eigenen, inneren Bestimmung. Zur Benennung konkreter Kriterien für die heute notwendigen Veränderungsprozesse ist auf die Grunddefinition von Kirche zurückzugreifen, wie sie das Konzil formuliert hat: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ (LG 1). Darum „geht“, wie die Pastoralkonstitution betont, „diese Kirche, zugleich ‚sichtbare Versammlung und geistliche Gemeinschaft‘ […], den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt“ (GS 40). Das bedeutet aber, dass die sakramentale Grunddimension von Kirche auch und gerade zur Folge hat, dass Selbstverständnis und strukturelles Gefüge der Kirche auch stets entlang der geschichtlichen Entwicklungen verlaufen. In der Moderne wird diese Beziehung zwar komplexer, kann aber nicht einfach abgebrochen werden. Ein prinzipieller Widerspruch zur Moderne, gar ideologisch überhöht als Widerspruch ‚um des Evangeliums willen‘, verwechselt die von Gott der Kirche geschenkte Zeichenhaftigkeit (Sakramentalität) mit einer Sakralisierung ihrer vorläufigen weltlichen Erscheinungsform. Dagegen gilt: Nicht nur weil die einzelnen Glieder der Kirche immer ‚Bürgerinnen zweier Welten‘ sind, sondern gerade weil das Zweite Vatikanische Konzil selbst im Bekenntnis zur Religionsfreiheit, der Neukonstellation des Offenbarungsverständnisses wie der pneumatologischen Revision des Kirchenverständnisses die zentrale Kategorie der Personenwürde neu entdeckt, gehören die Grundprinzipien des modernen demokratischen Staatsgefüges nunmehr zum theologischen Kerngeschäft. Wenn aber zugleich gilt, dass sich Kirche immer in kritischem, aber anschlussfähigem Dialog mit der sie umgebenden und durchdringenden ‚Welt‘ be-
des Amtes“ (Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche vom 2. März 2018 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 215), Bonn 2018, 58). Das erinnert immer noch an die Unterscheidung der Römischen Schule zwischen ‚organum‘ und ‚praesidium traditionis‘ und hat wohl die Denkform einer prinzipiellen Differenz von Ecclesia docens und Ecclesia discens an diesem Punkt noch immer nicht hinter sich gelassen.
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wegt und verändert hat, 49 dann bedeutet dies, dass Selbstverständnis und strukturelles Gefüge der Kirche auch stets entlang der geschichtlichen Entwicklungen verlaufen. In der Moderne wird diese Beziehung zwar komplexer, kann aber nicht einfach abgebrochen werden. So bleibt es am Ende eine offene Frage: Wie verhält sich das Bekenntnis zur eigenen Geschichtlichkeit und damit die Lernfähigkeit der Kirche zu den ‚demokratischen Lektionen‘ der Moderne: allgemeine Teilhabe an der Macht, Machtkontrolle und prinzipielle Begrenzung von Macht? Hier darf, ja muss damit gerechnet werden, dass mitunter gerade das ‚Außen‘ in Gestalt der Fremdprophetie für das Eigene sinnerschließend werden kann. Dies gilt auch und gerade für die Begriffe von Freiheit und Demokratie als Grundsignaturen der Moderne. Dazu wäre indes nicht nur eine innere Umkehr des Geistes, sondern eine grundlegende Veränderung des kirchlichen Rechts im Sinne der Grundprinzipien von Repräsentativität, differenzierter Entscheidungsbefugnis und geteilter Verantwortung dringend vonnöten. Aufs Engste damit verbunden ist die Gestaltung von Kommunikationsstrukturen, die dialogfähig sind. 50 Dialogbereitschaft bedeutet nicht nur Lernbereitschaft, sondern auch den „Mut“ zu einem auch strukturell wirksam werdenden „Antagonismus in der Kirche, zu einem echten Pluralismus der Charismen, der Aufgaben und Funktionen“ 51. ‚Checks and Balances‘ heißt das magische soziologische Zauberwort, damit wirklich gilt: „Das Normale und Ordentliche in der Kirche muss die kollektive und dialogische Wahrheitsfindung sein.“ 52
49
Vgl. dazu auch: Knut Wenzel, Partizipation und Dialog in der Kirche, in: Marianne Heimbach-Steins u. a. (Hg.), Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch. Argumente zum Memorandum, Freiburg i. Br. 2011, 146–155. 50 Hermann J. Pottmeyer spricht eindrücklich von der fehlenden Dialogkultur (vgl. Hermann J. Pottmeyer, Die Mitsprache der Gläubigen in Glaubenssachen. Eine alte Praxis und ihre Wiederentdeckung, in: Internationale Katholische Zeitschrift 25 (1996), 134–147, hier: 146). 51 Karl Rahner, Löscht den Geist nicht aus!, in: Ders., Schriften zur Theologie 7: Zur Theologie des geistlichen Lebens, 77–90, hier: 88. 52 Walter Kasper, Kirchliche Lehre – Skepsis der Gläubigen. Kirche im Gespräch, Analyse F. Haarsma, Stellungnahmen Walter Kasper, Franz Xaver Kaufmann, Freiburg i. Br. 1970, 63–65.
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Mariano Barbato
„The Medium is the Message“ Zur medialen Selbstdarstellung des Papsttums heute
Papst Franziskus richtete im Zuge seiner kurialen Medienreform mit dem Motu Proprio L’attuale contesto comunicativo 1 2015 ein zentrales Sekretariat mit Zuständigkeit für die gesamte vatikanische Öffentlichkeitsarbeit ein. Die nominelle Aufwertung zum Dikasterium erfolgte 2018. Doch anstelle der zurückgetretenen Gründungspersönlichkeit des Sekretariats, Dario Viganó, der mit beratender Funktion im Führungszirkel päpstlicher Medienpolitik erhalten blieb, trat der Journalist Paolo Ruffini als erster Laie die Rolle des Präfekten eines Dikasteriums an. Viganó musste zurücktreten, weil er den spin der päpstlichen Selbstdarstellung in den Medien überzogen hatte, als er einen Brief des emeritierten Papstes Benedikt XVI. in sinnentstellender Weise verkürzt zur Präsentation einer Buchreihe zur Theologie von Papst Franziskus herangezogen hatte. 2 Kurz zuvor hatte sich Franziskus noch in der jährlichen Botschaft zur Lage der sozialen Kommunikationsmittel gegen die Falschdarstellung als endemisches Problem der digitalen Öffentlichkeit gewandt. 3 Auch wenn damit abgesteckt wurde, wo die Grenzen päpstlicher Selbststilisierung liegen könnten, blieb doch die Frage virulent, wie päpstliche Öffentlichkeitsarbeit ein angemessenes Image kreieren kann.
1
Franziskus, Motu Proprio ‚L’attuale contesto comunicativo‘, in: Acta Apostolicae Sedis 107/7 (2015), 591 f. 2 Vgl. Mathias Rüb, Was schreibt ein Papst dem anderen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. März 2018 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/briefzensurvon-papst-benedikt-verursacht-lettergate-15501986.html), [Zugriff: 13. Juli 2019]. 3 Vgl. Franziskus, Botschaft zum 52. Welttag der Sozialen Kommunikationsmittel. „Die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32). Fake News und Journalismus für den Frieden (https://dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/Botschaften/2018Botschaft_52 Welttag_der_Sozialen_Kommunikationsmittel.pdf), [Zugriff: 13. Juli 2019].
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Mariano Barbato
Dario Viganó schlug anfänglich Walt Disney als Vorbild vatikanischer Medienarbeit vor. 4 Das Ideal der Unternehmensphilosophie war auch den hohen Kosten vor allem von Radio Vatikan geschuldet, die zunehmend als betriebswirtschaftliches Defizit und nicht mehr als Investition in die globale Katechese galten. Wie ein aufmerksamer Beobachter aus den Reihen der »reformbedürftigen« Mitarbeiter meinte, stellt sich aber mit dem Walt-Disney-Vergleich unweigerlich die Frage, wer denn nun Micky Mouse, der Star im Zentrum der Konzernstrategie, wäre – Jesus Christus oder der Papst? Viganó verzichtete bald auf den als inopportun erkannten Walt-Disney-Vergleich. Doch die Frage stellt sich ganz grundsätzlich für die Papstkirche: Gilt die mediale Selbstdarstellung der Profilierung des Papstes oder der Steigerung seiner Handlungsfähigkeit? Wie kann die päpstliche Selbstdarstellung im personenfixierten Starkult der medialen Öffentlichkeit den innerkirchlich seit dem Ersten Vatikanischen Konzil ebenfalls exponierten Pontifex als nach innen und nach außen sprachmächtigen und handlungsfähigen Akteur präsentieren, ohne in einen fragwürdigen Papalismus abzugleiten? Welche Antwort der jeweilige Papst auch immer in diesem Balanceakt gibt, ohne eine Variante der Selbstdarstellung kommt er nicht aus. Der Beitrag reflektiert zunächst das ambivalente Überleben des Papstes als Akteur auf der Bühne der säkularen Öffentlichkeit, in der Rolle des massentauglichen Popstars im Drama der Moderne; eine Rolle, die er spätestens im Pontifikat Pius’ IX. annahm als Teil der Strategie, zu der auch das Erste Vatikanische Konzil gehört. Ein zweiter Abschnitt analysiert kursorisch den Instrumentenkasten vatikanischer Medienpolitik mit dem Schwerpunkt der Digitalisierung. Ein dritter Teil offeriert eine Erklärung zur überraschend erfolgreichen Medienstrategie des BergoglioPontifikats – Stand Sommer 2019.
4
Vgl. Inés San Martin, For communications reform, the Vatican looks to Walt Disney, in: Crux vom 29. April 2016 (https://cruxnow.com/church/2016/04/29/forcommunications-reform-the-vatican-looks-to-walt-disney/), [Zugriff: 13. Juli 2019].
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1. Der Papst als Star im Strukturwandel von Kirche und Öffentlichkeit Die Äußerungen des Papstes gelten nicht nur papsttreuen Katholiken. Romtouristen beklatschen seine sonntäglichen Angelusappelle und möchten bei seinen Ansprachen und Predigten auf dem Petersplatz dabei sein. Das Erlebnis Papst in Wort und Bild zieht auf den Reisen des Pontifex in den verschiedensten Winkeln und auf den großen Plätzen der Erde sehr unterschiedliche Menschen an. Gelegentlich spricht er vor einem Auditorium, das mehrheitlich nicht aus Katholiken besteht, wie im Stadion von Casablanca oder vor dem US-Kongress. Die Masse auf dem Platz ist nicht nur Adressat, sondern auch Teil der Inszenierung für ein größeres Publikum. Als es dem Papst staatsrechtlich durch die Lateranverträge möglich wurde, gründete Pius XI. Radio Vatikan. Eine eigene Fernsehanstalt produziert exklusiv die vatikanischen Bilder des Papstes. Heute gehört #pontifex in mehreren Sprachen zu den erfolgreichsten Twitteraccounts. Religion, Gesellschaftspolitik und Diplomatie bedient der päpstliche Komplex aus Heiligem Stuhl, Vatikan und Kirchenoberhaupt gleichzeitig oder doch zumindest zeitnah auf vielen Bühnen und für diverse Auditorien. 5 Grundlegend dafür war die Massenmobilisierung, die spätestens im Pontifikat von Pius IX. einsetzte und seither anhält. 6 Der Papst der Katholiken verwandelte sich im Strukturwandel von Öffentlichkeit 7 und
5
Vgl. Mariano Barbato, A state, a diplomat, and a transnational Church. The multilayered actorness of the Holy See, in: Perspectives. Review of Central European affairs 2 (2013), 27–48; Timothy A. Byrnes, Sovereignty, supranationalism, and soft power. The Holy See in international relations, in: The Review of Faith & International Affairs 15/4 (2017), 6–20. 6 Vgl. Stefan Heid, Solidarische Kirche. Deutsche Pilgerzüge zu den ‚gefangenen Päpsten‘ Pius IX. und Leo XIII., in: Ders., Karl-Joseph Hummel (Hg.), Päpstlichkeit und Patriotismus. Der Campo Santo Teutonico. Ort der Deutschen in Rom zwischen Risorgimento und Erstem Weltkrieg (1870–1918), Freiburg i. Br. 2018, 186–232; vgl. Mariano Barbato, Legionen des Papstes, in: Zeitschrift Für Politikwissenschaft 26/4 (2016), 375–396. 7 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1990.
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Kirche 8 weder zum figure head 9, noch zum Sakristan des Petersdoms, sondern als „electronic pastors“ 10 und „universal pastor“ 11 fast zu einer Art Kaplan der Weltöffentlichkeit. Kaum eine Institution der Vormoderne wehrte sich so vehement und grundsätzlich gegen Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit wie das Papsttum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und schickt sich nun an, eine herausragende Rolle in der digitalen Weltöffentlichkeit einzunehmen. 12 Den aus Sicht der Säkularisierungstheorie überraschenden Befund steigert der Heilige Stuhl durch die Weigerung, sich als Nichtregierungsorganisation in das Modell einer Zivilgesellschaft einzuordnen. 13 Zeitgleich mit dem endgültigen Verlust des Kirchenstaats hatte die Kirche im Ersten Vatikanischen Konzil die Personalisierung des Papstamtes auch doktrinär so weit vorangetrieben, dass dem Papsttum institutionell weitgehend die Bewahrung seines Ideals einer hierarchischen statt egalitären, universalen statt nationalen, und religiösen statt säkularen Öffentlichkeitskonzeption gegen den Strukturwandel der liberalen Moderne gelang. 14 Dass dieses institutionelle Arrangement kein Nischendasein einer weltabgewandten Sekte führt, sondern als Völkerrechtsubjekt auf den Weltbühnen gastiert und selbst eine souveräne Topdestination des Medienzirkus unterhält, ist erklärungsbedürftig.
8
Karl Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance. Wo stehen wir? Was sollen wir tun? Wie kann eine Zukunft der Kirche gedacht werden?, Freiburg i. Br. 1972. 9 Eamon Duffy, Saints & Sinners. A History of the Popes, New Haven 2014, 247. 10 John F. Pollard, Electronic Pastors: Radio, Cinema, and television. From Pius XI to John XXIII, in: James Corkery, Thomas Worcester (Hg.), The Papacy since 1500. From Italian Prince to Universal Pastor, Cambridge 2010, 182–203. 11 James Corkery, John Paul II. Universal Pastor in a Global Age, in: Ders., Thomas Worcester (Hg.), The Papacy since 1500. From Italian Prince to Universal Pastor, Cambridge 2010, 223–242. 12 Vgl. Mariano Barbato, u. a. (Hg.), Wege zum digitalen Papsttum. Der Vatikan im Wandel medialer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2018. 13 Vgl. Franziskus, Eucharistiefeier mit den Kardinälen am 14. März 2013. Predigt, in: Acta Apostolicae Sedis 105/4 f. (2013), 365 f. 14 Vgl. Mariano Barbato, Das Papsttum im Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Ders. u. a. (Hg.), Wege zum digitalen Papsttum. Der Vatikan im Wandel medialer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2018, 11–45, hier: 25–31.
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Der Vatikan betreibt einen nicht unerheblichen Aufwand, die mediale Inszenierung wie deren Übertragung auf dem aktuellen Stand des modernen Geschmacks und der Technik zu halten. Bühnenbilder und Sendereichweite sind essentielle Voraussetzung, am Ende entscheidet aber doch die Performanz des Akteurs und die Dramatik des Skripts, ob das Stück durchfällt oder reüssiert. Für das Papsttum der Moderne fordert die Dramaturgie der päpstlichen Rolle als Pflichtübung einen Spagat zwischen zwei Extremen ab. Als celebrity und expressiver Künstler, der einen gewissen Publikumsgeschmack in der Freiheit der Kunst bedienen darf, erhält sich der Papst in der liberalen Öffentlichkeit den Freiraum, dem sie ihm als Repräsentant einer autoritären und religiösen Vormoderne eigentlich nicht zubilligen möchte. 15 Gleichzeitig muss der Papst aber nicht nur nach innen, sondern auch nach außen auf diplomatischer Bühne den staatsmännischen Kirchenfürsten geben, der sowohl intern wie extern als Souverän anerkannt werden möchte. Dieser Dauerspagat kann gerade deswegen gelingen, weil er als Künstler die Rolle des modernen Kirchenfürsten gibt. Doch kein Drama funktioniert ohne handfesten Konflikt. Olaf Blaschke kann zeigen wie der Aufstieg des modernen Papsttums im 19. Jahrhundert nicht nur gestützt auf den Ultramontanismus einsetzt, sondern in der sich hochschaukelnden medialen und mobilisierenden Dialektik von antiklerikaler Kritik und ultramontaner Unterstützung gelang. 16 Die grundlegende Storyline blieb seither das Ringen des Papsttums mit der Moderne. Die Kür liegt in der Interpretationskunst der jeweiligen Papstdarsteller, die ihre Rolle facettenreich ausgelegt haben. Johannes Paul II. ging als Streiter gegen den Liberalismus und als Sieger gegen den Kommunismus in die Geschichte ein. Der Theatermann Wojtyła war eine mediale Idealbesetzung, die sowohl den streitbaren Athleten wie den gebrechlichen Greis geben konnte. Das zurückhaltende, aber wortgewaltige Spiel des Professors Ratzinger in barocker Prachtentfaltung fand durchaus auch sein Publikum. Benedikt XVI. kämpfte dabei gegen die Diktatur des Re15
Vgl. ebd. 21–25. Olaf Blaschke, Der Aufstieg des Papsttums aus dem Antiklerikalismus. Zur Dialektik von endogenen und exogenen Kräften der transnationalen Ultramontanisierung, in: Römische Quartalsschrift 112 (2017), 21–35.
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lativismus und die Gewalt des Fundamentalismus. Neuland betrat er in der kirchenrechtlich zwar vorgesehenen, aber ungespielten Rolle des emeritierten Papstes. Franziskus gibt den nahbaren und innovativen Volksschauspieler mit Reformagenda. Seine zugespitzte, ökologisch aufgerüstete Kapitalismuskritik bei abgeschwächter Kulturkritik treibt geschickt einen Keil ins liberale Lager der Moderne. Mit der Positionierung als moderner Reformer verlegte er risikoreich das Streitfeld vor allem in die Kirche selbst und treibt dafür auch die digitale Medienreform voran.
2. Die Digitalisierung der Instrumente Den semantischen Wandel von den Massenmedien zu den sozialen Medien muss der Vatikan nicht nachvollziehen. Die Kurie sprach immer von den sozialen Kommunikationsmitteln, auch wenn sie kritisch die Massenmedien meinte. Seitdem der Journalistensohn Montini Papst war, gibt es einen Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, an dem der Papst den Stand der medialen Öffentlichkeit in einer Botschaft kommentiert. 17 Zur Absicherung der päpstlichen Rolle versuchten sich die Päpste aber nicht nur als Medientheoretiker, sondern sie stiegen vor allem selbst als Medienunternehmer ins Showgeschäft ein. Vor jeder medialen Vermittlung muss der Auftritt des Papstes inszeniert werden. Weder die analoge noch die digitale Medienwelt kann auf die reale Bühne wirklicher Plätze und Orte verzichten. Bevor Bilder übertragen werden können, müssen sie gleichsam als soziale Plastik erst entstehen. 18 Dennoch gehören Reisemarschall und Zeremonienmeister nicht zum engeren Kreis vatikanischer Öffentlichkeitsarbeiter. In die Zuständigkeitsfülle des Dikasteriums für Kommunikation fallen nach Artikel 1 des Motu Proprio 19 der Päpstliche Rat für die sozialen Kommunikations17
Gerulf Hirt, „Das Wahre und das Gute verbreiten“. Papst Paul VI. und der Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, in: Mariano Barbato u. a. (Hg.), Wege zum digitalen Papsttum. Der Vatikan im Wandel medialer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2018, 121–143. 18 Mariano Barbato, Reisebilder der Päpste. Zur Ikonographie des Papsttums, in: Ders. u. a. (Hg.), Wege zum digitalen Papsttum. Der Vatikan im Wandel medialer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2018, 91–118. 19 Vgl. Franziskus ‚L’attuale contesto comunicativo‘.
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mittel, das Presseamt des Heiligen Stuhls, sämtliche vatikanische Internetdienste, Radio Vatikan, das Vatikanische Fernsehzentrum, die vatikanische Tageszeitung L’Osservatore Romano, die Vatikanische Druckerei Tipografia Vaticana, der Fotodienst und das vatikanische Verlagshaus Libreria Editrice Vaticana. Die Integration dieser Medien in das neue Regime schreitet in den unübersichtlichen Korridoren des Vatikans langsam voran. Radio Vatikan hatte als eigenständiger Rundfunksender ausgedient und ging im Internetportal Vatican News auf. Mit der neuen Personalkonstellation seit Viganós Abgang beginnt sich der Wind für das Radio und sein Personal aber wieder zu drehen. Die Einsetzung des Journalisten Andrea Tornielli vor Weihnachten 2018 als Chefredakteur aller Medien wirkte sich unmittelbar auf die Leitung des L’Osservatore Romano und des Presseamts aus. Inwieweit das Staatssekretariat sich seine Besitzstände im Verlautbarungsorgan L’Osservatore Romano ganz nehmen lässt oder das Presseamt, wie lange gefordert, in seine Entscheidungsabläufe stärker integriert, bleibt abzuwarten. Eine Bilanz der Reform käme jedenfalls verfrüht. Ein aktueller Blick lohnt sich bei den Internetdiensten, denn die digitale Wende setzte lange vor der laufenden Reform ein. Die nur summarisch genannten Internetdienste haben die mediale Präsenz des Papstes revolutioniert. Seit 1995 verfügt der Vatikan über die eigene Top-Level-Domain .va. Verlautbarungen des Heiligen Stuhls sind über seine Homepage so schon lange vor der Reform in den Weltsprachen verfügbar. Wer es lieber ganz offiziell auf Latein mag, kann die Acta Apostolicae Sedis ebenfalls online abrufen. Das direkte Nachrichtengeschäft bündelt das in der Medienreform entstandene Portal Vatican News. Neben dem auf Bild und Text ausgeweiteten Radioprogramm dürfte das über den Youtube-Chanel vorgehaltene Filmmaterial, das die Aufnahmen vom Angelus über die Generalaudienzen bis zu den Papstmessen verfügbar hält, seine wichtigste Säule darstellen. Im Vergleich zu anderen Youtube-Kanälen erreicht das Portal gegenwärtig aber nur bescheidene 235 000 Abonnenten, davon gut 90 000 durch den spanischsprachigen Kanal. Auch die Klickzahlen einzelner Videos bleiben eher im vier- bis fünfstelligen Bereich. In den sozialen Medien agieren Teams des Papstes aber auch direkt in seinem Namen. Unter @franciscus folgen seinen Bildern auf Instagram gegenwärtig ca. sechs Millionen Follower, was nicht einmal für einen Platz unter den Top 100 ausreicht. Wer das Ranking anführen will, benö-
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tigt Follower in der Größenordnung von 150 Millionen. Erfolgreicher agiert Franziskus unter #pontifex auf Twitter. Addiert man die Sprachkanäle des Pontifex, stößt er in die Größenordnung von etwa 50 Millionen Followern und damit unter die Top 20 vor. Dieser Erfolg ist besonders beachtenswert, da das Programm des Papstes eher hausbacken daherkommt. In der von Bildern, Videos und Zuspitzungen dominierten Landschaft äußert der Papst sich mit fromm-moralischen Tweets und verschickt nur spärlich Bildbotschaften. Seit Oktober 2018 wird das seit Januar 2016 zum monatlichen Gebetsanliegen des Papstes produzierte einminütige Pope Video gezwitschert. Ein quantitativer Blick auf die Worthäufigkeit der Tweets des deutschen Accounts (derzeit lediglich gut 600 000 Follower) zeigt, dass der Papst vor allem über Gott und Jesus Christus, den Herrn, spricht. Ansonsten dominieren inklusive ihrer Deklinationen die Begriffe Leben, Liebe, Herz, gefolgt von Frieden, Welt, Menschen, Barmherzigkeit (vor allem aus dem außerordentlichen Heiligen Jahr 2015/2016) Weg, Freude, Kirche, Gebet und Hoffnung, die den Bereich um 100 Nennungen erreichen. Deutlich dahinter kommen im Erhebungszeitraum bis Juni 2019 als signifikante Begriffe Geist und Maria mit jeweils 68 Nennungen. Der zwitschernde Papst bedient offensichtlich eine emotionale Religiosität göttlicher Tugenden nah am Leben, ist aber auch auf dem Weg, der Welt und den Menschen den Frieden zu bringen. Diese Religiosität lässt katholische Spezifika aber höchstens marianisch aufscheinen und dabei mit dem pfingstlichen Geist gleichaufliegen. 20 Langfristig dürfte die digitale Wende dem Papsttum in die Hände spielen, wenn es ihm in der Entgrenzung der nationalen Öffentlichkeiten auf eine Weltöffentlichkeit hin gelingt, darin eine postsäkulare und interreligiöse Führungsrolle zu übernehmen.
20
Für eine ausführlichere Analyse vgl. Johannes Löffler, ‚Habemus Twitter!‘ Die digitale Revolution des Heiligen Stuhls, in: Mariano Barbato u. a. (Hg.), Wege zum digitalen Papsttum. Der Vatikan im Wandel medialer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2018, 190–226. Löffler hat auch die aktualisierten Rohdaten hier bereitgestellt.
