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German Pages 333 Year 2003
THORSTEN B A U E R
Die produktübergreifende Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 909
Die produktübergreifende Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Zugleich ein Beitrag zur Prozeduralisierung des Rechts
Von
Thorsten Bauer
Duncker & Humblot • Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Sommersemester 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428- 11020-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im August 2001 fertiggestellt. Rechtsprechung und Literatur fanden bis zu diesem Zeitpunkt Berücksichtigung. Später erschienene Neuauflagen der verwendeten Literatur wurden vor der Veröffentlichung eingearbeitet. Ohne vielfältige Förderung wäre meine Untersuchung, die vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin im Sommersemester 2002 als Dissertation angenommen wurde, nicht möglich gewesen. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Christian Pestalozza, danke ich sehr für stete Unterstützung, wertvolle Gespräche und unerschöpfliche Toleranz. Daneben gehört mein Dank Herrn Professor Dr. Jochem Schmitt und dem Vizepräsidenten des Landesarbeitsgerichts Berlin, Herrn Professor Dr. ClaasHinrich Germelmann, die mir halfen, ein arbeitsrechtliches Projekt auf den Weg zu bringen, aus dessen Vorfrage sich später die vorliegende, öffentlichrechtliche Arbeit entwickelte. A m Lehrstuhl von Herrn Professor Dr. Jochem Schmitt fand ich überdies als wissenschaftlicher Mitarbeiter großen Freiraum, um mein Promotionsvorhaben voranzubringen. Herrn Professor Dr. Helmut Lecheler danke ich für die Erstellung des zweiten Gutachtens. Mein besonderer Dank gilt der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mir im Rahmen eines Promotionsstipendiums großzügig finanzielle und ideelle Hilfe leistete, und dem Deutschen Bundestag, der sich maßgeblich an den Druckkosten beteiligte. Dankbar bin ich schließlich allen Freunden, die mein Vorhaben mit offenem Ohr sowie mit Rat und Tat begleiteten. Ich widme dieses Buch meinen Eltern, denen ich weit mehr als die Unterstützung meiner Promotion verdanke. Berlin, im Sommer 2002
Thorsten Bauer
Inhaltsübersicht Einleitung
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1. Kapitel Analyse des Vorgefundenen § 1 Grundbegriffe und thematische Eingrenzung A. Auf Einzelprodukte beschränkte Fragestellungen B. Thema der Arbeit: Eine produktübergreifende Bindungsfrage C. Maßstabsbezogene Fragestellungen § 2 Analyse des Meinungsspektrums A. Das Meinungsspektrum B. Innenperspektive: Eine teleologische Analyse C. Außenperspektive: Eine Rechtsgrundlagenanalyse
23 23 23 24 25 26 26 44 61
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen 92 A. Funktionsaussagen des Grundgesetzes 92 B. Funktionsdiskussion bei der Kontrollfrage 100 C. Gegenszenario: Verfassungsauslegung als Aufgabe zur gleichberechtigten gemeinsamen Erledigung 113 2. Kapitel Entwicklung einer prozeduralen Bindung
116
§ 4 Ausflug zu den Metaebenen des Rechts 116 A. Die Prozeduralisierung des Rechts 116 B. Entwicklung eines diskursiven Funktionsverhältnisses von Verfassungsgericht und Gesetzgeber 167 § 5 Rückkehr von den Metaebenen des Rechts zur produktübergreifenden Bindungsfrage A. Vorüberlegungen B. Negative Forderung: Ausschluß einer ergebnisbezogenen Bindung .. . C. Positive Forderung: Ausgestaltung einer vorgangsbezogenen Bindung D. Wiederaufnahme der Rechtsgrundlagen E. Vorgangsbezogene Bindung und äußeres Gesetzgebungsverfahren . . . . F. Exkurs: Argumentationspflicht auch des Bundesverfassungsgerichts . . .
205 206 208 210 221 235 238
8
Inhaltsübersicht
3. Kapitel Entwicklung einer prozeduralen Bindungskontrolle
240
§ 6 Was noch fehlt 240 A. Vorbereitende Begriffsbildung: Grundformen des Kontrollmodus 241 B. Vorbereitende These: Überlagerung von Aussagen zur Handlungsanweisung und Aussagen zum Kontrollmodus 243 § 7 Ausflug in das Verwaltungsrecht: Entkopplung von Verfahrensrecht und Kontrollmodus 244 A. Das formelle Verfahrensrecht als Diener 245 B. Materielles Verfahrensrecht und Kontrollmodus 250 C. Wiederaufnahme des formellen Verfahrensrechts 278 D. Übertragbarkeit der entwickelten Dogmatik auf Finalprogramme 286 E. Fazit: Entkopplung ermöglicht Übersetzungsregel und Neuanfang . . . . 288 § 8 Rückkehr vom Verwaltungsrecht zur produktübergreifenden Bindungsfrage 291 A. Drohende Mißverständnisse zwischen einer gerichtsfixierten Dogmatik und der diskursiven Bindung 291 B. Festlegung eines Kontrollmodus für die diskursive Bindung
294
Schluß
303
Literaturverzeichnis
305
Sach- und Personenverzeichnis
324
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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1. Kapitel Analyse des Vorgefundenen § 1 Grundbegriffe und thematische Eingrenzung A. Auf Einzelprodukte beschränkte Fragestellungen B. Thema der Arbeit: Eine produktübergreifende Bindungsfrage C. Maßstabsbezogene Fragestellungen § 2 Analyse des Meinungsspektrums A. Das Meinungsspektrum I. Drei Bindungskonzepte in Ergebnisskizzen 1. Erstes Bindungskonzept: Verbot von Normen, die verworfenen Normen ähneln 2. Zweites Bindungskonzept: Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen 3. Drittes Bindungskonzept: Verbot der Brüskierung des Verfassungsgerichts II. Drei Ebenen zur Verortung der Bindungskonzepte 1. Ergebnisbezogene oder vorgangsbezogene Bindung 2. Verfahrensgegenstandsabhängige oder verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung 3. Produktübergreifende oder auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkte Bindung III. Zusammenfassung B. Innenperspektive: Eine teleologische Analyse I. Erste teleologische Analyse: Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen 1. Das teleologische Kriterium 2. Überprüfung des Bindungskonzeptes anhand des Kriteriums . . a) Beschränkung auf tragende Entscheidungsgründe b) Anerkennung zeitlicher Grenzen c) Keine Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts (1) Der Zusammenhang zwischen Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts und Fremdbindung des Gesetzgebers
23 23 23 24 25 26 26 27 27 29 31 34 35 36 42 44 44 46 46 48 48 49 50
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nsverzeichnis
(2) Möglichkeiten einer Änderung der Fremdbindung mit Blick auf die fehlende Selbstbindung II. Zweite teleologische Analyse: Verbot von Normen, die verworfenen Normen ähneln III. Dritte teleologische Analyse: Verbot der Brüskierung des Verfassungsgerichts 1. Das teleologische Kriterium 2. Überprüfung des Bindungskonzeptes anhand des Kriteriums . . IV. Fazit: Ein Argument gegen die ergebnisbezogenen Bindungskonzepte C. Außenperspektive: Eine Rechtsgrundlagenanalyse I. These: Rechtsgrundlagen verlangen ein „Mitbringsel" II. Analyse der materiellen Rechtskraft 1. Materielle Rechtskraft und Bundesverfassungsgericht 2. Subjektive Reichweite der materiellen Rechtskraft 3. Objektive Reichweite der materiellen Rechtskraft a) Eine Rechtskraftdogmatik, deren Aussagen auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleiben b) Eine produktübergreifende Rechtskraftdogmatik (1) Änderungen am Begriff des Streitgegenstandes (2) Änderungen an der Rechtsfolge der materiellen Rechtskraft c) Zirkelschluß zwischen Rechtskraftdogmatik und Rechtskraftaussage d) Das Anliegen der materiellen Rechtskraft als Kriterium . . e) Entscheidungskriterium jenseits der materiellen Rechtskraft III. Analyse der Gesetzeskraft 1. Subjektive Reichweite der Gesetzeskraft 2. Objektive Reichweite der Gesetzeskraft 3. Entscheidungskriterium jenseits der Gesetzeskraft IV. Analyse des Art. 20 Abs. 3 GG V. Analyse der Verfassungsorgantreue VI. Auswertung der Rechtsgrundlagenanalyse 1. Das „Mitbringsel": Aussage zum produktübergreifenden Funktionsverhältnis 2. Die Nachrangigkeit einfachgesetzlicher Rechtsgrundlagen . . . 3. Fazit: Die entscheidende Frage nach dem Funktionsverhältnis § 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen A. Funktionsaussagen des Grundgesetzes I. Auf Einzelprodukte bezogenes Letztentscheidungsrecht II. Produktübergreifendes Letztentscheidungsrecht? III. Maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht?
54 56 58 58 59 61 61 61 62 62 63 65 65 68 69 72 73 75 77 79 79 81 83 84 87 88 88 89 91 92 92 92 93 94
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IV. Zwischenstand V. Analogie zur grundgesetzlichen Funktionsaussage? B. Funktionsdiskussion bei der Kontrollfrage I. Analyse der vorgefundenen Argumentformen 1. Das erkenntnistheoretische Argument a) Trennbarkeit von Rechtsanwendung und Politik b) Untrennbarkeit von Rechtsan wendung und Politik 2. Das funktionellrechtliche Argument II. Auswertung der Analyse C. Gegenszenario: Verfassungsauslegung als Aufgabe zur gleichberechtigten gemeinsamen Erledigung
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97 99 100 101 101 101 104 106 110 113
2. Kapitel Entwicklung einer prozeduralen Bindung § 4 Ausflug zu den Metaebenen des Rechts
116 116
A. Die Prozeduralisierung des Rechts 116 I. Vorüberlegungen 117 1. Die Herangehens weise 117 2. Zwei begriffliche Vorbemerkungen 119 II. Erstes Prozeduralisierungskonzept: Steuerung der Gesellschaft durch prozedurales Recht 120 1. Das Problem: Steuerungskrise des Rechts 120 a) Historische Begründung 120 b) Systemtheoretische Begründung 122 2. Prozedurale Lösung des Problems 123 3. Brauchbarkeit für die Bindungsfrage 125 III. Zweites Prozeduralisierungskonzept: Prozedurale Rechtsanwendung 126 1. Das Problem: Verschiebungen zwischen Normgebung und Normanwendung 126 a) Ausgangsmodell: Rechtsan wendung als Normenvollzug . . 127 b) Gegenentwurf: Topik 130 c) Mittelweg: Lehre vom Vorverständnis 132 d) Zwischenbilanz: Einige Fragen an die Rechtsan wendung . . 1 3 5 2. Prozedurale Lösung des Problems 137 a) Richtigkeit von Sollenssätzen 137 (1) Prozedurale Richtigkeitsidee 138 (2) Ausformung der Richtigkeitsidee durch die Diskurstheorie 139 b) Einbau in ein Modell der Rechtsan wendung 143 3. Brauchbarkeit für die Bindungsfrage 145
nsverzeichnis
IV.
Drittes Prozeduralisierungskonzept: Auslegung der Verfassung als prozedurale 1. Das Problem: Spielräume bei der Verfassungsauslegung 2. Prozedurale Lösung des Problems a) Vorarbeit: Konfrontation des diskurstheoretischen „Ideals" mit der „Realität" staatlicher Entscheidungen (1) „Realitätsfeme" des ursprünglichen „Ideals" (2) „Realität" staatlichen Entscheidens in der parlamentarischen Demokratie (3) Überarbeitung des „Ideals" b) Gleichschaltung von Metakonzeption und Verfassungsauslegung 3. Brauchbarkeit für die Bindungsfrage a) Funktionsbestimmung durch Habermas b) Funktionsbestimmung durch Calliess c) Verwertbarkeit V. Rückblick und Ausblick Entwicklung eines diskursiven Funktionsverhältnisses von Verfassungsgericht und Gesetzgeber I. Alexys erweitertes Vierstufenmodell 1. Schwächen des Diskurses 2. Vierstufenmodell 3. Erweiterung des Vierstufenmodells um Verfassungsrecht und Verfassungsgericht 4. Erklärungskraft für die produktübergreifende Bindungsfrage II. Kritische Überarbeitung von Alexys erweitertem Vierstufenmodell 1. Vorüberlegung: Metatheorien des Rechts im Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit a) Alexys Selbsteinschätzung: Begründungsarten von Diskursregeln b) Dworkins Fremdeinschätzung: Metatheorien der Rechtsanwendung als konstruktive Interpretation c) Ansatzpunkte für eine Überarbeitung von Alexys Modell . . 2. Das erweiterte Vierstufenmodell und ein verfassungsrechtliches Paradigma a) Wiederaufnahme: Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber bei Alexy b) Verfassungsrechtliches Paradigma: Grundrechte als objektive Werteordnung c) Die Folge: Darstellbarkeit allgemein-praktischer Fragen als verfassungsrechtliche d) Fazit: Kollision zwischen erweitertem Vierstufenmodell und verfassungsrechtlichem Paradigma
146 146 147 149 151 152 154 156 157 158 162 164 166 167 168 168 170 171 173 174 174 175 179 182 185 185 186 188 192
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3. Korrekturvorschlag
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192
a) Ausgangspunkt: Nebeneinander von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber 193 b) Auf Einzelprodukte bezogen: Auflösung des Nebeneinanders in unterschiedliche Letztentscheidungsbereiche 194 c) Maßstabsbezogen: Auflösung des Nebeneinanders in ein diskursives Miteinander 195 d) Zusammenfassung 4. Überprüfung des Korrekturvorschlags
197 197
a) Vörüberlegung: Ein- und Mehrpersonenmodelle, Ideal und Realitätrichtigkeitserzeugender Prozeduren 199 b) Realisierung des Diskurses vor der Überarbeitung 200 c) Realisierung des Diskurses nach der Überarbeitung III.
203
Fazit: Diskursives Funktionsverhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber 204
§ 5 Rückkehr von den Metaebenen des Rechts zur produktübergreifenden Bindungsfrage 205 A. Vorüberlegungen 206 I. Akzessorietät maßstabsbezogener Tätigkeit 206 II. Diskursregeln als Rechtspflicht? 207 B. Negative Forderung: Ausschluß einer ergebnisbezogenen Bindung .. . 208 C. Positive Forderung: Ausgestaltung einer vorgangsbezogenen Bindung 210 I. Eine Argumentationspflicht 210 II.
Anlaß der Argumentationspflicht
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III. Gegenstand der Argumentationspflicht IV. Inhalt der Argumentationspflicht V. Ergebnis: Eine diskursive Bindung
215 218 219
D. Wiederaufnahme der Rechtsgrundlagen I. Funktionsgerechtes Verständnis der materiellen Rechtskraft II. Funktionsgerechtes Verständnis der Gesetzeskraft III. Funktionsgerechtes Verständnis des Art. 20 Abs. 3 GG IV. Funktionsgerechtes Verständnis der Verfassungsorgantreue V. Funktionsgerechtes Verständnis des § 31 Abs. 1 BVerfGG
221 222 223 224 224 225
VI. Funktionsgerechtes Verständnis des § 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG . . 230 VII. Funktionsgerechtes Verständnis des § 67 S. 3 BVerfGG 231 VIII. Ergebnis: Diskursive Bindung als geltendes Recht 234 E. Vörgangsbezogene Bindung und äußeres Gesetzgebungsverfahren . . . . 235 I. Parallele zum inneren Gesetzgebungsverfahren 235 II. Grundaussagen und Spielräume 236 F. Exkurs: Argumentationspflicht auch des Bundesverfassungsgerichts . . 238
nsverzeichnis
3. Kapitel Entwicklung einer prozeduralen Bindungskontrolle
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§ 6 Was noch fehlt 240 A. Vorbereitende Begriffsbildung: Grundformen des Kontrollmodus 241 B. Vorbereitende These: Überlagerung von Aussagen zur Handlungsanweisung und Aussagen zum Kontrollmodus 243 § 7 Ausflug in das Verwaltungsrecht: Entkopplung von Verfahrensrecht und Kontrollmodus A. Das formelle Verfahrensrecht als Diener I. Die dienende Funktion des Verfahrens II. Gesetzgeberische Minimierung von Fehlerfolgen B. Materielles Verfahrensrecht und Kontrollmodus I. Analyse der vorgefundenen Verwaltungsrechtsdogmatik 1. Ein vorgefundener Zusammenhang a) These: Zusammenhang von Verwaltungsspielraum, Kontrollmodus und materiellem Verfahrensrecht b) Verwaltungsspielräume bei konditionaler Programmierung c) Vorgefundener Zusammenhang und Ermessensentscheidungen d) Vorgefundener Zusammenhang und Beurteilungsspielräume 2. Vorgefundene Entscheidungskriterien a) Das erkenntnistheoretische Argument b) Das funktionellrechtliche Argument und die normative Ermächtigungslehre II. Entkopplung der Entscheidung über den Kontrollmodus 1. Überwindung der gerichtlichen Perspektive 2. Verfassungsrechtliche Vorgaben a) Grundsätzliche Entscheidungszuweisung an den Gesetzgeber
244 245 245 248 250 252 252 252 253 254 258 259 260 262 264 265 267 268
b) Kein verfassungsrechtliches Regel-Ausnahme Verhältnis . . 270
3. Vorschlag einer Auslegungsregel a) Kontrolle der Tatbestandsvoraussetzungen b) Kontrolle der Rechtsfolgenanordnung III. Zusammenfassung C. Wiederaufnahme des formellen Verfahrensrechts I. Formelles Verfahrensrecht bei gebundenen Entscheidungen 1. Sanktionslosigkeit von Verfahrensfehlern als Folge des Kontrollmodus 2. Ausnahmen aus erzieherischen Gründen II. Formelles Verfahrensrecht bei Verwaltungsspielräumen 1. Sanktion von Verfahrensfehlern als Folge des Kontrollmodus 2. Ausnahmen wegen § 46 VwVfG n.F
274 274 276 277 278 278 278 279 281 281 282
nsverzeichnis
III. Heilung von Verfahrensfehlern IV. Zusammenfassung D. Übertragbarkeit der entwickelten Dogmatik auf Finalprogramme E. Fazit: Entkopplung ermöglicht Übersetzungsregel und Neuanfang . . . .
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284 285 286 288
§ 8 Rückkehr vom Verwaltungsrecht zur produktübergreifenden Bindungsfrage 291 A. Drohende Mißverständnisse zwischen einer gerichtsfixierten Dogmatik und der diskursiven Bindung 291 B. Festlegung eines Kontrollmodus für die diskursive Bindung 294 I. Positive oder negative Kontrolle 295 II. Inhaltliche oder inhaltsfreie Kontrolle 297 1. Unterstruktur des negativen Kontrollmodus 297 2. Anwendung auf die diskursive Bindung 299 III. Ansätze einer Fehlerlehre 299 Schluß
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Literaturverzeichnis
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Sach- und Personen Verzeichnis
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Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. a. E. a. F. Abs. AcP AEG AK-GG ÄndG Anm. AO AöR AP ARSP Art. Aufl. Bad.-Württ. BAG BauGB BayVbl BayVerfGH BayVerfGHE BbauG Bd. Begr. BGB BGBl I BGH BGHSt BGHZ Bl. bspw. BT-Drs. BV BVerfG
anderer Ansicht am angegebenen Ort am Ende alte Fassung Absatz Archiv für die civilistische Praxis (Zs.) Allgemeines Eisenbahngesetz Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare) Änderungsgesetz Anmerkung Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts (Zs.) Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts - Arbeitsrechtliche Praxis Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Zs.) Artikel Auflage Baden-Württemberg Bundesarbeitsgericht Baugesetzbuch Bayerische Verwaltungsblätter (Zs.) Bayerischer Verfassungsgerichtshof Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Bundesbaugesetz Band begründet von Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Teil I Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Blatt beispielsweise Drucksache des Deutschen Bundestages Verfassung des Freistaates Bayern Bundesverfassungsgericht
Abkürzungsverzeichnis
BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE bzgl. bzw. d.h. DDR ders. dies. Diss. DÖV DRiZ Drs. DtZ DVB1 E ebda. Einl. engl. ESVGH
etc. EuGrZ f Festschr. FGG FGO Fn. Fortf. FStrG GG grds. GS Habil. Hrsg. Hs. HStR HVerfR i.E. i.S.
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Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz) Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich beziehungsweise das heißt Deutsche Demokratische Republik derselbe dieselbe Dissertation Die Öffentliche Verwaltung (Zs.) Deutsche Richterzeitung Drucksache Deutsch-deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt (Zs.) Entscheidung ebenda Einleitung englisch Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe beider Länder et cetera Europäische Grundrechte Zeitschrift folgende (Seite/Randnummer) Festschrift Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Finanzgerichtsordnung Fußnote fortgeführt von Bundesfernstraßengesetz Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich Großer Senat Habilitation Herausgeber Halbsatz Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland im Ergebnis im Sinne
18 i. V. m. insbes. iur. JöR JuS JZ Kap. Lfg. Ls. LVWG m.E. m. w. N. MBG Schl.-H. MünchKomm n.F. Neub. NJ NJW Nr. NRW NVwZ NZA NZS PBefG PersR PersV PIPr R RdA Rn. Rspr. RuP S. SGB SGG sog. st. Rspr. StGB Ts. u. a. usw. v. VB1BW
Abkürzungsverzeichnis in Verbindung mit insbesondere iuris (lateinisch): der Rechtswissenschaft(en) Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Schulung (Zs.) Juristenzeitung (Zs.) Kapitel Lieferung Leitsatz Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein meines Erachtens mit weiteren Nachweisen Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein Münchener Kommentar neue Fassung/neue Folge (bei Zs.) neu bearbeitet von Neue Justiz (Zs.) Neue Juristische Wochenschrift (Zs.) Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Personenbeförderungsgesetz Der Personalrat (Zs.) Die Personal Vertretung (Zs.) Plenar-Protokoll Rückseite Recht der Arbeit (Zs.) Randnummer Rechtsprechung Recht und Politik (Zs.) Seite Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz sogenannt ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch Taunus und andere und so weiter vom/von Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg (Zs.)
Abkürzungsverzeichnis
Verw VGH vgl. VR VVDStRL VwGO VwVfG VwVfG NRW WaStrG z.B. z.T. ZfRSoz ZG ZPO ZRP Zs.
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Die Verwaltung (Zs.) Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verwaltungsrundschau (Zs.) Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen Bundeswasserstraßengesetz zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für Rechtssoziologie Zeitschrift für Gesetzgebung Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift
Einleitung Vor uns liegen gut 300 Seiten gemeinsamer Wanderschaft. A m Ende der Wanderschaft steht die Antwort auf eine Rechtsfrage - eine Aussage zur produktübergreifenden Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Wer wandert, will nicht nur ankommen. Auch der Weg ist sein Ziel. Bleiben wir einen Moment in der Wegmetapher, um den Gang der Untersuchung vorzustellen. Sie gliedert sich in drei Wegabschnitte - drei Kapitel: 1.
Auf dem ersten Wegabschnitt führt die Route durch die viel bereiste Gegend der bekannten Lösungsansätze. Seit langem ist hier ein Wegenetz angelegt. Wer auf den gut ausgebauten Wegen einen Spaziergang unternehmen will, sollte sich anderen anschließen. Denn statt ein weiteres Mal den vorhandenen Trassen zu folgen, werden wir beobachtend das Gelände erkunden, es vermessen und kartieren. Die entstehende Landkarte wartet mit einer Überraschung auf: Während die vorgefundenen Wege aus der Sicht dessen, der ihnen folgt, als direkte Strecke zum Ziel erscheinen, nehmen sie sich auf unserer Karte als Labyrinth aus, aus dem ohne fremde Hilfe kein Herauskommen ist. Übertragen auf unsere Rechtsfrage: Im ersten Kapitel begeben wir uns zu der vorhandenen breiten Diskussion um die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Wir kommen hierher nicht als Diskussionsteilnehmer, sondern als Beobachter. Als Beobachter beziehen wir nicht selbst Stellung, sondern bitten um Auskunft, durchleuchten die Antworten mit kritischem Blick, fragen nach Alternativen. Darum trägt das erste Kapitel den Namen „Die Analyse des Vorgefundenen".
2.
Nachdem sich die viel bereiste Gegend der bekannten Lösungsansätze bei näherer Betrachtung als Irrgarten erwies, führt der zweite Wegabschnitt in luftige Höhen. Ein Ausflug geht hinauf zu den Meta-Ebenen des Rechts. In den endlosen Weiten dieser Hochebenen konzentrieren wir uns auf eine Gegend, die „Prozeduralisierung" getauft wurde. Hier sammeln wir Erfahrungen und Ausblicke. Sie ermöglichen uns, nach der Rückkehr aus der Höhe in dem Labyrinth, das wir zurückgelassen hatten, Wegweiser aufzustellen. Die Wegweiser geben Orientierung und zeigen einen Ausweg aus dem Irrgarten. Übertragen auf unsere Rechtsfrage: Auf einem Ausflug zu den MetaEbenen des Rechts werden Ansätze untersucht, die auf den Namen
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Einleitung „Prozeduralisierung" hören. Mit ihrer Hilfe wird ein diskursives Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber entworfen. Dieses Funktionsverhältnis ermöglicht, nach der Rückkehr von dem Ausflug eine prozedurale Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu entwickeln. Davon berichtet das zweite Kapitel . Es heißt „Entwicklung einer prozeduralen Bindung".
3.
Zwar stehen in dem Labyrinth nun Wegweiser, die Orientierung geben und zum Ausgang weisen. Nur stellt sich heraus: Wir haben die Wegweiser in einer Sprache geschrieben, die in dem Irrgarten nur wenige verstehen. So drohen Verständigungsschwierigkeiten und Mißverständnisse. Um Abhilfe zu schaffen, unternehmen wir auf unserem dritten Wegabschnitt einen weiteren Ausflug. Er führt in eine Gegend, in der wir die Kunst des Übersetzens erlernen. Nach der Rückkehr können wir nicht nur die Wegweiser mit Hilfe des Erlernten verständlicher gestalten, sondern auch präzisieren und vervollständigen. Übertragen auf unsere Rechtsfrage: Die Dogmatik des Öffentlichen Rechts wird oft aus der Sicht des Richters betrieben. Da wir jedoch auf den ersten beiden Wegabschnitten undiskutiert eine andere Perspektive eingenommen haben, drohen Mißverständnisse. Auf einem Ausflug in das Verwaltungsrecht wird dem nachgegangen. Dabei wird entwickelt, wie die Dogmatik die vorherrschende gerichtliche Perspektive überwinden kann und warum dies zu einer Stärkung vorgangsbezogener Rechtspflichten führt. Die gewonnenen Erkenntnisse helfen, die befürchteten Mißverständnisse zu vermeiden. Sie ermöglichen auch Aussagen zur Kontrolle des zuvor entwickelten Bindungskonzeptes. Danach ist das dritte Kapitel benannt: „Entwicklung einer prozeduralen Bindungskontrolle".
Insgesamt nehmen wir uns die Zeit, Akzeptiertes zu bezweifeln. Wir gönnen uns die Freiheit, Punkte durch Fragezeichen zu ersetzen. Das beständige Weiterfragen führt nicht zu einzig richtigen Antworten. Vielmehr führt es in Regionen, in denen immer neue Fragen warten. Neben den neuen Fragen warten aber auch neue Ideen. An den Ideen, die auf unserem Weg warten, haftet das Stichwort „Prozeduralisierung". Darum ist die vorliegende Arbeit zugleich ein Beitrag zur Prozeduralisierung des Rechts.
Dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere Untersuchung jetzt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall. Georg Christoph Lichtenberg 1. Kapitel
Analyse des Vorgefundenen § 1 Grundbegriffe und thematische Eingrenzung Der vorliegenden Arbeit geht es um die produktübergreifende Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Um dieses Thema näher kennenzulernen und zugleich Handwerkszeug zu seiner Bewältigung zu erwerben, werden einige Grundbegriffe vor die Klammer gezogen. Ausgangspunkt der Begriffsbildung ist folgende - stark vereinfachende - Grundkonstellation: Im Öffentlichen Recht entscheiden nacheinander zwei unterschiedliche Hoheitsträger über ein und dasselbe Produkt hoheitlicher Gewalt: zum einen der Hersteller des Produktes (beispielsweise Behörde oder Gesetzgeber), zum anderen der Kontrolleur des Produktes (beispielsweise Verwaltungs- oder Verfassungsgericht). Beide, Hersteller und Kontrolleur, haben das Hoheitsprodukt gleichermaßen an einem zugrundeliegenden Rechtsmaßstab zu messen. Vor dem Hintergrund dieser Grundkonstellation kann man unterscheiden zwischen auf Einzelprodukte beschränkten (A), produktübergreifenden (B) und maßstabsbezogenen Fragestellungen (C).
A. Auf Einzelprodukte beschränkte Fragestellungen Wer sich ein einzelnes Hoheitsprodukt als geschichtliches Ereignis herausgreift und dessen rechtlichen Werdegang verfolgt, stößt auf eine Vielzahl von Rechtsfragen. Gemeinsam ist diesen Fragen, daß es ihnen stets um das rechtliche Schicksal ein und desselben Hoheitsproduktes geht. Darum spreche ich von Fragestellungen, die auf Einzelprodukte beschränkt bleiben. Innerhalb der auf Einzelprodukte beschränkten Fragestellungen lassen sich drei - auf der Zeitachse hintereinander liegende - Problemkomplexe kennzeichnen, mit Beispielsfragen veranschaulichen und mit Unterbegriffen versehen: 1.
Den ersten Problemkomplex bildet die Herstellung des Produktes: Wer hat die Herstellungskompetenz? Welches Herstellungsverfahren muß er durchlaufen? Welche inhaltlichen Vorgaben macht ihm der zugrundelie-
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen gende Rechtsmaßstab? Solche Herstellungsfragen produkte beschränkt.
bleiben auf Einzel-
2.
Den zweiten Problemkomplex bildet die - zeitlich im Normalfall spätere - Kontrolle des Produktes: Wer hat die Kontrollkompetenz? Wie weit darf die Kontrolle reichen? Welches Kontrollverfahren muß er durchlaufen? Solche Kontrollfragen bleiben ebenfalls auf Einzelprodukte beschränkt.
3.
Ein dritter Problemkomplex entsteht, wenn gefragt wird, welche Bindungswirkung die Kontrollentscheidung im Hinblick auf das bereits kontrollierte Einzelprodukt entfaltet. Einige Beispielsfragen: Kann ein vom Kontrolleur gebilligtes Hoheitsprodukt nochmals kontrolliert werden? Ist ein beanstandetes Hoheitsprodukt nach der Beanstandung aus der Welt? Wenn nicht: Ist sein Hersteller verpflichtet, es aus der Welt zu schaffen? Darf es noch zur Grundlage weiterer Hoheitsentscheidungen gemacht werden? Das sind Beispiele für Bindungsfragen, die auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleiben.
B. Thema der Arbeit: Eine produktübergreifende Bindungsfrage Soeben wurde der rechtliche Werdegang eines einzelnen Hoheitsproduktes auf der Zeitachse verfolgt. Das führte zu Fragestellungen, die auf das Einzelprodukt beschränkt blieben. Es gibt jedoch auch produktübergreifende Fragen. Sie kommen in den Blick, wenn der Werdegang von zwei verschiedenen Hoheitsprodukten in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet wird. Produktübergreifend läßt sich fragen: Wirkt sich die Kontrollentscheidung über das frühere Produkt auf die Herstellung des späteren Produktes aus? Oder wirkt sich umgekehrt die Kontrolle des späteren Produktes auf den Bestand des früheren Produktes aus? Allgemeiner formuliert: Führt die Kontrollentscheidung über das eine Produkt zu einer Bindung bezogen auf das andere Produkt? Eine produktübergreifende Bindungsfrage. Der vorliegenden Arbeit geht es um eine produktübergreifende Bindungsfrage, die im Verhältnis zwischen Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht entsteht. Sie lautet: Wie binden gesetzesverwerfende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts den Bundesgesetzgeber bei seiner Entscheidung über andere Normen als die verworfene? Verallgemeinert man diese Frage, so gelangt man zum Thema der Arbeit - zur Frage nach der produktübergreifenden Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
§ 1 Grundbegriffe und thematische Eingrenzung
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Finden wir eine Antwort auf diese Frage, so ist sie möglicherweise auf die Bindung der Landesgesetzgeber an bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen, vielleicht auch auf die Bindung an landesverfassungsgerichtliche Entscheidungen übertragbar. Bei einer solchen Übertragung stellen sich jedoch Rechtsprobleme, die den hier gezogenen Rahmen sprengen würden. Deren Erörterung bleibt daher einer späteren Untersuchung vorbehalten.
C. Maßstabsbezogene Fragestellungen Die bisher vorgestellten Fragen haben eine Gemeinsamkeit. Zwar wird bei den auf Einzelprodukte beschränkten Fragestellungen nach dem rechtlichen Werdegang eines ganz bestimmten Hoheitsproduktes gefragt, bei den produktübergreifenden Fragestellungen hingegen danach, wie sich der rechtliche Werdegang eines Hoheitsproduktes auf den rechtlichen Werdegang eines anderen Hoheitsproduktes auswirkt. Jedoch geht es hier wie dort um das rechtliche Schicksal von Hoheitsprodukten. Alle bisher angesprochenen Fragen sind daher produktbezogene Fragen. Bei ihrer produktbezogenen Tätigkeit sind Hersteller und Kontrolleur gleichermaßen zur Auslegung und Interpretation eines zugrundeliegenden Rechtsmaßstabes verpflichtet. Insoweit stellen sich Fragen, die nicht konkrete Hoheitsprodukte zum Gegenstand haben, sondern den anzuwendenden Rechtsmaßstab betreffen. Einige Beispiele: Wie funktioniert generell die Auslegung des Rechtsmaßstabes? Wie funktioniert speziell die Auslegung des Rechtsmaßstabes durch Hoheitsträger? Welche Rollenverteilung zwischen verschiedenen Hoheitsträgern herrscht bei der Auslegung des Rechtsmaßstabes? Solche Fragen bezeichne ich als maßstabsbezogene Fragen. Für die Themenstellung der vorliegenden Arbeit wird sich eine maßstabsbezogene Frage im Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber als wichtig erweisen. Sie lautet: Welche Rollenverteilung herrscht zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber bei der Verfassungsauslegung? Dies ist die Frage nach dem maßstabsbezogenen Funktionsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber. Abbildung 1 (siehe S. 26) faßt die soeben eingeführten Grundbegriffe und ihr Verhältnis zur Themenstellung zusammen.
26
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
maßstabs-
Rechtsmaßstab
bezogene
hier I Erfassung
Fragen hier das maßstabsbe^ogene Funktionsverhältnis von Bundesgesetzgeber und BVerfG
Hoheitsprodukte
Produkt Nr. 1
Produkt Nr. 2
hier Gesetz Nr. 1
hier Gesetz Nr. 2
Zeitachse
H E R S T E L L U N G
K
O
N T R
O L L E
B I
H E R S T E L L U N
N D U N G
K
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N T R
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B I N D U N G
auf Einzelprodukte beschränkte F r a g e n
.
produkt> bezogene Fragen
produktD i e p r o d u k t ü b e r g r e i f e n d e B i n d u n g des
I V
Kontrollierten an die E n t s c h e i d u n g e n des K o n t r o l l e u r s hier die produktübergreifende
übergreifende Fragen
Bindung
des Bundesgeset^gebers an Entscheidungen des ßl erfG
Abbildung 1
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums A. Das Meinungsspektrum Wie ist der Bundesgesetzgeber produktübergreifend an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden? Bei der Antwort auf diese Frage wird eine Vielzahl von Rechtsgrundlagen herangezogen, für jede eine Vielzahl von Auslegungsvorschlägen diskutiert. Im Geflecht der sich daraus ergebenden Kombinationsmöglichkeiten und Einzelfragen geht schnell der
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
27
Blick aufs Ganze verloren. Darum werden die Rechtsgrundlagen einen Moment zurückgestellt 1 und zunächst die vorgefundenen Hauptströmungen anhand von drei Ergebnisskizzen vorgestellt (I). Damit die Ergebnisskizzen nicht unverankert im Raum schweben, werden sodann drei Ebenen gebildet, auf denen die Ergebnisskizzen in Relation zueinander und zu anderen Streitfragen gesetzt werden können (II). Diese Kennenlernrunde legt den Grundstein für die sich anschließende inhaltliche Auseinandersetzung.