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3. Der mediale Erfolg des Bergoglio-Pontifikats Roma locuta causa finita. Was der katholische Volksmund am Gehalt des Ersten Vatikanischen Konzils tradiert, gilt begrenzt. Ein päpstliches Diktum beendet auch unter Katholiken Diskussionen nicht zwingend. Die Idee des päpstlichen Lehr- und Jurisdiktionsprimats und seiner Verschärfung durch das Erste Vatikanische Konzil gibt aber vor, dass es eine souveräne Instanz der Entscheidung gäbe. Die eigentlichen Träger der medialen Vermittlung in der idealen Welt einer päpstlichen Öffentlichkeit sind die Aufseher, die Bischöfe und ihr Klerus, die auf den gleichen Dienst der Einheit in Wahrheit verpflichtet sind wie der Nachfolger Petri selbst. Diese Konstruktion lässt sich unter den Bedingungen einer liberalen Öffentlichkeit nur schwer aufrechterhalten. Von daher rührt der tragende Konflikt für das päpstliche Drama in der Moderne. Das Erste Vatikanische Konzil legte das Papsttum darauf fest, an diese Idealkonstruktion auch unter verschärften Bedingungen festzuhalten. Unter der Überschrift von Glaube und Vernunft hat Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. diese Herausforderung schon als Präfekt der Glaubenskongregation angenommen, als Papst durchgehalten und dabei beachtliche Erfolge erzielt – aus deutscher Perspektive wäre beispielsweise die Rede vor dem deutschen Bundestag ein gutes Jahr vor seinem Rücktritt zu nennen. 21 Das Gespräch der Öffentlichkeit sollte gegen Relativismus und Fundamentalismus auf einen Diskurs der Wahrheitssuche und des Gewaltverzichts festgelegt werden. Dabei scheute Benedikt XVI. keine Kontroverse und prägte kämpferische Begriffe wie die Rede von der Diktatur des Relativismus. Nahbar als Person, konziliant im Ton, aber beharrlich in der Sache, nicht ohne einen gelegentlich provokanten Humor, durchaus mit Lust an der ästhetischen Inszenierung der Schönheit päpstlicher Pracht hielt Benedikt XVI. seine Interpretation des Ideals unter den Bedingungen einer postsäkularen Öffentlichkeit durch, nicht zuletzt als theologischer Denker und Publizist, der auch in der lockeren Form eines Interviews an seine Leser herantrat. Die Schlussszene des Pontifikats mit dem Hubschrauber über den Dächern des glockenläutenden Roms übertraf auch in der visuellen Einstellung jede Hollywoodinszenierung. 21
Vgl. Benedikt XVI., Ansprache im Deutschen Bundestag vom 22. September 2011 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 189), Bonn 2011, 30–38.
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Was ein Höhepunkt des Diskurses um Glauben und Vernunft, Gewaltverzicht und Wahrheitssuche hätte werden können, gilt als erstes mediales Fiasko seines Pontifikats: die Rede von Regensburg. Eine kleine professorale Provokation reichte aus, um einen Sturm gewaltsamen Protests in der islamischen Welt zu entfachen. Ähnlich gelagert verhielt es sich bei der Panne Williamson, dessen Leugnung des Holocausts zeitnah mit der päpstlichen Aufhebung der Exkommunikation der Bischöfe der Pius-Bruderschaft im schwedischen Fernsehen ausgestrahlt wurde und von einer aus päpstlicher Sicht „sprungbereiten Feindseligkeit“ selbst unter Katholiken 22 aufgegriffen wurde. Einen krönenden Abschluss des medialen Gegenwinds lieferte der Vatileaks-Skandal, der die geheime Papstkorrespondenz zu vatikanischen Ungereimtheiten und Verbrechen einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich machte. 23 Ohne diesen Gegenwind im Ratzinger-Pontifikat ist die Öffentlichkeitsarbeit von Franziskus nicht zu verstehen. Mit der Wahl Jorge Bergoglios zum Papst ging die Bereitschaft einher, mit der Medienstrategie des Papsttums grundsätzlich zu brechen, um nicht mehr bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein mediales Trommelfeuer auf sich zu ziehen. Der bereits thematisierte Umbau der Strukturen und Institutionen war nur ein Instrument einer wesentlich breiter und grundsätzlicher angelegten Strategieveränderung. Im Zentrum stand und steht die Verweigerung der Entscheidung, wo immer das geht. Diese Entscheidung gegen die Entscheidung – das Roma locuta – ist für den petrinischen Dienst nicht ohne Risiko. Sie reflektiert aber die prekäre Situation, in die das Papsttum mit seinem Ideal eines unfehlbaren Lehrprimats und überzeitlichen Wächteramts geraten ist, wenn die Öffentlichkeit auf pluralen Streit, Skandalisierung und Tempo setzt und dabei das Papsttum auf die Rolle eines antimodernen Protagonisten unter Reformdruck festlegen will. Für den Kommunikationswissenschaftler Peter Szyszka „wäre es von Franziskus kommunikationsstrategisch also gerade zu unklug, konkrete Positionen in Streitfragen zu 22
Vgl. Benedikt XVI., Brief an die Bischöfe der Katholischen Kirche in Sachen Aufhebung der Exkommunikation der vier von Erzbischof Lefebvre geweihten Bischöfe vom 10. März 2009, in: Acta Apostolicae Sedis 101/4 (2009), 270–276. 23 Vgl. Gianluigi Nuzzi, Seine Heiligkeit. Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Benedikt XVI., München 2012.
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beziehen, denn je unkonkreter die Erwartung, desto breiter der Interpretationskorridor und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Sinnbilder verschiedener Positionen bestätigt werden.“ 24 So kann der Nachfolger Petri ganz paulinisch allen alles sein. Mit volksnaher Authentizität und strategischem Agendasetting lassen sich die beiden anderen Säulen der Medienstrategie des Bergoglio-Pontifikats beschreiben. Jede Person in der Öffentlichkeit muss die Erwartungen des Publikums nach Authentizität im Sinne einer konsistenten Rolle bedienen. 25 Aber es kommt darauf an, welche Erwartungen geweckt werden. Ein Papst, der volksnah redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, wirkt viel leichter authentisch als jemand, dem man Druckreife bei jeder Äußerung unterstellt. Wenn er das eine oder andere Mal etwas unglücklich formuliert oder für eine Teilöffentlichkeit zuspitzt, dann verursacht das vielleicht Stirnrunzeln bei anderen, es löst aber keine Entrüstungsstürme aus. Von ähnlicher Tragweite dürfte das Agendasetting des Pontifikats gewesen sein, das bereits mit der Namenswahl Franziskus begann und mit ihr nicht nur auf Reform, sondern auf Diskontinuität, vielleicht sogar Disruption, sicher aber auf Armut, Ökologie und interreligiösen Dialog setzte. Die heißen Eisen der Sexualmoral, des Lebensschutzes und der personal verstandenen Menschenrechte waren damit auf die hinteren Plätze verwiesen. In Anbetracht des Missbrauchsskandals schien nur eine Sozialethik, keine Morallehre in der Lage, den Status des Pontifikats medial zu sichern. Franziskus war im Lauf seines Pontifikats durchaus bereit, auch deutliche Worte zu finden. 26 Die Agenda war aber anders gesetzt. 24
Peter Szyszka, Kann ein Papst ‚Franziskus‘ sein? Die Authentizität eines Papstes zwischen Rolle und Persönlichkeit, in: Peter Klimczak, Christer Petersen (Hg.), Popestar. Der Papst und die Medien, Berlin 2017, 281–293, hier: 289. 25 Vgl. ebd. 26 Beispielsweise: „Ein widersprüchlicher Ansatz gestattet auch die Auslöschung des menschlichen Lebens im Mutterleib, im Namen der Wahrung anderer Rechte. Aber wie kann ein Akt, der unschuldiges und wehrloses Leben im Keim erstickt, therapeutisch, zivil oder auch einfach nur menschlich sein? Ich frage euch: Ist es richtig, ein menschliches Leben zu „beseitigen“, um ein Problem zu lösen? Ist es richtig, einen Auftragsmörder anzuheuern, um ein Problem zu lösen? Das geht nicht, es ist nicht richtig, einen Menschen, so klein er auch ist, zu ‚beseitigen‘, um ein Problem zu lösen. Es ist, als würde man einen Auftragsmörder anheuern, um ein Problem zu
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Mit diesem Schwenk hatte er die Rolle des Papstes als belächelter und angefeindeter Tugendwächter abgelehnt und einen neuen Vorschlag unterbreitet, wie man den Papst geben kann. Hinzu kam das Migrationsthema, das er frühzeitig mit einem Besuch auf Lampedusa besetzt hatte 27 und das bald darauf politisch zum disruptiven Thema der politischen Landschaft des Westens wurde. Diese Agenda brachte dem Papst nicht wenige Gegner ein. Die Leitmedien der westlich geprägten Weltöffentlichkeit, die ansonsten die liberale Kritik an der Papstkirche bedienen, können jedoch den üblichen Reformdruck schlecht auf einen Papst fokussieren, der sich erfolgreich als innerkirchlicher Garant der Reform positioniert und auch von ihnen medial so aufgebaut wurde. Franziskus gelang so das mediale Kunststück gegen den üblichen Zyklus, nach einem Hype zu Beginn eines Pontifikats den zu erwartenden Abschwung sanft ausfallen zu lassen. Einen Härtetest bestand das Bergoglio-Pontifikat seit dem Sommer 2018 unter den Extrembedingungen des Missbrauchs- und Vertuschungsskandals, der medial weitgehend der Katholischen Kirche und nicht dem Papsttum angelastet wird, obwohl für letzteres durchaus Gründe vorlägen. Zumindest der umstrittene Erzbischof Carlo Viganó, der mit seinen geleakten Briefen als Generalsekretär des Governatorats der Vatikanstadt bereits bei Vatileaks als interner Kritiker Schlagzeilen machte 28 und als Nuntius nach Washington weggelobt wurde, bemühte sich nach Kräften, das Bergoglio-Pontifikat als Teil des Problems darzustellen. Zeitgleich zur ohnehin heiklen Papstreise nach Irland wandte sich der emeritierte Nuntius mit einem gewaltigen Vorwurf an die Öffentlichkeit. Franziskus habe den wegen Vorwürfen des Missbrauchs an Seminaristen und jungen Priestern unter Benedikt XVI. gemaßregelten Kardinal McCarrick wieder aufgewertet und lösen. Woher kommt das alles? Wo entstehen Gewalt und Ablehnung des Lebens im Grunde? Aus der Angst. Denn die Aufnahme des anderen ist eine Herausforderung für den Individualismus.“ Franziskus, Generalaudienz am 10. Oktober 2018 (http:// w2.vatican.va/content/francesco/de/audiences/2018/documents/papa-francesco_ 20181010_udienza-generale.html), [Zugriff: 13. Juli 2019]. 27 Mariano Barbato, Johannes Löffler, Papst Franziskus und die Flüchtlinge, in: Oliver Hidalgo, Gert Pickel (Hg.), Flucht und Migration in Europa. Neue Herausforderungen für Parteien, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Wiesbaden 2019, 101–125. 28 Vgl. Nuzzi, Seine Heiligkeit, 68–99.
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mit besonderen Diensten betraut. Diese Erklärung schlug hohe Wellen. Einen vergleichbaren Vorwurf eines hochrangigen Erzbischofs gegen einen Papst hat es in der an Vorwürfen reichen Geschichte des modernen Papsttums nicht gegeben. Dennoch thematisierten die Leitmedien die Vorwürfe weitgehend als innerkatholische Querele eines enttäuschten Konservativen. 29 Obwohl Viganó bei seiner Darstellung blieb und die Vorwürfe noch ausweitete, dürfte Franziskus diesen Härtetest bestanden haben. Denn die Medien müssten nun nicht nur ein Eingeständnis des Papstes fordern, sondern ein eigenes liefern. Unabhängig von den Vorwürfen Viganós schwelt der Missbrauchsskandal weiter. Auch der Vatikanische Missbrauchsgipfel hat das Thema nur sehr vorläufig aus den Schlagzeilen gebracht. Die mediale Öffentlichkeit wird den Missbrauch und seine Vertuschung als Klassiker der Kirchenkritik, wenn nicht gegen den Papst, dann gegen die Kirche, weiter im Spiel halten. Die strategische Verlagerung des Dramas um Moderne und Reform auf ein Kampffeld innerhalb der Kirche wirkt sich nur dann langfristig zugunsten des Papsttums aus, wenn die päpstliche Moderatorenrolle tatsächlich zu nachhaltigen Ergebnissen führt. Es sei denn, es ginge gar nicht um päpstliche Handlungsfähigkeit im Sinne der Durchsetzung päpstlicher Positionen, sondern um einen Schachzug die seit dem Ersten Vaticanum exponierte Lage des Papstes von der Unfehlbarkeit der Entscheidung in eine Unangreifbarkeit der Moderation zu überführen, nicht nur für die Kirche, sondern als Kaplan der Weltöffentlichkeit.
4. Fazit Unter den Bedingungen der Papstkirche wie unter denen einer medialen Öffentlichkeit gilt das irgendwie auch christologisch klingende, aber theologisch nicht ganz einfach auf den Stellvertreter Christi übertragbare Bon29
Die Ausnahme bildet ein per E-Mail geführtes Interview: Archbishop Carlo Maria Viganò gives his first extended interview since calling on the pope to resign, in: The Washington Post vom 2. Mai 2019 (https://www.washingtonpost.com/world/ europe/archbishop-carlo-maria-vigano-gives-his-first-extended-interview-sincecalling-on-the-pope-to-resign/2019/06/10/00205748-8b79-11e9-b08e-cfd89bd36d4 e_story.html?utm_term=.60c00e5f916d), [Zugriff: 13. Juli 2019].
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mot des katholischen Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan: The medium is the message! Überträgt man McLuhan doch weiter, wäre damit aber kein papalistischer Selbstzweck verbunden, sondern die Hoffnung, das Medium würde die Welt in ein global village der Kommunikation verwandeln. 30 Ganz abträglich kann es päpstlicher Handlungsfähigkeit, wie weit oder eng auch immer verstanden, nicht sein, wenn im globalen Dorf das Papsttum Thema und Moderator zugleich ist. Die ultramontane Selbstinszenierung des Ersten Vatikanischen Konzils könnte sich als ultramodern erweisen.
30
Vgl. Marshall McLuhan, The Medium is the Message, in: Ders. (Hg.), Understanding Media, London 1994, 7–21; vgl. Marshall McLuhan, Bruce R. Powers, The global village. Transformations in world life and media in the 21st century, New York 1992.
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Das Konzil als ökumenische Herausforderung
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Das Papstamt aus evangelischer Sicht Ökumenische Herausforderungen des Ersten Vaticanums „Er sagte […] auch: ‚Des Teufels Saw, der Bapst‘ und war allerwegen ein unleidlicher Grobian, wiewohl ein großer Mann.“ 1 Zu ihrer Zeit verfassten die Reformatoren zahlreiche Schriften wider das Papsttum zu Rom. Denn sie sahen die Freiheit des Evangeliums gefährdet und traten für ein allgemeines Priestertum ein. Heutzutage wird im ökumenischen Gespräch gerne darauf hingewiesen, dass doch wohl viele der Vorwürfe, die die Reformatoren damals gegenüber der römisch-katholischen Kirche erhoben, heutzutage keine Geltung mehr besäßen und eine Annäherung zwischen den beiden Konfessionen zügig voranschreiten könne. 1870 allerdings und damit über 300 Jahre nach Martin Luthers ersten antirömischen Verlautbarungen wurde auf dem Ersten Vatikanischen Konzil in der Dogmatischen Konstitution Pastor aeternus eine herausragende Stellung des Papstes festgehalten. Welche Bedeutung dem Papstamt zugesprochen wurde, wird im Folgenden, und zwar im Vergleich mit dem protestantischen Amtsverständnis herausgestellt. Dabei wird deutlich werden, dass Aussagen über Macht und Stellung des Papstes, wie sie im Ersten Vaticanum ausgesagt sind, ausdrücklich bis heute in Geltung stehen und verbindlich machen, was im Jahrhundert der Reformation noch nicht in solcher Deutlichkeit als Wahrheit erklärt worden war. Da folglich erst lange nach der Reformationszeit eine explizite Verschärfung von konfessionellen Differenzen eingetreten ist, die bis heute bestehen, ist der ökumenische Austausch vor eine gewisse Herausforde1
Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Frankfurt a. M. 1997, 122.
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rung gestellt. Um das ökumenische Gespräch redlich führen zu können, ist es nötig, die Unterschiede im Amtsverständnis klar vor Augen zu haben. Hierzu mögen die vorliegenden Ausführungen dienlich sein. Um das evangelische Amtsverständnis näher darzulegen, werden maßgebliche Texte der protestantischen Tradition zitiert. Zunächst wird die Amtsaufgabe fokussiert (1). Anschließend wird von der Amtsperson gehandelt (2). Drittens ist der Maßstab im Blick, an dem die Amtsperson die Erfüllung ihrer Amtsaufgabe auszurichten hat (3). Im vierten Abschnitt werden Texte der römisch-katholischen Tradition, insbesondere des Ersten Vaticanums herangezogen (4). Ein kurzer Vergleich, der zu weiterem ökumenischem Austausch anregen möge, beschließt die Ausführungen (5).
1. Das kirchliche Amt nach protestantischem Verständnis Die Verkündigung des Evangeliums als die Frohbotschaft von der Erlösung allein durch Gott wird in der protestantischen Tradition als die eigentliche priesteramtliche Aufgabe angesehen. Weil es von uneinholbarer Heilsrelevanz ist, gilt es, das Christusereignis mit Predigt und Sakramenten zu verkündigen, damit niemandem Gottes Heilswille verborgen bleibe. Dass auf sprachlich verfasste Weise und in der Feier der Sakramente Gottes Heilszuwendung in rechter Weise kommuniziert wird, das zeichnet nach protestantischem Verständnis Kirche aus. 2 Entscheidend für die angemessene Predigt des Evangeliums und die rechte Verwaltung der Sakramente ist grundsätzlich zweierlei: Zum einen
2
Vgl. Confessio Augustana, Artikel VII, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, herausgegeben von Irene Dingel, Göttingen 2014, 84– 223, hier: 102 f. Auch die reformierte Tradition, für die Calvin vier Ämter unterscheidet, beschreibt die Aufgabe der Verkündigung als die für die kirchliche Gemeinschaft maßgebliche, vgl. Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis, nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, 572 (Institutio IV,1,10); zu den Ämtern vgl. ebd. 589–598 (IV, 3).
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sind Predigt und Sakramentsverwaltung Instrumente, die dazu dienen, den Glauben an Gottes unverfügbares Heilswirken zu wecken und zu stärken. 3 Zum anderen ist der Sachgehalt des Evangeliums, der durch Predigt und Sakramente vermittelt wird, die Vergebung der Sünde durch Gott in Christus. Unter Sünde aber ist dies zu verstehen, dass einem Menschen die Verfasstheit seiner selbst als eines erlösungsbedürftigen Geschöpfes (noch) nicht gewahr ist und er also nicht in vertrauensvoller Bezogenheit auf den in Christus geoffenbarten Schöpfer lebt. Wird der sündige Mensch zum Vertrauen auf den Menschgewordenen erlöst, lebt er im Glauben an den allmächtigen Schöpfer in Freiheit von jeglichen Versuchen, sich selbst Daseinssinn verschaffen und mit bestimmten Werken das eigene Dasein rechtfertigen zu wollen. Insbesondere bei der Feier des Abendmahls wird nach Luther die Heilszuwendung Gottes erlebbar. Hierbei empfingen die Kirchenglieder die durch Gottes Selbsthingabe gewährte Sündenvergebung im Glauben. In der missa werde gefeiert, dass Gott seine Geschöpfe durch die Vergebung der Sünde reich beschenke, und zwar „ex mera gratuitaque charitate“. 4 Dementsprechend lehnt Luther das römisch-katholische Verständnis der Eucharistiefeier, wie er es zu seiner Zeit vorfindet, ab. Hierbei nämlich stellten sich die Priester vor, sie brächten Christus Gott dem Vater dar, „tanquam hostiam sufficientissimam, et bonum opus facere omnibus quibus proponunt prodesse“. 5 Die Annahme, Priester hätten die Macht zum Heil der Kirche, den menschgewordenen Gott zu opfern, scheint diese menschliche Macht zu überschätzen. Es ist doch allein Gottes Macht, die, über alle menschlichen Opfer erhaben, das Heil der Geschöpfe zu wirken vermag. Überhaupt minderte es die Heilsrelevanz der einmaligen Selbsthingabe Gottes in Christus, sollte durch priesterliche Gottesopfer ebenfalls Erlösung erwirkt werden können. Und es widerspricht der Liebe Gottes, dass die einzig und allein durch Kreuzestod
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Vgl. Confessio Augustana, Artikel V, in: Die Bekenntnisschriften der EvangelischLutherischen Kirche, herausgegeben von Irene Dingel, Göttingen 2014, 84–223, hier: 100. Vgl. auch Martin Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 6, Weimar 1908, 497–573, hier: 529, Z. 36: „omnia sacramenta ad fidem alendam sunt instituta“. 4 Ebd., 515, Z. 19. 5 Ebd., 522, Z. 25 f.
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und Auferstehung Christi ein für allemal bereits vollzogene Erlösung mit menschlichen Werken verdient werden könnte. Es ist für das protestantische Amtsverständnis entscheidend, dass Sündenvergebung einzig und allein durch Gott, und zwar aufgrund seiner unverdienten und unverdienbaren Liebe gewirkt wird. Die verkündigende Rede von Gottes Erlösungshandeln und die Feier der Sakramente zur Vergebung der Sünde sind dem Menschen übergebene Mittel und Instrumente, deren sich Gott nach seinem Willen bedient. 6 Ob es geschieht, dass ein Einzelner, dem das Evangelium verkündigt wird, Gottes Heilswirken als erlösend erlebt, ist allein Gott vorbehalten; „ubi et quando visum est Deo“, wirkt Gott Glauben, indem er die Erkenntnis der Heilswahrheit gewährt. 7 Mit diesem Glauben geht auch die reuevolle Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit und die Erkenntnis der völligen Angewiesenheit auf die Vergebung des Allmächtigen einher. Damit kein Zweifel an der verheißenen Sündenvergebung bestehe, nach der sich der reuige Mensch sehne, ist es nach Luther allen einzelnen Kirchengliedern aufgetragen, denen, die Vergebung suchen, Vergebung zuzusprechen. 8 Es sollte darum auch allen „Brüdern und Schwestern“ erlaubt sein, dies Amt der Schlüssel auszuüben und die Beichte abzuneh-
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Vgl. Martin Luther, De servo arbitrio, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 18, Weimar 1908, 551–787, hier: 695, Z. 28 f.: „Sic placitum est Deo, ut non sine verbo, sed per verbum tribuat spiritum, ut nos habeat suos cooperatores“. Vgl. ebenso Calvin, Institutio, 589 f. (IV,3,1). 7 Confessio Augustana, Artikel V, 101: „Ut hanc fidem consequamur, institutum est ministerium docendi Evangelii et porrigendi sacramenta. Nam per verbum et sacramenta, tanquam per instrumenta donatur spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo, in iis, qui audiunt Evangelium, scilicet quod Deus non propter nostra merita, sed propter Christum iustificet hos, qui credunt se propter Christum in gratiam recipi.“ Vgl. auch die deutsche Übersetzung ebd., 100: „Solchen glauben zuerlangen, hat Got das predig ampt eingesatzt, Evangelium und Sacramenta geben, dadurch als durch mittel der heilig geist wirckt und die hertzen tröst und glauben gibt, wo und wenn er will, inn denen, so das Evangelium hören, welches leret, das wir durch Christus verdienst ein gnedigen Gott haben, so wir solchs gleuben.“ 8 Vgl. Luther, De captivitate, 543 f. Nach Calvin ist das Schlüsselamt vor allem den Ältesten und den Bischöfen anvertraut, vgl. Calvin, Institutio, 578 f. (IV,1,22); dies hängt mit Calvins Verständnis von Kirchenzucht zusammen, vgl. ebd. 688 f. (IV,12,1).
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men, wenn ein Mensch danach verlangt, „veniam et solatium, id est, verbum Christi, ex ore proximi“ 9 zu erhalten. Dabei ist es nicht das Urteil der Brüder und Schwestern, das über die Vergebung von Sünde entscheidet. Vielmehr kommt nach Luther um der Reue willen, mit der ein Mensch seine in seiner Sündhaftigkeit begründeten Sündentaten bekennt, diesem Menschen Vergebung zu. Denn solche Reue stelle sich erst mit dem von Gott gewirkten Glauben und der damit eröffneten Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit ein. 10 Und durch den von Gott gewirkten Glauben verdiene sich der reuevolle Mensch die Vergebung seiner Sünden. 11 Luthers Bußverständnis macht insonderheit deutlich, dass es nicht in der Macht von Menschen ist, darüber zu entscheiden, ob ein Mensch Gottes befreiender Zuwendung würdig ist oder nicht. Vielmehr wirke Gott allein, dass ein Mensch der Vergebung seiner Sünden durch das Erlösungshandeln Christi gewiss werde und glaubend darauf vertraute. 12 Durch menschliche Macht und menschliches Urteil sollte solches Gewiss9
Luther, De captivitate, 547, Z. 29 f. Vgl. hingegen die Erklärung des Konzils von Trient, Lehre über die hochheiligen Sakramente der Buße und der letzten Ölung, Kapitel 6, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta 3, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth, Paderborn 32002, 707–709: Das Konzil erklärt, „falsas esse et a veritate Evangelii penitus alienas doctrinas omnes, quae ad alios quosvis homines praeter episcopos et sacerdotes clavium ministerium perniciose extendunt“. 10 Vgl. Luther, De servo arbitrio, 675, Z. 12 f.: Der Glaube ist nach Luther „donum Dei“. 11 Vgl. Luther, De captivitate, 545, Z. 1–6: „Magna res est cor contritum, nec nisi ardentis in promissionem et comminationem divinam fidei, quae veritatem dei immobilem intuita, tremefacit, exterret et sic conterit conscientiam, rursus exaltat et solatur servatque contritam, ut veritas comminationis sit causa contritionis, veritas promissionis sit solacii, si credatur, et hac fide homo mereatur peccatorum remissionem.“ Die Furcht des Reuevollen vor Gott besteht in der Annahme, Gott gute Werke schuldig zu sein, die doch aber nicht selbsttätig erbracht werden können. – Die Buße des Reuevollen vollzieht sich nach Luther mit der Rückkehr in die Taufe: „Quare, dum a peccatis resurgimus sive poenitemus, non facimus aliud, quam quod ad baptismi virtutem et fidem, unde cecideramus, revertimur“ (ebd., 528, Z. 13–15). 12 Vgl. hierzu auch Dietrich Korsch, Die religiöse Leitidee, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 91–97, hier: 94.
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heitserleben nicht verhindert werden. Auf Seiten der römisch-katholischen Kirche herrscht nach Luther jedoch impia tyrannis. Denn es sei das Amt der Schlüssel maßgeblich dem Papst zugestanden und ihm sei damit unfassbare Macht über das Evangelium gegeben, welche er ungehindert missbrauche, indem er das Evangelium ins Gesetz verkehre und so die Kirchenglieder unterdrücke. 13 Gleich wie eine unangemessene Verbindlichkeit des päpstlichen Richterspruchs behauptet werde, werden nach Luther die Glaubens- und Sittenlehren des Papstes in unzutreffender Weise als wahr und bindend vorgegeben. Das Jesuswort „Wer euch hört, der hört mich.“ (Lk 10,16) werde mit der Absicht verwendet, die Wahrheit päpstlicher Verlautbarungen zu begründen. Durch die „discipuli Papae“ werde dieses Zitat aber völlig falsch verstanden: „Magnis enim buccis hoc inflant verbum pro suis traditionibus, cum Christus hoc dixerit Apostolis euntibus praedicare Euangelium, et ad Euangelium tantum referri debeat: ipsi ommisso Euangelio suis tantum fabulis id aptant. […] ideo et relictum est Euangelium, ut vocem Christi sonarent Pontifices: at ipsi suas voces sonant, audiri denique volunt. […] itaque nemo est obnoxius pon13
Vgl. Luther, De captivitate, 544, Z. 4 f. Vgl. dazu ebd., 536, Z. 35–38: „Alii vero multo impudentiores, ex illo Matt. xvi. Papae arrogant potestatem legum condendarum, ‚Quodcunque ligaveris &‘ cum ibi Christus de peccatis ligandis et remittendis agat, non de Ecclesia tota captivanda et legibus opprimenda“. Vgl. zudem Martin Luther, Wider das Papsttum zu Rom, Vom Teufel gestiftet, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 54, Weimar 1928, 195–299, hier: 228, Z. 31–34: „Seer leicht ists zu beweisen, das der Bapst nicht sey der Oberst und das Heubt der Christenheit, oder Herr der welt, uber Keiser, Concilia und alles, wie er leuget, lestert, flucht und tobet in seinen Drecketalen, nach dem jn der Hellische Satan treibt.“ Vgl. auch Philipp Melanchthons Zurückweisung der päpstlichen Einmischung in weltliche Rechtsangelegenheiten, in Philipp Melanchthon, De potestate et primatu papae tractatus, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, herausgegeben von Irene Dingel, Göttingen 2014, 789–837, hier: 831, Z. 5–12: „Darnach ist ein Iurisdictio in den sachen, welche nach Bepstlichem Recht in das Forum Ecclesiasticum oder Kirchengericht gehöret, wie sonderlich die Ehesachen sind, solche Iurisdiction haben die Bischoffe auch nur aus menschlicher ordnung an sich bracht, die dennoch nicht sehr alt ist, wie man ex Codice und Novellis Iustiniani sihet, das die Ehesachen dazumal gar von weltlicher Oberkeit gehandelt sind, und ist weltliche Oberkeit schüldig, die Ehesachen zu richten, besondern wo die Bischoffe unrecht richten oder nachlessig sind, wie auch die Canones zeugen.“
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tificis traditionibus, nec oportet eum audiri, nisi dum Euangelium et Christum docet, nec aliud ipse docere debet quam fidem liberrimam. Cum autem Christus dicat, ‚Qui vos audit, me audit‘, Cur non Papa quoque audit alios? non enim soli Petro dicit ‚qui te audit‘.“ 14
Gegenüber dem Papsttum der römisch-katholischen Kirche des 15. Jahrhunderts wird von evangelischer Seite der Vorwurf erhoben, dass es fälschlich davon ausgehe, eigenmächtig über das Heil der Kirche verfügen zu können, und dass in dieser Kirche dem Verkündigungsauftrag nicht nachgekommen werde. 15 Statt das Evangelium Christi zu verkünden, sei den römisch-katholischen Amtspersonen daran gelegen, sich unter Inanspruchnahme besonderer Macht und besonderer Rechte von den
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Luther, De captivitate, 536, Z. 20–31. Vgl. hierzu die deutsche Übersetzung von Renate und Reiner Preul in: Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe 3, herausgegeben von Günther Wartenberg und Michael Beyer, eingeleitet von Wilfried Härle, Leipzig 2009, 173–376, hier: 279: „Mit dicken Backen blasen sie den Spruch im Sinne ihrer Traditionen auf, wo ihn doch Christus an die Apostel gerichtet hat, die sich aufmachten, das Evangelium zu verkündigen, weswegen er auch bloß auf das Evangelium bezogen werden darf. Sie lassen aber das Evangelium weg und passen den Spruch nur ihren Fabeln an. […] Dazu wurde uns doch das Evangelium hinterlassen, damit die Päpste Christi Stimme laut werden lassen; sie aber lassen ihre eigenen Stimmen laut werden und wollen auch gehört werden. […] Deshalb ist kein Mensch des Papstes Traditionen verpflichtet und es braucht ihn auch keiner zu hören, außer im Fall, er lehrte Christus und das Evangelium. Und zu lehren hätte er nichts anderes als den allerfreiesten Glauben. Wenn aber Christus sagt: ‚Wer euch hört, der hört mich‘, warum hört dann nicht auch der Papst auf andere? Er sagt ja nicht nur zu Petrus: ‚Wer dich hört.‘“ 15 Vgl. Apologia Confessionis Augustanae XIII, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, herausgegeben von Irene Dingel, Göttingen 2014, 236–709, hier: 512–514: „Durch das Sacrament des Ordens oder Priesterschafft verstehen die widdersacher [die römisch-katholische Seite] nicht das predigampt und das ampt, die Sacrament zu reichen und auszuteilen, sondern verstehen von Priestern, die zu opffern geordent sein, Gleich als mus im neuen Testament ein pristerthumb sein, wie das Levitisch priesterthumb gewesen, da die priester fur das volck opfern und den andern vergebung der sunde erlangen. Wir aber leren, das das einige opfer Christi am creutze gnuggethan hat fur aller welt sunde und das wir nicht eins andern opfers fur die sund dörffen, Denn wir haben im neuen Testament nicht ein solch priesterthumb, wie das Levitische priesterthumb war, wie die Epistel zu den Ebreern leret.“
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„Laien“ abzuheben. 16 Dagegen hält Luther die „laeta libertas“ hoch, „qua nos omnes aequales esse quocunque iure intelligemus“. 17
2. Die Person des kirchlichen Amts nach protestantischem Verständnis In der evangelischen Tradition ist die Möglichkeit zur Übernahme des geistlichen Amtes bereits mit der Taufe gegeben. „[W]as ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey, ob wol nit einem yglichen zympt, solch ampt zu uben. Dan weyl wir alle gleich priester sein, musz sich niemant selb erfur thun und sich unterwinden, an unszer bewilligen und erwelen das zuthun, des wir alle gleychen gewalt haben, Den was gemeyne ist, mag niemandt on der gemeyne willen und befehle an sich nehmen. Und wo es geschehe, das yemandt erwelet zu solchem ampt und durch seinen miszprauch wurd abgesetzt, szo were ehr gleich wie vorhyn. Drumb solt ein priester stand nit anders sein in der Christenheit, dan als ein amptman: weil er am ampt ist, geht er vohr, wo ehr abgesetzt, ist ehr ein bawr odder burger wie die andern.“ 18
Das Sakrament der Taufe wird mit der Weihe zum Priester identifiziert. In der Formel vom „Priestertum aller Getauften“ 19 kommt dies zum Ausdruck. Nach dieser Formel eignet sämtlichen Getauften die Befähigung zur predigenden Evangeliumsverkündigung und zur Verwaltung der Sakramente. 20 Obwohl zum kirchlichen Dienst grundsätzlich alle Getauften 16
Vgl. Luther, De captivitate, 503 f. Ebd., 567, Z. 27 f. 18 Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 6, Weimar 1888, 381–469, hier: 408, Z. 11–21. 19 Vgl. die Erklärung des Konzils von Trient: Die wahre und katholische Lehre über das Sakrament des Ordo zur Verurteilung der Irrtümer unserer Zeit 4, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta 3, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth, Paderborn 32002, 742 f. Hier wird das allgemeine Priestertum der Getauften verworfen. 20 Sollte in Notsituationen keine Amtsperson vorhanden sein, ist allen Christenmenschen die Verwaltung der Sakramente bei Bedarf aufgegeben; vgl. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 407. 17
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befähigt seien, sollten doch nur einzelne Personen im Auftrag der Kirche und ihr zum Dienst, die Instrumente der Heilsvermittlung anwenden. Diese müssten gemäß der kirchlichen Ordnung berufen sein (rite vocatus). Da solche Berufung die Amts-Ausübung betrifft und nicht an die Amts-Person gebunden ist, kann eine berufene Person ihre Berufung auch wieder verlieren. 21 Da die rechte Verwaltung der Sakramente und die rechte Verkündigung des Erlösungshandelns Christi eine entsprechende theologische Ausbildung erfordern, sollte die ordentliche Berufung eine entsprechende Ausbildung voraussetzen. Bei dieser Ausbildung sollte vor allem deutlich werden, dass eine kirchliche Amtsperson, indem sie die heilsvermittelnden Instrumente, die Predigt des biblischen Zeugnisses und die Sakramente (Taufe 22 und Abendmahl), recht und richtig nutzt, Heilsvermittlung möglich sein lässt. 23 Sie ist nur das Mittel, die Instrumente zu bedienen; dieses Wissen sollte bei der Amtsausübung leitend sein. Entsprechend sind diese Amtspersonen vor anderen Kirchengliedern keineswegs durch eine Weihe, die ihrer Person eine lebenslange Andersartigkeit aufprägte, mit besonderer Christlichkeit oder Christusbezogenheit ausgezeichnet. 24 Es besteht zudem kein Anlass, den Lebensvollzug der Amtspersonen von einer auch sexuell bestimmten Paarbeziehung, die die gemeinsame Aufzucht von Kindern einschließen kann, freizuhalten. Denn dadurch wird die Verkündigung des Evangeliums mit Wort
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Vgl. Confessio Augustana XIV, 109; vgl. Luther, De captivitate, 566, Z. 26–29: „Esto itaque certus et sese agnoscat quicunque se Christianum esse cognoverit, omnes nos aequaliter esse sacerdotes, hoc est, eandem in verbo et sacramento quocunque habere potestatem, verum non licere quenquam hac ipsa uti nisi consensu communitatis aut vocatione maioris“. Vgl. auch Calvin, Institutio, 594 f. (IV,3,10). 22 Taufe und Buße gehören aufs Engste zusammen, vgl. Anm. 11. 23 Zur Kompetenz der Amtsperson vgl. Eilert Herms, Systematische Theologie. Das Wesen des Christentums: In Wahrheit und aus Gnade leben 1, § 46, 976. 24 Vgl. Luther, De captivitate, 567, Z. 22 f.; vgl. hingegen die Aussagen des Konzils von Trients: Die wahre und katholische Lehre über das Sakrament des Ordo zur Verurteilung der Irrtümer unserer Zeit 4, 742 f.: „Quoniam vero in sacramento ordinis, sicut et in baptismo et confirmatione, character imprimitur, qui nec deleri nec auferri potest: merito sancta Synodus damnat eorum sententiam, qui asserunt, Novi Testamenti sacerdotes temporariam tantummodo potestatem habere, et semel rite ordinatos iterum laicos effici posse, si verbi Dei ministerium non exerceant.“
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und Sakramenten nicht behindert. Drittens ist das biologische Geschlecht der Amtsperson für die Verkündigung des Evangeliums völlig irrelevant. Die Verkündigung des Evangeliums und also die Vergebung der Sünden ist nicht an den Chromosomensatz der verkündigenden Person gebunden. Wie Luther beiläufig bemerkt, können auch die „Schwestern“ im Glauben den Zuspruch der Sündenvergebung äußern. 25 Viertens ist entscheidend, dass keine der Amtspersonen für höherwertig als eine andere erachtet wird. 26 Vielmehr sind sämtliche Kirchenglieder gleichermaßen Glieder des Leibes Christi und keines ist Haupt des Leibes. Der Gewissheit, dass das Heil des Menschen allein in der Erlösung durch Christus begründet ist, entspricht die Überzeugung, „[d]as der Bapst nicht sey Iure divino oder aus Gottes wort das Heubt der gantzen Christenheit (Denn das gehört einem allein zu, der heisst Jhesus Christus)“ 27.
3. Die protestantische Sorge um die Wahrheit Nach protestantischem Verständnis ist die kirchliche Amtsperson nicht durch ein bestimmtes Personsein und personale Eigenheiten ausgezeichnet. Vielmehr ist sie (allerdings rite vocatus) gleich wie alle Christinnen und Christen beauftragt, die in Christus erfolgte Erlösung zu verkünden. Die Wahrheit über Gott und den Menschen, die Gott in Christus offenbarte, gilt es mitzuteilen; keinesfalls sollte sie verschwiegen werden, vor allem dann nicht, wenn sich geschöpfliche Autoritäten vor sie stellen und meinen, über sie verfügen zu können. 25
Vgl. das Zitat Luthers bei Anm. 9. Vgl. hierzu die vierte These der Barmer Theologischen Erklärung: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.“ 27 Martin Luther, Schmalkaldische Artikel, Der vierte Artikel, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, herausgegeben von Irene Dingel, Göttingen 2014, 711–785, hier: 738, Z. 30 f., 740, Z. 1. Vgl. hierzu auch Dorothea Wendebourg, Kirche, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 403–414, hier: 411. 26
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Menschliche Äußerungen über das Heilswirken des Dreieinigen gilt es stets daraufhin zu befragen, ob sie die heilswirkende Macht Gottes ausreichend ernstnehmen. Entsprechend wäre zu prüfen, ob in kirchlicher Rede und kirchlichen Vollzügen die Erlösung des Menschen als allein Christus vorbehalten zur Geltung kommt. Es sollte deutlich werden, dass der Glaube an den erlösenden Gott einem Menschen völlig unverfügbar ist und allein durch das Wirken des Heiligen Geistes zustande kommt. 28
4. Einblick in das römisch-katholische Verständnis des kirchlichen Amtes Das römisch-katholische Amtsverständnis scheint anders als das evangelische vor allem auf die Amtsperson fokussiert zu sein. So zeichnet sich
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Nach protestantischem Verständnis sind sowohl ein biblizistisches Verständnis der biblischen Schriften als auch ein blinder Gehorsam gegenüber kirchlichen Beschlüssen zu verneinen. Gegenüber Erasmus hält Luther deshalb fest: „[U]bicunque per divinarum scripturarum inviolabilem auctoritatem et Ecclesiae decreta liceat, quibus tuum sensum ubique libens submittis, sive assequeris quod praescribit, sive non assequeris, Hoc ingenium tibi placet. Haec (ut par est) accipio a te benevolo animo dici, et qui pacis amans sit. Sed si alius diceret, forte meo more in eum ferrer, Verum nec pati debeo, te, licet optime volentem, ea opinione errare. Non est enim hoc Christiani pectoris, non delectari assertionibus, imo delectari assertionibus debet, aut Christianus non erit.“ (Luther, De servo arbitrio, 603, Z. 5–12) Vgl. auch die deutsche Übersetzung von Renate und Reiner Preul in: Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe 3, 227: „Du würdest überall dort, wo es die unverletzliche Autorität der Schrift und die Beschlüsse der Kirche zuließen, deine Meinung liebend gern ihnen unterwerfen, gleich, ob du die Vorschrift verstehst oder nicht. Diese Haltung gefällt dir. Wie es recht und billig ist, nehme ich an, dass du das in wohlmeinendem Sinn sagst und als einer, der den Frieden liebt. Aber wenn ein anderer so spräche, würde ich ihn wie gewohnt heftig angehen. Und wahrlich, ich darf es nicht dulden, dass du, und sei es auch in bester Absicht, in solcher Meinung irrst. Denn so ist ein Christ nicht gesinnt, dass er keinen Gefallen hat an Wahrheitsbezeugungen. Vielmehr muss er sich an Wahrheitsbezeugungen erfreuen – oder er ist kein Christ!“ – Die protestantischen Bekenntnisschriften, die als autoritär und wörtlich verbindlich missverstanden werden könnten, haben gerade darin ihren Wert, dass sie darauf hinweisen, dass der Mensch darauf angewiesen ist und bleibt, von Gott aus Sünde befreit zu werden. Das ist die leitende Einsicht beim Verstehen der Überlieferung.
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die Person des Priesters durch die Priesterweihe aus. Mit ihr werde dem Priester ein Prägemal verliehen, das geradezu die Seinsweise seiner Person zu verändern scheint, indem es sie befähigt, bei den kirchlichen Handlungen und insbesondere bei der Eucharistie nicht nur heilsvermittelnd, sondern heilswirkend tätig zu sein (vgl. LG 3. 10). Doch nicht nur der Priester ist in seiner personalen Auszeichnung den Laien enthoben und gegenübergestellt. Zudem wird in hierarchischer Ordnung zwischen unterschiedlichen Amtspersonen unterschieden. Von Gottes Gnaden, eingesetzt durch den Heiligen Geist, stünden die Bischöfe über den Priestern, und zwar an Stelle der Apostel, denen sie nachfolgten. 29 Die apostolische Sukzession scheint der Absicht verdankt zu sein, die urchristliche Gemeinschaft auf Dauer stellen zu wollen. Mit dem Interesse daran, die erste Apostelgruppe in den folgenden Jahrhunderten bis heute wie bei einem Historienspiel möglichst originalgetreu abzubilden, wird insbesondere auch die Auszeichnung der Priester und Bischöfe durch einen männlichen Chromosomensatz begründet. Es wird zudem betont, die ersten Apostel seien keinesfalls von einer urchristlichen Gemeinde delegiert worden, das Amt der Verkündigung zu übernehmen. Vielmehr seien sie mit der Sendung des inkarnierten Gotteswortes aufs Engste verbunden gewesen. Da sich nun aber das Personsein der Apostel durch diese Verbundenheit auszeichne, die in apostolischer Sukzession weitergegeben werde, und da die Apostel doch eben allesamt Männer seien, könne niemals eine Frau ein Priesteramt, geschweige denn ein Bischofsamt übernehmen. 30 29
Vgl. Erste Dogmatische Konstitution über die Kirche Pastor Aeternus 3, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta 3, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth, Paderborn 32002, 813–815. 30 Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben ‚Ordinatio Sacerdotalis‘, in: Acta Apostolicae Sedis 86 (1994), 545–548, hier: 546 f.: „Evangelia enim et Acta Apostolorum testificantur hanc vocationem factam esse secundum aeternum Dei consilium: Christus elegit quos voluit ipse (Marc. 3, 13–14; Io. 6, 70), idque fecit una cum Patre, ‚per Spiritum Sanctum‘ (Act. 1, 2), postquam pernoctaverat in oratione (Luc. 6, 12). Quapropter in admissione ad sacerdotium ministeriale (Lumen Gentium, 28; Presbyterorum Ordinis, 2), Ecclesia semper tamquam constantem normam agnovit Domini sui agendi rationem in duodecim virorum electione, quos Ipse posuit Eccle-
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So intensiv allerdings auf die biblisch berichtete Männlichkeit abgehoben wird, so wenig ist die Forderung des Zölibats an der biblischen Überlieferung orientiert; denn zumindest Petrus war (und blieb) verheiratet. 31 Dieser verheiratete Petrus, dem Paulus ins Angesicht widerstand, weil er die Wahrheit des Evangeliums verleugnete (vgl. Gal 2,11–14), wird in der dogmatischen Konstitution Pastor aeternus des Ersten Vaticanums in Spitzenposition über den übrigen Aposteln und als Vorgänger des jeweiligen Römischen Pontifex beschrieben. Doch nicht nur sei der jeweilige Römische Pontifex Nachfolger des Petrus „in primatu super universam Ecclesiam“ 32 und stelle so nicht nur die Einheit der römisch-katholischen
siae suae fundamentum (Apoc. 21, 14). Qui quidem non tantum munus acceperunt, quod deinde a quolibet Ecclesiae membro exerceri potuisset, sed iidem peculiariter et arte cum ipsius Verbi Incarnati missione sunt consociati (Matth. 10, 1. 7–8; 28, 16–20: Marc. 3, 13–16; 16, 14–15).“ Vgl. hierzu die aktuellen Diskussionen, die mit der Initiative Maria 2.0 neuen Auftrieb erhalten haben. Vgl. allerdings auch die Verweigerung der Frauenordination in evangelischen Kirchen, vor allem die Entscheidung der Synode der Lutherischen Kirche in Lettland vom Juni 2016 (https://www. evangelisch.de/inhalte/135131/04-06-2016/lutherische-kirche-lettland-schafft-frau enordination-ab-kritik-von-deutschen-lutheranern), [Zugriff: 19. Juni 2019]. 31 Vgl. Mt 8,14 f. – Schon Martin Luther äußerte sich befremdet über den Zölibat. Die Lektüre seiner Ausführungen macht unter anderem darauf aufmerksam, dass in der römisch-katholischen Kirche der Missbrauch von Kindern nicht erst im vergangenen Jahrhundert praktiziert wurde (vgl. Benedikt XVI., Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs (https://de.catholicnewsagency.com/story/diekirche-und-der-skandal-des-sexuellen-missbrauchs-von-papst-benedikt-xvi-4498), [Zugriff: 10. Juli 2019]). Luther führt aus, welche ehelichen und sexuellen Vorschriften einem Priester gemacht seien und lässt seine Ausführungen in diesen Sätzen gipfeln: „At si sexcentas meretrices polluerit, aut matronas ac virgines quaslibet constuprarit aut etiam Ganymedes multos aluerit, nihil impedimenti fuerit, vel Episcopum vel Cardinalem vel Papam eum fieri.“ (Luther, De captivitate, 565, Z. 18–23). Vgl. hierzu die deutsche Übersetzung von Renate und Reiner Preul in: Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe 3, 353.355: „Gesetzt jedoch, er hätte sechshundert Huren bestiegen, hätte gleich reihenweise ehrbare Frauen und sehr junge Mädchen geschändet oder hielte viele süße Buben aus – nein, da gibt es keinerlei Bedenken, da kann er Bischof oder Kardinal oder Papst werden!“ 32 Vgl. Pastor Aeternus 2, 813. Der Papst wird vornehmlich als „Romanus Pontifex“, nicht etwa, was die Zugehörigkeit zum Bischofskollegium ausdrückte, als „Romanus Episcopus“ bezeichnet.
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Kirche sichtbar dar. Vielmehr wird sogar die Einheit des Glaubens damit begründet, dass der Petrusnachfolger Prinzip der Kirche sei. 33 Für beides könne und solle der Pontifex qua seiner Jurisdiktionsgewalt Sorge tragen, die ihm mit den Schlüsseln des Himmelreichs (claves regnis caelorum) gegeben sei. Er verfüge über die Schlüssel, die Petrus zugesprochen worden seien, um – so Benedikt XVI. – mit ihnen das Himmelreich „für Menschen zu öffnen oder zu verschließen, so wie er [sic] es bei jedem für richtig hält.“ 34 In seinen Ausführungen zum Jurisdiktionsprimat, der seit dem Ersten Vaticanum verbindlich festgehalten ist, macht Benedikt XVI. deutlich, dass der Römische Pontifex über Erlösung und Glauben verfügte. Es liege nämlich in der Zuständigkeit des Römischen Pontifex, so wie er es für richtig halte, Sünden zu vergeben, Heil zu gewähren und als das Himmelreich aufzuschließen. 35 Auch stehe ihm in der Nachfolge Petri zu, nach seinem eigenen Urteil zu binden und zu lösen. Er könne „festlegen und verbieten […], was er für das Leben der Kirche, die die Kirche Christi ist und bleibt, als notwendig erachtet. Die Kirche ist immer die Kirche Christi und nicht die des Petrus“ 36, betont Benedikt XVI. Doch indem er eben diejenige Kirche als Kirche Christi bezeichnet, in der ein angeblicher Nachfolger Petri über das Wohl und Wehe aller Kirchenglieder entscheidet, macht er diesen Nachfolger dem menschgewordenen Gott zum Verwechseln ähnlich. Damit die Kirche tatsächlich und wahrhaft die Kirche Christi ist und bleibt, muss es nach protestantischem Verständnis ausdrücklich dem Dreieinigen überlassen sein, Erlösung zu wirken und Sünden zu vergeben, und zwar so, „wie er [sic] es bei jedem für richtig hält“. Im Blick auf die 33
Vgl. Pastor Aeternus, Vorrede, 811 f. Benedikt XVI., Generalaudienz am 7. Juni 2006 (http://w2.vatican.va/content/ benedict-xvi/de/audiences/2006/documents/hf_ben-xvi_aud_20060607.html), [Zugriff: 19. Juni 2019]. 35 Benedikt XVI. ist sich der folglich übermenschlichen Verantwortung eines Pontifex bewusst und bittet entsprechend um ein Gebet des Inhalts, „daß der Primat des Petrus, der einfachen Menschen anvertraut worden ist“, stets in seinem ursprünglichen Sinn ausgeübt werden könne „und so von den Brüdern, die noch nicht in voller Gemeinschaft mit uns stehen, immer mehr in seiner wahren Bedeutung erkannt werden kann.“ (ebd.). 36 Ebd. 34
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angebliche Befugnis und Befähigung des Papstes wird eine große Differenz zwischen den Konfessionen deutlich. Für das protestantische Selbstverständnis ist es unvorstellbar, dass ein einzelner Christenmensch ermächtigt sein könnte, den Kirchengliedern Glaubens- und Sittenlehren vorzugeben, über Kirchenglieder zu richten und diese sogar aus der Gemeinschaft auszuschließen. 37 Doch mit dem behaupteten Jurisdiktionsprimat 38 sind legislative, judikative und exekutive Gewalten in der Hand des Romanus Pontifex gebündelt und dieser ist mit größtmöglicher Macht ausgestattet. Diese Vollmacht (plena potestas) gilt als unantastbar, da sie von Christus selbst dem Pontifex übergeben sei. 39 Mit der von Christus übergebenen Vollmacht versehen, sei der Pontifex verus Christi vicarius totiusque Ecclesiae caput 40 et omnium Christianorum pater ac doctor. 41 Da er nun also anstelle des inkarnierten Gottes oder vielmehr anstelle der in Christus fleischgewordenen Wahrheit den Kirchenleib regiere, 42 muss seine leitende und lehrende Tätigkeit – das ist nur konsequent – Ausdruck der Wahrheit selbst sein. Entsprechend ist in der Dogmatischen Konstitution Pastor aeternus auch die Infallibilität der ex cathedra verlautbarten Glaubens- und Sittenlehren ausgesagt. Unfehlbar seien die Aussagen des Pontifex, wenn er sich an Christi statt als pastor und doctor äußere. Als Stellvertreter Christi habe er suprema Apostolica auctoritate inne. 43 Qua dieser Autorität verfüge er Sittengesetze und
37
Zum Richteramt (iudicium) des Pontifex’ vgl. Pastor Aeternus 2 f., 813–815; schon wer dem Jurisdiktionsprimat des Pontifex’ widerspricht, ist mit dem Anathema belegt (vgl. ebd.). Vgl. dazu auch DH 3060: Gegenüber dem Pontifex ist Gehorsam gefordert „non solum in rebus, quae ad fidem et mores, sed etiam in iis, quae ad disciplinam et regimen Ecclesiae per totum orbem diffusae pertinent, ita ut, custodita cum Romano Pontifice tam communionis quam eiusdem fidei professionis unitate, Ecclesia Christi sit unus grex sub uno summo pastore. Haec est catholicae veritatis doctrina, a qua deviare salva fide atque salute nemo potest.“ 38 Die Vorstellung eines Ehrenprimats wird ausdrücklich als unangemessen verworfen, vgl. Pastor Aeternus 1, 812. 39 Pastor Aeternus 2. 4, 813.815 f.; das Zweite Vaticanum erinnert an die Erklärungen in LG 18. 40 Eigentlich ist ja Christus das Haupt seines Leibes, vgl. LG 7. 41 Vgl. Pastor Aeternus 3, 813–815. 42 Christus selbst ist die Wahrheit, vgl. Joh 14, 6. 43 Vgl. Pastor Aeternus 4, 815 f.