I. Drei Bindungskonzepte in Ergebnisskizzen In der folgenden Kennenlernrunde geht es um Ergebnisse, nicht um ihre Begründung. Um unter den Ergebnissen Vergleichbarkeit zu erreichen, werden die drei wichtigsten Strömungen jeweils als an den Bundesgesetzgeber gerichtetes Verbot formuliert. So entstehen: Erstens ein Verbot von Normen, die verworfenen Normen ähneln (1), zweitens ein Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen (2), und drittens ein Verbot der Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts (3). 1. Erstes Bindungskonzept : Verbot von Normen, die verworfenen Normen ähneln Das erste Bindungskonzept ist ein Verbot von Normen, die mit einer vom Verfassungsgericht bereits verworfenen Norm inhaltsgleich oder inhaltsähnlich sind. Welche Verhaltenspflichten entstehen aus diesem Verbot für den Bundesgesetzgeber? Das hängt davon ab, ob es um Gesetze geht, deren Erlaß vor oder nach der normverwerfenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegt. • Bei Gesetzen, deren Erlaß nach der normverwerfenden Gerichtsentscheidung liegt, muß der Gesetzgeber Normen, die der verworfenen gleichen oder ähneln, von vornherein vermeiden. Es entsteht ein Normwiederholungsverbot, gerichtet auf gesetzgeberisches Unterlassen. Die Frage, ob der Gesetzgeber einem solchen Normwiederholungsverbot unterliegt, beherrscht seit vielen Jahren die Diskussion. Das große Interesse beruht auf einer Divergenz zwischen den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts: Der Zweite Senat hatte bereits im ersten Band seiner Entscheidungen ausgeführt, daß dem Gesetzgeber verwehrt sei, eine vom Gericht verworfene Norm inhaltsgleich zu wiederholen. 2 Das genaue Gegenteil meint in jüngeren Entscheidungen der Erste Senat.3 Seit dieser Divergenz 1 2
Zur Rechtsgrundlagenanalyse unten, 1. Kapitel § 2 C. BVerfGE 1, 14 (37 sowie 15 Ls. 5); bestätigt durch BVerfGE 69, 112 (115).
28
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen stehen Für und W i d e r des Normwiederholungsverbots i m Zentrum des Interesses. 4 So entsteht leicht der Eindruck, die Frage nach der B i n d u n g des Gesetzgebers
an normverwerfende
Entscheidungen
sei
deckungs-
gleich m i t der Frage nach einem Normwiederholungsverbot. Das N o r m wiederholungsverbot ist indes nur eine von vielen vertretenen Bindungsaussagen, w i e unser weiterer Weg durch die Ergebnisskizzen zeigt: • E i n Verbot v o n Normen, die m i t bereits verworfenen N o r m e n inhaltsgleich oder -ähnlich sind, kann auch auf N o r m e n bezogen werden, die z u m Zeitpunkt
der normverwerfenden
Entscheidung bereits
bestehen.
Daraus ergibt sich für den Gesetzgeber die Verpflichtung, nach einer 3
BVerfGE 77, 84 (103 f); bestätigt durch: BVerfGE 96, 260 (263). Allerdings betont der Erste Senat in BVerfGE 96, 260 (263), daß der Gesetzgeber trotz der Freistellung von einem Normwiederholungsverbot „die vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Gründe der Verfassungswidrigkeit des ursprünglichen Gesetzes nicht übergehen" könne. Sachs, JuS 1998, 363, meint, das Bundesverfassungsgericht formuliere hier eine Bindung, die im Ergebnis einem zeitlichen Grenzen unterliegenden Normwiederholungsverbot gleichkomme. Auch Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1344 f, und Waschuli, NZS 2001, 113 (122 f), deuten die Entscheidung als Rückkehr zu einem Normwiederholungsverbot. Dazu genauer unten 1. Kapitel, Fn. 24. 4 Im Anschluß an BVerfGE 77, 84 (103 f)> wird ein Normwiederholungsverbot abgelehnt von: Badura, BayVBl 1996, 33 (37 f); Battis, in: HStR VII, § 165 Rn. 60 und 42; Bethge, in: Maunz u.a., BVerfGG (20. Lfg. 2001), § 31 Rn. 71, 195; Busse, ZG 1988, 353 (355-359); Gerber, DÖV 1989, 698 (704 f); Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, 81 f; Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (554-565); Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, S. 54 f; Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 94 Rn. 28; Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 67; Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 472; Simon, in: HVerfR, § 34 Rn. 36; Stricker, DÖV 1995, 978 (980-982); Ziekow, Jura 1995, 522 (526). Trotz BVerfGE 77, 84 (103 f)> halten an einem Normwiederholungsverbot weiterhin fest: Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 4 4 3 ^ 4 8 ; ders., NJW 1996, 426 (passim); Gleixner, Die Normerlaßklage, S. 155 mit Fn. 569; Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 128; Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1340-1345 (sehr vorsichtig); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 62 Fn. 156 a.E. und Rn. 66 Fn. 174, Rn. 85 f; Sachs, DtZ 1990, 193 (198 f); ders., JuS 1993, 863 (864 in Fn. 7); ders., in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (447-454); wohl auch: Voßkuhle, NJW 1997, 2216 (2218). Bereits vor der Divergenz zwischen Erstem und Zweitem Senat war das Normwiederholungsverbot umstritten. Dafür: Bullert, Die Gesetzeskraft und die bindende Wirkung, S. 62, 104 f; Kerbusch, Bindung, S. 3 6 ^ 5 ; Klein, AöR 108 (1983), S. 410 (440); Löwer, in: HStR II, 1. Aufl., § 56 Rn. 92 (unverändert auch die 2. Aufl. 1998); Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG (5. Lfg. 1978), § 31 Rn. 24; ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 94 Rn. 25, 32; Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung unter dem Grundgesetz, S. 97, 99 f; Radek, Bestand und Verbindlichkeit, S. 164, 167; Sachs, Bindung, S. 311-313; Stern, in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar, GG, Art. 100 Rn. 202; Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (606 f). Dagegen: Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 227 f.
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
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normverwerfenden Entscheidung seinen Normenbestand auf inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche Normen zu sichten5 und bestehende Parallelnormen abzuschaffen 6 - ein Normabschaffungsgebot, gerichtet auf gesetzgeberisches Tun. Festzuhalten ist: Ein Verbot von Normen, die mit bereits verworfenen Normen inhaltsgleich oder -ähnlich sind, führt bezogen auf zeitlich nach der Normverwerfung liegende Gesetzesvorhaben zu einem Normwiederholungsverbot, bezogen auf zum Zeitpunkt der Normverwerfung bereits vorhandene Parallelnormen zu einer Normmusterungs- und Normabschaffungspflicht. 2. Zweites Bindungskonzept: Verbot von Normen , die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen Das zweite Bindungskonzept besteht in einem Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen. Daraus folgt für den Bundesgesetzgeber: Er muß bei seiner gesetzgeberischen Tätigkeit der Verfassung den Deutungsgehalt geben, den das Bundesverfassungsgericht anläßlich seiner Kontrolltätigkeit der Verfassung gegeben hat. Gesetze, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen, sind ihm verwehrt. Welche Verhaltenspflichten entstehen aus diesem Verbot für den Bundesgesetzgeber? Wiederum ergibt sich, je nachdem, ob es um zeitlich vor oder nach der normverwerfenden Entscheidung liegende Gesetzesvorhaben geht, eine auf gesetzgeberisches Unterlassen oder eine auf gesetzgeberisches Tun gerichtete Verhaltenspflicht: 5
Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V I Rn. 130, 140: „Musterungsgebot". Für eine solche Normabschaffungspflicht: Heußner, NJW 1982, 257 (261); J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit, S. 266 f; Radek, Bestand und Verbindlichkeit, S. 167 f. Häufig wird eine Normabschaffungspflicht bei Parallelnormen anderer Normgeber befürwortet (Leibholz/Rupprecht , BVerfGG, § 31 Rn. 2 [S. 100]; Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG (5. Lfg. 1978), § 31 Rn. 25; dagegen: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 31 Rn. 34). Das muß wohl erst recht für Parallelnormen desselben Normgebers gelten. Gegen eine Normabschaffungspflicht: Battis , in: HStR VII, § 165 Rn. 64; Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 86, § 20 V I Rn. 130, 140 (Rn. 84 sieht zwar eine Normabschaffungspflicht vor, jedoch handelt es sich insoweit um eine Bindungsaussage, die auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleibt und daher jenseits unserer Themenstellung liegt - vgl. dazu genauer unten, 1. Kapitel § 2 A. II. 3.); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 404. Gegen das Normabschaffungsgebot wird vorgebracht, ohne Kontrolle durch das Gericht lasse sich nicht feststellen, ob es sich wirklich um eine Parallelnorm handle, vgl. Pestalozza, a.a.O., § 20 V I Rn. 130. Dieser Einwand trifft indes gleichermaßen auf das Normwiederholungsverbot zu, wird dort jedoch nicht als Hinderungsgrund betrachtet. 6
30
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
• Bezogen auf die zeitlich nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung liegenden, neuen Gesetzesvorhaben entsteht die Pflicht, v o n vornherein solche N o r m e n zu vermeiden, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen. 7 Dabei ist - anders als bei dem ersten Bindungskonzept - nicht erforderlich, daß die neue N o r m inhaltsähnlich m i t der v o m Bundesverfassungsgericht
beanstandeten N o r m ist. 8 V i e l m e h r muß der
Gesetzgeber auch den Erlaß solcher N o r m e n unterlassen, die - ohne inhaltliche Ä h n l i c h k e i t - m i t verfassungsgerichtlichen Rechtsansichten kollidieren. Es besteht ein abstraktes Fehlerwiederholungsverbot,
gerichtet
auf gesetzgeberisches Unterlassen. 9 • Bezogen auf den bei der normverwerfenden Entscheidung bereits vorhandenen Normenbestand kann man den Bundesgesetzgeber hingegen zu einem positiven T u n verpflichten. Er muß anläßlich einer verfassungsgerichtlichen
Entscheidung seinen vorhandenen Normenbestand auf Ver-
stöße gegen gerichtliche Rechtsansichten m u s t e r n . 1 0 B e i einem Verstoß bestehender Gesetze gegen gerichtliche Rechtssätze ergibt sich sodann eine Normabschaffungspflicht.
11
7 Badura, BayVBl 1996, 33 (37 f); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 4 1 3 ^ 2 5 (vgl. jedoch die Einschränkung unten 1. Kapitel, Fn. 48); Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 359 f, 451 f; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 236 f, 238 unten (darstellend - Gusy selbst lehnt eine solche Bindung ab, vgl. a.a.O., S. 237-245); Radek, Bestand und Verbindlichkeit, S. 163. 8 Detterbeck NJW 1996, 426 (431); ders., Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 452: „Es ist nicht einmal erforderlich, daß die vom Bundesverfassungsgericht verworfene Norm und die anderen Normen inhaltlich (zumindest) im wesentlichen gleich sind. Es genügt vielmehr Übereinstimmung in der verfassungsrechtlichen Problematik. Hängt die Verfassungsmäßigkeit irgendeiner Norm [...] gerade von der Beantwortung derjenigen verfassungsrechtlichen Fragen ab, die sich auch im vorangegangenen Normenkontrollverfahren gestellt hatten, ist der [...] Normgeber an die entsprechenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden"; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 236 f, 238 unten (darstellend - Gusy selbst lehnt eine solche Bindung ab, vgl. a.a.O., S. 237-245); Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung, S. 45 f. 9 So: Detterbeck, NJW 1996, 426 (431); grds. auch: Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1331 (allerdings bezogen auf den Gesetzgeber vorsichtig und ergebnisoffen in Rn. 1340-1345). Unklar bleibt Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG (5. Lfg. 1978), § 31 (Rn. 19 spricht für das zweite Bindungskonzept: „Bindung [...], wenn die gleiche Rechtsfrage auftritt", Rn. 24 f spricht für das erste Bindungskonzept: „nicht aber Entscheidungen über eine abstrakte Rechtsfrage"). 10 Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 452; ders., NJW 1996, 426 (431). 11 Dafür: Detterbeck, Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 452; ders., NJW 1996, 426 (431); dagegen: Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), S. 335 (364).
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
31
Eine Gegenüberstellung der ersten beiden Bindungskonzepte zeigt: Beim ersten Bindungskonzept muß der Gesetzgeber einen Vergleich zwischen den von ihm bereits erlassenen oder geplanten Gesetzen mit den vom Verfassungsgericht bereits verworfenen Gesetzen vornehmen. Demgegenüber muß der Gesetzgeber beim zweiten Bindungskonzept die verfassungsgerichtlichen Rechtsansichten wie einen abstrakt-generellen Rechtsmaßstab auf seine Gesetze und Gesetzesvorhaben anwenden. Er schuldet nicht mehr nur Verfassungsgemäßheit, sondern zusätzlich Verfassungsgerichtsgemäßheit seiner Gesetze. Erweist sich ein vorhandenes Gesetz als verfassungsgerichtswidrig, muß es abgeschafft werden. Erweist sich ein geplantes Gesetz als verfassungsgerichtswidrig, darf es nicht erlassen werden. Der aufgezeigte Unterschied betrifft einerseits den Maßstab, andererseits die Art seiner Anwendung. Als Maßstab dienen dem Gesetzgeber hier die abstrakten gerichtlichen Rechtsansichten, dort die vom Gericht verworfenen Normen. Mit dem Maßstab ändert sich zugleich die vom Gesetzgeber geschuldete Prüftätigkeit: Auf der einen Seite steht Subsumtion, das heißt Unterordnung eines Einzelfalls (geplantes oder vorhandenes Gesetz) unter eine Norm (gerichtliche Rechtsansicht). 12 Auf der anderen Seite steht ein Vergleich von Einzelfall (geplantes oder vorhandenes Gesetz) und Einzelfall (verworfenes Gesetz) auf Ähnlichkeit. 13 3. Drittes Bindungskonzept: Verbot der Brüskierung des Verfassungsgerichts Das dritte Bindungskonzept verbietet dem Gesetzgeber, das Verfassungsgericht zu brüskieren. 14 Dieses Konzept ist vergleichsweise neu und hat bisher nur fragmentarische Züge. Das vorhandene Fragment zeigt sich am besten im Rückblick auf seine Entstehung. 12
Ein Beispiel dafür gibt Badura, wenn er, ausgehend vom zweiten Bindungskonzept ( i d e r s B a y V B l 1996, 33 [37 f]), in Anwendung der verfassungsgerichtlichen Rechtsansichten prüft, ob das Kruzifix trotz BVerfGE 93, 1 in bayerische Schulzimmer zurückgebracht werden darf (a.a.O., S. 38-40). 13 Detterbeck , Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 245 f (zum Parallelproblem der verwaltungsprozessualen Normenkontrolle): „Die Frage, wann eine im wesentlichen gleiche oder eine inhaltsverschiedene Norm vorliegt, läßt sich freilich nicht allgemein-abstrakt beantworten. Erforderlich ist ein Vergleich zwischen den Regelungsinhalten im Rahmen einer Einzelfallprüfung." 14 Zur Terminologie: Battis/Kersten, PersV 1998, 21 (26) und Rinken, in: Wassermann, AK-GG, Art. 94 Rn. 71a: „Nichtbrüskierungspflicht"; Bethge, in: Maunz u.a., BVerfGG (20. Lfg. 2001), § 31 Rn. 199: „Obstinate Wiederholungen und Brüskierungen sind verpönt"; Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 472 a.E.: Der Gesetzgeber „darf das Gericht nicht brüskieren und dessen Autorität nicht in Frage stellen". Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (453), w i l l die Gefahr „des ,obstinaten' Desavouierens des Bundesverfassungsgerichts" bannen.
32
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Entstanden ist das dritte Bindungskonzept beim Streit um das Normwiederholungsverbot 15 . Zur Erinnerung: Beim Streit um das Normwiederholungsverbot geht es um die Frage, ob der Gesetzgeber im Anschluß an eine normverwerfende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine inhaltsgleiche Norm nochmals erlassen darf. Auf diese Frage antwortet das dritte Bindungskonzept „Ja, aber...". Genauer: Zwar soll der Gesetzgeber im Ergebnis nicht gehindert sein, eine Norm zu erlassen, die einer vom Verfassungsgericht bereits verworfenen Norm ähnelt. Er muß aber bei einer Normwiederholung darauf achten, daß er das Bundesverfassungsgericht nicht brüskiert. 16 Was verbirgt sich hinter diesem Brüskierungsverbot? Zunächst wird dem Gesetzgeber eine Grundhaltung gegenüber dem Gericht abverlangt. Der Gesetzgeber soll sich gegenüber dem Bundesverfassungsgericht loyal verhalten 1 7 , soll seinen Entscheidungen Respekt zollen 1 8 und darf seine Autorität nicht in Frage stellen. 19 Diese sehr allgemeinen Formeln lassen aber unbeantwortet, was der Gesetzgeber tun muß, um Respekt und Loyalität unter Beweis zu stellen. Man könnte etwa meinen, der Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht verbiete dem Bundesgesetzgeber, eine verworfene Norm inhaltsgleich oder inhaltsähnlich zu wiederholen. 20 Dann würde die Respektpflicht zum Normwiederholungsverbot, was das dritte Bindungskonzept doch gerade nicht will. Hier zeigt sich: Die Forderung nach Respekt und Loyalität ist für sich genommen konturenlos. Erst wenn sie mit konkre15 Daß dieser Streit die jüngere Diskussion beherrscht, wurde bereits oben (1. Kapitel § 2 A. I. 1.) dargelegt. 16 So: Battis/Kersten, PersV 1998, 21 (24 f); Bethge, in: Maunz u.a., BVerfGG (20. Lfg. 2001), § 31 Rn. 73, 199; Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (566 f); Rinken, in: Wassermann, AK-GG, Art. 94 Rn. 71a; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 472 a.E.; Schuppert; PersR 1997, 137 (140). Dagegen: Detterbeck Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 372. Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (453^456), stellt das im folgenden vorgestellte Brüskierungsverbot neben ein Normwiederholungsverbot (zur Besonderheit des von Sachs vertretenen Bindungskonzeptes noch unten 2. Kapitel, Fn. 393). 17 Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (566): Der Gesetzgeber sei verpflichtet, „sich gegenüber dem BVerfG loyal zu verhalten und solche Akte zu unterlassen, die vorangegangene des BVerfG konterkarieren". 18 Busse, ZG 1988, 353 (359, 362); Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (455). 19 Bethge, in: Maunz u.a., BVerfGG (20. Lfg. 2001), § 31 Rn. 199; Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (565); Rinken, in: Wassermann, AK-GG, Art. 94 Rn. 71a; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 472 a.E. 20 In diesem Sinne etwa: Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 66; wohl auch: H. H. Klein, in: Festschr. Franz Klein, S. 511 (518) und Voßkuhle, NJW 1997, 2216 (2218). Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (453^156), fordert ebenfalls ein Normwiederholungsverbot, stellt ihm jedoch die sogleich im Text entwickelte vorgangsbezogene Bindung ergänzend zur Seite.
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
33
ten Verhaltensanforderungen aufgefüllt w i r d , w i r d das Brüskierungsverbot z u m eigenständigen Bindungskonzept. M i t welcher Verhaltensanforderung w i r d nun das Brüskierungsverbot aufgefüllt? Verwehrt sein soll dem Gesetzgeber ein „bedenkenloses Übergehen verfassungsgerichtlicher P r ä j u d i z i e n " . 2 1 D a m i t ist jedoch gerade kein N o r m wiederholungsverbot gemeint. Stein des Anstoßes ist nicht das Ergebnis
-
die Normwiederholung - , sondern der Trotz und die Bedenkenlosigkeit des Gesetzgebers. So sei es dem Gesetzgeber unbenommen, nach sorgfältiger Prüfung - auch ohne eine zwischenzeitliche Tatsachenänderung 2 2 - zu dem Ergebnis zu gelangen, daß i h n die verfassungsgerichtlichen Rechtsansichten nicht überzeugen. 2 3 I n diesem Falle sei er auch an einer Normwiederholung nicht gehindert. 2 4 Das einzige, was hier als Rechtsforderung bleibt, ist die nur beiläufig erwähnte - Forderung nach sorgfältiger Prüfung: B e i einer Normenwiederholung fordert der Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht
die argumentative Auseinandersetzung m i t
verfassungsgerichtlichen
Rechtsansichten. 2 5
21
Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (565). Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (566 in Fn. 81). 23 Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (567); ihm folgend: Schuppert, PersR 1997, 137 (140); ähnlich auch: Battis/Kersten, PersV 1998, 21 (24 f). 24 Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (567). B e z o 8 e n a u f d a s Ergebnis der gesetzgeberischen Tätigkeit besteht insoweit Übereinstimmung mit allen Gegnern eines Normwiederholungsverbots (vgl. die Nachweise oben 1. Kapitel, Fn. 4), also auch mit BVerfGE 77, 84 (103 f). Ob das Bundesverfassungsgericht, a.a.O., den Gesetzgeber von jeder Bindung freistellt oder mit dem Hinweis auf die „Gestaltungsverantwortung" eine jenseits des Normwiederholungsverbots liegende Bindung andeutet, läßt sich dieser Entscheidung m. E. noch nicht entnehmen. Deutlicher wird insoweit BVerfGE 96, 260 (263): Obwohl der Gesetzgeber nicht gehindert sei, eine inhaltlich gleichlautende Bestimmung zu erlassen, könne er „die vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Gründe der Verfassungswidrigkeit des ursprünglichen Gesetzes nicht übergehen. Eine Normwiederholung verlangt vielmehr ihrerseits besondere Gründe, die sich vor allem aus einer wesentlichen Änderung der für die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse oder der ihr zugrundeliegenden Anschauungen ergeben können". Diese Aussage, die kürzlich durch BVerfGE 102, 127 (141 f) bestätigt wurde, läßt sich nicht nur als Rückkehr zu einem zeitlichen Grenzen unterliegenden Normwiederholungsverbot deuten (so aber: Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1344 f; Sachs, JuS 1998, 363, und Waschuli, NZS 2001, 113 [122 f]), sondern auch im Sinne einer Argumentationspflicht des Gesetzgebers. Zu diesen abweichenden Deutungen noch unten, 3. Kapitel § 8 A. 22
25 A m deutlichsten: Busse, ZG 1988, 353 (359): „Dem Respekt des Gesetzgebers vor dem Bundesverfassungsgericht dürfte es entsprechen, daß er sich bei seiner (wiederholten) Normschaffung mit der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts bei der Kassation der früheren Norm eingehend auseinandergesetzt hat und Gründe für die neue Norm anführt, die Anspruch erheben können, auch im Lichte der früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bestand zu haben." 3 Bauer
34
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen D a m i t liegt das dritte Bindungskonzept
erkennbar
auf einer
anderen
Ebene als die beiden anderen Bindungskonzepte. Das leitet über zur Suche nach Gesichtspunkten, die es erlauben, die verschiedenen Ansätze zueinander i n Beziehung zu setzen.
II. Drei Ebenen zur Verortung der Bindungskonzepte Z u r besseren Vergleichbarkeit wurden die Ergebnisskizzen j e w e i l s als an den Gesetzgeber gerichtetes Verbot formuliert. G l e i c h w o h l stehen die drei Bindungskonzepte bisher weitgehend beziehungslos nebeneinander. I m folgenden werden i n das Koordinatensystem der Meinungen drei Ebenen eingezogen, auf denen einerseits die Ergebnisskizzen zueinander i n Beziehung gesetzt, auf denen andererseits Querverbindungen und Abgrenzungen zu noch nicht erwähnten Rechtsfragen verdeutlicht werden können: • A u f der ersten Ebene (1) geht es u m das Zielobjekt der Bindung: Z i e l t die B i n d u n g auf das Ergebnis oder auf den Vorgang der gesetzgeberischen Tätigkeit? A u f dieser Ebene hebt sich das dritte - und vergleichsweise neueste - der vorgestellten Bindungskonzepte v o n den beiden anderen ab. • D i e zweite Ebene (2) steht quer zu der ersten. A u f ihr geht es u m die Reichweite der Bindung. Hier findet sich der bekannte Streit, ob nur der Tenor oder auch die tragenden Gründe verfassungsgerichtlicher EntscheiKorioth, Der Staat 30 (1991), S. 549, fordert einerseits eine sorgfältige Prüfung durch den Gesetzgeber (a.a.O., S. 567), meint jedoch andererseits, der Gesetzgeber müsse seine abweichende verfassungsrechtliche Ansicht nicht darlegen (a.a.O., S. 566 in Fn. 80). Zustimmung fand Korioth bei Schuppert, PersR 1997, 137 (140). Rinken, in: Wassermann, AK-GG, Art. 94 Rn. 71a, meint, der Bundesgesetzgeber müsse „die Präjudizien des BVerfG [...] reflektieren und sich mit ihnen vor einer Gesetzesänderung auseinanderf.. .]setzen". Laut Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (455), fordert der Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht, „seine Rechtsauffassung hinreichend ernst zu nehmen, sie nicht zu ignorieren und ihr auch nicht mutwillig entgegen zu handeln." Sehr knapp, aber in ähnlicher Richtung äußert sich Ziekow, Jura 1995, 522 (526): „Aus dem Prinzip der Verfassungsorgantreue ist der Gesetzgeber lediglich zu einer Überprüfung seiner Auffassung von der Verfassungsmäßigkeit der Norm gehalten, ohne daß ihm eine gesteigerte Argumentationslast in Auseinandersetzung mit der Begründung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung obliegt." Auch BVerfGE 96, 260 (263), bestätigt durch E 102, 127 (141 f), läßt sich im Sinne einer Argumentationspflicht deuten (vgl. bereits 1. Kapitel, Fn. 24). Beachtlich auch: Detterbeck, NJW 1996, 426 (431), der zwar an sich das zweite Bindungskonzept verficht, jedoch gleichwohl eine Überlegung anstellt, die dem dritten Bindungskonzept nahekommt: Seiner Ansicht nach wird „kein Gesetzgeber so dreist sein, eine Wiederholungsnorm ohne flankierende Maßnahmen wie Öffentlichkeitsarbeit und namentlich Rechtsgutachten [...] zu erlassen." Dies ist allerdings nicht Stellungnahme zur rechtlichen, sondern Hoffnung auf die faktische Wirkung der Gerichtsentscheidungen.
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
35
düngen binden. Nimmt man die weniger diskutierte Unterscheidung zwischen einer verfahrensgegenstandsabhängigen und einer verfahrensgegenstandsunabhängigen Bindung hinzu, so entsteht eine Ebene, auf der die Trennlinie zwischen den ersten beiden Bindungskonzepten verläuft. • Auf der dritten Ebene (3) geht es um den Normbezug der Bindungsaussage: Beschäftigt sich die Bindungsaussage mit dem Schicksal der verworfenen Norm oder mit dem Schicksal anderer Normen? Dieser Gesichtspunkt entwickelt innerhalb unserer drei Bindungskonzepte keine Unterscheidungskraft, kann aber verdeutlichen, welche Fragen außerhalb liegen. Nach der thesenartigen Vorstellung nun zu den drei Ebenen im einzelnen: 7. Ergebnisbezogene oder vorgangsbezogene Bindung Eine Bindung des Gesetzgebers an normverwerfende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kann unterschiedliche Zielobjekte aufweisen. Ich möchte zwischen ergebnisbezogenen und vorgangsbezogenen Bindungen unterscheiden. 26 Eine ergebnisbezogene Bindung gibt dem Gebundenen ein bestimmtes Ergebnis vor, legt ihn im Ergebnis fest. Demgegenüber legt eine vorgangsbezogene Bindung den Gebundenen nicht im Ergebnis fest, sondern verlangt ihm die Einhaltung eines Entscheidungsvorgangs ab. Ob eine solche Bindung beachtet wurde, kann man dem Ergebnis nicht ansehen. Man muß den Blick vielmehr auf den Weg richten, der zu dem Ergebnis führte. Wendet man diese Unterscheidung auf die vorgestellten drei Konzepte an, so ergibt sich eine Zweiteilung: • Die ersten beiden Konzepte legen den Gesetzgeber im Ergebnis fest. Das erste Konzept verbietet dem Gesetzgeber Gesetze, die mit bereits verworfenen Gesetzen inhaltsgleich oder -ähnlich sind. Damit sind dem Gesetzgeber bestimmte Normierungen im Ergebnis entzogen. Das zweite Konzept verbietet Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen. Auch hier ist der Gesetzgeber im Ergebnis festgelegt, auf die verfassungsgerichtlichen Rechtsansichten verpflichtet. Damit sind die ersten beiden Konzepte als ergebnisbezogene Bindungen einzuordnen.
26 Der Unterschied zwischen ergebnisbezogenen und vorgangsbezogenen Bindungen wiederholt keineswegs die altbekannte Unterscheidung zwischen materiellem Recht einerseits und Verfahrensrecht als Unterbegriff des formellen Rechts andererseits. Wie sich diese altbekannten Kategorien zu den soeben eingeführten Begriffen verhalten, wird später auf einem Ausflug in das Verwaltungsrecht deutlich (unten, 3. Kapitel § 6).
3*
36
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
• Demgegenüber besteht das dritte Konzept nicht in einer ergebnisbezogenen, sondern in einer vorgangsbezogenen Pflicht. Solange man lediglich von einem Brüskierungsverbot spricht, wird das keineswegs deutlich. Denn es wäre durchaus denkbar, in bestimmten Ergebnissen gesetzgeberischer Tätigkeit eine Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts zu erblicken. Man könnte etwa auf dem Standpunkt stehen, eine Normwiederholung brüskiere das Bundesverfassungsgericht, sei mithin verboten. 27 Die Vertreter des dritten Bindungskonzeptes lehnen jedoch ein Normwiederholungsverbot ausdrücklich ab: Sie gestehen dem Gesetzgeber zu, eine inhaltsgleiche Norm zu verabschieden, wenn er sich nur vorher hinreichend mit der Rechtsansicht des Gerichts auseinandersetzt. 28 Hier wird der Gesetzgeber nicht im Ergebnis festgelegt, sondern ihm wird der Vorgang der Auseinandersetzung abverlangt. Was damit genau gefordert ist, bleibt freilich unausgesprochen - das dritte Konzept ist ohne weitere Konkretisierungen kaum lebensfähig. Das ändert aber nichts an der hier allein interessierenden Zuordnung: Es handelt sich nicht um eine ergebnisbezogene, sondern um eine vorgangsbezogene Rechtspflicht. Festzuhalten ist: Die ersten beiden Konzepte sehen ergebnisbezogene Bindungen, das dritte Konzept hingegen eine vorgangsbezogene Bindung vor. 2. Verfahrensgegenstandsabhängige oder Verfahrens gegenstandsunabhängige Bindung Streit entzündet sich seit langem an der Frage, ob nur der Tenor 2 9 verfassungsgerichtlicher Entscheidungen bindet oder ob auch deren tragenden Gründe 30 binden. Ist dieser Streit für unsere drei Ergebnisskizzen von Be27
Vgl. die Nachweise 1. Kapitel, Fn. 20. Vgl. die Nachweise 1. Kapitel, Fn. 23. 29 So: BGH GS, BGHZ 13, 265 (271-286); Battis, in: HStR VII, § 165 Rn. 60; Bettermann, DVB1 1982, 91 (95); Brox, in: Festschr. W i l l i Geiger, S. 809 (819); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 4 1 3 ^ 2 5 ; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 236-245; Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), S. 335 (341-362); Löwer, in: HStR II, § 56 Rn. 92-94; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 90-93; Radek, Bestand und Verbindlichkeit, S. 145-147; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, S. 60-76; Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (138-141); Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 473-482; Schnapp/Henkenötter, JuS 1994, 121 (123-125); Stern, in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar, GG, Art. 94 Rn. 129; Stricker, DÖV 1995, 978 (983-985); ausführlich: Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung, S. 57Ende (zusammenfassend: S. 121 f); für die Zeit vor 1977 umfassende Nachweise bei Sachs, Bindung, S. 7 f in Fn. 3. 30 So: st. Rspr. BVerfGE 1, 14 (37); 4, 31 (38); 19, 377 (391 f); 20, 56 (87); 40, 88 (93); BVerwGE 73, 263 (267 f); 77, 258 (261); Badura, BayVBl 1996, 33 (37); 28
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
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deutung? Das hängt von der nur selten erörterten Frage ab, ob man unter einer Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe eine verfahrensgegenstandsabhängige oder eine verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung versteht. Versteht man unter einer Bindung an die tragenden Gründe eine verfahrensgegenstandsabhängige Bindung, so kann man den Streit um Bindung an Tenor oder tragende Gründe getrost vernachlässigen. Versteht man hingegen unter der Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe eine verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung, so wird die Grenze zwischen einer Bindung nur an den Tenor oder auch an die tragenden Gründe zur Grenze zwischen den beiden ergebnisbezogenen Bindungskonzepten. Diese These gilt es zu begründen. Beginnen wir mit einer Begriffsbestimmung: 31 Eine Bindung ist verfahrensgegenstandsabhängig, wenn sie ihre bindende Wirkung nur in den Grenzen entfaltet, die durch ihren Verfahrensgegenstand gezogen werden. Eine Bindung ist hingegen verfahrensgegenstandsunabhängig, wenn sie sich von dem entschiedenen Verfahrensgegenstand löst und ihre Aussagen auch dort entfaltet, wo es um andere Verfahrensgegenstände geht. Wie verhält sich nun dieses Begriffspaar zur Unterscheidung zwischen einer Bindung nur an den Tenor und einer Bindung auch an die tragenden Gründe? • Eine Bindung an den Entscheidungstenor ist verfahrensgegenstandsabhängig. Denn der Tenor enthält - von seltenen Ausnahmen abgesehen32 - gerade die konkrete Entscheidung über den Verfahrensgegenstand. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 357 f; ders., NJW 1996, 426 (430); Geiger, BVerfGG, § 31 Anm.5 f; ders., NJW 1954, 1057 (passim); Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 124-127; Klein , AöR 108 (1983), S. 410 (440); ders., in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1325-1330; K. Lange, JuS 1978, 1 (4 f); P. Lange, VR 1979, 48 (50); Lechner/Zuck, BVerfGG, § 31 Rn. 30; Leibholz/Rupprecht, BVerfGG, § 31 Rn. 2; Maunz in: Maunz u.a., BVerfGG (5. Lfg. 1978), § 31 Rn. 16; Stern, Staatsrecht II, § 44 V 3 (S. 1038 f); Ziekow, Jura 1995, 522 (526 f); für die Zeit vor 1977 umfassende Nachweise bei Sachs, Bindung, S. 8 Fn. 4. 31 In der Sache ähnlich - allerdings terminologisch abweichend - sind die Unterscheidungen bei Detterbeck, Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 358, 359 f, 451 f (Differenzierung zwischen „relativer" und „absoluter" Bindung), und bei Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 236 f. Anders - jedoch mit ähnlichen Ergebnissen - liegt die Unterscheidung von Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (599-602), der nicht zwischen verfahrensgegenstandsabhängiger und -unabhängiger Bindung, sondern zwischen einer Bindung an die „konkrete Entscheidungsnorm" und einer Bindung „über die konkrete Entscheidungsnorm hinaus" differenziert. 32 Es ist denkbar, daß das Gericht die Entscheidung einer abstrakten Rechtsfrage in den Tenor aufnimmt. Ausdrücklich vorgesehen ist dies in § 67 S. 3 BVerfGG, wonach das Bundesverfassungsgericht in die Entscheidungsformel auch die Entscheidung über eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes maßgebliche Rechtsfrage aufnehmen kann. M i t Sachs wird man allerdings annehmen müs-
38
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
• Demgegenüber enthalten die Entscheidungsgründe Aussagen zur Auslegung des anzuwendenden Rechtsmaßstabes. Solche Aussagen lassen sich auch v o m Verfahrensgegenstand lösen und auf andere Verfahrensgegenstände anwenden. Geht man von einer Bindung dungsgründe
an tragende
Entschei-
aus, muß man sich also entscheiden: Entweder kann eine
solche B i n d u n g so verstanden werden, daß sie verfahrensgegenstandsabhängig ist, ihre W i r k u n g e n also nur innerhalb der Grenzen des Verfahrensgegenstandes entfaltet. Oder die B i n d u n g kann so verstanden werden, daß sie verfahrensgegenstandsunabhängig
ist, ihre W i r k u n g also ohne
Rücksicht auf den Verfahrensgegenstand i m m e r dann entfaltet, wenn es andernorts auf die maßstabsbezogenen Rechtsansichten ankommt. Nach diesen Vorüberlegungen w i r d erkennbar: Versteht man die B i n d u n g an tragende Gründe als verfahrensgegenstandsabhängige
33
,
so kann man
den Unterschied zwischen einer B i n d u n g nur an den Tenor oder auch an die Gründe vernachlässigen. 3 4 Denn werden auf der einen Seite zur Auslegung des Tenors ohnehin die Entscheidungsgründe herangezogen 3 5
und
w i r d auf der anderen Seite die B i n d u n g an die tragenden Gründe i n die sen, daß auch eine derartige Aufnahme von abstrakten Rechtsaussagen in den Entscheidungstenor nicht zu einer vom Verfahrensgegenstand losgelösten Bindung führen kann (Sachs, Bindung, S. 38 [allgemein] und S. 206-214 [zu § 67 S. 3 BVerfGG]). Eine Tenorierung gem. § 67 S. 3 BVerfGG könnte allenfalls die Erweiterung des Verfahrensgegenstandes auf die im Ausspruch beantwortete (abstrakte) Rechtsfrage zur Folge haben, was hier jedoch aus den unten (2. Kapitel § 5 D. VII.) genannten Gründen abgelehnt wird. 33 Für eine verfahrensgegenstandsabhängige Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe: Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 71 f; Sachs, DtZ 1990, 193 (197 - Begrenzung des Gegenstandes der Bindung auf den Entscheidungsgegenstand); ausführlich: Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (599602); wohl auch: Geiger, NJW 1954, 1057 (passim, bspw. 1060 links, wonach die tragenden Gründe „fallgebunden sind" - zur Einordnung Geigers auch Vogel, a.a.O., S. 601 f: Ich habe Zweifel!). Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 24, 289 (297 - Zusätze nicht im Original): „Auch in diesem Fall [einer Bindung an die Entscheidungsgründe] kann sich die Bindung aber nur auf den Streitgegenstand beziehen, über den das Urteil entschieden hat." Ähnlich auch: BGH GS, BGHZ 13, 265 (291): „Wird [...] ein konkreter Sachverhalt unter einen Rechtssatz subsumiert, so würde zwar - bei Anerkennung der bindenden Wirkung der Gründe - dieser Rechtssatz binden, aber eben nur mit der Begrenzung, wie sie sich aus der Fallgestaltung der entschiedenen Sache ergibt. Nur rechtlich gleichliegende oder annähernd gleichliegende Fälle wären dann von der Bindungswirkung erfaßt." Von einer nur verfahrensgegenstandsabhängigen Bindung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ging das Bundesverfassungsgericht auch aus, als es den von 1951 bis 1956 gem. § 97 BVerfGG möglichen verfassungsgerichtlichen Rechtsgutachten die Verbindlichkeit nach außen absprach (BVerfGE 2, 79 [88] - Hervorhebungen nicht im Original): „Nur die Entscheidungen, die ein Senat im Urteilsverfahren zu einem konkreten Sachverhalt trifft, binden nach § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden, nicht aber Entscheidungen über eine abstrakte Rechtsfrage."