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Glaubensvorgaben, die um seines charisma veritatis willen Ausdruck von Wahrheit und also unfehlbar seien. 44 Da diese Wahrheitsgabe und die Vollmacht des inkarnierten Gottes, an die Person des Pontifex gebunden sein sollen, scheint nicht leicht auszumachen zu sein, welche seiner Lehraussagen denn nicht unfehlbar sein könnten, vielmehr vom Irrtum behaftet wären. So wenig die fleischgewordene Wahrheit irren kann, so wenig dürfte – folgerichtig – derjenige, der anstelle Christi spricht, in solchen Dingen irren, die das von Gott geoffenbarte Heil betreffen, gleich wann und wie er sie äußert. 45 Diese Vermutung erhält in späteren kirchlichen Verlautbarungen Bestätigung. So wird über die Bedeutung von Enzykliken, die nicht ex cathedra verlautbart sind, kundgetan: „Neque putandum est, ea quae in Encyclicis Litteris proponuntur, assensum per se non postulare, cum in iis Pontifices supremam sui Magisterii potestatem non exerceant. Magisterio enim ordinario haec docentur, de quo illud etiam valet: ‚Qui vos audit, me audit‘“. 46 Heute ist also, was Martin Luther vor fast 500 Jahren schon kritisierte, sogar schriftlich festgehalten: Nach päpstlichem Selbstverständnis können pontifikale Glaubens- und Sittenvorgaben als Worte
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Vgl. ebd. Vgl. hierzu auch KKK 88: „Das Lehramt der Kirche setzt die von Christus erhaltene Autorität voll ein, wenn es Dogmen definiert, das heißt wenn es in einer das christliche Volk zu einer unwiderruflichen Glaubenszustimmung verpflichtenden Form Wahrheiten vorlegt, die in der göttlichen Offenbarung enthalten sind oder die mit solchen Wahrheiten in einem notwendigen Zusammenhang stehen.“ Vgl. auch KKK 2035: „Die höchste Stufe in der Teilhabe an der Autorität Christi wird durch das Charisma der Unfehlbarkeit gewährleistet. Diese reicht so weit wie das Vermächtnis der göttlichen Offenbarung [vgl. LG 25.]. Sie erstreckt sich auf alle Elemente der Lehre einschließlich der Sittenlehre, ohne welche die Heilswahrheiten des Glaubens nicht bewahrt, dargelegt und beobachtet werden können“. 46 Pius XII., Enzyklika ‚Humani Generis‘, in: Acta Apostolicae Sedis 42 (1950), 561– 578, hier: 568. Zur deutschen Übersetzung vgl. DH 3885: „Man darf auch nicht meinen, das, was in den Enzykliken vorgelegt wird, erfordere an sich keine Zustimmung, weil die Päpste in ihnen nicht die höchste Vollmacht ihres Lehramtes ausüben. Die wird nämlich vom ordentlichen Lehramt gelehrt; auch von ihm gilt jenes Wort: ‚Wer euch hört, hört mich‘“. Vgl. hierzu die Darlegungen von Michael Seewald, Reform. Dieselbe Kirche anders denken, Freiburg i. Br. 2019, 17–20. Zu Verwendung des lukanischen Zitats vgl. auch LG 20. 45
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Christi behauptet werden, wobei allerdings das befreiende Evangelium mit gesetzlichen Heilsanforderungen verwechselt zu werden scheint. 47
5. Ökumenischer Austausch Gerade an der Interpretation des Jesus-Zitates: „Wer Euch hört, der hört mich.“ scheint ein eklatanter Unterschied zwischen protestantischem und römisch-katholischem Amtsverständnis deutlich zu werden. Was Luther als evangeliumswidrig vortrug, scheint auf römisch-katholischer Seite nicht ebenso abgelehnt zu werden. Nach protestantischem Verständnis sollte die Stimme der Amtsperson stets alle Macht von sich und auf das unverfügbare Wirken des Erlösers weisen. Auf römisch-katholischer Seite hingegen wurde per Konzilsbeschluss bekräftigt, dass der Papst für sich beanspruchen dürfe, als Haupt der Kirche an Christi statt zu sprechen. Es wird davon ausgegangen, die Person des Römischen Pontifex’ spreche mit der vollen Macht Christi und verfüge also über eine Autorität, derentwegen ihre amtlichen Äußerungen Wahrheiten seien, die den Laien als heilsnotwendig zu glauben aufgegeben sind. 48 Das Verhältnis zwischen Laien und Geweihten erfährt durch die Erklärungen des Ersten Vaticanums ein erhebliches Gefälle. Und auch wenn
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Im Katechismus der Katholischen Kirche aus dem Jahr 1997 ist diese Position erneut ausgesagt, vgl. KKK 87: „Die Gläubigen rufen sich das Wort Christi an die Apostel ins Gedächtnis: ‚Wer euch hört, der hört mich‘ (Lk 10,16) [Vgl. LG 20.] und nehmen die Lehren und Weisungen, die ihnen ihre Hirten in verschiedenen Formen geben, willig an.“ Zum Heil, das nach römisch-katholischem Verständnis durch das Gesetz erlangt werde vgl. KKK 2037: „Das der Kirche anvertraute Gesetz Gottes wird den Gläubigen als Weg des Lebens und der Wahrheit gelehrt. Die Gläubigen haben das Recht […], in den heilsamen göttlichen Geboten unterwiesen zu werden, die das Urteilsvermögen läutern und mit Hilfe der Gnade die verwundete menschliche Vernunft heilen. Sie haben die Pflicht, die durch die rechtmäßige Autorität der Kirche erlassenen Anordnungen und Vorschriften zu beobachten. Selbst wenn diese disziplinärer Natur sind, erfordern sie Folgsamkeit in Liebe.“ 48 Vgl. Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius 3, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta 3, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth, Paderborn 32002, 807 f.
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dann im Zweiten Vaticanum vom „gemeinsamen Priestertum“ die Rede ist, wird doch gerade im Blick auf die Eucharistie die Distanz zwischen Priestern und Laien deutlich markiert. Obwohl sie eigentlich ein „gemeinsames Priestertum“ teilten, bestehe zwischen Priestern und Laien ein die Personen wesentlich bestimmender Unterschied, und heilswirkende Macht eigne allein geweihten Personen (vgl. LG 10). Jedes Mal, wenn die Priester angeblich opfern, „opus nostrae redemptionis exercetur“ (LG 3). Die Laien aber seien zu ihrer Erlösung auf dies Opfer angewiesen, das sie qua ihres Priestertums empfangen dürften. 49 Dem allgemeinen Priestertum der Getauften, das auf Seiten der protestantischen Kirchen vertreten wird, steht auf römisch-katholischer Seite eine Unterscheidung von zwei Priestertümern entgegen, die aufgrund einer unterschiedlichen essentia von Priestern und Laien gegeben sei. Auch wird auf protestantischer Seite im Abendmahl der Empfang der Heilszuwendung Gottes in Christus gefeiert, wobei die jeweils zuständige Amtsperson für die Ordnungsgemäßheit der Feier und die Verkündigung des göttlichen Erlösungshandelns verantwortlich ist. Dass die ein für allemal vollbrachte Erlösung durch das einmalige Sterben und Auferstehen des Menschgewordenen Gewissheit werde und den Glauben der Feiernden stärke, ist allein Gott vorbehalten. Der christliche Glaube besteht entsprechend im Vertrauen auf den Dreieinigen, der in den einzelnen Menschen Erlösungsgewissheit wirkt. Ein bloßes Fürwahrhalten von mit
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Vgl. LG 10: „Sacerdos quidem ministerialis, potestate sacra qua gaudet, populum sacerdotalem efformat ac regit, sacrificium eucharisticum in persona Christi conficit illudque nomine totius populi Deo offert; fideles vero, vi regalis sui sacerdotii, in oblationem Eucharistiae concurrunt, illudque in sacramentis suscipiendis, in oratione et gratiarum actione, testimonio vitae sanctae, abnegatione et actuosa caritate exercent.“ Vgl. die deutsche Übersetzung in DH 4126: „Der Amtspriester nämlich bildet kraft der heiligen Vollmacht, derer er sich erfreut, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht in der Person Christi das eucharistische Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes Gott dar; die Gläubigen aber wirken kraft ihres königlichen Priestertums an der Darbringung der Eucharistie mit und üben es aus im Empfang der Sakramente, im Gebet und in der Danksagung, durch das Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe.“
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pontifikaler Stimme verordneten Glaubenswahrheiten 50 ist davon zu unterscheiden. 51 Auf dem Boden ihrer einst verfassten Schriften, die der evangelischen Freiheit dienen, wie würden da wohl heute die Reformatoren die in den vergangenen Jahrhunderten per Konzilsbeschluss und qua päpstlicher Autorität verfassten Lehraussagen beurteilen? Könnten sie eine Annäherung zwischen den Konfessionen feststellen? Müssten sie nicht erneut nicht müde werden, davon zu handeln, dass die Einsicht in die unmittelbar durch Gott geoffenbarte Wahrheit „fröhliche Freiheit“ bedeutet und diese durch menschliche Autoritäten nicht verwehrt, sondern verkündigt werden sollte? 52
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Vgl. hierzu KKK 2034: „Der Papst und die Bischöfe sind ‚authentische, das heißt mit der Autorität Christi versehene Lehrer, die dem ihnen anvertrauten Volk den Glauben verkündigen, der geglaubt und auf die Sitten angewandt werden soll‘ (LG 25). Das universale ordentliche Lehramt des Papstes und der in Gemeinschaft mit ihm stehenden Bischöfe lehrt die Gläubigen die zu glaubende Wahrheit, die zu lebende Liebe und die zu erhoffende Seligkeit.“ 51 Vgl. zu den genannten Vorbehalten gegenüber der behaupteten Unfehlbarkeit des Römischen Pontifex’ auch Herms, Systematische Theologie 1, § 46, 974 f. Hier beschreibt Herms inakzeptable Implikationen im Blick auf die behauptete Unfehlbarkeit pontifikaler Lehraussagen. 52 Siehe oben unter 1. die Rede Luthers von der „laeta libertas“.
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„Wir halten fest an der alten Verfassung der Kirche“ Ein Blick auf das Erste Vatikanische Konzil und seine Folgen aus alt-katholischer Sicht
1. Eine umstrittene Lehre Die Papstdogmen des Ersten Vatikanischen Konzils waren für die Katholische Kirche zweifellos ein Wendepunkt. Die Vorstellung, dass der Bischof von Rom unter bestimmten Bedingungen unfehlbare Lehrentscheidungen treffen könne und die oberste richterliche und rechtsetzende Autorität über die gesamte Weltkirche besitze, war zwar keineswegs neu, sondern hatte sich über einen langen Zeitraum herausgebildet. Aber sie war niemals unumstritten. Während der gesamten Kirchengeschichte gab es auch starke Strömungen, die lokale Bischöfe – mitunter gegen römische Primatsansprüche – in ihrer Autorität bestärkten (wobei die Bischöfe im Altertum noch selbstverständlich von Volk und Klerus des Bistums gewählt wurden); 1 nach diesem Modell lag die entscheidende Autorität zur Beantwortung von Fragen, die über Belange der Ortskirche hinausgingen, bei Synoden und Konzilien. 2 Bis ins 19. Jahrhundert konnte der Lehr- und Rechtsprimat des Papstes diskutiert, in Frage gestellt oder sogar abgelehnt werden, ohne den Boden des katholischen Glaubens zu verlassen. Das änderte sich mit dem Ersten Vaticanum: Aus einer Lehr1
Einen konzisen historischen Überblick zur Frage der Bischofsbestellung gibt Anton Landersdorfer, Die Bestellung der Bischöfe in der Geschichte der katholischen Kirche, in: Münchener Theologische Zeitschrift 41 (1990), 271–290. 2 Hermann J. Sieben, Vom Apostelkonzil zum Ersten Vatikanum. Studien zur Geschichte der Konzilsidee, Paderborn 1996. Francis Oakley, The Conciliarist Tradition. Constitutionalism in the Catholic Church 1300–1870, Oxford 2003. Bernward Schmidt, Die Konzilien und der Papst. Von Pisa (1409) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65), Freiburg i. Br. 2013.
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meinung wurde eine verbindliche Glaubensvorschrift. In der Folge wurden jene, die dieser Position nicht beizupflichten vermochten und bis dahin gleichwohl als gute Katholiken gelten durften, aus der Kirche hinausgedrängt. 3 Noch während des Konzils hatte es dagegen deutlichen Widerstand von Bischöfen vor allem aus Frankreich und dem deutschsprachigen Raum gegeben. Bei einer Vorabstimmung über die Konstitution Pastor Aeternus am 13. Juli 1870 votierten 88 der 601 anwesenden Konzilsbischöfe mit „Nein“. Die Mehrheitsverhältnisse waren damit zwar klar; aber sollte ein Konzil nicht einem möglichst einmütig geteilten Glauben Ausdruck geben? Die Minoritätsbischöfe standen mit ihrer Haltung zudem nicht allein: Sie wurden von renommierten Theologen und Teilen der öffentlichen Meinung unterstützt. Dennoch kam es nach dem Willen der Kurie, ohne weiteren Gesprächen nennenswert Raum zu geben, schon am 18. Juli zur offiziellen Abstimmung. Dieser Zumutung entzogen sich die meisten Minoritätsbischöfe durch vorzeitige Abreise. Sie waren nicht mehr dabei, als der Papst noch am selben Tag – unter Blitz und Donner, wie es heißt, ein Gewitter soll gerade über Rom gezogen sein – die neuen Dogmen verkündete.
3
Zur Geschichte des Ersten Vatikanischen Konzils aus römisch-katholischer Sicht: Klaus Schatz, Vaticanum I 1869–70 1–3, Paderborn 1992–1994. Interessant ist auch die kenntnisreiche, freilich weithin polemische Darstellung des Alt-Katholiken Johann Friedrich, Geschichte des Vatikanischen Konzils 1–4, Bonn 1877–1887. Eine detaillierte Übersicht über die Anfangsjahre des Altkatholizismus findet man bei Angela Berlis, Frauen im Prozess der Kirchwerdung. Eine historisch-theologische Studie zur Anfangsphase des deutschen Altkatholizismus (1850–1890) (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte 6), Frankfurt a. M. 1998, 86–232. Aktuelle Einführungen zur Geschichte und Theologie der alt-katholischen Kirchen geben Adrian Suter, Altkatholische Kirchen, in: Johannes Oeldemann (Hg.), Konfessionskunde (Handbuch der Ökumene und Konfessionskunde 1), Leipzig u. a. 2015, 247–274. Günter Eßer, Die Alt-Katholischen Kirchen (Die Kirchen der Gegenwart 5), Göttingen 2016. – Zur Schreibung „altkatholisch“ bzw. „alt-katholisch“: In Deutschland hat sich seit den 1920er Jahren der Bindestrich eingebürgert; er findet hier auch von kirchlicher Seite durchgehend Verwendung. Deshalb wird auch in diesem Text die Schreibweise „alt-katholisch“ gebraucht, wenn es um die Konfessionsbezeichnung geht, in Zitaten aber die ursprüngliche Form beibehalten. „Altkatholizismus“ schreibe ich aus ästhetischen Gründen ohne Bindestrich.
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2. Protest gegen die Papstdogmen Mit Spannung erwartete man, wie sich die Bischöfe, die mit „Nein“ gestimmt hatten, verhalten würden. Dass sie wochenlang schwiegen, löste bei den Gegnern der Dogmen erste Skepsis aus. Am 25. August 1870 kamen in Nürnberg theologische Lehrer aus ganz Deutschland zusammen, um ihren Widerstand zu koordinieren; Zentren der Opposition waren die Katholisch-Theologischen Fakultäten in Bonn, Breslau und München sowie die Braunsberger Akademie. Die mit Abstand prominenteste Persönlichkeit dieser Gruppe war der Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger (1799–1890), der unter dem Pseudonym „Janus“ schon während des Konzils regelmäßig über dieses berichtet und den Gegenspielern der Dogmatisierung den Rücken zu stärken versucht hatte. Gemeinsam formulierte man die Nürnberger Erklärung, die an die Minoritätsbischöfe appellierte, ihrer Ablehnung der „neue[n], von der Kirche niemals anerkannte[n] Lehren“ 4 treu zu bleiben. Die erste öffentliche Widerrede gegen die Papstdogmen kam jedoch nicht von Geistlichen und Theologen. Bereits am 14. August trafen sich katholische Laien in Königswinter im Wirtshaus Düsseldorfer Hof und verfassten eine Stellungnahme. Als diese in der Kölnischen Zeitung vom 9. September 1870 abgedruckt wurde, trug sie die Unterschriften von 456 katholischen Bürgern aus den rheinischen Städten von Koblenz bis Köln: „In Erwägung, dass die im Vatican gehaltene Versammlung nicht mit voller Freiheit berathen und wichtige Beschlüsse nicht mit der erforderlichen Uebereinstimmung gefaßt hat, erklären die unterzeichneten Katholiken, dass sie die Decrete über die absolute Gewalt des Papstes und dessen persönliche Unfehlbarkeit als Entscheidungen eines ökumenischen Concils nicht anerkennen, vielmehr dieselben als eine mit dem überlieferten Glauben der Kirche in Widerspruch stehende Neuerung verwerfen.“ 5
Die ersten Unterzeichner gehörten mehrheitlich dem gehobenen Bürgertum an – sie waren Kaufleute, Weinhändler, Fabrikanten, Ärzte, Anwälte, Staatsbeamte, Lehrer oder Professoren. Unter letzteren waren auch nam4
Johann Friedrich von Schulte, Der Altkatholizismus. Geschichte seiner Entwicklung, inneren Gestaltung und rechtlichen Stellung in Deutschland, Aalen 2002, 2. Neudruck der Ausgabe 1887, 14. 5 Päpstliche Unfehlbarkeit. Erklärung, in: Kölnische Zeitung vom 09. 09. 1870, 1.
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hafte Gelehrte wie der Germanist Karl Simrock (1802–1876) oder der Altphilologe Franz Ritter (1803–1875). Aber etwa auch ein Gastwirt, ein Schiffer und zwei Konditoren hatten sich dem Protest angeschlossen. Ausdrücklich wurden „Gesinnungsgenossen in allen Ständen“ dazu aufgefordert, sich mit dem „Central-Comité für die Bewegung gegen die päpstliche Unfehlbarkeit“ in Verbindung zu setzen und die Erklärung zu unterschreiben. 6 In einer Kölner Gaststätte lagen zu diesem Zwecke Listen aus. Die Königswinterer Erklärung, wie sie später genannt wurde, erschien am 10. September 1879 auch als Beilage im Rheinischen Merkur sowie am 21. September, 10. Oktober und 9. Dezember 1870 erneut in der Kölnischen Zeitung mit vielen weiteren Unterschriften auch aus Städten jenseits des Rheinlands. Unter den stets angegebenen Berufsbezeichnungen treten jetzt zahlreiche Handwerke auf, auch die Bezeichnung „Tagelöhner“. Gegen Ende des Jahres hatten 1359 Personen den Protest unterzeichnet. 7 Er waren also selbstbewusste Mitglieder des Kirchenvolks 8 aus allen gesellschaftlichen Schichten, die es hier wagten, der „im Vatican gehaltene[n] Versammlung“ den Anspruch, ein Ökumenisches Konzil gewesen zu sein, offen abzusprechen. Sich hinter kirchlichen oder theologischen Autoritäten zu verstecken, hielten sie dabei nicht für nötig. Bei der Formulierung des Textes hatten zwar die Bonner Theologie-Professoren Franz Xaver Dieringer (1811–1876) und Franz Heinrich Reusch (1825– 1900) beratend mitgewirkt, 9 die Erklärung aber selbst nicht unterschrieben, und sie werden auch nicht in ihr erwähnt. Ausdrücklich vertraten die „unterzeichneten Katholiken“ ihre Weigerung, die Papst-Dekrete zu ak6
Ebd. Hervorhebung im Original. Die Zahl übernehme ich von Schulte, Der Altkatholizismus, 14. Schulte erwähnt einige der bei den Unterzeichnern vertretenen „höheren“, aber keinen einzigen der vor allem in den späteren Unterschriftenlisten ebenfalls stark präsenten „einfachen“ Berufe. So haben auch Alt-Katholiken am Mythos der „Professorenkirche“ mitgeschrieben! 8 Zwei Geistliche und Theologen tauchen in der ersten Liste vom 9. September 1870 auf: Franz Peter Knoodt (1811–1889), Priester und seit 1845 Professor für Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn (er unterzeichnete als „Dr. Knoodt, ord. Prof. der Philosophie“) sowie ein Garnisonspfarrer Dr. theol. Lauer aus Koblenz. 9 Schulte, Altkatholizismus, 106. 7
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zeptieren, aus eigener Einsicht und eigenem Gewissen. Sie führten dafür zum einen den formalen Grund ins Feld, dass auf die in Rom zusammengekommenen Bischöfe Druck ausgeübt worden und keine Einmütigkeit erreicht worden sei, zum anderen den inhaltlichen Grund, dass Unfehlbarkeit und Universaljurisdiktion des Papstes der katholischen Tradition widersprächen. Um ihrem Standpunkt Geltung zu verschaffen, bedienten sich die Protestierenden der Medien und Vergesellschaftungsformen einer entstehenden demokratischen Öffentlichkeit: Zeitungspublikationen, Unterschriftenlisten, bürgerliche Selbstorganisation. Initiator der Erklärung war der Koblenzer Gymnasiallehrer und Publizist Theodor Stumpf (1831–1873). Der liberale Katholik, der seine kirchlichen Reformideen in einer gründlichen Beschäftigung mit Nikolaus von Kues (1401–1464) entwickelt und geschärft hatte, 10 war schon 1869 als federführender Autor der Koblenzer Laienadresse hervorgetreten. Gerichtet war sie an den Trierer Bischof Matthias Eberhard (1815–1876), gelangte freilich auch an die Presse. Sie brachte nicht nur Vorbehalte gegen den sich bereits abzeichnenden päpstlichen Unfehlbarkeitsanspruch vor, sondern bat den Bischof auch, sich in Rom für regelmäßige Synoden und Mitbestimmungsrechte der Laien einzusetzen. Stumpf und seine Mitstreiter beriefen sich dabei auf einen Hirtenbrief Eberhards vom 17. Januar 1869, in dem dieser auch Laien dazu aufforderte, mit ihrem Rat und ihrem Wissen auf das Konzil Einfluss zu nehmen. Als Eberhard die Koblenzer Laienadresse zu Gesicht bekam, vermerkte er dazu in seinem Tagebuch: „Die angezogenen Stellen meines Hirtenbriefs konnten nicht veranlassen, dass Laien sich mit ihrem Rathe aufwiegeln – in Eclat machenden Adressen“. 11 Eine derart selbständige und freimütige Beteiligung hatte Eberhard nicht im Sinn gehabt! Dabei kleidete die Koblenzer Laienadresse ihre Forderungen noch in die Form hochachtungsvoller Bit-
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Theodor Stumpf, Die politischen Ideen des Nicolaus von Cues. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformbestrebungen im fünfzehnten Jahrhundert, Köln 1865. Dazu Joachim Vobbe, Theodor Stumpf aus Koblenz: ein Cusanus-Verehrer an der Wiege der alt-katholischen Synodal- und Gemeindeordnung, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 93 (2003), 65–82. 11 Zitiert nach Klaus Schatz, Kirchenbild und päpstliche Unfehlbarkeit bei den deutschsprachigen Minoritätsbischöfen auf dem 1. Vaticanum (Miscellanae Historiae Pontificiae 40), Rom 1975, 125.
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ten an den Bischof. Die markanten Sätze der Königswinterer Erklärung hingegen verzichten darauf, die Oberhirten explizit anzusprechen: Die Möglichkeit, dass man gezwungen sein könnte, ihnen die Gefolgschaft aufzukündigen, stand schon am Horizont. Tatsächlich sahen sich die Unterzeichner von den Bischöfen bald enttäuscht. Vom 31. August bis 1. September 1870 tagte die Bischofskonferenz in Fulda und einigte sich auf einen Hirtenbrief, der eine moderate Interpretation des Unfehlbarkeitsdogmas mit der Anerkennung des Konzils verband; zugleich wurde angekündigt, gegen oppositionelle Gläubige – insbesondere aber gegen Priester und Lehrer – mit der möglichen Milde und nach vorgängiger Belehrung, aber doch auch unter Ausschöpfung der Mittel des kanonischen Rechtes vorzugehen. 12 Am 10. April 1871 akzeptierte Karl Joseph von Hefele (1809–1893) aus Rottenburg-Stuttgart als letzter deutscher Minoritätsbischof die Dogmen. Die „Altkatholiken“, die das Konzil und seine „Neuerungen“ weiterhin ablehnten, gerieten in Zugzwang. Am 17. April 1871 wurde Döllinger exkommuniziert. Großes Aufsehen erregte auch wenig später der Fall des Münchener Rechtsprofessors und Gegners der Papstdogmen Franz Xaver Zenger (1798–1871), dem auf dem Sterbebett die Sakramente verweigert wurden. 13 An Pfingsten (28.–30. Mai) 1871 trafen sich auf Einladung Döllingers führende Konzilsgegner in München. Neben einer gemeinsamen Deklaration, der Münchener Pfingsterklärung, verständigte man sich auf die Einberufung von Delegierten der verschiedenen oppositionellen Komitees und Vereine zu einem Katholikenkongress. Er fand vom 22. bis 24. September in München statt und darf als Geburtsstunde des Altkatholizismus gelten.
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Das Vorgehen erfolgte in den verschiedenen Diözesen mit unterschiedlicher Konsequenz, vgl. Schatz, Vatikanum I 3. Unfehlbarkeitsdiskussion und Rezeption, 231 ff. 13 Auf Wunsch der Familie empfing Zenger dann von Johann Friedrich (1836– 1971) – Priester, Professor für Kirchengeschichte an der Münchener Universität und wegen Ablehnung der Papstdogmen ebenfalls exkommuniziert – die Sakramente und wurde von ihm auch bestattet. Dazu Ewald Keßler, Johann Friedrich (1836– 1917). Ein Beitrag zur Geschichte des Altkatholizismus (Miscellanea Bavarica Monacensia 55), München 1975, 339–342.
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3. Kirchwerdung Nur wenn man sieht, dass der Altkatholizismus vornehmlich eine Laienbewegung war – in der übrigens auch Frauen eine tragende Rolle spielten 14 –, werden die weiteren Entwicklungen verständlich. Schon beim Münchener Kongress erhob sich der Wunsch nach Einrichtung einer eigenen regelmäßigen Seelsorge. Döllinger trat dem vehement entgegen. Er blieb entschiedener Gegner der Papstdogmen, wollte zugleich aber eine Kirchenspaltung vermeiden. Dafür hatte er gute theologische Gründe, ging damit aber an den Problemen der Laien vorbei: Insgesamt hatten sich nur relativ wenige Geistliche der alt-katholischen Bewegung angeschlossen; alt-katholische Laien standen deshalb vielerorts vor der bedrängenden und unaufschiebbaren Frage, wo sie Gottesdienst feiern konnten, wer ihre Kinder taufen, ihre Paare trauen, ihre Sterbenden begleiten und die Toten bestatten würde. 15 So war es eigentlich wenig überraschend, dass in München trotz Döllingers Einrede die Organisation einer regelmäßigen Seelsorge beschlossen wurde. Da auf längere Sicht dem pastoralen Notstand nur durch Wahl und Weihe eines eigenen Bischofs abzuhelfen war, entschied der Kölner Altkatholikenkongress im September des folgenden Jahres auch in diesem Sinne. Die Wahl fiel im Juni 1873 auf den Breslauer Kirchengeschichtler Joseph Hubert Reinkens (1821–1896); 16 die Weihe empfing er im August von einem Bischof der Kirche von Utrecht, die schon seit 1723 nicht mehr in Gemeinschaft mit dem Papst stand. Im September 1873 billigte der Konstanzer Altkatholikenkongress eine von Friedrich von Schulte (1827–1914) 17 erarbeitete „Synodal- und Gemein14
Berlis, Frauen; siehe auch Dies., Einbruch in männliche Sphären? Der Aufbruch alt-katholischer Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Michaela Sohn-Kronthaler (Hg.), Feminisierung oder (Re-)Maskulinisierung der Religion im 19. und 20. Jahrhundert? Forschungsbeiträge aus Christentum, Judentum und Islam, Wien 2016, 179–198. 15 Schulte, Altkatholizismus, 346. 16 Angela Berlis, Renewal of Religious Leadership According to an Ancient Model. Bishop Joseph Hubert Reinkens and Bishop Martin of Tours, in: Jan Wim Buisman u. a. (Hg.), Episcopacy, Authority, and Gender. Aspects of Religious Leadership in Europe, 1100–2000 (Brill’s Series in Church History and Religious Culture 71), Leiden u. a. 2015, 59–81, mit weiteren Literaturhinweisen. 17 Zu Friedrich von Schulte siehe Stefan Ruppert, Kirchenrecht und Kulturkampf.
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deordnung“, die bischöfliche Elemente mit starken synodalen Mitbestimmungsrechten der Laien verband. Auf Grundlage dieser Ordnung konstituierten sich die Geistlichen und gewählten Laiendeligierten der alt-katholischen Gemeinden am 29. Mai 1874 als erste Synode des „Katholischen Bistums der Altkatholiken des Deutschen Reiches“. Döllinger konnte sich mit dieser Entwicklung nur widerstrebend abfinden. Seine Entfremdung wuchs, nachdem die Synode 1878, übrigens dank ihrer Laien-Mehrheit, den Pflichtzölibat für Geistliche abgeschafft hatte und die alt-katholische Kirche damit erkennbar eine eigenständige Entwicklung zu nehmen begann. Noch deutlicher wurde dies, als 1888 ein von Adolf Thürlings (1844–1915) 18 gestaltetes deutsches Altarbuch eingeführt wurde. Döllinger wollte hingegen, dass man für eine erhoffte Heilung des mit dem Konzil einhergegangenen Bruches möglichst wenige neue Hindernisse schaffe. So sehr seine Klarheit und Standfestigkeit beeindrucken, 19 so wenig konnte sein zuweilen einsamer Weg im Altkatholizismus mehrheitsfähig sein: Nach Durchsetzung der Papstdogmen war die Entstehung einer sich auch eigendynamisch fortentwickelnden altkatholischen Kirche unvermeidlich geworden. Historische Legitimation, politische Mitwirkung und wissenschaftliche Begleitung durch die Schule Emil Ludwig Richters (Jus Ecclesiasticum 70), Göttingen 2002, 215–255. 18 Sigisbert Kraft, Adolf Thürlings – ein Wegbereiter der Liturgiewissenschaft und der Erneuerung des Gemeindegottesdienstes, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 75 (1985), 193–236. 19 Zu Döllingers Biographie und theologischer Entwicklung: Johann Friedrich, Ignaz von Döllinger. Sein Leben auf Grund seines schriftlichen Nachlasses 1–3, München 1899–1901. Peter Neuner, Döllinger als Theologe der Ökumene (Beiträge zur ökumenischen Theologie 19), Paderborn 1979. Franz Xaver Bischof, Theologie und Geschichte. Ignaz von Döllinger (1799–1890) in der zweiten Hälfte seines Lebens. Ein Beitrag zu seiner Biographie (Münchener kirchenhistorische Studien 9), Stuttgart 1997. Thomas A. Howard, The Pope and the Professor. Pius IX, Ignaz von Döllinger, and the Quandary of the Modern Age, Oxford 2017. Kirchengeschichtsschreibung aus römisch-katholischer Perspektive neigt dazu, Döllingers innere Distanz gegenüber der alt-katholischen Kirche deutlich hervorzuheben. Eine alt-katholische Gegenperspektive hierzu findet man bei Christian Oeyen, Döllinger als Altkatholik. Eine Bestandsaufnahme, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 80 (1990), 67–105. Döllinger empfing vor seinem Tod von einem alt-katholischen Geistlichen die Sterbesakramente und wurde alt-katholisch bestattet.
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In der Schweiz und in Österreich gab es ähnliche Bewegungen wie in Deutschland. In der Schweiz wählte man 1875 Eduard Herzog (1841– 1924) zum Bischof, der 1876 durch Reinkens konsekriert wurde; in Österreich durften die Alt-Katholiken erst nach Gründung der Republik einen eigenen Bischof bekommen. Die alt-katholischen Kirchen der genannten Länder schlossen sich mit der Kirche von Utrecht 1889 zur Utrechter Union zusammen. Später kamen osteuropäische Kirchen hinzu: die Altkatholische Kirche in Tschechien (seit 1922) und die Polnisch-Katholische Kirche (seit 1951, auf Gemeindegründungen der nordamerikanischen Polish National Catholic Church im Heimatland zurückgehend, die 1907–2003 zur Utrechter Union gehörte). Quantitativ war der Altkatholizismus sicherlich nie eine sehr bedeutende Größe. Heute zählen alle Kirchen der Utrechter Union zusammen etwa 60.000 Mitglieder, in Deutschland sind es knapp 16.000. Die Gemeinden sind aber durchaus lebendig. In den alt-katholischen Kirchen Deutschlands, der Niederlande, Österreichs und der Schweiz wurden in jüngerer Zeit Reformanliegen wie die Frauenordination (ab 1996, zuerst in Deutschland) und die offizielle Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften bzw. Ehen umgesetzt (ab 2007, zuerst in den Niederlanden). Darüber hinaus sind die alt-katholischen Kirchen ökumenisch gut vernetzt: Seit 1931 stehen sie mit der Anglikanischen Kirche in voller Kirchengemeinschaft; 1987 wurde ein alt-katholisch–orthodoxer Dialog abgeschlossen, der einen umfassenden Lehrkonsens feststellt; seit 1985 besteht ein Abkommen zwischen der deutschen alt-katholischen Kirche und der EKD über eucharistische Gastfreundschaft, 2016 wurden auch Konfirmation und Firmung wechselseitig anerkannt; ebenfalls in diesem Jahr erklärten die Kirchen der Utrechter Union und die Lutherische Kirche von Schweden volle Kirchengemeinschaft.
4. Theologische Positionen Trotz aller Konflikte und Trennungen wurde der Widerstand gegen die Papstdogmen von alt-katholischer Seite niemals als Ablehnung des päpstlichen Primats als solchen verstanden. Das Münchener Programm, mit dem zum ersten Kongress der Alt-Katholiken 1871 aufgerufen wurde, formuliert dazu:
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„Wir halten fest an der alten Verfassung der Kirche. Wir verwerfen jeden Versuch, die Bischöfe aus der unmittelbaren und selbständigen Leitung der Einzelkirchen zu verdrängen. […] Wir bekennen uns zu dem Primate des römischen Bischofes, wie er auf Grund der Schrift von den Vätern und Konzilien der alten ungeteilten christlichen Kirche anerkannt war.“ 20
Gemeint ist, wie die Utrechter Erklärung von 1889 präzisiert, ein Primat des Papstes als „primus inter pares“. 21 Was das Münchener Programm über die „Einzelkirchen“ sagt, wird im Statut der Utrechter Union aus dem Jahr 2001 im Sinne einer eucharistischen Ortskirchen-Ekklesiologie ausgeführt, die einerseits die volle Katholizität der Ortskirche unterstreicht, zugleich aber die Gemeinschaft mit anderen Ortskirchen als Ausdruck ebendieser Katholizität betrachtet. 22 Von bleibender Bedeutung ist auch, wie das Münchener Programm die Berufung auf die „alte Kirche“ mit Reformanliegen verknüpft: „Wir erstreben unter Mitwirkung der theologischen und kanonistischen Wissenschaft eine Reform der Kirche, welche im Geiste der alten Kirche die heutigen Gebrechen und Missbräuche heben und insbesondere die berechtigten Wünsche des katholischen Volks auf verfassungsmäßig geregelte Teilnahme an den kirchlichen Angelegenheiten erfüllen werde […].“ 23
So verbindet sich im Altkatholizismus von Beginn an eine „konservative“ Ablehnung der Papstdogmen mit einem „reformerischen“ Erneuerungswillen, und zwar beides unter Berufung auf die „alte Kirche“ beziehungsweise ihren „Geist“ – eine durchaus produktive Spannung, welche die altkatholischen Kirchen auch in ihren jüngeren Debatten um die Frauenordination und die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften begleitet hat. Zentral für das alt-katholische Selbstverständnis ist zudem, dass man den Anspruch auf Katholizität als ökumenische Selbstverpflichtung begreift. Das Münchener Programm schreibt dazu: „Wir hoffen auf eine Wiedervereinigung mit der griechisch-orientalischen und der russischen Kirche, deren Trennung ohne zwingende Ursache erfolgt 20
Münchener Programm, Nr. II. Der Text ist abgedruckt in Eßer, Alt-Katholische Kirchen, 117–120. 21 Utrechter Erklärung, Nr. 2. Der Text findet sich ebd., 123–125. 22 Siehe dazu die Präambel des Statuts der Utrechter Union (2001), abgedruckt ebd., 127–131. 23 Münchener Programm, Nr. III.
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und in keinen unausgleichbaren dogmatischen Unterschieden begründet ist. Wir erwarten […] eine Verständigung mit den protestantischen und den bischöflichen Kirchen.“ 24
In Verfolgung dieses ökumenischen Ziels wurden 1874 und 1875 unter Döllingers Leitung die Bonner Unionskonferenzen einberufen, 25 die Theologen aus verschiedenen Konfessionen zusammenbrachten, um Möglichkeiten einer Wiedervereinigung der Kirchen auszuloten. Ein kurzfristiger Erfolg blieb den Unionskonferenzen zwar versagt; sie bildeten aber für das Übereinkommen mit den Anglikanern 1931 und für die Aufnahme der Gespräche mit der Orthodoxie in den 1970er und 1980er Jahren eine erste wichtige Grundlage. Das Statut der Utrechter Union verpflichtet ihre Kirchen auch zukünftig darauf, „in Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes und in Treue zur gemeinsamen Tradition zu klären, ob bestehende Trennungen weiterhin als unumgänglich zu verantworten sind“. 26
5. Heutige Beziehungen zwischen alt-katholischer und römisch-katholischer Kirche Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Erste Vaticanum ausdrücklich bestätigt, ihm zugleich aber wesentliche Aussagen über die Kollegialität der Bischöfe, den Stellenwert der Ortskirchen und die Würde des Gottesvolks zur Seite gestellt. Fragt man aus gegenwärtiger alt-katholischer Perspektive nach der langfristigen Bedeutung des Unfehlbarkeits- und des Universaljurisdiktionsdogmas, so stellt sich Letzteres wohl als das folgenreichere dar. Mit dem römisch-katholischen Kirchenrecht (Codex Iuris Canonici) von 1917 wurde ein klar hierarchisches Kirchenbild umgesetzt. Obwohl das neue Kirchenrecht von 1983 wichtige Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils aufnimmt, hat es doch jene hierarchische Struktur – jedenfalls mit alt-katholischen Augen betrachtet – im Kern nicht kor24
Ebd. Heinrich Reusch, Bericht über die 1874 und 1875 zu Bonn gehaltenen UnionsConferenzen. Neudruck der Ausgabe in zwei Bänden von 1874 und 1875. Mit einer Einführung von Günter Eßer, Bonn 2002. 26 Präambel des Statuts der Utrechter Union, Nr. 3.2. 25
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rigiert. 27 Die Tragweite des Unfehlbarkeitsdogmas hingegen hat sich als geringer erwiesen, als nach 1870 von manchen erhofft, von anderen befürchtet wurde. Die moderate Interpretation der Fuldaer Bischofskonferenz, welche die Bindung des Papstes an Glaube und Tradition der Kirche betont, – von Alt-Katholiken damals als Verharmlosung gebrandmarkt – ist in römisch-katholischer Theologie breiter Konsens. Bislang wurden überhaupt nur zwei Dogmen „ex cathedra“ verkündet: die unbefleckte Empfängnis (schon 1854, sozusagen im Vorgriff auf 1870) und Marias leibliche Aufnahme in den Himmel (1950). Andererseits erscheinen aus alt-katholischer Sicht auch indirekte Auswirkungen des Unfehlbarkeitsdogmas als durchaus problematisch. Einige Beobachter sprechen davon, dass die päpstliche Unfehlbarkeit auf sogenannte „definitive“ Entscheidungen des „ordentlichen“ römisch-katholischen Lehramts gleichsam „abfärbe“, 28 mit denen zwar nicht die „außerordentliche“ Autorität einer „ex cathedra“-Definition, aber doch ein sehr hoher Grad an Verbindlichkeit und Irreversibilität beansprucht wird. Der römisch-katholische Weltkatechismus (1997) scheint auch solche „definitiven“ Entscheidungen in den Begriff des „Dogmas“ einzubeziehen. 29 Ein kontrovers diskutiertes Beispiel ist das Apostolische Schreiben Ordinatio Sacerdotalis Johannes Pauls II. (1996), worin dieser „kraft seines Amtes“ und mit Blick auf „die göttliche Verfassung der Kirche“ die Priesterweihe für Frauen ausschließt. Erfreulich ist, dass heute auch solche kritischen (Außen-)Wahrnehmungen im Geist der Geschwisterlichkeit und des beiderseitigen Wohl27
Vgl. zur kritischen inner–römisch-katholischen Diskussion Sabine Demel, Ludger Müller (Hg.), Krönung oder Entwertung des Konzils? Das Verfassungsrecht der katholischen Kirche im Spiegel der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils (Festschrift für Peter Krämer), Trier 2007. Dominicus M. Meyer u a. (Hg.), Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute (Festschrift für Klaus Lüdicke, BzMK 55), Essen 2008. 28 Peter Hünermann, Die Herausbildung der Lehre von den definitiv zu haltenden Wahrheiten seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Cristianesimo nella storia 21 (2000), 71–101. 29 KKK (1997), Nr. 88. Vgl. dazu Norbert Lüdecke, Also doch ein Dogma? Fragen zum Verbindlichkeitsanspruch der Lehre über die Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen aus kanonistischer Perspektive. Eine Nachlese, in: Wolfgang Bock, Wolfgang Lienemann (Hg.), Frauenordination, Heidelberg 2000, 41–119, hier: 116 f.
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wollens geäußert werden können. Die Zeiten, in denen das Verhältnis zwischen römisch-katholischer und alt-katholischer Kirche durch gegenseitige Verurteilungen bestimmt war, sind vorüber. Im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils – zu dem auch alt-katholische Beobachter eingeladen waren 30 – kam es zu intensiven ökumenischen Gesprächen, in denen über Jahrzehnte Vertrauen und beiderseitiges Verständnis wachsen konnten. 31 1968 formulierten Mitglieder verschiedener nationaler Dialoggruppen die Zürcher Nota, die – gestützt auf Konzilsaussagen zu den orientalischen Kirchen – eine begrenzte Sakramentsgemeinschaft vorschlug. Der Text wurde von Rom allerdings nicht approbiert. 1999 schlossen die deutsche alt-katholische Kirche und die römisch-katholische Bischofskonferenz eine Vereinbarung zur Übernahme von Geistlichen der einen Kirche in den Dienst der jeweils anderen. Einen neuen Anstoß erhielt der Dialog durch eine Begegnung zwischen dem Erzbischof von Utrecht Jan Glazemaker (1931–2018) und dem Präsidenten des Päpstlichen Einheitsrates Walter Kasper (geb. 1933) bei den ökumenischen Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr 2000. Auf Kaspers Initiative wurde 2003 die Internationale Römisch-Katholisch–Alt-Katholische Dialogkommission (IRAD) ins Leben gerufen, die 2009 einen ersten und 2016 einen zweiten Bericht vorlegen konnte. 32 In der Präambel des ersten Berichtes (2009) erkennen beide Seiten an, dass „die im Gefolge des I. Vatikanischen Konzils eingetretene – im Fall der Kirche von Utrecht vertiefte – Entfremdung und Trennung zwischen Römisch-Katholiken und Altkatholiken ein innerkatholisches Problem“
30
Siehe dazu Anne Hensmann-Eßer (Hg.), ‚Abenteuer in Rom‘. Texte aus dem Nachlass Werner Küppers am Alt-Katholischen Seminar der Universität Bonn, Bonn 2017. 31 Siehe zum Folgenden Jan Visser, Zur Vorgeschichte und Entstehung des Berichts der Internationalen Römisch-Katholisch–Altkatholischen Dialogkommission, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 100 (2010), 6–24. 32 Kirche und Kirchengemeinschaft. Erster und Zweiter Bericht der Internationalen Römisch-Katholischen–Altkatholischen Dialogkommission 2009 und 2016, Paderborn 2017 (zitiert IRAD I-II). Siehe zum ersten Bericht die Beiträge in Internationale Kirchliche Zeitschrift 100 (2010) sowie Wolfgang W. Müller (Hg.), Kirche und Kirchengemeinschaft. Die Katholizität der Altkatholiken (Schriften des Ökumenischen Instituts Luzern 10), Zürich 2013.
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darstellt. 33 Unter ausführlicher Heranziehung weiterer ökumenischer Dialogtexte kann ein Grundkonsens über das Wesen der Kirche formuliert werden, der die Universalkirche im Sinne des communio-Gedankens als „Gemeinschaft von Ortskirchen“ bestimmt. Differenzen im Verständnis der Autorität des Papstes werden im Folgenden konsequent aus dieser ekklesiologischen Perspektive betrachtet und dadurch bedeutend relativiert; so kommt man zu der Aussage: „Diese Übereinstimmungen legen nahe, dass die auf dem I. Vaticanum formulierte Lehre des Primats des Papstes, wenn damit der Papst nicht aus der Communio-Struktur herausgelöst wird, nicht mehr das Gewicht einer kirchentrennenden Differenz wie früher haben muss“. 34 Im Weiteren wird der Versuch unternommen, konkrete Schritte in Richtung einer Kirchengemeinschaft vorstellbar zu machen. Dabei geht man davon aus, dass auf längere Sicht ein Nebeneinander zweier „denominationell unterscheidbare[r]“, aber miteinander in Gemeinschaft stehender „Kirchenkörper[.]“ 35 möglich sei. Die alt-katholische Seite würde an ihren bestehenden ökumenischen Vereinbarungen, an ihrer eigenständigen Jurisdiktion, auch an der Frauenordination festhalten. Was die Rolle des Papstes betreffe, könnte „Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom“ aus alt-katholischer Sicht folgendes einschließen: • dass er als Zeichen bestehender kirchlicher Gemeinschaft in den Gedächtnissen der Eucharistiefeier Altkatholischer Kirchen genannt wird (wie übrigens auch der Erzbischof von Canterbury als Primas der Anglican Communion); • dass ihm die Wahl der Bischöfe der Utrechter Union angezeigt wird […]; • dass ihm die Stellungnahmen und Entscheidungen der Internationalen Altkatholischen Bischofskonferenz (IBK) angezeigt werden; • dass er bei Stellungnahmen und Entscheidungen der Internationalen Altkatholischen Bischofskonferenz oder einzelner Altkatholischer Kirchen, welche die bestehende kirchliche Gemeinschaft im Glauben und in der Liebe verletzen, berechtigt ist, auf diesen Tatbestand hin-
33
IRAD I, Nr. 4. IRAD I, Nr. 39. 35 IRAD I, Nr. 83. Dass hierbei das römisch-katholische Recht für die Unierten Ostkirchen als Vorbild dienen könnte, wird ausdrücklich verneint: IRAD I, Nr. 86. 34
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zuweisen und aufzuzeigen, wie die Gemeinschaft bewahrt werden kann; • dass bei Konflikten in der Utrechter Union von altkatholischer Seite in dem Sinn an ihn appelliert werden kann, dass er, wenn die Möglichkeiten der Internationalen Altkatholischen Bischofskonferenz ausgeschöpft sind, einen Prozess der Neubeurteilung einer umstrittenen Sache anzuregen berechtigt ist. 36 Diese Überlegungen sind interessant, weil hier erstmals von alt-katholischer Seite entfaltet wird, wie man sich eine konkrete Ausgestaltung des päpstlichen Primates vorstellen könnte. Dass es in naher Zukunft tatsächlich zur Umsetzung des skizzierten Modells kommt, scheint indes unwahrscheinlich. Hinter die hier erreichten Präzisierungen fallen die Erwägungen zur Primatsfrage im zweiten IRAD-Bericht (2016) dann auch deutlich zurück. Nach Reflexionen zu den Bezeugungsinstanzen der Offenbarung kommt man dort zu dem sicher richtigen, aber recht allgemeinen Schluss, „dass das verbindliche Lehren heute sich weniger auf formale Autoritätsargumente stützen kann als vielmehr auf den glaubwürdig gelebten Glauben“. 37
6. Für eine „lernende Ökumene“ Wie könnte es nach dem Erreichten im römisch-katholisch–alt-katholischen Dialog weitergehen? Es gibt einen wichtigen Umstand, den die IRAD-Berichte nahezu unberücksichtigt lassen: dass sich die alt-katholischen Kirchen zu Beitrittskirchen entwickelt haben. 38 Schätzungen zufolge haben etwa 80 % der Mitglieder der deutschen alt-katholischen Kirche sich dieser im religionsmündigen Alter angeschlossen; von diesen wiederum kommen 80 % aus der römisch-katholischen Kirche. 39 Dies be-
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IRAD I, Nr. 84. IRAD II, Nr. 40. 38 Sehr kurz und der Bedeutung der Sache eigentlich nicht angemessen wird hierauf eingegangen in IRAD I, Nr. 80. 39 Dirk Kranz, Andreas Krebs, Religiosität in der Alt-Katholischen Kirche Deutschlands. Eine empirische Studie, Bern 2014 (Internationale Kirchliche Zeitschrift 104/ 1.2 (2014)), 15–18. 37
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rührt einen heiklen Punkt: Aus römisch-katholischer Sicht kann die altkatholische Kirche als unliebsame Konkurrenz erscheinen, die ausgerechnet an den „empfindlichen Themen“ ansetzt – Laienmitbestimmung, Stellung der Frau, Fragen der Lebensführung –, um ihr Gläubige abzujagen. Auf der anderen Seite gibt es in alt-katholischen Gemeinden nicht wenige Menschen, die eine mehr oder minder schmerzhafte Trennung von der römisch-katholischen Kirche hinter sich haben. Wenn man so will, hat sich in vielen alt-katholischen Glaubensbiographien der Bruch von 1870 auf persönlicher Ebene wiederholt. Das in der Ökumene gerne gebrauchte Schlagwort vom „Heilen der Erinnerung“ bekommt in diesem Zusammenhang eine handfeste Bedeutung. Für eine vertiefte Aussöhnung zwischen römisch-katholischer und alt-katholischer Kirche dürfte es wichtig sein, solche Geschichten ins Wort zu bringen. Ein weiterer Schritt könnte darin bestehen, sich dem jeweils anderen unter der Fragestellung zu öffnen, was von dessen Tradition auch für die eigene wertvoll sein könnte. Selbst wenn eine Kirchengemeinschaft bis auf Weiteres ausbleibt, wovon man realistisch ausgehen sollte, – was vermag die alt-katholische Kirche, hier und jetzt, von der römisch-katholischen Kirche zu lernen und umgekehrt? Welche Gaben und Reichtümer gibt es beim Partner zu entdecken, die auch im Raum der eigenen Kirche fruchtbar wären? Wo reagiert man mit unterschiedlichen und beiderseits durchaus unvollkommenen Mitteln auf ähnliche Problemlagen, und welche Erfahrungen des Gegenübers helfen bei der eigenen Suche weiter? Könnte auf diese Weise ein ergebnisoffener Lernprozess in Gang kommen, der ohne ehrgeizige ökumenische Zielvorstellungen auskommt und dennoch zu substanziellen Annäherungen führt? Der römisch-katholische Theologe Paul Murray hat glaubhaft gemacht, dass solch eine „Lernende Ökumene“ („Receptive Ecumenism“) das Potenzial hat, dem Gespräch zwischen Kirchen neue Impulse zu geben. 40 40
Paul D. Murray (Hg.), Receptive Ecumenism and the Call to Catholic Learning, Oxford 2008. Eine kurze Einführung in deutscher Sprache gibt Ders., Receptive Ecumenism. Eine Einführung, in: Theologische Quartalschrift 196 (2016), 193 f. Mit bemerkenswertem Ergebnis ist die Methode des „Receptive Ecumenism“ in der jüngsten Runde des römisch-katholisch–anglikanischen Dialogs (ARCIC III) angewendet worden: Anglican-Roman Catholic International Commission III, Walking Together on the Way: Learning to be the Church – Local, Regional, Universal, London 2018.