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
39
Grenzen des Verfahrensgegenstandes verwiesen, so gleichen sich i m Regelf a l l 3 6 die Resultate. 3 7 A n dieser Stelle ein kleiner Vorgriff auf den erst später behandelten 3 8 B e g r i f f des Verfahrensgegenstandes: Solange die B i n d u n g an normverwerfende
Entscheidungen auf den Verfahrensgegenstand
grenzt bleibt, kann es a l l e n f a l l s
39
be-
bei inhaltsgleichen oder inhaltsähnlichen
N o r m e n zu einer B i n d u n g des Gesetzgebers k o m m e n . 4 0 Geht es hingegen u m eine N o r m , die keinerlei Ä h n l i c h k e i t m i t der verworfenen N o r m aufweist, scheidet hier w i e dort eine B i n d u n g schon deshalb aus, w e i l der Verfahrensgegenstand der bindenden Entscheidung verlassen wurde. So treffen sich die Kontrahenten bei demselben Ergebnis: Sowohl die Vertreter einer B i n d u n g an den Tenor als auch die Vertreter einer verfahrensgegenstandsabhängigen B i n d u n g an tragende Entscheidungsgründe gelangen allenfalls zu einem Verbot v o n Normen, die verworfenen N o r m e n ä h n e l n . 4 1 34 Im Ergebnis ebenso: Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 90, wo wohl überhaupt nur eine verfahrensgegenstandsabhängige Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe in Betracht gezogen wird. 35 Zur Verwendung der Gründe als Auslegungshilfe für den Tenor: Pestalozza , Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 61 m.w.N. und Rn. 90. 36 Relevant wird der Unterschied jedoch dort, wo eine in den Gründen behandelte Frage zwar zum Verfahrensgegenstand gehört, aber im Tenor keinerlei Niederschlag gefunden hat. Denn in diesem Fall enthält der Tenor nicht einmal einen auslegungsfähigen Anhaltspunkt, der einer Bindung nur an den Tenor den Rückgriff auf die Gründe erlaubte. Solche Fälle werden jedoch selten sein. Soweit es um die Verfassungsgemäßheit von Normen geht, ist dies denkbar hinsichtlich der im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung verworfenen Auslegungsvarianten (dazu Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 376-378). 37 Bezeichnenderweise entnimmt Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 374 mit Fn. 132, der Gesetzeskraft und der materiellen Rechtskraft in objektiver Hinsicht dasselbe Normwiederholungsverbot, obwohl er - legt man die hier entwickelte Begrifflichkeit zugrunde - in der Gesetzeskraft eine Bindung nur an den Tenor sieht (a.a.O., S. 373 f)> der materiellen Rechtskraft hingegen eine verfahrensgegenstandsabhängige Bindung an die tragenden Gründe (a.a.O., S. 130). Vor diesem Hintergrund darf a.a.O., S. 332 f, nicht mißverstanden werden: Zwar erwachsen die tragenden Gründe laut Detterbeck nicht selbst in materielle Rechtskraft, gleichwohl binden sie nach seiner Konzeption verfahrensgegenstandsabhängig. 38
Unten, 1. Kapitel § 2 C. II. 3. b) (1). Ob sich ein solches Verbot ergibt, hängt von der Definition des Verfahrensgegenstandes ab. Auch dazu unten, 1. Kapitel § 2 C. II. 3. b) (1). 40 Das wird deutlich bei: Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG (5. Lfg. 1978), § 31 Rn. 24 (unklar dann aber a.a.O., Rn. 19: „Bindung [...], wenn die gleiche Rechtsfrage auftritt" - also doch verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung an verfassungsgerichtliche Rechtsansichten?); ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 94 Rn. 32; Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (allgemein: S. 599-602, Anwendung auf Normwiederholungsverbot: S. 606 f). 41 Ein Normwiederholungsverbot wird auf eine verfahrensgegenstandsabhängige Bindung an die tragenden Gründe gestützt von: Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG 39
40
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen Das B i l d ändert sich, w o unter einer B i n d u n g an die tragenden Gründe
keine
verfahrensgegenstandsabhängige,
standsunabhängige
sondern
eine
v erfahrensgegen-
B i n d u n g verstanden w i r d . 4 2 Eine solche B i n d u n g löst
sich v o m Verfahrensgegenstand. D i e i n den tragenden Gründen geäußerten Rechtsansichten w i r k e n dann auf die Bindungsadressaten w i e eine abstraktgenerelle Rechtsnorm. 4 3 Der Gesetzgeber muß nicht nur nach Inhaltsähnlichkeiten v o n vorhandenen oder geplanten N o r m e n m i t bereits verworfenen N o r m e n forschen, sondern auch unähnliche N o r m e n oder Normenvorhaben unter die Rechtsansichten des Gerichts subsumieren. 4 4 Denkt man dies zu einer an den Gesetzgeber gerichteten, ergebnisbezogenen Bindungsaussage fort, so ergibt sich unabhängig von inhaltlicher Ä h n l i c h k e i t 4 5 ein Verbot
solcher Normen,
welche
gegen tragende
verfassungsgerichtliche
(5. Lfg. 1978), § 31 Rn. 16, 24 (a.a.O., Rn. 19 klingt allerdings eher nach verfahrensgegenstandsunabhängiger Bindung: „Bindung [...], wenn die gleiche Rechtsfrage auftritt"); ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 94 Rn. 29 (Bindung an tragende Gründe) und Rn. 32 (Normwiederholungsverbot); Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (606 f vor dem Hintergrund der 599-602). Viele äußern sich nicht zu dem Unterschied zwischen verfahrensgegenstandsabhängiger und -unabhängiger Bindung. Sie gehören wohl ebenfalls hierher, sofern sie eine Bindung an die tragenden Gründe im Ergebnis auf ein Verbot inhaltsähnlicher Normen beschränken, vgl. dazu noch 1. Kapitel, Fn. 46. Demgegenüber wird ein Norm wiederholungs verbot auf eine Bindung nur an den Tenor gestützt von: Löwer, in: HStR II, § 56 Rn. 92; Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 69, 90-93, 102 (Bindung nur an den Tenor) und Rn. 66, 85 f sowie § 20 V I Rn. 130 (Norm wiederholungs verbot). 42 Für eine Verfahrens gegenstandsunabhängige Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe etwa: Badura, BayVBl 1996, 33 (37 f); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 413-425 (vgl. jedoch die Einschränkung unten 1. Kapitel, Fn. 48); Detterbeck, Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 358; Geiger, Einige Besonderheiten, S. 30-33; Rozek, N V w Z 1992, 343 (348); wohl auch: K. Lange, JuS 1978, 1 (5); die Herleitung von Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 120-123, läuft ebenfalls auf eine verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung an verfassungsgerichtliche Rechtsansichten hinaus er selbst folgert allerdings nur ein Normwiederholungsverbot (a.a.O., S. 128). Auch Löwer, in: HStR II, § 56 Rn. 92 f ; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, S. 60-76 (besonders deutlich S. 69 f); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 473 f, und Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung, passim (bspw. S. 45 f, 68 f); wohl auch Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung unter dem Grundgesetz, S. 98 f, verstehen unter einer Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe eine verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung, richten hiergegen jedoch ihre Kritik (Löwer, a.a.O., Rn. 93; Schenke, a.a.O.; Schlaich/Korioth, a.a.O., Rn. 475-482; Wischermann, a.a.O., S. 51-120; Pieroth, a.a.O.). Bei isolierter Betrachtung klingen auch BVerfGE 19, 377 (392); 40, 88 (93), nach einer verfahrensgegenstandsunabhängigen Bindung, die Nachweise oben 1. Kapitel, Fn. 33, sprechen jedoch dagegen. 43
Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung, S. 68 f und passim. So: Badura, BayVBl 1996, 33 (37 f); Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 451 f; ders., NJW 1996, 426 (431). 44
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
41
Rechtsansichten verstoßen. 46 Der Gesetzgeber unterliegt dann einem abstrakten Fehlerwiederholungsverbot und einer abstrakten Fehlerbeseitigungspflicht. 47 Unterscheidet man also zwischen einer Bindung nur an den Tenor und einer verfahrensgegenstandsunabhängigen Bindung an die tragenden Gründe, so markiert man zugleich die Grenze zwischen den beiden ersten, ergebnisbezogenen Bindungskonzepten. 48 Doch wie verhält sich das dritte, vorgangsbezogene Bindungskonzept zu den soeben behandelten Unterscheidungen? Zur Erinnerung: Das Brüskierungsverbot verwehrt dem Gesetzgeber zwar im Ergebnis keinerlei Gesetz, verpflichtet ihn jedoch, sich auf dem Weg zum Gesetz argumentativ mit verfassungsgerichtlichen Entscheidungen auseinanderzusetzen. Eine solche Argumentationspflicht fordert eine Auseinandersetzung mit verfassungsgerichtlichen Argumentationen, betrifft insofern (zumindest auch) die Entscheidungsgründe. Gleichwohl sind - leicht abgewandelt - auch hier die soeben angestellten Überlegungen relevant. Sie haben Bedeutung für die Frage, bei welchem Anlaß die Argumentationspflicht aktuell wird: Muß sich der Gesetzgeber nur dann mit verfassungsgerichtlichen Argumentationen auseinandersetzen, wenn eines seiner Gesetze oder Gesetzesvorhaben einem vom Verfassungsgericht verworfenen Gesetz ähnelt? Oder besteht die Argumentationspflicht unabhängig von Inhaltsähnlichkeiten immer dann, wenn sich dem Gesetzgeber eine bereits vom Bundesverfassungsgericht beantwortete Rechtsfrage stellt? Diese Frage ist - wenn ich recht sehe - noch 45 Badura, BayVBl 1996, 33 (37 f) meint sogar, zugleich eine verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung des Gesetzgebers an tragende Entscheidungsgründe befürworten und ein Normwiederholungsverbot ablehnen zu können! 46 Wer hingegen eine Bindung an die tragenden Gründe nur unter dem Stichwort „Normwiederholungsverbot" diskutiert (so - ohne dies zu problematisieren - etwa: Korioth, Der Staat 30 [1991], S. 549 [passim]; Schuppert, PersV 1997, 137 [137140]; Stricker , DÖV 1995, 978 [980-982]), der geht offenbar von einer nur verfahrensgegenstandsabhängigen Bindung an die tragenden Gründe aus. Denn von Normwiederholung kann nur bei Inhaltsgleichheit oder zumindest Inhaltsähnlichkeit die Rede sein. Offener formuliert Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1336: „Wiederholungsverbot" (Was darf nicht wiederholt werden? Norm oder abstrakter Verfassungsverstoß? Für ersteres spricht Rn. 1330 „Beschränkung der Bindung auf gleichgelagerte Fälle"). Auch BVerfGE 1, 14 (15 [Ls. 5], 37 - Hervorhebung nicht i m Original) beschränkt sich auf die Ausführung, „daß ein Bundesgesetz desselben Inhalts nicht noch einmal" erlassen werden kann; bestätigend: BVerfGE 69, 112(115). 47
Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 452. Das gilt nicht für Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 413-^25: Er vertritt zwar eine Verfahrens gegenstandsunabhängige Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe, faßt den Begriff der tragenden Entscheidungsgründe jedoch so eng, daß im Ergebnis nur ein Verbot von Normen besteht, die bereits verworfenen Normen ähneln - so entsteht mit der Begründung des zweiten Bindungskonzeptes im Ergebnis das erste Bindungskonzept. 48
42
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
nicht erörtert. 49 Insofern können wir das Problem zwar als erörterungsbedürftig vormerken, jedoch zugleich feststellen, daß sich das Brüskierungsverbot zu den hier angesprochenen Streitfragen bisher neutral verhält. Damit ergibt sich als Zwischenergebnis: Der Streit, ob nur der Tenor oder auch die tragenden Gründe verfassungsgerichtlicher Entscheidungen binden, gewinnt für unser Meinungsspektrum Abgrenzungskraft, wenn ein zweites - zumeist vernachlässigtes - Kriterium hinzugenommen wird. Das zweite Kriterium ist die Unterscheidung zwischen einer verfahrensgegenstandsabhängigen und einer verfahrensgegenstandsunabhängigen Bindung. Auf der durch diese Begriffe aufgespannten Ebene lassen sich die ergebnisbezogenen Bindungskonzepte voneinander abheben: Eine verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung an die tragenden Entscheidungsgründe führt zu einem Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen. Demgegenüber führt eine Bindung an den Tenor ebenso wie eine verfahrensgegenstandsabhängige Bindung an die tragenden Gründe allenfalls zu einem Verbot von Normen, die bereits verworfenen Normen ähneln. 3. Produktübergreifende oder auf das kontrollierte beschränkte Bindung
Einzelprodukt
Für die dritte Ebene wird eine bereits bekannte Unterscheidung wieder aufgenommen: 50 Die Bindung an eine normverwerfende Verfassungsgerichtsentscheidung kann das rechtliche Schicksal gerade der verworfenen Norm betreffen. Sie kann aber auch das rechtliche Schicksal anderer Normen betreffen. Im ersten Fall kann man von einer auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkten, im zweiten Fall von einer produktübergreifenden Bindung sprechen. Thema der vorliegenden Arbeit ist allein die produktübergreifende Bindung, demgegenüber wurde die auf das kontrollierte Einzelprodukt bezogene Bindung ausdrücklich ausgeklammert. Diese Ausgrenzung entwickelt zwar innerhalb der vorgestellten Bindungskonzepte keine Unterscheidungskraft. Sie kann aber verdeutlichen, welche Fragenbereiche außerhalb unseres Themas und damit auch außerhalb der hier vorgestellten Bindungskonzepte liegen: Jenseits der Themenstellung liegen Bindungsaussagen, die das kontrollierte Einzelprodukt betreffen. Was könnten das für Bindungsaussagen sein? 49 Allerdings ist das dritte, vorgangsbezogene Bindungskonzept als Alternative zu einem Normwiederholungsverbot entstanden (vgl. oben, 1. Kapitel § 2 A. I. 3.). Da es dem (abgelehnten) Normwiederholungsverbot um inhaltsähnliche Normen ging, könnte auch bei der seinen Platz einnehmenden Argumentationspflicht allein an inhaltsähnliche Normen gedacht worden sein. 50 Vgl. oben, 1. Kapitel § 1.
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
43
Zum einen ist denkbar, daß der Bundesgesetzgeber selbst Normanwender eines vom Bundesverfassungsgericht überprüften Gesetzes ist 5 1 - beispielsweise wenn und soweit eine Selbstbindung des Bundesgesetzgebers an sein eigenes Gesetz anerkannt wird. 5 2 Stellt man hier die Frage, ob das verworfene Gesetz weiterhin durch den Gesetzgeber (oder andere) angewendet werden darf, oder überlegt man, was mit den bereits vorhandenen Anwendungsakten geschieht, so stellt man Bindungsfragen, die sich auf das kontrollierte Einzelprodukt beziehen. Unsere drei Bindungskonzepte äußern sich zu diesen Fragen nicht. Ihnen geht es nicht um die gesetzesanwendende, sondern um die gesetzgebende Rolle des Gesetzgebers. Auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkte Bindungen können den Gesetzgeber aber auch in seiner gesetzgebenden Rolle treffen. So ist bei den verfassungsgerichtlichen Entscheidungsvarianten der Unvereinbarerklärung und der Appellentscheidung die beanstandete Norm nach der gerichtlichen Kontrolle noch nicht aus der Welt. Es stellt sich daher die Frage, ob den Gesetzgeber die Pflicht trifft, die vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Norm aufzuheben oder zu ändern. 53 Trotz äußerer Ähnlichkeit liegt diese Frage jenseits unserer Themenstellung. Denn welche Reaktionspflichten den Gesetzgeber (nach verfassungsgerichtlicher Unvereinbarerklärung oder Appellentscheidung) in Ansehung der konkret kontrollierten Norm treffen 54 , ist eine auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkte Bindungsfrage. Die hier vorgestellten Bindungskonzepte werden entsprechend der Themenstellung als produktübergreifende Aussagen verstanden. Das bedeutet: Ein Verbot von Normen, die verworfenen Normen ähneln (erstes Bindungskonzept), meint andere als die verworfene Norm. Das Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen (zweites Bindungskonzept), meint ebenfalls andere als die verworfene Norm. Die Pflicht des Gesetzgebers zur argumentativen Auseinandersetzung mit verfassungsgerichtlichen Rechtsansichten (drittes Bindungskonzept) besteht in Ansehung anderer als der verworfenen Norm.
51
Vgl. Herzog , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, V I Rn. 23. Beispiele und Nachweise zur Bindung des Bundesgesetzgebers an sein eigenes Gesetz finden sich unten 1. Kapitel § 2 C. III. 1. 53 Dazu etwa: BVerfGE 48, 327 (340 f); 55, 100 (110); 81, 363 (384 f); 87, 114 (135-138 und Ls.); Heußner, NJW 1982, 257 (passim); Rinken , in: Wassermann, AK-GG, Art. 94 Rn. 50-53. 54 Fragt man hingegen, ob die Unvereinbarerklärung oder die Appellentscheidung den Bundesgesetzgeber auch bei seiner Entscheidung über andere Gesetze binden, so geht es um eine produktübergreifende Bindung an diese Entscheidungen. Insoweit gelten auch bei Appellentscheidung oder Unvereinbarerklärung die hier vorgestellten und untersuchten Bindungskonzepte. 52
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
III. Zusammenfassung Die Kennenlernrunde ist beendet. Es haben sich drei mögliche Antworten auf die produktübergreifende Bindungsfrage vorgestellt. Zur Verortung dieser Antworten wurden drei Gesichtspunkte eingeführt. Die Gesichtspunkte erlauben zum einen, die Bindungskonzepte zueinander in Relation zu setzen. Sie erlauben zum anderen, Verbindungen und Trennlinien zu einigen anderen Fragestellungen zu ziehen, die im Zusammenhang mit der Bindung des Gesetzgebers an verfassungsgerichtliche Entscheidungen diskutiert werden. Ein zusammenfassender Überblick erfolgt in Tabellenform (Abbildung 2 auf S. 45).
B. Innenperspektive: Eine teleologische Analyse Nach der Kennenlernrunde folgt nunmehr die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Bindungskonzepten. Welches der drei Konzepte ist das richtige? Um dies herauszufinden, könnte man die vorgestellten Bindungskonzepte an äußeren Kriterien messen. Der Rechtsanwender ist auf das äußere Kriterium des geltenden Rechts verpflichtet, er muß einschlägige Rechtsgrundlagen suchen und diskutieren. Die Rechtsgrundlagen bilden den Ausgangspunkt für neue und den Maßstab für vorhandene Rechtsansichten. Wo sich die Rechtsgrundlagen nicht ausdrücklich und eindeutig äußern, ist nach weiteren von außen kommenden Maßstäben zu suchen. Neben einer Betrachtung von außen ist aber auch eine Betrachtung von innen möglich. Eine solche Betrachtung nimmt zunächst jede Meinung so hin, wie sie vorgefunden wurde, um sie an sich selbst zu messen. Sie fragt nicht nach Übereinstimmung mit etwas Äußerem, sondern nach innerer Stimmigkeit. 55 Diese Innenperspektive 56 kann die Außenperspektive nicht 55 Alexy unterscheidet zwischen der internen und der externen Rechtfertigung juristischer Urteile ( wobei sogar eine mittelbare Anhörungsberechtigung ausreichen soll; ihm folgend: Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung unter dem Grundgesetz, S. 96; dagegen: BVerfGE 78, 320 (328); Battis/ Kersten, PersV 1998, 21 (22); Lechner/Zuck, BVerfGG, § 31 Rn. 15; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 63. 119
Vgl. §§ 77, 82 Abs. 1, 94 Abs. 4 BVerfGG. So: Brox, in: Festschr. W i l l i Geiger, S. 809 (817, 820); Geiger, Einige Besonderheiten, S. 28; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 231; Kerbusch, Bindung, S. 66-71; Klein, AöR 108 (1983), S. 410 (436 f); ders., in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1300. Dagegen: Battis, in: HStR VII, § 165 Rn. 59; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 4 3 9 ^ 4 2 ; Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (555); Löwer, in: HStR II, § 56 Rn. 90; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 63 mit Fn. 159; Schiaich/ Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 467. Von einer Rechtskraftwirkung normverwerfender Entscheidungen nur inter partes geht auch BVerfGE 78, 320 (328) aus. 120
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
65
Insgesamt zeigt sich: Zwar ist umstritten, ob der Bundesgesetzgeber nur im Falle seines Verfahrensbeitritts, auch im Falle seiner Anhörungsberechtigung oder immer Adressat der materiellen Rechtskraft normverwerfender Entscheidungen ist. Der Streit kann aber nichts daran ändern, daß der Bundesgesetzgeber überhaupt zu den möglichen Adressaten der materiellen Rechtskraft gehört. Weil er zu den möglichen Adressaten gehört, müssen wir weiter fragen, was die materielle Rechtskraft von ihm fordert. 3. Objektive Reichweite der materiellen Rechtskraft Erinnern wir uns einer eingangs eingeführten Unterscheidung: 121 Überall, wo Hoheitsprodukte gerichtlich kontrolliert werden, kann man fragen: Wirkt sich das Kontrollergebnis nur auf das rechtliche Schicksal des kontrollierten Produktes aus? Dann kann man von einer auf das Einzelprodukt beschränkten Bindungsaussage sprechen. Oder wirkt es sich zusätzlich auf andere Produkte aus? Insoweit kann man von produktübergreifenden Bindungsaussagen sprechen. Die drei hier untersuchten Bindungskonzepte treffen allein produktübergreifende Bindungsaussagen.122 Wollen sie sich auf die materielle Rechtskraft berufen, so müßte sich diese produktübergreifend äußern. Eine These: Es stehen zwei verschiedene Rechtskraftdogmatiken zur Verfügung. Die eine führt zu Bindungsaussagen, die auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleiben (a), die andere zusätzlich zu produktübergreifenden Aussagen (b). Welche ist richtig? Hierzu äußert sich die materielle Rechtskraft selbst nicht. Vielmehr wird ihr etwas hinzugefügt, was nicht aus ihr selber stammt (c-e). Das gilt es zu begründen. a) Eine Rechtskraftdogmatik, deren Aussagen auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleiben Es gibt eine Rechtskraftkonzeption, deren Aussagen auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleiben. Sie soll kurz anhand des Zivilprozeßrechts vorgestellt werden, an dem sich die öffentlich-rechtliche Rechtskraftdogmatik orientiert. 123 121
Vgl. oben, 1. Kapitel § 1. Vgl. oben, 1. Kapitel § 2 A. II. 3. 123 Für eine einheitliche Bestimmung des für die Rechtskraftdogmatik zentralen Streitgegenstandsbegriffs: Lerche , BayVBl 1956, 295 (297 - gefordert wird ein „behutsam gefaßter zentraler Oberbegriff des Streitgegenstandes); Lüke , JuS 1967, 1 (1 f und passim). Auch Detterbeck , Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, geht im Grundsatz von der Einheitlichkeit der Rechtskraftdogmatik aus (a.a.O., S. 7-22, zum Sonderfall des Verfassungsprozesses allerdings einschränkend 122
5 Bauer
66
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Beim Seitenblick auf den Zivilprozeß müssen wir uns für einen Moment von unserer Terminologie trennen. Wenn wir bisher von „produktübergreifenden" und „auf das konkrete Einzelprodukt beschränkten" Bindungsaussagen sprachen, so war diese Terminologie auf das Öffentliche Recht zugeschnitten, wo vor Gericht (unter anderem) über Produkte der Hoheitsgewalt entschieden wird. Eine inhaltsgleiche Unterscheidung ist jedoch auch im Zivilprozeß angebracht. Denn auch hier können die Bindungsaussagen der materiellen Rechtskraft entweder auf den entschiedenen Einzelfall beschränkt bleiben oder über diesen hinausgehen. Insoweit soll von auf den Einzelfall beschränkten und einzelfallübergreifenden Bindungsaussagen die Rede sein. Soweit die terminologische Vorbemerkung. In Rechtskraft erwächst die Entscheidung über den Streitgegenstand. Daher ist der Begriff des Streitgegenstandes für die Reichweite der materiellen Rechtskraft von besonderer Bedeutung. Im Zivilprozeßrecht wird überwiegend ein zweigliedriger, prozessualer Streitgegenstandsbegriff angenommen. 1 2 4 Danach setzt sich der Streitgegenstand aus Klaganspruch und Klaggrund zusammen. Der Klaganspruch ist das prozessuale Begehren und ergibt sich aus dem Antrag. Der Klaggrund ist der tatsächliche Lebenssachverhalt, auf den der Kläger sein Begehren stützt. 1 2 5 Zum Streitgegenstand gehört damit auch das historische Ereignis 1 2 6 , aus dem der Kläger sein Begehren herleitet. Wechselt das historische Ereignis, so wechselt auch der Streitgegenstand. 127 S. 302 f). Er errichtet die wohl ausführlichste aktuelle Rechtskraftdogmatik für das Öffentliche Recht ausdrücklich auf zivilprozessualem Fundament (a.a.O., S. 2249). 124 Lüke, in: Lüke/Wax, MünchKomm ZPO, Vor § 253 Rn. 31; ders., Zivilprozeßrecht, Rn. 162, 361; fast wortgleich (!) schreibt Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 48; Musielak, NJW 2000, 3593 m.w.N.; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 95 I I 2 (S. 532); Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, Einl. I I Rn. 24 f; für einen zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff sprechen auch BGHZ 79, 245 (248 f); 94, 29 (33); 117, 1 (5); NJW 1993, 2052 (2052 f). Zu den abweichenden Meinungen noch 1. Kapitel, Fn. 127. 125 Lüke, in: Lüke/Wax, MünchKomm ZPO, Vor § 253 Rn. 32; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 253 Rn. 10. 126 Formulierung von: Lüke, Zivilprozeßrecht, Rn. 163, 361. 127 Wer nicht dem hier vertretenen zweigliedrigen, sondern einem eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff folgt, kommt in diesem - für unsere weiteren Überlegungen wichtigen - Punkt zu dem gleichen Ergebnis: Zwar bestimmt er den Streitgegenstand allein vom prozessualen Begehren her, greift jedoch zur näheren Individualisierung ebenfalls auf den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt zurück (vgl. das Beispiel bei Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 35 f). Es handelt sich daher um einen weitgehend terminologischen Streit (so zurecht: Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 95 I I I 3 [S. 532]), der hier auf sich beruhen kann. Auch eine moderne Variante des in seiner ursprünglichen Form nicht mehr vertretenen materiell-rechtlichen Streitgegenstandsbegriffs knüpft an den Le-
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
67
Doch was geschieht bei Identität der Streitgegenstände? Weithin anerkannt ist der Grundsatz „ne bis in i d e m " . 1 2 8 Er besteht in einem an den Richter gerichteten Verbot, über einen bereits rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand erneut zu entscheiden. Die Identität des Streitgegenstandes ist negative Prozeßvoraussetzung 129, sie führt zur Abweisung der Klage als unzulässig ohne Sachprüfung. 130 Führt dieses - grob skizzierte - Rechtskraftmodell nur zu einer auf den Einzelfall beschränkten oder auch zu einer einzelfallübergreifenden Bindungsaussage? Dazu ein zivilrechtliches Beispiel: A schlägt dem B anläßlich dessen Geburtstags in die Magengrube. B klagt auf Schadensersatz in Höhe von 1.000,- €. Der Klage wird in Höhe von 600,- € stattgegeben, im übrigen wird sie abgewiesen. Das Urteil wird rechtskräftig. • Zunächst folgt aus der materiellen Rechtskraft eine auf den Einzelfall bezogene Bindungsaussage. Auf sie stößt, wer in dem Beispiel fragt: Kann B in einem zweiten Prozeß versuchen, die 400,- € zu bekommen, die ihm seiner Meinung nach noch zustehen? Nein, denn die neue Klage würde dasselbe prozessuale Begehren (Klaganspruch) erneut aus demselben geschichtlichen Lebenssachverhalt ableiten (Klaggrund). Dem steht die materielle Rechtskraft entgegen, es ergeht Prozeßurteil. Möglich wäre hingegen, auf Schmerzensgeld vorzugehen. Denn obwohl es nach wie vor um denselben Lebenssachverhalt geht, verfolgt B hier ein prozessuales Begehren, welches nicht Gegenstand des ersten Verfahrens war. 1 3 1 • Wie muß das Beispiel verändert werden, um auf eine einzelfallübergreifende Bindungsfrage zu stoßen? B wiederholt seine Körperverletzung am nächsten Geburtstag des A. Dabei achtet er peinlich genau darauf, daß sich die äußeren Umstände ebenso wie die zugefügten Verletzungen und Schäden gleichen. Ist der Fall bereits rechtskräftig entschieden? Nein, benssachverhalt an, indem verschiedene materielle Ansprüche dann zu einer Anspruchseinheit und damit zu einem einheitlichen Streitgegenstand zusammengefaßt werden, wenn sie demselben Lebenssachverhalt entstammen (so: Nikisch, AcP 154 [1955], S. 267 [passim, insbesondere S. 281-283]). 128 BGHZ 36, 365 (367); 34, 337 (339); 93, 287 (288 f); NJW 1993, 333 (334); BAG, AP Nr. 17 zu § 4 KSchG 1969, Bl. 2; BVerwGE 25, 7 (9); Gottwald, in: Lüke/Wax, MünchKomm ZPO, § 322 Rn. 36; Jauernig , Zivilprozeßrecht, § 62 I I I 1 (S. 247 f); Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 322 Rn. 22, 39; Musielak, NJW 2000, 3593; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 151 I I I 1 (S. 917); zur Gegenansicht unten 1. Kapitel, Fn. 159. 129 So: Musielak , in: Musielak, ZPO, § 322 Rn. 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 151 I I I 1 (S. 917). 130 Gottwald , in: Lüke/Wax, MünchKomm ZPO, § 322 Rn. 36 (Ausnahmen in Rn. 43-45 m.w.N.); Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 322 Rn. 39; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 322 Rn. 11 (Ausnahmen in Rn. 12 m.w.N.). 131 Vgl. das Fallbeispiel Nr. 6 bei Luke, Zivilprozeßrecht, § 31 I V (vor Rn. 360). *
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
denn obwohl es sich um einen „Wiederholungsakt" handelt, obwohl sich die Umstände bis ins Detail gleichen, hat sich der Zeitpunkt des Geschehens verschoben. Es geht um eine andere historische Situation und damit um einen anderen Streitgegenstand. Daß dem so sein muß, zeigt auch die Rechtsfolge der materiellen Rechtskraft: Denn wäre der „Wiederholungsschlag" derselbe Streitgegenstand, so müßte die Klage des A wegen der erneuten Körperverletzung ausgehend vom Grundsatz „ne bis in idem" als unzulässig abgewiesen werden. Dem B wäre im Ergebnis ein Freibrief für alle Wiederholungsakte erteilt. Darum kann der „Wiederholungsschlag" nicht derselbe, sondern muß ein neuer Streitgegenstand sein. Als Fazit ist festzuhalten: So wie wir die materielle Rechtskraft im Zivilprozeß kennengelernt haben, äußert sie sich nicht zu Wiederholungsfällen. Ihre Aussage beschränkt sich vielmehr auf die Entscheidung über ein prozessuales Begehren, das aus einer ganz bestimmten historischen Situation abgeleitet ist - eine auf den Einzelfall beschränkte Bindungsaussage. Übersetzt man dieses Ergebnis in unsere öffentlich-rechtliche Terminologie, so ergibt sich eine Rechtskraftdogmatik, deren Aussagen auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleiben. b) Eine produktübergreifende Rechtskraftdogmatik Der materiellen Rechtskraft wird heute an unterschiedlichsten Stellen eine Aussage auch für Wiederholungsfälle entnommen 132 - eine produktübergreifende Bindungsaussage entsteht. Einige Beispiele: Die materielle Rechtskraft eines Kündigungsschutzprozesses erfaßt eine erneute Kündigung aus gleichem Grunde. 133 Ist über die Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses nach dem Aktiengesetz rechtskräftig entschieden, so erfaßt die materielle Rechtskraft eine Wiederholung des gleichen Akts mit derselben Begründung. 134 Die materielle Rechtskraft einer verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage erstreckt sich auf einen inhaltsgleich wiederholten Verwaltungsakt. 135 Die materielle Rechtskraft einer prinzipalen Normenkontrolle gem. § 47 VwGO soll die Wiederholung einer inhaltsgleichen
132
Das übersieht Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (555 f). BAGE 74, 143 (148-154) = BAG, AP Nr. 113 zu § 626 BGB. 134 Lühe, in: Lüke/Wax, MünchKomm ZPO, Vor § 253 Rn. 44 f m. w.N. 135 So: BVerwGE 14, 359 (362); 16, 224 (226); 35, 234 (236); 91, 256 (258); auch: BVerfGE 47, 146 (165); Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, § 38 Rn. 32; Kothe, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 121 Rn. 5, 7; Lühe, JuS 1967, 1 (4 f); Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 121 Rn. 10, 25-27; Schmitt Glaeser/Horn, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 114; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 59 I I 2 (S. 317); Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (585). 133
69
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
N o r m erfassen. 1 3 6 Parallel stellt sich schließlich unser eigenes Problem: Erfaßt die materielle Rechtskraft normverwerfender Entscheidungen inhaltsgleiche Normen?
(1) Änderungen
am Begriff
des Streitgegenstandes
D i e materielle Rechtskraft bezieht sich auf den Streitgegenstand. Wer die Rechtskraft auf den Erlaß v o n Wiederholungsakten ausdehnen w i l l 1 3 7 , muß Änderungen am B e g r i f f des Streitgegenstandes v o r n e h m e n . 1 3 8 Es ist nicht möglich, dieser These anhand aller genannten Beispiele nachz u g e h e n . 1 3 9 W i d m e n w i r uns daher speziell solchen Gerichtsentscheidungen, bei denen die Kontrolle von Hoheitsakten Hauptfrage i s t . 1 4 0 Hier bezieht
sich
die
Streitgegenstandsdefinition
stets
auf
den
kontrollierten
Hoheitsakt. Z w a r ist umstritten, ob der angegriffene Hoheitsakt selbst den 136
BVerfGE 69, 112 (115); V G H Bad.-Württ., ESVGH 29, 1 (1-3); Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 257-259; Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, § 38 Rn. 53; Kopp/Schenke, VwGO, § 121 Rn. 22 a; Redeker, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 121 Rn. 45. Differenzierend: BVerwGE 92, 266 (270 f); Schmidt, in: Eyermann, VwGO, § 47 Rn. 102; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 32 I I I 5 (S. 167). 137 Auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 403, hält dies für eine Ausweitung der materiellen Rechtskraft. 138 Ähnlich zum Verwaltungsaktwiederholungsverbot Kopp/Kopp, N V w Z 1994, 1 (2): Es handele sich um eine „zusätzliche Bindungswirkung, die dem Zivilprozeßrecht fremd ist und die über den dort herrschenden Begriff des Streitgegenstandes hinausgeht". Mißverständlich Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 406, der das Wiederholungsverbot als „Ausdehnung der Rechtskraft über den Streitgegenstand hinaus" bezeichnet, obwohl die Ausdehnung doch gerade durch eine Änderung des Streitgegenstandsbegriffs erreicht wird. 139 Zurecht weist jedoch Lüke, JuS 1967, 1 (4), daraufhin, daß sich die Problematik des Streitgegenstandes bei der sogleich angesprochenen Anfechtungsklage einerseits, beim arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzprozeß und beim aktienrechtlichen Anfechtungsprozeß andererseits nahezu gleicht. 140 p ü r f o r m e i i e Gesetze sind dies jedenfalls die abstrakte und die konkrete Normenkontrolle sowie die unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde. Daneben gibt es Verfahren, bei denen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes lediglich eine Vorfrage ist, von der die Entscheidung über den Verfahrensgegenstand abhängt (z.B. Urteilsverfassungsbeschwerde). Schließlich ist an Verfahrensarten zu denken, bei denen die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes weder Vorfrage ist noch in der Entscheidungsformel ausgesprochen wird, aber dennoch nach der Entscheidung feststeht. Beispiele hierfür sind das Organstreitverfahren und das Bund-Länder-Streitverfahren. Dort kann ausgesprochen werden, daß der Bundestag oder der Bund dadurch, daß er ein bestimmtes Gesetz beschlossen hat, gegen die Verfassung verstoßen hat. Obwohl damit zugleich die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes feststeht, ist die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der Norm weder Vorfrage noch wird sie ausdrücklich ausgesprochen. Einzelheiten zu dieser Einteilung bei Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 323-326.
70
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Streitgegenstand bildet 1 4 1 oder ob er als Aflgnjfjfrgegenstand vom Streitgtgenstand zu unterscheiden i s t . 1 4 2 Auch die zweite Ansicht definiert den Streitgegenstand jedoch nicht unabhängig vom Angriffsgegenstand, nimmt den Angriffsgegenstand vielmehr in die Definition des Streitgegenstandes mit auf. Ein Beispiel: Bei der Anfechtungsklage ist umstritten, ob der Streitgegenstand im angegriffenen Verwaltungsakt selbst zu sehen i s t 1 4 3 oder im prozessualen Begehren auf Aufhebung des Verwaltungsakts 144 oder in der Rechtsbehauptung des Klägers, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten 145 . Jenseits der Unterschiede besteht die Gemeinsamkeit: Der angegriffene Verwaltungsakt wird stets in die Definition des Streitgegenstandes aufgenommen. Betrachtet man diesen - stets vorhandenen - Bezug des Streitgegenstandes zum kontrollierten Hoheitsakt näher, so gibt es zwei Möglichkeiten: • Entweder wird der Streitgegenstand so definiert, daß er sich auf einen Hoheitsakt als geschichtliches Ereignis bezieht. Der Streitgegenstand bezieht sich etwa auf den Verwaltungsakt X vom 1. 2. 2001, die Rechtsverordnung Y vom 2. 3. 2001 oder das Gesetz Z vom 3. 4. 2001. Eine inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche Wiederholung ist dann ein neues geschichtliches Ereignis. Der Streit um Wiederholungsakte hat einen neuen Streitgegenstand. 146
141
Bei der Anfechtungsklage erklären den angegriffenen Verwaltungsakt zum Streitgegenstand: Baden, N V w Z 1984, 142 (144); Kornblum, JZ 1962, 654 (654 f). Bei der prinzipalen Normenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts erklären die angegriffene Norm zum Streitgegenstand: Löwer, in: HStR II, § 56 Rn. 57; Sachs, Bindung, S. 307 und 336 unten; Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 488. Zunächst auch: Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung unter dem Grundgesetz, S. 97, der dies jedoch anschließend mit dem Ziel relativiert, die materielle Rechtskraft auf Wiederholungsfälle zu erstrecken. 142 So für die verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage: Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 61; auch: Happ, in: Eyermann, VwGO, § 79 Rn. 3; Luke, JuS 1967, 1 (4); Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 35 I I 1 (S. 216). Für die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle: Detterbeck, a.a.O., S. 245. Für die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle: Detterbeck, a.a.O., S. 320. Für die Verfassungsbeschwerde: Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 95 Rn. 14. 143 Vgl. die Nachweise oben 1. Kapitel, Fn. 141. 144 So: BVerwGE 60, 123 (125); Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 153-157. 145 So: BVerwGE 29, 210 (211 f); 39, 247 (249); 40, 101 (104); 91, 256 (257); Schmitt Glaeser/Horn, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 113; Stern, Verwaltungsprozessuale Probleme, Rn. 438; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 35 I I 3 (S. 217). 146 So für den wiederholten Verwaltungsakt: Kopp/Schenke, VwGO, § 90 Rn. 8; Kornblum, JZ 1962, 654 (654 f); Stern, Verwaltungsprozessuale Probleme, Rn. 438. Für die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle: Brox, in: Festschr. W i l l i Geiger, S. 809 (820); Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (555, das wird auch auf S. 557
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• Oder der Streitgegenstand w i r d so definiert, daß bezogen auf den H o heitsakt von den zeitlichen Gegebenheiten abstrahiert wird. Es geht dann nicht mehr u m den Hoheitsakt als geschichtliches Ereignis, sondern u m seinen Regelungsgehalt. Der Streitgegenstand w i r d ausgedehnt auf inhaltsgleiche R e g e l u n g e n 1 4 7 , auf Hoheitsakte „dieser A r t " 1 4 8 , „der vorliegenden A r t " 1 4 9 oder „dieses I n h a l t s " 1 5 0 . So k o m m t es zur Identität der Streitgegenstände i n W i e d e r h o l u n g s f ä l l e n . 1 5 1 Denn bezogen auf den H o heitsakt meint Identität nun nicht mehr Identität der geschichtlichen Ereignisse, sondern sie begnügt sich m i t inhaltlicher Identität jenseits der Z e i t . 1 5 2 Diese Änderung am Streitgegenstandsbegriff verleiht der materiellen
Rechtskraft eine produktübergreifende Bindungsaussage hinsicht-
l i c h inhaltsgleichen und inhaltsähnlichen H o h e i t s p r o d u k t e n . 1 5 3 Aus der Rechtskraft ergibt sich ein W i e d e r h o l u n g s v e r b o t . 1 5 4 in Fn. 34 zugrunde gelegt); Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 46; Wischermann , Rechtskraft und BindungsWirkung, S. 44. 147 Referierend: Kerbusch , Bindung, S. 39 f, der sich selbst nicht festlegt (a.a.O., S. 41). 148 Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 117; teils auch: Detterbeck , Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 159 (zur Anfechtungsklage) und S. 449 (zur abstrakten Normenkontrolle). 149 Detterbeck, Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 245 (zur verwaltungsprozessualen Normenkontrolle) und S. 322 (zur verfassungsprozessualen Normenkontrolle); ders., NJW 1996, 426 (428). 150 V G H Bad.-Württ., ESVGH 29, 1 (2). 151 So für die verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage: BVerwGE 14, 359 (361 f); Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 158; Kothe, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 121 Rn. 5, 7. Für die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle: Kerbusch, Bindung, S. 21; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 58, 66; Sachs, Bindung, S. 311; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, S. 66 f. 152 Lüke, JuS 1967, 1 (5): „Das zeitliche Moment allein reicht nicht aus, um die Verschiedenheit des Streitgegenstandes zu begründen"; ähnlich auch: Kothe, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 121 Rn. 7: Streitgegenstand ist „die Feststellung, ob ein bestimmtes Verhalten der Behörde überhaupt und ein für alle Mal - gleichbleibende Verhältnisse vorausgesetzt - rechtmäßig ist oder nicht". 153 Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 449, erstreckt die materielle Rechtskraft auf Hoheitsprodukte mit „identischem oder im wesentlichen gleichem Inhalt" (ähnlich auch auf S. 159, 245, 322). Die Vergleichbarkeit soll sich einerseits nach materiellen Gesichtspunkten (Produktinhalt), andererseits nach formalen Aspekten (Produkturheberschaft) richten (vgl. ders., NJW 1996, 426 [428]). Kerbusch, Bindung, S. 42 f, meint zwar, die Rechtskraft greife nur bei Inhaltsgleichheit und nicht bei bloßer Inhaltsähnlichkeit (a.a.O., S. 43). Er versucht jedoch, die Inhaltsgleichheit „ungeachtet sprachlicher, grammatikalischer oder systematischer Unterschiede" festzustellen und begnügt sich so letztlich doch mit Inhaltsähnlichkeit (a.a.O., S. 42). 154
Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 156-160 (zur Anfechtungsklage), S. 257-259 (zur verwaltungsprozessualen Normenkontrolle);
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen Festzuhalten ist: Bezieht man den Streitgegenstand auf den angegriffenen
Hoheitsakt als geschichtliches Ereignis, so geht es bei einem Wiederholungsakt u m einen neuen Streitgegenstand. Dann kann sich aus der materiellen
Rechtskraft keine produktübergreifende
Bindungsaussage ergeben.
Bezieht man den Streitgegenstand hingegen nicht auf den Hoheitsakt als geschichtliches Ereignis, sondern abstrahiert von der Zeit, so ändert sich durch einen inhaltsgleichen oder inhaltsähnlichen Wiederholungsakt
der
Streitgegenstand nicht. Der Rechtskraft kann dann eine produktübergreifende Bindungsaussage entnommen w e r d e n . 1 5 5
(2) Änderungen
an der Rechtsfolge
der materiellen
Rechtskraft
Soll der materiellen Rechtskraft eine produktübergreifende
Bindungsaus-
sage entnommen werden, so muß neben Änderungen am Streitgegenstandsbegriff auch die Rechtsfolge der materiellen Rechtskraft geändert werden.
Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 58, der jedoch in Fn. 149 einräumt: „Wer [...] den Streitgegenstand der Gestaltungsklage eng und konkret [...] faßt, kann das Ergebnis nicht auf die materielle Rechtskraft stützen"; Sachs, Bindung, S. 311 f. Interessant ist, daß Vogel und Geiger in ihren älteren Arbeiten zwar der materiellen Rechtskraft ein Wiederholungsverbot entnehmen wollen, dies jedoch nur durch eine Rechtskraftbindung an Entscheidungsgründe meinen erreichen zu können, vgl. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (für Verwaltungsaktwiederholung: S. 585 f, für Organstreit und Bund-Länder-Streit: S. 587, 589-592, 596 f, für Normenkontrolle: S. 606 f) und Geiger, BVerfGG, § 31 Anm. 6. 155
Eine weitere Begründung für eine produktübergreifende Rechtskraftbindung liefert Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 121 Rn. 9 f, 25 f: Ein Verwaltungsakt-Wiederholungsverbot soll sich aus einem zweischichtigen Streitgegenstandsbegriff ergeben. Die erste Schicht betrifft die Aufhebung des Verwaltungsakts als historisches Ereignis. Hinsichtlich der ersten Schicht sei der Wiederholungsakt ein neuer Streitgegenstand, so daß der Klage gegen den Wiederholungsakt nicht das Prozeßhindernis der Streitgegenstandsidentität entgegenstehe. Zusätzlich wird jedoch als zweite Schicht in den Streitgegenstand die Beurteilung einbezogen, ob die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage vorliegen oder nicht. Insoweit sei der Wiederholungsfall identisch, der Richter daher durch die materielle Rechtskraft an einer abweichenden Entscheidung gehindert. Ähnlich auch: Kopp/Schenke, VwGO, § 90 Rn. 8, § 121 Rn. 10 f m.w.N. Auch dies ist eine ergebnisorientierte Änderung der Rechtskraftdogmatik: An sich wird der Streitgegenstandsbegriff von rechtlichen Vorfragen freigehalten (vgl. Detterbeck, Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 108 f [zum Verwaltungsakt-Wiederholungs verbot], S. 123-126 [allgemein zur Einbeziehung von Vorfragen in die Rechtskraftwirkungen]), an sich entfaltet die materielle Rechtskraft bei bloßer Vorfragenidentität keine Wirkung (vgl. etwa: BVerwGE 96, 24 [26 f]). Wenn nun gleichwohl mit einer „zweiten Schicht" Vorfragen in den Streitgegenstandsbegriff einbezogen werden, um sie an der materiellen Rechtskraft teilhaben zu lassen, wird die Rechtskraftdogmatik ergebnisorientiert geändert. Insofern gelten die weiteren Ausführungen im Text entsprechend.
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
73
Entnimmt man der materiellen Rechtskraft bei Streitgegenstandsidentität ein Prozeßhindernis, so wird eine Klage bei übereinstimmenden Streitgegenständen als unzulässig abgewiesen. 156 Wird nun der Streitgegenstand auf Wiederholungsfälle ausgedehnt, so führt dies zu einem paradoxen Ergebnis: Es gäbe gegen den Wiederholungsakt keinen gerichtlichen Rechtsschutz, die Klage gegen den Wiederholungsakt müßte durch Prozeßurteil abgewiesen werden. 157 Um dies zu vermeiden, muß man sich von der Einstufung der materiellen Rechtskraft als Prozeßhindernis verabschieden 158 : Dem Richter wird nicht mehr verboten, überhaupt ein zweites Mal über denselben Streitgegenstand zu entscheiden, ihm wird nur verboten, abweichend zu entscheiden. 159 Ist die Rechtsfolge der Rechtskraft derart abgeändert, ist auch im Wiederholungsfall Rechtsschutz gewährleistet: Die Rechtskraft führt nicht mehr zur Unzulässigkeit, sondern zur Begründetheit der Klage gegen den Wiederholungsakt. c) Zirkelschluß zwischen Rechtskraftdogmatik und Rechtskraftaussage Es wurde gezeigt: Die Frage, ob die materielle Rechtskraft auch Wiederholungsfälle erfaßt, hängt von der Rechtskraftdogmatik ab. Je nachdem, wie Verfahrensgegenstand und Rechtsfolgen der materiellen Rechtskraft definiert werden, bleiben ihre Bindungsaussagen auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt oder werden um eine produktübergreifende Aussage erweitert. Daher muß entschieden werden: Welche Rechtskraftkonzeption ist die richtige? Ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt eine ergebnisorientierte Begründungspraxis: Die dogmatischen Änderungen, die nötig sind, um die 156
So für den Verwaltungsprozeß: Kopp/Schenke , VwGO, § 121 Rn. 9 f m.w.N.; Kornblum, JZ 1962, 654 (654 f); Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 121 Rn. 9. Für den Verfassungsprozeß: Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1296; Leibholz/Rupprecht, BVerfGG, § 31 Rn. 1; Maunz, in Maunz u.a., BVerfGG (5. Lfg. 1978), § 31 Rn. 13. Für den Zivilprozeß Nachweise oben 1. Kapitel, Fn. 128. 157 Vgl. Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 59 I 1 (S. 313). iss Ygi z u einer weiteren Möglichkeit erneut 1. Kapitel, Fn. 155. 159 So für den Verwaltungsprozeß: Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 106-112; Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, § 38 Rn. 27; Kothe, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 121 Rn. 5; Schmitt Glaeser/Horn, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 114; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 59 I 1 (S. 313). Für den Verfassungsprozeß: Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 341— 344; Ziekow, Jura 1995, 522 (523); ausdrücklich offengelassen von Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 56 mit Fn. 141, 58 und Rennert, in: Umbach/ Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 44. Für den Zivilprozeß: Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 494-496.
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
materielle Rechtskraft auf Wiederholungsfälle zu erstrecken, werden damit begründet, daß die Rechtskraft auch für Wiederholungsfälle gelten soll. A l s Beispiel dient Detterbeck, dessen Habilitationsschrift die w o h l ausführlichste aktuelle Darstellung der öffentlich-rechtlichen Rechtskraftdogmatik enthält. Nachdem Detterbeck begründet hat, w a r u m er ein VerwaltungsaktWiederholungsverbot für richtig h ä l t , 1 6 0 führt er aus: „Die Annahme eines rechtskraftbedingten Verwaltungsakt-Wiederholungsverbots kann jedoch nur unter zwei Prämissen zutreffend sein: Zum einen darf der Erlaß eines identischen oder im wesentlichen inhaltsgleichen Verwaltungsakts - sog. Wiederholungsakt - keinen neuen Streitgegenstand bedingen. Denn [...] falls der Erlaß eines Wiederholungsakts zu einem neuen Streitgegenstand führte, könnte die materielle Rechtskraft des Anfechtungsurteils gegenüber der rechtlichen Beurteilung des zweiten Verwaltungsakts keine Bindungswirkung entfalten." 1 6 1 Zum anderen „setzt die Existenz eines (effektiven) Verwaltungsakt-Wiederholungsverbots [...] voraus, daß die verwaltungsgerichtliche Anfechtung des Wiederholungsakts nicht am Grundsatz des res iudicata in eadam re scheitert." 1 6 2 Eine derartige Ausrichtung der Rechtskraftdogmatik am angestrebten Ergebnis zeigt sich auch an anderen S t e l l e n 1 6 3 und bei anderen A u t o r e n . 1 6 4 Gegen sie ist isoliert gesehen auch nichts einzuwenden. W i r d j e d o c h eine derart entwickelte Rechtskraftdogmatik als Grund für ein rechtskraftbedingtes Wiederholungsverbot angegeben, so droht ein Z i r k e l s c h l u ß : 1 6 5 Das Soll
160
Dazu Detterbeck, Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 107 f. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 108. 162 Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungs Wirkungen, S. 109. 163 Vgl. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 160, 341344. Dabei sieht Detterbeck selbst die Ergebnisorientierung des Streitgegenstandsbegriffs (a.a.O.: S. 87): „Die verschiedenen, im einzelnen umstrittenen Streitgegenstandsdefinitionen zu den verwaltungsgerichtlichen Klagearten, insbesondere zur Anfechtungsklage, erfolgen häufig im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Bemessung der Rechtskraft." 164 A m Beispiel der Verwaltungsakt Wiederholung: Lüke, JuS 1967, 1 (4 f); Rennen, in: Eyermann, VwGO, § 121 Rn. 25: Es „besteht heute Einigkeit, daß der Streitgegenstand der Anfechtungsklage ausdehnend mit dem Ziel bestimmt werden muß, eine Bindung der Behörde mit Blick auf Wiederholungsakte [...] zu erreichen"; ähnlich: Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 59 I 1 (S. 313): „Dem Anfechtungskläger, der ein obsiegendes Urteil erstritten hat, muß es möglich sein, gegen ein trotz unveränderter Sach- und Rechtslage ergangenen zweiten Verwaltungsakt erneut Anfechtungsklage zu erheben und - allein unter Berufung auf die Rechtskraft des ersten Urteils - wiederum ein obsiegendes Urteil zu erstreiten"; ihm zustimmend: Schmitt Glaeser/Horn, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 114. Ähnlich für Normen Wiederholung: Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (606 f): Nur durch eine Erstreckung der materiellen Rechtskraft auf die „konkrete Entscheidungsnorm" (dazu oben 1. Kapitel, Fn. 31) „kann verhindert werden, daß der Gesetzgeber, dessen Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch Erlaß einer inhaltlich gleichen oder nur unwesentlich veränderten Vorschrift zu »unterlaufen' sucht." 161
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
75
eines Wiederholungsverbots wird mit Verfahrensgegenstand und Rechtsfolge der materiellen Rechtskraft begründet; Verfahrensgegenstand und Rechtsfolge der materiellen Rechtskraft werden am Soll eines Wiederholungsverbots ausgerichtet. Kurzum: Ist die Rechtskraftdogmatik vom erwünschten Ergebnis her entwickelt, so ist sie anschließend ihrerseits als Begründung für das erwünschte Ergebnis ungeeignet. d) Das Anliegen der materiellen Rechtskraft als Kriterium Nachdem sich der Versuch einer dogmatisch-begrifflichen Herleitung produktübergreifender Rechtskraftaussagen im Zirkelschluß verfing, fragt sich: Wo kann ein produktübergreifendes Wiederholungsverbot hergenommen werden, wenn die Rechtskraftdogmatik mit ihren Begriffen schweigt? Jenseits von Dogmatik und Begrifflichkeit bleiben Anliegen und Zweck der materiellen Rechtskraft. Findet sich dort ein Kriterium, das die Entscheidung ermöglicht? Häufig wird die Sicherungsfunktion der materiellen Rechtskraft betont: Die materielle Rechtskraft soll die Endgültigkeit unanfechtbarer - und damit formell rechtskräftiger - Gerichtsentscheidungen gegenüber neuen Gerichtsverfahren sichern. 166 Diese Sicherungsfunktion kann unser Problem nicht lösen. Denn wenn wir überlegen, ob die Bindungsaussage der materiellen Rechtskraft auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleibt oder um eine produktübergreifende Bindung erweitert wird, dann steht überhaupt nicht in Frage, daß durch eine unanfechtbare gerichtliche Entscheidung ein letztes Wort gesprochen wird und daß dieses letzte Wort dank der Sicherung durch die materielle Rechtskraft auch das letzte Wort bleibt. Es geht vielmehr um die Frage, worüber die unanfechtbare Entscheidung das letzte Wort spricht: über das Hoheitsprodukt als geschichtliches Ereignis oder über den Inhalt des Hoheitsproduktes jenseits der Zeit. Stellt die materielle Rechtskraft ein substantielles Kriterium bereit, welches auch diese Frage beantworten kann? 165
Vgl. Vogel Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (586 f): Es muß „zunächst die Ausdehnung der Rechtskraft erörtert werden; aus dem Ergebnis mag man dann ableiten, was in den einzelnen Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgericht Streitgegenstand ist. Wollte man umgekehrt vorgehen, so würde man aus dem Begriff »Streitgegenstand4 nur herausholen, was zuvor in ihn hineingelegt worden ist." 166 Vgl. bspw. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 90 (fast wortgleich S. 329): „Das Rechtsstaatsprinzip verlangt grundsätzlich, daß eine gerichtliche Entscheidung, die unanfechtbar, also formell rechtskräftig geworden ist, auch inhaltlich endgültig verbindlich ist"; Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 56: „die materielle Rechtskraft verhindert die Neubefassung mit (bzw. Abweichung von) der Entscheidung in einem neuen Verfahren".
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Als substantielle Begründung der materiellen Rechtskraft werden oft die Rechtsstaatlichkeit 167 und die in ihr enthaltenen Prinzipien der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens genannt. 168 Die Grundaussage lautet: Rechtsfrieden und Rechtssicherheit verlangen auch um den Preis unrichtiger Entscheidungen nach einem rechtsbeständigen Ende von Gerichtsverfahren. 169 In dieser Grundaussage wird die Prinzipienkollision zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit hinsichtlich der Frage, ob Gerichtsverfahren ein rechtsbeständiges Ende haben müssen oder im Interesse der inhaltlichen Richtigkeit endlos weitergeführt werden können, zugunsten der Rechtssicherheit entschieden. 170 Die Berufung auf Rechtsfrieden und Rechtssicherheit mag zurecht auf Evidenz hoffen, solange es um das kontrollierte Einzelprodukt geht: Daß es nicht möglich ist, über ein konkretes Produkt der Hoheitsgewalt - etwa den an A gerichteten Verwaltungsakt vom 1. 2. 2001 - endlos zu streiten, mag so offensichtlich sein, daß insoweit der Vorrang von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit gegenüber dem Interesse an inhaltlicher Richtigkeit ohne weitere Begründung einleuchtet. Aber gilt dies auch für die produktübergreifende Rechtskraftwirkung? Hier wird dem kontrollierten Hoheitsträger eine Entscheidung für die Zukunft vorgegeben und so eine einzelfallübergreifende Aussage endgültig (abgesehen von den Grenzen der Rechtskraft) dem Streit entzogen. Die damit verbundene Aussage zur Funktion der Rechtsprechung und ihrem Rollenverhältnis zum kontrollierten Hoheitsträger kann nicht auf die Evidenz der Schlagwörter Rechtsstaat, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit bauen. 171
167
BVerfGE 47, 146 (161), spricht von „der rechtsstaatlichen Funktion der materiellen Rechtskraft". 168 BVerfGE 47, 146 (161, 165); 60, 253 (269); BVerwGE 91, 256 (258 f); BGHZ 36, 365 (367); Brox, in: Festschr. W i l l i Geiger, S. 809 (814 f); Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 6, 90, 328; Klein, in: Benda/ Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1296; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 322 Rn. 31; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 322 Rn. 1. Auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 402, hält die Rechtssicherheit für das Anliegen materieller Rechtskraft, weist allerdings zurecht darauf hin, daß durch die Grenzen der materiellen Rechtskraft ein Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und materieller Richtigkeit gesucht wird. 169 Das Bundesverfassungsgericht formulierte bereits in BVerfGE 2, 380 (403): „Das Rechtsstaatsprinzip enthält als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung der Rechtssicherheit; diese verlangt nicht nur einen geregelten Verlauf des Rechtsfindungsverfahrens, sondern auch einen Abschluß, dessen Rechtsbeständigkeit gesichert ist [...] Rechtsfriede und Rechtssicherheit sind von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, daß um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muß." 170 Zur Auflösung von Prinzipienkollisionen zu bedingten Vörrangrelationen noch unten, 2. Kapitel § 4 B. II. 2. c).
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
77
Damit können wir insgesamt festhalten: Die materielle Rechtskraft stellt kein Kriterium zur Verfügung, mit dessen Hilfe entschieden werden könnte, ob gerichtliche Entscheidungen auch hinsichtlich Wiederholungsakten eine Bindung aussprechen. e) Entscheidungskriterium jenseits der materiellen Rechtskraft Daß der Rechtskraft selbst keine Aussage zu Wiederholungsfällen entnommen werden kann, bedeutet nicht, daß es eine solche Aussage nicht gibt. In vielen der oben genannten Beispielsfälle ist vielmehr das Ergebnis einer auf Wiederholungsfälle bezogenen Bindung unstreitig. So wird heute nicht mehr bezweifelt, daß einer Behörde nach erfolgreicher Anfechtungsklage der Erlaß eines Wiederholungsverwaltungsakts verwehrt i s t . 1 7 2 Dieses Ergebnis mag auch richtig sein. Wichtig war jedoch zu zeigen, daß nicht das - möglicherweise richtige - Ergebnis aus der materiellen Rechtskraftdogmatik folgt, sondern daß umgekehrt ein jenseits der Rechtskraftdogmatik gefundenes Ergebnis über die anzuwendende Rechtskraftkonzeption entscheidet. 173 Verengen wir vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis den Blick wieder auf die Bindung an normverwerfende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: Das erste Bindungskonzept - Verbot von Normen, die verworfenen Normen gleichen oder ähneln - läßt sich aus der materiellen Rechtskraft nicht ableiten. Vielmehr gilt ein umgekehrter Zusammenhang: Ist aus jenseits der Rechtskraft liegenden Gründen die Entscheidung für 171 So aber Detterbeck , Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 108: „Es widerspräche dem Wesen der materiellen Rechtskraft und ihrer unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden, friedensstiftenden Funktion, wenn die öffentliche Gewalt deshalb ein rechtskräftiges Anfechtungsurteil unterlaufen dürfte, weil sie beim Erlaß eines inhaltlich identischen oder im wesentlichen gleichen Verwaltungsakts von der Rechtskraft des vorangegangenen Urteils freigestellt wäre." Auch dem „Wesen der materiellen Rechtskraft" kommt dabei kein zusätzlicher Erkenntniswert zu, wie die treffenden Bemerkungen zum „Wesensargument" bei Rüthers , Rechtstheorie, Rn. 919-929 m.w.N. verdeutlichen. 172 Vgl. erneut die Nachweise oben 1. Kapitel, Fn. 135; Kopp/Schenke, VwGO, § 121 Rn. 21: „praktisch unstreitig". 173 Darauf weist auch der Umstand, daß dort, wo eine auf Wiederholungsfälle bezogene Bindungsaussage im Ergebnis unstreitig ist, neben der materiellen Rechtskraft auch andere Rechtsgrundlagen als Begründung gehandelt werden. So begründen etwa Kopp/Kopp , N V w Z 1994, 1 (2) das im Ergebnis unstreitige Verwaltungsaktwiederholungsverbot nicht mit der materiellen Rechtskraft, sondern mit einer Analogie zu § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO. Das Problem der arbeitsrechtlichen Wiederholungskündigung läßt sich nicht nur mit der materiellen Rechtskraft, sondern auch mit einem materiellrechtlichen „Verbrauch" des ausgeübten Gestaltungsrechts lösen (dazu: BAGE 74, 143 [149 f] = B A G AP Nr. 113 zu § 626 BGB Bl. 2 R f m.w.N.).
78
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
eine produktübergreifende Bindung gefallen, so läßt sich der materiellen Rechtskraft eine Dogmatik geben, die auf das erste Bindungskonzept hinausläuft. Was ist das für eine Entscheidung, die jenseits der Rechtskraft liegt und gleichermaßen über Rechtskraftdogmatik und die resultierende produktübergreifende Bindungsaussage entscheidet? Die Richtung weist Korioth: „Die Bindungswirkung erweist sich als einer der Faktoren, der das Verhältnis von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Ergebnis verändert." 1 7 4 Anders ausgedrückt: Die produktübergreifende Bindungsaussage beeinflußt die Rollenverteilung und das Funktionsverhältnis zwischen Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. 175 Doch was ist in dieser Relation Ursache und was Wirkung? Träfe die mit Verfassungsrang ausgestattete - materielle Rechtskraft eine eindeutige Bindungsaussage, so wäre sie ein Fixpunkt, der das Funktionsverhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber mitbestimmte. Verlangt aber die materielle Rechtskraft, daß wir schon die Entscheidung mitbringen, ob die Bindungsaussage auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleiben oder um eine produktübergreifende Bindung ergänzt werden soll, so kommt es zu dem umgekehrten Zusammenhang: Die Rollenverteilung zwischen Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht wird zum Kriterium dafür, ob eine produktübergreifende Bindungswirkung gesollt i s t . 1 7 6 Ist dies entschieden, so kann anschließend die Rechtskraftdogmatik daran ausgerichtet werden.
174
Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (558, ähnlich bereits: S. 551 f). Ähnlich: Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 79: „ I n gewisser Weise spiegelt sich in der Diskussion um die Kontrollfolgen noch einmal, wie in einem Brennglas gebündelt, das ganze Spektrum der Diskussion um die verfassungsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts"; Kerbusch, Bindung, S. 2; Rinken, in: Wassermann, AK-GG, Art. 94 Rn. 64 a.E., 70; Schnapp/Henkenötter, JuS 1995, 121 (124 - Zusätze nicht im Original): „In den divergierenden Auffassungen [gemeint ist die Streitfrage, ob nur der Tenor oder auch die tragenden Gründe verfassungsgerichtlicher Entscheidungen binden] drückt sich ein über reine Verfahrensfragen hinausgehendes Verständnis von der Stellung der Organe im Staatsgefüge aus"; Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (575): „Durch die Entscheidung über Art und Umfang der Bindung an verfassungsgerichtliche Entscheidungen wird in einer praktisch sehr bedeutsamen Beziehung über die Verteilung der Gewichte unter den obersten Verfassungsorganen [...] entschieden"; Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung, S. 57 und passim. Die Relevanz der Bindungsaussagen für das Funktionsgefüge von Gesetzgeber und Verfassungsgericht wird auch von Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), S. 335 (358-362) verdeutlicht. 175
176
Eine solche Herangehens weise etwa bei Rinken, in: Wassermann, AK-GG, Art. 94 Rn. 64 a.E., 70, 71a, und bei Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (passim, vgl. bspw. den methodischen Hinweis S. 584 Abs. 2).
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
79
Kurzum: Zur materiellen Rechtskraft muß eine Aussage über die Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht hinzukommen, um zu entscheiden, ob die materielle Rechtskraft eine produktübergreifende Bindungsaussage trifft.