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Das Erste Vatikanische Konzil im Spiegel der rumänisch-orthodoxen Theologie Die Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils bezüglich des Jurisdiktionsprimats und der Unfehlbarkeit des Papstes haben nicht nur sehr viele Kontroversen innerhalb der Katholischen Kirche jener Zeit hervorgerufen 1, sondern waren auch einer ständigen Kritik vonseiten der orthodoxen Kirchen und Theologen unterzogen 2. Von Anfang an möchte ich unterstreichen, dass die Idee eines päpstlichen Jurisdiktionsprimats und die Vorstellung einer primatial ausgeübten Unfehlbarkeit aus orthodoxer Sicht unannehmbar sind. Welche Argumente gegen diese Entscheidungen vorgebracht werden und wie sich die orthodoxen Vorstellungen über die Dogmen von 1870 in den letzten 150 Jahren entwickelt haben, möchte ich im vorliegenden Aufsatz nachzeichnen. Da eine Untersuchung aller orthodoxen Stellungnahmen zum Ersten Vaticanum den Rahmen dieses Textes sprengen würde, möchte ich hier nur einige prominente Stimmen aus der rumänischen Orthodoxie zu Wort kommen lassen, unter ihnen auch den bedeutenden Theologen Dumitru Stăniloae, der sich mit dieser Thematik beschäftigt hat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das Erste Vatikanische Konzil (1869–1870) in Rom stattfand, wurden Rumänien und die Rumänische Orthodoxe Kirche mit grundlegenden Herausforderungen, wie zum Beispiel dem Kampf um die Erlangung der Unabhängigkeit des Landes (gelungen 1878) von der Hohen Pforte bzw. der Kirche um die An1
Eine kritische Darstellung dieser Kontroversen hat geliefert: August Bernhard Hasler, Pius IX. (1846–1878), Päpstliche Unfehlbarkeit und 1. Vatikanisches Konzil. Dogmatisierung und Durchsetzung einer Ideologie (Päpste und Papsttum 12/1–2), Stuttgart 1977. 2 Ich erwähne hier exemplarisch nur: Georgios Metallinos, Über die Unfehlbarkeit des Papstes. Die Geschichte eines Dogmas, Wachtendonk 2011. Der Verfasser fasst zusammen und macht sich die ganze Argumentation zu eigen von: August B. Hasler, Wie der Papst unfehlbar wurde. Macht und Ohnmacht eines Dogmas, München 1979.
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erkennung der Autokephalie vonseiten des Ökumenischen Patriarchats (25. April 1885) konfrontiert. 3 Metropolit Andrei Şaguna erreichte in Siebenbürgen 1864 beim österreichischen Kaiser die Wiederherstellung der alten rumänischen Metropolie Transsilvaniens und billigte danach das neue Organische Statut der Rumänischen Orthodoxen Kirche in Transsilvanien (1868), dessen Grundprinzipien die Autonomie und die Synodalität waren. 4 Da sich die rumänische Orthodoxie selbst in einer Zeit großer Umbrüche und grundlegender Veränderungen befand, 5 blieben vorerst das Erste Vatikanische Konzil und seine Entscheidungen bezüglich des Jurisdiktionsprimats und der Unfehlbarkeit des Papstes im 19. Jahrhundert fast unberücksichtigt. Die neu gegründete Rumänische Orthodoxe Kirche begann erst 1874, also einige Jahre nach dem Ersten Vaticanum, ihre erste theologische Zeitschrift – genannt „Biserica Ortodoxă Română“ – herauszugeben. 6
1. Die ersten Stellungnahmen zum Ersten Vaticanum Die ersten Stellungnahmen zum Ersten Vatikanischen Konzil findet man in den rumänischen Handbüchern für Kirchengeschichte, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgefasst wurden. Dimitrie Boroianu, Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Bukarest, schrieb 1894 eine Geschichte der Kirche vom Anfang bis zu unseren Tagen, in der das Erste Vaticanum meiner Kenntnis nach zum ersten Mal in einem rumänischen 3
1863 hat die Regierung die Säkularisierung des Vermögens der den Heiligen Stätten untergeordneten und nichtuntergeordneten Klöster durchgeführt. 1872 billigte König Karol I. von Rumänien die Gründung der Heiligen Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche und verlangte vom Ökumenischen Patriarchen die Anerkennung der Autokephalie. Vgl. Daniel Benga, Die Ostkirchen, in: Thomas Kaufmann u. a. (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte 3. Von der Französischen Revolution bis 1989, Darmstadt 2007, 384–385. 4 Vgl. ebd., 385. 5 Ausführlicher vgl. Mircea Păcurariu, Geschichte der Rumänischen Orthodoxen Kirche (Oikonomia 33), Erlangen 1994, 458–465. 475–485. 6 Infolge meiner Untersuchung zu dieser theologischen Zeitschrift konnte ich keine Artikel finden, die sich mit den zeitgenössischen Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils beschäftigt haben.
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Daniel Benga
kirchengeschichtlichen Handbuch erwähnt wird. 7 Da er erst wenige Jahre nach diesem Konzil seine Kirchengeschichte schrieb, wäre ein umfangreicheres Kapitel zu diesem Thema zu erwarten gewesen. Er begnügte sich im Papst Pius IX. (1846–1878) gewidmeten Kapitel mit der folgenden Feststellung: „Unter diesem Papst wird die Unfehlbarkeit des Papstes als ein Dogma der römisch-katholischen Kirche von einem im Vatikan versammelten Konzil (1868) angenommen, obwohl vom Konzil ein großer Widerstand gegen diese falsche Doktrin gemacht wurde. Der Annahme der Unfehlbarkeit fügt Rom eine neue Anklage hinzu, und verursachte neben zahlreichen Protesten des westlichen und östlichen Klerus eine Verschlechterung der Beziehungen zu den Staaten, mit denen Rom bisher Freundschaftsbeziehungen hatte wie zum Beispiel Preußen und Österreich.“ 8
Obwohl durch einige Unstimmigkeiten gekennzeichnet, 9 haben wir es mit einer negativen Beschreibung und auch einer persönlichen Einstellung dem Ersten Vatikanischen Konzil gegenüber zu tun. Es ging nach Dimitrie Boroianu um eine falsche Lehre (ohne eigentliche Begründung der Falschheit der Unfehlbarkeitsdoktrin), die gegen einen großen Widerstand vieler Mitglieder des Konzils vom Papst verkündet wurde. Diese Einstellung zum Ersten Vatikanischen Konzil blieb seitdem in allen nachfolgenden geschichtlichen Darstellungen der rumänischen Theologen erhalten. Die nächste mir bekannte Beschreibung der Ereignisse vom Ersten Vaticanum stammt von Eusebie Popovici, der Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Cernowitz in der Bukowina lehrte. In seiner Kirchengeschichte schildert der Professor die Entwicklung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, ohne ein besonderes Interesse am Ers7
Dimitrie Boroianu, Istoria Bisericii creștine de la începutul ei și până în zilele noastre, ediție îngrijită și actualizată științific de pr. Daniel Benga, Fundația Anastasia, București 2007. 8 „Sub acest papă se primeşte de către un sinod adunat în Vatican (1868) infailibilitatea papei ca o dogmă a bisericii romano-catolice, deşi s-a făcut o opoziție mare din partea sinodului împotriva acestei false doctrine. Primirea infailibilității adaugă un nou punct de acuzare Romei şi îi cauză pe lângă o mulțime de proteste din partea clerului apusean şi oriental, stricarea raporturilor cu statele în care Roma, a avut până aici legături de prietenie, exemplu fiind, Prusia şi Austria“. Ebd., 381. 9 Zum Beispiel die Angabe eines falschen Jahres für das Konzil – 1868 – und die Nichterwähnung der wichtigen Verabschiedung zum Jurisdiktionsprimat.
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ten Vatikanischen Konzil zu zeigen. Seine Darstellung beschränkt sich auf das Pontifikat Papst Pius’ IX. (1846–1878) und auf die wichtigsten Entscheidungen dieses Papstes. Er stellt fest, dass das Erste Vatikanische Konzil von Jesuiten geführt und vom Papst durch „Gebete, Bedrohungen, Begünstigungen und Ungnaden“ beeinflusst war. In einem solchen Klima wurde das Dogma der Unfehlbarkeit mit dem Dekret Pastor Aeternus verkündet. Der Eindruck dieser Entscheidung war in der ganzen liberalen Welt schlecht und hatte eine Reihe von Unruhen und die Errichtung der Altkatholischen Kirche 10 zur Folge.
2. Die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts Nach der deutschen Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb Osteuropa und damit rund 80 % aller orthodoxer Christen unter dem Einfluss der Sowjetunion 11. Eine große Panorthodoxe Konferenz in Moskau (8.–18. Juli 1948) kritisierte in scharfen Termini sowohl das Papsttum als auch die ökumenische Bewegung. 12 Das von Papst Pius XII. (1939–1958) im Jahre 1950 verkündete Dogma – Assumptio Corporea Beatae Mariae Virginis in Coelum – war der Anlass für eine erste ausführliche Auseinandersetzung mit den zwei älteren Dogmen des Ersten Vaticanums, auf dem die 1950 ausgeübte Unfehlbarkeit verabschiedet wurde. Die wichtigste rumänische Stellungnahme jener Zeit entstammte sogar der Heiligen Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche. Die alten Lehrentscheidungen über das Jurisdiktionsprimat und die Unfehlbarkeit des Papstes vom Ersten Vaticanum wurden in jenem Dokument behan10
Vgl. Eusebie Popovici, Istoria bisericească, București 1901, 335–336. Zur neuen Situation der Kirche und der Theologie in Rumänien vgl. Ioan I. Ică jr, Dispute mariologie și revoluții politice pe fundalul secolului XX, in: Ders. (Hg.), Maica Domnului în teologia secolului XX și în spiritualitatea isihastă a secolului XIV, Grigorie Palama, Nicolae Cabasila, Teofan al Niceei, Sibiu 2008, 5–24. 12 Die Konferenz von Moskau hat vier Dokumente verabschiedet, von denen drei eine ökumenische Thematik behandelt haben: 1. Der Vatikan und die Orthodoxe Kirche; 2. Die Gültigkeit anglikanischer Ordinationen; 3. Die Orthodoxe Kirche und die ökumenische Bewegung. Vgl. dazu Daniel Benga, Prezența Bisericii Ortodoxe Române în context panortodox, in: Autocefalie și comuniune. Biserica Ortodoxă Română în dialog și cooperare externă (1885–2010), București 2010, 233–246. 11
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delt und analysiert. 13 Nachdem das neue Dogma von 1950 als ein großes Hindernis auf dem Weg zur Einheit der einen Kirche Jesu Christi verurteilt wurde, nahm die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche in ihrem Kommuniqué zum Ersten Vaticanum Stellung. Da es hier um eine synodale Entscheidung geht, zitiere ich in deutscher Übersetzung den vollständigen Abschnitt bezüglich des Ersten Vatikanischen Konzils: „Die Orthodoxe Kirche verurteilt auch diesmal den Anspruch des Papstes, sich selbst als Formulierungsorgan der Kirchenlehre zu betrachten, wie dies auch 1854 geschah, als das Dogma der Unbefleckten Empfängnis verurteilt wurde. Es ist jetzt zum ersten Mal, dass der Papst die 1870 selbst zugesprochene Unfehlbarkeit, neue Dogmen zu formulieren, in Anspruch nimmt. Die Orthodoxe Kirche hat damals diesen Anspruch auf Unfehlbarkeit abgelehnt und lehnt ihn auch jetzt ab. Dieser Anspruch bedeutet eine Sünde des Mangels an Frömmigkeit (Impietätssünde) gegen den mystischen Leib des Herrn, der damit den Heiligen Geist verliert. Wir wurden aber gelehrt, dass er (der Heilige Geist) in ihm (im Leib der Kirche) wohnt und ihn zu aller Wahrheit leitet. Der mystische Leib des Herrn wird durch dieses (neue Dogma) zu einer laizistischen fehlbaren Gesellschaft. Er (der Leib) muss das Verständnis der Wahrheit nicht aus dem Licht, das vom Herrn Jesus Christus innerlich vermittelt wird, sondern aus der äußerlichen Autorität des Papstes, dessen Definitionen als unfehlbar ‚von sich selbst und nicht aus dem Konsens der Kirche‘ betrachtet werden, empfangen. Die Orthodoxe Kirche verdammt mit Schärfe diese Beraubung der Kirche von ihren Befugnissen, die aus dem Wohnen des Heiligen Geistes in ihr herkommen, und ihre Übertragung auf den Papst.“ 14 13
Comunicatul Sfântului Sinod al Bisericii Ortodoxe Române, in: Ortodoxia II/4 (1950), 497–502. Für eine Darstellung und Analyse des gesamten Kommuniqués vgl. Ioan I. Ică jr, Dispute mariologie și revoluții politice pe fundalul secolului XX, 38– 41. 14 „Biserica Ortodoxă condamnă și de această dată pretenția papei de a se erija în organul de formulare al învățăturii Bisericii, cum a condamnat-o cu ocazia formulării dogmei imaculatei concepții la 1854. E pentru prima dată, acum, că papa face uz de infailibilitatea pe care și-a arogat-o cu ocazia conciliului din Vatican de la 1870, în materie de formulare a unor dogme noui. Biserica Ortodoxă a respins atunci această pretenție de infailibilitate și o respinge și acum. Această pretenție înseamnă un păcat de impietate împotriva trupului tainic al Domnului, pe care-l golește de Duhul Sfânt, despre care noi am fost învățați că sălășluiește în el și îl conduce la tot adevărul. Trupul tainic al Domnului devine prin aceasta o societate laică, supusă greșelii și trebuind deci să primească înțelegerea adevărului, nu din lumina ce i-o
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Die rumänische Synode spricht hier im Namen der ganzen Orthodoxen Kirche und verurteilt die neuen Dogmen von 1870 und 1950. Man wusste, dass damals zum ersten Mal eine Entscheidung des Papstes infolge des Unfehlbarkeitsdogmas von 1870 getroffen wurde. Über die scharfe Polemik hinaus findet man in dieser Kritik eine Behauptung des orthodoxen Verständnisses, dass nicht der Papst, sondern nur die Kirche als Ganzes, das heißt Volk und Klerus als Leib Christi, die Unfehlbarkeit besitzen. Man hat bemerkt, dass diese synodale Stellungnahme, ähnlich wie andere orthodoxe Positionen jener Zeit zum selben Dogma, „nicht nur kritisch, sondern polemisch im Übermaß“ 15 war. Nach dem Zweiten Vaticanum hat sich der polemische Ton gemildert, weil dieses Konzil einen Ausgleich zwischen Primat und Synodalität herzustellen versucht hat. Dieses offizielle Kommuniqué hatte als Grundlage ein Referat des Metropoliten Nicolae Bălan von Siebenbürgen, das aufgrund der theologischen Expertise von Professor Dumitru Stăniloae verfasst wurde. 16 Die Polemik gegen den Papst und seine Ansprüche auf Jurisdiktion und Unfehlbarkeit findet man ebenfalls in mehreren Aufsätzen, die im selben Heft der Zeitschrift Ortodoxia veröffentlicht wurden. 17 In einem 1951 unter dem Titel Der römisch-katholische Cäsaropapismus von gestern und heute veröffentlichten Aufsatz kritisiert Teodor M. Popescu, Professor für Kirchengeschichte an der Bukarester Theologicomunică lăuntric Domnul Iisus Hristos prin Duhul Sfânt, ci dela autoritatea din afară a papei, ale cărui definiții sunt socotite infailibile «dela sine nu din consensul Bisericii». Biserica Ortodoxă condamnă cu asprime această despuiere a Bisericii de prerogativele care îi revin din sălășluirea Duhului Sfânt în ea și trecerea lor asupra papei“. Comunicatul Sfântului Sinod al Bisericii Ortodoxe Române, in: Ortodoxia II/ 4 (1950), 498–499. 15 Ioan I. Ică jr, Dispute mariologie și revoluții politice pe fundalul secolului XX, 38. 16 Ebd., 41 f. 17 Olimp Căciulă, În legătură cu noua dogmă a papalității, in: Ortodoxia II/4 (1950), 502–514; Petru Rezuș, Mariologia ortodoxă, in: Ortodoxia II/4 (1950), 515–558; Dumitru Stăniloae, Învățătura despre Maica Domnului la ortodocși și catolici, in: Ortodoxia II/4 (1950), 559–609; Liviu Stan, O nouă rătăcire a papalității, in: Ortodoxia II/4 (1950), 610–619. In einem anderen Aufsatz behauptete Dumitru Stăniloae „die Auffassung der päpstlichen Monarchie ist mit der Anwesenheit Christi in der Kirche nicht zu vereinbaren“. – Dumitru Stăniloae, Organizarea sinodală a Bisericii Ortodoxe în paralelă cu cezaro-papismul catolic, in: Studii Teologice, Anul II (1950), Nr. 9 f., 549.
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schen Fakultät, die politischen und kirchlichen Ansprüche des Papstes auf Macht und Primat. 18 Als er auf das Erste Vaticanum zu sprechen kam, hob er die Tatsache hervor, dass nach dem Niedergang auf politischer Ebene (die Abschaffung des Kirchenstaates von 1870) eine Krönung des Papstes auf kirchlicher Ebene mit dem absolutistischen Primat und der Unfehlbarkeit stattfand. 19 Die Päpste und die Kurie hätten dies seit Jahrhunderten verfolgt, aber erst 1870 geschafft. Der Bischof von Rom blieb ohne Staat, aber er stieg in der irdischen und himmlischen Hierarchie auf durch seine Investierung mit einer göttlichen Eigenschaft, der Unfehlbarkeit. Diese Auffassung sei gegen die Lehre und den Geist der Heiligen Schrift, gegen die Heiligen Väter, gegen die Ökumenischen Konzilien, gegen das Konzil von Konstanz (1414–1418), gegen einen kräftigen Widerstand der Bischöfe und der Öffentlichkeit“ und wurde „mit der Androhung eines Schismas – das der Altkatholiken“ 20, verkündet. Ohne weitere Stellen zu zitieren, bemerken wir eine sehr scharfe Kritik und Polemik gegen das Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870, wobei der ebenfalls dort verabschiedete Jurisdiktionsprimat nicht so sehr in den Blick der Kritiker geriet. Die neuen Dogmen von 1870 werden bei vielen anderen orthodoxen Theologen als Gegensatz zur ganzen Tradition der ungeteilten Kirche betrachtet.
3. Die Polemik gegen das Erste Vaticanum nach dem Zweiten Vaticanum Die Verabschiedung neuer ekklesiologischer Dokumente durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) hat zu einer erneuten theologischen Auseinandersetzung der rumänischen Theologen mit den Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils geführt. Sofort nach dem Abschluss des Zweiten Vaticanums veröffentlichte Dumitru Stăniloae einen Aufsatz mit dem Titel Die katholische Doktrin der Unfehlbarkeit auf dem I. und 18
Teodor M. Popescu, Cezaropapismul romano-catolic de ieri și de azi, in: Ortodoxia III/4 (1951), 495–538. 19 Dieselbe Auffassung vertritt auch: Teodor Bodogae u. a. (Hg.), Istoria Bisericească Universală II, Bucureşti 1993, 357. 20 Teodor M. Popescu, Cezaropapismul, 529.
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II. Vaticanum 21. Da wir es hier mit der Position eines Theologen ersten Ranges in der rumänischen Theologie zu tun haben, möchte ich im Folgenden seine Stellungnahme zu den Dogmen des Ersten Vatikanischen Konzils ausführlich darstellen. Dumitru Stăniloae untersuchte die Dokumente des Ersten Vaticanums in den Acta Conciliorum von Joannes Dominicus Mansi und entdeckte eine Entwicklung in der Doktrin über die Unfehlbarkeit des Papstes während des Konzilsverlaufs. Der rumänische Theologe zeigt, dass im Schema De Ecclesia vom Ersten Vaticanum noch die ganze Kirche als Subjekt der Unfehlbarkeit betrachtet wurde. Dies war der Fall bis zum Frühling des Jahres 1870, als sich diese theologische Einstellung geändert hat. Bis zu diesem Punkt konnte die katholische Doktrin der Unfehlbarkeit nach Dumitru Stăniloae als ihrem Wesen nach orthodox angesehen werden. 22 Das am 17. Juli 1870 verkündete Dogma machte aber eine vollständige Unabhängigkeit der päpstlichen Unfehlbarkeit von der Kirche deutlich. 23 Man sollte aber eine neue Entscheidung über die Unfehlbarkeit der Kirche treffen, die als Ergänzung zur Unfehlbarkeit des Papstes vom Theologen Kleugten formuliert wurde. Diese ergänzende Entscheidung konnte nicht mehr diskutiert und getroffen werden, weil das Konzil plötzlich am 18. Juli 1870 sine die vertagt wurde. Es gab aber im Katholizismus in den Jahren nach dem Konzil, so sagt Dumitru Stăniloae, eine Hoffnung, dass die Teilnahme des Episkopats und der Kirche an der Unfehlbarkeit des Papstes einmal formuliert wird. So kommt der rumänische Theologe auf das Zweite Vaticanum zu sprechen. Das Schema De Ecclesia des Zweiten Vaticanums beinhaltete aber kein Kapitel über die Unfehlbarkeit des Papstes, wie es auf dem Ersten Vaticanum der Fall war. Dumitru Stăniloae zieht den Schluss, dass das Zweite Vaticanum „die Doktrin der absoluten Macht und der päpstlichen Unfehlbarkeit weiterentwickelt hat“ 24. Er erkennt an, dass das ZweiteVaticanum viel über die Verpflichtung der Laien im Bekennen der Wahrheit spricht und die Rolle des Kirchenvolkes sehr oft erwähnt. Das Zweite 21
Dumitru Stăniloae, Doctrina catolică a infailibilității la I-ul și al II-lea Conciliu de la Vatican, in: Ortodoxia XVII/4 (1965), 459–492. 22 Ebd., 462. 23 Ebd., 468. 24 Ebd., 472.
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Vaticanum spreche zwar über eine passive Unfehlbarkeit der Gläubigen, wenn diese in Verbindung mit der Hierarchie und dem Papst stehen, aber hier gäbe es eine einseitige Abhängigkeit. Der Schluss des rumänischen Theologen bezüglich der Unfehlbarkeit auf dem Zweiten Vaticanum lautet wie folgt: „Das Episkopat ist ganz vom Papst bedingt (abhängig) und der Papst in allen vom Episkopat nicht bedingt. Was einem Kollegium oder einem Konzil unfehlbaren Charakter gibt, ist die päpstliche Genehmigung, aber nicht umgekehrt. Das bischöfliche Kollegium oder Konzil fügt dem Papst, was die Macht und die Unfehlbarkeit betrifft, nichts hinzu, aber hat alles vom Papst, oder der Papst gibt alles dem Konzil. Der Papst mit dem Kollegium oder dem Konzil ist nichts mehr als der Papst allein.“ 25
Ein anderes Beispiel aus der Rumänischen Orthodoxen Kirche ist die Analyse von Viorel Ioniță, der in einem Aufsatz von 1972 die Konsequenzen des Ersten Vaticanums für die römisch-katholische Kirche schildert. 26 Der Verfasser beschreibt in seiner Studie die Lage der Katholischen und der Orthodoxen Kirche vor dem Ersten Vaticanum, die Vorbereitungen auf das Konzil und die eigentlichen Verhandlungen und Entscheidungen. Der Gründung der altkatholischen Kirche wird auch ein breiter Raum gewidmet. Der rumänische Theologe zieht den Schluss, dass sich durch das Dogma vom 17. Juli 1870 „eine Distanzierung mit schweren Folgen zwischen dem Papst und dem römisch-katholischen Episkopat vollzogen hat. Man kann beobachten, dass durch diese Entscheidungen die römisch-katholische Kirche sich nicht verstärkt hat, wie man glaubte, sondern in eine Sackgasse hineingetreten ist, die heute ein wirkliches Problem für die Theologen dieser Kirche darstellt, von denen einige die Lehre über die Unfehlbarkeit des Papstes ablehnen“ 27.