III. Analyse der Gesetzeskraft Nachdem die materielle Rechtskraft keine produktübergreifende Bindung beweisen konnte, nunmehr zur Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen: Art. 94 Abs. 2 GG sieht vor, daß durch Bundesgesetz bestimmt wird, in welchen Fällen den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft zukommt. Von dieser Ermächtigung hat der Gesetzgeber in § 31 Abs. 2 BVerfGG Gebrauch gemacht und für Entscheidungsarten, in denen eine Normenkontrolle Hauptfrage sein kann, die Gesetzeskraft angeordnet. Auch darauf stützen viele ein an den Bundesgesetzgeber gerichtetes Verbot von Normen, die bereits verworfenen Normen gleichen oder ähneln (erstes Bindungskonzept). 177 Zu Recht? 1. Subjektive Reichweite der Gesetzeskraft Zunächst müßte in subjektiver Hinsicht der Bundesgesetzgeber Adressat der Gesetzeskraft sein. Während die Rechtskraft grundsätzlich auf Verfahrensbeteiligte beschränkt i s t 1 7 8 , gilt die Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen inter omnes. Sie richtet sich damit grundsätzlich auch an den Gesetzgeber. Für den Bundesgesetzgeber gibt es aber ein Problem: Kann er überhaupt an § 31 Abs. 2 BVerfGG - ein einfaches Bundesgesetz - gebunden sein? Die umstrittene Frage nach einer Selbstbindung des Bundesgesetzgebers 179 177 Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 447 f; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 94, Rn. 25; Sachs, DtZ 1990, 193 (198 f); ders, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (454). Eine Parallelproblematik findet sich bei der verwaltungsprozessualen Normenkontrolle. Dort ordnet § 47 Abs. 5 S. 2 Hs. 2 VwGO die Allgemeinverbindlichkeit von Normenkontrollentscheidungen an. Auch daraus wird teilweise ein Normenwiederholungsverbot hergeleitet (so zur Vorgängernorm: BayVerfGHE 36, 173 [177 m.w.N.]; Detterbeck, a.a.O., S. 258). 178 Vgl. aber zu den bei (normverwerfenden) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts diskutierten Ausnahmen oben, 1. Kapitel § 2 C. II. 2. 179 Erörtert wird die Frage insbesondere hinsichtlich § 31 Abs. 1 BVerfGG, weniger hinsichtlich § 31 Abs. 2 BVerfGG. Für eine Selbstbindung des Bundesgesetzgebers an § 31 Abs. 1 BVerfGG: Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 366-369; ders., NJW 1996, 426 (429); Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1340; Löwer, in: HStR II, § 56 Rn. 92; Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG (5. Lfg. 1978), § 31 Rn. 20, 24; ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 94
80
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
stellt sich dabei nicht in voller Breite. Dies zeigt sich bei einem Seitenblick auf die Finanzverfassung: Seit langem ist eine Selbstbindung des Bundesgesetzgebers an Grundsatzgesetze im Sinne des Art. 109 Abs. 3 GG anerkannt. 1 8 0 Zur Begründung wird die Selbstbindungsproblematik nicht insgesamt diskutiert. Vielmehr wird in Art. 109 Abs. 3 GG eine verfassungsrechtlich verankerte Ausnahme von dem ansonsten geltenden Normalzustand der Regel „lex posterior derogat legi priori" gesehen. 181 Neuerdings entnimmt das Bundesverfassungsgericht zudem der Finanzverfassung die Verpflichtung des Gesetzgebers, das vom Grundgesetz nur in unbestimmten Rechtsbegriffen festgelegte Steuerverteilungs- und Ausgleichssystem durch ein ihn selbst bindendes „Maßstäbegesetz" zu konkretisieren. 182 Verallgemeinert man diese Gedanken, so gilt: Eine Selbstbindung des Bundesgesetzgebers an sein eigenes Gesetz ist jedenfalls dann möglich, wenn das Grundgesetz selbst zu ihr ermächtigt (oder verpflichtet). Dieser Gedanke läßt sich für die Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen fruchtbar machen: Das Grundgesetz ermächtigt in Art. 94 Abs. 2 GG den Bundesgesetzgeber ausdrücklich, den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft einzuräumen. Der Gesetzesbegriff trägt die allgemeine, das heißt für jeden verbindliche Geltung in sich. 1 8 3 Für eine Ausnahme hinsichtlich des Bundesgesetzgebers gibt auch die EntRn. 31 f. Gegen eine Selbstbindung (bzw. für eine konkludente Aufhebung durch Verstoß): Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (556 f); Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (451 mit Fn. 77); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 472 a.E.; Simon, in: HVerfR, § 34 Rn. 36; Stricker, DÖV 1995, 978 (981); BVerfGE 77, 84 (104) - wohl wieder anders: BVerfGE 80, 297 (309); 81, 363 (384). Allgemein zur Selbstbindung des Gesetzgebers an sein eigenes Gesetz: Quaritsch, Das parlamentslose Parlamentsgesetz, passim; Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers (zum Meinungsstand: S. 101-128, zum eigenen Lösungsansatz: S. 129166); Überblick zum aktuellen Diskussionsstand bei Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 30-36. 180 Fischer-Menshausen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 17; Kisker, in: HStR IV, § 89 Rn. 11; Rengeling, in: HStR IV, § 100 Rn. 295; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 109 Rn. 38-40; Vogel, in: HStR IV, § 87 Rn. 19; Vogel/Wiebel, in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar, GG, Art. 109 Rn. 172. 181 Fischer-Menshausen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 17; Kisker, in: HStR IV, § 89 Rn. 11; Rengeling, in: HStR IV, § 100 Rn. 295; Vogel/Wiebel, in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar, GG, Art. 109 Rn. 172; Vogel, in: HStR IV, § 87 Rn. 19 in Fn. 57. Teilweise wird der Grund der Selbstbindung allerdings auch in den vertragsähnlichen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern gesehen, die den Gesetzgebungsvorhaben vorausgingen und zu einer quasi-vertraglichen Bindung geführt haben sollen. Diese Begründung klingt an bei Piduch, Bundeshaushaltsrecht, Art. 109 GG Rn. 35. 182 BVerfGE 101, 158 (215); zustimmend: Becker, NJW 2000, 3742 (3745 f); ablehnend: Pieroth, NJW 2000, 1086 (1087); Rupp, JZ 2000, 269 (270); Wieland, DVB1 2000, 1310 (1312-1314). 183 Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 94, Rn. 21 „allgemeinverbindlich".
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
81
stehungsgeschichte des A r t . 94 G G nichts h e r . 1 8 4 So gesehen liegt i n der E r m ä c h t i g u n g 1 8 5 (oder gar V e r p f l i c h t u n g 1 8 6 ) des Bundesgesetzgebers, verfassungsgerichtliche
Entscheidungen
mit
Gesetzeskraft
auszustatten,
zu-
gleich die Ermächtigung (oder gar Verpflichtung), die Aussagen der Gesetzeskraft i n subjektiver Hinsicht auch auf sich selbst zu erstrecken. A r t . 94 Abs. 2 G G führt zwar nicht dazu, daß die Aussage des § 31 Abs. 2 B V e r f G G selbst Verfassungsrang e r h ä l t 1 8 7 , enthält jedoch eine verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Selbstbindung des Bundesgesetzgebers. 1 8 8 Dam i t ist auch der Bundesgesetzgeber Adressat der i n § 31 Abs. 2 B V e r f G G angeordneten Gesetzeskraft.
2. Objektive
Reichweite
der Gesetzeskraft
Führt die Gesetzeskraft zu einer produktübergreifenden B i n d u n g des B u n desgesetzgebers an normverwerfende
Entscheidungen? Das ist die Frage
nach der objektiven Reichweite der Gesetzeskraft.
184 Zwar spricht eine Äußerung des Abgeordneten Zinn (Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Stenographische Berichte, Bonn 1948/49, S. 277 - dazu noch unten 1. Kapitel, Fn. 198) gegen eine produktübergreifende, ergebnisbezogene Bindung des Gesetzgebers an verfassungsgerichtliche Entscheidungen. Als Grund dafür kann Zinn aber nicht die fehlende Selbstbindung des Bundesgesetzgebers an das die Gesetzeskraft regelnde Gesetz vor Augen gehabt haben. Denn zum Zeitpunkt von Zinns Äußerung (1. Lesung, 23. Sitzung am 8. 12. 1948, vgl. Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Stenographische Berichte, Bonn, 1948/49, S. 277) war noch vorgesehen, daß die Verfassung selbst die Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen anordnet. Die heutige Regelung, nach welcher der Bundesgesetzgeber bestimmt, in welchen Fällen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft haben, wurde erst in Reaktion auf die 2. Lesung des Hauptausschusses vom Allgemeinen Redaktionsausschuss vorgeschlagen (vgl. Art. 128-2 der Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses zur Fassung der 2. Lesung des Hauptausschusses, Drucksache Nr. 543) und vom Hauptausschuss am 10. 2. 1949 ohne Debatte angenommen (vgl. Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Stenographische Berichte, Bonn, 1948/49, S. 665). 185
So: Stern , in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar, GG, Art. 94 Rn. 127; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 94 Rn. 19. 186 So: Meyer , in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 94 Rn. 19. 187 Insofern mißverständlich Sachs, DtZ 1990, 193 (198): „verfassungsmittelbare Regelung". Gegen einen Verfassungsrang des § 31 Abs. 2 BVerfGG zurecht: Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 105 mit Fn. 310. Davon zu unterscheiden ist allerdings die Frage, ob das Institut der Gesetzeskraft Verfassungsrang hat. Ein Unterschied, den Detterbeck , Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 351-353, übersieht. Dazu unten, 1. Kapitel § 2 C. VI. 2. 188 Die Frage, ob Art. 94 Abs. 2 GG eine Ermächtigung zur Selbstverpflichtung des Bundesgesetzgebers enthält, wird von Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (452), zwar aufgeworfen, jedoch ausdrücklich offengelassen. 6 Bauer
82
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Insoweit kommt es zu einem weitgehenden Gleichlauf mit der materiellen Rechtskraft. Denn überwiegend wird davon ausgegangen, die Gesetzeskraft sei nichts anderes als eine subjektive Erweiterung der materiellen Rechtskraft auf nicht Verfahrensbeteiligte. 189 Andere protestieren mit der Begründung, die Gesetzeskraft sei wegen bestehender Unterschiede von der materiellen Rechtskraft zu trennen und als eigenständiges Institut zu behandeln. 1 9 0 Auch sie sind jedoch der Ansicht, daß die Gesetzeskraft auf den Verfahrensgegenstand begrenzt i s t 1 9 1 und nehmen damit auf die Rechtskraftdogmatik Bezug. Weil die Gesetzeskraft in objektiver Hinsicht mit der materiellen Rechtskraft gleichläuft, zumindest aber an den zur Rechtskraftdogmatik gehörenden Begriff des Verfahrensgegenstandes anknüpft, wiederholt sich das bereits für die Rechtskraft geschilderte Problem: 1 9 2 Es gibt eine dogmatische Konzeption von Rechtskraft und Verfahrensgegenstand, die zu einer auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkten Bindungsaussage führt, daneben eine andere Konzeption, die zusätzlich ein produktübergreifendes Verbot von Wiederholungsfällen ermöglicht. Konkret: Bezieht man den Verfahrensgegenstand normverwerfender Entscheidungen auf das verworfene Gesetz als historisches Ereignis, so kann aus der Gesetzeskraft keine produktübergreifende Aussage für Wiederholungsfälle folgen. 1 9 3 Bezieht man den Verfahrensgegenstand hingegen auf Gesetze „dieser Art", so ergibt sich aus der Gesetzeskraft ein an den Gesetzgeber gerichtetes, produktübergreifendes Verbot von Normen, die der verworfenen Norm ähneln. 1 9 4
189
So: Brox, in: Festschr. W i l l i Geiger, S. 809 (818); Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1313; Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 105; Stern, in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar, GG, Art. 100 Rn. 139; Ziekow, Jura 1995, S. 522 (524). Sachs, Bindung, S. 298-306, wehrt sich zwar gegen die Annahme „subjektiver Erweiterung" der Rechtskraft, sieht aber i.E. ähnlich die Gesetzeskraft als „Rechtskraft inter omnes"; bestätigend: ders., in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (454). Wer meint, die materielle Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Normenkontrollentscheidungen gelte inter omnes (vgl. oben 1. Kapitel, Fn. 120), kommt insoweit sogar zur vollständigen Deckungsgleichheit von materieller Rechtskraft und Gesetzeskraft (so bspw.: Kerbusch, Bindung, S. 92-95 m.w.N.). 190 Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 354; Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 98. 191 Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 374: „Ausgangspunkt ist der Verfahrensgegenstand. Auf ihn bezieht sich die Gesetzeskraft." 192 Vgl. oben, 1. Kapitel § 2 C. II. 3. 193 So: Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 105; wohl auch: Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 407. 194 So: Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 374 f, 447 f, 451. Allgemeiner für die Erstreckung der Gesetzeskraft auf gleichgelagerte Fälle: Bullert, Die Gesetzeskraft und die bindende Wirkung, S. 90-94.
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
3. Entscheidungskriterium
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jenseits der Gesetzeskraft
Wiederum stellt sich die Frage: Wie entscheiden, welche dogmatische Konzeption zutrifft? Wie entscheiden, ob die Bindungsaussage der Gesetzeskraft auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt bleibt oder um eine produktübergreifende Bindung ergänzt wird? Der Verweis auf die Rechtskraftdogmatik 195 kann nicht weiterhelfen. Denn wir hatten bereits gesehen, daß die materielle Rechtskraft ihrerseits kein Entscheidungskriterium bereithält. Sie setzt vielmehr eine jenseits der Rechtskraft liegende Entscheidung über das Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber voraus. 196 Stellt das Institut der Gesetzeskraft selbst ein Kriterium bereit? Finden wir einen Hinweis für oder gegen eine produktübergreifende Bindung? Im Grundgesetz selber nicht, denn dort ist allein von der Gesetzeskraft die Rede, ohne daß deren Bedeutung näher erläutert würde. Ein Blick in die Materialien führt zu einem Wortwechsel, der im Hauptausschuß zwischen dem Abgeordneten v. Mangoldt (CDU) einerseits und den Abgeordneten Schmid und Zinn (SPD) andererseits geführt wurde. Der Abgeordnete v. Mangoldt sprach sich gegen die Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen aus. Er sah die Gefahr, daß ein vom Bundesverfassungsgericht aufgestellter abstrakter Rechtssatz auf alle nachfolgenden Fälle angewandt werde und dies eine Erstarrung der Rechtsentwicklung zur Folge habe. 1 9 7 Zinn entgegnete als Befürworter der Gesetzeskraft: Die Gesetzeskraft normverwerfender Entscheidungen bedeute, daß die Norm aufgehoben sei. Jedoch könne der Gesetzgeber jederzeit gleiche oder ähnliche Gesetze wieder einbringen, und das Gericht habe dann die Möglichkeit, abweichend zu entscheiden. 198 Nach diesem Dialog wurde die Beratung und Beschlußfassung über die Gesetzeskraft ausgesetzt, um die Bedenken des Abgeordneten v. Mangoldt zu erwägen. 199 Der geschilderte Wortwechsel kann so gedeutet werden, daß die Urheber der Gesetzeskraft eine auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkte Bindungswirkung vor Augen hatten: Denn anscheinend sollte die Gesetzeskraft 195
Vgl. bspw.: Detterbeck , Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 374,
447 f. 196
Vgl. oben, 1. Kapitel § 2 C. II. 3. Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Stenographische Berichte, Bonn 1948/49, S. 276 f. 198 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Stenographische Berichte, Bonn 1948/49, S. 277. 199 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Stenographische Berichte, Bonn 1948/49, S. 278. 197
6*
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
den Gesetzgeber nicht an einer inhaltsgleichen Neuregelung hindern, die dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit zur abweichenden Entscheidung g i b t . 2 0 0 Allein daraus zu schließen, das Grundgesetz beschränke die Bindungsaussage der Gesetzeskraft auf das kontrollierte Einzelprodukt, würde den Wortwechsel jedoch überstrapazieren. Denn andere Interpretationsmöglichkeiten sind nicht ausgeschlossen, die Bedeutung der Gesetzesmaterialien für die Auslegung ist ohnehin umstritten. 201 Es kann aber festgehalten werden, daß die Entstehungsgeschichte zumindest nicht für eine produktübergreifende Bindungsaussage spricht. Somit gilt insgesamt: Durch ihren dogmatischen Bezug zur materiellen Rechtskraft liegt bei der Gesetzeskraft eine produktübergreifende Bindungsaussage im Bereich des Möglichen. Jedoch läßt sich der Gesetzeskraft ebenso wie der materiellen Rechtskraft kein Argument für eine solche Bindungswirkung entnehmen. Vielmehr gilt wie bei der materiellen Rechtskraft: Erst wenn zu der Rechtsgrundlage eine Aussage über die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit und über die Rollenverteilung zwischen ihr und der Gesetzgebung hinzugenommen wird, bietet die Gesetzeskraft einer produktübergreifenden Bindungsaussage Herberge.
IV. Analyse des Art. 20 Abs. 3 GG Während materielle Rechtskraft und Gesetzeskraft für dungskonzept ins Feld geführt werden, wird auf Art. 20 zweite der oben vorgestellten Bindungskonzepte gestützt: Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten
das erste BinAbs. 3 GG das ein Verbot von verstoßen. 202
Die Lektüre der Norm ist insoweit enttäuschend: Dort steht etwas über die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung. Verfassungsmäßige Ordnung meint - anders als die wortgleiche Passage des Art. 2 Abs. 1 GG - allein den Normenbestand des Grundgesetzes. 203 Von einer 200
Eine ähnliche Schlußfolgerung zieht, wer den wiedergegebenen Wortwechsel als Argument gegen ein Normwiederholungsverbot verwendet. So: BVerfGE 77, 84 (104); Simon, in: HVerfR, § 34 Rn. 36; kritisch dazu: Sachs, DtZ 1990, 193 (199). 201 Die sog. objektive Auslegungsmethode mißt dem subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers allenfalls indizielle Bedeutung bei; vgl. BVerfGE 1, 299 (312); 62, 1 (45 m.w.N.); BGH GS, BGHZ 13, 265 (277). 202 So: Badura, BayVBl 1996, 33 (37 f); H.H. Klein, NJW 1977, 697 (700 a.E.); Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1348 (allerdings bleibt vor dem Hintergrund der Rn. 1338-1345 unklar, ob damit auch der formelle Gesetzgeber gemeint ist). Auch die Herleitung von Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 120-123, läuft an sich auf eine verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung an verfassungsgerichtliche Rechtsansichten zu - er selbst folgert allerdings nur ein Normwiederholungsverbot (a.a.O., S. 128). Kritisch: Stricker, DÖV 1995, 978 (981 f).
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
85
B i n d u n g des Gesetzgebers an verfassungsgerichtliche Rechtsansichten liest man hier nichts. Das zweite Bindungskonzept k o m m t erst i n Sicht, wenn eine Aussage hinzugenommen wird. So findet sich i m m e r wieder die Vorstellung, das Bundesverfassungsgericht sei „maßgeblicher Interpret und Hüter der Verfass u n g " 2 0 4 , sei „verbindliche Instanz i n Verfassungsfragen" 2 0 5 und als solche „ z u r verbindlichen Verfassungsinterpretation" berufen
2 0 6
A u f derselben L i -
nie liegt es, wenn i n jüngster Zeit ein gewandelter Verfassungsbegriff vorgeschlagen wird, bei dem das Verfassungsrecht als „Prozeß seiner A n w e n dung durch das Bundesverfassungsgericht" definiert w i r d . 2 0 7 Unter H i n z u nahme solcher Aussagen zeigt sich Art. 20 Abs. 3 G G i n einem anderen L i c h t : Er bindet zwar seinem Wortlaut nach den Gesetzgeber nur an die N o r m e n der Verfassung. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht der maßgebliche Interpret dieser N o r m e n ist, so geben die Entscheidungsgründe geltendes Verfassungsrecht w i e d e r . 2 0 8 D i e B i n d u n g des Gesetzgebers an die i n den Entscheidungsgründen geäußerten Rechtssätze ist dann die B i n d u n g an die durch das Gericht interpretierte Verfassung s e l b s t . 2 0 9 E i n Verstoß gegen 203 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, V I Rn. 9; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 32; Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, 4. Aufl., Art. 20 Rn. 36. 204 BVerfGE 40, 88 (93 unten). 205 BVerfGE 40, 88 (94). 206 Kriele, ZRP 1975, 73 (74). Ähnlich: Badura, BayVBl 1996, 33 (37); Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2099 mit Fn. 113); ders., VVDStRL 39 (1981), S. 172 (172 f); ders., Der Staat 29 (1990), S. 1 (25); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 421: „Hauptaufgabe des BVerfG ist die Klärung und Fortentwicklung des Verfassungsrechts"; Detterbeck, Streitgegenstand und EntscheidungsWirkungen, S. 370: „Verfassungsauftrag zur letztverbindlichen Interpretation des Grundgesetzes"; Geiger, NJW 1954, 1057 (1058); Hesse, JöR n.F. 46 (1998), S. 1 (11): Dem Bundesverfassungsgericht obliege „die maßgebende, für alle staatlichen Organe, auch die gesetzgebenden Körperschaften, verbindliche Deutung des Inhalts und der objektiven Grundlinien der Verfassung"; H. H. Klein, NJW 1977, 697 (700 a.E.). Kritisch: Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (126-136); Stricker, DÖV 1995, 978 (981 f). Gegen ein Auslegungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber bspw. Gerber, DÖV 1989, 698 (705). 207 Walter, AöR 125 (2000), S. 517 (531 und passim). Diese Definition verwirrt durch ihre begriffliche Doppelung: Wenn Walter das Verfassungsrecht als Prozeß seiner Anwendung durch das Gericht bezeichnet, so ist neben dem angestrebten „prozeßhafte [n] Verständnis des Verfassungsrechts" (a.a.O., S. 520) zusätzlich noch ein zweites, nicht prozeßhaftes Verfassungsverständnis vorausgesetzt. 208 Geiger, Einige Besonderheiten, S. 32: „Es wird in Form konkreterer Sätze des Rechts ans Licht gehoben, was in den summarischen Sätzen des Grundgesetzes enthalten und angelegt ist. Diese vom Bundesverfassungsgericht entwickelten konkreten Sätze sind materielles Verfassungsrecht, näherhin konkretisiertes Verfassungsrecht zweiter Stufe." 209 Vgl. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (25).
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
die gerichtliche Verfassungsinterpretation wird zum Verstoß gegen die (vom Gericht verbindlich interpretierte) Verfassungsnorm und damit zur Verletzung des Art. 20 Abs. 3 G G . 2 1 0 So bindet die Verfassungsrechtsprechung den Gesetzgeber im Ergebnis genauso wie die Verfassungsgesetzgebung. 211 Denkt man dies zu einer ergebnisbezogenen Bindungsaussage fort, so ergibt sich das zweite Bindungskonzept: ein an den Gesetzgeber gerichtetes Verbot von Gesetzen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen. 212 Bereits die knappe Skizze stößt auf eine Parallele zu den beiden zuvor behandelten Rechtsgrundlagen: Wiederum wird die entscheidende Weiche nicht von der Rechtsgrundlage selbst gestellt. Denn Art. 20 Abs. 3 GG bindet den Gesetzgeber nicht an das Verfassungsgericht, sondern an die Verfassung. Erst wenn eine zweite Aussage hinzukommt, ergibt sich eine produktübergreifende Bindung an verfassungsgerichtliche Entscheidungen. Die hinzukommende Aussage versteckt sich - anders als bei materieller Rechtskraft und Gesetzeskraft - hier nicht hinter einer umfangreichen Dogmatik, sondern liegt offen zutage. Inhaltlich betrifft sie wiederum die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Rollenverteilung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber. Sie lautet: Das Verfassungsgericht wird zum - auch für den Gesetzgeber - maßgeblichen Interpreten der Verfassung ernannt. Damit läßt sich zu Art. 20 Abs. 3 GG ebenso wie zur materiellen Rechtskraft und Gesetzeskraft festhalten: Erst wenn zu Art. 20 Abs. 3 GG eine Aussage zur Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit und zur Rollenvertei210 Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 120-123; H. H. Klein, NJW 1977, 697 (700 a.E.); Klein, in: Benda/ Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1348; Stricker, DÖV 1995, 978 (981). 211 Benda, DÖV 1979, 465 (469): Das Bundesverfassungsgericht hat „ i m Rahmen der Verfassungsauslegung am pouvoir constituant teil". Ähnlich: Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2099 mit Fn. 113); ders., VVDStRL 39 (1981), S. 172 (173); ders., Der Staat 29 (1990), S. 1 (25); Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 238 unten (darstellend - Gusy selbst lehnt eine solche Bindung ab, a.a.O., S. 237-245). Allgemein: Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 45: „Jede Instanz, die einen zweifelhaften Gesetzesinhalt authentisch außer Zweifel stellt, fungiert in der Sache als Gesetzgeber. Stellt sie den zweifelhaften Inhalt eines Verfassungsgesetzes außer Zweifel, so fungiert sie als Verfassungsgesetzgeber". Dagegen: Heun, Funktionellrechtliche Schranken, S. 81 f; Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 474 (im Kontext der Rn. 473-482); Stricker, DÖV 1995, 978 (983 f). Kritisch auch: Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 23-25. 212 Insofern wiederholen die Gegner dieses Bindungskonzeptes mit ihrem Einwand, das Bindungskonzept mache die Verfassungsrechtsprechung zur Verfassungsgesetzgebung (so etwa: Korioth, Der Staat 30 [1991]; S. 549 [557 f); hinsichtlich § 31 Abs. 1 BVerfGG auch: BGHZ 13, 265 [278-282]) nur den ausdrücklichen Ausgangspunkt dieses Bindungskonzeptes.
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
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lung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber hinzukommt, ergibt sich aus ihm ein produktübergreifendes Bindungskonzept.
V. Analyse der Verfassungsorgantreue Mit welchem Rechtssatz wird das noch fehlende, vorgangsbezogene Bindungskonzept - die Pflicht zur argumentativen Auseinandersetzung mit normverwerfenden Entscheidungen - begründet? Mit dem ungeschriebenen Grundsatz der Verfassungsorgantreue. 213 Der Grundsatz der Verfassungsorgantreue ist als verfassungsrechtliches Prinzip weithin anerkannt 2 1 4 Er verpflichtet die Verfassungsorgane, bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen aufeinander Rücksicht zu nehmen. 215 Sie sind verpflichtet, „sich wechselseitig den Respekt entgegenzubringen, auf den jedes Verfassungsorgan einen unabdingbaren Rechtsanspruch h a t . " 2 1 6 Es müssen „die Verfassungsorgane bei Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Tätigkeit harmonisch zusammenwirken und alles unterlassen, was das Ansehen der anderen Verfassungsorgane schädigt und damit die Verfassung selbst gefährden könnte." 2 1 7 Verfassungsorgantreue fordert also Respekt, Loyalität, Treue und Achtung der Verfassungsorgane in ihrem Verhältnis zueinander. Beziehen wir diese Forderung auf unsere Bindungsfrage: Hier kann Verfassungsorgantreue ganz unterschiedliche Verhaltenspflichten begründen. Nehmen wir etwa die Frage nach dem Normwiederholungsverbot, vor dessen Hintergrund das dritte Bindungskonzept - das zur Argumentation verpflichtende Brüskierungsverbot - entstanden ist: Man kann auf dem Stand213
Battis/Kersten, PersV 1998, 21 (25); Bethge, in: Maunz u.a., BVerfGG (20. Lfg. 2001), § 31 Rn. 73, 199; Busse, ZG 1988, 353 (359); Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (566 f); Rinken , in: Wassermann, AK-GG, Art. 94 Rn. 71a; Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (455). Die Relevanz der Verfassungsorgantreue für das Verhältnis von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht wird weiterhin angesprochen bei Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1342. 214 Maßgeblich entwickelt von Schenke, Die Verfassungsorgantreue, mit zahlreichen weiteren Nachweisen zur Literatur vor 1977 a.a.O., S. 19 in Fn. 3. Weitere Befürworter bspw.: Battis/Kersten, PersV 1998, 21 (25); Bauer, Die Bundestreue, S. 296; Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 100, 225; Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1342, 1346; ders., in: HStR VII, § 168 Rn. 17-19; Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (566 f); Schulze-Fielitz, AöR 122 (1997), S. 1 (27 f); Sturm, in: Sachs, GG, Art. 93 Rn. 13; Voßkuhle , NJW 1997, 2216 (2217-2219). BVerfGE 89, 155 (191) spricht von „Organtreue", E 90, 286 (337) vom „Verfassungsgrundsatz der Organtreue". 215 BVerfGE 35, 193 (199); 45, 1 (39); 90, 286 (337); ausgestaltend: E 35, 257 (261 f); 36, 1 (15). 216 Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, S. 31 (47). 217 Bundesverfassungsgericht, JöR n.F. 6 (1957), S. 194 (206 f).
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
punkt stehen, der Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht verbiete dem Bundesgesetzgeber, eine verworfene Norm inhaltsgleich oder inhaltsähnlich zu wiederholen. So würde die Respektpflicht zum Normwiederholungsverb o t 2 1 8 - eine Forderung, die zum ersten Bindungskonzept gehört. Genauso gut kann man aber meinen, der Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht lege den Gesetzgeber auf keinerlei Ergebnisse fest, fordere nur die gründliche argumentative Auseinandersetzung mit den verfassungsgerichtlichen Rechtsansichten. So würde die Respektpflicht zur vorgangsbezogenen Argumentationspflicht 219 - die Forderung des dritten Bindungskonzeptes. Doch wo liegt das Kriterium, welches entscheiden kann, ob die Verfassungsorgantreue dem Gesetzgeber eine vorgangsbezogene oder eine ergebnisbezogene Bindung auferlegt? Das Kriterium liegt jenseits der Verfassungsorgantreue: Je nachdem, von welchem Funktionsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber man ausgeht, ändert sich die Aussage darüber, welches Verhalten Respekt, Treue, Loyalität und Achtung gegenüber dem Bundesverfassungsgericht fordern. Auch für die Verfassungsorgantreue gilt damit, was entsprechend bereits für materielle Rechtskraft, Gesetzeskraft und Art. 20 Abs. 3 GG herausgefunden wurde: Für sich genommen kann sie das vorgangsbezogene Bindungskonzept nicht begründen. Vielmehr muß wiederum eine jenseits der Rechtsgrundlage liegende Aussage über die Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht hinzukommen.
VI. Auswertung der Rechtsgrundlagenanalyse 7. Das „Mitbringsel": Aussage zum produktübergreifenden Funktionsverhältnis Die anfänglich aufgestellte These hat sich bewahrheitet: Man muß etwas mitbringen, um bei den Rechtsgrundlagen eine Herberge für eines der produktübergreifenden Bindungskonzepte zu finden. Das geforderte „Mit218 In diesem Sinne etwa: Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 20 V Rn. 66; wohl auch: Voßkuhle, NJW 1997, 2216 (2218), und H. H. Klein, in: Festschr. Franz Klein, S. 511 (518 - Zusatz nicht im Original): „Damit [= BVerfGE 77, 84 (103 f)] kann nicht gemeint sein, daß der Gesetzgeber auf eine normverwerfende Entscheidung mit einem trotzigen Dennoch reagieren, die für verfassungswidrig befundene Norm also sogleich erneut erlassen dürfte - er verstieße damit gegen die Regeln, die für den Umgang von Verfassungsorganen miteinander gelten". Auch Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (453^56), stellt neben die vorgangsbezogene Argumentationspflicht ein ergebnisbezogenes Normwiederholungsverbot. 219 Vgl. Busse, ZG 1988, 353 (359); Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (567); Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (455 f); Schuppert, PersR 1997, 137 (140 - im Anschluß an Korioth, a.a.O.).
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
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bringsei" ist stets eine Aussage zur Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Staatsgefüge, speziell zur Verteilung der Rollen zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber. Aus dieser Beobachtung folgt zweierlei: • Die erste Folgerung bezieht sich auf die Tauglichkeit der Rechtsgrundlagen zum Beweis der Bindungskonzepte. Diese Folgerung wurde bereits im Text gezogen: Muß man den Rechtsgrundlagen etwas hinzufügen, um zu einem produktübergreifenden Bindungskonzept zu gelangen, so sind die Rechtsgrundlagen nicht in der Lage, aus sich heraus Beweis für eines der Bindungskonzepte anzutreten. Damit sind wir in der Frage, welches Bindungskonzept das richtige ist, nur insofern weiter gekommen: Wir wissen, daß wir die behandelten Rechtsgrundlagen getrost verlassen können, ja verlassen müssen, um uns der Frage nach dem Funktionsverhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber zu widmen. So gesehen war die Rechtsgrundlagenanalyse ein Befreiungsschlag, durch den die entscheidende Frage nach dem Funktionsverhältnis isoliert wurde. • Die zweite Folgerung findet schon aus der Perspektive statt, die wir durch die erste Folgerung gewonnen haben. Auch hinsichtlich der nunmehr entscheidenden Frage nach dem Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber muß am Anfang die Auseinandersetzung mit den vorhandenen Rechtsgrundlagen stehen. Insoweit wurde bereits herausgefunden: Da die soeben analysierten Rechtsgrundlagen ihrerseits auf eine Aussage zum Funktionsverhältnis von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht angewiesen sind, gehören sie nicht zu den Faktoren, die dieses Funktionsverhältnis mitbestimmen. Damit ist insgesamt festzuhalten: Von den untersuchten Rechtsgrundlagen können wir uns verabschieden, bis wir das Funktionsverhältnis von Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht erörtert haben. Ist dort eine Entscheidung gefallen, so können wir zurückkehren. Denn dann haben wir genau das in den Händen, was wir mitbringen müssen, um von den Rechtsgrundlagen eine Antwort auf unsere Frage zu erhalten. 220 2. Die Nachrangigkeit einfachgesetzlicher
Rechtsgrundlagen
Der Katalog der bisher erörterten Rechtsgrundlagen scheint unvollständig. Die Analyse wurde auf solche Rechtsgrundlagen beschränkt, die entweder selbst Verfassungsrang haben (materielle Rechtskraft, Art. 20 Abs. 3 GG und Verfassungsorgantreue) oder zumindest institutionell im Grundgesetz verankert sind (Gesetzeskraft). Doch warum blieb die einfachgesetz220
Die Wiederaufnahme der Rechtsgrundlagendiskussion findet unten, 2. Kapitel § 5 D., statt.
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
liehe Ordnung außen vor? Warum blieb die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG unerörtert, obwohl sich die Vertreter der beiden ergebnisbezogenen Bindungskonzepte auf diese Norm stützen? 221 Warum fiel kein Wort über § 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG, obwohl er dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ermöglicht, ein Wiederholungsverbot auszusprechen? Warum blieb § 67 S. 3 BVerfGG unerwähnt, obwohl ihm teils eine Rechtskraftbindung hinsichtlich abstrakter Rechtsansichten entnommen w i r d ? 2 2 2 Durch produktübergreifende Bindungsaussagen wird das Funktionsverhältnis von Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht im Ergebnis verändert. Das Bundesverfassungsgericht und die an der Bundesgesetzgebung beteiligten Organe sind Verfassungsorgane. Damit gehört auch ihr Funktionsverhältnis zueinander dem Verfassungsrecht an, hat Verfassungsrang. Was folgt nun aus dem Verfassungsrang des Funktionsverhältnisses für die Diskussion der Rechtsgrundlagen einer produktübergreifenden Bindungswirkung? Befragt man Rechtsgrundlagen mit Verfassungsrang, so muß man sich um das Funktionsverhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber vorerst nicht kümmern. Denn durch ihren Verfassungsrang - läßt man einmal die Möglichkeit des verfassungswidrigen Verfassungsrechts außen vor - sind diese Rechtsgrundlagen selbst Determinanten, die das Funktionsverhältnis mitbestimmen. Äußern sie sich eindeutig zur produktübergreifenden Bindungswirkung normverwerfender Entscheidungen, so wird dadurch das Funktionsverhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber bestimmt, nicht umgekehrt.
221 Als Verbot von Normen, die verworfenen Normen ähneln (erstes Bindungskonzept), wird § 31 Abs. 1 BVerfGG gelesen von: Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 123-128; Löwer, in: HStR II, § 56 Rn. 92; Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung unter dem Grundgesetz, S. 99 f; Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 568 (610 - vor dem Hintergrund von S. 606 f). Als Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen (zweites Bindungskonzept), wird § 31 Abs. 1 BVerfGG gelesen von: Badura, BayVBl 1996, 33 (37 f); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 413^125 (vgl. jedoch die Einschränkung oben 1. Kapitel, Fn. 48); Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 451 f (und S. 358); wohl auch: K Lange, JuS 1978, 1 (5). Uneindeutig (erstes oder zweites Bindungskonzept): Maunz, in: Maunz u.a., BVerfGG (5. Lfg. 1978), § 31 Rn. 19 einerseits („Bindung [...], wenn die gleiche Rechtsfrage auftritt"), Rn. 24 f andererseits („nicht aber Entscheidungen über eine abstrakte Rechtsfrage"); ebenfalls uneindeutig: Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1336: „Zuwiderhandlungs- oder Abweichungsverbot [...]; dies schließt auch das Verbot ein, den für verfassungswidrig oder nichtig erklärten Akt zu wiederholen" (Hervorhebung nicht im Original). 222 So etwa: Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 398 f; wohl auch: Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1298.
§ 2 Analyse des Meinungsspektrums
91
Vor diesem Hintergrund ein erneuter Rückblick auf die bisher untersuchten Rechtsgrundlagen: Materielle Rechtskraft, Art. 20 Abs. 3 GG und der Grundsatz der Verfassungsorgantreue haben gleichermaßen Verfassungsrang und sind so an sich in der Lage, das Funktionsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber mitzubestimmen. Für die Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gilt im Ergebnis nichts anderes: Zwar wird sie nur einfachgesetzlich in § 31 Abs. 2 BVerfGG angeordnet. Da jedoch die Verfassung selbst in Art. 94 Abs. 2 GG das Institut der Gesetzeskraft vorsieht, hat das Institut als solches Verfassungsrang. 223 Damit gehört auch die Gesetzeskraft zu den Faktoren, die das Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber mitzubestimmen in der Lage sind. 2 2 4 Anders bei Rechtsgrundlagen des einfachen Gesetzesrechts. Die einfachgesetzliche Ordnung kann das (rechtsquellenhierarchisch auf der Ebene des Verfassungsrechts stehende) Funktionsverhältnis nicht bestimmen, hat es vielmehr ihrerseits als Vorgabe zu beachten. Damit ist das Funktionsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber einer der Faktoren, welche die Auslegung einfachgesetzlicher Bindungsaussagen leiten und lenken können, nicht umgekehrt. Insoweit ist die Frage nach dem Funktionsverhältnis vorrangig zu beantworten. Erst wenn das Funktionsverhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber festgelegt ist, können wir uns dem einfachen Gesetzesrecht zuwenden. 3. Fazit: Die entscheidende Frage nach dem Funktionsverhältnis Beim Verlassen der Rechtsgrundlagenanalyse tragen wir keine fertige Antwort in den Händen, sondern nur die nächste Arbeitsanweisung. Es kommt entscheidend auf das Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber an. Diesem Funktionsverhältnis soll nunmehr nachgegangen werden.
223 Das übersieht Detterbeck , Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen, S. 351-353, der den Verfassungsrang der Bindungsaussage mit dem Verfassungsrang des Instituts gleichsetzt. 224 Sachs, in: Festschr. Martin Kriele, S. 431 (454) hält die aus der Gesetzes- und Rechtskraft folgenden Bindungsaussagen durch Art. 94 Abs. 2 GG für verfassungsrechtlich fundiert.
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen A. Funktionsaussagen des Grundgesetzes Trifft das Grundgesetz Funktionsaussagen, die uns in der produktübergreifenden Bindungsfrage weiterhelfen?
I. Auf Einzelprodukte bezogenes Letztentscheidungsrecht Zur Funktion des Bundesverfassungsgerichts und zur Rollenverteilung zwischen ihm und dem Bundesgesetzgeber sagt das Grundgesetz nichts Ausdrückliches. Es legt jedoch die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts fest. Versuchen wir, aus den Kompetenzzuweisungen im Wege der Abstraktion eine übergeordnete Gesamtfunktion zu entnehmen 225 , um einen Anhaltspunkt zur Beantwortung unserer Bindungsfrage zu gewinnen. Im Grundgesetz, vor allem in Art. 93 GG, ist dem Verfassungsgericht für enumerativ benannte Fälle die Kompetenz zugewiesen, Rechtsstreitigkeiten anhand des Rechtsmaßstabes Verfassung zu entscheiden. Zu diesen Streitigkeiten gehören auch solche, bei denen es um die Vereinbarkeit von Bundesgesetzen mit der Verfassung geht. Hauptfrage ist die Verfassungsgemäßheit von Bundesgesetzen namentlich bei der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 2 a GG), bei der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) sowie bei der direkt gegen ein Bundesgesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) oder Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG). In anderen Verfahrensarten kann es zur Inzidentprüfung von Bundesgesetzen kommen, so etwa bei der Urteilsverfassungsbeschwerde. Kommt es inzident oder als Hauptfrage zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Bundesgesetzen, so liegt die gerichtliche Kontrollentscheidung zeitlich regelmäßig 226 nach der gesetzgeberischen Herstellungsentscheidung. Da es zudem innerhalb des nationalen Rechts keine Instanz gibt, die das Bundesverfassungsgericht kontrolliert und korrigiert, kann man sa225 In diese Richtung: Hesse, in: Festschr. Hans Huber, S. 261 (264-272). Auch Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (26), meint anläßlich seiner kritischen Auseinandersetzung mit der funktionellrechtlichen Argumentation: „Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit läßt sich nicht unabhängig von den ihr zugewiesenen Kompetenzen, sondern erst aus ihnen heraus bestimmen." Zu der Methode, von einer Verfassungsnorm im Wege der Abstraktion auf hinter ihr liegende Prinzipien zu schließen, noch unten, 2. Kapitel § 4 B. II. 2. c). 226 Der Sonderfall des vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten gesetzgeberischen Unterlassens bleibt hier unberücksichtigt, denn es geht allein um den Normalfall.
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
93
gen: Das Grundgesetz verschafft dem Bundesverfassungsgericht bei der Beurteilung der Verfassungsgemäßheit von Bundesgesetzen das letzte Wort. 2 2 7 So wird dem Bundesverfassungsgericht zunächst 228 im Verhältnis zum Bundesgesetzgeber ein auf Einzelprodukte bezogenes Letztentscheidungsrecht zugeteilt. Kann dieser grundgesetzlichen Funktionsaussage eine Antwort auf unsere Bindungsfrage entnommen werden? Das soeben festgestellte Letztentscheidungsrecht gibt dem Bundesverfassungsgericht das letzte Wort bezogen auf ein ganz bestimmtes Gesetz . Uns geht es aber um die Frage, wie sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das eine Gesetz auf die Entscheidung des Gesetzgebers über andere Gesetze auswirkt. In dieser produktübergreifenden Bindungsfrage kann ein auf Einzelprodukte bezogenes Letztentscheidungsrecht isoliert nicht weiterhelfen.
II. Produktübergreifendes Letztentscheidungsrecht? Hilfreich wäre, wenn das Grundgesetz dem auf Einzelprodukte bezogenen Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts ein produktübergreifendes Letztentscheidungsrecht zur Seite stellte. Dann müßte das Grundgesetz einen Hinweis darauf enthalten, daß mit der verfassungsgerichtlichen Entscheidung über ein ganz bestimmtes Bundesgesetz zugleich die Entscheidung über inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche Bundesgesetze gefallen ist. Ein solches produktübergreifendes Letztentscheidungsrecht spräche für das erste Bindungskonzept - ein Verbot von Normen, die verworfenen Normen ähneln. Indes: Das Grundgesetz schweigt. Kann gleichwohl das auf Einzelprodukte beschränkte zu einem produktübergreifenden Letztentscheidungsrecht ausgedehnt werden? Dazu müßte aus dem Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht über ein ganz bestimmtes Gesetz das letzte Wort hat, gefolgert werden, daß ihm zugleich bezogen auf inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche andere Produkte das letzte Wort zusteht. Eine solche Folgerung ist jedoch keine Deduktion im Sinne der Logik, sondern Analogie. Stellen wir die Untersuchung der Analogie einen Moment zurück und halten fest: Dem Grundgesetz selber läßt sich zunächst kein produktübergreifendes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts entnehmen, welches die produktübergreifende Bindungsfrage beantworten könnte.
227
Meyer , in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 100 Rn. 2. Dieses Letztentscheidungsrecht läßt sich anschließend mit erkenntnistheoretischen oder funktionellrechtlichen Überlegungen wieder relativieren - siehe unten, 1. Kapitel § 3 B. I. 228
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
III. Maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht? Denkbar wäre weiterhin ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts. Zunächst zum Begriff: Bei ihrer produktbezogenen Tätigkeit sind die Hersteller und Kontrolleure von Hoheitsprodukten gleichermaßen zur Auslegung und Interpretation eines zugrundeliegenden Rechtsmaßstabes verpflichtet. Konkret trifft Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht gleichermaßen die Pflicht, die Verfassung im Hinblick auf (geplante) Gesetze auszulegen und zu interpretieren. Fragen, die die Auslegung des Rechtsmaßstabes - hier also die Auslegung des Grundgesetzes - betreffen, heißen „maßstabsbezogene Fragen". 2 2 9 Ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht ist demnach kein Letztentscheidungsrecht über Hoheitsprodukte, sondern ein Letztentscheidungsrecht über die „richtige" Verfassungsauslegung. Was würde ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts für die produktübergreifende Bindungsfrage bedeuten? Fände sich im Grundgesetz ein Hinweis, daß das Bundesverfassungsgericht (auch gegenüber dem Gesetzgeber) das letzte Wort bei der Verfassungsauslegung hat, so würde das Gericht damit zum maßgeblichen Verfassungsinterpreten ernannt. Wäre das Bundesverfassungsgericht der maßgebliche Verfassungsinterpret, so spräche das dafür, den Bundesgesetzgeber bei seiner gesamten produktbezogenen Tätigkeit auf die Interpretation zu verpflichten, die das Bundesverfassungsgericht den einschlägigen Verfassungsnormen verliehen hat. Eine solche Bindung bliebe nicht auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkt, sondern wirkte auch produktübergreifend. Ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht spräche - wie bereits an anderer Stelle ausgeführt 230 - für ein Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen (Zweites Bindungskonzept). Aber kennt das Grundgesetz ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts? Festgestellt hatten wir bereits ein auf Einzelprodukte bezogenes Letztentscheidungsrecht. Bei seiner produktbezogenen Entscheidung ist das Gericht auf den Maßstab der Verfassung verpflichtet. Daraus folgt jedoch nicht automatisch ein auch maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht. Zwar kann man sagen, daß das Bundesverfassungsgericht bei seiner produktbezogenen Letztentscheidung in Ansehung des konkreten Produktes auch über den Aussagegehalt der Verfassung mit Letztverbindlichkeit entscheidet. Soll ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht aber Bedeutung für unsere produktübergreifende Bindungsfrage haben, so muß es ein von einzelnen Produkten losgelöstes, verselbständig229 230
Vgl. oben, 1. Kapitel § 1 C. Vgl. oben, 1. Kapitel § 2 C. IV.
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
tes Letztentscheidungsrecht hinsichtlich der Verfassungsauslegung Gibt es dafür Anhaltspunkte im Grundgesetz?
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sein.
• Für ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts spricht Art. 100 Abs. 3 GG. Denn wenn ein Landesverfassungsgericht, das bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abweichen will, dessen Entscheidung einholen muß, so kommt darin ein Primat des Bundesverfassungsgerichts bei der Grundgesetzauslegung zum Ausdruck. Der Vorrang besteht jedoch nur gegenüber den Landesverfassungsgerichten. Um eine Bindung des Bundesgesetzgebers an verfassungsgerichtliche Entscheidungen zu begründen, bedürfte es indes eines maßstabsbezogenen Letztentscheidungsrechts, das auch im Verhältnis zum Bundesgesetzgeber Geltung beansprucht. • In eine solche Richtung deutete die verfassungsgerichtliche Gutachtenzuständigkeit gem. § 97 BVerfGG. 2 3 1 Sie sah vor, daß dem Bundesverfassungsgericht abstrakte verfassungsrechtliche Fragen losgelöst von konkreten Anlässen zur Begutachtung übergeben werden konnten. 2 3 2 Bei näherem Hinsehen folgt daraus jedoch kein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts. Denn erstens gehört die Gutachtenzuständigkeit seit 1956 der Vergangenheit an. 2 3 3 Zweitens war die Gutachtenzuständigkeit nie im Grundgesetz selber vorgesehen. Sie wurde vielmehr aufgrund der Ermächtigung des Art. 93 Abs. 2 GG durch einfaches Bundesgesetz eingeführt. Drittens hat das Bundesverfassungsgericht selbst seine Gutachtenzuständigkeit nie als Berechtigung zur verbindlichen Letztentscheidung verfassungsrechtlicher Fragen gedeutet, seinen Gutachten vielmehr eine Bindungswirkung gegenüber anderen Staatsorganen abgesprochen. 234 • Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG entscheidet das Bundesverfassungsgericht „aus Anlaß" von Organstreitigkeiten „über die Auslegung dieses Grundgesetzes". Zuweilen wird darin ein Hinweis auf ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts gesehen, weil der 231 Vgl. das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. 3. 1951, BGBl I, S. 243 (252). 232 § 97 BVerfGG sah vor, daß „das Bundesverfassungsgericht um Erstattung eines Rechtsgutachtens über eine bestimmte verfassungsrechtliche Frage" ersucht werden konnte. 233 § 97 BVerfGG wurde aufgehoben durch Art. 1 Nr. 19 des Gesetzes zur Änderung des BVerfGG vom 21. 7. 1956 (BGBl I, S. 662 [664]). 234 BVerfGE 2, 79 (88): „Nur die Entscheidungen, die ein Senat im Urteilsverfahren zu einem konkreten Sachverhalt trifft, binden nach § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden, nicht aber Entscheidungen über eine abstrakte Rechtsfrage."
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1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
konkrete Streitfall nur Anlaß der verfassungsgerichtlichen Grundgesetzauslegung sei. 2 3 5 Man kann aber auch anders betonen: Das Bundesverfassungsgericht darf beim Organstreit nur entscheiden, wenn es einen konkreten Anlaß gibt. Zurecht schließt daraus das Bundesverfassungsgericht 2 3 6 , „daß gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG nicht einfach eine objektive Frage des Verfassungsrechts zur Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts gestellt werden kann." Vielmehr werde der Organstreit durch § 64 BVerfGG treffend dahingehend ausgestaltet, „daß das Verfahren einen Antragsteller und einen Antragsgegner haben muß, und daß es sich dabei nicht nur um formale Prozeßparteien handelt, sondern daß der eine Teil den anderen durch ein im Widerspruch zum Grundgesetz stehendes Verhalten in der Ausübung der diesem vom Grundgesetz beigelegten Rechte und Pflichten verletzt oder gefährdet haben muß." So entscheidet das Bundesverfassungsgericht beim Organstreit zwar über die Auslegung des Grundgesetzes, jedoch nur in Ansehung einer konkreten „Maßnahme oder Unterlassung". 237 Das maßstabsbezogene Letztentscheidungsrecht besteht nur in Ansehung des Einzelfalls, nicht von ihm losgelöst. Daran kann auch § 67 S. 3 BVerfGG nichts ändern. 238 • Für den Bund-Länder-Streit gilt nichts anderes. Zwar sieht Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG eine Entscheidungszuständigkeit bei „Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder" vor. Auch damit ist aber nicht die abstrakte Klärung von Rechtsfragen gemeint. Denn indem Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG von „anderen Streitigkeiten" spricht, macht das Grundgesetz deutlich, daß auch die „Meinungsverschiedenheit" eine „Streitigkeit" ist und wie diese einen Einzelfall voraussetzt, der den Streit veranlaßt. 239 So hat auch der Bundesgesetzgeber die Norm verstanden, wenn er für das Verfahren im Bund-Länder-Streit in § 69 BVerfGG auf den Organstreit verweist, also wie dort den Streit um eine „Maßnahme oder Unterlassung" fordert. Ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht besteht wiederum nur in Ansehung des Einzelfalls,. Insgesamt gilt: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet - entsprechend seiner Gerichtsnatur - über Einzelfälle. Soweit ihm hinsichtlich des Einzelfalls das letzte Wort eingeräumt ist, mag man sagen, daß zugleich in Ansehung des Einzelfalls auch zur Verfassungsauslegung das letzte Wort gesprochen wird. Darin liegt aber kein selbständiges maßstabsbezogenes Letztent235 So etwa: Geiger, NJW 1954, 1057 (1058) und Rinken, in: Wassermann, A K GG, Art. 93 Rn. 4. 236 BVerfGE 2, 143 (156 f). 237 Vgl. § 64 Abs. 1 BVerfGG. 238 Vgl. oben 1. Kapitel, Fn. 32, und unten, 2. Kapitel § 5 D. VII. 239 So zurecht: Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, § 9 I I Rn. 5.
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
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scheidungsrecht, das für die produktübergreifende Bindungsfrage von Bedeutung sein könnte. W i l l man dennoch aus der Verfassung ein selbständiges, maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht gewinnen, so kann man die grundgesetzliche Aussage ausweiten: Daraus, daß das Bundesverfassungsgericht Einzelfälle letztverbindlich entscheidet, insofern in Ansehung der Einzelfälle auch die Verfassung letztverbindlich interpretiert, würde gefolgert, daß zugleich über den Einzelfall hinaus verbindlich über die richtige Verfassungsauslegung entschieden ist. Eine solche Ausdehnung ist jedoch wiederum nicht Deduktion aus dem Grundgesetz, sondern übertragende Analogie.
IV. Zwischenstand Als Zwischenstand ist festzuhalten: Das in der Verfassung angelegte, auf Einzelprodukte bezogene Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts hat für unsere produktübergreifende Bindungsfrage isoliert keine Bedeutung. Es gibt jedoch zwei Möglichkeiten, die vorgefundene Funktionsaussage derart auszudehnen, daß eine Antwort auf die produktübergreifende Bindungsfrage möglich wird. • Entweder kann die Argumentation auf der produktbezogenen Ebene verharren. Dort kann in einem ersten Schritt das auf Einzelprodukte bezogene Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts zu einem produktübergreifenden Letztentscheidungsrecht ausgedehnt werden. Es wird das letzte Wort über ein ganz bestimmtes Gesetz zugleich als letztes Wort über inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche andere Gesetze verstanden. Ein so gewonnenes, produktübergreifendes Letztentscheidungsrecht ermöglicht in einem zweiten Schritt eine Antwort auf unsere produktübergreifende Bindungsfrage. Denn ein produktübergreifendes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts wäre ein Argument für ein Verbot von Normen, die bereits verworfenen Normen gleichen oder ähneln. • Oder die Argumentation verläßt in einem ersten Schritt die produktbezogene Ebene und begibt sich auf die maßstabsbezogene Ebene, um dort ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts festzustellen. Dazu wird das letzte Wort über ein ganz bestimmtes Gesetz zugleich als letztes Wort zu den maßgeblichen Fragen der Verfassungsauslegung verstanden. Ein so gewonnenes, maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht ermöglicht ebenfalls in einem zweiten Schritt eine Antwort auf unsere produktübergreifende Bindungsfrage. Denn ein maßstabsbezogenes Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts wäre ein Argument für ein Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen. 7 Bauer
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
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EINE
MÖGLICHKEIT Zweiter Schritt:
Erster Schritt: Ausdehnung des vorgefundenen, auf Einzelprodukte bezogenen Letztentscheidungsrechts zu maßstabsbe^ogenem I^etztentscheidungsrecht durch Analogie
Rückschluß v o m maßstabsbezogenen Letztentscheidungsrecht auf produktübergreifende Bindungsfrage: => Verbot v o n N o r m e n , die gegen gerichtliche Rechtsansichten verstoßen
Die produktübergreifende Die auf Einzelprodukte Bindungsfrage: bezogene F u n k t i o n s a u s s a ge des G G : Ist der Bundesgesetzgeber bei I^etztentscheidungsrecht des seiner Entscheidung über Bundesverfassungsgerichts Gesetz N r . 2 an verfassungsgebzgl. Gesetz N r . 1 richtliche Entscheidung über Gesetz N r . 1 gebunden?
ANDERE MÖGLICHKEIT Erster Schritt:
Ausdehnung des vorgefundenen, auf Linzelprodukte bezogenen Letztentscheidungsrechts zu einem prodnktübergnifenden Letztentscheidungsrecht durch Analogie
Zweiter Schritt: Rückschluß v o m produktübergreifenden I x t z t entscheidungsrecht auf produktübergreifende Bindungsfrage: => Verbot v o n Normen, die bereits verworfenen ähneln
Abbildung 3
Hier wie dort kommt es im ersten Schritt zu einer Ausdehnung der grundgesetzlichen Funktionsaussage im Wege der Analogie. Bevor diese Analogie inhaltlich betrachtet wird, faßt Abbildung 3 den Stand unserer Überlegungen zusammen.
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
99
V. Analogie zur grundgesetzlichen Funktionsaussage? Zwar stellt das Grundgesetz eine auf Einzelprodukte bezogene Funktionsaussage bereit. Um unsere Bindungsfrage zu beantworten, benötigen wir aber eine produktübergreifende oder maßstabsbezogene Funktionsaussage. Beide lassen sich - wie gezeigt - allenfalls durch eine Ausdehnung der grundgesetzlichen Funktionsaussage im Wege der Analogie gewinnen. Die Analogie ist kein logischer Schluß, sondern ein Vergleich. Es wird „das weniger Bekannte mit dem Bekannteren verglichen, um dann dem ersteren auch das zweifelhafte Merkmal, das zweifelsfrei nur der bekanntere Fall 1 aufweist, zuzuordnen." 240 Übertragen auf unser Problem: Uns ist eine auf Einzelprodukte bezogene Letztentscheidungsposition des Bundesverfassungsgerichts bekannt und soll nun auf den weniger bekannten produktübergreifenden oder maßstabsbezogenen Bereich übertragen werden. Die Übertragung scheint zunächst plausibel. Denn warum sollten die Letztentscheidungspositionen produktübergreifend oder maßstabsbezogen anders verteilt sein als bezogen auf ein Einzelprodukt? Indes setzt eine Übertragung von Letztentscheidungspositionen zunächst voraus, daß überhaupt Letztentscheidungspositionen zu verteilen sind. Aber woher wissen wir, daß es im maßstabsbezogenen und produktübergreifenden Bereich Letztentscheidungspositionen gibt? Die Analogie stößt stets in das Unbekannte vor. 2 4 1 So wie der Zoologe, der in der afrikanischen Savanne auf eine ihm unbekannte Fußspur trifft, trotz aller Vergleiche mit ihm bekannten Fußspuren nicht wissen kann, wie das dazugehörende Tier wirklich aussieht 242 , so können auch wir, die wir im Grundgesetz nur auf Einzelprodukte bezogene Funktionsaussagen finden, nicht wissen, wie es im produktübergreifenden oder maßstabsbezogenen Bereich wirklich aussieht. Stellen wir uns - vorerst nur als unbegründetes Gegenszenario - vor, wie es dort auch aussehen könnte. Angenommen, dort herrsche kein nach Letztentscheidung verlangendes Gegeneinander, sondern ein gleichberechtigtes Miteinander. 243 Dann müßte das Nebeneinander von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber nicht durch die Fest240 241 242
Kaufmann , Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 59. Kaufmann , Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 61. Das Beispiel stammt von Kaufmann , Das Verfahren der Rechtsgewinnung,
S. 61. 243 In diese Richtung etwa: Korioth, Der Staat 30 (1991), S. 549 (569): „Funktional tragen alle Staatsorgane Verantwortung für die Interpretation und Verwirklichung der Verfassung - einen Vorrang des BVerfG gibt es nur, soweit ihm Kontroll- und Verwerfungsbefugnisse hinsichtlich bereits gesetzter Staatsakte eingeräumt sind, soweit die Verfassungsinterpretation im Zusammenhang der aktuellen Verwirklichung verfassungsrechtlichen Rechtsschutzes steht." i*
100
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
legung einer hierarchischen Letztentscheidungsposition aufgelöst werden. Vielmehr könnte (anläßlich unterschiedlicher Hoheitsprodukte und in diesem Sinne produktübergreifend) Verfassungsauslegung von verschiedenen Staatsorganen gemeinsam in Gleichberechtigung betrieben werden. Vor dem Hintergrund dieses Szenarios verliert die analoge Ausdehnung einer auf Einzelprodukte bezogenen Letztentscheidungsposition des Bundesverfassungsgerichts ihre Grundlage. Denn eine hierarchische Letztentscheidungsposition läßt sich nicht auf Bereiche ausdehnen, in denen gleichberechtigtes Miteinander herrscht. Das Grundgesetz gebietet weder das Szenario noch das Gegenszenario, und es verbietet weder das Szenario noch das Gegenszenario. So spricht das Grundgesetz weder für noch gegen eine Ausdehnung seiner auf Einzelprodukte bezogenen Funktionsaussage auf den produktübergreifenden oder maßstabsbezogenen Bereich. Die geschriebene Verfassung enthält keine Funktionsaussage, welche unsere produktübergreifende Bindungsfrage entscheiden könnte.
B. Funktionsdiskussion bei der Kontrollfrage Jenseits der Aussagen des Grundgesetzes gibt es eine breite wissenschaftliche Diskussion um das Funktionsverhältnis zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. Erhalten wir in diesem Diskussionsforum eine Auskunft, welche unsere produktübergreifende Bindungsfrage beantworten hilft? Der Streit um das Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber entzündet sich nicht primär an der produktübergreifenden Bindungsfrage, sondern an der auf Einzelprodukte beschränkten Kontrollfrage: 244 Die Funktionsbestimmung soll Aussagen zur verfassungsgerichtlichen Kontrolltätigkeit ermöglichen, namentlich sollen die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz sowie die Dichte verfassungsgerichtlicher Kontrolle näher bestimmt werden. 245 Der Unterschied in der Fragestellung scheint nebensächlich, wird doch hier wie dort für die Lösung eines Rechtsproblems das Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber behandelt. Aber lassen sich die Erörterung des Funktionsverhältnisses und das Problem, welches die Erörterung auslöst, wirklich trennen? Ist die Problemherkunft unwichtig, die 244
Vgl. zu dieser Unterscheidung oben, 1. Kapitel § 1 sowie Abbildung 1 auf
S. 26. 245 Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 107: „Inhaltlich stellt sich das Problem der Kompetenz- und damit Grenzbestimmung des BVerfG als Frage nach der Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Überprüfung".
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
101
Diskussion über das Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber allgemeingültig? Wenn wir uns in die breite Diskussion um das Funktionsverhältnis begeben, dann vorerst nicht als Teilnehmer, sondern als Beobachter, um die soeben aufgeworfene Frage zu beantworten.
I. Analyse der vorgefundenen Argumentformen Eine These vorweg: Die Argumentformen 246 , die man bei der auf Einzelprodukte bezogenen Kontrollfrage vorfindet, sind bereits in ihren undiskutierten Prämissen auf abgrenzende Funktionsbestimmungen gerichtet. Damit kommen von vornherein nur Unterschiede zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber in den Blick, Gemeinsamkeiten werden nicht zugelassen. Diese These gilt es zu begründen. 7. Das erkenntnistheoretische
Argument
Das erkenntnistheoretische Argument will die Reichweite (verfassungs-) gerichtlicher Kontrolle davon abhängig machen, wie stark die rechtliche Steuerung des (Verfassungs-) Gerichts durch das (Verfassungs-) Recht ausfällt. Es kommt zu einem Zusammenhang zwischen Reichweite der Kontrolle und Steuerungskraft des Kontrollmaßstabes. Ich nenne diesen Ansatz erkenntnistheoretisch, weil er zur Bestimmung der Dichte gerichtlicher Kontrolle eine erkenntnistheoretische Aussage über die Steuerungskraft des Rechts treffen muß. Für das Funktionsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber lassen sich zwei Unterformen des erkenntnistheoretischen Arguments typisierend herausarbeiten. Die eine Unterform geht davon aus, daß es zwischen Recht und Politik eine feste Trennlinie gibt (a), die andere Unterform betont hingegen graduelle Abstufungen zwischen eher rechtlichen oder eher politischen Entscheidungen (b). a) Trennbarkeit von Rechtsanwendung und Politik Eine grob gliedernde Form des erkenntnistheoretischen Arguments lautet: Die Verfassungsanwendung ist dem Bundesverfassungsgericht zur Letztentscheidung, die Politik der Gesetzgebung zur Letztentscheidung zugewiesen. 246 Ich spreche von Argumentformen und nicht von Meinungen, um den Eindruck zu vermeiden, wissenschaftliche Äußerungen zeichneten sich typischerweise insgesamt durch eines der hier vorgestellten Argumentationsmuster aus. Vielmehr bilden die Argumentformen das Rohmaterial, aus dem sich viele Stellungnahmen in immer neuen Variationen und Kombinationen zusammensetzen.
102
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Nach dieser A r g u m e n t f o r m entspricht die Trennlinie zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber der Trennlinie zwischen Rechtsanwendung und P o l i t i k . 2 4 7 Wer Politik i n einem weiten Sinne versteht, w i r d schnell zweifeln: Wer w i l l bestreiten, daß Rechtsanwendung i n einem weiten Sinne ein „ P o l i t i k u m " sein kann? M a n kann den B e g r i f f des (rein) Politischen aber auch i n einem engeren Sinne verstehen als den Bereich, i n dem der Gesetzgeber nicht rechtlich determiniert ist. So gesehen verwendet auch das Bundesverfassungsgericht das erkenntnistheoretische Argument, wenn es ausführt, es dürfe nur die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit v o n Gesetzen überprüfen. 248 Uns geht es an dieser Stelle nicht u m die Berechtigung und genauen Begriffsgehalte, sondern u m die Prämissen der vorgestellten Argumentform. D i e erste Prämisse lautet: Es gibt eine Trennlinie, bis zu der (die Steuerung durch) das Recht reicht und jenseits derer die (reine) P o l i t i k beginnt. D i e zweite Prämisse lautet: D e m Bundesverfassungsgericht ist der Bereich diesseits der Trennlinie - also die Rechtsanwendung - zur Letztentscheidung zugewiesen; dem Gesetzgeber ist der Bereich jenseits der Trennlinie - also die (reine) P o l i t i k - zur Letztentscheidung z u g e w i e s e n . 2 4 9
247
Vgl. etwa: Clemens, Das Bundesverfassungsgericht im Rechts- und Verfassungsstaat, S. 13 (16-18); Friesenhahn, Zeitschrift für schweizerisches Recht 73 (1954), S. 129 (149-162); Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 4 1 ^ 4 ; Haltern, Der Staat 35 (1996), S. 551 (552 f); H. H. Klein, in: Festschr. Franz Klein, S. 511 (521); Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 93 Rn. 6, 9 f, Art. 100 Rn. 4 f; vgl. ergänzend die Wortlautzitate unten 1. Kapitel, Fn. 249, 251. Isensee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 49 (56-59, insbes. 56 f), gibt zwar Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Rechtsanwendung und Politik zu, nimmt jedoch eine Kompetenz-Kompetenz des Gerichts für die Entscheidung der Abgrenzungsfrage an (!). Referierend: Brohm, NJW 2001, 1 (3) und Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 108-112 m.w.N. Einen auf den ersten Blick ähnlichen - hier nicht weiter zu verfolgenden - Ansatz wählt die aus den USA stammende political question doctrine, wonach politische Fragen einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen sind: vgl. Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Verfassungsorgane, passim; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundsverfassungsgericht, S. 52-58. Piazolo, Das Bundesverfassungsgericht und die Beurteilung politischer Fragen, S. 243 (253-256) zeigt, daß unter dem Stichwort der political question doctrine unterschiedliche theoretische Ansätze zusammengefaßt werden. Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 91, und Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 31 f, meinen, die Doktrin sei weder generalisier- noch übertragbar. 248
Vgl. aus jüngerer Zeit etwa: BVerfGE 95, 267 (310); 90, 145 (173); 84, 348 (359); 83, 395 (401 m.w.N.); 81, 108 (117 f m.w.N.); 80, 244 (255 m.w.N.); zuerst: E 1, S. 14 (32). 249 Besonders deutlich werden diese Prämissen bei Friesenhahn, Zeitschrift für schweizerisches Recht 73 (1954), S. 129 (149-162): „Der Verfassungsrichter darf nicht der Versuchung erliegen, seine politisch-sachlichen Erwägungen an Stelle der politisch-sachlichen Erwägungen des Gesetzgebers zu stellen. Er darf nicht selbst
103
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
Von diesen beiden Prämissen liegt nur eine i m Bereich der Erkenntnistheorie: D i e Vorstellung, zwischen Rechtsanwendung und (reiner)
Politik
gebe es eine T r e n n l i n i e . 2 5 0 Sie verlangt nach der Untersuchung, an welchem Punkt die Steuerung des Verfassungsanwenders durch die einschlägigen Verfassungssätze endet und der Bereich der (reinen) P o l i t i k b e g i n n t . 2 5 1 W a r u m soll aber die so bestimmte Trennlinie zwischen Rechtsanwendung und (reiner) P o l i t i k der Trennlinie zwischen Verfassungsgericht
und
Gesetzgebung entsprechen? H i e r w i r d der erkenntnistheoretischen Aussage eine Funktionsverteilung an die Seite gestellt: D e m Gesetzgeber w i r d die maßgebende Entscheidung i n politischen, dem Verfassungsgericht die maßgebende Entscheidung i n verfassungsrechtlichen Fragen zugewiesen. Somit enthält das erkenntnistheoretische Argument die uns bereits bekannte Vör-
den Gesetzgeber spielen wollen. Er hat nur darüber zu wachen, daß die Normen des Grundgesetzes auch vom Gesetzgeber eingehalten werden" (a.a.O., S. 150). Als „neutrale Instanz, die allein unter dem Gesichtspunkt von Gesetz und Recht entscheidet", als „bloßer Diener des Rechts" nehme das Bundesverfassungsgericht „nicht an der schöpferischen Gestaltung des politischen Lebens des Volkes teil", könne vielmehr „immer nur entfalten [...], was bereits in der Verfassung, auch für die übrigen Verfassungsorgane erkennbar, enthalten ist" (a.a.O., S. 158 f). Die Verfassungsanwendung durch das Verfassungsgericht stelle nicht „einen politischen Willensakt" dar, bemühe sich vielmehr „um die Erkenntnis des immanenten Gehaltes der Norm" (a.a.O., S. 160). 250 Vgl. die Einschätzung von Brohm, NJW 2001, 1 (3): „Die Lehrbuchliteratur vertritt die Ansicht einer notwendigen Trennung und Trennbarkeit von Recht und Politik weithin bis heute". 251 Einige Beispiele: H. H. Klein, in: Festschr. Franz Klein, S. 511 (521 - Zusatz nicht im Original): Die Kriterien, die „meist unter dem Gesichtspunkt der dem Bundesverfassungsgericht zukommenden ,Kontrolldichte 4 angeführt [werden], bezeichnen in Wahrheit Umfang und Grenzen der Möglichkeit, mit den Methoden der juristischen Interpretation den Inhalt der Verfassungsnormen zu bestimmen. Nur soweit diese Möglichkeit besteht und zur näheren Bestimmung des Verfassungsinhalts führt, darf - und muß dann allerdings auch - die Rechtsprechung den Staat zum Handeln verpflichten"; Meyer , in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 100 Rn. 4 f, Art. 93 Rn. 6, 9 f (Zitat Rn. 9 - Zusätze nicht im Original): „Soweit dieser Maßstab [der normative Gehalt der Verfassung] rechtliche Vorgaben enthält, darf und muß das BVerfG sprechen; darüber hinaus hat es sich der kompetenzwidrigen Äußerungen zu enthalten"; Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 27: „Bei jeder Normenüberprüfung stehen im Zentrum der Kontrolle die Grenzen, die sich aus den jeweils zur Anwendung als Prüfungsmaßstab stehenden Verfassungsrechtssätzen ergeben. Deren Rechtsgehalt, und nur er, markiert die Funktionsgrenze eines jeden Verfassungsrichters"; bestätigend ders., Verfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 15 f, 20. Simons , Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 17-25, verfolgt in seiner rechts vergleichenden Arbeit die Grundthese, daß der hier vorgestellte Ansatz für Deutschland typisch sei, wohingegen in Amerika der funktionellrechtliche Ansatz vorherrsche. Ich zweifle, denn auch in Deutschland greift die funktionellrechtliche Sichtweise zunehmend Platz (dazu sogleich: 1. Kapitel § 3 B. I. 2.).
104
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Stellung, das Bundesverfassungsgericht sei der maßgebliche und letztentscheidende Verfassungsinterpret. Daß sich die vorgestellte Abgrenzung zwischen verfassungsrechtlichem und politischem Letztentscheidungsbereich angesichts der herrschenden Verfassungsdogmatik nicht halten läßt, interessiert an dieser Stelle noch nicht. 2 5 2 Denn uns geht es allein um die Argumentstruktur. Insoweit wurde herausgefunden: Das erkenntnistheoretische Argument ist in beiden Prämissen auf Abgrenzung gerichtet. Es schaltet eine erkenntnistheoretische Abgrenzung (entweder Verfassungsanwendung oder Politik) gleich mit einer kompetenziellen Abgrenzung (entweder Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts oder Letztentscheidungsrecht des Gesetzgebers). Somit handelt es sich um eine bereits in ihren Prämissen auf Abgrenzung gerichtete Argumentform. b) Untrennbarkeit von Rechtsanwendung und Politik Es gibt eine zweite Form des erkenntnistheoretischen Arguments 2 5 3 , die feinere Abstufungen ermöglicht. Sie verneint eine eindeutige Trennlinie zwischen Rechtsanwendung und Politik, 2 5 4 macht aber graduelle Unterschiede aus. Folgende Überlegung: Es läßt sich nicht leugnen, daß es Verfassungsnormen mit höherer Steuerungskraft und solche mit niedrigerer Steuerungskraft g i b t 2 5 5 . Die Farben der Bundesflagge (Art. 22 GG) sind eindeutiger determiniert 256 als die Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG). 252
Dazu jedoch unten, 2. Kapitel § 4 B. II. 2. b) und 2. Kapitel § 4 B. II. 2. c). Diese Argumentform findet sich bspw. bei: v. Arnim, Staatslehre, S. 382-388; Brenner, AöR 120 (1995), S. 248 (254-263, 266); Korinek, VVDStRL 39 (1981), S. 7 (26-30); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 515 f; Simon, NJ 1996, 169 (170). 254 So bspw.: v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S. 222-224; Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht, S. 112; Geiger, EuGRZ 1985, 401 (passim); Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 46-52; Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 1 (4); ders., Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, S. 55 (64 und 66 - dort Zitat), wo er fordert, „aus dem unfruchtbaren Entweder-Oder von Rechts- oder politischer Funktion herauszukommen"; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 565; Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, S. 31 (40); Piazolo, Das Bundesverfassungsgericht und die Beurteilung politischer Fragen, S. 243 (244-246); Rinken, in: Wassermann, A K GG, vor Art. 93 Rn. 87-90; Scheuner, DÖV 1980, 473 (473 f); Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 7-10. 253
255 Brenner, AöR 120 (1995), S. 248 (passim), untersucht bspw. die Technizität jüngerer Verfassungsänderungen. 256 Aber auch an der Steuerungskraft des - vermeintlich eindeutigen - Art. 22 GG läßt sich zweifeln: Warum stört sich niemand daran, wenn das Flaggentuch nicht golden, sondern gelb eingefärbt ist?
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
105
Diese Einsicht ermöglicht, die Reichweite verfassungsgerichtlicher Kontrolle von den graduellen Unterschieden in der Steuerungsdichte des Kontrollmaßstabes abhängig zu machen. So entsteht ein Je-Desto-Gefüge: Je höher die Steuerungskraft der verfassungsrechtlichen Norm ist, desto weiter darf sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle vorwagen. 257 Auch diese Argumentform soll nicht auf ihre Berechtigung, sondern auf ihre Struktur hin untersucht werden. Wiederum lassen sich zwei Prämissen feststellen. Die erste Prämisse ist erkenntnistheoretischer Natur. Sie besagt, daß sich Rechtsanwendung und politische Wertung nicht trennen lassen, erkennt aber graduelle Unterschiede bei der Steuerungskraft verfassungsrechtlicher Maßstäbe an. Insofern ein deutlicher Unterschied zu der erstgenannten Argumentform, die von einer Trennlinie zwischen Rechtsanwendung und Politik ausging. Demgegenüber bleibt die zweite Prämisse unverändert. Bei zunehmender Steuerungskraft des Verfassungsrechts soll die Rolle des Bundesverfassungsgerichts an Bedeutung zunehmen, bei abnehmender Steuerungskraft der Gesetzgeber gestärkt werden. Dem liegt erneut die Annahme zugrunde: An sich ist dem Gesetzgeber ein politisches und dem Bundesverfassungsgericht ein verfassungsrechtliches Letztentscheidungsrecht eingeräumt. Die Trennlinie zwischen den Letztentscheidungszuweisungen kann jedoch nicht
257 Brenner, AöR 120 (1995), S. 248 (255); Korinek, VVDStRL 39 (1981), S. 7 (26-30, Zitat S. 30, Zusätze nicht im Original): „Je unbestimmter die übergeordnete, ermächtigende Norm, um so geringer die Möglichkeit des Messens der Übereinstimmung - um so größer andererseits die Freiheit zur autonomen Rechtsgestaltung." Die Bestimmtheit der anzuwendenden Verfassungsnorm „bestimmt entscheidend die Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Prüfung"; Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 515: „Der Schlüssel für die Bestimmung der Kontrolldichte und Reichweite des BVerfG muß [...] die Verfassung sein und bleiben: Nicht das Gericht, sondern die Verfassung als Prüfungsmaßstab des Gerichts ist entweder zurückhaltend oder deutlich greifend"; Simon , in: HVerfR, § 34 Rn. 57; ders ., NJ 1996, 169 (170): „Die Verfassung selbst und nicht das Gericht ist in den verfassungsrechtlichen Postulaten entweder zurückhaltend oder deutlich befehlend." v. Arnim , Staatslehre, S. 382-388, verwendet das Kriterium der „Stringenz der Beurteilungsmaßstäbe" (a.a.O., S. 382). Jedoch nicht konsequent: Zwar ist nachvollziehbar, daß Verfahrensnormen eine hohe Steuerungsdichte aufweisen und daher eine hohe Kontrolldichte gebieten (a.a.O., S. 384, 388, sowie ders.; Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S. 275 f). Dies vermag jedoch keine Begründung für verstärkte verfassungsrechtliche Anforderungen an Verfahrensvorschriften des kontrollierten Gesetzes abzugeben (so aber: ders., Staatslehre, S. 384-388). Denn insofern geht es nicht mehr um die Stringenz des Beurteilungsmaßstabes, sondern um Anforderungen an den Inhalt des kontrollierten Gesetzes. Wer die knappen Ausführungen in der Staatslehre v. Arnims kritisiert, muß jedoch in Rechnung stellen, daß v. Arnim an anderer Stelle eine sehr viel komplexere Antwort auf die Kontrollfrage entwickelt (ders., Gemeinwohl und Gruppeninteressen, passim, insbesondere S. 265276).
106
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
eins zu eins umgesetzt werden, weil sie auf erkenntnistheoretische Hemmnisse stößt. Sie ist aber so weit aufrechtzuerhalten, wie die erkenntnistheoretische Prämisse dies zuläßt, das heißt nicht im strikten Entweder-Oder, sondern nur im graduellen Je-Desto. Der Unterschied zu der ersten vorgestellten Argumentform liegt nach alledem in der erkenntnistheoretischen Prämisse: Dort wird von der strikten Trennbarkeit von Rechtsanwendung und Politik ausgegangen, hier nur von graduellen Abstufungen auf einer Skala zwischen primär politischen und primär rechtlichen Entscheidungen. Die zweite Prämisse bleibt hingegen unverändert und gilt insgesamt für den erkenntnistheoretischen Ansatz: Soweit wie möglich ist dem Bundesverfassungsgericht ein verfassungsrechtliches und dem Gesetzgeber ein politisches Letztentscheidungsrecht einzuräumen. Die eigentliche Funktionsaussage kehrt somit unverändert wieder, auch wenn ihr erkenntnistheoretisches Gewand feinere Abstufungen zuläßt. Damit kann zum erkenntnistheoretischen Argument insgesamt festgehalten werden, daß ihm auf Abgrenzung gerichtete Funktionsbestimmungen von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber zugrunde liegen. 2 5 8 Dem Bundesverfassungsgericht ist die Funktion der Verfassungsauslegung zur Letztentscheidung zugewiesen, es ist der maßgebliche Verfassungsinterpret. Dem Gesetzgeber ist die davon abzugrenzende Funktion der (reinen, nicht rechtlich determinierten) Politik zur Letztentscheidung zugewiesen. 2. Das funktionellrechtliche
Argument
Ein zweites Funktionsargument erfreut sich wachsender Beliebtheit: das funktionellrechtliche Argument. 2 5 9 Es geht - soweit ersichtlich - auf Ehmke zurück. 2 6 0 Mittlerweile ist es der gängigste Ansatzpunkt bei der 258
Hier zeigt sich, warum es gerechtfertigt ist, die erkenntnistheoretische Argumentform unter der Überschrift „Funktionsdiskussion bei der Kontrollfrage" zu behandeln. 259 Vgl. Brohm, NJW 2001, 1 (7, 9 f); Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 91 (Vorstellung) und passim (Anwendung); Heun, Funktionellrechtliche Schranken, passim; Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 99-113a; Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, passim; in der Sache auch: Hesse, JöR n.F. 46 (1998), S. 1 (14 f, 12 oben). Vorsichtigen Anschluß an die funktionellrechtliche Argumentation sucht auch Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 102 f. Kritisch hingegen: Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (113-115) und Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 516, die jedoch an anderer Stelle einräumen, daß auch sie funktionellrechtlich argumentieren (a.a.O., Rn. 496). 260 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (73): „Neben solchen materiell-rechtlichen Interpretationsprinzipien gibt es vor allem in einem Verfassungsrecht mit Verfassungsrechtsprechung aber noch eine andere Art von Interpretationsprinzipien.
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
107
Beantwortung der Frage, w i e w e i t verfassungsgerichtliche Kontrolle gehen darf. Uns geht es wieder nicht u m Argumentationsinhalte und deren Berechtigung, sondern u m die Argumentstruktur. Gemeinsam ist bei aller Verschiedenheit i m Detail der Ausgangspunkt: D i e Funktionsfragen i m Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber werden ihres erkenntnistheoretischen Gewandes (Recht oder reine Politik) e n t k l e i d e t . 2 6 1 Sie werden aus dem Bereich der undiskutierten Prämissen herausgeholt und offen als Funktionsfragen d i s k u t i e r t . 2 6 2 Dabei ist das funktionellrechtliche Argument ein Grenzen setzendes: Getragen v o n der Sorge, daß ein weites materielles Verfassungsverständnis allzu leicht zu einer zu starken Verfassungsgerichtsbarkeit führen
kann,
sollen
der
i m Verhältnis z u m Gesetzgeber
Verfassungsgerichtsbarkeit
Schranken
gesetzt
werden.263
Ich möchte sie die funktionell-rechtlichen nennen. [...] Sie betreffen u. a. die Verteilung der Aufgaben der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsfortbildung auf die verschiedenen Verfassungsorgane." Wichtig ist, daß das funktionellrechtliche Argument bei Ehmke als Auslegungsprinzip für das materielle Verfassungsrecht fungiert. Die darin zum Ausdruck kommende Gleichschaltung zwischen der Auslegung materieller Verfassungsnormen und Kompetenzfragen ist einer gerichtlichen Perspektive geschuldet (dazu unten, 2. Kapitel § 4 A. IV. 3. a)), die die vorliegende Arbeit zu überwinden sucht (dazu ausführlich unten im 3. Kapitel). 261 Das Ablegen des erkenntnistheoretischen Gewandes wurde bspw. gefordert von Krebs , Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 71-80 (allgemein), 100 (Anwendung auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle): Eindrucksvoll legt er dar, daß zur Bestimmung der Grenzen gerichtlicher Kontrolle der Satz nichts beizutragen habe, wonach die gerichtliche Kontrolle dort ende, wo die Aussagen des rechtlichen Maßstabes enden. 262 Vgl. bspw. Kurt Vogel , Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, S. 33: „Da angesichts der Weite und Offenheit der Verfassungsnormen die Bindung des Verfassungsrichters an das Gesetz zur Bestimmung der Grenzen seiner Tätigkeit nicht ausreicht, liegt es nahe, die ihm gegenüber den anderen Staatsfunktionen gezogenen Grenzen in der Kompetenzordnung und der Funktionenteilung des Grundgesetzes zu suchen." 263 Auf die grenzsetzende Zielrichtung des funktionellrechtlichen Arguments weist Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 84, hin; im Ergebnis auch: Brohm, NJW 2001, 1 (9): „Die funktionell-rechtlichen Grenzen"; Kurt Vogel , Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, S. 33: „Ermittlung der verfassungsgerichtlichen Kompetenzgrenzen aus eben dieser funktionalen Stellung heraus". Allerdings läßt sich das funktionellrechtliche Argument auch einsetzen, um die Stellung des Bundesverfassungsgerichts zu stärken: Wenn bspw. Walter, AöR 125 (2000), S. 517, ausgehend von einem prozeßhaften Verfassungsverständnis (a.a.O., S. 520) das Verfassungsrecht als „Prozeß seiner Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht" definiert (a.a.O., S. 531), so wird die Ausrichtung dieser Verfassungsdefinition auf das Bundesverfassungsgericht letztlich funktionell-rechtlich begründet (besonders deutlich: die „Schlußbemerkung" a.a.O., S. 549).
108
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Das funktionellrechtliche Argument versucht Funktionen zu bestimmen, ohne auf die geschriebenen Kompetenzregeln zurückzugreifen. Dazu wird zu einer - einmal mehr weitgehend undiskutierten - Prämisse gegriffen. Sie lautet: In der Staatsorganisation ist im Zweifel eine Funktion immer genau dem Hoheitsträger zugewiesen, der für ihre Wahrnehmung strukturell am besten gerüstet i s t . 2 6 4 Geht man von dieser Prämisse aus, braucht man sich bei der Beurteilung der Funktion nicht mehr auf Kompetenzvorschriften zu stützen. 265 Man kann vielmehr die rechtliche Ausgestaltung des Entscheidungsträgers untersuchen, seine (jenseits von Kompetenzvorschriften liegenden) Strukturmerkmale herausarbeiten und daraus auf die Funktion schließen. 2 6 6 In interessanter Parallelität zur erkenntnistheoretischen Argumentform findet sich eine grobmaschige und eine feinmaschige Unterform dieses Arguments: • Zu einer groben Unterscheidung findet, wer untersucht, ob sich ausgehend von der Doppelnatur des Bundesverfassungsgerichts als Gericht und Verfassungsorgan 267 eher die rechtsprechende Rolle oder die Teilhabe an der Staatsleitung funktionsbestimmend auswirkt: Wer mit der Gerichtsqualität die Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts betont, der weitet den Raum für eine demgegenüber eigenständige Funktion des Gesetzgebers aus. 2 6 8 Wer mit der Verfassungsorganqualität die staatsleitende 264 Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 99; ähnlich: Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 151; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 91; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken, S. 13; Schulze-Fielitz, AöR 122 (1997), S. 1 (10); Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 15. Nach BVerfGE 68, 1 (86); 98, 218 (252), sollen „staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen." Der dieser Prämisse zugrunde liegende Zusammenhang zwischen Organstruktur und Funktion läßt sich auch umkehren zu einem „Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur" (so der gleichnamige Aufsatz von v. Danwitz, Der Staat 35 [1996], S. 329 m.w.N.). Dann wird nicht die Funktion an der vorgefundenen Organstruktur ausgerichtet (so die funktionellrechtliche Argumentation), sondern umgekehrt die Organstruktur an der vorgegebenen Funktion. Einen kritischen Standpunkt liefert ein solches Argument etwa gegenüber dem Gesetzgeber, der staatliche Entscheidungsstrukturen schafft, ausgestaltet oder abändert (dazu: v. Danwitz, a.a.O., S. 340-345). 265
So waren wir oben (1. Kapitel § 3 A.) zunächst vorgegangen. 266 Ygi z u dieser Vorgehens weise: Brohm, NJW 2001, 1 (passim, insbes. 9 f); Limbach, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfaktor, S. 21-23; dies., Das Bundesverfassungsgericht, S. 55 f; Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 38-53. 267
So bereits: Bundesverfassungsgericht, JöR n.F. 6 (1957), S. 194 (198-203); BVerfGE 7, 1 (14); 7, 377 (413); 65, 152 (154). Daß das Bundesverfassungsgericht sowohl Verfassungsorgan als auch Gericht ist, wird kaum noch bestritten (vgl. Sturm, in: Sachs, GG, Art. 93 Rn. 6-12).
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
109
Funktion des Bundesverfassungsgerichts betont, der engt den Raum für eine demgegenüber eigenständige Funktion des Gesetzgebers e i n . 2 6 9 • Eine feinere Differenzierung findet, wer unabhängig von dem Grobraster Gericht/Verfassungsorgan ein Bündel von Strukturmerkmalen erarbeitet und mit ihrer Hilfe Kompetenzfragen entscheidet. 270 Ein Beispiel: Laut Rinken soll eine funktionellrechtliche Kompetenzbestimmung der Verfassungsgerichtsbarkeit an den Strukturmerkmalen „Verfassungsbindung, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Passivität und Fallbezogenheit" anknüpfen. 271 Diese Strukturmerkmale verfassungsgerichtlichen Entscheidens, die in Abgrenzung zu Strukturmerkmalen gesetzgeberischen Entscheidens entwickelt werden 2 7 2 , sollen für eine Bestimmung der Dichte verfassungsgerichtlicher Kontrolle als „normative Leitlinien" verwendet werden. 273 Wir kennen das funktionellrechtliche Argument nun gut genug, um eine Gemeinsamkeit mit dem zuvor behandelten erkenntnistheoretischen Argument festzustellen: Ebenso wie das erkenntnistheoretische ist auch das funktionellrechtliche Argument bereits in seiner - undiskutierten - Prämisse auf Abgrenzung ausgerichtet. Eine Aufgabe soll immer genau dem Hoheitsträger zugewiesen sein, der dafür strukturell am besten gerüstet ist. Diese Prämisse zielt nicht auf die Feststellung gemeinsamer, sondern auf die Abgrenzung verschiedener Aufgabenbereiche. 274 Sie nötigt, Unterschiede zu beto268 Die Gerichtsqualität wird in den Vordergrund gestellt von: Hesse, JöR n.F. 46 (1998), S. 1 (14); Rinken , in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 102-105; Scheuner, DÖV 1980, 473 (476^78); Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (126136); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 498-501. Das bedeutet nicht, daß die Verfassungsorganqualität des Gerichts geleugnet wird, ihr wird bloß für die Funktionsbestimmung keine eigenständige Bedeutung beigemessen, so: Rinken , in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 82: „Die Verfassungsorganqualität ist ein Modus der Verfassungsgerichtsqualität und bringt dieser keinen Mehrwert." Ähnlich auch: Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93, Rn. 2 m.w.N. 269 Vgl. Kurt Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, S. 33-39 m.w.N. 270 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 9 6 137 (Entwicklung von Strukturmerkmalen) und S. 138-260 (Anwendung auf Kompetenzfragen); Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 102-106 (dazu sogleich im Text); Siedler, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 17-27 (Überwindung des Grobrasters Verfassungsorgan/Gericht), S. 28-52 (Entwicklung von Strukturmerkmalen) und passim (Anwendung der Strukturmerkmale); knapp: Grimm, JZ 1976, 697 (703 aus politologischem Blickwinkel). 271 Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 106. 272 Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 102-105. 273 Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 106-110 (Zitat: Rn. 106). 274 Eine Ausnahme ist denkbar für den Fall, daß zwei Hoheitsträger gleich gut für ein und dieselbe Aufgabe gerüstet sind. Diese Ausnahme ändert aber nichts an der Regelaussage.
110
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
nen, nicht Gemeinsamkeiten. Auch das funktionellrechtliche Argument zielt somit auf Abgrenzung.
II. Auswertung der Analyse Können die vorgestellten Argumentformen bei der Beantwortung unserer produktübergreifenden Bindungsfrage helfen? Der erste Blick stimmt optimistisch: Zwar werden die Argumentformen verwendet, um eine andere Frage zu beantworten als die unsrige. Dort geht es um die auf Einzelprodukte bezogene Kontrollfrage, hier um die produktübergreifende Bindungsfrage. Gleichwohl werden keineswegs nur solche Funktionsaussagen getroffen, die sich auf das Einzelprodukt beschränken (und daher für uns von vornherein uninteressant sind). Vielmehr trifft das erkenntnistheoretische Argument eine maßstabsbezogene Funktionsaussage, indem es das Bundesverfassungsgericht zum maßgeblichen Verfassungsinterpreten erklärt und damit scheinbar für unser zweites Bindungskonzept spricht - ein Verbot von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen. 275 Auch das funktionellrechtliche Argument ist nicht auf die Behandlung von Einzelprodukten beschränkt. Vielmehr ließe sich der Gedanke, Funktionen immer genau demjenigen Hoheitsträger zuzuweisen, der dafür strukturell am besten geeignet ist, auch auf produktübergreifende oder maßstabsbezogene Funktionsfragen anwenden und damit in unserem Zusammenhang fruchtbar machen. Einer Übertragung der vorgefundenen Argumentformen auf unsere Fragestellung scheint nichts im Wege zu stehen. Der erste Blick ließ jedoch etwas unberücksichtigt, was bei der Analyse aufgefallen war: Die Argumentformen sind bereits in ihren undiskutierten Prämissen auf Abgrenzung gerichtet, auf Entgegensetzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber. Dem widmet sich unser zweiter Blick und fragt: Warum erfolgt bereits in den undiskutierten Prämissen eine unwiderrufliche Festlegung auf Abgrenzung und Entgegensetzung? Ich meine: Abgrenzung und Entgegensetzung sind nicht dem Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber geschuldet, sondern der Fragestellung, zu deren Lösung die vorgestellten Argumentformen eingesetzt werden. Das ist zu begründen. Die vorgestellten Argumentformen werden zur Beantwortung von Fragestellungen herangezogen, die auf Einzelprodukte beschränkt sind. Zu solchen Fragestellungen gelangt man, wenn man den rechtlichen Werdegang eines bestimmten Hoheitsproduktes verfolgt. Verfolgt man den Werdegang eines Bundesgesetzes, so liegt die verfassungsgerichtliche Kontrollentschei275
Vgl. oben, 1. Kapitel § 2 C. IV.
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
111
dung zeitlich regelmäßig nach den gesetzgeberischen Herstellungshandlungen. Die zeitliche Reihenfolge verleiht so dem Bundesverfassungsgericht das letzte Wort. 2 7 6 Soll die Gewaltenbalance nicht in Schieflage geraten, darf die verfassungsgerichtliche Letztentscheidung jedoch keine allumfassende sein. Es müssen Bereiche ausgegrenzt werden - man kennzeichnet sie etwa mit den Stichwörtern Entscheidungsspielraum oder Einschätzungsprärogative - , in denen das Bundesverfassungsgericht nicht seine eigene Entscheidung an die Stelle der gesetzgeberischen setzen darf: • So versucht das erkenntnistheoretische Argument, durch eine Beschränkung des Bundesverfassungsgerichts auf die Rechtskontrolle einen (rein) politischen Bereich von der Letztentscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszunehmen. Wo das Verfassungsrecht den Gesetzgeber nicht steuert, darf auch das Verfassungsgericht den Gesetzgeber nicht rügen. 2 7 7 • Das funktionellrechtliche Argument versucht hingegen, durch die Erarbeitung von Strukturmerkmalen Bereiche auszugrenzen, in denen der Gesetzgeber besser zur Letztentscheidung gerüstet ist als das Bundesverfassungsgericht. 278 Hier wie dort werden einzelne Bereiche der verfassungsgerichtlichen Letztentscheidung entzogen und statt dessen der gesetzgeberischen Letztentscheidung zugewiesen. Das Letztentscheidungsrecht des einen wird - wenn auch nur in genau abgesteckten Teilbereichen - durch ein Letztentscheidungsrecht des anderen ersetzt. Das Stichwort der Letztentscheidungsbefugnis beherrscht die Diskussion. 279 Bezogen auf ein konkretes Hoheitsprodukt ist das auch sinnvoll. Denn über ein konkretes Hoheitsprodukt - diesen 276
Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 100, Rn. 2. Dieser Versuch ist allerdings angesichts der herrschenden Verfassungsdogmatik zum Scheitern verurteilt. Dazu noch unten, 2. Kapitel § 4 B. II. 2. c). 278 Die funktionellrechtliche Diskussion im Verhältnis Verfassungsgericht/Gesetzgeber ist eine Schrankendiskussion (vgl. die Nachweise oben 1. Kapitel, Fn. 263, sowie Heun, Funktionellrechtliche Schranken, S. 84: „Außerdem kann die Formel der funktionellrechtlichen Grenzen - wie ihr Wortlaut bereits andeutet - nur negativen, kompetenzbeschränkenden, aber keinen kompetenzbegründenden Charakter haben."). Das beantwortet auch die Frage Siedlers (Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 3), warum sich der funktionellrechtliche Ansatz stets zulasten des Gerichts auswirkt. 279 Dieses Stichwort oder ähnliche, gleichbedeutende Formulierungen etwa bei: Bundesverfassungsgericht, JöR n.F. 6 (1957), S. 194 (198); Hesse, in: Festschr. Hans Huber, S. 261 (271); Hoffmann-Riem, Einführung zu: Schuppert, Funktionellrechtliche Grenzen, S. V (Zusätze nicht im Original): „Die Diskussion um die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit wird auch im neuen Jahrzehnt [gemeint ist: 19902000] fortgesetzt werden müssen. Bei ihr geht es [...] um die Zuteilung der Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung"; P. Lange, VR 1979, S. 48-51 (Titel und passim); Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, S. 31 (34 f); Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 100, Rn. 2. 277
112
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Satz haben wir bereits als Anliegen der materiellen Rechtskraft kennengelernt 2 8 0 - kann nicht ewig gestritten werden. Es bedarf einer Letztentscheidung und eines Letztentscheidungsträgers. Die Letztentscheidung liegt entweder beim Bundesverfassungsgericht oder beim Gesetzgeber. Oder sie wird nach Bereichen auf Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber verteilt. So zwingt die Fragestellung zu abgrenzenden Antworten. Die Fragestellung legt aber nicht nur die möglichen Antworten, sondern auch die zur Antwort verwendeten Funktionsaussagen auf Abgrenzung fest. Denn wer die Befugnis zur letzten Entscheidung zuteilen oder aufteilen muß, dem helfen Gemeinsamkeiten zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber nicht weiter. So ist es nur folgerichtig, wenn die zur Beantwortung der (auf Einzelprodukte beschränkten) Kontrollfrage verwendeten Argumente die Funktionsbestimmung von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber bereits in den undiskutierten Prämissen auf Abgrenzung und Entgegensetzung festlegen - und zwar auch hinsichtlich maßstabsbezogener Funktionsaussagen.281 Abgrenzung und Entgegensetzung sind jedoch nicht zwangsläufig dem Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, sondern zunächst nur der auf Einzelprodukte ausgerichteten Fragestellung geschuldet. Das spricht gegen die Übernahme der vorgefundenen Argumentformen. Denn mit der Übernahme der Argumentformen würde der in ihre Prämissen eingelassene Abgrenzungszwang ungeprüft mit übernommen. Damit würden wir uns ein Denkverbot auferlegen. Ein Denkverbot, das einer Frage geschuldet ist, die wir gar nicht beantworten wollen. Ein Denkverbot, das ein bereits angesprochenes 282 Gegenszenario betrifft: Kann es maßstabsbezogen nicht zu einem Miteinander von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber kommen? Kann nicht die Aufgabe der Verfassungsauslegung Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber zur gemeinsamen, gleichberechtigten Erledigung zugewiesen sein? Um diese Fragen denken zu dürfen, sollten wir uns von der vorgefundenen Funktionsdiskussion verabschieden. Wir können uns von ihr in Frieden trennen, können sie in ihrem Problembezug zurücklassen, ohne über richtig oder falsch zu urteilen. 280
Vgl. oben, 1. Kapitel § 2 C. II. 3. d). Daß der produktbezogene Abgrenzungszwang auch die maßstabsbezogene Funktionsbestimmung auf Abgrenzung festlegt, wird bspw. deutlich, wenn Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 102 (mit Zitat von Ery de, Verfassungsentwicklung, S. 313), ausführt, „daß es bei der Begrenzung der Kontrollund Entscheidungskompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im wesentlichen darum geht, den Anteil der Verfassungs-,Konkretisierungskompetenzen' der Verfassungsgerichtsbarkeit »gegen die anderer Staatsorgane abzugrenzen(Hervorhebungen nicht im Original). 282 Vgl. oben, 1. Kapitel § 3 A. V. 281
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
113
C. Gegenszenario: Verfassungsauslegung als Aufgabe zur gleichberechtigten gemeinsamen Erledigung Bereits zweifach war von einem Gegenszenario die Rede. Es setzt der von Abgrenzung geprägten Debatte um das Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber für den maßstabsbezogenen Bereich ein Miteinander entgegen. Der mögliche Inhalt und Standort eines solchen Gegenszenarios läßt sich präzisieren: Eine Gemeinsamkeit von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber liegt auf der Hand. Bei der Erfüllung ihrer produktbezogenen Aufgaben sind Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht gem. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG gleichermaßen an die Verfassung gebunden. Obwohl die produktbezogenen Aufgaben sich unterscheiden (hier Herstellung - dort Kontrolle), trifft beide die Aufgabe der Verfassungsauslegung. Das ist keine Neuentdeckung. Im Gegenteil: Nicht selten wird diese „gemeinsame Aufgabenstellung von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber" 283 betont und steht am Anfang der Erörterung des Funktionsverhältnisses. 284 Sie wird jedoch zumeist als Problemursprung angesehen, löst einen Fluchtreflex aus. Dafür zwei Beispiele: • Isensee stellt zunächst fest, daß „ i m System der Gewaltenteilung verschiedene, gleichgeordnete Staatsorgane über die Auslegung der Verfassung befinden" 2 8 5 . Da dies jedoch „die Gefahr der Abweichung und des Konfliktes über die richtige Auslegung mit sich bringt", „muß wenigstens Klarheit darüber bestehen, wer das Recht letztverbindlich interpretiert." 2 8 6 • Ganz ähnlich klingt es bei v. Arnim: „Gesetzgeber und Richter sind beide dem gleichen Ziel verpflichtet: Sie sollen beide zur Realisierung von Richtigem beitragen. Dadurch ergibt sich zwangsläufig ein Konkurrenzverhältnis, in welchem letztlich die zentrale Problematik der verfassungsgerichtlichen Kontrolle angelegt ist: Wenn beide unterschiedliche Ergebnisse ermitteln, also Unterschiedliches für gemeinwohlrichtig halten, wessen Interpretation soll dann den Vorrang haben?" 2 8 7
283
Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, S. 35; ähnlich: Arndt , in: Festschr. Martin Hirsch, S. 423 (430 f, 436). 284 Neben den sogleich ausgeführten Beispielen etwa: Isensee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 49 (51); Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 55; Kurt Vogel , Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, S. 141. 285 Isensee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 49 (51). 286 Isensee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 49 (51). 287 v. Arnim, Staatslehre, S. 381 f. 8 Bauer
114
1. Kap.: Analyse des Vorgefundenen
Warum die Gemeinsamkeit nicht zum Verweilen einlädt, sondern die Flucht veranlaßt, wissen wir bereits: Denkt man an das rechtliche Schicksal eines Einzelprodukts, ist die Gemeinsamkeit ein Unzustand, der durch auf Abgrenzung gerichtete Funktionsüberlegungen zugunsten eines Letztentscheidungsrechts aufgelöst werden muß. Da wir jedoch eine produktübergreifende Frage zu beantworten haben, müssen wir uns an der Flucht nicht beteiligen. Befreit von dem auf Einzelprodukte bezogenen Abgrenzungszwang sehen wir zwei staatliche Entscheidungsträger, die von der Verfassung gleichermaßen in den Rang eines Verfassungsorgans gerückt sind und in dieser Eigenschaft nicht übereinander, sondern nebeneinander stehen. Zwar hat die Verfassung Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht mit unterschiedlichen produktbezogenen Aufgaben versehen, sie jedoch zur Erfüllung dieser Aufgaben auf denselben Rechtsmaßstab verpflichtet. Hier knüpft das Gegenszenario an. Es geht davon aus, daß die Aufgabe der Verfassungsauslegung Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber zur gemeinsamen Erledigung zugewiesen ist. Insoweit wird also das Nebeneinander von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber nicht in ein hierarchisches Übereinander, sondern in ein gleichberechtigtes Miteinander aufgelöst. Zwar sieht das Grundgesetz keine selbständig institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber in Verfassungsfragen vor. Das ist für ein gleichberechtigtes Miteinander bei der Verfassungsauslegung aber gar nicht erforderlich. Vielmehr ließe sich ein solches Miteinander auch dadurch verwirklichen, daß sich jedes Verfassungsorgan anläßlich und bei Gelegenheit seiner produktbezogenen Aufgabenerfüllung mit den Rechtsansichten auseinandersetzt, die das andere Verfassungsorgan anläßlich und bei Gelegenheit von dessen produktbezogener Aufgabenerfüllung geäußert hat. So käme es auf lange Sicht zu einem fortschreitenden Meinungsaustausch zwischen Gleichberechtigten und damit zur gemeinsamen Erfüllung der maßstabsbezogenen Aufgabe. Bezogen auf unsere produktübergreifende Bindungsfrage spräche dieses Gegenszenario für das dritte Bindungskonzept: Der Bundesgesetzgeber müßte sich bei seiner gesetzgebenden Tätigkeit den bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsansichten nicht unterordnen, sich mit ihnen aber argumentativ auseinandersetzen. Wie gezeigt, hindern uns weder die Kompetenznormen des Grundgesetzes noch die vorgefundene Funktionsdiskussion, ein solches Gegenszenario zu denken. Umgekehrt sprechen sie aber auch nicht für das Gegenszenario. So kann das Gegenszenario mit den geschriebenen Verfassungsaussagen und der bestehenden Dogmatik weder bewiesen noch widerlegt werden. Zwar liegt es im Bereich des Möglichen, nachdem das einer anderen Frage als der unseren geschuldete Denkverbot überwunden wurde. Ist das aber
§ 3 Analyse der vorgefundenen Funktionsaussagen
115
Abbildung 4
schon alles, was wir tun können? Beginnt Willkür und Dezision, wo geschriebenes Recht und Dogmatik keine Antwort wissen? Wollen wir diese Frage verneinen, so müssen wir den Bereich des Vorgefundenen verlassen und uns nach neuen Feldern umsehen, auf denen unsere Frage und unsere These rational diskutierbar bleiben. Das Gegenszenario und seine Bedeutung für unsere Fragestellung wird verdeutlicht durch Abbildung 4.
Gerede der Menschen saust auf den, die herab, gibt es einen, der sicher ist? Wenn wir miteinander statt übereinander sprächen? Johanna und Martin Walser
2. Kapitel
Entwicklung einer prozeduralen Bindung § 4 Ausflug zu den Metaebenen des Rechts Ein Talmensch will ein Talproblem lösen. Bei näherem Hinsehen muß er feststellen, daß die im Tal angelegten, breiten Wege der Problemlösung ein Labyrinth bilden, aus dem ohne fremde Hilfe kein Herauskommen ist. Darum geht der Talmensch auf Bergwanderung. Vom höchsten Berg schaut er herab. Er freut sich über den mit der Höhe gewonnenen Talblick, die Vögelperspektive verschafft Überblick. Doch droht auch Gefahr: Die Luft wird dünn, der Weg steil, das Tal mit seinem Problem zur unbedeutenden Miniatur. Wie endet die Geschichte? Wir wissen es nicht, können nur hoffen: Hoffentlich ist der Wanderer höhensicher und bergfest; hoffentlich hat er ein gutes Fernglas, um in der Höhe sein Problem im Blick zu behalten. Zunächst wurde versucht, die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen an Ort und Stelle - das heißt, das verfassungsprozessuale Problem durch die Auseinandersetzung mit verfassungsprozessualen Rechtsgrundlagen - zu lösen. Es wurde herausgefunden: Nur wenn den Rechtsgrundlagen eine Aussage über das Funktionsverhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber zur Seite gestellt wird, geben sie Antwort auf die produktübergreifende Bindungsfrage. Also wurde im geltenden Recht nach einer solchen Funktionsaussage gesucht. Die Suche führte bis zu einer These. Es gab jedoch an Ort und Stelle keine Kriterien, welche die These zu begründen oder zu widerlegen vermochten. Soll bei diesem Stand nicht Dezision und Willkür entscheiden, so wird ein Ausflug nötig. Ort und Stelle müssen verlassen und ein Diskussionsforum aufgesucht werden, in dem die Frage rational diskutierbar bleibt. Ein derartiges Forum bieten die Metaebenen des Rechts.
A. Die Prozeduralisierung des Rechts Auf den Metaebenen erfolgt von vornherein eine Einschränkung: Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Prozeduralisierung des Rechts. Sie beschränkt sich daher auf Überlegungen, die unter dem Stichwort „Prozeduralisierung" gehandelt werden.
§ 4 Ausflug zu den Metaebenen des Rechts
117
Doch kann „Prozeduralisierung" beantworten, wie der Bundesgesetzgeber produktübergreifend an normverwerfende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden ist? Der Begriff verleitet zu vorschnellen Schlüssen: „Procedere" heißt Verfahren, „Prozeduralisierung des Rechts" also Stärkung des Verfahrensrechts. Wird die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen „prozeduralisiert", so führt das zu einer verfahrensrechtlichen Bindung, mithin zu unserem dritten, vorgangsbezogenen Bindungskonzept. So könnte man denken. Sollte man aber nicht. Denn erstens hat das dritte, vorgangsbezogene Bindungskonzept wenig mit dem zu tun, was üblicherweise als Verfahrensrecht bezeichnet wird. 1 Zweitens hat auch das Stichwort der Prozeduralisierung mit einer Stärkung des Verfahrensrechts wenig zu tun. 2 Der Prozeduralisierungsdebatte kommt es „vielmehr auf jenseits der konkreten Norm liegende Leitbilder, auf Annahmen über die Möglichkeit von Wissenschaft und Erkenntnis, auf Theorien der Gerechtigkeit, Philosophien vom richtigen Staat und Soziologien über das Funktionieren von Gesellschaften, kurz: auf das juristische Weltbild an." 3 Die Dinge liegen also schwieriger als erhofft. Gleichwohl wird sich die Prozeduralisierungsdebatte für die Frage nach dem Funktionsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber als weiterführend erweisen. 4
I. Vorüberlegungen 1. Die Herangehensweise Gibt es einen gemeinsamen Nenner aller Überlegungen, die dem Stichwort „Prozeduralisierung" zugeordnet werden? Nur einen sehr kleinen. Die prozedurale Denkweise zeichnet sich dadurch aus, daß bei Überlegungen über das Recht - und das auf so unterschiedlichen Ebenen wie Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Rechtsmethodik oder Rechtsdogmatik - an die Stelle eines ergebnisbezogenen Denkens ein vorgangsbezogenes Denken tritt. Die Richtigkeit von Recht, die Funktionsweise des 1
Dazu noch unten, 3. Kapitel § 7 B. Vgl. Teubner, Recht als autopoietisches System, S. 83: „Die Formel der p r o zeduralisierung' des Rechts kann leicht mißverstanden werden. Wenn man sie als Empfehlung liest, ein post-interventionistisch gesonnener Gesetzgeber sollte auf materielle Rechtsnormen verzichten und sich auf Verfahrensrecht verlassen, wird man ihr nicht gerecht." 3 Calliess, Prozedurales Recht, S. 84. 4 Rinken, in: Wassermann, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 67-7 la, hält es für eine wissenschaftliche Zukunftsaufgabe, die Prozeduralisierungsdebatte bei Überlegungen zur Funktion des Bundesverfassungsgerichts zu verwerten. 2
118
2. Kap.: Entwicklung einer prozeduralen Bindung
Rechts, die Steuerung durch Recht, die Anwendung des Rechts, das Recht selbst werden nicht mehr primär vom Ergebnis her, sondern vom Vorgang her gedacht und betrachtet, auf einen Vorgang bezogen. Eine unterscheidungskräftige Begriffsbildung bietet diese erste Umschreibung nicht. Was bietet sie dann? Die Einsicht, daß verschiedenen Prozeduralisierungskonzepten eher eine (vorgangsbezogene) Denkhaltung als ein fest umrissener Inhalt gemeinsam ist. Eine Denkhaltung, die Raum für ganz unterschiedliche Denkinhalte schafft. Doch wie die unterschiedlichen Denkinhalte strukturieren? Dazu ein paar Vorüberlegungen: Dem Wanderer, der auf den Berg stieg, um sein Problem aus der Vogelperspektive zu lösen, war zu empfehlen: Verliere dich nicht in der prächtigen Aussicht, sondern betrachte mit dem Fernglas genau den Ausschnitt des Rundblicks, in dem dein Problem liegt. Uns geht es ähnlich. Wenn wir die Metaetagen der Prozeduralisierungsdebatte betreten, müssen wir stets die Fragestellung im Blick behalten, mit der wir hierher kamen. Sie lautet: Hilft die Prozeduralisierungsdebatte, unsere produktübergreifende Bindungsfrage zu beantworten? Oder verallgemeinert: Helfen die Metakonzeptionen dem tätigen Juristen, der sich mit einem konkreten Rechtsproblem hierher begibt? 5 Ausgehend von dieser Frage wird die Debatte um Prozeduralisierung sortiert und rekonstruiert. Dazu werden drei Prozeduralisierungskonzepte jeweils als Antwort auf ein Rechtsproblem entwickelt und anschließend nach ihrer Brauchbarkeit für unsere produktübergreifende Bindungsfrage untersucht. 6 Wird die vorgefundene Prozeduralisierungsdebatte derart in ihren Auswirkungen auf das Recht wahrgenommen, gehen zwangsläufig viele Querverbindungen und Zusammenhänge auf den Metaebenen verloren. Es werden Trennlinien gezogen, wo Verbindungen bestehen und umgekehrt. Bei einer solchen Rekonstruktion entstehen Konzepte, die exakt so zuvor noch nicht bestanden.7 Gleichwohl wird das Stichwort Prozeduralisierung nicht 5 Auf einem höheren Abstraktionsniveau wird diese Frage gestellt von: Starck, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das positive Recht, S. 376 (passim); Viehweg, Über den Zusammenhang zwischen Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, S. 35 (passim). 6 Zu einer der für uns relevanten Konzeptionen bemerkt Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1 (28): Sie „ist für den Gesetzgeber, der beschließt, für Behörden, die entscheiden, und für Richter, die urteilen müssen, so relevant wie Stephen Hawkins Weltformel für die Konstruktion FCKW-freier Kühlschränke." 7 Eine solche Vorgehensweise ist keineswegs selten. Ein prominentes Beispiel bietet Dworkin, Law's empire. Zu den von ihm a.a.O., S. 94-96, vorgestellten und a.a.O., S. 114-175, 225-275, im einzelnen entwickelten Konzeptionen der Rechtsanwendung bemerkt er: „In the next several chapters we shall study three rival conceptions of law, three abstract interpretations of our legal practice that I have deliberately constructed on this model as answers to this set of questions. These con-
§ 4 Ausflug zu den Metaebenen des Rechts
119
aus seinem metajuristischen Kontext gerissen und für rechtliche oder rechtspolitische Standpunkte instrumentalisiert, 8 sondern innerhalb seines metajuristischen Kontextes im Hinblick auf seine rechtlichen Auswirkungen rekonstruiert. 2. Zwei begriffliche
Vorbemerkungen
Untersucht man die Auswirkungen der Prozeduralisierungsdebatte auf das Recht, ist eine begriffliche Unterscheidung wichtig, eine andere unwichtig: Wichtig ist, eine begriffliche Unterscheidung zwischen Konzepten des prozeduralen Rechts einerseits, Konzepten der prozeduralen Rechtsanwendung andererseits einzuführen: • Konzepte des prozeduralen Rechts wollen an dem geltenden Recht inhaltlich etwas ändern. Sei es, daß dem Gesetzgeber ein neuer prozeduraler Regelungstyp empfohlen wird. Sei es, daß bestehenden Normen im Wege der Auslegung eine neue Deutung als prozedurale Norm gegeben wird. • Demgegenüber wollen Konzepte der prozeduralen Rechtsanwendung den Vorgang der Rechtsanwendung - also die Tätigkeit des Rechtsanwenders unabhängig vom Inhalt der anzuwendenden Rechtssätze - prozedural begreifen. Einmal geht es um den Inhalt der Rechtssätze, einmal um das Rezept zur Ermittlung dieses Inhalts. Behalten wir diese wichtige Unterscheidung in Erinnerung. Hingegen ist ein vorhandenes Begriffsbündel für unsere Zwecke unwichtig: Auf den Metaebenen des Rechts lassen sich viele Diskussionsforen unterscheiden - etwa das der Rechtsphilosophie, der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie, der Demokratietheorie und der Methodenlehre. Über die Grenzen zwischen diesen Foren läßt sich trefflich streiten. Ein Streit, der hier bewußt nicht aufgegriffen wird, weil die Grenzen weder für die hier entwickelten Prozeduralisierungskonzepte noch für die zitierten Autoren Bedeutung haben. Je ein Beispiel: • Das unten vorgestellte dritte Prozeduralisierungskonzept gibt auf eine von der Rechtsmethodik gestellte Frage eine rechtstheoretische Antwort mit rechtsphilosophischem Grundgedanken.
ceptions are novel in one way: they are not meant precisely to match the »schools' of jurisprudence I described in Chapter I, and perhaps no legal philosopher would defend either of the first two exactly as I described it. But each captures themes and ideas prominent in that literature" (a.a.O., S. 94). 8 Davor warnt Teubner, Recht als autopoietisches System, S. 84 f, mit eindriicklichem Beispiel.
120
2. Kap.: Entwicklung einer prozeduralen Bindung
• Habermas nimmt für seine Untersuchung „Faktizität und Geltung" ausdrücklich eine Teilnehmer- und Beobachterperspektive ein, eine „Doppelperspektive" zwischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie.9 Allein über die Zuordnung der beiden Beispiele ließe sich lange streiten, ohne in der hier interessierenden Frage nach den Auswirkungen der MetaÜberlegungen auf das Recht weiterzukommen. Deswegen wird auf eine strenge Unterscheidung zwischen den verschiedenen Diskussionsforen auf den Metaebenen verzichtet.
II. Erstes Prozeduralisierungskonzept: Steuerung der Gesellschaft durch prozedurales Recht Das erste Prozeduralisierungskonzept sieht das Problem in einer Steuerungskrise des Rechts (1). Zur Problemlösung wird ein neues, die Krise überwindendes Steuerungskonzept vorgeschlagen (2). Ist es für unsere Bindungsfrage interessant (3)? 1. Das Problem: Steuerungskrise
des Rechts
Das Recht ist in eine Steuerungskrise geraten. Zwei Begründungen dieser These sollen zeigen, welch unterschiedliche Gedankengänge sich hinter der einheitlichen Diagnose verbergen: die historische (a) und die systemtheoretische (b) Begründung. a) Historische Begründung Einmal wird die Steuerungskrise des Rechts mit einem historischen Abriß begründet: Die Steuerungsschwäche wird zurückgeführt auf Änderungen im Wandel der Zeit. 1 0 In besonderer Prägnanz bei Dieter Grimm, den wir stellvertretend 11 zu Wort kommen lassen: 9 Habermas, Faktizität und Geltung, passim (die „Doppelperspektive" klingt bereits im Titel an - besonders deutlich auch: S. 61 f, 349); dazu auch: Calliess, Prozedurales Recht, S. 143 f. 10 Diese „historische Perspektive" (Habermas, Faktizität und Geltung, S. 299) wird in ganz unterschiedlichen Problemzusammenhängen fruchtbar gemacht. So entwickelt Habermas aus ihr etwa einen Wandel der Grundrechtsdogmatik (a.a.O., S. 299-309) und Forderungen nach einem neuen Rechtsparadigma (a.a.O., S. 519— 524). Auch Habermas knüpft dabei u. a. an die Überlegungen Grimms an. 11 Eine in verschiedener Hinsicht komplexere Version einer historischen Begründung der Steuerungskrise findet sich bei Calliess, Prozedurales Recht, S. 39-83; eine Kurzversion speziell für das Verfassungsrecht bei Hesse, JöR n.F. 46 (1998), S. 1 (15-17).
§ 4 Ausflug zu den Metaebenen des Rechts
121
Grimm stellt den liberalen und den materialen Rechtsstaat typisierend und bewußt vereinfachend gegenüber: Im liberalen Rechtsstaat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts herrschte das Leitbild einer Gesellschaft, die sich durch die Freiheitsbetätigung ihrer Mitglieder selbst organisiert. 12 Gerechtigkeit schien durch die Verwirklichung individueller Selbstbestimmung erreichbar. 13 Die Rolle des Rechts beschränkte sich darauf, einerseits mit dem Zivilrecht die Gestaltungsmittel freiheitlicher Selbstbestimmung bereitzustellen, andererseits mit dem Öffentlichen Recht Gefahren für die Freiheit abzuwehren. 14 Es konzentrierte sich darauf, bereits eingetretene, einzelne Störungen abzustellen, und bekam so einen reaktiven, punktuellen und bipolaren Charakter. 15 Eine Aufgabe, die das Recht durch Konditionalprogramme mit relativ hoher Steuerungsdichte erfüllen konnte. 16 Demgegenüber setzte sich im nachfolgenden materialen Rechtsstaat die Einsicht durch, daß im liberalen Ordnungsstaat die Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft überschätzt worden war. 1 7 Der Staat gab deshalb seine Formalisierung auf, griff inhaltlich regulierend ein, erhob einen eigenen Gestaltungsanspruch. 18 Ein Effekt, der sich durch die zunehmende Entnaturalisierung und Verwissenschaftlichung der Welt fortwährend verstärkt. 19 Die Folgen für das Recht: Zum einen steigt die Zahl der Gesetze. Wichtiger als die quantitative ist jedoch die qualitative Veränderung: Wegen seines Gestaltungsauftrags kann das Recht nicht mehr retrospektiv, muß vielmehr zukunftsgerichtet wirken. 2 0 Zukunftsgerichtete Gestaltung entzieht sich jedoch einer ergebnisgenauen Kodifikation. 21 Geeigneter Regelungstyp ist nicht mehr das Konditional-, sondern das Finalprogramm. 22 Die Steuerungskraft des Rechts läßt stark nach, eine Krise des Rechtsstaates entsteht. 23
12
Vgl.: Grimm, Zukunft der Verfassung, S. 613 (615 f)Grimm, Zukunft der Verfassung, S. 613 (616 m.w.N.). 14 Grimm, Zukunft der Verfassung, S. 613 (617 f). 15 Grimm, Krise des Rechtsstaats, S. 291 (295). 16 Vgl. Grimm, Krise des Rechtsstaats, S. 291 (295 f). 17 Vgl. Grimm, Krise des Rechtsstaats, S. 291 (296 f). 18 Vgl. Grimm, Zukunft der Verfassung, S. 613 (624 f). 19 Vgl. Grimm, Zukunft der Verfassung, S. 613 (625-627). Habermas weist zurecht darauf hin, daß die Risiken moderner Wissenschaft und Technik zwar einen neuen Zeitabschnitt in der historischen Betrachtung bilden (
QTQ
W ^ 8 et
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C
5
5
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Entscheidungs-
Ergebnisvergleich
ergebnis I
Entscheidungsergebnis I I
2. D e r negative K o n t r o l l m o d u s
Kontrollierter Hoheitsträger
3 W 2 D
Verwaltungsverfahrensrecht Austauschbarkeit, funktionelle 273 Autopoiese 122 Axiom 127
175 ff, 183 ff, 188 ff, 192 ff, 297 f Alternativlosigkeit,
rechtliche
279,
282 Analogie
99 f, 129
Analogieverbot
129 f
Anfechtungsklage Apel, Karl-Otto
68, 70, 74, 77 139
Appellentscheidung
43
Arbeitsteilung, parlamentarische Argumentationsmodell
236 f
275, 278
Argumentationspflicht
33, 41, 87 f,
114, 210 ff, 219 f, 225, 229, 238 f, 292 ff - Anlaß
127
Begriffspyramide 127 Begründungsstil, richterlicher 275 Bestandskraft, verwaltungspsychologische 284 Beurteilungsermächtigung 263, —» auch: Beurteilungsspielraum Beurteilungsfehler
258, 281
Beurteilungsspielraum
254,
- Argumentationsschritte
220
- Gegenstand 215 ff Gesetzgebungsverfah-
Argumentformen - erkenntnistheoretisches Argument -> dort
258,
259 ff, 270 ff, 276, 278, 281 f Bindungskonzepte, Vorstellung
213 f
- Inhalt 218 f - und äußeres ren 235 ff
Begriffshof 260 Begriffsjurisprudenz Begriffskern 260
Böckenförde,
Wolfgang
27 ff
160
Brille des gerichtlichen Kontrollmodus 243 f, 288, 290, 292 Brüskierungsverbot
31 ff,
36, 41 f,
43, 58 ff, 224 Bryde, Brun-Otto
55
Bundesverfassungsgericht - als Hüter einer deliberativen Politik 158
Sach- und Personenerzeichnis - als maßgeblicher Verfassungsinterpret 48, 49 f, 85, 94, 104, 106, 224 - Argumentationspflicht - Autorität
212, 238 f
296 f, 301
- Funktion —• Funktionsaussagen des Grundgesetzes - Funktionsverhältnis zwischen - und Gesetzgeber —• Funktionsverhältnis - Gerichtsqualität - Leitsätze
108 f
216
- Respekt vor dem - 32 f, 87 f - Verfassungsorganqualität Bund-Länder-Streit Calliess, 162 ff
139 ff
- Diskursregeln —• dort - diskurstheoretischer 177
108 f
92
- Durchsetzungsunfähigkeit 193 f, 196 f
169, 185,
- Entscheidungsunfähigkeit 193 f, 196 f
169, 185,
- Ist-Version
Gralf-Peter
155,
156 f,
168 f
- juristischer Diskurs 193 - Kann-Version
216
143 f, 170, 177,
168 f
- kommunikative Vernunft —• dort - Konsensustheorie
deliberative Politik
154, 158 f, 163
Demokratietheorie
119,
152,
158,
162, 166 f, 195 Denkverbot
112, 114
Detterbeck, Steffen Dialog dienende rechts
54, 74
199 ff, 208 Funktion
des
Verfahrens-
245 ff, 280, 284, 287, 289
der
- Begriff 220 - Festlegung eines Kontrollmodus für die - 294 ff - und gerichtsfixierte Dogmatik 291 ff Diskursregeln 141 f, 144 f, 176 f, 183, 205, 208 ff
166 f,
207
- Argumentationslastregeln
210 f
Wahrheit
dort - Schwächen des Diskurses
168 f
- Sonderfallthese —• dort - und Letztentscheidungsrecht —> dort - und Realität staatlichen Entscheid e n 151 ff - und rechtliche Institutionalisierung 170 f, 173, 193 ff, 206 - Vierstufenmodell
diskursive Bindung
- als Rechtspflicht
174,
- ideale Sprechsituation —• dort
96
conditio sine qua non
Diskurs
- grundrechtlicher bzw. verfassungsrechtlicher Diskurs 171, 185, 193 f, 197, 206, 213
- Selbstbindung —* dort - Zuständigkeiten
Diskurstheorie
Begrün-
- allgemein-praktischer Diskurs 143 f, 170, 177, 193 f, 197
32, 58 ff
- Doppelrolle
- transzendentalpragmatische dung von - 176
dort
Dokumentationsausfall Doppelperspektive Doppelrolle
300
120, 150
—• Bundesverfassungsge-
richt Dworkin, 197
Ronald
175, 178, 179 ff,
Effektivität des Rechtsschutzes 272, 282
- empirische Begründung von - 176 f
Ehmke, Horst
- hinsichtlich des Reaktionsverhaltens von Diskursteilnehmern 210
eindimensionale Problemlösung
-spezifische
Einpersonenmodelle
208,211
268 f,
106
Eingriffsdogmatik
271 199 ff
59
326
Sach- und Personenerzeichnis
Einschätzungsprärogative
111
- Diskrepanz zwischen Dokumentation und Argumentation 300 f
Entscheidungsmusterungspflicht
- Dokumentationsausfall
213 f, 220 Entscheidungssituation 265 Entscheidungssituation
der
Behörde
des
Gerichts
266
- Beurteilungsspielraum —• dort - Ermessensspielraum entscheidung
—• Ermessens-
- Planungsermessen —> dort
ergebnisbezogene Bindung 35 f, 59 f, 61, 86, 90, 209 f, 229, 230 f ergebnisbezogene Kontrolle —• Kontrollmodus Ergebnisrahmenkontrolle —> Kontrollmodus Ergebnissteuerung 265 erkenntnistheoretisches Argument 101 ff, 260 f von Recht
und
- und Untrennbarkeit von Recht und Politik 104 ff
Ermessensfehler
254 ff, 273 f,
256 ff, 281
Ermessensfehlgebrauch
257 f
Ermessensüberschreitung Ermessensunterschreitung Erstarrungsgefahr
256 f 257, 298
47, 57
133
Ethikkommissionen
121 f, 126, 286 ff
Finanz Verfassung
80, 149
Fixierung auf gerichtliche Perspektive —> gerichtliche Perspektive, —> gerichtsfixierte Dogmatik formelles Verfahrensrecht 251 f, 277, 278 ff, 289
- Zusammenhang mit Kontrollmodus und materiellem Verfahrensrecht 252 ff, 287, 289
Ermessensentscheidung 277 f, 281 f
30, 41, 53
finales Recht —» Finalprogramm Finalprogramm
- und Trennbarkeit Politik 101 ff
300
300
Fehlerwiederholungsverbot
Entscheidungsspielraum 111, 249, 253 ff, 264 f, 277, 281 ff, 286, 289
Esser, Josef
- Prüfungsausfall
Fremdbindung - nachträgliche Aufhebung 55 - Zusammenhang mit Selbstbindung 51 ff, 60 funktionellrechtliches Argument 106 ff, 160, 162 ff, 195, 262 Funktionsaussagen des Grundgesetzes 92 ff, 167 Funktionsverhältnis 25, 78, 88 ff, 100 ff, 157 ff, 185 auch: Rollenverteilung, —• auch: Miteinander - diskursives 197, 205, 208 ff, 219, 222 ff, 296 f, 299 Gadamer, Hans-Georg
132 f
gebundene Entscheidungen 248, 254, 277 f, 281 Gegenszenario 99 f, 112, 113 f gerichtliche Perspektive 159 ff, 241, 244, 252, 265 ff, 277, 294 auch: gerichtsfixierte Dogmatik gerichtsfixierte Dogmatik 159, 161 f, 240, 264, 270 f, 276 f, 288 auch: gerichtliche Perspektive - und diskursive Bindung
125
Gesamtanalogie
291 ff
63
ex-ante-Sicht
265, 280
Geschäftsordnungsautonomie
ex-post-Sicht
265, 280
Gesetzesentwürfe Gesetzeskraft
Fehlerbeseitigungspflicht Fehlerlehre
41, 53
79 ff
- Entstehungsgeschichte
299 ff
- Ausfall einzelner Prüfschritte
236
- inter omnes 300
83 f
79
- objektive Reichweite
81 f
236 f
Sach- und Personenerzeichnis - produktübergreifende sage 81 f
Bindungsaus-
Habermas, Jürgen 158 f, 161 f, 164
- subjektive Reichweite
79 ff
Handlungsnorm und Kontrollnorm 161, 164, 290 Handlungssituation 55, 244, 267, 289, 292 Hauptversammlungsbeschluß, Anfechtung 68
- und diskursives Funktionsverhältnis 223 f - und materielle 223 f
Rechtskraft
- und Wiederholungsfälle - Verfassungsrang
82,
82
Heilung von Verfahrensfehlern 284 f
91
Gesetzgeber - Funktionsverhältnis zwischen - und Bundesverfassungsgericht —• Funktionsverhältnis
Hermeneutik
- Bindung an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts —• Bindungskonzepte, —> diskursive Bindung, —» produktübergreifende Bindung, —> Verbot
Hypothese
Gesetzgebungsverfahren - Ausschüsse —• dort - äußeres
235 ff
- Gutachten - inneres
dort
235 f
Gewaltenteilung Gleichschaltung
113, 178, 194 f
- von Metakonzept und Verfassungsauslegung 148, 159, 161 f, 165, 167 - von Verfassungs- und Verfassungsgerichtsaufgabe 159, 161 - von Verwaltungsspielraum, materiellem Verfahrensrecht und negativen Kontrollelementen 270 f Grenzen der BindungsWirkung - Beschränkung auf tragende Gründe —• tragende Gründe - fehlende Selbstbindung —> Selbstbindung - zeitliche Grenzen 49 f, 57 Grimm, Dieter 120 f Grundbegriffe 23 ff Grundrechtsschutz durch Verfahren 245 f, 270 Gusy, Christoph Gutachten
160
237
Gutachtenzuständigkeit
139 ff,
95
152 ff,
249,
132 ff
Herstellungsfragen Hochschulurteil
23 f
187
201 f, 286, 288
Ideal und Realität 149 ff, 165, 167, 199 ff, 207, auch: Idee und Wirklichkeit ideale Sprechsituation 141 f Idee und Wirklichkeit 175, 179, —• auch: Ideal und Realität Initiativrecht der Bundesregierung 236 Innenperspektive 44, 46 inneres Verfahren —• Gesetzgebungsverfahren, —> Verwaltungsverfahrensrecht Insichgeschäft 297 interpretative Phase —> konstruktive Interpretation interprétatives Verhältnis 179 Isensee, Josef 113 Jesch, Dietrich 260 Justizgewährungspflicht, 269 Kant, Immanuel
140
kategorischer Imperativ Kaufmann, Arthur Kelsen, Hans
allgemeine
140 f
129
127 f
kommunikative Vernunft
153 ff
Konditionalprogramm
121,
274 f, 278
253,
328
Sach- und Personen Verzeichnis
Konkretisierung 218 ff, 296
191, 204, 206, 215,
Konsensustheorie der Wahrheit konstruktive Interpretation - interpretative Phase - reformierende Phase
Koppelungsvorschriften Korioth, Stefan
Kündigungsschutzprozeß
180
Effekt
Ladeur, Karl-Heinz
Kontrolldichte
100, 109, 273
Kontrollfrage
24, 100 ff, 164
Landesgesetzgeber
122 25
Leistungsgrundrecht Leitbild
273
272 f
- Ergebnisrahmenkontrolle
254 ff,
282, 288
- Fehlerlehre —> dort
152, 166
- auf Einzelprodukte bezogenes - bezüglich Recht und Politik 105 f - im Verwaltungsrecht - maßstabsbezogenes
262 f
- produktübergreifendes
93
- und Diskurstheorie 178, 186, 192, 194 f, 196, 203, 205, 209 - und Funktionsargumente
292,
Lüth-Entscheidung
- inhaltliche oder inhaltsfreie gangskontrolle 241, 258, 297 ff
Vor287,
Mangoldt, Hermann von
- negative bzw. vorgangsbezogene Kontrolle 241 f, 254 ff, 267, 271 ff, 276 f, 281 ff, 286 ff, 289, 291 ff, 295, 297 ff - positive bzw. ergebnisbezogene Kontrolle 241, 254, 266, 271 ff, 274 ff, 278 ff, 285, 286 ff, 289, 292 ff, 295 ff - Überlagerung von Aussagen zur Handlungsanweisung und Aussagen zum Kontrollmodus 240, 252 f Vorgaben
92 f 101 ff,
94 ff
Bindung
Maßstäbegesetz
lllf
187 83
80, 149
maßstabsbezogene Fragen - Begriff
25
- Letztentscheidungsrecht —> dort materielle Rechtskraft 227, 231 f - Anliegen
62 ff,
90 f,
75 ff
- auf das kontrollierte Einzelprodukt beschränkte Rechtskraftdogmatik 65 ff, 222 f - ne bis in idem —> dort - objektive Reichweite
65 ff
- produktübergreifende sage 68 ff, 222 f
Bindungsaus-
- Zusammenhang mit Verwaltungsspielraum und materiellem Verfahrensrecht 252 ff, 287, 289
- Prozeßhindernis in idem
Kontrollniveau
- Streitgegenstand —• dort
272
25, 95
269, 271
Letztentscheidungsrecht
- Auslegungsregel 274 ff - Brille des gerichtlichen Kontrollmodus —• dort - Entkoppelung von Verwaltungsspielraum und materiellem Verfahrensrecht 264 ff, 287, 289
- verfassungsrechtliche 267 ff
68
Landes Verfassungsgerichte
Kontrollmodus
- für die diskursive 294 ff
Wahrheit
280 f,
285
- „volle" Kontrolle
der
141
181
- „eingeschränkte" Kontrolle
274
78
Korrespondenztheorie
180 f, 183
- vorinterpretative Phase kontraedukatorischer
141
179 ff, 197
Kontrollnorm und Handlungsnorm —• Handlungsnorm und Kontrollnorm
73 —> auch: ne bis
- Sicherungsfunktion
75
Sach- und Personenerzeichnis - subjektive Reichweite
63 ff
- und Bundesverfassungsgericht
62 f
- und diskursives Funktionsverhältnis 222 f - und Wiederholungsfälle - und Zivilprozeß
68 ff, 222 f
Normmusterungspflicht 29, 213 f, 220 Normwiederholungsverbot 27 f, 32, 88, 227, 293 auch: Verbot von Normen, die verworfenen Normen ähneln
65 ff
- Verfahrensgegenstand —> dort
obiter dicta
- Wiederholungsverbot
objektive Werteordnung —• Werteord-
71, 222
materielles Verfahrensrecht 250 ff, 259, 266 f, 277, 279, 281, 285, 289 - Zusammenhang mit Verwaltungsspielraum und Kontrollmodus 252 ff, 287, 289 Mehrpersonenmodelle Meinungsspektrum Metaebene
199 ff
26 ff
Meta-Metaetage
175
Ministerialbürokratie Miteinander - diskursives 296
236 f
240, 291 ff
145, 195 ff, 204, 238, 196
- produktübergreifendes Monolog
47 ff, 57, 58 Offenlegungsdefizit
209 127
Mühlheim-Kärlich-Entscheidung 245 f Naturrechtsgedanke 127, 138 f, 141 ne bis in idem 67 f, 223 Nebeneinander von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber 193 f, 197 Normabschaffungsgebot 29 f normative Ermächtigungslehre 263, 270 - Ausnahme 271 - Regelaussage 270 f Normenkontrolle 79 - abstrakte 92 - konkrete 64, 92 - prinzipale 68 Normenvollzug 127 ff
123
190
235
Organstreit
95 f
Paradigma
157, 184 ff, 192, 198 29
parlamentarische Demokratie 165 Partei Verbotsentscheidung
149 ff,
187
performativer Widerspruch
176
Peripherie 153 ff
199 ff, 208
Montesquieu, Charles de
237
operative Geschlossenheit
Parallelnormen
112, 114
- maßstabsbezogenes
233
Offenheit der Verfassungsentwicklung
Organe
119, 135 f, 144, 146
Mißverständnisse
nungsthese Objektivisten
Optimierungsgebot
116 ff
Methodenlehre
55, 215, 218, 220
Planerhaltung, Grundsatz der Planfeststellung Plangenehmigung
288
Planungsermessen
286
Planungsrecht
286 ff
Postulat der Redegleichheit Präjudizialität
250
288
208
223
Präventivfunktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit 280, 285 Prinzipien 76, 189 ff - Kollision
76
- Regel-/ Prinzipienmodell der Grundrechte —> dort - Widersprüche Problemdenken
190 131
produktübergreifende Bindung - Begriff
24 f
330
Sach- und Personenerzeichnis
- durch 225 ff
§31 Abs. 1 BVerfGG
90 f,
- durch 231 ff
§67 S. 3 BVerfGG
90 f,
Realität und Ideal —• Ideal und Realität Rechtsfortbildung
- durch §95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG 90 f, 230 f - durch Art. 20 Abs. 3 GG
86, 224
- durch Gesetzeskraft —> dort - durch materielle Rechtskraft —> dort - durch Verfassungsorgantreue —> dort - Fehlerlehre für die gerichtliche Kontrolle —> Fehlerlehre - Meinungsspektrum
26 ff
- und Bindungskonzepte
42 f
- und diskursives Funktionsverhältnis 208 ff, 221 ff - und Funktionsverhältnis/ Rollenverteilung 62, 78 f, 88 ff, 205 - und grundgesetzliche sagen 92 ff - und Kontrollmodus Prozedurali sierung
Funktionsaus-
Rechtsfrieden
128 f
76
Rechtsgrundlagen
61 ff, 221 ff
Rechtsgrundlagen,
einfachgesetzliche
89 ff, 226 Rechtsphilosophie
117, 119, 137, 148
Rechtspositivismus Rechtsschöpfung
127 f 127, 135, 137
Rechtssicherheit
76
Rechtssoziologie
117, 119 f, 122
Rechtsstaat
76, 268 ff
- liberaler
121, 123
- materialer
121
Rechtstheorie Reflexion
117, 119 f
124
reflexives Recht reformierende
123 ff
Phase —• konstruktive
Interpretation
294 ff
Regel-/ Prinzipienmodell der Grundrechte
244
190
- Diskurstheorie —» dort
Regel Widersprüche
- Einpersonenmodelle —> dort
regulative Idee
190
- Konzepte der Auslegung der Verfassung als prozedurale 146 ff, 167
relativistische Positionen
264, 274
Reine Rechtslehre
128 139
- Konzepte der prozeduralen Rechtsanwendung 119, 126 ff, 145, 147, 166, 183
republikanisches
- Konzepte des prozeduralen Rechts 119, 120 ff, 147
Respekt vor dem Bundesverfassungsge-
- Mehrpersonenmodelle —• dort
Rhetor
- prozedurale Denkweise
Richtigkeitsidee —> Prozeduralisierung
117 f
- prozedurale Fehlleistungen - prozedurale Richtigkeitsidee 154
163 138 f,
126, 166
Prüfungsausfall
300
Radbruch'sehe Formel Rawls, John
149
128 f
154
res iudicata richt
74
32 f, 87 f 131
Rinken, Alfred Rollenverteilung 86, 88, 89,
- prozeduraler Grundrechtsschutz —• Grundrechtsschutz durch Verfahren - Prozeduralisierungsdebatte
nis
Demokratieverständ-
109 60, 62, 76, 78 f, 84, 162,
165,
167, 222
—• auch: FunktionsVerhältnis Rundfunkurteil, achtes
246
117 f, Sanktionslosigkeit von Verfahrensfehlern 248 f, 279 ff, 283, 285 f, 287 f Schmid, Carlo 83 Schuldmitübernahme 217 Schutzpflicht, grundrechtliche 245 f
Sach- und Personenerzeichnis Selbstbindung
Veil of Ignorance
- des Bundesgesetzgebers 229 f
43, 79 ff,
- des Bundesverfassungsgerichts 50 ff, 57, 60 Selbstreferentialität
122 f
Selbststeuerungsmechanismen Sonderfallthese
124 f
143, 183
Spielraum —• Entscheidungsspielraum Städtebaurecht
288
Starck, Christian
148
149
Verbot - der Brüskierung des Verfassungsgerichts —• Brüskierungsverbot - von Normen, die gegen verfassungsgerichtliche Rechtsansichten verstoßen 29 ff, 35, 40 f, 43, 46 ff, 84 ff, 94, 210, 224, 228, 301 - von Normen, die verworfenen Normen ähneln 27 ff, 35, 39, 43, 56 f, 62, 77, 79, 82, 93, 210, 223, 301 Verfahren
Steuerungskraft
104 f
Steuerungskrise
120 ff
- Gesetzgebungsverfahren —> dort
- historische Begründung - systemtheoretische 122 f
- Verwaltungsverfahrensrecht —• dort
120 f Begründung
Verfahrensfeindlichkeit 289
277 f,
284 f,
Streitgegenstandsbegriff 66, 69 ff —• auch: Verfahrensgegenstand
Verfahrensgedanke 288
Strukturmerkmale
Verfahrensgegenstand 222 ff —> auch: Streitgegenstandsbegriff
Subjektivisten Subsumtion
108 f
233
- Ermächtigung zur Erweiterung
31,40,53,129
Systemdenken
130 f
Systemtheorie
122 f, 153, 155
teleologische Analyse
247 ff, 251, 284 f,
- verfahrensgegenstandsabhängige Bindung 36 ff, 59, 226 ff - verfahrensgegenstandsunabhängige Bindung 36 ff, 49, 59, 227 ff
46 ff
- Abgrenzung von teleologischer Auslegung 46
Verfassungsbeschwerde 228, 269
teleologische Reduktion
285
Verfassungsgerichtsgemäßheit
teleologisches Kriterium
46 ff, 58 f
Tenor, Bindung nur an den
36 ff,
226 ff Teubner, Gunther Topik Topos
122
130 ff
Topoikataloge
131,245,248
- Beschränkung der Bindung auf - 48, 215 ff
92, 31,
Verfassungskonkretisierung —• Konkretisierung Verfassungsorgantreue 224 f Verwaltungsrecht
tragende Gründe
52, 64,
218, 220
Vertretbarkeitslehre
131
- Bindung an - 36 ff, 226 ff
232
87 f, 91, 147,
260 244 ff
Verwaltungsspielraum dungsspielraum
—>
Verwaltungsverfahrensrecht - äußeres Verfahren
Entschei245 ff
251 f, 281
- dienende Funktion —• dort Übersetzung
290, 294
Ule, Carl Herman
- Dokumentation
260
Unvereinbarerklärung
43, 53
252
- formelles Verfahrensrecht 277, 278 ff, 289
251 f,
332
Sach- und Personenerzeichnis
- inneres Verfahren
251, 281
Vorrangrelation
- materielles Verfahrensrecht 250 ff, 259, 266 f, 277, 279, 281, 285, 289 Viehweg, Theodor - erweitertes
Wank, Rolf
130 170 f, 178
171 ff, 184 f
- Korrekturvorschlag - Überprüfung des schlags 197 ff
192 ff Korrekturvor-
vorgangsbezogene Bindung 61, 87 f, 210, 229
Werteordnungsthese 146 f, 160 f, 186 ff Wiener Schule 128 Willke, Helmut 122 Wirklichkeit und Idee —• Idee und Wirklichkeit Zentrum
153 ff
Zinn, Georg August Zirkelschluß
trollmodus Interpretation
283
233
35 f, 59,
vorgangsbezogene Kontrolle —• Konvorinterpretative Phase
190 f 132 ff, 243, 297 f, 300
Wahrscheinlichkeitsurteil
- Verfahrensfehler —• dort Vierstufenmodell
Vorverständnis
konstruktive
zweidimensionale 59 ff
83
74 f, 244 Problemlösung