Am Ende seiner Untersuchung, die interessanterweise die Konsequenzen des Ersten Vaticanums für die Katholische Kirche analysiert, bezieht sich der rumänische Theologe auf die Konsequenzen dieser Lehre für den Dialog zwischen Orthodoxen und Katholiken: „Das Dogma der Unfehl-
25
Ebd., 480. Viorel Ioniță, Conciliul I de la Vatican și consecințele lui pentru Biserica RomanoCatolică, in: Mitropolia Ardealului XVII/7–8 (1972), 560–571. 27 Ebd., 569 f. 26
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barkeit und des Primats des Papstes war nicht und kann nicht von der orthodoxen Kirche angenommen werden. Es stellt ein Hindernis auf dem Weg der Annäherung zwischen den beiden Kirchen dar, das zu überschreiten nicht möglich ist“ 28. Am Ende des Aufsatzes schlägt Viorel Ioniță eine Überprüfung des historischen Zusammenhanges, in dem das Dogma formuliert wurde, vor. Dies sollte zu einer dogmatischen Reformulierung dieser Lehre führen, um die gegenwärtigen Unzulänglichkeiten zu beseitigen. 29
4. Die heutige rumänische Theologie Genau der Vorschlag von Viorel Ioniță, den historischen Zusammenhang der theologischen Entscheidungen des Ersten Vaticanums näher zu betrachten, hat in der jüngsten Zeit zu neuen Stellungnahmen geführt. Nicolae Chifăr, Professor für Kirchengeschichte an der Universität von Sibiu, hat ein Kapitel seines vierten Bandes der Geschichte des Christentums (erschienen 2005) dem Ersten Vaticanum gewidmet. In seinem Buch schildert der rumänische Theologe die Lage der katholischen Kirche in den westlichen Staaten und die ultramontane Bewegung. Seine Darstellung beschreibt den historischen Verlauf des Konzils und endet mit der Schlussfolgerung, dass die Orthodoxe Kirche konsequent die Lehre von der Unfehlbarkeit und den Primat des Papstes abgelehnt hat. Er bezeichnet diese Lehre als ein nicht überwindbares Hindernis auf dem Weg der Annäherung zwischen den beiden Kirchen. 30 Danach folgt ein
28
Ebd., 571. Eine ganze Reihe von Aufsätzen beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen der altkatholischen Kirche und der orthodoxen Kirche, weil die Orthodoxen in einer sakramentalen Kirche ohne Papst eine ideale Kirche für den theologischen Dialog gefunden haben. Liviu Stan, Ortodoxia și vetero-catolicismul, in: Mitropolia Olteniei, XIII/7–9 (1961), 635–644; Ioan G. Coman, Biserica Ortodoxă și Biserica Veche Catolică, in: Mitropolia Banatului, XVII/4–6 (1967), 228–262. Mircea Chialda, Încercările de apropiere între Biserica Ortodoxă și Biserica Vechilor-Catolici, în: Ortodoxia XVIII/3 (1966), 319–356. Alle Bemühungen haben leider zu keiner ekklesiologischen Einheit zwischen den beiden Kirchen geführt. 30 Nicolae Chifăr, Istoria creștinismului IV, Iași 2005, 252. 29
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Zitat, das die oben zitierte Stellungnahme der Heiligen Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche aus dem Jahre 1950 wiedergibt. 31 Eine kontextbezogene Analyse der Entscheidungen von 1870 bezüglich des Jurisdiktionsprimats und der Unfehlbarkeit aus orthodoxer Sicht hat Ioan I. Ică jr vor wenigen Jahren durchgeführt. Der rumänische Theologe hat durch eine ausführliche historische Untersuchung festgestellt, dass die zwei Lehrentscheidungen weniger mit dem Wunsch des Papstes nach Hegemonie, sondern mit dem neuen geschichtlichen Kontext auf europäischer Ebene, charakterisiert durch grundlegende Veränderungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche, Religionskritik und Enteignung der kirchlichen Besitztümer, zu tun hatten. Dementsprechend hat das Konzil dem Papst neue Befugnisse übertragen, die als Reaktion auf die Herausforderungen der damaligen Zeit gesehen werden können, um die Einheit der Katholischen Kirche und ihren Zerfall in nationale, von den einzelnen europäischen Staaten kontrollierte Kirchen zu vermeiden. 32 Die historischen Umstände haben dazu geführt, dass dieses Konzil „unvollendet und unausgeglichen“ 33 abgeschlossen wurde. Ioan I. Ică jr unterstreicht auch die Tatsache, dass die Entscheidung des Konzils die Rolle des Episkopats nicht annulliert hat, wie das Antwortschreiben der deutschen Bischöfe von 1875 auf die Zirkulardepesche Bismarcks, die von Papst Pius IX. als authentische Auslegung des Konzils gewürdigt wurde, zeigt. Wegen des Ausbruchs des Deutsch-Französischen Krieges verabschiedete das Konzil die Konstitution Pastor Aeternus, jedoch ohne die Stellung des Episkopats zu behandeln, weshalb sein Werk unvollständig blieb. 34
31
Ebd., 252. Ioan I. Ică jr, Conciliul Vatican II, reforma Bisericii şi dilemele epocii post-conciliare. Reflecțiile unui teolog ortodox, in: Perspective asupra Conciliului Vatican II, Robert Lazu şi Alin Tat, Galaxia Gutenberg, Târgu Lăpuş 2004, 62. Ich zitiere den oben genannten Aufsatz von Ioan I. Ică jr nach Dumitru Rareș Mușat, Atitudinea teologilor romani față de Conciliul I şi II Vatican (unveröffentlichte Diplomarbeit), Bukarest 2013, 5. 41 f. 33 Ebd., 63. 34 Ebd. 32
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5. Das Erste Vatikanische Konzil in der Studie des orthodox-katholischen Arbeitskreises St. Irenäus Am Ende meines Aufsatzes möchte ich die Arbeit des orthodox-katholischen Arbeitskreises St. Irenäus in Bezug auf ein gemeinsames Verständnis der Dogmen von 1870 vorstellen. 26 katholische und orthodoxe Theologen aus 14 Ländern haben jahrelang gearbeitet (zwischen 2004 und 2018), um das Verhältnis von Primat und Synodalität durch die Kirchengeschichte hindurch zu untersuchen, 35 wobei die Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils eine wichtige Rolle in den Diskussionen gespielt haben. 36 Die Studie stellt zuerst ausführlich die Herausforderungen der Katholischen Kirche in den wichtigsten europäischen Staaten am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Entwicklung der Bewegung des Ultramontanismus, die zu einer Überbetonung des Papsttums durch die Dogmen von der universalen Jurisdiktion und der Unfehlbarkeit geführt haben, 37 vor. Im Kapitel 10.7 werden die wichtigsten gemeinsamen Feststellungen des Arbeitskreises nach einer sorgfältigen Analyse der Konzilsakten vorgelegt: „Im Gegensatz zum vorherrschenden volkstümlichen Verständnis des Ersten Vatikanischen Konzils macht das Dogma von der universalen Jurisdiktion, wenn man die Akten des Konzils sorgfältig liest, den Papst nicht zu einem absoluten Monarchen, insofern er an die göttliche Offenbarung und das Naturgesetz gebunden bleibt und die Rechte der Bischöfe und die Entscheidungen der Konzile respektieren muss. Tatsächlich hat das Erste Vatikanische Konzil nicht die Aussage ‚Der Papst ist unfehlbar‘ zum Dogma erhoben, sondern es hat vielmehr in einer viel längeren Definition festgelegt, unter welchen Bedingungen der Papst die Lehre der Kirche auf unfehlbare Weise zum Ausdruck bringen kann. Dem Selbstverständnis des Konzils gemäß bedeutet die Aussage, dass päpstliche Definitionen ‚aus sich selbst, nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche‘ (ex sese, non autem ex consensu ecclesiae) unabänderlich seien, nicht, dass er eine Lehre isoliert von der Gemeinschaft der 35
Gemeinsamer orthodox-katholischer Arbeitskreis St. Irenäus (Hg.), Im Dienst an der Gemeinschaft. Das Verhältnis von Primat und Synodalität neu denken, Paderborn 2018. Der Verfasser ist auch Mitglied dieses Arbeitskreises. 36 Ebd., 60–65. 37 Ebd., 60–62 (Kapitel 10.1–10.6).
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Kirche definieren kann. Der Papst kann keine neue Lehre verkünden, sondern kann nur eine bereits im Glauben der Kirche (depositum fidei) verankerte Lehre genauer formulieren.“ 38
Diese Präzisierungen bezüglich eines der gewichtigsten Hindernisse für den Versöhnungsprozess der orthodoxen und katholischen Ekklesiologie räumen einerseits eine Reihe von Vorwürfen vonseiten der orthodoxen Theologen aus dem Weg, wie sie oben dargestellt und beschrieben wurden. Andererseits soll auch nicht missverstanden werden, dass durch diese willkommenen Erklärungen die Übereinstimmung der beiden Dogmen mit der Heiligen Schrift und der theologischen und kanonischen Tradition der ungeteilten Kirche des ersten Jahrtausends gesichert wäre, so wie sie die orthodoxe Theologie für das gesamte Lehrgebäude der Kirche vertritt. Die Studie hebt ebenfalls die Unvollständigkeit und die Unausgewogenheit der Ekklesiologie des Konzils hervor, auf dem der päpstliche Primat unabhängig vom Bischofsamt und vom Mysterium der Kirche als Ganzes behandelt wurde. 39 Diese Lücke versuchte das Zweite Vatikanische Konzil auszufüllen, indem die Konzilsväter die Definitionen des Ersten Vatikanischen Konzils über den päpstlichen Primat aufgegriffen und durch die Betonung der Rolle der Bischöfe ergänzt haben, um ein Gleichgewicht zwischen Primat und Synodalität herstellen zu können. 40 Die orthodoxen Theologen haben die Entscheidungen des Zweiten Vaticanums als einen positiven Schritt in Richtung Konziliarität begrüßt, jedoch als nicht weitgehend genug betrachtet, um das alte kirchliche Einheitsmodell wiederherstellen zu können. 41
6. Schlussfolgerung Am Ende dieser Reise auf den Wegen der Rezeptionsgeschichte der Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils in der rumänischen orthodoxen Theologie möchte ich die gemeinsame Feststellung der Mitglieder
38 39 40 41
Ebd., 62 f. Ebd., 64. Ebd., 73 f. Ebd., 74.
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des Arbeitskreises St. Irenäus vom Ende des historischen Teils der Studie zitieren: „Die Geschichte der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils bis in die Gegenwart zeigt, dass es diesem Konzil noch nicht ganz gelungen ist, die bestehende Neigung zu einer zu starken Zentralisierung innerhalb der katholischen Kirche auszugleichen. Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer stärkeren Synodalität haben Papst Franziskus dazu geführt, die freie synodale Beratung stärker zu betonen, vor allem durch die Anerkennung der bedeutenden Rolle von Bischofskonferenzen sowie der Bischofssynode. Zudem stellen wir fest, dass die verschiedenen autokephalen und autonomen orthodoxen Kirchen selbst ebenfalls Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Kooperation und in der konkreten Umsetzung der Synodalität haben. Somit stehen Orthodoxe und Katholiken gemeinsam vor der Herausforderung, Primat und Synodalität zu verbinden, und es wäre für beide Kirchen hilfreich und produktiv, diese Fragen gemeinsam anzugehen, um eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden.“ 42
Dieser Text zeigt, dass heute in der Katholischen Kirche entscheidende Schritte in Richtung der Stärkung der Synodalität gemacht werden, während die Orthodoxen auch die Rolle des Primats und die Ausübung der Synodalität auf panorthodoxer Ebene und ihre konkrete Umsetzung diskutieren müssen. Die misslungene panorthodoxe Ausübung der Synodalität auf der Synode von Kreta (2016) und die heutige Krise in der Ukraine (2018–2019) bilden bedeutende Herausforderungen für die orthodoxe Kirche, auch wenn sie nicht doktrinärer Art sind, wie die Dogmen der Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimats des Papstes.
42
Ebd., 74 f.
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Dorothea Sattler
Aufzuheben? Ökumenische Aspekte in der Rezeption des Ersten Vatikanischen Konzils 1. Hinführung zur Thematik Seit geraumer Zeit ist in jenen Formen der ökumenischen Bewegung, die theologische Gespräche als einen Weg zur sichtbaren Einheit der Kirchen betrachten, 1 das Bewusstsein, dass die Bestimmungen des Ersten Vatikanischen Konzils über den Jurisdiktionsprimat sowie die Infallibilität des Bischofs von Rom 2 Hindernisse darstellen, die unüberwindlich erscheinen, wenn der formulierte Wortlaut auf der Ebene der bloßen Aussage von allen Konfessionsgemeinschaften bestätigt werden müsste. Vielfältig sind die Wege, auf hermeneutischer Ebene die formulierten Bestimmungen kritisch zu reflektieren: (1) Eine der gewählten Möglichkeiten, in ökumenischen Dialogen zu anderen Einsichten zu kommen als 1
In der Charta Oecumenica, die 2001 von allen christlichen Kirchenleitungen in Europa unterzeichnet wurde, heißt es: „Wir verpflichten uns, […] in der Kraft des Heiligen Geistes auf die sichtbare Einheit der Kirche Jesu Christi in dem einen Glauben hinzuwirken, die ihren Ausdruck in der gegenseitig anerkannten Taufe und in der eucharistischen Gemeinschaft findet sowie im gemeinsamen Zeugnis und Dienst.“ (Charta Oecumenica 1). Der Text der Charta Oecumenica ist dokumentiert in: Viorel Ionita, Sarah Numico (Hg.), Charta Oecumenica. Ein Text, ein Prozess und eine Vision der Kirchen in Europa, Genf u. a. 2003. In diesem Buch sind auch viele Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Charta Oecumenica sowie zur Frühphase ihrer Rezeption zu finden. 2 Vgl. DH 3064.3074. Im Blick auf den Jurisdiktionsprimat erscheint der universale Geltungsbereich in materialer Hinsicht (Glauben, Sitten, Disziplin und Leitung) sowie in formaler Zuständigkeit (in allen Kirchen) ökumenisch anstößig. Hinsichtlich der Infallibilität wird vor allem der Anspruch, die Lehrverkündigung des Bischofs von Rom in Fragen des Glaubens und der Moral sei „ex sese, non autem ex consensu Ecclesiae“ („aus sich, nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche“) unabänderlich, kritisch kommentiert.
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das Erste Vatikanische Konzil, ist eine Betrachtung der für alle Kirchen normativen Schriftzeugnisse; in vorbildlicher Weise ist dieser Weg in den Dialogen mit den reformatorischen Traditionen beschritten worden. (2) Eine andere Vorgehensweise besteht darin, die Verbindlichkeit der Aussagen angesichts der theologischen Qualifizierung des Ereignisses im 19. Jahrhundert zu prüfen. Handelte es sich wirklich um ein Konzil, das angesichts der Traditionsgeschichte den Begriff „ökumenisch“ verdient? Dieser Weg der Betrachtung wurde vor allem in den Gesprächen mit den orthodoxen Kirchen gesucht. (3) Eine weitere Perspektive mit ökumenischer Bedeutung ergibt sich durch den Versuch, das Erste Vatikanische Konzil im Kontext der Ausführungen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verstehen. Kam es später zu einer Korrektur oder zumindest zu einer Relativierung der früheren lehramtlichen Aussagen? Solche Fragen werden insbesondere im inner-römisch-katholischen Diskurs gestellt, 3 jedoch auch in ökumenische Dialoge eingebracht. 4 (4) Über die genannten Interpretationsweisen des Ersten Vatikanischen Konzils hinaus wird im ökumenischen Zusammenhang zudem gefragt, welche spirituelle Bedeutung eine von allen Getauften anzuerkennende Ausübung des Petrusdienstes als ein öffentliches Zeugnis für den christlichen Glauben hat. Können auch reformatorische und orthodoxe Christinnen und Christen die Gestaltung dieses biblisch begründeten Amtes gutheißen, wenn diese in einer auch von ihnen kontrollierten Form geschieht? Ist somit die „via empirica“ ein Weg zur Annäherung der konfessionellen Standorte? Nach meiner Wahrnehmung lassen sich die skizzierten vier Zugänge zur Interpretation der lehramtlichen Aussagen über den Jurisdiktionsprimat sowie die Infallibilität des Bischofs von Rom mit der mehrfachen Bedeutung des Begriffs „aufheben“ gedanklich in Verbindung bringen. Zu fragen ist dann: Ist es erforderlich, den Beschlüssen des Ersten Vatika3
Vgl. die Ausführungen insbesondere von Hermann Josef Pottmeyer, der seine umfangreichen Studien über das Verhältnis zwischen dem Ersten und dem Zweiten Vatikanischen Konzil im ökumenischen Kontext verortet hat: Vgl. Hermann J. Pottmeyer, Die Rolle des Papsttums im Dritten Jahrtausend, Freiburg i. Br. 1999. Pottmeyer spricht sich im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils für eine Etablierung des „Communio-Primats“ aus. 4 Gruppe von Farfa Sabina, Gemeinschaft der Kirchen und Petrusamt. Lutherischkatholische Annäherungen, Frankfurt a. M. 2010. Hermann Josef Pottmeyer war an diesem Dialoggeschehen beteiligt.
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nischen Konzils ihre Verbindlichkeit zu nehmen (sie aufzuheben) oder gibt es auch Wege, der Zielsetzung der damaligen Äußerungen unter heute veränderten Vorzeichen Wertschätzung entgegen zu bringen (sie aufzuheben), und damit die Intention der Anliegen auf der Handlungsebene zu bewahren (sie aufzuheben)? Am Ende meiner Überlegungen werde ich eine Antwort auf diese Fragen versuchen und zur Disputation darüber einladen (5). Zuvor gebe ich einen Überblick über den Stand der ökumenischen Gespräche über das Papstamt (2), erinnere an Grundprinzipien der ökumenischen Hermeneutik (3) und reflektiere die biblischen Zeugnisse in ökumenischer Perspektive (4).
2. Zum Stand der ökumenischen Gespräche über das Papstamt Es gibt nicht erst seit 1995, als Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Ut unum sint 5 zu einem geschwisterlichen, offenen, authentischen Dialog über sein Dienstamt aufrief, Stimmen aus den Kirchen zu dieser Thematik. 6 Seitdem jedoch ist die Atmosphäre verändert: Ein Papst stellte sich selbst zur Disposition; er lud dazu ein, mit ihm über ihn nachzudenken. Viele Einzelpersönlichkeiten und Gremien haben ihm geantwortet. 7
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Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika ‚Ut unum sint‘ über den Einsatz für die Ökumene vom 25. Mai 1995 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121), Bonn 1995, besonders: 63–68. 6 Vgl. die Übersichten zu den ökumenischen Dialogen bei: Regina Radlbeck-Ossmann, Vom Papstamt zum Petrusdienst. Zur Neufassung eines ursprungsgetreuen und zukunftsfähigen Dienstes an der Einheit der Kirchen, Paderborn 2005; Dies., Ein die Einheit hindernder Einheitsdienst? Rückblick auf fünfzig Jahre Arbeit am Paradox des Papstamtes, in: Stimmen der Zeit 141 (2016), 803–812; Wolfgang Klausnitzer, Der Primat des Bischofs von Rom. Entwicklung – Dogma – Ökumenische Zukunft, Freiburg i. Br. 2004; Philipp Thull (Hg.), Papst und Ökumene – ein Widerspruch? Ökumenische Perspektiven des Papstamtes, Leipzig u. a. 2015. 7 Vgl. Wolfgang Thönissen u. a., Der Dienst des Bischofs von Rom an der Einheit der Christen. Reaktionen auf die Einladung des Papstes zum Dialog über die Form der Primatsausübung nach ‚Ut unum sint‘. Forschungsbericht, in: Catholica 55 (2001), 269–309.
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Franziskus hat es ihm gleichgetan: In Evangelii Gaudium 8 verweist er auf die entsprechende Passage von Johannes Paul II. in Ut unum sint und erneuert dessen Bitte um ein ökumenisches Nachdenken über die angemessene Ausübung seines Dienstamtes. Diese Vorgehensweise setzt das Vertrauen voraus, nur durch Kommunikation mit dem Ziel der Konsensbildung die ökumenische Zielsetzung, die sichtbare Einheit der Kirchen, erreichen zu können. Es gibt – im wörtlichen Sinn „eigen-artige“ – konfessionelle Interessen in den ökumenischen Gesprächen über das Papstamt. Es gibt nicht nur in der Ökumene die Erfahrung, dass Fragestellungen, die einstmals zu einer Trennung führten, nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Der Versuch der Legitimierung einer Entscheidung bestimmt in apologetischer Absicht dann den Duktus der Rede. Die zu Beginn der Kontroverse die Auseinandersetzung bestimmenden Themen gehen mit durch die Zeit der Dialoge: Im 11. Jahrhundert ging es im Streit zwischen Konstantinopel und Rom, zwischen Ost und West, um lokale Gebietsansprüche und rechtliche Befugnisse in Süditalien, das politisch lange Zeit unter griechischem Einfluss stand. Detailfragen der liturgischen Ordnung waren kontrovers, vor allem die Verwendung von ungesäuertem Brot in der Eucharistie. Eine bis heute anhaltende Auseinandersetzung bezieht sich auf die Frage, wer das Glaubensbekenntnis eines ökumenischen Konzils im Wortlaut verändern darf; wer entscheidet darüber, ob Gottes Geist (allein) vom Vater ausgeht, wie es biblisch bezeugt ist (vgl. Joh 15,26) und vom Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 nach Christus gelehrt wurde, oder vom Vater und dem Sohn Jesus Christus (filioque 9), wie Kaiser und Päpste meinten. Im 16. Jahrhundert, im Reformationszeitalter, waren andere Themen vorrangig: 10 Päpste erweckten beispielweise den Eindruck, über Gottes Wort zu stehen, da sie der biblisch überlieferten Weisung Jesu bei 8
Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben ‚Evangelii Gaudium‘ vom 24. November 2013 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 194), Bonn 2013, 30. 9 Vgl. dazu mit reichhaltigen Literaturhinweisen: Michael Böhnke, Bernd Oberdorfer (Hg.), Die Filioque-Kontroverse. Historische, ökumenische und dogmatische Perspektiven 1200 Jahre nach der Aachener Synode, Freiburg i. Br. 2011. 10 Vgl. Walter Fleischmann-Bisten (Hg.), Papstamt – pro und contra. Geschichtliche Entwicklungen und ökumenische Perspektiven, Göttingen 2001; Harding Meyer, Das Papstamt – ein mögliches Thema evangelischer Theologie?, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 52 (2005), 42–56. Vgl. zu den vielfältigen
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seinem letzten Abendmahl, alle mögen aus seinem Becher trinken, nicht gehorchten, den Kelch allein den Priestern vorbehielten und ihn nicht den Laien reichen ließen. Im 19. Jahrhundert haben Christinnen und Christen, die später als „altkatholisch“ oder „christkatholisch“ bezeichnet wurden, daran Anstoß genommen, dass es keinerlei Rechte des Widerspruchs mehr geben sollte für Menschen, die sich einem Urteil des Bischofs von Rom in Fragen des Glaubens, der Moral und der Disziplin nicht unterwerfen möchten. 11 Fragen der Autonomie des Subjektes, der Authentizität der Persönlichkeit, der Gewissensfreiheit waren nach der Zeit der Aufklärung in der Moderne ein Bezugspunkt der theologischen Reflexion. Die konfessionellen Sensibilitäten in der Abwehr der Lehraussagen des Ersten Vatikanischen Konzils sind in der Ökumene unterschiedlich: Die orthodoxen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner reagieren eher zurückweisend auf den Jurisdiktionsprimat, die evangelischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nehmen stärker an der Lehre von der Infallibilität des Papstes in besonderen Situationen der Lehrverkündigung Anstoß. Für orthodoxe Gesprächspartner ist das rechtliche Hoheitsgebiet jedes Patriarchen zu schützen. Das Modell der Pentarchie sieht zwar einen Ehrenprimat des Bischofs von West-Rom vor; dieser bezieht sich jedoch nicht auf Bereiche der Jurisdiktion in fremden Territorien. Dialogpartner und Dialogpartnerinnen aus reformatorischen Traditionen widersprechen vor allem der Vorstellung, dass eine theologische Lehre aufgrund eines päpstlichen Lehrentscheids in Zukunft nicht mehr der kritischen Prüfung durch das Wort Gottes unterstehen könnte. Immer wieder hat dies aus evangelischer Sicht zu geschehen – und zwar nicht nur durch eine einzige Person, die sich auf ihr Amt berufen kann. Nach reformatorischer Auffassung ist zu jeder Zeit eine „irreduzible Subjektpluralität“ in Prozessen der Erkenntnis der Wahrheit zu garantieren. Eine Person allein kann sich in der Konsequenz nicht auf den Beistand des Heiligen Geistes bei infalliblen Lehrentscheiden berufen, wie dies die Lehrtexte des Ersten Vatikanischen Konzils voraussetzen.
Bezügen von Wolfhart Pannenberg zu dieser Thematik: Gunther Wenz (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017. 11 Vgl. Papstamt und römisch-katholischer – altkatholischer Dialog, in: Internationale kirchliche Zeitschrift 100 (2010/1.2).
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Die Römisch-katholische Kirche hat nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das die Lehren des Ersten Vatikanischen Konzils weithin bestätigte, den Papst jedoch deutlicher in die Kollegialität der Bischöfe weltweit eingebunden hat, vor allem mit der Anglikanischen Kirchengemeinschaft 12, mit den Orthodoxen Kirchen 13 und dem Lutherischen Weltbund 14 Dialoge über das Papstamt geführt, die noch andauern.
3. Hermeneutische Überlegungen in der Ökumene Jede Konfessionsfamilie, die heute in einen Dialog mit dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen über das Amt des Bischofs von Rom tritt, steht in einer eigenen Tradition der Verletzung und der Irritation. Niemand ist frei von Vorverständnissen. Jeder und jede, der
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Die Anglikanische Kirchengemeinschaft ist bereits in den 70er Jahren deutliche Schritte auf die römisch-katholische Lehrposition zugegangen, ohne dafür entsprechende Anerkenntnis gefunden zu haben. Das jüngste Dokument mit dem Originaltitel „The Gift of Authority“ spiegelt nach Jahren der Selbstbesinnung die nachhaltige Bereitschaft von anglikanischer Seite, dem eingeschlagenen Weg zu folgen: Vgl. Die Gabe der Autorität. Eine gemeinsame Erklärung der Anglikanisch / Römischkatholischen Internationalen Kommission, in: Harding Meyer u. a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung 3, Frankfurt a. M. 2003, 262–289. 13 Vgl. Gemeinsame Internationale Kommission für den Dialog zwischen der Römisch-katholischen Kirche und der Orthodoxen Kirche, Ekklesiologische und kanonische Konsequenzen der sakramentalen Natur der Kirche. Kirchliche Communio, Konziliarität und Autorität (2007), in: Johannes Oeldemann u. a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung 4, Leipzig 2012, 833–845. Vgl. dazu: Georgios D. Martzelos, Einheit und Katholizität der Kirche im theologischen Dialog zwischen der Orthodoxen und der Römisch-katholischen Kirche auf der Basis der Dokumente von München (1980), Bari (1987), Neu Valamo (1988) und Ravenna (2007), in: Orthodoxes Forum 23 (2009), 39–51. Vgl. für den Stand der Gespräche mit den Orientalisch-Orthodoxen Kirchen: Internationale Gemeinsame Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Katholischen Kirche und den Orientalisch-Orthodoxen Kirchen, Wesen, Verfassung und Sendung der Kirche (2009), in: Johannes Oeldemann u. a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung 4, Leipzig 2012, 849–867. 14 Vgl. Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch – katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017, Leipzig 42016.
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und die die ökumenische Gesprächssituation verlässt, muss sich nicht selten vor anderen Theologinnen und Theologen aus der eigenen Tradition rechtfertigen, warum es denn hat sein können, so viele Zugeständnisse gemacht zu haben. Die Begegnungen in den Dialogen verändern nur die, die an ihnen teilnehmen. Die ausbleibende Rezeption der erreichten ökumenischen Konvergenzen ist eine der größten Belastungen in der Ökumene der Gegenwart. 15 Es ist naheliegend, dass im Kontext der christlichen ökumenischen Bewegung unter dem Vorzeichen der Suche nach Annäherungen von Beginn an schrifthermeneutische Studien erarbeitet worden sind. Auf multilateraler und internationaler Ebene war in diesem Zusammenhang insbesondere die „Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung“ (Faith and Order) federführend. 16 Auf bilateraler und nationaler Ebene hat die mehrbändige Studie „Verbindliches Zeugnis“ des Ökumenischen Arbeitskreises Katholischer und Evangelischer Theologen vorausgehende Studien gesichtet und eigene Perspektiven aufgezeigt. 17 In den ganz unterschiedlich motivierten ökumenischen Dialogen über den Petrusdienst bietet die beständige, nie aufzugebende Bemühung um eine gemeinsame Schrifthermeneutik aus meiner Sicht die einzige Aussicht, die in den unterschiedlichen Traditionen geformten Vorverständnisse einer kritischen Überprüfung mit dem Ziel der weiteren Konsensbildung zu unterziehen. Auf Gottes Wort wollen alle Christinnen und Christen hören. Offen ist die Frage, ob sich aus der Schrift allein Gewissheit über Gottes Weisung in einer spezifischen Thematik gewinnen lässt. Aus der Fülle möglicher Themenaspekte möchte ich für den Fortgang einen wählen, der mit der Thematik „Petrusdienst“ in engerem Zusammenhang steht: die Thematik der verbindlichen (lehramtlichen) Schriftauslegung. 15
Seit einigen Jahren ist das Bemühen zu erkennen, die bisherigen Ergebnisse der ökumenischen Dialoge zu bündeln. Dies dient auch der noch ausstehenden lehramtlichen Rezeption der erreichten Konvergenzen. Vgl. dazu exemplarisch: Walter Kasper, Die Früchte ernten. Grundlagen christlichen Glaubens im ökumenischen Dialog, Paderborn 2011. 16 Vgl. Matthias Haudel, Die Bibel und die Einheit der Kirchen. Eine Untersuchung der Studien von ‚Glauben und Kirchenverfassung‘, Göttingen 21995. 17 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Theodor Schneider (Hg.) Verbindliches Zeugnis 1–3, Göttingen 1992–1998.
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Der in nahezu allen Dialogen erkennbare Hauptgegenstand der verbliebenen konfessionellen Kontroversen um den Petrusdienst ist die römisch-katholische Lehre von der Möglichkeit unfehlbarer Lehrentscheide. Doch sind auch in diesem Bereich Annäherungen der Standorte unverkennbar: Die an den Gesprächen beteiligten römisch-katholischen Theologen binden diese Lehre in die Überzeugung von der Gegenwart des Geistes in der Gesamtheit der Glaubensgemeinschaft ein, die beim Geschehen der Rezeption verbindlicher Lehren deren Schriftgemäßheit zu prüfen hat, und sie weisen auf die Bruchstückhaftigkeit der Erkenntnis und die Vorläufigkeit ihrer geschichtlich bedingten Aussagegestalt hin. Die Kirchen in reformatorischer Tradition gestehen zu, dass auch sie die Notwendigkeit verbindlichen kirchlichen Lehrens anerkennen, jede konkrete Lehrgestalt jedoch zu jeder Zeit dem kritischen Maßstab der Schriftgemäßheit unterliegt. Perspektiven für eine weitergehende Verständigung über die „Unfehlbarkeit“ einzelner Lehren könnten sich durch eine Bezugnahme auf die auch in den reformatorischen Kirchen vertretene Auffassung von der in Gottes Wirken selbst begründeten Gewissheit seines Heilswillens ergeben. Bei all diesen Überlegungen erscheint mir eine Erkenntnis im ökumenischen Kontext heute leitend: In den unterschiedlichen, von Menschen verfassten, geschichtlich-situierten und daher (auch) mit den Methoden der historischen Kritik auszulegenden alt- und neutestamentlichen Zeugnissen spricht der eine Gott sein wirksames Wort. Die biblischen Quellen sind material suffizient. Daher gilt das Prinzip, dass Menschen „sola scriptura“ Gottes Wahrheit erkennen, auch aus römisch-katholischer Perspektive. Es gibt keine inhaltliche göttliche Offenbarung über das Zeugnis der biblischen Schriften hinaus. Dann bleibt die Frage, wer feststellt, was der für die Verkündigung des von Gott geschenkten Heils der Menschen notwendig festzuhaltende Gehalt der Schrift ist. Kann eine Antwort auf diese Frage auch ohne Schriftauslegung gegeben werden? Ist die Heilige Schrift ihr eigener Interpret? Gibt es eine „Klarheit der Schrift“ in sich, die jedem Subjekt autoritativ gegenübertritt (claritas externa), oder kann es nur eine „Klarheit der Schrift“ für jede einzelne, die Schrift interpretierende Persönlichkeit geben (claritas interna)? Gibt es spezifische thematische Bereiche, in denen es eine aus der biblischen Schrift selbst entspringende „claritas externa“ geben könnte? Möglicherweise besteht bei einer ökumenisch verantworteten Ermitt-
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lung solcher Inhalte die größte Aussicht auf ökumenisches Einvernehmen in Fragen der Sozialethik, also bei der Suche nach Gerechtigkeit in der Gesellschaft, in der Achtung der Armen, der Witwen und Waisen. Meine ökumenische Erfahrung zeigt, dass es bei jenen Fragen, die die institutionelle Gestalt der Kirchen betreffen, eine nur geringe Wahrscheinlichkeit gibt, auf der Basis der biblischen Schriften zu einer Verständigung zu finden. Diese Wahrnehmung betrifft allerdings nicht nur den ökumenischen Diskurs. Auch in den inner-konfessionellen Differenzen sind einzelne Aspekte der Ämterlehren auf einer allein wissenschaftlich orientierten Ebene oft nicht zielführend, Einvernehmen erreichend zu bedenken. Bezogene Standorte werden leider nur selten aus argumentativen Gründen verlassen.
4. Bibeltheologische Auskünfte zum Petrusdienst Es wird auch in Zukunft nicht leicht sein, auf der Basis der biblischen Zeugnisse zu einer Verständigung über eine angemessene Gestaltung des Petrusdienstes in den Kirchen im Sinne Gottes zu finden. Trotz aller Bedenken erscheint mir ein diesbezüglicher Versuch als eine ökumenische Herausforderung alternativlos zu sein. Dabei gilt es, die exegetischen Erkenntnisse zur Kenntnis zu nehmen und auf konfessionelle Eigenarten in der Rezeption der Schriftzeugnisse zu achten.
4.1 Die biblische Petrus-Überlieferung Für die biblische Überlieferung über Person und Wirken von Petrus gilt, was für jede Schriftaussage gilt: Die mündliche Tradition geht dem Wortlaut der biblischen Zeugnisse voraus. Es gab Menschen in den ersten christlichen Gemeinden, die Petrus kannten oder zumindest von ihm wussten. Es wurde damals wohl viel von ihm erzählt. Er war ein treuer Jünger Jesu, auch ein Verräter und am Ende seines Lebens ein Blutzeuge für Jesus Christus. Stilisierungen der Geschehnisse sind in den biblischen Schriften vorgenommen worden. Die mühsame Unterscheidung zwischen Historie und Überlieferung, zwischen Wahrheit und Mythos ist zu leisten. Eine solche Differenzierung gehört zum Aufgabenbereich der exegetischen Wissenschaft. Der in den biblischen Schriften überlieferte
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Wortlaut (auch) bei der Petrusüberlieferung sagt möglicherweise mehr über die Situation der Gemeinden, die die Worte überliefert haben, als über den irdischen Petrus. Es dient der ökumenischen Aufgabe, wenn Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftler es nicht allein der Systematischen Theologie überlassen, zwischen der Genese und der Geltung von Schriftzeugnissen zu unterscheiden. Als sehr hilfreich erfahre ich bibeltheologische Auskünfte, die in der Vielgestalt der Einzelaussagen gemeinsame Intentionen offenlegen, die nur durch Kenntnis des Entstehungskontextes verstehbar werden. Es gibt nur wenige gesicherte Kenntnisse über den irdischen Petrus, der in den biblischen Schriften als eine schillernde Persönlichkeit dargestellt wird: ängstlich, zweifelnd und siegesgewiss auf der einen Seite, zuverlässig, einsichtig und einsatzfreudig auf der anderen Seite. Folgende Auskünfte über Petrus halte ich im ökumenischen Kontext für hilfreich und – im Maße der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten – für weithin durch historische Forschungen gesichert: Simon, später Petrus genannt, stammte aus Betsaida an der Nordseite des Sees von Genesaret. Vermutlich gehörte Simon mit seiner Familie zu den zweisprachigen Gräkopalästinern. Er sprach aramäisch und verstand auch griechisch. Vermutlich hatte Simon Kontakt zu Johannes dem Täufer oder zumindest zu einzelnen Juden in seiner Anhängerschaft. Religiöser Eifer und die Hoffnung auf einen Neubeginn für das damalige Israel hat ihn innerlich mit den Anliegen Jesu verbunden. Die exegetische Forschung geht davon aus, dass Simon nach seiner Heirat in das nahegelegene Karfanaum übersiedelte und dort im Fischereibetrieb seiner Frau tätig war. Dieser wohl sehr große Betrieb erlaubte es ihm, längere Zeit selbst abwesend zu sein. Die Frau des Simon begleitet ihn nach dem Tod Jesu bei seinen Missionsreisen (vgl. 1 Kor 9,5). Wie oft und wie lange Simon Jesus vor seinem Tod auf seinen Wanderungen begleitete, ist nicht bekannt. Anzunehmen ist jedoch, dass Jesus im Haus des Simon in Karfanaum immer wieder Unterkunft fand. Archäologische Studien haben dort einen Ort nachgewiesen, der in früher Zeit als Versammlungsort der Christinnen und Christen diente. Wie kaum an einem anderen Ort scheint gesichert zu sein, dass Jesus sich in Karfanaum längere Zeit aufhielt. Die Spuren des Lebens des irdischen Simon Petrus verlieren sich zunehmend im Blick auf seine letzten Lebensjahre. Zumeist wird angenommen, dass er – wie auch Paulus – in Rom das Martyrium erlitten hat. Detailfragen werden diesbezüglich noch immer
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von der Forschung kontrovers beantwortet. Die alleinige Gemeindeleitung von Rom hatte Petrus wohl niemals inne, da dort für diese Zeit eine kollegiale Amtsstruktur in den Quellen belegt ist. Auch von theologischer Bedeutung erweisen sich nachhaltig die frühen Formen der Verehrung der Gräber von Paulus und Petrus in Rom.
4.2 Aufmerksamkeit auf konfessionelle Interessen bei der Schriftauslegung Die ökumenische Suche nach Konvergenzen und die Beachtung von Differenzen in der Schriftauslegung betreffen auch die Wahrnehmung der Person des Petrus: Zu den wichtigsten Themenkreisen, nach denen sich die Petrusüberlieferung ordnen lässt, gehören: (1) Erzählungen von seiner Berufung noch mit Namen Simon zusammen mit seinem Bruder Andreas (vgl. Mk 1,16 f. parr.) und seiner (vorausgehenden) Tätigkeit als Fischer; der Fischfang bleibt eine wichtige Bildquelle für die Verkündigung Jesu; (2) Erzählungen vom Leben Jesu in der Nähe der Familie des Petrus in Karfanaum (vgl. Mk 1,29–31); (3) Erzählungen von seinem Widerstand gegen den Leidensweg Jesu und seinem inneren Ringen um gläubiges Vertrauen und Einverständnis mit Jesu Weg nach Jerusalem (vgl. Mk 8,31–33 u. ö.); (4) Erzählungen, in denen Petrus als der Wortführer der Apostel auftritt und von Jesus eine besondere Beauftragung erfährt (vgl. Mt 16,13–20); (5) Erzählungen im Kontext der Passionsgeschichte (mit Abendmahl, Gefangennahme und Verleugnung: vgl. Joh 13,1–11; Mt 26); (6) Erzählungen von den Erscheinungen des auferstandenen Jesus am leeren Grab und nach der Rückkehr nach Galiläa (vgl. 1 Kor 15,5; Joh 20 f.); (7) Erzählungen von der geistbegabten Verkündigung des Petrus nach dem Pfingstereignis (vgl. Apg 2); (8) Erzählungen von den Missionsreisen des Petrus und seinem Taufhandeln (vgl. Apg 4 f.; 8; 10 f.); (9) Erzählungen von den Bemühungen des Petrus um einen Kompromiss in der Frage der Heidenmission (vgl. Gal 2; Apg 15); (10) zwei Briefe mit vorrangig paränetisch-eschatologischem Gehalt (1 und 2 Petr). Es ist zwischen den Konfessionen unbestritten, dass Petrus in den neutestamentlichen Schriften in vielfachen Kontexten hohe Aufmerksamkeit erfährt. Evangelische Exegeten betonen in der Regel die exemplarische Bedeutung des Petrus für alle Jüngerinnen und Jünger Jesu, die von Zweifeln angefochten sind und um Vertrauen in Jesus Christus ringen. In
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ökumenischen Gesprächen findet eine Beobachtung immer wieder Beachtung: Es gibt in den neutestamentlichen Zeugnissen keinen Hinweis darauf, dass Simon Petrus einen einzelnen, namentlich bekannten Nachfolger hatte. Dennoch könnte es sinnvoll sein, ein ihm entsprechendes Amt in der Kirche einzurichten, das dann jedoch hinsichtlich seiner spezifischen Aufgaben näher zu bestimmen wäre. Die erforderliche Einbindung des personal verantworteten Petrusdienstes in kollegiale Strukturen gilt auf der Grundlage der biblischen Schriften heute als unabdingbar. In Rückbindung an die neutestamentliche Überlieferung ist dabei ein breites Handlungsfeld für die Nachfolger des Petrus zu denken: Er war missionarisch, heilend, lehrend, disziplinierend, versöhnend und leitend tätig. Die traditionsgeschichtlichen Festlegungen im Verständnis des Petrusdienstes haben bereits in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten begonnen. Offenkundig war es in diesen Zeiten der äußeren und der inneren Auseinandersetzungen wichtig, sich auf unbestrittene Autoritäten zu berufen. Zunächst waren dies die Apostel in ihrer Gesamtheit, die später angesichts angenommener Reisetätigkeiten zunehmend lokal differenziert wurden. Im Blick auf Rom begründete das Doppelmartyrium von Petrus und Paulus eine besondere Autorität dieser Stadtgemeinde. Hinzu kam, dass Rom Hauptstadt des weströmischen Reiches war. Mit Bezug auf sehr frühe Quellen lässt sich zeigen, dass vom 2. Jahrhundert an die Gemeinde von Rom eine besondere Rolle innerhalb der Christenheit innehatte. Die Idee einer ununterbrochenen Reihe der Besetzungen des Amtes eines einzelnen Bischofs von Rom festigte sich im 3. Jahrhundert weithin aus apologetischen Motiven.
5. Schlussreflexionen Was folgt aus den Gedanken, die in ökumenischen Kontexten in den zurückliegenden Jahrzehnten unter hohem Einsatz vieler Personen formuliert worden sind? Meine erste Antwort auf diese Frage ist: Wir schulden in der Ökumene einander Dank. Allein die Tatsache, dass es im multilateralen wie vor allem im bilateralen ökumenischen Dialoggeschehen eine noch immer andauernde Bemühung um eine Verständigung über die Begründung und die Gestaltung des Papstamtes gibt, ist nicht selbst-
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verständlich. Viele Menschen haben ihre Lebenszeit und Lebenskraft geschenkt, um eine Antwort auf die offenen Fragen zu geben. Sind die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils über den Jurisdiktionsprimat sowie die Infallibilität des Bischofs von Rom „aufzuheben“? In Aufnahme der hier in der Hinführung erläuterten Differenzierung dieser Begrifflichkeit möchte ich für einen Versuch votieren, die jeweils berechtigten Anliegen bei der Handlungsintention „aufheben“ miteinander in einen fruchtbaren Austausch zu bringen. Konkret könnte dies bedeuten: Es bedarf auf ekklesiologischer Ebene einer Unterscheidung zwischen dem Geltungsanspruch der sieben Ökumenischen Konzilien im ersten christlichen Jahrtausend und der Verbindlichkeit aller späteren synodalen Versammlungen in konfessioneller Verantwortung. Die gemeinsame Rückbesinnung auf die soteriologischen und trinitätstheologischen Anliegen der Ökumenischen Konzilien im ersten Jahrtausend kann ein Leitbild sein für die ökumenische Suche nach gemeinsamen Überzeugungen heute. Wie damals steht die gesamte Christenheit auch heute wieder vor der Herausforderung, das eigene Bekenntnis argumentativ im Kontext von religiösen und philosophischen Gegenreden zu begründen. Eine (auf formaler Ebene) geschehende „Aufhebung“ (Preisgabe) des universalen Geltungsanspruchs des Ersten Vatikanischen Konzils könnte die Wege bereiten für eine gemeinsame Bemühung um das Zeugnis für Jesus Christus in der Welt von heute. Gespräche sind dann wichtig – Gespräche unter den leitenden Verantwortlichen in allen Konfessionen von gleich zu gleich. Eine Begrenzung des Verbindlichkeitsanspruchs des Ersten Vatikanischen Konzils könnte dazu führen, dass die Mitte des christlichen Bekenntnisses, für die im ersten Jahrtausend mit Worten und mit dem gesamten Lebenseinsatz bis zum Martyrium gestritten wurde, als ökumenische Grundlage wieder neu als vertrauenswürdig erscheint. Aus meiner Sicht steht es keineswegs im Widerspruch zu einer möglichen Entscheidung auf ökumenischer Ebene, in formaler Hinsicht den Geltungsanspruch der Konzile des 2. Jahrtausend zu begrenzen, wenn dabei von einer „Aufhebung“ (Erhöhung) – im Sinne einer Präzisierung der leitenden soteriologischen Anliegen des Ersten Vatikanischen Konzils – gesprochen wird. „Erhöht“ werden ekklesiologische Aussagen immer durch ihren Bezug zur Gotteslehre und spezifisch zur Christologie. Es erscheint mir wichtig, die ekklesiologischen Anliegen des Ersten Vatika-
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nischen Konzils in enger Verbindung mit den Herausforderungen im Zeugnis für Gott im ausgehenden 19. Jahrhundert zu betrachten; daher ist es erforderlich, alle Dokumente des Ersten Vatikanischen Konzils in ihrem theologiegeschichtlichen Kontext zu achten: Angesichts der sich formierenden Religionskritik erschien es in dieser Zeit wichtig, den religiösen Wahrheitsanspruch auch personell zu verorten. In diesem Sinne gilt: Wer „aufhebt“, wechselt die Ebene: Aus einem Anspruch wird ein Versprechen. Der Anspruch des Bischofs von Rom, „ex sese“ („aus sich heraus“) „unfehlbar“ den Glauben zu lehren, kann als ein Versprechen, den ohnehin bestehenden, vorausgesetzten Glauben der Gesamtkirche in gefährdeter Zeit öffentlich zu bekennen, ökumenische Wertschätzung erfahren. Müssen wir wirklich in der ökumenischen Gemeinschaft annehmen, dass es im Widerspruch zur Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils steht, wenn sich ein Bischof von Rom in einem kollegialen und synodalen Kontext bei seinem Handeln beraten lässt? „Aufheben“ (bewahren) lassen sich die Aussagen des Ersten Vatikanischen Konzils nur, wenn auch zukünftig dem Bischof von Rom Wertschätzung entgegengebracht wird. Eine solche kann er sich durch sein Handeln erwirken. Offenkundig geschieht dies in unseren Zeiten. Die Zustimmung insbesondere zu den Bemühungen von Papst Franziskus, das christliche Evangelium in den sozialen Kontexten weltweit zu verorten, ist in allen Konfessionen groß. Die Formulierungen in den Lehrtexten des Ersten Vatikanischen Konzils legen den Bischof von Rom nicht fest darauf, sich Rat und Hilfe zu holen in der weltweiten Christenheit. Jede mit Gottes Geist begabte Persönlichkeit wird ein solches Vorgehen jedoch bevorzugen. Eine diesbezügliche Selbstverpflichtung könnte vom Papst formuliert werden. Eine synodale Ordnung der Kirche und auf sie bezogen eine Gestaltung des Petrusdienstes ist nachweislich im Sinne des gegenwärtigen Bischofs von Rom, der sich anlässlich des 50-jährigen Gedenkens der Einrichtung der Weltbischofssynode (1965 im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils) im Jahr 2015 für die Gestalt einer „Synodalen Kirche“ ausgesprochen hat. 18 Für die Ökumene
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„Eine synodale Kirche ist eine Kirche des Zuhörens“ – so lautet ein Gedanke, den Papst Franziskus anlässlich der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Weltbischofssynode im Oktober 2015 formuliert hat: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz
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wäre es wichtig, wenn diese Perspektive konkretere Gestalt annehmen könnte – unter Berücksichtigung der unterschiedlichen christlichen Konfessionen sowie der Frauen und Männer in den jeweiligen Kirchen.
(Hg.), Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute (Arbeitshilfe 276), Bonn 2015, 27.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Florian Baab, Dr. theol., Dr. phil., ist Akademischer Rat a. Z. und derzeit Lehrstuhlvertreter am Seminar für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Mariano Barbato, Dr. phil., ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau und Heisenberg-Stipendiat am Centrum für Religion und Moderne der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Christian Bauer, Dr. theol., ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Daniel Benga, Dr. theol., ist Professor für Liturgik, Patrologie und Alte Kirchengeschichte an der Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe Theologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Georg Bier, Dr. theol., Lic. iur. can., ist Professor für Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Bernhard Fresacher, Dr. theol., ist Titularprofessor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und bildungs- und kulturpolitisch im Katholischen Büro Mainz – Kommissariat der Bischöfe Rheinland-Pfalz tätig. Benedikt Paul Göcke, Dr. phil., Dr. theol., ist Professor für Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und assoziiertes Mitglied der Faculty for Theology and Religion an der Universität Oxford. Hans-Joachim Höhn, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie am Institut für Katholische Theologie der Universität zu Köln.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Anne Käfer, Dr. theol., ist Professorin für Systematische Theologie und Direktorin des Seminars für Reformierte Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Julia Knop, Dr. theol., ist Professorin für Dogmatik an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Erfurt. Andreas Krebs, Dr. phil., ist Professor für Alt-Katholische und Ökumenische Theologie und Direktor des Alt-Katholischen Seminars der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Johanna Rahner, Dr. theol., ist Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Dorothea Sattler, Dr. theol., ist Professorin für Dogmatik und Ökumenische Theologie und Direktorin des Ökumenischen Instituts an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Klaus Schatz SJ, Dr. hist. eccl., ist Professor emeritus für Kirchengeschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Thomas Schüller, Dr. theol., Lic. iur. can., ist Professor für Kirchenrecht und Direktor des Instituts für Kanonisches Recht an der KatholischTheologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ursula Schumacher, Dr. theol., ist Professorin für Katholische Theologie und Religionspädagogik, Schwerpunkt Dogmatik und ihre Didaktik, am Institut für Katholische Theologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Michael Seewald, Dr. theol., ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Über den Inhalt: Das Erste Vatikanische Konzil, das von der römisch-katholischen Kirche als das 20. Ökumenische Konzil angesehen wird, wurde am 8. Dezember 1869 eröffnet und prägt die katholische Kirche bis heute. Theologinnen und Theologen unterschiedlicher Generationen, Disziplinen und Konfessionen ziehen 150 Jahre danach eine kritische Zwischenbilanz.
Über die Herausgeber: Prof. Dr. Julia Knop lehrt Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Prof. Dr. Michael Seewald lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Umschlagabbildung: Eröffnung des Ersten Vatikanischen Konzils am 8. 12. 1869. Stich aus dem Jahr 1871. © akg-images/Album/Documenta Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim