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German Pages [249] Year 2018
DIE PÄPSTE UND DIE PROTESTANTEN Begegnungen im modernen Europa
Gerulf Hirt, Silke Satjukow, David Schmiedel (Hg.)
Gerulf Hirt | Silke Satjukow | David Schmiedel (Hg.)
Die Päpste und die Protestanten Begegnungen im modernen Europa
Böhlau Verlag Köln Weimar Wien | 2018
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung mit einer Zeichnung von Stefan Horlitz.
© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, 50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Matthias Stangel, Rommerskirchen Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz : Bettina Waringer, Wien
ISBN 978-3-412-51037-4
Inhalt
Gerulf Hirt, Silke Satjukow und David Schmiedel Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Bertram Schmitz Das Papsttum aus katholischer, protestantischer und religionswissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Charlotte Pissors Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik der schwedischlutherischen Kirche während der Amtszeit Papst Pius XI. 1922–1939 . . . . . 33 Dirk Schuster Papst und Papsttum aus der Perspektive der Kirchenbewegung Deutsche Christen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Bernward Schmidt Papsttum im Umbruch: Zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Papsttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Rainer Gries Johannes XXIII.: Der römische Papst als „Bruder“ und „Vater“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Gerulf Hirt Papst Paul VI. in anglikanischen Augen: Begegnungen und Projektionen in England .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mariano Barbato Pilgerfahrten in die Ökumene: Papstreisen als Bühnen der interkonfessionellen Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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David Schmiedel „Der Papst in einer lutherischen Kirche“: Rezeption, Wirkung und Bedeutung des Besuches von Papst Johannes Paul II. in einer evangelisch-lutherischen Kirche am 11. Dezember 1983 in Ost- und Westdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrike Treusch Mediales Interesse und ökumenische Annäherung? Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus und der deutsche Protestantismus . 221
Reinhard Frieling Das Papsttum aus evangelisch-ökumenischer Sicht: Erinnerungen eines Wegbereiters .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Herausgeberin und die Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gerulf Hirt, Silke Satjukow und David Schmiedel
Eine Einführung
„Ut unum sint“, diese Sentenz aus dem Johannesevangelium (Joh. 17,11) gilt als Imperativ der Ökumene – auch und gerade im frühen 21. Jahrhundert. Am 31. Oktober 2016, am Reformationstag, reiste der Pontifex Maximus zu einem ökumenischen Reformationsgedenken ins schwedische Lund, zum Gründungsort des Lutherischen Weltbundes. Erstmals nahm damit ein römischer Papst an einem Gedenken für Martin Luthers „Revolte“ teil – mehr als eine kleine Sensation. Eine eindrückliche, für „Die Zeit“ respektive für deren Beilage „Christ und Welt“ geschriebene Reportage gab die Stimmung wieder: Eins sollen die Christen sein, damit ihre Botschaft zumindest aus dieser Einigkeit heraus glaubwürdig erscheint. Und beim Einzug in die Arena von Malmö gelingt die Union schon ziemlich gut. Ein weißes Golfcart wird in das Parkett gesteuert. Etwas perplex sitzen darauf eng beieinander ein katholischer Kardinal, zwei lutherische Pfarrer und der Papst. Die Menge johlt, gleißendes Scheinwerferlicht blendet die Protagonisten, die sich hier zum 499. Jubiläum der Reformation im Namen Martin Luthers versammelt haben. Dann erklingt eine Melodie, die man vor allem aus Fußballstadien kennt. „You’ll Never Walk Alone“ ist der Soundtrack zur Ökumene im Jahr 2016. Natürlich sind die beiden Lutheraner nicht irgendwer, es handelt sich um den Präsidenten des Lutherischen Weltbundes Munib Younan, einen Palästinenser, der als Chef einer Vereinigung von 145 Kirchen und 74 Millionen Lutheranern ab und zu der Menge zuwinkt, und den abgeklärteren Generalsekretär Martin Junge. Aber spätestens als aus dem Rund die ersten frenetischen Papst-Franziskus-Sprechchöre erklingen, ist klar, wer die Hauptattraktion dieses Events ist […].1
Der Reformator habe damals gegen eine korrupte und verweltlichte Kirche protestiert, die beileibe „kein Modell zum Nachahmen“ gewesen sei. Die Absichten von 1
Julius Müller-Meiningen: These. Antithese. Synthese? Beim Papstbesuch in Lund waren Protestanten und Katholiken so einig und feierfreudig wie nie. Die Wiedervereinigung scheint zum Greifen nah. Doch das ist ein Missverständnis, in: Die Zeit, 04.11.2016, Online-Ansicht: http://www.zeit.de/2016/46/reformationsfeier-lund-papst-franziskus-protestantenkatholiken, letzter Zugriff: 11.11.2017.
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Martin Luther seien durchaus „nicht falsch“ gewesen, wenn man auch vielleicht einige seiner „Methoden“ nicht als richtig bezeichnen könne.2 Diese wohlwollenden Worte der Anerkennung und der Zustimmung hatte Papst Franziskus bereits wenige Monate zuvor, im Sommer 2016, dem Reformator und der Reformation gezollt. Doch nicht nur in Lund, sondern bei zahlreichen weiteren Gelegenheiten während der Gedenkdekade würdigte Franziskus Luther und seine Erben.3 Für uns Zeitgenossen4 sind solch mutige Gesten und lobende Worte, die der Papst und katholische „Reformer“ des 21. Jahrhunderts für einen Papstkritiker und katholischen Reformator des 16. Jahrhunderts findet, außergewöhnlich und selbstverständlich zugleich. Außergewöhnlich mit Blick auf die Vergangenheit, auf eine fünf Jahrhunderte dauernde Geschichte und Tradition der Trennung. Gerade das Papstamt selbst mitsamt seiner Ansprüche gilt als eines der größten Hindernisse für die Ökumene – nicht zuletzt, da „eine der dogmatischen Schluchten zwischen Protestanten und Katholiken die Anerkennung des päpstlichen Primats“ darstellt.5 „Uns allen ist wohl bewusst, dass die Vergangenheit nicht geändert werden kann. Doch heute, nach fünfzig Jahren des ökumenischen Dialogs zwischen Katholiken und Protestanten, ist es möglich, eine Reinigung der Erinnerung zu vollziehen“, so Papst Franziskus anlässlich des vom Päpstlichen Komitee für Geschichtswissenschaften im Vatikan organisierten Kongresses „Luther 500 Jahre danach“ im Frühjahr 2017.6 Diese „Reinigung“ könne freilich nicht darin bestehen, eine undurchführbare Korrektur der Geschehnisse vor 500 Jahren zu versuchen, mahnte der Papst. Es gehe vielmehr darum, sich ohne Groll gegenüberzustehen und die „Geschichte anders zu erzählen“: Eine genauere Reflexion von Luther, seiner Zeit
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Vgl. Katholische Presseagentur KATHPRESS, Wien, 27.06.2016. Siehe für eine deutschsprachige Version der ausführlichen Interviews mit Franziskus vom 19., 23. und 29. August 2013, die in der schwedischen Jesuitenzeitschrift „Signum“ sowie in ihrem italienischen Pendant, der „Civiltà Cattolica“, erschienen: Antonio Spadaro: Das Interview mit Papst Franziskus, Freiburg im Breisgau 2013. Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die jeweilige Sprachform unter Anwendung des generischen Maskulinums ausgewiesen. Damit sollen jedoch auch Frauen sowie Formen von Geschlechtsidentitäten adressiert sein, die sich jenseits oder zwischen der binären Bezeichnungsmatrix von „weiblich“ und „männlich“ bewegen beziehungsweise positionieren. Vgl. Müller-Meiningen: These. Antithese. Synthese? 2016. Papst ruft zu Forschungen über Luther und seine Zeit auf, in: Radio Vatikan, 31.03.2017, Online-Ansicht: http://de.radiovaticana.va/news/2017/03/31/papst_an_lutherkongress_%E 2%80%9Edankbarkeit_und_erstaunen%E2%80%9C/1302438, letzter Zugriff: 11.11.2017. Folgende Zitate aus ebenda.
Eine Einführung |
Abb. Cover der Herder Korrespondenz Spezial 2/2016.
und der Geschichte der letzten fünf Jahrhunderte könne den Kirchen zu einem mutigeren Blick nach vorn, in eine gemeinsame Zukunft, verhelfen. Eher selbstverständlich und notwendig scheinen die wägenden Worte eines Papstes in der Tat mit Blick auf die Zukunft, in Zeiten nicht nur rasanter Globalisierungs- und Medialisierungsprozesse, sondern auch einer zunehmenden Entkirchlichung zumindest in den Gesellschaften des europäischen Kontinents. Die katholische „Herder-Korrespondenz“ jedenfalls visualisierte 2016 ihre Spezialausgabe zu den Problemen „Nach der Glaubensspaltung“ und zur „Zukunft des Christentums“, indem sie auf dem Cover zwei symbolträchtige und historisierende
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Playmobil-Figuren zeigte, die im 21. Jahrhundert Seite an Seite zusammenstehen:7 Einerseits die längst bekannte Figur von Martin Luther – der Reformator mit Bibel und Federkiel in seinen Händen ist bis heute ein Verkaufsschlager. Und andererseits die Figur seines Namensvetters, des Papstes Martin V. – seine Wahl am Martinitag 1417 auf dem Konstanzer Konzil beendete das Große Abendländische Schisma. Martin V. und Martin Luther, der Papst und der Protestant, verkündigen in dieser Szene nicht gegeneinander, sondern gemeinsam! Konsenspastoral statt Kontroverstheologie: So diese Vision einer Zukunft, die vielfach – zumindest auf Gemeindeebene – bereits Gegenwart ist. Der heutige Papst ist mit sehr deutlichen symbolischen Schritten auf unterschiedliche Protestanten zugegangen – diese Bewegung lässt sich in gewisser Weise auch in umgekehrter Richtung feststellen. Mitte Oktober 2016 pilgerten zum Beispiel über 1000 junge Menschen vorwiegend evangelischen Glaubens aus Mitteldeutschland nach Rom. Ihre Losung lautete: „Mit Luther zum Papst“ – und sie verstanden diese Paarung keineswegs als Gegensatz oder Paradoxon, als Provokation oder gar als Kampfansage. Ihre Reise nach Rom erlebten sie vielmehr als eine Pilgerschaft der Einheit. Dort begegneten sie dem Pontifex in einer Privataudienz, und der Mitteldeutsche Rundfunk interviewte die Jugendlichen hernach: Begeistert berichteten die jungen Protestanten, Franziskus sei so „menschlich“ und vor allem so „ehrlich“.8 Und über die Emotionen der protestantischen Geistlichen in Lund glaubte der Beobachter von „Christ und Welt“ sagen zu können: „Angesichts der glänzenden Augen der Pastoren und Pastorinnen in Lund und Malmö wirkte es fast so, als hätten die Lutheraner ungestillte Sehnsucht nach diesem ihnen vor 500 Jahren abhandengekommenen Hirten in Weiß, der seine eigene Kirche teils in Enthusiasmus und teils in Schreckstarre versetzt.“9 Der Wittenberger Bürgerrechtler und „Friedenspfarrer“ Friedrich Schorlemmer nannte Franziskus einen „wirklichen Christen“ und „Bruder“.10 Mehr noch: „Jetzt haben wir alle einen Papst!“ Es sei „wunderbar“, dass der Papst ein Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen habe, denn diese sei letztlich nichts anderes als die – evangelische – Gnade. Franziskus ist in 7 8
Herder Korrespondenz Spezial Nr. 2/2016. http://www.mdr.de/mediathek/video-54188_zc-89922dc9_zs-df360c07.html, letzter Zugriff: 11.11.2017. 9 Müller-Meiningen: These. Antithese. Synthese? 2016. 10 Evelyn Finger/Stefan Schirmer: „Ich würde den Papst einladen.“ Wie nah sind sich Protestanten und Katholiken wirklich? Fragen an den evangelischen Pfarrer Friedrich Schorlemmer – der Franziskus als seinen Bischof akzeptiert, in: Die Zeit, 26.05.2016, Online-Ansicht: http://www.zeit.de/2016/21/oekumene-katholiken-protestanten-friedrich-schorlemmer, letzter Zugriff: 11.11.2017.
Eine Einführung |
seinen Augen ebenso gut katholisch wie gut lutherisch. Ist der altersweise Theologe „papstbesoffen“, wie manche Glaubensbrüder und -schwestern ihm offenbar kritisch nachrufen? Pfarrer Schorlemmer, die lutherischen Geistlichen in Lund, die jungen Gläubigen aus Mitteldeutschland – es sind keineswegs nur vereinzelte protestantische Stimmen und Seelen, die auf den römisch-katholischen Papst setzen. Durften wir also im 500. Jahr der Reformation Zeugen sein, wie Bewegung in die Diskurse und in die „Beziehungen“ zwischen dem Papst und den Protestanten kam? Konnten wir durch die Veranstaltungen zum gemeinsamen Gedenken an die Reformation womöglich sogar den immer wieder ersehnten, immer wieder prophezeiten Vorschein eines „ökumenischen Frühlings“ erleben? Gelang es, teiloder ansatzweise die emotionalen und auch die theologischen Gräben zwischen dem Papst und den Protestanten zu überbrücken? Gewann womöglich sogar die Vision Konturen, der zufolge dereinst ein Papst als Bischof für Katholiken wie für Protestanten, gar für alle Christen, sprechen wird? Unser Band vermag diese in die Zukunft weisenden Grundfragen nicht zu beantworten – aber er stellt einen Versuch dar, in der Geschichte des 20. Jahrhunderts fußende Grundlagen für potentielle Antworten bereitzustellen. Immer wieder entfachten wechselseitige Dynamiken in den Beziehungen zwischen den Päpsten und den Protestanten – auch und gerade im vergangenen Jahrhundert. Im Gedenkjahr der Reformation keimten also nicht zum ersten Mal bei Katholiken wie bei Protestanten ökumenische Sehnsüchte und Hoffnungen auf, die wesentlich von einem römischen Papst hervorgerufen wurden. Karl Barth, der „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“, formulierte 1928 die denkwürdige Sentenz: „Nicht das können wir besonnenerweise gegen das Papsttum haben, daß es Gewalt übt. Wäre sie nur kirchliche, geistliche, und darum Gott dienende, nicht aber Gott verdrängende und ersetzende Gewalt geblieben, wir wollten wohl mit Luther nichts dagegen haben, dem Papst die Füße zu küssen.“11 Denken wir insbesondere an die Päpste der dynamischen 1960er-Jahre, an Johannes XXIII. und Paul VI., und an das Zweite Vatikanische Konzil: Vorbereitet durch zahlreiche Synoden in den 1950er-Jahren, bei denen Bistümer teilweise über die Befragung der Gläubigen erstmals „Basisarbeit“ leisteten, war diese Versammlung der Bischöfe der Welt im Jahr 1962 von Johannes XXIII. im Geist der Erneuerung eröffnet worden. Nach drei Jahren konfessioneller und interkonfessioneller Ver-
11 Karl Barth: Der römische Katholizismus als Frage an die protestantische Kirche, in: Ders.: Die Theologie und die Kirche, Gesammelte Vorträge, Bd. 2, München 1928, S. 329–362, hier S. 347.
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handlungen 1965 abgeschlossen,12 brachte es eine ganze Reihe von Reformen und Veränderungen mit sich, wobei diese im Umkehrschluss keineswegs die Bewahrung tradierter Glaubensinhalte ausschlossen. So wurde beispielsweise das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit, verabschiedet während des Ersten Vatikanums von 1869/70, nicht nur aufrechterhalten, sondern sogar in gewisser Weise bekräftigt.13 Gleichwohl war das Zweite Vatikanum jedoch das erste Konzil seit der Antike, auf dem keine neuen Dogmen erlassen wurden, was als ein besonderes Zeichen auch ökumenischer Hin- und Zuwendung gewertet wurde – nicht nur gegenüber den Protestanten, sondern auch zu allen anderen großen Konfessionen und zu den Religionen der Welt. Es war diese neue Offenheit gegenüber der Welt und dem Anderen, die dazu geführt hat, dass Katholiken wie Protestanten im gemeinsamen Dialog von einer „versöhnten Verschiedenheit“ sprechen können;14 eine nicht zu unterschätzende Formulierung, die im 500. Jahr der Reformation jedoch einigen Gläubigen noch nicht weit genug zu gehen scheint, wie eine Rede des katholisch geprägten ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert – gehalten in der evangelischen St. Michaelis-Kirche zu Hildesheim – vom 31. Mai 2017 andeutet: Dieser stellte vor vollem Haus die Frage, ob die Christen beider Konfessionen heute denn noch mehr trennen würde, als das bloße „Selbstbehauptungsbedürfnis von Institutionen“15. Ein kühner Ansatz, der gleichwohl von den anwesenden Gläubigen mit heftigem Beifall honoriert wurde. Doch die Bemühungen umeinander sind heute sicher nicht nur Nachhall gemeinsamer Gottesdienste während der Lutherdekade in Deutschland oder im Jubiläumsjahr, sondern vor allem auch das Ergebnis eines langwährenden Diskurses, dessen Anfänge in den wegweisenden Beschlüssen des Zweiten Vatikanums zu verorten sind. Seit 1967 sind lutherische und römisch-katholische Theologen im 12 Vgl. Helmut Krätzl: Das Konzil – ein Sprung vorwärts. 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil. Ein Zeitzeuge zieht Bilanz, Innsbruck/Wien 2012, S. 11, 24. 13 Anders als 1870 löste das Dogma beziehungsweise dessen bloße Beibehaltung rund 100 Jahre später keine Wellen der Empörung von protestantischer Seite aus, was vor allem damit begründet werden kann, dass der von katholischen wie protestantischen Würdenträgern auf dem Konzil erlebte Geist der Erneuerung, seine positiven Zeichen und seine Neuansätze deutlich überwogen. 14 Vgl. Günther Wassilowsky (Bearb.): Karl Rahner. Sämtliche Werke, Bd. 21/2: Das Zweite Vatikanum. Beiträge zum Konzil und seiner Interpretation, Freiburg im Breisgau u.a. 2013, S. 810 f. 15 Zit. https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/frontnews/2017/ 06/02, letzter Zugriff: 20.11.2017.
Eine Einführung |
Rahmen der internationalen Dialogkommission im Gespräch. Diese hat unter anderem die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ erarbeitet, welche im Jahr 1999 verabschiedet wurde und die zu diesem zentralen Streitpunkt der Reformationszeit einen grundsätzlichen Konsens feststellen konnte. Vielleicht wird man zu einem anderen zentralen Streitgegenstand der Reformationszeit, zum Problem des Papsttums und seiner Ansprüche und Ausgestaltung, in nicht allzu ferner Zukunft ja ebenfalls Wege des Konsenses erwarten dürfen? Die Frage nach der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft der Relationen zwischen Papsttum und Protestanten ist freilich Teil eines umfassenderen Phänomens. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichen die römischen Päpste mit ihren Botschaften keineswegs nur Katholiken und die mit Rom unierten Gläubigen, sondern überdies Christen aller Konfessionen. Sie adressieren im selben Atemzug Milliarden Anhänger anderer Religionen oder dem Glauben fernstehende Menschen rund um den Erdball. Über 40 Millionen Menschen auf der ganzen Welt folgen Papst Franziskus heutzutage allein auf dem Kurznachrichtendienst „Twitter“; die Worte und Gesten des römischen Oberhirten zählen zu den Top-Nachrichten. Binnen Sekunden rasen sie um den Globus, verbreiten sich nicht nur über die klassischen Print- und Fernsehmedien, sondern auch über das Internet. Die Päpste sind mit der Ausfaltung moderner Massen- und Mediengesellschaften während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im sozialpsychologischen und im kommunikationstheoretischen Sinne selbst zu Medien avanciert: In ihren Botschaften, vor allem aber in ihren Gesichtern, in ihren Gesten und ihrem Gestus, in ihrem Habit und ihrem Habitus spiegeln sich Ängste und Hoffnungen, Erwartungen und Erfahrungen ganzer Gesellschaften, sozialer Gruppen und Generationen. Um die Überkomplexität unserer modernen Massengesellschaft zu reduzieren, suchen Gläubige ebenso wie dem Glauben Fernstehende das Antlitz und die Ansprache des Papstes als jene einer globalen Vaterfigur – wohl schon deshalb, weil Personalisierung zu den wirkmächtigsten Strategien der modernen Mediengesellschaft gehört. Beides eröffnet den Päpsten Arenen und außerordentliche Potentiale der Ansprache. Offenbar selbst und vielleicht sogar gerade bei protestantischen Christen. „Die Päpste und die Protestanten. Begegnungen im modernen Europa“ – unser Band versteht sich als Einladung, über die komplexen Wechselwirkungen der Päpste der Moderne unter zeitgeschichtlichen Auspizien und im selben Atemzug interdisziplinär nachzudenken. Er möchte dazu anregen, künftig eine auffallende Leerstelle der wissenschaftlichen Forschung zu füllen: Spezifisch zeithistorische und transdisziplinäre Zugänge zur Aufklärung der „Reformation“ im 20. und
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21. Jahrhundert finden sich bislang selten. Sicher leisten die Autoren dieses Buches einen gewissen Beitrag zur Geschichte der Päpste der neuesten Zeit – doch wir verfolgen keine Papstgeschichte. Sicher untersuchen wir Aspekte der Geschichte der Kirchen – doch wir verfolgen keine Kirchengeschichte. Ebenso ist es mit der Geschichte der Dogmen und der Liturgie, auch sie stehen nicht im Mittelpunkt unseres Erkenntnisinteresses – und sind doch unabdingbar für unser Vorhaben. Aus zeitgeschichtlicher Perspektive gilt: Die systematische Aufklärung der Geschichte und Gegenwart der Relationen zwischen den Päpsten und den Protestanten avanciert für uns – methodisch gesehen – zu einer höchst sensiblen Sonde in die Gesellschaften der unmittelbaren Vergangenheit: Wenn die Päpste zu Medien geworden sind, dann können wir eine Geschichte der Kommunikationen um und über diese Päpste schreiben16 – und damit zugleich eine Geschichte all der Erfahrungen und Erwartungen, der Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte, die Menschen auf sie projizierten und wie nie zuvor projizieren. Dieser Band beruht auf den Beiträgen und Diskussionen einer Konferenz, die wir im November 2016 in Kooperation mit der Leucorea-Stiftung in Wittenberg durchgeführt haben, und die sowohl von der Reformationsgeschichtlichen Sozietät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als auch von der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt ideell wie finanziell gefördert wurde. Evangelische und katholische Theologen, Religionswissenschaftler, Historiker und Kommunikationswissenschaftler waren unserer Einladung gefolgt, den Dialog in den Räumen der früheren Universität von Wittenberg gemeinsam zu wagen.17 Zunächst führt der Religionswissenschaftler und evangelische Theologe Bertram Schmitz aus christlich-konfessioneller und religionswissenschaftlicher Perspektive grundlegend in die Idee des Papsttums ein. In der im Petersdom architektonisch inszenierten „Weltenachse“, die von der Kuppel über den Hochaltar bis hinab zum vermeintlichen Grab des Apostelfürsten Petrus führt, verdichtet sich das katholische Leitmotiv und Kernverständnis des Papsttums: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle 16 Diesbezüglich bietet der kultur- und kommunikationswissenschaftliche Denkansatz des von Rainer Gries entwickelten „Dreidimensionalen Modells der Produktkommunikation“ vielversprechende theoretisch-methodologische Ansatzpunkte, die zur Analyse der Aneignungsprozesse von Päpsten durch Protestanten fruchtbar gemacht werden können. Siehe: Rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003. 17 Verena Schneider: Tagungsbericht: Der Protestantismus und die Päpste im 20. und 21. Jahrhundert, 10.11.2016 Wittenberg, in: H-Soz-Kult, 03.02.2017, Online-Ansicht: http://www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6957, letzter Zugriff: 20.11.2017.
Eine Einführung |
werden sie nicht überwinden.“ (Mt. 16,18 f.), so steht es in der Kuppel geschrieben. Am Hochaltar zelebriert der Papst, als Nachfolger auf dem Stuhl Petri, die Heilige Messe. Das Grab Petri bildet schließlich in architektonischer, ekklesiologischer und theologischer Hinsicht das Fundament des Petersdoms, des Papsttums und auch der römisch-katholischen Kirche. Gleichwohl findet sich eine Weltenachse, in ihrer jeweils eigenen Ausprägung und im Sinne eines gegenständlichen Symbols der Ewigkeit und des Zentrums, in vielen Religionen. Das Fundament einer solchen Achse im katholischen Verständnis, nämlich die durch Jesus Christus selbst vorgenommene Einsetzung seines Apostels Petrus als „Fels“ seiner Kirche, wird bekanntlich von protestantischer Seite nicht anerkannt. Deshalb besitzt für die von Rom getrennten christlichen Kirchen weder das Amt noch ein universeller Primat des Papstes eine Gültigkeit. Vor diesem Hintergrund analysieren die ersten beiden Beiträge unterschiedliche Varianten einer Ablehnung der Autorität des Apostelamtes Petri in mehrheitlich protestantisch geprägten Gesellschaften der 1920er- und 1930er-Jahre. Die Historikerin Charlotte Pissors legt die Bedeutung von Papst Pius XI. als ein personalisiertes Symbol in der antikatholischen Rhetorik der schwedisch-lutherischen Staatskirche offen. Während sich im Schweden des frühen 20. Jahrhunderts eine Nationalidentität herausbildete, entwickelte sich der Katholizismus und mit diesem die Transnationalität der römisch-katholischen Kirche sukzessive hin zum wirkmächtigen Gegenentwurf. Für den deutschsprachigen Raum analysiert der Historiker und Religionswissenschaftler Dirk Schuster das Bild des Papsttums bei den sogenannten Deutschen Christen in der Zeit des Nationalsozialismus. Diese einflussreichste und gleichsam radikalste protestantische Strömung propagierte ebenso eine gottgewollte Ordnung, wie ein völkisches und selektiv-rassistisches Weltbild. Ihrem Bestreben nach sollte unter dem „Führer von Gottes Gnaden“, Adolf Hitler, eine überkonfessionelle Nationalkirche etabliert werden. Letzterer stand der Pontifex, als das personalisierte Symbol des globalen Katholizismus, diametral gegenüber. Außerdem bemühten sich die Deutschen Christen darum, das „römische“ Papsttum als ein „nicht-germanisches“ Amt zu charakterisieren, das in der Tradition der antiken jüdischen Tempelreligion stehe. In dieser Hinsicht kam das „fremdvölkische“ Papsttum einer negativen Projektionsfläche für die nationalsozialistischen Stereotype „des Internationalismus“ und „des Jüdischen“ gleich. Nach diesen höchst konfrontativen Begegnungen unterschiedlicher Protestantismen mit dem Papsttum vor dem Zweiten Weltkrieg nehmen die folgenden sechs Beiträge nicht nur in zeitlicher Hinsicht andere Perspektiven ein: Nun stehen die ambivalenten Offerten unterschiedlicher Päpste an verschiedene Gruppen und
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Generationen von Protestanten und deren Reaktionen wie Rezeptionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Fokus des Interesses. Zweifellos war und ist kein anderes Ereignis in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche derart folgenreich – für eine nachhaltige Veränderung des Selbstbildes und der öffentlichen Wahrnehmung des Papstamtes – wie das Zweite Vatikanische Konzil. Trotz aller zu konstatierenden Enttäuschungen und Rückschritte (nicht nur aus protestantischer Sicht), initiierte diese Weltsynode eine bis dato noch niemals dagewesene Hinwendung der römisch-katholischen Kirche zur nicht-katholischen Welt. Die konkreten Auswirkungen des Zweiten Vatikanums auf das (Selbst-)Verständnis des Papsttums hinterfragt der katholische Theologe Bernward Schmidt mit einem kirchen- beziehungsweise theologiehistorischen Zugriff. Seither verzichteten die Päpste – mit Ausnahme Benedikts XVI. – zunehmend auf ihre althergebrachten Herrschaftssymbole und gingen zu vergleichsweise reduziert anmutenden zeremoniellen Praktiken über. Das damit verbundene päpstliche Selbstverständnis war nicht nur Ausdruck, sondern gewissermaßen auch Grundlage der Ekklesiologie des Konzils, die in einem Spannungsverhältnis von Primat und Kollegialität stand und zugleich die Atmosphäre für eine Vertiefung der ökumenischen Beziehungen schuf. Letztere förderte insbesondere der Initiator des Zweiten Vatikanums, Papst Johannes XXIII. Den medialen Zuschreibungen gegenüber dem Selbstverständnis, der Selbstinszenierung und der Entgrenzung des Papstamtes dieses charismatischen Pontifex als gütiger und partnerschaftlicher „Bruder-Vater“ aller Christen, spürt der Historiker und Kommunikationswissenschaftler Rainer Gries nach. Dazu werden insbesondere protestantische Reaktionen auf die Person und die Symbolkraft Johannes’ XXIII. sowie auf dessen Handeln und seine „Politiken“ offengelegt. Schließlich war Johannes XXIII. der erste Papst der Moderne, dem nicht nur wesentlich stärker als seinen Vorgängern an einem kommunikativen Austausch mit den „Anderen“ gelegen war. Zudem trafen seine öffentlichen Botschaften, die um die Paradigmen „Bewegung“ und „Begegnung“, „Reform“ und „Erneuerung“, „Kommunikation“ und „Dialog“ kreisten, auch weltweit bei evangelischen und orthodoxen Christen sowie bei Anders- und Nichtgläubigen auf große Resonanz. Dafür waren die kommunikativ wie symbolisch postulierten Versprechen einer menschlichen Nähe und einer prinzipiellen dialogischen Zugewandtheit dieses Papstes zentral. Schließlich verschmolzen in seiner Person, in seinem Gestus und in seinem Habitus echte Bescheidenheit und Demut mit feiner Selbstironie, was wiederum den päpstlichen Zugang zu protestantischen Gefühls- und Glaubenswelten erleichtert haben dürfte. Der maßgeblich von Johannes XXIII. angestoßenen Politik einer Hinwendung der römisch-katholischen Kirche zur nicht-katholischen Welt folgte
Eine Einführung |
zunächst auch sein unmittelbarer Nachfolger Papst Paul VI. – insbesondere hinsichtlich einer Intensivierung der ökumenischen Beziehungen mit den von Rom getrennten Kirchen. Der Historiker Gerulf Hirt analysiert Kommunikationsprozesse britischer Anglikaner mit und über Paul VI. in den Krisen- und Umbruchsdekaden im England der 1960er- und 1970er-Jahre. Im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils veränderten sich sowohl in Rom als auch innerhalb der Church of England, in der sich evangelikale bis anglokatholische (aber nicht unbedingt dem Papst zugewandte) Richtungen gegenüberstanden, die jahrhundertelang tradierten Paradigmen. Zwar kam es keineswegs nur in England, sondern in nahezu ganz Westeuropa zu einer komplexen Dynamik und Melange von Individualisierungs-, Liberalisierungs-, Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozessen. Allerdings wandelte sich die britische Gesellschaft in besonders rasanter Weise hin zu einem multiethnischen und multireligiösen „melting pot“, in dem gleichsam christlich-konfessionell konditionierte Nuancen in der Staatspolitik weiterhin fortbestanden. Vor dem Hintergrund des untergegangenen „British Empire“, voranschreitender Dekolonisationsprozesse und des eskalierenden Nordirlandkonflikts sowie der lauernden Gefahr des „Kalten Krieges“, brachen sich an und durch Paul VI. innerkirchliche wie gesellschaftspolitische Themen; der Papst avancierte zu einem Prisma der Meinungen der Vielen. In diesem Sinne verkörperte Paul VI. ein personalisiertes und gleichsam hybrides Medium, auf das nicht wenige Anglikaner ihre individuelle Verunsicherung projizieren beziehungsweise über das sie sich ihrer selbst versichern konnten. Wenngleich Paul VI. nie als Pontifex das Vereinigte Königreich besuchte, so begründete er doch das moderne, internationale Reisepapsttum, dessen Bedeutung von dem Historiker und Politikwissenschaftler Mariano Barbato in den Blick genommen wird. Diese „Pilgerreisen in die Ökumene“ ermöglichten Päpsten oftmals niederschwellige Begegnungen mit Protestanten. Nach der Offenlegung der Grundstrukturen päpstlicher Pilgerreisen werden die Begegnungen der vier Pontifikate des modernen Reisepapsttums mit „dem“ Protestantismus anhand einschlägiger Beispiele reflektiert: Letztere reichen von der Reise Pauls VI. zum Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf (1969) und der Teilnahme Johannes Pauls II. am Weltgebetstreffen in Assisi (1986) sowie am Weltjugendtag in Denver (1993) über die Begegnungen zwischen Benedikt XVI. und Protestanten in Canterbury (2010) und in Erfurt (2011) bis hin zu Franziskus’ Reise nach Lund und Malmö (2016). Als apostolische Pilger betraten diese Päpste Räume der Öffentlichkeit wie der Politik, in denen interreligiöse Begegnungen mit ihrem breiten symbolischen Spektrum und der anschließenden massenmedialen Verbreitung stattfanden. Bei allen
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Pilgerreisen dieser Päpste wird deutlich, dass ihre Wirksamkeit für die Ökumene stets vom sorgfältig ausbalancierten Spiel auf den Bühnen von Politik, Öffentlichkeit und Religion abhängig war. Einer besonders eindrücklichen und gleichsam nahezu vergessenen Begegnung eines Papstes mit Protestanten außerhalb des Vatikans widmet sich der Historiker und Religionswissenschaftler David Schmiedel. Er analysiert die Rezeption, Wirkung und Bedeutung des Besuches von Johannes Paul II. in der evangelisch-lutherischen Christuskirche in Rom im Dezember 1983 in Ost- und Westdeutschland. Erstmals seit der sogenannten Reformation des 16. Jahrhunderts betrat damit ein Pontifex nicht nur ein protestantisches Gotteshaus – und dies zudem in der „Ewigen Stadt“ –, sondern hielt auch eine Predigt zur christlichen Einigkeit im Advent und zum 500. Geburtstag Martin Luthers von der Kanzel herab. Dieser eindrucksvollen Begegnung gingen allerdings Spannungen zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien (ELKI) und der Kirchengemeinde in Rom (Mitglied der ELKI) voraus, die analysiert werden. Auch stellte sich vielen westdeutschen Protestanten die Frage, ob mit dem Besuch Johannes Pauls II. als Prediger in einer evangelischen Kirche nicht automatisch eine Anerkennung des Papsttums durch eine protestantische Gemeinde einhergehe. An dieses Beispiel für kirchliche, mediale und politische Aushandlungsprozesse des Papsttums durch Protestanten in Ost- und Westdeutschland knüpft der Beitrag der evangelischen Theologin Ulrike Treusch an: Sie spürt exemplarisch dem Verhältnis zwischen „dem“ deutschen Protestantismus und Päpsten anhand der Auseinandersetzung mit Papst Benedikt XVI. in evangelischen Büchern und Zeitschriften nach. Generell hat das mediale Interesse am Pontifex seit 2005 zugenommen, wobei dessen Autorität sowohl in den drei ausgewählten protestantischen Publikationsorganen „chrismon“, „ideaSpektrum“ und „zeitzeichen“ als auch in Veröffentlichungen der evangelischen Theologie kaum noch thematisiert wird. Seither dominiert von protestantischer Seite nicht mehr die Kritik am Papsttum, sondern das Interesse an einer Vertiefung der ökumenischen Beziehungen. Dieser Befund markiert nicht zuletzt auch die Gegenwart eines differenzierten Entwicklungsprozesses im Verhältnis zwischen Papsttum und Protestantismus, das der evangelische Theologe Reinhard Frieling in seinem sehr persönlichen Resümee kommentiert. Als langjähriger Leiter (zwischen 1981 und 1999) des Konfessionskundlichen Institutes des Evangelischen Bundes in Bensheim kann Frieling auf eine jahrzehntelange Arbeit im Geiste der Ökumene zurückblicken. Er ist ebenso ein Autor der 2001 verabschiedeten Charta Oecumenica, einem der zentralen kirchengeschichtlichen Dokumente der Neuzeit, wie er seit 1968 an der etwa alle sie-
Eine Einführung |
ben Jahre stattfindenden Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen teilnahm. Von 1993 bis 1998 war er Mitglied der Gemeinsamen Arbeitsgruppe von Weltkirchenrat und römisch-katholischer Kirche, wodurch er auch Papst Johannes Paul II. persönlich kennenlernte.18 Diese und weitere Tätigkeiten machen Frieling nicht nur zu einem wichtigen Wegbereiter der Ökumene im 20. und 21. Jahrhundert, sondern auch zu einem Zeitzeugen, dessen Beitrag den vorliegenden Sammelband mit einem einzigartigen Blick und Einblick zusammenfassend und reflektierend abschließt. Quellen- und Literaturverzeichnis
Barth, Karl: Der römische Katholizismus als Frage an die protestantische Kirche, in: Ders.: Die Theologie und die Kirche, Gesammelte Vorträge, Bd. 2, München 1928, S. 329–362. Finger, Evelyn/Schirmer, Stefan: „Ich würde den Papst einladen.“ Wie nah sind sich Protestanten und Katholiken wirklich? Fragen an den evangelischen Pfarrer Friedrich Schorlemmer – der Franziskus als seinen Bischof akzeptiert, in: Die Zeit, 26.05.2016, Online-Ansicht: http://www.zeit.de/2016/21/oekumenekatholiken-protestanten-friedrich-schorlemmer, letzter Zugriff: 11.11.2017. Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003. Herder Korrespondenz Spezial Nr. 2/2016. http://de.radiovaticana.va/news/2017/03/31/papst_an_lutherkongress_%E2% 80%9Edankbarkeit_und_erstaunen%E2%80%9C/1302438, letzter Zugriff: 11.11.2017. http://unsere.ekhn.de/berufe/personalia/detail-personalia/news/theologe-reinhard-frieling-wird-80-jahre-alt.html; letzter Zugriff: 20.11.2017. http://www.mdr.de/mediathek/video-54188_zc-89922dc9_zs-df360c07.html, letzter Zugriff: 11.11.2017. https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/frontnews/2017/06/02, letzter Zugriff: 20.11.2017. Katholische Presseagentur KATHPRESS, Wien, 27.06.2016. Krätzl, Helmut: Das Konzil – ein Sprung vorwärts. 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil. Ein Zeitzeuge zieht Bilanz, Innsbruck/Wien 2012. 18 Vgl. http://unsere.ekhn.de/berufe/personalia/detail-personalia/news/theologe-reinhardfrieling-wird-80-jahre-alt.html; letzter Zugriff: 20.11.2017.
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Müller-Meiningen, Julius: These. Antithese. Synthese? Beim Papstbesuch in Lund waren Protestanten und Katholiken so einig und feierfreudig wie nie. Die Wiedervereinigung scheint zum Greifen nah. Doch das ist ein Missverständnis, in: Die Zeit, 04.11.2016, Online-Ansicht: http://www.zeit.de/2016/46/reformationsfeier-lund-papst-franziskus-protestanten-katholiken, letzter Zugriff: 11.11.2017. Papst ruft zu Forschungen über Luther und seine Zeit auf, in: Radio Vatikan, 31.03.2017, Online-Ansicht: http://de.radiovaticana.va/news/2017/03/ 31/papst_an_lutherkongress_%E2%80%9Edankbarkeit_und_erstaunen%E2 %80%9C/1302438, letzter Zugriff: 19.12.2017. Schneider, Verena: Tagungsbericht: Der Protestantismus und die Päpste im 20. und 21. Jahrhundert, 10.11.2016 Wittenberg, in: H-Soz-Kult, 03.02.2017, OnlineAnsicht: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6957, letzter Zugriff: 20.11.2017. Spadaro, Antonio: Das Interview mit Papst Franziskus, Freiburg im Breisgau 2013. Wassilowsky, Günther (Bearb.): Karl Rahner. Sämtliche Werke, Bd. 21/2: Das Zweite Vatikanum. Beiträge zum Konzil und seiner Interpretation, Freiburg im Breisgau u.a. 2013.
Bertram Schmitz
Das Papsttum aus katholischer, protestantischer und religionswissenschaftlicher Perspektive
1. Hinleitung: Die „axis mundi“
Lassen Sie uns in Gedanken bei einem Aufenthalt in Rom durch das eindrucksvolle Gebäude des Petersdoms bis zur Kreuzung der beiden Hauptlinien schreiten! Genau dort, an deren Schnittpunkt, findet sich aus religionswissenschaftlicher Sicht eine architektonisch kaum zu übertreffende Darstellung einer „axis mundi“, einer Weltenachse. Der Blick wird durch den Lichteinfall in der Kuppel zunächst nach oben geleitet, in die Kuppel. In ihr befindet sich ein Zitat aus dem Matthäusevangelium (Mt. 16,18), in dem die Idee des Papsttums nach katholischem Verständnis in fundamentaler Weise artikuliert wird: „tu es Petrus…“ beziehungsweise im Original griechisch: „sy ei Petros“ – „Du bist Petrus“. Dieser Versanfang enthält das griechische Wortspiel von Petrus und Petra, dem Felsen: „Du bist der Fels“. Es mündet in die Bestimmung: „…auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen“. Wird eine Achse von der Kuppel weiter nach unten gezogen, führt sie zum Hochaltar. Dort zelebriert der Papst, als Nachfolger auf dem Stuhl Petri, die Eucharistie. Diese Achse gründet sich schließlich auf der Stelle, die als Grab und damit als Reliquienbehälter des Petrus gilt. Der Apostel selbst aber bildet das substanzielle Fundament des in der Kuppel zitierten Zuspruchs. So sind in dieser Zentralachse als Symbollinie im Zentrum des Petersdoms drei Momente miteinander verbunden: die Reliquien des Petrus, der Altar seines Nachfolgers und schließlich die biblisch so überlieferte Zusage Jesu an Petrus als der Felsen, auf dem er, also Jesus der Christus, sich seine Kirche baut. Mit dem Wort Kirche (ekklesia/ecclesia) kann in diesem Fall beides gemeint sein: die Gemeinschaft der Christen wie auch konkret dieses Kirchengebäude. Auf dem Altar werden wiederum durch den Papst Brot und Wein zu Leib und Blut; sie werden zu Körper und Leben1 Jesu Christi 1
Das Blut ist bereits in der Tradition des Alten Israels gleichermaßen die Verkörperung des Lebens als „nefesch“ („nefesch“, der Hauch, wird im Weiteren mit der Seele gleichgesetzt; zumindest ist es aber der Bestandteil, der in einem Lebewesen Gott selbst gehört und Gott
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gewandelt, der Petrus zum Fundament dieser Kirche eingesetzt hat. Dieses Fundament des Petrus als Reliquie trägt das Gebäude der Kirche, das Papstamt und die Kirche in ihrem geistig-geistlichen Sinn gleichermaßen. Aus religionswissenschaftlicher Sicht lässt sich in einer solchen Zentralachse der eingangs erwähnte Topos einer „axis mundi“ erkennen. Diese Achse bildet die Mittellinie der Welt. Deren Ausgestaltung findet sich auf je eigene Weise in fast allen Religionen als Angelpunkt wieder. Aus dem Selbstverständnis der Religionen ist es dabei höchstens sekundär, ob diese Achse zugleich mit der Schöpfung der Welt erschaffen wurde, wie etwa der Berg Meru in der hinduistisch-buddhistischen Mythologie. Ebenso kann sie durch Menschenhand geschaffen sein. Sie kann beständig auf- und abgebaut werden wie der Mittelpfeiler einer mongolischen Jurte. Man findet sie in der Kaaba, die nach einer Überlieferung des Korans von Abraham erbaut wurde (vgl. Sure 2,125–127), oder die gar als vorzeitliches Gebäude gilt, das durch die Sintflut zerstört, aber dann wiedererbaut wurde. Doch auch der israelitische Tempel von Jerusalem steht nach rabbinischer Überlieferung auf dem „ewen shetiyya“, dem Grundstein, von dem ausgehend Gott die Welt erschuf. Ob die Achse als durch Menschen geschaffenes Element eingerichtet wurde oder sie nach religiöser Vorstellung schon immer vorhanden ist, – bedeutsamer ist vielmehr, dass ihr eine gegenständlich-materielle lokale Zentralstellung als Symbol der Ewigkeit und des Zentrums zukommt. Damit dient sie als Orientierungspunkt der jeweiligen religiösen Gemeinschaft. 2. Die Zentralität des Papsttums: Zum Verhältnis von historischen Gegebenheiten und religiösem Anspruch als Legitimationen auf unterschiedlichen Ebenen
An dieser Verbindung eines materiellen oder materialisierten Gegenstands der „axis mundi“ mit ihrem überzeitlich ewigen Anspruch lässt sich ein entscheidender Unterschied zwischen wissenschaftlich-historischem, kritischem Denken einerseits und religiösem Selbstverständnis andererseits aufzeigen. Beide Arten des Denkens müssen sich dabei nicht ausschließen. Entscheidend ist vielmehr, dass ihnen eine je eigene Bedeutung zukommt und dass sie jeweils auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Für den Topos des Papsttums beschreibt Klaus Schatz beide Ebenen gleichermaßen in ausgezeichnet komprimierter und differenzierter Weise. Zunächst stellt deshalb wieder zurückgegeben werden muss; infolgedessen darf Blut auch nicht verspeist werden).
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er historisch-kritisch die Geschichte des erst über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelten und realisierten Gedankens des Papsttums in seinen Eckpunkten minimalistisch dar. Daraufhin aber formuliert er in Gegenüberstellung dazu die theologische Perspektive: Die Berufung auf die neutestamentlichen Petrus-Stellen, insbesondere Mt. 16,18, ist insofern nachträglich; sie hat deshalb jedoch nicht ‚ideologischen‘ Charakter, da es mit der Kirche als geschichtlicher Größe gegeben ist, dass ‚wesentliche‘ Einrichtungen erst durch das Medium konkreter geschichtlicher Erfahrung in ihrer Notwendigkeit erkannt, dann jedoch nicht einfach neu geschaffen, sondern (als ansatzweise bereits gegeben) im Neuen Testament und der kirchlichen Überlieferung ‚gefunden‘ werden. Dies gilt erst recht für ein gesamtkirchliches Einheitsamt, das in seiner Notwendigkeit eine Vielzahl geschichtlicher Erfahrungen voraussetzt, die erst in Jahrhunderten gemacht werden konnten. Erst dann konnten die neutestamentlichen Petrus-Texte als ‚aktuell‘ für das gegenwärtige Amt des Bischofs in Rom verstanden werden.2
Es wurde also im Kontext der geschichtlichen Erfahrungen und Entwicklungen aus der Perspektive der römisch-katholischen Kirche die Grundlage des Papsttums in den Quellen des Neuen Testaments, mehr noch: in den Jesus zugeschriebenen Aussagen, gefunden. So gesehen waren das Fundament und die Sinnstiftung des Papsttums diesem Jesuswort implizit inhärent, ohne dass es sogleich zu einer Ausgestaltung dessen gekommen sein musste, was im Nachhinein als Papsttum erscheint. Diese Art der Argumentation muss nicht so fremd wirken, wie sie auf den ersten Blick und in einem religiösen Kontext erscheinen mag. Auch in der profanen historischen Betrachtung können Momente quasi rückdatiert werden, etwa wenn erst im Nachhinein deutlich wird, dass ein bestimmtes Ereignis zum Anfang oder Ende einer bestimmten Staatsform geführt hat, wie zum Beispiel der Demokratie in einem je spezifischen Land. Oft lässt sich erst hinterher erkennen, dass dieses Ereignis bereits die Grundlage dafür in sich trug, dass im Folgenden dieses oder jenes geschehen konnte, – selbst wenn es zu dem Zeitpunkt den damals Lebenden noch nicht bewusst war. So wird auch die Rolle, die Gaius Julius für die Entwicklung des Kaiserreichs in Rom hatte, erst durch die nachträgliche Betrachtung in vollem Gewicht deutlich. Ebenso wird denjenigen, die das Wirken Jesu persönlich erlebt haben, dessen Bedeutung für eine künftig eigenständige Weltreligion, wie sie das Christentum darstellt, nicht erfahrbar gewesen sein. 2
Klaus Schatz: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, 3. Auflage, Freiburg im Breisgau 2009, S. 1328. Auflösung der Abkürzungen im Zitat: B. S.
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Dieser Argumentationsgang, der das Papsttum begründet, kann religionswissenschaftlich gesehen folgendermaßen Punkt für Punkt nachvollzogen werden: Nach diesem Verständnis gilt Jesus als der Christus, also als der Sohn Gottes. An dieser Stelle hat sich – wie ebenfalls erst im Nachhinein deutlich wird – das (erst entstehende) Christentum definitiv vom Judentum getrennt. Jesus, als der Christus verstanden, habe bereits Petrus einen „Felsen“ (petra) genannt und ihn daraufhin als die Grundlage seiner Kirche bestimmt. So wird mit Petrus eine Person eingesetzt, die das Zentrum und Fundament des Christentums bilden soll – und daraufhin auch wird. Diese Zentralperson verkörpert schließlich das Zentralamt des Papsttums. Die theologisch eigentliche, weiterführende Bedeutung des JesusZitats wurde im Lauf der ersten vier Jahrhunderte zunehmend deutlicher, indem – historisch gesehen – das Papstamt verwirklicht wurde. Damit ist die historische Verwirklichung des Papstamts zugleich die Entfaltung des Wortes an Petrus und der Beweis seiner eigentlichen Bedeutung auf das Papstamt hin. Mit anderen Worten, die Einrichtung des Papstamts zeigt, was mit dem Zuspruch Jesu gemeint war, bildet zugleich dessen Auslegung und den Beweis für seine Richtigkeit. Dieser Argumentationskreis gilt – wie wir sehen werden – allerdings nur für die jeweilige Gemeinschaft, die sich innerhalb dieses Argumentationszirkels befindet. So gesehen ist diese Argumentation nicht objektiv, sondern sie setzt das Subjekt des Interpreten beziehungsweise Glaubenden implizit voraus. Soweit anerkannt wird, dass Jesus seinen Apostel Petrus als Fels seiner gesamten Kirche eingesetzt hatte, gelten dieses Amt und damit der Primat des Papstes grundsätzlich für alle Christen. Es ist wichtig, diese Voraussetzungen der Argumentation so genau und im Einzelnen zu nennen, – denn etwa im Prozess der Reformation wurden sie in Frage gestellt und es wurde nicht mehr geteilt, dass es einen solchen Repräsentanten des Christentums gäbe, beziehungsweise dass Jesus ihn eingesetzt habe. Damit kommt aber auch dem oben genannten Vers Mt. 18,16 diese Bedeutung des Petrusamtes nicht mehr zu. Ebenso erkennen die nicht mit Rom unierten Kirchen das genannte Amt des Petrus zwar als Apostelamt für Rom an, aber sie verstehen es nicht als universal. Es mag damit sein, dass Petrus das Fundament der römischen Kirche bildet, aber nicht das Fundament der anderen Kirchen, die sich etwa auf Markus oder – wie in Südindien – auf Thomas berufen. Dem in sich eher zeitlos universalen theologischen Konzept steht damit die historisch bedingte Dimension in Wechselwirkung gegenüber. Sie zeigt auf, in welcher Weise sich zunächst der Gedanke eines Konzepts des Papsttums und dessen Umsetzung entwickelt hatte. Dazu analog, oder vielleicht sogar schon vorangehend, wurde das Konzept eines solchen Papsttums in wechselhafter Geschichte gegen alle Widerstände in politische beziehungsweise zumindest in religiös hierarchische Re-
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alität umgestaltet. Schließlich gingen Anspruch und Umsetzung weitestgehend ineinander auf: Durch das Zeitalter der Entdeckungen und damit einhergehend der Missionen konnte ein abstrakt universaler Anspruch konkret in weltweiter Ausgestaltung des Papsttums durch die Verbreitung der römisch-katholischen Kirche verwirklicht werden. Dieser reicht – zumindest vereinzelt – in alle Kontinente der Welt hinein. So wurde damit das Papsttum in der römisch-katholischen Kirche auch zu einem Faktor von weltpolitischer Bedeutung. 3. Papsttum und Protestantismus – Amtshierarchie und Laienkirche
Gegenüber der Reformation sollte vor allem das Amt „der päpstlichen Monarchie“ gefestigt werden. Es galt dabei „den göttlichen Ursprung des päpstlichen Primates und der hierarchischen Ordnung zu verteidigen und aus der Schrift und Tradition zu begründen.“3 Die Tradition gilt dabei als innergeschichtliche Entfaltung des Wortes, das durch den – in diesem Sinn überzeitlichen – Jesus ergangen ist. Historische Gegebenheiten werden dabei aus religiöser Perspektive aufgrund ihres ewigen Bedeutungsgehaltes ausgelegt und in den zeitlichen Raum der Geschichte hinein entfaltet. Sie erschöpfen sich also nicht in ihrer Historizität. Sie werden vielmehr als Sinngeschichte, in diesem Fall spezifisch: christliche Geschichte, in ihrem Aspekt auf die Ewigkeit hin erfasst und gedeutet. Dabei hat schließlich das Papstamt den Anspruch einer spezifisch dogmatischen Unfehlbarkeit und unwiderrufbar korrekten Auslegung in Lehrentscheidungen erhoben. Wie bereits erwähnt, erkennt der Protestantismus die oben genannte Auslegung des Zitats vom Fundament der Kirche und daraufhin den Papst nicht als (s)eine Autorität an. – Historisch gesehen mag dieser Prozess umgekehrt herum verlaufen sein: Da im Protestantismus das Papsttum nicht anerkannt werden konnte, kann – aus der Perspektive protestantischer Auslegung – dem von Jesus an Petrus gerichteten Zuspruch nicht eine solche Bedeutung inhärent sein, wie sie die Begründung des Papstamts ihm beimisst. In beiden Fällen aber ist das Ergebnis dasselbe: Jesus habe keinen Papst eingesetzt und es gibt in diesem Sinne für den Protestantismus keinen Pontifex. Doch auch inhaltlich werden die letztgenannten Punkte von protestantischer Seite negiert. Grundsätzlich werden im Protestantismus eine solche geistliche Hie3
Wilhelm Dantine: Das Dogma im tridentinischen Katholizismus. Handbuch der Dogmenund Theologiegeschichte, Bd. 2, Göttingen 1989, S. 415; letzteres als Zitat von Hubert Jedin: Kirche des Glaubens, Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bd. 2: Konzil und Kirchenreform Freiburg im Breisgau u.a. 1966, S. 7 f., ebenda.
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rarchie der Ämter von geweihten Personen und ein absoluter Anspruch der Glaubensdeutung abgelehnt. Damit trennt er sich einerseits allgemein vom klerikalen Priesteramt insgesamt und letztlich – religionswissenschaftlich gesprochen – von der Vorstellung einer Weihe oder gar von Heiligkeit als Substanz. Andererseits wird der unbedingte Universalanspruch einer einzelnen Kirche, gar einer einzelnen Person (wie der des Papstes) abgelehnt. Jeglicher Autoritätsanspruch, sei er dogmatisch, sei er hierarchisch, könne immer nur konfessionell gebunden und existenziell bedingt gelten. Durch jegliche innerweltliche Gebundenheit (das heißt durch die Bedingungen zeitlich-weltlicher Existenz insgesamt) blieben, so der protestantische Anspruch, innerweltliche Spannungen zwischen unterschiedlichen Positionen und Konfessionen bestehen. So kann der Protestantismus die Einheit des Christentums letztlich nicht kirchlich empirisch verstehen. Die Grundannahme einer geistgewirkten innerweltlichen Vielfalt führt damit auch zur Ablehnung einer zentralistischen Hierarchie. Zugleich werden nach diesem Verständnis grundsätzlich alle Glieder der protestantischen Kirchen, also alle Gläubigen, als Priester angesehen. Dieses Priesteramt wird nicht im klerikalen Sinn verstanden, als wenn es für geweihte Personen gelten würde, denn der Protestantismus ist eine Laienkirche, die keine Weihe dieser Art kennt. Es meint vielmehr den einzelnen Glaubenden als grundsätzlich souveräne, kirchlich vollwertige Person, der Freiheit und Verantwortung ihres Glaubens gleichermaßen zukommen soll. Dieses protestantische Selbstverständnis von der Souveränität des Einzelnen wie auch der jeweiligen Landeskirchen als Institutionen sollte letztlich keinesfalls hindern, in gegenseitigem Respekt und Achtung vor dem jeweiligen Anspruch des anderen, auf Gemeinsamkeiten, interkonfessionelle Verständigung und Zusammenarbeit etwa bei diakonischen Hilfen hinzuwirken. 4. Der Papst und der Hohepriester Israels
Bernhard Schimmelpfennig fasst als Historiker in seinem klassischen Werk „Das Papsttum“ die zeitübergreifenden Merkmale dieser Einrichtung folgendermaßen zusammen: „Noch heute ist jeder Papst ‚Bischof von Rom‘, ‚Patriarch des Westens‘, ‚oberster Hirte der Universalkirche‘“. Zugleich versteht er sich als „oberster Liturg“4 – zumindest zunächst von Rom.
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Bernhard Schimmelpfennig: Das Papsttum. Von der Antike bis zur Renaissance, 4. Auflage, Darmstadt 1996, S. VIII.
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In dieser Beschreibung und besonders in dem letztgenannten Faktor kann ein Amt gefunden werden, das bereits in der klassischen israelitischen Religion vor der endgültigen Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 nach Christus der Zeitenwende vorgebildet war: Es gab mit dem israelitischen Hohepriester eine höchste sakrale Person. Nur diese konnte (und musste) das Allerheiligste des Tempels betreten und Opfer der Versöhnung zum Jom Kippur vollziehen. Am zehnten Tag des jüdischen Monats Tischri, das heißt etwa zum Zeitpunkt der Tag- und Nachtgleiche des Herbstes, war er es, der nach einer Reinigung und einem Opfer für sich und seine Familie das höchste Opfer im Allerheiligsten des Tempels darbringen konnte. Dieses Opfer wurde an dem Tag vollzogen, den Gott eingesetzt hat, um das Volk zu entsühnen.5 Der Autor des biblischen Hebräerbriefs transformierte in seiner Schrift das israelitische zentrale Opfer des Jom Kippur, das im zentralen Ort des Allerheiligsten im Tempel in Jerusalem jährlich durch diese zentrale Person des Hohepriesters dargebracht wurde, in das Symbol des einmaligen und vollkommenen Selbstopfers Christi. Innerhalb des Zirkels gesprochen könnte dieselbe Aussage so formuliert werden, dass dieser Autor in dem Christusopfer diese ewige und vollkommen überhöhte Verwirklichung des Opfers an Jom Kippur erkannte und weiterführend formulierte. Christus wird (ihm, dem Autor, und damit der Christenheit insgesamt) dabei zur Verwirklichung des idealen Hohepriesters, der sein ideales Selbstopfer darbringt. Als liturgischer Vertreter Christi zelebriert nun der geweihte Geistliche dieses Christusopfer. In seiner zentralen Stellung kann dabei der Papst als Repräsentant des ursprünglich altisraelitischen hohepriesterlichen Amtes gesehen werden, das nun allerdings sein idealtypisches Vorbild in dem sich selbst opfernden Christus findet. Gewiss kommt dem Papst keine höhere Weihe zu als die eines Bischofs und damit eines Klerikers, der in souveräner Weise durch die Wirkung Gottes das Selbstopfer Christi in der Gestalt der Eucharistiehandlung zelebrieren kann. Diese Weihe wird im Titel „Bischof von Rom“ bereits vollgültig bezeichnet. Darüber hinausgehend wird ihm allein durch die Amtshierarchie eingeräumt, das Opfer am Altar der „axis mundi“ zu zelebrieren. Zugleich gilt er in seiner Stellung als Garant für die Weihe aller weiteren Bischöfe und damit weiterhin aller geweihten Geistlichen, die ebenfalls in Vertretung der Bischofswürde zur Ausführung einer Eucharistiefeier eingesetzt sind.
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Vgl. Levitikus 16; zu der Bestimmung des Tages, der bis heute der höchste jüdische Feiertag ist, spezifisch 16, S. 29–31.
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Im Protestantismus hingegen gestaltet sich die eigentliche Sakralität weder in der Weihe einer Person noch in dessen Hierarchie oder der Vermittlung des Heils. Sie findet sich vielmehr in dem Prozess des Vorgangs, in dem das Abendmahl6 zelebriert wird. Dennoch liegt letztlich die eigentliche Souveränität über den Vollzug des Abendmahls bei episkopalen protestantischen Kirchen ebenso wie im Katholizismus beim Bischof, insofern er über die Weihe beziehungsweise Einsetzung eines Geistlichen bestimmt und für sich selbst die freie Wahl der Kanzel besitzt. 5. Die empirische Vielgestaltigkeit der Religionen und die Idee der Einheit
Wie sich einerseits der Topos der personalen (Papst) wie architektonischen (Petersdom) Zentrierung als „axis mundi“ religionswissenschaftlich nachvollziehen lässt, so bildet andererseits die protestantische Zurückhaltung gegenüber einer personalen, strukturellen oder auf die Lehre bezogenen Einheitlichkeit oder Zen tralisierung in der Empirie keine Ausnahme. Im Gegenteil! Alle sogenannten Weltreligionen erscheinen als in sich differenzierte Gruppierungen, die mehr oder weniger in Spannung miteinander liegen. So zeigt sich der Hinduismus ohnehin als ein geschichtlich gewachsenes Religionskonglomerat. Verschiedene Strömungen werden unter dem Sammelbegriff Hinduismus zusammengefasst, die sich eher negativ durch Ausschlusskriterien definieren lassen als durch ein inhaltliches Zentrum, wie etwa, dass es sich nicht um den Islam oder das Christentum handelt. Nur durch eine gewisse Anzahl unterschiedlicher Faktoren könnte Hinduismus auch positiv als Bezeichnung einer Einheit verstanden werden. Diese Einheit wird dann durch so unterschiedliche Faktoren bestimmt wie das Gesellschaftssystem, eine Auswahl an möglichen höchsten Gottheiten, den Karma-Gedanken, Dharma als Weltordnung oder lokale Zusammenhänge.7 Zudem ließen sich Hindus seit dem Zeitalter des klassischen Hinduismus vor allem in die zwei Großgruppen von Vishnuiten und Shivaiten einteilen, die sich dann noch weiter ausdifferenzieren – wobei diese Trennung allerdings nur bedingt einen definitiven Charakter hat. Ein allen Richtungen gemeinsames Oberhaupt dieser diversen hinduistischen Strömungen und Richtungen zu inten-
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Diese Sakramentalität gilt im klassischen Protestantismus über das Abendmahl hinausgehend nur noch für den Akt der Taufe. Vgl. hierzu etwa: Axel Michaels: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998, S. 27–47, pointiert S. 36.
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dieren wäre praktisch ebenso undenkbar wie der Versuch einer Vereinheitlichung der Lehre. Auch der Buddhismus wird etwa in Theravada, Mahayana und Vajrayana unterteilt. In diesem Fall besteht jedoch eine weitgehende Übereinstimmung wesentlicher Grundlinien der Lehre, der existenziellen Problemstellung und der Zielrichtung auf die Lösung der Person vom Weltenkreislauf (Samsara) zum Nirvana hin. Es finden sich allerdings deutliche Unterschiede in der Auffassung wie der Weg auf dieses Ziel hin zu gehen sei. Sobald nähere Bestimmungen erfolgen sollten, stellt sich bereits die Frage, ob das Entscheidende die stille Meditation sei, oder ob diese etwa durch Medien wie Mantren, Mudras oder Mandalas ergänzt werden solle. Ein gemeinsames Oberhaupt lässt sich ebenfalls höchstens für eine je einzelne Ausrichtung finden. So verkörpert der Dalai Lama seit dem – westlich gesprochen: Hochmittelalter – das Oberhaupt der Gelugpas (Gelbmützen), als eine der vier Richtungen des Vajrayana-Buddhismus wie er sich vor allem in Tibet finden lässt. Siddhartha Gautama ist zwar die Person, an der sich grundsätzlich die Lehre des Buddhismus insgesamt anknüpft. Auch wird sein Titel, der Buddha, bei den sogenannten Zufluchtnahmen (quasi als Antritt) zum Buddhismus als einer der drei Juwelen neben Lehre und Gemeinschaft (Sangha) genannt. Doch wurde weder für ihn noch für einen seiner Schüler, etwa für Ananda, ein expliziter Nachfolger als Zentralperson des Buddhismus ernannt, der eine solche Stellung wie der Papst für das Christentum übernehmen könnte oder sollte. So gesehen wurde die – gemäß der Überlieferung von Buddha selbst gewünschte – Zentralisierungsposition allein von der Lehre übernommen, nicht von einer amtierenden Person. Das Judentum wird historisch lokal in der sephardischen (westlichen) und der askenasischen (östlichen) Richtung fassbar, die heutzutage etwa in Jerusalem beide jeweils durch ein Oberhaupt vertreten sind, ohne damit zentralisiert zu sein. Letztlich ist sogar jede einzelne Synagoge als Gemeinschaft unabhängig, nur dass sie traditionell einem bestimmten Ritus folgt. Die hierarchisch-sakrale zentrale Stellung des bereits erwähnten Hohepriesters blieb seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem vakant und wurde auch auf keiner anderen Ebene von einer einzelnen Person im Judentum aufgenommen und realisiert. Inhaltlich wird seit dem Zeitalter der Aufklärung die Diskrepanz von Orthodoxie (eigentlich wäre die Bezeichnung Orthopraxie angemessener und vielsagender) und Reformjudentum deutlich, die vor allem ein – analog zum Christentum formuliert – unterschiedliches Verständnis der Autorität von Schrift, Tradition und Aktualisierung haben. So betont das progressive Judentum bei seinen Diskussionen und Entscheidungen für die Lebensordnungen wesentlich deutlicher die Aspekte von Ethik und Seelsorge als die des Wortlautes entsprechender Weisungen in der Tora und besonders im Talmud.
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Eine besondere Reibungsfläche schließlich wird aktuell politisch im Islam zwischen Sunniten und Schiiten, ein Konflikt, der sich insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten verschärft hat, deutlich. Sie reicht bis in die Anfangsjahre des Islams zurück und bezieht sich letztlich auf die Frage, welche Eigenschaften und Aufgaben einem Nachfolger Muhammads zukommen sollten und inwiefern eine religiöse Autorität mit einer staatlichen Herrschaftsgewalt verbunden sein solle. So gesehen findet sich im Islam bereits wenige Jahre nach dem Tod M uhammads eine fundamentale Trennung von zwei unterschiedlichen Ausrichtungen. Im Christentum begannen solche eindeutigen Abtrennungen erst ab dem vierten Jahrhundert, als es darum ging, das Christentum auch als politische und normative Gesamtgröße zu verstehen und auch dogmatisch inhaltlich einheitlich zu formieren. Die definitive Trennung zwischen Papstkirche und Protestantismus hat mit gegenseitigen Verwerfungen begonnen, auf deren Grundlage beides nicht mehr als eine Einheit gefasst werden konnte. Diese Spannungen führten schließlich zu verheerenden Kriegen zwischen den Anfängern beider Konfessionen, – nicht zuletzt weil die Konfessionszugehörigkeit auch mit entsprechenden machtpolitischen Ansprüchen verbunden war. Noch immer findet mitunter innerhalb derselben Religion des Christentums ein Ausschluss von der Teilnahme am zentralen Ritual der Eucharistie bis in die Gegenwart statt. Eine solche tiefgreifende und definitive Ausgrenzung ist religionsgeschichtlich gesehen allerdings doch wiederum eine Ausnahme. Sie findet sich nicht einmal im Islam bei der Zulassung zum Besuch der Kaaba, auch wenn dort das Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten nicht problemlos ist. Demgegenüber wurde deutlich, dass in anderen Religionen eine solche zentralisierte Einheit in Hierarchie und Lehre, wie sie das Papsttum im Christentum kennt, kaum je angestrebt wurde. Bemerkenswert ist innerhalb des Katholizismus allerdings die Vielfalt der Riten, also die Möglichkeit beispielsweise, die Eucharistie gemäß der je eigenen Tradition zu feiern, wie dies etwa für die mit Rom verbundenen orientalischen Kirchen bedeutsam ist. Dennoch zeigt sich in der Empirie, in welcher Spannung das Idealverständnis einer christlichen Einheit zu einer realen Umsetzung einer auf den Papst zentrierten Einheitlichkeit steht. 6. Abschluss
Religionsgemeinschaften als empirische Gebilde zeigen sich in ihrer Dynamik und Vielfalt und damit in ihrer Diversität. Es sind mitunter von außen kommende Fak-
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toren, die solche Spaltungen oder zumindest Differenzierungen hervorbringen, wie etwa im Judentum die Auflösung des Ghettosystems im Zuge der Aufklärung. Oder es besteht eine inhärente Vielfalt wie beim Hinduismus. Es sind unterschiedliche Lehrauslegungen und insbesondere Gestaltungen der Alltags- und Meditationspraxis wie im Buddhismus, die zu Trennungen führen. Oder aber die Auseinandersetzung findet anhand von Fragen um Autorität und Nachfolge statt, wie im Islam. Dabei ist gerade der Gedanke einer Einzelperson, die der gesamten Religionsgemeinschaft vorsteht, wie dies das Idealbild des Papstamts zeigt, ungewöhnlicher als es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Von den genannten nichtchristlichen Religionen kennt ihn vor allem der Islam mit dem Topos des einen Khalifen, Imams oder Sultans. Im Christentum mag sich dieser personengebundene Einheitsgedanke neben der Petrusüberlieferung zugleich mit der Vorstellung des israelitischen Hohepriesters verbunden haben. Während das rabbinische Judentum wie etwa auch der Protestantismus zu einer Laienreligion wurde, finden sich das priesterliche Element und damit auch die priesterlichen Hierarchien in den anderen Konfessionen des Christentums. Dabei stand dem Christentum religionsgeschichtlich das Urbild des einen Christus zur Verfügung. Dieses Christusbild wird in der Theologie des Hebräerbriefs zu der Lehre von dem einen ewigen Hohepriester. Dieser wird zunächst mit dem israelitischen Hohepriester als Spitze des hierarchischen Priestertums identifiziert, daraufhin aber überhöht und idealisiert. Das zentrale Amt wurde über das Konzept einer Nachfolge des Petrus zum Fundament der Kirche Christi. Im Lauf der ersten Jahrhunderte wurde es in der Idee des Papsttums als dessen einem Nachfolger in idealtypischer Weise konkretisiert und personell umgesetzt. Der Papst verkörpert nach diesem Verständnis zugleich das Oberhaupt der Christen wie auch dessen höchste priesterlich kultische Gestalt. Im Petersdom, dessen Bau gerade durch den Ablasshandel mitfinanziert wurde, der wiederum zum entscheidenden Anstoß für den Beginn der protestantischen Reformation führte, findet diese Idee bis heute architektonisch ein idealtypisch beeindruckendes Zeugnis. Quellen- und Literaturverzeichnis
Dantine, Wilhelm: Das Dogma im tridentinischen Katholizismus. Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 2, Göttingen 1989.
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Jedin, Hubert: Kirche des Glaubens, Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bd. 2: Konzil und Kirchenreform, Freiburg im Breisgau u.a. 1966. Michaels, Axel: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998. Schatz, Klaus: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, 3. Auflage, Freiburg im Breisgau 2009. Schimmelpfennig, Bernhard: Das Papsttum. Von der Antike bis zur Renaissance, 4. Auflage, Darmstadt 1996.
Charlotte Pissors
Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik der schwedisch-lutherischen Kirche während der Amtszeit Papst Pius XI. 1922–1939 Während sich im 19. und 20. Jahrhundert in Schweden eine Nationalidentität herausbildete, spielte das Erbe der Reformation und das europaweit verbreitete Phänomen des Antikatholizismus eine bedeutende Rolle. Alle drei großen schwedischen Volksbewegungen (Religiöse Erweckungsbewegung, Abstinenzbewegung, Arbeiterbewegung) sowie verschiedene andere politische Gruppierungen nutzten antikatholische Rhetorik, um sich selbst politisch und kulturell zu positionieren. Der Katholizismus wurde dadurch immer stärker zum Gegenentwurf der sich entwickelnden nationalen Werten. Die politische Führung des Landes sowie die Schwedische Kirche stilisierten insbesondere die transnationalen Strukturen der römisch-katholischen Kirche zu einer Gefahr für die nationale und kulturelle Souveränität Schwedens. Die wachsende Macht des Papstes in der zentralisierten katholischen Kirche, bescheidene Wachstumserfolge der katholischen Gemeinden im Norden sowie die Stärkung des politischen Katholizismus in anderen Teilen Europas bestärkten diese Befürchtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.1 Zur allgemeinen Verwendung von antikatholischer Rhetorik zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Schweden gibt es bereits einige Arbeiten. Insbesondere die Historikerin Yvonne Maria Werner hat sich diesem Thema verschrieben. Aber auch andere Autoren, die sich mit der schwedischen Nationalidentität oder der Geschichte der katholischen Kirche in Schweden beschäftigen, streifen die Thematik.2 1
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Vgl. Yvonne Maria Werner: Schwedentum und Katholizismus. Die historischen Wurzeln einer nationalen Antipathie, in: Marie-Louise Rodén (Hg.): Ab Aquilone: Nordic Studies in Honour and Memory of Leonard E. Boyle, O.P., Stockholm 2000, S. 181–196, hier S. 182 f., 189; dies.: ‚The Catholic Danger‘: Liberal Theology and Anti-Catholicism in Sweden, in: John Wolffe (Hg.): Protestant-Catholic Conflict from the Reformation to the 21st Century: The Dynamics of Religious Difference, New York (New York) 2013, S. 166–187, hier S. 169 f. Vgl. Yvonne Maria Werner: ‚The Catholic Danger‘: The Changing Patterns of Swedish Anti-Catholicism – 1850-1965, in: Dies./Jonas Harvard (Hg.): European Anti-Catholicism in a Comparative and Transnational Perspective, Amsterdam/New York (New York) 2013, S. 135–148; Alf Åberg/Barbro Lindquist/Lars Cavallin (Hg.): Katolska kyrkan i Sverige 17831983: En historisk återblick, Uppsala 1983; Bo Stråth: The Swedish Image of Europe as the
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Keine dieser Studien geht jedoch auf die Rolle ein, die vom Papst als universelles Symbol der römisch-katholischen Kirche innerhalb der schwedisch-lutherischen Staatskirche gezeichnet wurde. Dies soll im Rahmen dieses Aufsatzes nachgeholt werden. Als Forschungsbeispiel wurde Papst Pius XI. gewählt, da seine Amtsperiode in eine Zeit fiel, die besonders prägend für die schwedische Nationalidentität und sehr stark von einem gesellschaftlich vorherrschenden Antikatholizismus beeinflusst war. Zu Beginn der Untersuchung stand die Erwartung, dass nicht nur die katholische Kirche als Institution, sondern auch Pius XI. als Persönlichkeit kritisiert werden würde. Es galt zu untersuchen, welches Bild die Schwedische Kirche von der Persönlichkeit dieses Pontifex in ihrer antikatholischen Rhetorik gezeichnet hatte. Die Analyse stützt sich im Folgenden auf die Berichterstattung über die katholische Kirche in der „Svensk Kyrkotidning“ (SKT) von 1923–1939. Die SKT, also die „Schwedische Kirchenzeitung“, erschien seit 1905 alle zwei Wochen landesweit und wurde vom Allgemeinen Schwedischen Priesterverein (ASP) herausgegeben, der 1925 circa 2000 Pfarrer umfasste.3 Zielgruppe der Publikation waren ganz überwiegend die Angestellten der Schwedischen Kirche. Die Zeitung gilt als äußerst loyal der Kirchenleitung gegenüber. Aus diesem Grund wird davon ausgegangen, dass das Blatt die offizielle Haltung der lutherischen Staatskirche widerspiegelt; auch wenn eine solche Organisation nie als ein monolithischer Block wahrgenommen werden darf. Der historische Hintergrund der Untersuchung liegt in einer Phase der Neudefinition der schwedischen Nation, die nach der Auflösung der Union mit Norwegen 1905 nötig geworden war. Damals kam das Selbstverständnis Schwedens als europäischer Machtstaat im politischen und militärischen Sinne, das man seit Mitte des 17. Jahrhunderts gepflegt hatte, endgültig zu einem Schlusspunkt. Dadurch entstand das Bedürfnis nach einer neuen nationalen Selbstdefinition, welches von verschiedenen Seiten genährt wurde.4 Zum politisch einflussreichsten Faktor in dieser Phase entwickelte sich die Sozialdemokratie. Sie prägte das schwedische Selbstbild der kommenden Jahrzehnte entscheidend mit.5
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Other, in: Ders. (Hg.): Europe and the Other and Europe as the Other, Bruxelles 2010, S. 359–383. Vgl. Sveriges kyrka och romersk propaganda: Ett uttalande av Allmänna svenska prästföreningens Centralstyrelse och Utskottet till protestantismens värn, in: Svensk Kyrkotidning, 21. Jg., Heft 3, S. 26 f., Jahr 1925, hier S. 26. Vgl. Anders Jarlert: The Myth of Sweden as a Peace-Power State and its Religious Motivations, in: Kirchliche Zeitgeschichte, 27. Jg., 2014, S. 257–262, hier S. 257. Vgl. Stråth: Image 2010, S. 361, 366.
Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik |
Die Schwedische Kirche wiederum machte zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst eine Phase der Neudefinition durch. Angesichts der Entstehung einer modernen Gesellschaft und eines modernen Staates musste die Kirche ihre Rolle neu definieren und legitimieren. Unter besonderem Einfluss der Jungkirchenbewegung6 entwickelte sie einen nationalistisch geprägten Volkskirchenbegriff und übernahm damit eine wichtige Funktion innerhalb der nationalen Mobilisierung der schwedischen Bevölkerung.7 Die Bestimmung der eigenen Identität funktionierte in Schweden, wie in anderen Fällen auch, vorwiegend über die Abgrenzung vom Anderen. Ein wichtiger Gegenpol, von dem man sich abgrenzte, und ein Feindbild, gegen das man sich sammeln konnte, war die katholische Kirche. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg wuchs die Angst und Irritation vor der sogenannten Katholischen Gefahr und die Medienpräsenz dieses Themas nahm enorm zu. In den 1920er- und 1930er-Jahren gab es in den schwedischen Medien zahlreiche Debatten über die Gefahren der katholischen Mission und einen angeblich gewachsenen Einfluss der katholischen Kirche auf die schwedische Gesellschaft.8 Dazu gab es mehrere Anlässe: Die katholische Kirche konnte um die Jahrhundertwende in Skandinavien tatsächlich einige Wachstumserfolge vermelden. In Dänemark herrschte seit 1849 Religionsfreiheit und es gab jährlich mehrere Tausend Übertritte. Nachdem es auch in Schweden ab 1860 durch die Dissentergesetzgebung9 erstmals seit der Reformation möglich wurde, die schwedisch-lutherische Staatskirche zu verlassen, befürchtete man, dass diese Entwicklung auf Schweden übergreifen könnte.
6 Siehe dazu: Alf Tergel: Ungkyrkomännen, arbetarfrågen och nationalismen 1901-1911, Stockholm 1969; Alf Tergel: Från konfrontation till institution: Ungkyrkorörelsen 1912-1917, Uppsala u.a. 1974. 7 Vgl. Ulrika Nilsson Lagerlöf: Kyrkan som Nationens Grund: Stiftsjulbok, lutherskt arv och svensk mobilisering, in: Urban Claesson/Sinikka Neuhaus (Hg.): Minne och möjlighet: Kyrka och historiebruk från nationsbygge till pluralism, Göteborg u.a. 2014, S. 54–77, hier S. 54. 8 Vgl. Werner: Liberal Theology 2013, S. 172. 9 Unter der Dissentergesetzgebung versteht man Gesetze von 1860 und 1873, die es Schweden erlaubten, die schwedische Staatskirche zu verlassen. Allerdings war dies nur möglich, wenn man sich einer anderen staatlich anerkannten christlichen Glaubensgemeinschaft anschloss. Zuvor war der Abfall von der lutherischen Lehre mit einem Landesverweis bestraft worden. Vgl. Nationalencyklopedin: Dissenterlagen, Online-Ansicht: http://www.ne.se/ uppslagsverk/encyklopedi/lång/dissenterlagen, letzter Zugriff: 26.02.2017.
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Allerdings gab es weiterhin zahlreiche staatliche Diskriminierungen10 gegenüber Katholiken, so dass die Zahl der Konversionen gering blieb. Um das Jahr 1900 kam es zu circa 20 Konversionen jährlich.11 Zwar wuchs die katholische Gemeinde beständig durch Einwanderung, nominal betrachtet war sie jedoch weiterhin verschwindend klein.12 1930 gab es fast 4000 Katholiken in Schweden bei einer Gesamtbevölkerung von 6,1 Millionen Menschen. Das entspricht 0,65 Prozent der Gesamtbevölkerung.13 Außerdem zeigten Teile der römischen Kurie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein gesteigertes Interesse an Skandinavien. Nordeuropa galt bis zum Zweiten Vatikanum als katholisches Missionsfeld und ab Mitte des 19. Jahrhunderts war Schweden ein Ziel katholischer Missionstätigkeit. Versammlungen, Missionsstationen, Schulen und Krankenhäuser wurden errichtet. Die Jesuiten etablierten sich 1879 im Land und sahen sich seither großer Kritik ausgesetzt.14 In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts kam es dann zu einem Konflikt zwischen den Jesuiten und dem damals amtierenden apostolischen Vikar für Schweden, Albert Bitter15. Das Missionsstreben der Jesuiten wurde von dem zurückhaltenden Bitter gebremst und der Orden wollte sich daraufhin aus Schweden zurückziehen. Das führte dazu, dass sich einige schwedische Laien mit der Bitte um Unterstützung der Jesuiten an die Congregatio Propaganda Fide16 in Rom wandten, der die skandinavischen Länder offiziell unterstellt waren. Deren Leiter, Kardinal Wilhelm Ma-
10 Nicht-Protestanten war es bis 1951 verwehrt, einen Ministerposten zu übernehmen, Lehrer oder Krankenschwester zu werden. 11 Vgl. Werner: Schwedentum 2000, S. 182–184. 12 Vgl. Yvonne Maria Werner: Världsvid men främmande: Den katolska kyrkan i Sverige 18731929, Stockholm 1996, S. 351. 13 Vgl. Schwedisches Institut: Die schwedische Bevölkerung, S. 1, Online-Ansicht: http://www. brunnvalla.ch/schweden/dieschwedischebevoelkerung.pdf, letzter Zugriff: 10.02.2017. 14 Vgl. Lars Cavallin: Fyra perioder fyllda med förväntningar, bakslag och nya impulser 18331983, in: Alf Åberg/Barbro Lindquist/Ders. (Hg.): Katolska kyrkan i Sverige 1783-1983: En historisk återblick, Uppsala 1983, S. 23–45, hier S. 29. 15 „Bitter, Johannes Friedrich Albert, Dr. theol., Titularbischof und [1886–1923] apostolischer Vikar von Schweden, *15.8.1848 in Melle (bei Osnabrück), †19.12.1926 ebd.“, in: Uwe Plaß: Bitter, Johannes Friedrich Albert, in: Friedrich Wilhelm Bautz u.a. (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 29, Herzberg 2008, S. 177–180. 16 Die „Kongregation für die Verbreitung des Glaubens“: bis 1982 die Zentralbehörde des Vatikans, die die missionarische Tätigkeit der katholischen Kirche koordinierte. Vgl. http://www. vatican.va/roman_curia/congregations/cevang/documents/rc_con_cevang_20100524_profile_en.html, letzter Zugriff: 16.08.2017.
Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik |
rinus van Rossum17, widmete Skandinavien danach verstärkt Aufmerksamkeit. Im Sommer 1920 schickte er einen apostolischen Visitator in die nordischen Länder, um einen Missionsplan zu erstellen, und drei Jahre später machte Kardinal van Rossum dann selbst eine Rundreise zu den katholischen Versammlungen in den nordischen Ländern und verwertete diese im Nachgang propagandistisch.18 1924 erschien zunächst in den Niederlanden, und etwas später auch in Deutschland, ein Reisebericht von ihm.19 Seine Darstellung der religiösen Lage in Skandinavien stieß in Schweden auf heftigen Widerstand. Die Leitung des ASP gab beispielsweise im Jahre 1925 eine auf Deutsch verfasste Protestnote zur Veröffentlichung im In- und Ausland heraus.20 Zudem wurde 1923 ein neuer apostolischer Vikar nach Stockholm entsandt. Der aus Bayern stammende Johann Evangelist Müller21 hatte keinerlei Schwedischkenntnisse, keine Erfahrung mit der nordischen Kultur, und präsentierte sich schnell als wesentlich aggressiver als sein Vorgänger Albert Bitter. Letzterer stammte zwar ursprünglich auch aus Deutschland, hatte aber vor seiner Berufung zum apostolischen Vikar bereits einige Zeit in Schweden gearbeitet.22 Während seiner Amtszeit konzentrierte er sich im Wesentlichen auf interne Seelsorge innerhalb der katholischen Gemeinde und verzichtete auf konfessionelle Polemik.23 Müller hingegen zeigte sich wesentlich umtriebiger. Er grenzte sich gegenüber der nicht-katholischen Welt ab und stellte seinen Exklusivitätsanspruch gegenüber anderen christlichen Gemeinden durch Wallfahrten, Feste und Prozessionen offen zur Schau.24 Durch ihn verschlechterte sich das Verhältnis zwischen der katholi17 „Rossum, Wilhelm Marinus van, Kardinal, *3.9.1854 in Zwolle/Niederland, † 30.8.1932 in Maastricht.“, in: Joseph Weier: Rossum, Wilhelm Marinus van, in: Friedrich Wilhelm Bautz u.a. (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8. Herzberg 2008, S. 725– 726. 18 Vgl. Werner: Världsvid 1996, S. 235, 354; Werner: Liberal Theology 2013, S. 170. 19 Vgl. Wilhelm Marinus van Rossum: Die religiöse Lage der Katholiken in den nordischen Ländern, München 1924. 20 Vgl. Sveriges kyrka och romersk propaganda Jahr 1925. 21 Müller, Johann Evangelist (Erik), *14.11.1877 in Gründholm, † 5.4.1965 in Indersdorf, 1923 Ernennung zum Titularbischof von Lorea und Berufung zum Apostolischem Vikar für Schweden. 1953 erster Bischof des neu errichteten Bistums Stockholm. Vgl. Thomas Forstner: Priester in Zeiten des Umbruchs. Identität und Lebenswelt des katholischen Pfarrklerus in Oberbayern 1918 bis 1945, Göttingen 2013, S. 62 f. 22 Vgl. Cavallin: Fyra 1983, S. 30. 23 Vgl. Werner: Världsvid 1996, S. 255 f., 330 f. 24 Vgl. Yvonne Maria Werner: Schwedentum, Katholizismus und europäische Integration: Die katholische Kirche in Schweden nach 1945, in: Kirchliche Zeitgeschichte, 19. Jg., 2006, S. 81–
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schen Gemeinde in Schweden und der Schwedischen Kirche in den 1920er- und 1930er-Jahren zunehmend. Dafür wurde er in der SKT massiv persönlich kritisiert.25 Noch 1934, also mehr als zehn Jahre nach dem Personalwechsel, schrieb die SKT26: […] der alte und geachtete katholische Bischof Bitter wurde in Stockholm abgesetzt und bekam einen Nachfolger. Bischof Bitters kluge und versöhnliche Art den Katholizismus in Schweden zu führen, wurde als Zahmheit und Unvermögen abgestempelt. […] Bischof Müller und seine Kirche besitzen [hingegen] eine Mentalität, die nicht die unsere ist. Er geht nicht auf protestantischen Wegen. Er handelt nicht nach schwedischem Glauben und schwedischer Ehre. […] Eine solche Person hat ihr Asylrecht in unserem Land verwirkt.27
Bemerkenswert ist hier, dass Müller auf Grund seiner Fremdheit kritisiert wird. Dies passierte in der SKT mit katholischen Akteuren immer wieder. Trotz der verstärkten katholischen Aktivitäten war die vielfach beschworene „Katholische Gefahr“ zu einem Großteil jedoch wohl nur imaginiert. Die katholische Kirche blieb während des gesamten Untersuchungszeitraumes in Schweden ein Randphänomen ohne merklichen gesamtgesellschaftlichen Einfluss.28 Als rhetorisches Mittel im Kampf um religiöse und kulturelle Macht erwies sich der Antikatholizismus jedoch als sehr wirksam, denn er half dabei, die schwedische Gesellschaft angesichts eines gemeinsamen „Feindes“ zu einen.29 Erst Ende der 1930er-Jahre, also kurz vor dem Tod von Papst Pius XI., nahm die antikatholische Propaganda aufgrund der geänderten außenpolitischen Lage etwas ab – auch wenn das Phänomen des Antikatholizismus während des gesamten 20. Jahrhunderts in Schweden präsent blieb. Bis 1977, als die letzten Beschränkungen zur Gründung von katholischen Klöstern in Schweden aufgehoben wurden,
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106, hier S. 85; Katolikernas Ansgars-jubileum, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 25, S. 408; Lars Wollmer: Den katolska kyrkan i Sverige, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 25, Nr. 37, S. 449–451. Vgl. Alfred Wihlborg: Nytt instrument för romersk propaganda, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 29, Nr. 30, S. 417 f.; E. N. S.: Katolsk aktivitet, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 30, Nr. 7, S. 81; Nykatolsk aktivism, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 30, Nr. 8, S. 97. Alle Übersetzungen aus dem Schwedischen wurden von der Autorin vorgenommen. Nykatolsk aktivism Jahr 1934. Vgl. Werner, Världsvid 1996, S. 255, 351. Vgl. Bo Stråth: Poverty, Neutrality and Welfare: Three Concepts in the Modern Foundation Myth of Sweden, in: Ders. (Hg.): Myth and Memory in the Construction of Community: Historical Patterns in Europe and Beyond, Bruxelles u.a. 2000, S. 375–401, hier S. 390 f.
Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik |
gab es staatlich sanktionierten und juristisch verankerten Antikatholizismus und selbst in den Diskussionen rund um den EU-Beitritt Schwedens zu Beginn der 1990er-Jahre flammte das Thema wieder auf. In diesem Zusammenhang wurde das Adjektiv „katholisch“ wie zu Beginn des Jahrhunderts gleichbedeutend mit fremd, gefährlich und nicht-schwedisch verwendet. Die Amtszeit von Papst Pius XI. von 1922 bis 1939 kann jedoch eindeutig als die Hochzeit der antikatholischen Propaganda in Schweden bezeichnet werden.30 Betrachtet man die antikatholische Berichterstattung in der SKT während der Amtszeit Pius’ XI. quantitativ, so lässt sich feststellen, dass diese in den ersten zehn Jahren seines Pontifikats relativ konstant blieb. 1935 gab es dann einen bemerkenswerten Ausschlag nach oben und ab 1937 sank die Berichterstattung über die katholische Kirche dann stark ab beziehungsweise wurde positiver. Das Hauptthema der 1920er-Jahre war die gesteigerte Propagandatätigkeit der katholischen Kirche in Schweden. Den Anlass dazu boten einige aktuelle Ereignisse, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Ein Ereignis, das immer wieder in der Berichterstattung der SKT auftaucht, ist die Skandinavienreise des obersten römischen Missionars Kardinal van Rossum.31 Der publizistisch sehr aktive Pfarrer Lars Wollmer bezeichnete diese Reise noch 1929, also sechs Jahre danach, als „einen der größten Fehlgriffe in der römischen Missionsarbeit überhaupt.“32 Rossums Person wird dabei heftig angegriffen. Edvard Leufvén, ein Theologe und damaliger Chefredakteur der SKT, nennt ihn in einem Leitartikel vom 22. August 1923 beispielsweise einen katholischen Kirchenfürsten, der sich mit Pracht und Prunk präsentiert habe. Des Weiteren bezeichnet er ihn als „den mächtigen Chef der Propaganda“33, der sich eben nicht damit zufriedengegeben habe, sich um die eigenen Gläubigen zu kümmern. Die Vertreter der Schwedischen Kirche empfanden die Seelsorge innerhalb der katholischen Gemeinde, deren Mitglieder überwiegend aus Einwanderern bestand, durchaus als legitim. Lediglich das katholische Missionsstreben in Richtung der schwedischen Bevölkerung wurde abgelehnt.34
30 Vgl. Werner: Schwedentum 2000, S. 182. 31 Vgl. Lars Wollmer: Katolska Birgittinerklostret i Djursholm, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 11, 1930, S. 129. 32 Wollmer: katolska kyrkan 1929. 33 Vgl. Edvard Leufvén: ROM, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 19, Nr. 34, 1923, S. 369 f. 34 Vgl. Werner: Världsvid 1996, S. 330 f.; Kloster i Sverige?, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 22, Nr. 11, 1926, S. 105.
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Ein weiteres Ereignis, über das in den 1920er-Jahren in der SKT viel berichtet wurde, war die Gründung eines katholischen Birgittinenklosters in Djurholm bei Stockholm.35 Die Gründung von Klöstern war in Schweden seit der Reformation verboten, was im 20. Jahrhundert wiederholt Anlass zu heftigen Diskussionen bot. Das Klosterwesen stellte laut seinen Kritikern die schärfste Ausprägung des katholischen Autoritätsprinzips dar. Durch seine ihm innewohnende Negierung von Individualrechten, der hierarchischen Ordnung und der Forderung nach Gehorsam und Unterordnung sei es voll und ganz Ausdruck katholischen Denkens und Wesens. Dadurch sei es eine Gefahr für den schwedischen Staat und die schwedische Gesellschaft. Aus diesem Grund bedurfte es selbst nach der Einführung der Religionsfreiheit im Jahre 1951 noch einer königlichen Erlaubnis zur Gründung von Klöstern auf schwedischem Boden.36 Die Schwedin Elisabeth Hesselblad37 umging dieses Verbot zu Beginn der 1920er-Jahre aber, indem sie das von ihr neugegründete Birgittinenkloster als Erholungsheim für Frauen tarnte.38 Das dritte immer wiederkehrende Thema in der SKT, das über den gesamten Untersuchungszeitraum wiederholt behandelt wird, war die angebliche Unterwanderung der Schwedischen Kirche durch die katholische Kirche in Form der hochkirchlichen Bewegung. Sie war inspiriert durch den Anglokatholizismus, suchte aber auch gezielt den Dialog mit der katholischen Kirche. Liturgisch näherte sie sich daher nicht nur anglikanischen, sondern auch katholischen Bräuchen und Ritualen an.39 Die Diskussion rund um diese theologische und liturgische Bewegung wurde zu Beginn der 1920er-Jahre zum Teil sehr aufgeregt geführt. Der Pfarrer 35 Vgl. ebenda; Den katolska propagandan: Varför det romerska ‘vilohemmet‘ i Djurholm tillkommit, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 20, Nr. 10, 1924, S. 104; Wollmer: Birgittinerklostret 1930. 36 Vgl. Werner: Schwedentum 2000, S. 192. 37 Hesselblad, Maria Elisabeth: Sel. Birgittin, *4.6.1870 in Faglavik/Schweden, † 24.4.1957 in Rom, Tochter von Lutheranern, 1902 in den USA zum Katholizismus konvertiert, 1906 in Rom Gelübde als Tochter der hl. Birgitta abgelegt, 1911 Neubegründung des Ordens in Rom, 1923 in Schweden, 5.6.2016 heiliggesprochen. Vgl. Ekkart Sauser: Hesselblad, Maria Elisabeth, in: Friedrich Wilhelm Bautz u.a. (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 22. Herzberg 2008, S. 520–521; Mutter Teresa wird am 4. September in Rom heiliggesprochen, Online-Ansicht: http://www.zeit.de/news/2016-03/15/kirche-vatikan-heiligsprechung-mutter-teresas-am-4-september-15115203, letzter Zugriff: 14.08.2017. 38 Vgl. Edvard Leufvén: Katolsk kloster i Djursholm, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 19, Nr. 41, 1923, S. 467; Wollmer: Birgittinerklostret 1930. 39 Siehe Bengt Ingmar Kilström: Högkyrkligheten i Sverige och Finland under 1900-talet, Delsbo 1990.
Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorikius |
Samuel Gabrielsson schrieb im November 1923 in einem Gastbeitrag in der SKT in diesem Zusammenhang von einer „überhitzten und vergifteten Atmosphäre“40. Die Redaktion der SKT nahm seine Stellungnahme zwar in die Zeitung auf, sah sich jedoch gezwungen, Gabrielsson zu widersprechen: „Zum obenstehenden möchte die Redaktion hinzufügen: […] es ist wohl nicht so schlimm mit dem Fanatismus und all dem, von dem der Artikelverfasser überhitzt fantasiert.“41 Die Kritik an und die Angst vor einer katholischen Unterwanderung der Schwedischen Kirche durch die Hochkirchlichkeit waren aber in der Tat enorm groß. Zahlreiche Artikel in der SKT beschäftigen sich mit der Angst vor einer schleichenden Katholisierung der Schwedischen Kirche.42 Oft werden Gerüchte über schwedische Priester thematisiert, die angeblich zum Katholizismus übergetreten seien, aber aus ökonomischen Gründen ihren Dienst in der Schwedischen Kirche weiter ausführen würden. Schließlich sei es verheirateten Priestern auch nach einer Konversion nicht möglich, eine Anstellung als Priester in der katholischen Kirche zu bekommen und etwas Anderes gelernt hätten die entsprechenden Personen in der Regel nicht. Im Falle einer Konversion drohte den Priestern also Arbeitslosigkeit. Diese Priester würden daher Mitglieder der Schwedischen Kirche bleiben und versuchen, diese von innen heraus zu katholisieren.43 1924 behauptete der Sozialdemokrat Fabian Månsson in einem Vortrag, dass die Hälfte der jüngeren Priester und bis zu zwei Drittel aller Priester in Skåne Kontakt zum Katholizismus hätten. In der SKT sah man sich gezwungen darauf hinzuweisen, dass es für diese Behauptung keinerlei Beweise gäbe und Månsson für seine Übertreibungen bekannt sei.44 Einige Fälle von schwedischen Priestern, die tatsächlich konvertierten, sind jedoch
40 Samuel Gabrielsson: Om de katolicerande tendenserna i Sveriges kyrka, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 19, Nr. 50, 1923, S. 572 f., hier S. 572. 41 Ebenda. 42 Vgl. Den engelska handboksstriden: Ett uttalande av ärkebiskop Söderblom, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 25, Nr. 4, 1929, S. 42 f.; Katolikerna åter på krigsstig mot svenska kyrkan, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 29, Nr. 21, 1925, S. 297; Alfred Wihlborg: Frihet och förpliktelse, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 29, Nr. 44, 1933, S. 604–606. 43 Vgl. Emil Helmer: Romerska propagandan - ett ord i sinom tid, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 19, Nr. 38, 1923, S. 416 f.; Magnus Pfannenstill: En svenska kyrkans präst på vägen till Rom, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 25, Nr. 2, 1929, S. 13–15; Varningsord av biskop Andrae: Katolska faran hotar Sveriges kyrka inifrån, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 32, Nr. 10, 1935, S. 155 f. 44 Vgl. Fabian Månsson om svenska prästerna och katolicismen: Allvarliga beskyllningar, som först måste bevisas, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 20, Nr. 10, 1924, S. 104.
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bekannt. Das prominenteste Beispiel ist wohl Kåre Skredsvik.45 Sein Fall wurde in der SKT ausgiebig besprochen.46 Auf seinem Jahrestreffen im September 1923 in Norrköping gründete der ASP zum Schutz vor der vermeintlichen katholischen Unterwanderung der Schwedischen Kirche den sogenannten Evangelischen Ausschuss. Dieser hatte im Wesentlichen drei Aufgaben: 1. Aufklärung des schwedischen Volkes durch Wort und Schrift über den Katholizismus und seine Bestrebungen; 2. Verbindung mit dem Evangelischen Bund in Deutschland und gleichgesinnten Vereinigungen zum Zwecke einer einheitlichen Arbeitsgemeinschaft; 3. Moralische und materielle Unterstützung des Protestantismus an gefährdeten Punkten.47
Berichte über die Aktivitäten dieses Ausschusses beziehungsweise des Internationalen Verbandes zur Verteidigung des Protestantismus, zu dem der Ausschuss enge Kontakte hatte, nahmen in den Folgejahren breiten Raum in der Berichterstattung der SKT ein.48 Von diesem Zeitpunkt an ist eine Vielzahl der antikatholischen Artikel in der SKT von dessen Mitgliedern Magnus Pfannenstill oder Lars Wollmer verfasst. Beide waren nicht nur im Verband zur Verteidigung des Protestantismus aktiv, sondern auch in der schwedischen Abteilung des Lutherischen Weltkonvents. Wollmer gab in Folge dessen während der 1930er-Jahre die Kirchenzeitung „Kyr45 Vgl. Thomas Skredsvik: Från Wittenberg till Rom: En biografi över Kåre Skredsvik, Skara 2009. 46 Vgl. Alfred Wihlborg: I romerska kyrkans tjänst, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 29, Nr. 25, 1933, S. 328 f.; Lars Wollmer: Än gang Kåre Skredsvik och den svenska kyrkan, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 29, Nr. 26, 1933, S. 369. 47 Protestantische Abwehr katholischer Propaganda in Schweden, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 20, Nr. 4, 1924, S. 34. 48 Vgl. Utskottet till protestantismens värn, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 25, Nr. 15, 1929, S. 175 f.; Lars Wollmer: Protestantismens värn 1930: Fjärde allmänna mötet i Zürich den 5-7 oktober, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 45, 1930, S. 649 f.; Lars Wollmer: Protestantismens värn 1930: De praktiska ärendena vis allmänna mötet i Zürich, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 53, 1930, S. 783; Oscar Hippel: Protestantismens värn, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 28, Nr. 2, 1932, S. 13 f.; Lars Wollmer: Protestantiska Världsförbundet, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 28, Nr. 34, 1932, S. 467; Lars Wollmer: Internationella protestantiska konferensen i Stockholm 10-15 sept. 1932, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 28, Nr. 34, 1932, S. 468; Lars Wollmer: Protestantiska Världsförbundets sjätte allmänna möte i Hemmen. den 23-27 Juli 1934, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 30, Nr. 32, 1934, S. 450 f.
Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik |
kor under Korset“ (Kirchen unterm Kreuz) heraus. Diese Zeitschrift verschrieb sich unter Wollmers Leitung dem Kampf gegen den Kommunismus und der Unterstützung der Kirchen in Osteuropa. Neben zahlreichen antikatholischen Artikeln gibt es aus seiner Feder also auch unzählige antikommunistische Schriften. Teilweise vermischte er diese Bedrohungen auch oder setzte sie gleich. Die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland begrüßte er. Schließlich trat Adolf Hitler als vermeintlicher Retter gegen beide Bedrohungen auf. Ab 1942, nach der Kriegswende, wurden er und seine Zeitschrift daher harsch kritisiert und die Kirchenleitung sah sich gezwungen, Abstand von ihm zu nehmen.49 Während der Amtszeit von Pius XI. war er aber einer der wichtigsten Verfasser von antikatholischen Texten innerhalb der Schwedischen Kirche. Der Gastbeitrag von Samuel Gabriellson aus dem Jahr 1923 ist einer der wenigen Artikel, der positiv über die „katholisierenden Tendenzen in der Schwedischen Kirche“ spricht. Er referiert in seinem Beitrag eine Rede des Bischofs Viktor Rundgren, in der dieser zunächst klarstellt, dass Katholizität nicht zwangsläufig die Unterordnung unter die Autorität des Papstes bedeute: „Jetzt finden sich einige Priester unter uns, die sich keinesfalls wünschen unter die Herrschaft des Papstes zu geraten, die jedoch einiges Katholisierendes mögen.“50 Des Weiteren nimmt er eine Unterscheidung zwischen zwei Tendenzen innerhalb der Bewegung vor. Die eine wolle zur Impfung gegen den Einfluss der Papstkirche beitragen, die andere wolle hingegen eine Brücke zur katholischen Kirche sein. Letztere sei zu verurteilen. Der Versuch, die Kirche geistig reicher zu machen, sei aber legitim. Das habe nichts mit dem Papsttum zu schaffen. „Martin Luther nahm nicht vom Katholizismus Abstand – sondern nur vom Papst.“51 In diesem Text wird also eine klare Unterscheidung zwischen Katholizismus und Papst gezogen. Nur Letzterer wird aufgrund seines Herrschaftsanspruches als Feind dargestellt. Es sei zwar nicht unbedingt notwendig, aber eben auch nicht verwerflich, wenn man sich vom geistigen Leben in anderen Kirchen inspirieren ließe, eine Unterordnung unter die Herrschaft des Papstes sei jedoch unannehmbar. Laut Gabrielsson spiegele dies nur „etwas gesunde lutherische Freiheit und Rechtschaffenheit“52 wider. In der Regel wird jedoch nicht so klar zwischen dem Papst und der Gesamtheit der katholischen Kirche unterschieden. Begriffe wie Katholizismus, katholi49 Vgl. Werner: Liberal Theology 2013, S. 174 f. 50 Gabrielsson: tendenserna 1923. 51 Ebenda. 52 Ebenda.
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sche Kirche, Papst, Papstkirche, Papststuhl, Rom, römische Kirche, römische Kurie oder Vatikan werden meist synonym verwendet. Die Vertreter des Katholizismus in Schweden handeln laut den hier untersuchten Texten wie selbstverständlich im direkten Auftrag Roms – und das heißt: des Papstes.53 Das bedeutet auch, dass sie immer als Vertreter einer fremden Macht wahrgenommen wurden.54 Auch wenn es sich um Schweden handelt, wie etwa die Birgittinenschwester Elisabeth Hesselblad oder Vertreter der katholischen Gemeinde in Stockholm, so wurden sie in der Rhetorik der SKT als fremd klassifiziert. Katholisch sein wurde mit allem verbunden, was als „nicht-schwedisch“ galt.55 1936 heißt es beispielsweise ganz klar: „römisch und schwedisch gehören nicht zusammen.“56 So werden die katholische Kirche, ihre Politik und ihre Vertreter immer wieder als altmodisch, rückständig, ja mittelalterlich dargestellt. Wollmer beispielsweise schrieb 1924, dass der Kampf gegen den „Modernismus“ charakteristisch für die Amtszeit von Pius X. gewesen sei57, und zehn Jahre später behauptete er: „Das Mittelalter verschwindet niemals aus dem Programm der Kurie.“58 Für Schweden wiederum wurde Modernität im 20. Jahrhundert zu einem nationalen Kennzeichen.59 Man fürchtete also weniger katholische Glaubensinhalte oder -formen, als dass über den katholischen Glauben eine fremde politische Macht Einfluss in Schweden erhalten und so die Werte der Nation unterwandern könnte. Die Kirche sah es als ihre Aufgabe an, Staat und Nation zu verteidigen.60 Die katholische Kirche und der Papst wurden also um ihrer Fremdheit willen gefürchtet. Die Verwendung des Begriffs „Katholizismus“ in der SKT deckt sich dabei mit dem allgemeinen Gebrauch dieses Begriffs in Schweden im Untersuchungszeitraum. Laut Werner machte er in der Phase zwischen 1860 und 1930 eine Bedeutungsverschiebung durch. Er verlor zusehends die Verbindung zu religiösen Vorstellungen und wurde stattdessen mit der Bedrohung des Staates und 53 54 55 56 57
Vgl. Leufvén: ROM 1923; Wollmer: katolska kyrkan 1929. Vgl. S: t Erik och påven, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 20, Nr. 25, 1924, S. 274. Vgl. Nykatolsk aktivism 1934. Vgl. Varningsord 1936. Vgl. Lars Wollmer: Nordens katolska biskopar önska Pius X kanoniserad, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 20, Nr. 21, 1924, S. 225 f. 58 Påven och Mussolini, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 30, Nr. 49, 1934, S. 742. 59 Vgl. etwa Orvar Löfgren: Att nationalisera moderniteten, in: Anders Linde-Laursen/Jan Olof Nilsson (Hg.): Nationella identiteter i Norden: Ett fullbordat projekt?, Stockholm 1991, S. 101–115. 60 Vgl. Katolsk förtalskampanj mot Sverige: A. S. P. och Ev. utskottet protestera, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 13, 1930, S. 157–159, hier S. 157.
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der Freiheit des Individuums in Verbindung gebracht. 1860 wurde mit Hilfe von antikatholischer Propaganda die religiöse Einheit auf protestantischem Grund verteidigt. Siebzig Jahre später ging es stattdessen um die Verteidigung der vom Luthertum geprägten, liberaldemokratischen Gesellschaft. Damit glich sich der Sprachgebrauch in Schweden dem europäischen Kontinent an. Auch dort galt der Katholizismus häufig als Gegenkultur zum liberalen Gesellschaftssystem.61 Speziell der deutsche Antikatholizismus auf der Grundlage eines Nationalprotestantismus des 19. Jahrhunderts muss als Inspirationsquelle für den schwedischen Antikatholizismus betrachtet werden. Die Verbindungen nach Deutschland, dem Mutterland der Reformation, waren damals sehr vielfältig und eng. Insbesondere die theologischen Lehrstühle orientierten sich an der deutschen Theologie.62 Dementsprechend gibt es in der antikatholischen Berichterstattung der SKT immer wieder auch Berichte über Deutschland oder es wird gar die deutsche Kritik am Papst einfach übernommen.63 Die antikatholische Berichterstattung in den 1920er-Jahren in der SKT beschäftigte sich aber ganz überwiegend mit der Propaganda und den Aktivitäten der katholischen Kirche in Schweden. Der schwedische Antikatholizismus war zwar aus dem europäischen Ausland inspiriert, doch die Entwicklungen im eigenen Land waren ausschlaggebend für seine Ausgestaltung. In den 1920er-Jahren gab es viel katholisches Wirken in Skandinavien und dementsprechend auch viel antikatholische Propaganda.64 Ein Hauptvorwurf, welcher der katholischen Kirche und dem Papst gleichermaßen immer wieder gemacht wurde, war das ständige Streben nach mehr Macht. Namentlich in Zusammenhang gebracht wurde das Machtstreben zunächst allerdings nicht mit Pius XI., sondern mit dessen Vorgänger. Lars Wollmer schreibt am 21. Mai 1924: „Papst Pius X. (1903–1914) hat kräftig dazu beigetragen, das jetzige Machtgefühl und das Begehren nach Machtzuwachs der römischen Kirche zu begründen und voranzutreiben.“65 Die Hoffnungen auf einen „unpolitischen“ Papst seien von ihm geradezu verspottet worden. Laut Wollmer vertrat Pius X. einen radikalen Ultramontanismus66. Seine Reform der Kurie habe dazu geführt, dass 61 Vgl. Werner: Schwedentum 2000, S. 185–188; Werner: Changing Patterns 2013, S. 135, 139. 62 Vgl. Werner: Världsvid 1996, S. 54 f. 63 Vgl. Romersk framryckning på protestantsik mark, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 19, Nr. 18, 1923, S. 200; Påven och protestantismen, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 7, 1930, S. 76. 64 Vgl. Werner: Världsvid 1996, S. 353. 65 Wollmer: biskopar 1924, hier S. 225. 66 Wollmer verwendet den Begriff als „polemisches Schlagwort […] für eine rückwärtsgewandte papalistische und jesuitisch geprägte ekklesiologische bzw. kanonistische Position innerhalb der kath. Kirche.“ Zitiert nach Klaus Unterburger: Ultramontanismus: Religion
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alle Macht der römischen-katholischen Kirche in die Hände des Papstes gefallen sei. Die bischöfliche Gehorsamspflicht sowie das, unter Pius X. reformierte, kanonische Gesetz hätten dazu geführt, dass jedwede nationale Selbstständigkeit aufgehoben werde. Wenn die nordischen Bischöfe nun eine Seligsprechung von Pius X. befürworteten, ständen sie für ebendiese Ideale.67 In einem anderen Artikel wird Pius X. vorgeworfen, mit der Katholischen Aktion und anderen Propagandaveranstaltungen eine neue Kreuzzugsstimmung heraufbeschworen zu haben.68 Ab 1925 wurde im Zuge des Heiligen Jahres dann auch Pius XI. einige Male persönlich erwähnt und ebenfalls für sein Machtstreben kritisiert. 1926 schreibt die SKT beispielsweise: Das römische Jubeljahr 1925 sollte dazu dienen, die Papstmacht innerhalb und außerhalb der katholischen Welt zu stärken. Pius XI. hat persönlich nichts ausgelassen, um dieses Ziel zu erreichen. Unaufhörlich hat er Feste veranstaltet, Pilgermassen begrüßt und ihnen von den lebenden und toten großen Persönlichkeiten der Katholischen Kirche berichtet.69
In einem Artikel aus dem Jahr 1934 zur Lage in Italien wurde er dann explizit dafür kritisiert, seine Macht in die weltliche Sphäre ausweiten zu wollen: Der Papst will so gerne die Grenzen verwischen und die Prinzipien der katholischen Kirche sogar im weltlichen und kulturellen Leben zur Geltung bringen. Von Seiten des italienischen Staates muss die Grenze daher scharf gezogen und ständig bewacht werden.70
In diesen Aussagen zeigt sich deutlich das lutherisch-protestantische Verständnis von der Trennung der weltlichen und der religiösen Sphäre, welches die Schwedische Kirche verinnerlicht hatte. Kirche und Staat können demnach sehr wohl zusammenarbeiten, allerdings gibt immer die Obrigkeit die Richtung vor.71
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in Geschichte und Gegenwart, Online-Ansicht: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_ SIM_125212, letzter Zugriff: 16.08.2017. Vgl. ebenda. Vgl. Romerska notiser: Katolsk propaganda, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 20, Nr. 44, 1924, S. 470 f. Ur Vatikanens värld, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 22, Nr. 27, 1926, S. 283. Påven och Mussolini 1934. Vgl. Werner: Schwedentum 2000, S. 189.
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Insgesamt wurde die katholische Kirche weniger als ein Gegner im Glauben dargestellt, denn als politischer Feind. Alfred Wihlborg schreibt 1936, dass man zwischen dem Katholizismus als christlicher Religion und kirchenpolitischer Organisation unterscheiden müsse. Der einzelne Katholik verdiene als christlicher Bruder Respekt. Der politischen Organisation müsse man jedoch energischen Widerstand leisten.72 Auch Lars Wollmer hielt die katholische Kirche vor allem als politische Organisation für gefährlich: Die Gewinne der römischen Kirche nach dem Weltkrieg waren weniger religiöser Art, sondern hatten umso mehr politische Bedeutung. Sie gründeten auf einer geschickt geleiteten Konkordatspolitik und einem geschickten Manövrieren der Innenpolitik in den mitteleuropäischen Ländern.73
Für Gösta Hagelin und andere Mitglieder der Schwedischen Kirche wurde der politische Katholizismus vor allem durch die Jesuiten verkörpert. Sie erscheinen daher immer wieder als Feindbilder.74 Wie andere katholische Akteure werden sie aber auch als Vollstrecker päpstlichen Willens dargestellt. Hagelin schreibt 1937 beispielsweise, dass sie in Österreich daran beteiligt wären, einen Gottesstaat zu errichten. Den Bauplan für diesen neuen Staat finde man in der päpstlichen Enzyklika „Quadragesimo anno“ aus dem Jahr 1931.75 Wie man an diesen Beispielen sieht, stand in den 1930er-Jahren die „katholische Gefahr“ im eigenen Land nicht mehr ganz so stark im Fokus wie ein Jahrzehnt zuvor. Stattdessen widmete man Ländern wie Italien76, der Ukraine77, Österreich78, 72 Vgl. Alfred Wihlborg: Katolska kyrkan i Skandinavien: En utpräglad propagandakyrkan, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 32, Nr. 49, 1936, S. 845–847, hier S. 845. 73 Lars Wollmer: Protestantiska Världsförbundets sjätte allmänna möte i Hemmen: 23-27 juli 1934, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 30, Nr. 34, 1938, S. 479 f., hier S. 479. 74 Vgl. z.B. auch Wollmer: biskopar 1924, S. 226. 75 Vgl. Gösta Hagelin: Den evangeliska kyrkans kamp i det nya Österrike, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 33, Nr. 4, 1937, S. 56. 76 Vgl. Påven och Mussolini 1934. 77 Vgl. Lars Wollmer: Evangelisk väckelse i polska Ukraina (Galizien), in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 27, Nr. 46, 1931, S. 609 f.; Uppropp för väckelsen i polska Ukraina: Till Evangeliets Medhjälpare och Vänner, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 31, Nr. 48, 1935, S. 813. 78 Vgl. G. E - m.: Österrikes martyrkyrka, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 32, 1930, S. 460 f.; Övergangsrörelsen i Österrike, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 30, Nr. 46, 1934, S. 688; Lars Wollmer: Protestantismen i Österrike, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 31, Nr. 2, 1935, S. 21 f.
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und Deutschland79 nun vermehrt Aufmerksamkeit. Die quantitative Zunahme einer antikatholischen Berichterstattung im Jahre 1935 wurde durch die weltpolitischen Ereignisse und die Positionierung der katholischen Kirche zu diesen bedingt. So druckte die SKT beispielsweise einen Artikel aus der freikirchlich geprägten Zeitung „Svenska Morgonbladet“ ab, in dem kritisch hinterfragt wurde, warum der Papst zum italienischen Angriff auf Abessinien, dem heutigen Äthiopien, schweige.80 Im Frühjahr 1937 wird er dann mehrfach im Zusammenhang mit seiner Kritik am Nationalsozialismus erwähnt. Auch diese betrachtete man in gewohnter Manier eher ablehnend. Beispielsweise zitierte man den Schriftsteller Bertil Malmberg, der darauf hinwies, dass die „klerikalen Agitatoren in Deutschland“ nicht um die Freiheit an sich kämpften, sondern nur um die Freiheit der katholischen Kirche. Diese wolle selbst bestimmen, was zur Freiheit eines christlichen Menschen gehöre. Pius XI. wird in diesem Zusammenhang erneut der Vorwurf gemacht, er handle nur aus machtpolitischen Überlegungen heraus.81 Als er sich in seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom März 1937 gegen die NS-Propaganda anlässlich der sogenannten Klosterprozesse82 in Deutschland aussprach, wird ihm dies ebenfalls negativ ausgelegt. Man sah die altbekannten Vorurteile gegen das katholische Klosterwesen bestätigt und begrüßte das nationalsozialistische Vorgehen.83 Ab 1938 ging die antikatholische Berichterstattung dann stark zurück. Die Bedrohungslage war Ende der 1930er-Jahre anscheinend so vielfältig geworden, dass die kritische Wahrnehmung der katholischen Kirche automatisch in den Hintergrund rückte. Zu nennen sind hier zum Ersten der Nationalsozialismus, der sich mit fortschreitender Zeit immer mehr als Kirchenfeind präsentierte, während man anfangs noch geglaubt hatte, er sei gerade den protestantischen Kirchen gegenüber wohlgesonnen; zum Zweiten die kommunistische Kirchenpolitik in der Sowjet-
79 Vgl. Carl Gösta Lagerfelt: Brev från Tyskland: Ett protestantiskt konkordat, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 27, Nr. 22, 1926, S. 292; Lars Wollmer: Från det evangeliska Berlin, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 27, Nr. 23, 1931, S. 306 f.; Ett märkligt kyrkopolitiskt fördrag, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 27, Nr. 44, 1931, S. 581; Per Pehrsson: Kyrka och stat i Tyskland, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 29, Nr. 29, 1933, S. 407 f.; Per Pehrsson: Från tyska kyrkostriden, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 30, Nr. 2, 1934, S. 17 f. 80 Vgl. Varför tiger påven?, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 31, Nr. 34, 1935, S. 510. 81 Vgl. Vatikanen och tyska riket, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 33, Nr. 15, 1937, S. 241. 82 Siehe dazu: Hans Günter Hockerts: Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf, Mainz 1971. 83 Vgl. Klosterprocesserna i Tyskland, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 33, Nr. 19, 1937, S. 313.
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union84; zum Dritten die sich zusehends verschlechternde Lage der protestantischen Kirchen in Südeuropa; und viertens die akute Kriegsgefahr in Europa. Der überraschend lange Nachruf auf Papst Pius XI. ist dementsprechend positiv gehalten. Albert Lysander, der in der hochkirchlichen Bewegung aktiv war, beschreibt ihn dort als intelligenten und diplomatischen Mann. Er sei zudem an protestantischer Wissenschaft und ökumenischer Arbeit interessiert gewesen. Darüber hinaus betont Lysander, dass Pius im Widerstand gegen den Kommunismus und die religionsfeindliche Propaganda in Russland aktiv gewesen sei. Dies wertet Lysander als wichtige und bemerkenswerte Arbeit. Der Kampf der katholischen Kirche für das Überleben des christlichen Glaubens in der Sowjetunion sei unter Pius XI. vorbildlich und bewundernswert gewesen.85 Von seinem Nachfolger Pius XII. erwartete man in der ökumenischen Bewegung einen versöhnlicheren Ton gegenüber dem Protestantismus, als man es von Pius XI. gewohnt war. Der deutsche Ökumeniker Adolf Keller schreibt 1939 in der SKT, dass die erste päpstliche Botschaft Pius’ XII. „ein Wort über Frieden auch zwischen den Kirchen“86 sein wolle. Allerdings deuten einige Artikel darauf hin, dass man sich auch von Pius XI. in der Schwedischen Kirche zunächst ein anderes Verhalten als von seinen Vorgängern erwartet hatte und letztlich enttäuscht wurde. Nachhaltig verändert hat sich die Beziehung zwischen der katholischen Kirche und den protestantischen Kirchen dann erst mit dem Zweiten Vatikanum in den 1960er-Jahren.87 Zur Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik der Schwedischen Kirche in den 1920er- und 1930er-Jahren lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Persönlichkeit Pius XI. eine geringere Rolle spielte als erwartet. Die antikatholische Berichterstattung in den 1920er-Jahren konzentrierte sich vor allem auf die katholische Mission und Propaganda im eigenen Land. In den Fällen, in denen die 84 Vgl. Förbönsdag för Rysslands förföljda kristna: En vädjan från svenska biskopsmötet, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 9, 1930, S. 97 f.; Protestmöte mot Sovjets religionsförtryck: En opinionsyttring över 3,000 personer, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 10, 1930, S. 120 f.; Kristenheten och det ryska martyriet, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 48, 1930, S. 697; Lars Wollmer: Luthersk folksillra i nöd: De ryska flyktingarna i Harbin, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 28, Nr. 18, 1932, S. 231–233; Religionen skall utrotas: De gudlösas femårsplan. Nytt dekret utfärdat, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 28, Nr. 46, 1932, S. 625 f. 85 Vgl. Albert Lysander: Pius XI.: En kyrkofurstes eftermäle, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 35, 1939, S. 129–131. 86 Adolf Keller: Påvevalet och Protestantismen, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 35, Nr. 13, 1939, S. 244. 87 Vgl. Werner: Schwedentum 2000, S. 190.
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katholische Kirche nicht nur als abstrakte Organisation kritisiert wurde, sondern konkrete Personen angegriffen wurden, handelte es sich in der Regel nicht um Papst Pius XI., sondern um Persönlichkeiten, deren Aktivitätsfeld in Schweden oder Skandinavien lag; Protagonisten also, mit denen man direkt konfrontiert war. Gleichzeitig wurde diesen Akteuren in der SKT jedoch kaum die Fähigkeit zu autonomem Handeln zugesprochen. Sie wurden in der Berichterstattung als aus Rom fremdgesteuerte Marionetten, als Willensvollstrecker des Pontifex dargestellt. Katholische Kirche war für die Vertreter der Schwedischen Kirche in der Regel gleich Papstkirche. Das kommt in den zahlreichen synonym verwendeten Begriffen wie katholische Kirche, Papsttum, Rom, etc. zum Ausdruck. Jede Kritik am Katholizismus war damit auch eine Kritik am Pontifex. – allerdings eher an der abstrakten Figur des Papstes, denn an der konkreten Persönlichkeit Pius’ XI. Auf letztere wird erst ab 1925 vereinzelt Bezug genommen. Man erhoffte sich von Pius XI. ein umsichtigeres Verhalten als von seinen Vorgängern und hielt sich wohl deshalb zunächst mit Kritik an ihm zurück. Im Laufe der Jahre stellte die Berichterstattung der SKT ihn dann aber immer mehr in eine Reihe mit seinen Vorgängern im Papstamt, denen ein „typisch katholisches“ Streben nach Macht unterstellt wurde.88 Dabei stilisierten die Autoren den Katholizismus zu einem Gegenentwurf zum Schwedentum. Der Katholizismus sei rückständig und demokratiefeindlich und daher unvereinbar mit der modernen, liberalen schwedischen Gesellschaft. Ende der 1930er-Jahre wurde jedoch zunehmend deutlich, dass der Faschismus und der Kommunismus die größeren Bedrohungen darstellten. Daraufhin nahm die Kritik an Pius XI. sowie die gesamte antikatholische Berichterstattung ab. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs flammten antikatholische Ressentiments jedoch erneut auf und blieben teilweise sogar bis in die 1990er-Jahre bestehen. Quellen- und Literaturverzeichnis
Åberg, Alf/Lindquist, Barbro/Cavallin, Lars (Hg.): Katolska kyrkan i Sverige 1783– 1983: En historisk återblick, Uppsala 1983. Cavallin, Lars: Fyra perioder fyllda med förväntningar, bakslag och nya impulser 1833–1983, in: Alf Åberg/Barbro Lindquist/Ders. (Hg.): Katolska kyrkan i Sverige 1783–1983: En historisk återblick, Uppsala 1983, S. 23–45.
88 Vgl. Påven och protestantismen 1930, Wollmer: biskopar 1924; Wollmer: katolska kyrkan 1929, S. 450; Wollmer: Världsförbundets sjätte möte 1934.
Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik |
Den engelska handboksstriden: Ett uttalande av ärkebiskop Söderblom, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 25, Nr. 4, 1929, S. 42 f. Den katolska propagandan: Varför det romerska ‚vilohemmet‘ i Djurholm tillkommit, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 20, Nr. 10, 1924, S. 104. E. N. S.: Katolsk aktivitet, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 30, Nr. 7, 1934, S. 81. Ett märkligt kyrkopolitiskt fördrag, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 27, Nr. 44, 1931, S. 581. Fabian Månsson om svenska prästerna och katolicismen: Allvarliga beskyllningar, som först måste bevisas, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 20, Nr.10, 1924, S. 104. Forstner, Thomas: Priester in Zeiten des Umbruchs. Identität und Lebenswelt des katholischen Pfarrklerus in Oberbayern 1918 bis 1945, Göttingen 2013. Förbönsdag för Rysslands förföljda kristna: En vädjan från svenska biskopsmötet, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 9, 1930, S. 97 f. G. E - m.: Österrikes martyrkyrka, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 32, 1930, S. 460. Gabrielsson, Samuel: Om de katolicerande tendenserna i Sveriges kyrka, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 19, Nr. 50, 1923, S. 572 f. Hagelin, Gösta: Den evangeliska kyrkans kamp i det nya Österrike, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 33, Nr. 4, 1937, S. 56. Helmer, Emil: Romerska propagandan – ett ord i sinom tid, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 19, Nr. 38, 1923, S. 416 f. Hippel, Oscar: Protestantismens värn, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 28, Nr. 2, 32, S. 13 f. Hockerts, Hans Günter: Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf, Mainz 1971, Online-Ansicht: http://www.vatican. va/roman_curia/congregations/cevang/documents/rc_con_cevang_20100524_ profile_en.html, letzter Zugriff: 16.08.2017. Jarlert, Anders: The Myth of Sweden as a Peace-Power State and its Religious Motivations, in: Kirchliche Zeitgeschichte, 27. Jg, 2014, S. 257–262. Katolikerna åter på krigsstig mot svenska kyrkan, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 29, Nr. 21, 1933, S. 297. Katolikernas Ansgars-jubileum, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 25, 1929, S. 408. Katolsk förtalskampanj mot Sverige: A. S. P. och Ev. utskottet protestera, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 26, Nr. 13, 1930, S. 157–159. Keller, Adolf: Påvevalet och Protestantismen, in: Svensk Kyrkotidning, Vol. 35, Nr. 13, 1939, S. 244.
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Die Rolle des Papstes in der antikatholischen Rhetorik |
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Dirk Schuster
Papst und Papsttum aus der Perspektive der Kirchenbewegung Deutsche Christen
Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen, deren Deutung des Papsttums im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen steht, kann als die radikalste und gleichzeitig einflussreichste innerprotestantische, deutsch-christliche Gruppierung im „Dritten Reich“ angesehen werden. Ihr Glaubensbild propagierte eine Anlehnung der kirchlichen Lehre an die nationalsozialistische Ideologie und verstand die menschliche Einteilung in „Rassen“ als eine von Gott gewollte Ordnung. Hinzu kam die Vorstellung, eine überkonfessionelle Nationalkirche errichten zu müssen, um hierdurch von innen heraus zum endgültigen Aufbau des „Dritten Reichs“ beizutragen.1 Der Rassengedanke sowie der Glaube, die Deutschen seien Gottes auserwähltes Volk, mussten seitens der Kirchenbewegung Deutsche Christen zwangsläufig zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Katholizismus und dessen als universalistisch ausgerichtetem Kirchenverständnis auf der einen sowie mit den deutschen Katholiken auf der anderen Seite führen. Denn Letztere gehörten laut dem theologischen Weltbild der Kirchenbewegung aufgrund ihrer vermeintlichen „völkischen“ Zugehörigkeit ebenfalls zu Gottes auserwähltem Volk und sollten entsprechend mittelfristig Teil der anvisierten Nationalkirche werden, die alle „deutschen Christen“ in einer Kirche vereinen sollte. Da die bisherige Forschung2 das Verständnis der Kirchenbewegung gegenüber deutschen Katholiken sowie dem Papsttum als Hirte der gesamtkatholischen Kirche auf Erden nicht behandelt hat, wird im Folgenden auf Grundlage von Druckmaterialien der Kirchenbewegung die Auseinandersetzung mit dem Papsttum vor dem Hintergrund des deutsch-christlichen Glaubensbildes nachgezeichnet. Dabei 1
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Ausführlich zum Glaubensbild der Kirchenbewegung bezüglich „Volk“ und „Drittem Reich“: Dirk Schuster: Die Lehre vom „arischen“ Christentum. Das wissenschaftliche Selbstverständnis im Eisenacher „Entjudungsinstitut“ (Kirche – Konfession – Religion 70), Göttingen 2017, S. 45–98. Zur Kirchenbewegung Deutsche Christen grundlegend: Susanne Böhm: Deutsche Christen in der Thüringer evangelischen Kirche (1927–1945), Leipzig 2008; Oliver Arnhold: „Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Bd. 1: Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1933 (Studien zu Kirche und Israel 25/1), Berlin 2010.
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ist speziell der Frage nachzugehen, welche Funktion das Papsttum im Zusammenhang mit der allgemeinen Behandlung des Katholizismus im Glaubensverständnis der Kirchenbewegung Deutsche Christen einnahm. Als Grundlage zur Beantwortung der Frage, wie die Kirchenbewegung das Papsttum vor dem Hintergrund der deutsch-christlichen, rassisch basierten „arteigenen“ Glaubenslehre deutete, dienen die beiden von der Kirchenbewegung Deutsche Christen herausgegebenen Zeitungen „Die Nationalkirche – Briefe an deutsche Christen“ (vormals „Briefe an deutsche Christen“) sowie das ab 1937 erschienene Monatsblatt „Deutsche Frömmigkeit“. „Briefe an deutsche Christen“ erschien erstmals im Juli 1932 als Monatsblatt unter der Herausgabe von Siegfried Leffler (1900 bis 1983). 1937 löste Heinz Dungs (1898 bis 1949)3 den bisherigen Schriftleiter Wilhelm Bauer (1889 bis 1969) der nunmehr unter dem Titel „Die Nationalkirche – Briefe an deutsche Christen“ wöchentlich mit einer Auflage von 13.000 Exemplaren erscheinenden Zeitschrift ab. Zur selben Zeit wechselte die Herausgeberschaft zu Julius Leutheuser (1900 bis 1942), um dem Blatt eine noch stärkere (kirchen-)politische Stoßrichtung zu verleihen.4 Bauer wiederum übernahm 1937 die Schriftleitung der Monatsschrift „Deutsche Frömmigkeit“, welche die von der Volksmissionarischen Bewegung Sachsen (Deutsche Christen) herausgegebene Monatsschrift „Christenkreuz und Hakenkreuz“ ablöste, nachdem sich die Volksmissionarische Bewegung Sachsen 1936 der Kirchenbewegung Deutsche Christen angegliedert hatte.5 „Christenkreuz und Hakenkreuz“ erschien 1934 laut Eigenangabe in einer Gesamtauflagenstärke von 40.000 Exemplaren. Infolge 3
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Zu Heinz Dungs, Hauptverantwortlicher für das Pressewesen der Kirchenbewegung Deutsche Christen, vgl. Holger Weitenhagen: Pfarrer Karl Dungs – ein konsequenter Deutscher Christ in Essen-Kupferdreh, in: Evangelischer Stadtkirchenverband Essen (Hg.): Die Evangelische Kirche in Essen vor dem Hintergrund von „nationaler Erhebung“ und nationaler Katastrophe 1930 bis 1950, Essen 2003, S. 51–65; ders.: Evangelisch und deutsch. Heinz Dungs und die Pressepolitik der Deutschen Christen (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 146), Köln 2001. Vgl. hierzu Heinz-Werner Koch/Folkert Rickers/Hannelore Schneider (Hg.): Marie Begas: Tagebücher zum Kirchenkampf 1933–1938, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 600, Anm. 34. Dort wird fälschlicherweise angegeben, Julius Leutheuser hätte 1937 die Schriftleitung von „Die Nationalkirche“ übernommen. Die Auflagenstärke nach Rainer Hering: Evangelium im Dritten Reich. Die Glaubensbewegung Deutsche Christen und ihre Periodika, in: Michal Grunewald/Uwe Puschner (Hg.): Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern u.a. 2008, S. 437–456, hier S. 444. Durch die ideologische Nähe der Kirchenbewegung und der Volksmissionarischen Bewegung wird die Zeitschrift „Christenkreuz und Hakenkreuz“ mit in die Analyse einbezogen, die maßgeblich von Walter Grundmann geprägt war. Zu Grundmann vgl. Susannah He-
Papst und Papsttum aus der Perspektive der Kirchenbewegung Deutsche Christen |
der kriegsbedingten Papiereinschränkungen stellten „Die Nationalkirche“ sowie die „Deutsche Frömmigkeit“ Mitte 1941 ihr Erscheinen ein. 1. Das Glaubensbild der Kirchenbewegung Deutsche Christen
Die beiden jungen Vikare und überzeugten Nationalsozialisten Julius Leutheuser und Siegfried Leffler gründeten 1927 in Ostthüringen eine innerprotestantische Organisation, die später unter der Bezeichnung Deutsche Christen bekannt werden sollte. 1933, nachdem es der Kirchenbewegung gelungen war, die meisten Stimmen bei der Thüringer Landeskirchentagswahl auf sich zu vereinen, übernahm sie die vollständige Kontrolle über die Thüringer Landeskirche und behielt diese bis Kriegsende. Im Laufe der 1930er-Jahre erweiterte die Kirchenbewegung ihren Einfluss auf weitere Landeskirchen und war bei Kriegsausbruch 1939 die einflussreichste deutsch-christliche Organisation im „Dritten Reich“.6 Das Glaubensbild, welches an dieser Stelle für das allgemeinere Verständnis lediglich kurz angeschnitten werden soll, war von einer völkischen Christentumsvorstellung geprägt. Die bereits in christlich-deutschen Kreisen ab dem späten 19. Jahrhundert formulierten Vorstellungen, das deutsche Volk sei das auserwählte Volk Gottes und „Rasse“ sowie „Volk“ gehörten zur göttlichen Schöpfungsordnung, verbanden die beiden Vikare mit der politischen Ideologie des Nationalsozialismus. Die Gegenwart der Weimarer Republik deutete die noch kleine Gruppierung als durchgehend negativ und beurteilte die Weltkriegsniederlage von 1918 sowie die anschließende Ausrufung der Republik als eine Strafe Gottes infolge des Abfallens der Deutschen von ihrem Glauben. Rassenmischung und ein angeblich jüdischer Einfluss auf das deutsche Volk hätten seit dem 19. Jahrhundert zur Ausbreitung von Liberalismus, Arbeiterbewegung, Demokratie und Kapitalismus geführt. Doch Gott habe sich nicht für immer von seinem Volk abgewendet, so die Annahme der Kirchenbewegung. Vielmehr habe er in der dunkelsten Stunde des deutschen Volkes diesem einen neuen Erlöser gesandt: Adolf Hitler.7 Hitler, betitelt als der „Führer von Gottes Gnaden“,
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schel: The Aryan Jesus: Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton (New Jersey) 2008; Schuster: Lehre 2017. Ausführlich hierzu Arnhold: „Entjudung“, Bd. 1 2010. Ausführlich hierzu: Dirk Schuster: „Führer von Gottes Gnaden“. Das deutsch-christliche Verständnis vom Erlöser Adolf Hitler, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 68. Jg., Heft 3, 2016, S. 277–285.
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sprach man seitens der Kirchenbewegung Deutsche Christen die von Gott auferlegte Aufgabe zu, das „Dritte Reich“ auf gesellschaftlicher und politischer Ebene zu errichten; ein Prozess, dem sich infolge dieses „göttlichen Auftrages“ auch die Kirche anzuschließen habe. An sich selbst stellte man den Anspruch, sich der „Volksseele“ annehmen zu müssen, um über die religiöse Einigung des deutschen Volkes einen aktiven und notwendigen Beitrag zum Aufbau des „Dritten Reichs“ leisten zu können. Rein konfessionelle Gegensätze nahmen bei der Agitation der Kirchenbewegung so gut wie keinen Raum ein, da es ihr zuallererst um die Schaffung einer „Volksgemeinschaft“ ging.8 Dabei unterschieden die Protagonisten der Kirchenbewegung Deutsche Christen zwischen der römisch-katholischen Amtskirche auf der einen, sowie „deutschen“ respektive „germanischen“ Katholiken auf der anderen Seite und konnten damit an Diskurse anknüpfen, die bereits in der völkischen Bewegung des deutschen Kaiserreichs stattgefunden hatten.9 Jene frühen Vertreter der Idee eines „deutschen Christentums“ waren zwar fast ausschließlich evangelisch geprägt und orientierten sich in ihrem Konzept einer „Deutschkirche“ am Protestantismus, was entsprechend teils heftige Angriffe auf den Katholizismus beinhaltete. Dennoch erhoben sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige Stimmen innerhalb dieser christlich-völkischen Bewegung, die zwischen „deutschen“ Katholiken im rassischen Verständnis sowie der „römischen“ Amtskirche unterschieden.10 Eine solche Einschätzung korrelierte wiederum mit Intellektuellen-Diskursen im 19. Jahrhundert, welche die deutsche Geschichte und damit die eigene Identität von der katholisch geprägten Vergangenheit zu entkoppeln versuchten.11 Die Klassifizierung und damit einhergehende Abgrenzung von „Rom“ als etwas Fremdrassiges, als etwas Nicht-germanisches, findet sich später in vielen histori8 Zum nationalsozialistischen Konzept der „Volksgemeinschaft“ vgl. Detlef SchmiechenAckermann (Hg.): „Volksgemeinschaft“: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte (Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ 1), Paderborn u.a. 2012. 9 Zur heterogen völkischen Bewegung im deutschen Kaiserreich vgl. Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. 10 Uwe Puschner: Rasse und Religion. Die Ideologie arteigener Religionsentwürfe, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 147), Berlin/Boston (Massachusetts) 2015, S. 145–156, hier S. 154. 11 Adrian Hastings: Nationhood and the Nation-State: England and Germany, in: Hans-Dieter Metzger (Hg.): Religious Thinking and National Identity, Berlin/Wien 2000, S. 17–37, hier S. 33.
Papst und Papsttum aus der Perspektive der Kirchenbewegung Deutsche Christen |
schen Deutungen des „Dritten Reichs“.12 So sei der Niedergang des antiken Imperiums auf Rassenmischungen zurückzuführen, ein Prozess, der bereits vor dem 4. Jahrhundert und der Etablierung des Christentums als Staatsreligion eingesetzt habe.13 An derartige Diskurse anknüpfend war es für die Kirchenbewegung Deutsche Christen ein Leichtes, das „römische“ Papsttum ebenfalls als etwas Fremdes, Nicht-germanisches zu präsentieren,14 weshalb sie beispielhaft das Papstamt als eine Fortführung der antiken jüdischen Tempelreligion infolge jener vermeintlichen biologischen und geistigen Rassenmischungen verstanden. 2. „Rom“ als Projektionsfläche für „internationalistisch“ und „jüdisch“
In diesem Zusammenhang fungierte „Rom“ als eine abstrakte Projektionsfläche für den seitens der Kirchenbewegung eigentlichen Feind des deutschen Volkes: das Judentum.15 Walter Grundmann (1906 bis 1976), Professor für völkische Theologie und Neues Testament in Jena, einer der Hauptideologen der Kirchenbewegung sowie wissenschaftlicher Leiter des 1939 gegründeten „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“16, sah entsprechend im Papsttum eine Fortführung „jüdischen Gedankengutes“, dessen sich das deutsche Volk zu erwehren habe:
12 Die Verwendung des Terminus Rom zur Beschreibung der katholischen Kirche implizierte gleichzeitig eine geografische und damit einhergehend rassische Trennung vom „germanischen Norden“, um deutsche Katholiken aus einer derartigen „religiösen Rassentrennung“ extrahieren zu können. 13 Vgl. hierzu ausführlich: Johann Chapoutot: Der Nationalsozialismus und die Antike, Darmstadt 2014 (französische Erstveröffentlichung 2008), S. 344–348. 14 Bereits das Motto der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einflussreichen „HammerBewegung“ von Theodor Fritsch forderte neben der „Ausscheidung des Judentums“ eine vollständige Trennung von Rom. Uwe Puschner: Völkischer Antisemitismus, in: Ernst Baltrusch/Uwe Puschner (Hg.): Jüdische Lebenswelten. Von der Antike bis zur Gegenwart (Zivilisation & Geschichte 40), Frankfurt am Main 2016, S. 267–283, hier S. 279. 15 Zur Feindbildkonstruktion der Kirchenbewegung Deutsche Christen vgl. Schuster: Lehre 2017. 16 Zu dem Institut vgl. Heschel: Jesus 2008; Oliver Arnhold: „Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Bd. 2: Das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ 1939–1945 (Studien zu Kirche und Israel 25/2), Berlin 2010; Schuster: Lehre 2017.
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| Dirk Schuster Die Auseinandersetzungen in der Kirche gehen zutiefst um die Frage, ob das Christentum frei wird von der jüdischen Umklammerung und Konstruktion und den Weg zu eigener und deutscher Gestalt findet. Insofern geht es um die Fortsetzung der Reformation. Luthers Absage an das Papsttum war zugleich eine Absage an religiöse Grundgedanken des Judentums, denn in der religiösen Konstruktion des Papsttums, die das Reich Gottes als irdisch–überirdische, in die Hand der Menschen gelegte Macht versteht und die Idee der [jüdischen; D. S.] Priesterherrschaft verwirklicht, hat der Jude über Jesus Christus gesiegt. […] Die nationalsozialistische Weltanschauung, die den Rassegedanken in den Mittelpunkt aller Betrachtung rückt, führt auch auf diesem Gebiet zu fruchtbarem Neuansatz des frommen Lebens und der wissenschaftlichen Arbeit. […] Es geht zutieftst darum, daß das fromme Leben der deutschen Nation auch vom letzten jüdischen Einfluß freigekämpft wird, damit es wachse aus seiner Art heraus, die ihm der Schöpfer gab hin zur freimachenden Begegnung mit dem [sic!], in dem Gott als Vater zu uns kommt und uns – nicht zum Judentum, sondern – zur Anbetung im Geist und in der Wahrheit ruft.17
Bei Grundmann steht aber nicht die Auseinandersetzung des deutschen Protestantismus mit dem Papsttum im Vordergrund, sondern der Kampf für ein „rassengemäßes“, „arteigenes“ Christentum des deutschen Volkes, dessen größter Feind das Judentum sei.18 Das Papsttum dient in diesem Zusammenhang lediglich als ein Beispiel für „internationalistische“ Vorstellungen innerhalb der unterschiedlichen christlichen Konfessionen, hinter denen sich letztendlich immer „jüdisches Gedankengut“ verberge. Eine ähnliche Übertragung findet sich in einer 1943 veröffentlichten Werbeschrift für das genannte Institut: Ebenso hat die äußere Form der Feiergestaltung im Kultus der Kirche stark jüdische Prägung: In der Form des Priesterdienstes der römischen Kirche hat der Priesterdienst des Tempels der Juden seine Fortsetzung und Weiterbildung erfahren. Das Judentum hat seine besondere Kultus-Sprache: das Hebräische; die römische Kirche hat
17 Walter Grundmann: „Das Heil kommt von den Juden…!“ Eine Schicksalsfrage an die Christen deutscher Nation, in: Deutsche Frömmigkeit, 6. Jg., Heft 9, September 1938, S. 1–8, hier S. 7 f. 18 Vgl. hierzu besonders Walter Grundmann: Das Gesetz der Volksgemeinschaft und der Kampf ums Christentum. Grundsätzliche Erwägungen zum Problem der Toleranz, in: Deutsche Frömmigkeit, 6. Jg., Heft 11, November 1938, S. 1–8.
Papst und Papsttum aus der Perspektive der Kirchenbewegung Deutsche Christen |
den Grundsatz übernommen und hat das Lateinische als besondere Kultussprache. Sie gibt dem Kultus einen internationalen Charakter, ganz im Sinne jüdischer Ziele.19
Johannes Leipoldt (1880 bis 1965), von 1916 bis 1954 Professor für Neues Testament in Leipzig, Lehrer von Walter Grundmann und nach diesem produktivster Mitarbeiter des genannten „Entjudungsinstituts“,20 vernahm im Papstamt ebenso eine direkte Weiterführung „jüdischen Gedankengutes“. Die „Sprüche der Väter“ in der Mischna, der sogenannten mündlichen Tora, zählen die jüdischen Lehrer von Moses an auf, um die gesamten Überlieferungen als gesichert legitimieren zu können. Genau dieses „jüdische Gedankengut“ ließe sich in der katholischen Kirche in Bezug auf die Bischofslisten und die apostolische Nachfolge des Papsttums finden.21 Ohne es explizit auszusprechen, unterstellte Leipoldt damit dem Papsttum, dass sich dessen Herrschaftsanspruch über die gesamte Christenheit aus jüdischem Gedankengut heraus legitimiere. Aber weil Religion immer einen Bund mit „Volkstum“ und „Heimat“ schließen müsse, könne sich die katholische Kirche in Deutschland nicht einer „artgemäßen Gestaltung“ entziehen, so der Leipziger Neutestamentler.22 Für Leipoldt war damit Religion immer rassisch bedingt, weshalb sich der Katholizismus in Deutschland den rassischen Gegebenheiten vor Ort anpassen müsse. Zusammengenommen mit dem Vorwurf des jüdischen Ursprungs der Papstidee formulierte er indirekt, die Katholiken in Deutschland
19 Hugo Pich: Frei vom Juden – auch im Glauben!, Sibiu-Hermannstadt 1943, S. 7 f. Die Werbeschrift entstand im Zusammenhang mit der 1942 durch Siebenbürger Sachsen gegründeten Außenstelle des Instituts im rumänischen Hermannstadt. Zu jener Außenstelle vgl. Dirk Schuster: Eine unheilvolle Verbindung. Die Hermannstädter Außenstelle des „Institutes zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, in: Zugänge. Jahrbuch des Evangelischen Freundeskreises Siebenbürgen, 41. Jg., 2013, S. 57– 83. 20 Zu Leipoldt vgl. Schuster: Lehre 2017 sowie ders.: „Jesus ist von jüdischer Art weit entfernt.“ Die Konstruktion eines „arteigenen“, nichtjüdischen Jesu bei Johannes Leipoldt, in: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.): Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im „Dritten Reich“ (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Berichte und Studien 71), Göttingen 2016, S. 189–201. 21 Johannes Leipoldt: Gegenwartsfragen in der neutestamentlichen Wissenschaft, Leipzig 1935, S. 112. 22 Ebenda, S. 128. Zur Bedeutung von „Heimat“ in völkischen Diskursen vgl. Ulrich Linse: „Fundamentalistischer“ Heimatschutz. Die „Naturphilosophie“ Reinhard Falters, in: Uwe Puschner/G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmunster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 156–178.
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müssten sich vom Papsttum lösen, um eine rassische Ausrichtung ihres eigenen Glaubens gewährleisten zu können. Derartige Ansichten, „Rom“ als Fortführung der jüdischen Religion zu deuten, waren nicht neu, sondern bereits in der völkischen Bewegung der Zwischenkriegszeit präsent. So benannte Max Robert Gerstenhauer (1873 bis 1940), einer der führenden Vertreter der deutsch-christlichen Ideologie in der Weimarer Republik, die „heiligen Ideale des Deutschtums“, für die jeder Deutschreligiöse zu kämpfen habe: „Kampf gegen die römisch-jüdische Afterreligion und all ihre Schutztruppen, Kampf gegen die tausendjährige Unterdrückung und Verfälschung des deutschen Geistes durch die römisch-jüdischen […].“23 Der „römische Geist“ wurde in den christlich-völkischen Kreisen entsprechend als eine Fortführung des „jüdischen Geistes“ verstanden und habe mit der ursprünglichen Lehre Jesu nichts gemein. Zur Vollendung des „deutschen Christentums“ galt es wiederum, alle jüdischen Einflüsse und damit auch jenen „römischen Geist“ zu beseitigen, worin sich der für die gesamte völkische Bewegung typische Antisemitismus widerspiegelt.24 Die Kontrastierung eines „internationalistischen“ und weltumspannenden Christentums gegenüber dem eigenen „artgemäßen“, deutsch-christlichen Glauben ermöglichte nicht nur den propagandistischen Vorwurf einer Fortführung „jüdischer Weltherrschaftsträume“ durch die katholische Kirche. Letztendlich ging es der Kirchenbewegung um die Schaffung eines klaren Abgrenzungsschemas zwischen „gut“ und „böse“. Das eigene, „artgemäße“ Christentum allein habe heilserfüllenden Charakter für das deutsche Volk. Weil die Glaubenskonzeption der Kirchenbewegung auf rassischen Grundlagen fußte und Rasse im Verständnis der Kirchenbewegung eine von Gott geschaffene Ordnung war, widersetzten sich 23 Max Robert Gerstenhauer: Was ist Deutsch-Christentum?, Berlin 1930, S. 30, hier zitiert nach Puschner: Rasse 2015, S. 156. Zu Gerstenhauer vgl. Alexandra Esche: „[D]amit es auch wirklich etwas Gutes wird!“ Max Robert Gerstenhauers Weg in die NSDAP, in: Daniel Schmidt/Michael Sturm/Massimiliano Livi (Hg.): Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918 und 1933 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte. Beiträge 19), Essen 2015, S. 37–53. 24 Hierzu Uwe Puschner: Völkisch. Plädoyer für einen ‚engen‘ Begriff, in: Paul Ciupke u.a. (Hg.): „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik (Geschichte und Erwachsenenbildung 23), Essen 2007, S. 53–66. Speziell auf Seite 63 benennt Puschner noch weitere typische Antihaltungen des völkischen Spektrums, beispielsweise den Antiromanismus in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen (Antikatholizismus, Antijesuitismus) sowie eine prinzipielle Ablehnung jeglicher Art von Internationalismus.
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in letzter Konsequenz jene religiöse Konzeptionen, die über das eigene (rassische) Volk hinausgehen, der göttlichen Ordnung, so die Deutung. Mit dieser Auslegung von Christentum ließen sich aber nicht nur vermeintlich „fremdrassige“ Gegner diffamieren, sondern gleichfalls innerprotestantische Kontrahenten. Erich Kiel führte aus, die Germanen hätten seit ihrer Christianisierung nie vollends die Idee einer christlichen Weltkirche geteilt, weshalb sie auch nie in der katholischen Kirche mit ihrer „fremden Art“ heimisch hätten werden können. Deshalb seien in der gesamten Geschichte Zeugnisse lebendiger Sehnsucht nach einer Glaubenseinheit der Deutschen [zu finden], ein heimlicher und lauter Protest gegen alles Fremde, das die Kirche von Rom in ihrem gewaltigen räumlichen Wachsen in sich aufgesogen hatte, und das sowohl dem Christentum als auch dem Deutschtum fremder, jüdischer Geist war. Jüdisch ist der Lohngedanke, der den Reformator im 16. Jahrhundert zu seinem gewaltigen Angriff auf die Kirche von Rom bewegt. Jüdisch ist der Traum von der Weltherrschaft im Auftrag Gottes.25
Mit diesen Bemerkungen, die aus deutsch-christlichem Verständnis die rassische Grundlage von Religion unterstrichen, zielte der Autor aber weniger auf die katholische Kirche oder gar das Papstamt. Ihm ging es vielmehr um eine Kritik an der Oxforder Weltkirchenkonferenz von 1937, an der unter anderem Vertreter der Bekennenden Kirche teilgenommen hatten. Hier wird wieder kontrastiert zwischen gut („artgemäß“ – deutsch) und schlecht („internationalistisch“ – anti-deutsch), wenn Kiel schreibt: Die Tage von Oxford haben erwiesen, daß die ‚Bekennende Kirche‘ geheimnisvoll eingegliedert ist in ein christliches Imperium über die ganze Erde hin, mit dem uralten Begehren antichristlichen Kirchentums, die Völker und Staaten im Namen Gottes zu beherrschen. So entsteht heute – ob gewollt oder ungewollt – dem römischen Geist, den der Profet [sic!] der Deutschen [Martin Luther; D. S.] vor 400 Jahren aus Deutschland verwiesen hat, in der Kirche, die sich nach ihm nennt, ein Partner wesensverwandter Art; und Beide erheben Herrschaftsanspruch über das neuentstandene Reich.26 25 Erich Kiel: Christliches Imperium oder Nationalkirche?, in: Die Nationalkirche – Briefe an deutsche Christen, 6. Jg., Heft 47, 21.11.1937, S. 369 f., hier S. 369. Zu Erich Kiel ließen sich keine näheren biografischen Angaben ermitteln. 26 Ebenda, S. 370.
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Unter dem Begriff des „antikirchlichen Christentums“ ist selbstredend jener „jüdische Geist“ zu verstehen, von dem zu Beginn des Beitrags die Rede war. Entsprechend konnte über die Bezugnahme von „fremd“, „jüdisch beeinflusst“ und letztendlich „internationalistisch“ – was wiederum gleichgesetzt wurde mit gegen den Volkscharakter und die göttliche Rassenordnung gerichtet – alles angegriffen werden, was nicht den Vorstellungen der Kirchenbewegung entsprach. Nachdem beispielsweise das auf der Fuldaer Bischofkonferenz Anfang 1936 beschlossene „Hirtenwort über den christlichen Glauben“ Rezeption in der internationalen Presse fand, unterstellte die Kirchenbewegung, die protestantische Bekennende Kirche habe für die Verbreitung dieses katholischen Schriftstücks außerhalb des Reichs gesorgt. Die Verabschiedung jener Hirtenworte durch die katholischen Bischöfe in Deutschland kritisierte der nicht genannte Autor wiederum als einen Akt, der sich gegen den nationalsozialistischen Staat und das „deutsche“ Christentum richte. Gleichzeitig war es dem Schreiber möglich, durch die Nennung des bloßen Gerüchtes – was Erich Kiel auch als solches bezeichnete –, die Bekennende Kirche habe das Hirtenwort an die ausländische Presse weitergegeben, den innerprotestantischen Gegner der Kirchenbewegung als Teil einer internationalistischen Bewegung zu diskreditieren: Wir Deutsche Christen wundern uns darüber nicht mehr und brauchen nicht erneut von solchen undeutschen Glaubensgenossen abzurücken. Wir beobachten seit langem, wie sehr die Bekenntniskirche grundsätzlich und taktisch in manchem ein Zusammengehen mit der römisch-katholischen Kirche erstrebt. Bahnte sich hier eine Einheit unter großen nationalsozialistischen Gesichtspunkten an, wir Deutsche Christen würden dankbar erfreut zustimmen und feststellen, was man schon wieder von uns gelernt hat. Leider schaut aber der Pferdefuß der Einheit im Negativen und in der Opposition heraus.27
Damit sei nicht gemeint, die Kirchenbewegung Deutsche Christen (be-)nutzte das Papsttum beziehungsweise die römische Kirche ausschließlich als propagandistische Abstraktion für „jüdischen Geist“ und „Fortführung jüdischer Kulte“ im christlichen Gewand. Das Papsttum stand aus deutsch-christlicher Perspektive für eine „kirchliche Internationale“ und der „aus germanischem Freiheitswillen“
27 Annäherung Rom – Bekenntniskirche, in: Christenkreuz und Hakenkreuz. Monatsblatt für Deutsche Christen, 4. Jg., Heft 5, Mai 1936, S. 21–23, hier S. 22.
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geborene deutsche (!) Protestantismus habe deshalb mit Luther „das Gesetz des römisch-jüdischen Kirchenimperialismus“ durchbrochen.28 3. Die Beurteilung „deutscher“ Katholiken
Dennoch, und dies zeigt sich in der quantitativ geringen, direkten Bezugnahme auf das Papsttum in den drei untersuchten Hauptperiodika der Kirchenbewegung, waren direkte Auseinandersetzungen mit dem Papsttum aus Sicht der Deutschen Christen wenig opportun. Wenngleich man den „katholischen Internationalismus“ zutiefst ablehnte, verfolgte die Kirchenbewegung weiterhin das Ziel, eine Nationalkirche für alle Deutschen (selbstredend „deutsch“ ausschließlich im selektiv-rassistischen Sinne verstanden) zu erschaffen, zu der gleichfalls die deutschen Katholiken gehören sollten. Nachdem sich beispielsweise 1934 protestantische, deutsch-christliche Pfarrer aus dem überwiegend katholisch geprägten Rheinland der Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen angeschlossen hatten, forderte Julius Leutheuser nunmehr die Überwindung der konfessionellen Gegensätze zwischen deutschen Katholiken und Protestanten zur Schaffung eines christlichen deutschen Volkes. Leutheuser verlangte, nicht mehr auf die rund vierhundertjährigen Differenzen zu schauen, sondern alle Christen in Deutschland hätten die Gemeinsamkeiten im Urchristentum und in der Botschaft Jesu zu suchen. Unterschiedliche Brauchtümer könnten weiterhin bestehen bleiben, vielmehr solle die Verbindung zwischen Protestanten und Katholiken über die Schaffung einer „Gemeinschaft [geschehen], die das Wesen des Urchristentums wieder offenbart.“29 Aus dieser Aussage von Leutheuser, immerhin Mitbegründer der Kirchenbewegung Deutsche Christen, lässt sich die Beurteilung von deutschen Katholiken 28 Hans Hohlwein: Rom und der Weltprotestantismus, in: Deutsche Frömmigkeit, 5. Jg., Heft 10, Oktober 1937, S. 14–18, hier S. 16, erstes Zitat ebenda, S. 18. Die Deutung von Rom als überstaatliche, kosmopolitische Macht, zu der aus deutsch-christlicher Perspektive gleichfalls das Judentum und die Freimaurer zählten, findet sich auch bei Theodor Kuntz, Pfarrer in der Pfalz und Mitglied der Kirchenbewegung. Klaus Fitschen: Protestantismus und Katholizismus, in: Christoph Picker u.a. (Hg.): Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus. Bd. 1: Sachbeiträge, Speyer 2016, S. 578–592, hier S. 585. 29 Julius Leutheuser: Unsere Bewegung faßt Fuß im Rheinland!, in: Briefe an deutsche Christen, 3. Jg., 1934, S. 127 f., hier S. 127. Mit „Gemeinschaft“ meinte Leutheuser eine „Volksgemeinschaft“, wie er am Ende seines Artikels nochmals deutlich hervorhob.
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ablesen: Diese gehörten aus deutsch-christlichem Verständnis dem „außerwählten Volk Gottes“ an, den Deutschen. Aber der Konfessionalismus verhinderte eine „Volkswerdung“ im religiösen Sinne und damit auch die Vollendung des „Dritten Reichs“, weshalb die konfessionellen Unterschiede auf Grundlage eines Jesuszentrierten Christentums überwunden werden müssten. Der Rasse kam hierbei die Funktion eines verbindenden und gleichzeitig konstanten Elementes zu: Für sogenannte Judenchristen, also Konvertiten oder rassische „Mischlinge“, galten derartige Vorstellungen, Teil einer deutschen Nationalkirche zu werden, aufgrund ihrer vermeintlichen Rassenzugehörigkeit nicht. Das heißt, gehörte ein sogenannter Rassenmischling der Thüringer Landeskirche oder einer anderen, mit der Kirchenbewegung zusammenarbeitenden Landeskirche an, so wurde dieser aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen und ihm damit im theologischen Verständnis die göttliche Heilserlangung versagt. Für Katholiken galt eine derartige Exklusion nicht, da sie Deutsche waren und somit potentielle Mitglieder jener rassischen Nationalkirche, welche die Kirchenbewegung mittelfristig für alle „Deutschblütigen“ zu etablieren gedachte. Entsprechend klang der Tenor wenige Monate nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 und die zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig geklärte Frage, wie sich die katholischen Geistlichen Österreichs zum „Anschluss“ positionieren würden. Seitens der Kirchenbewegung wünschte man sich, dass die unterschiedlichen Positionen sich „nicht am Primat des Papstes, sondern am Primat des völkisches Lebensgesetzes“ – sprich dem gemeinsamen Deutschtum – ausrichten sollten.30 Deshalb seien konfessionelle Gegensätze zwischen Protestanten und Katholiken in Deutschland auch kein Grund für innerreligiöse Differenzen, da sich beide Richtungen in ihrer Lehre auf das Neue Testament beziehen. Viel entscheidender aus deutsch-christlicher Perspektive war der „volksaufbauende Charakter“ von Religion, dem sich der deutsche Katholizismus nunmehr zuzuwenden habe, anstatt weiter „internationalistischen, volkszerstörenden“ Ideen anzuhängen.31
30 H. H. [sehr wahrscheinlich Hans Hohlwein]: Bewegung im Katholizismus, in: Deutsche Frömmigkeit, 6. Jg., Heft 7, Juli 1938, S. 25–28, hier S. 27. 31 H. H. [sehr wahrscheinlich Hans Hohlwein]: Der Evangelische Bund und die Frage der Konfessionen, in: Deutsche Frömmigkeit, 6. Jg., Heft 11, S. 30–32. In der Bremer Landeskirche, die einen eigenen deutsch-christlichen Kurs einschlug, phasenweise aber mit der Kirchenbewegung Deutsche Christen zusammenarbeitete, gab es Auseinandersetzungen, ob man den von der Kirchenbewegung forcierten Weg zur Schaffung einer Nationalkirche unter Einbeziehung „deutscher“ Katholiken überhaupt mitgehen solle. Reijo Heinonen: Anpassung und Identität. Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen
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Eine derartige Trennung von deutschen Katholiken und römischer Weltkirche findet sich immer wieder in der deutsch-christlichen Beschäftigung mit dem Katholizismus. So reagierte Gustav Ohlemüller, seines Zeichens wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Evangelischen Bund und zeitweise Generalsekretär des Protestantischen Weltverbandes, auf die 1937 veröffentlichte päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“32 sowie auf Aussagen von Papst Pius XI. gegen den Nationalsozialismus.33 Dem Papst in seiner Funktion als Oberhaupt der katholischen Kirche wird in Ohlemüllers Ausführungen aber kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Vielmehr versuchte der Autor die vorgebrachten Vorwürfe seitens der katholischen Kirche gegen die eigene Behandlung im „Dritten Reich“ durch eine Verteidigung des totalitären Systems des NS-Staates zu entkräften. Auch richtete sich Ohlemüller nicht an den Papst als Adressaten, sondern an die deutschen Bischöfe. Ähnlich reagierte der Schriftleiter der „Briefe an deutsche Christen“, Wilhelm Bauer, auf den Protest des Münsteraner Bischofs Graf von Galen, der sich gegen einen öffentlichen Auftritt Alfred Rosenbergs auf einer Gautagung der NSDAPReichsleitung in der westfälischen Stadt aussprach.34 Nach Ansicht Bauers würde eine derartige Positionierung gegen einen Vertreter des Nationalsozialismus nicht „die Gesinnung christlicher Deutscher wiedergeben.“ Vielmehr sei der „Bischof von Münster […] vom machthungrigen, römisch eingestellten Klerikalismus zu seiner herausfordernden Haltung veranlasst worden […].“35 An dieser Stelle unterschied man seitens der Kirchenbewegung klar auf der einen Seite zwischen Deutschen katholischen Glaubens, die sich nicht gegen den NS-Staat – und damit die von Gott gewollte Führung – stellen würden. Auf der anderen Seite verortete man katholische Würdenträger, die allein von Rom fremdgesteuert seien, sich in
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1933–1945 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen 5), Göttingen 1978, S. 145–153. Hierzu neuerdings Hubert Wolf: Pius XI. und die „Zeitirrtümer“. Die Initiativen der römischen Inquisition gegen Rassismus und Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 53. Jg., Heft 1, 2005, S. 1–42. Gerhard Ohlemüller: Hemmungen und Wandlungen im römischen Katholizismus, in: Deutsche Frömmigkeit, 6. Jg., Heft 11, November 1938, S. 10–18. Hintergrund der Haltung von Galens gegen Rosenberg waren die nationalsozialistischen Sterilisationsbestimmungen zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Thomas Brechenmacher: Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2005, S. 193 f. Wilhelm Bauer: Das Bündnis von Schwarz-Rot noch nicht gelöst?, in: Briefe an deutsche Christen, 4. Jg., 1935, S. 193.
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Teilen gegen Vertreter des NS-Staates positionierten und entsprechend nicht die deutschen Katholiken vertreten würden. Die Kirchenbewegung differenzierte entsprechend in Bezug auf den deutschen Katholizismus: Den einfachen Gläubigen verstand man als Bestandteil der „Volksgemeinschaft“, der sich auf religiöser Ebene lediglich durch den historisch bedingten Konfessionalismus von den Deutschen evangelischen Glaubens unterscheide. Das gemeinsame „Deutschtum“ fungierte hier als eine Klammer, mithilfe derer man die unterschiedlichen religiösen Vorstellungen argumentativ überwinden konnte. Dem gegenüber verstand man eine Positionierung gegen den NS-Staat als einen Verrat an jenen gemeinsamen deutschen Werten, was man wiederum mit einer Fremdsteuerung durch die „fremdvölkische“, römische Kurie respektive das Papsttum erklärte. Rom beziehungsweise das Papsttum deuteten die Vertreter der Kirchenbewegung in diesem Zusammenhang aber nicht als geistiges Zentrum des Katholizismus, sondern dezidiert als einen „irdischen Machtbereich“.36 Und diese weltliche Macht müsse durch ihren Zugriff auf deutsche Katholiken zwangsläufig in Konflikt mit dem nationalsozialistischen Deutschland als einem „totalen Staat“ geraten, wie ihn die Kirchenbewegung selbst verstand. Mit Verweis auf die Schriften der evangelischen Reformatoren akzeptierte man allein die weltliche Obrigkeit, sprich die staatliche Gewalt, als legitime Führung christlicher Kirchen, wobei die Kirchenbewegung den Begriff „Kirche“ – hier direkt unter Verweis auf Luther – nicht als institutionalisierte Organisationsform, sondern als „Volk Gottes“ verstand.37 Deutsche Katholiken gehörten entsprechend zu diesem „Volk Gottes“, wohingegen das Papsttum lediglich als eine weltliche Obrigkeit angesehen wurde. Da aber im „neuen Deutschland“ Hitlers allein der staatlichen Gewalt in Form des Nationalsozialismus das Recht zum Eingriff in kirchliche Angelegenheiten zugesprochen wurde, musste das Papsttum auch von politischer Betrachtung aus – und nicht nur vom rassischen Verständnis her – durch die Kirchenbewegung abgelehnt werden. 4. Urteile über den Papst
Alle die bis hierin genannten Beispiele betrachteten das Papsttum beziehungsweise den Pontifex als eine abstrakte Größe, wodurch die Termini „Papst“ und „Rom“ 36 Wilhelm Bauer: Die innere Tragik katholischer Deutscher, in: Briefe an deutsche Christen, 4. Jg., 1935, S. 193 f., hier S. 194. 37 Reformation und Kirchenregiment, in: Briefe an deutsche Christen, 4. Jg., 1935, S. 199–202.
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vielmehr als Chiffren für „fremd“ und „nicht-deutsch“ zu verstehen sind, als dass es sich um eine inhaltliche Konfrontation handelte. Ausführungen, die sich direkt mit dem Pontifex und nicht mit dem Papstamt respektive der symbolhaften Bedeutung des Papstes auseinandersetzten, sind in den deutsch-christlichen Periodika der Kirchenbewegung hingegen relativ selten zu finden. Im „Beobachtungsdienst“, einer Beilage zur Zeitung „Christenkreuz und Hakenkreuz“, in der in einer Art „Feindbeobachtung“ auf Aussagen und Entwicklungen in der katholischen Kirche,38 sogenannte Sekten sowie neuheidnische Gruppierungen Bezug genommen wurde, lassen sich zwei kurze Auslassungen zu Papst Pius XI. finden. Der erste Kurzartikel ist ein Abdruck aus der katholisch geprägten Tageszeitung „Germania“ über die Einführung eines neuen Verdienstkreuzes durch Pius XI. Ohne weiter auf den Artikel einzugehen, beließ es die Schriftleitung des Beobachtungsdienstes mit einem kurzen polemischen Hinweis: „Die ‚Evangelische Kirche‘ verleiht keine Orden und Ehrenzeichen. Sie will ja auch nicht ‚Souverain‘ sein, sondern weiter nichts als eine ‚Dienerin Christi‘.“39 Die Anspielung, selbst sei man kein Souverän, bezog sich direkt auf den Artikel aus der „Germania“, was aus Sicht der Kirchenbewegung, wie dargelegt, keine Anerkennung erfahren konnte, da sie allein den Nationalsozialismus als „Souverän“ im „irdischen Machtbereich“ akzeptierte. Die zweite Bezugnahme auf Papst Pius XI. im „Beobachtungsdienst“ ist nur noch ein Abdruck aus der „Germania“. Zur 13. Krönungsfeier des Pontifex hielt der vormalige Regierungspräsident Rick eine Festansprache, die in der „Germania“ abgedruckt wurde und deren Schluss der „Beobachtungsdienst“ kommentarlos übernahm.40 Den Tod von Pius XI. am 10. Februar 1939 nahm die Schriftleitung der „Deutschen Frömmigkeit“ zum Anlass, das Wirken des Papstes zu würdigen. Hier, wo eine direkte Auseinandersetzung mit dem Pontifex und nicht mit dem Amt als Institution stattfand, wird die katholische Lehre der Übertragung der Kirchenführung durch Jesus auf Petrus und in dessen Nachfolge auf die Bischöfe von Rom, 38 Es handelte sich hierbei zumeist um Reaktionen auf Aussagen von deutschen katholischen Bischöfen, die abgedruckt und anschließend nicht selten polemisch kommentiert wurden. Mitte 1935 verschwand die Rubrik „Aus der katholischen Kirche“ im „Beobachtungsdienst“. 39 Dem Verdienste seine Krone!, Beobachtungsdienst (Beilage zu Christenkreuz und Hakenkreuz. Monatsblatt für Deutsche Christen, 3. Jg., Heft 4, April 1935), 4. Folge, April 1935, S. 6. 40 Papst Pius XI., der „Deutsche“, und seine Gratulanten, in: Beobachtungsdienst (Beilage zu Christenkreuz und Hakenkreuz. Monatsblatt für Deutsche Christen, 3. Jg., Heft 4, April 1935), 4. Folge, April 1935, S. 6 f.
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sprich die Päpste, genannt und nicht das Papsttum als eine Fortführung „jüdischer Weltherrschaftsansprüche“ diffamiert: Darum ist für die Katholische Kirche die jeweilige Persönlichkeit des Papstes von so entscheidender Bedeutung; nicht daß die Persönlichkeit System und Idee formt, sondern weil System der römischen Kirche und Idee des Papsttums in der Gestalt des jeweiligen Papstes ihren sichtbaren Ausdruck finden. Dabei nuanciert die Persönlichkeit des jeweiligen Heiligen Vaters Erscheinungsform und Willensrichtung der Papstkirche.41
Zwar sprach der nur mit Kürzel genannte Autor auch die Verurteilungen des Nationalsozialismus durch Pius XI. an, verteidigte indirekt diesen jedoch und unterstellte vielmehr, „daß Kardinal Pacelli hier Ratgeber dieses ‚politischen Papstes‘ gewesen ist.“42 Dass das Konklave jenen Eugenio Pacelli (1876 bis 1958), den vormaligen Nuntius des Vatikans in Deutschland, wenige Wochen später zum neuen Papst wählte, fand entsprechend Widerhall in der Presse der Kirchenbewegung. Die im zuvor genannten Beitrag der „Deutschen Frömmigkeit“ artikulierte Kritik an Pacelli fiel nun weitaus differenzierter aus. Zwar lastete der Autor Pacelli an, 1917 als neuer Nuntius in München durch die Überbringung der päpstlichen Friedensvorschläge43 „Deutschland in eine Lage [gebracht zu haben], die es den Feindstaaten später leicht machte, Deutschland die Schuld an der Fortsetzung des Krieges zuzuschieben.“44
Auch habe Pacelli Papst Pius XI. immer „in Richtung gegen den Nationalsozialismus und Faschismus“ beraten. An dieser Stelle folgte indes die Abschwächung der eigenen Kritik gegenüber dem neuen Papst. Pacelli, den die katholische Kirchenführung im Dezember 1929 nach Rom zurückberufen hatte, nahm – so die Unterstellung – „von Deutschland das Bild mit, wie es im Weimarer Parteistaat sich 41 H. H. [sehr wahrscheinlich Hans Hohlwein]: Pius XI. †, in: Deutsche Frömmigkeit, 7. Jg., Heft 3, März 1939, S. 86–88, hier S. 86. 42 Ebenda, S. 88. 43 Vgl. hierzu Martin Lätzel: Die Katholische Kirche im Ersten Weltkrieg. Zwischen Nationalismus und Friedenswillen, Regensburg 2014, S. 148–179. Zusammenfassend und in einen globalen Kontext eingebettet dazu auch Martin Greschat: Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2014, S. 78–83. 44 H. H. [sehr wahrscheinlich Hans Hohlwein]: Pacelli – Pius XII., in: Deutsche Frömmigkeit, 7. Jg., Heft 4, April 1939, S. 112 f., hier S. 112.
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darbot.“ Hieraus, so schlussfolgerte der Autor, sei jene vermeintliche, gegen Nationalsozialismus und Faschismus gerichtete Haltung des neuen Papstes zu erklären. Die Wahl Pacellis zum neuen Pontifex zeige darüber hinaus den politischen (!) Willen der römischen Kurie, sich gegen autoritäre Staaten zu positionieren. Sehr wahrscheinlich mit der Hoffnung auf eine sich ändernde Haltung des nunmehrigen Papstes gegenüber dem „Dritten Reich“ bemerkte der Autor noch: „Freilich steht dem Papst jederzeit die Möglichkeit offen, den Kurs der Kurie zu bestimmen.“45 5. Die Beurteilung des Papstes durch die Kirchenbewegung Deutsche Christen – der Versuch einer Bewertung
Bei der Durchsicht der offiziellen Druckschriften der Kirchenbewegung Deutsche Christen fiel auf, dass dem Papsttum beziehungsweise dem Papst in der propagandistischen Agitation im Allgemeinen keine derart große Bedeutung zukam, wie zunächst vermutet. Wenn das Papsttum thematisiert wurde, dann erfolgte die Beurteilung in den meisten Fällen nach demselben Muster: Beim Papsttum handele es sich im eigentlichen Sinn um eine jüdische Idee. Das Judentum habe nach dem Tod Jesu einen derart starken Einfluss auf die angeblich zunächst antisemitisch ausgerichtete Jesus-Bewegung gehabt, dass sich die Idee der jüdischen Priesterherrschaft im Christentum in persona des Papstes etablieren konnte. „Das Papsttum“ beziehungsweise „Rom“ fand entsprechend Verwendung als eine Projektionsfläche für Internationalismus46, was in der Ideologie der Kirchenbewegung gleichbedeutend mit „jüdisch“ war. Warum das Papsttum indes relativ wenig Raum in der Propaganda der Kirchenbewegung einnahm, dafür gibt es meiner Auffassung nach vier, teils miteinander korrelierende Gründe: Der erste ist in der Bedeutungszuschreibung Hitlers zu sehen: Weil die Kirchenbewegung aus ihrem theologischen Weltbild heraus Hitler als den „gottgesandten Führer“ mit dem einhergehenden „himmlischen Auftrag“ verstand, galt es, alle seine politischen Entscheidungen mitzutragen. Infolge des Reichskonkordates zwischen „Drittem Reich“ und Heiligem Stuhl im Jahr 1933 konnte die Kirchenbewegung – bedingt durch die Hitler zugeschriebene göttliche Handlungsvollmacht – das Papsttum nicht mehr direkt angreifen. Dies hätte im Umkehrschluss bedeutet, indirekt Hitlers Politik zu hinterfragen. Zusätzlich verstanden die Pro45 Alle Zitate ebenda, S. 112. 46 Genauso für Liberalismus, Kommunismus, Demokratie und Kapitalismus.
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tagonisten der Kirchenbewegung das Papsttum zuallererst als eine irdische und damit letztendlich politische Machtinstitution. Aus dem von Luthers Zwei-ReicheLehre abgeleiteten Glaubenssystem der Kirchenbewegung, das allein Hitler volle Handlungsbefugnis in politischen Fragen zubilligte, hätte eine konfrontative Auseinandersetzung mit dem Papst eine Einmischung in jenen Bereich bedeutet, aus den man sich als Kirche im „Dritten Reich“ explizit heraushalten beziehungsweise maximal den Vorgaben des „Führers“ folgen wollte. Kam es in Deutschland zu Auseinandersetzungen wie jener mit Bischof von Galen, nutzte man wiederum das Papsttum beziehungsweise „Rom“ als einen abstrakten Feind, welcher die deutschen Katholiken gegen den Nationalsozialismus aufbringen wolle. Eine solche Beurteilung kam indes nicht sehr häufig vor. Der zweite Grund, warum das Papsttum wenig Raum in der Propaganda der Kirchenbewegung einnahm, lag in deren mittelfristigem Ziel. Man wollte eine überkonfessionelle Nationalkirche erschaffen, in der die „deutschen“ Katholiken eingebunden werden sollten. Eine zu starke antipäpstliche Agitation, die immer auch ein Angriff auf eines der zentralen Glaubenselemente des Katholizismus bedeutet hätte, wäre für die eigene Zielstellung alles andere als hilfreich gewesen. Im Zusammenhang mit diesen beiden Punkten steht die „Aura“, die man dem Pontifex zuschrieb. In dem Artikel der „Deutschen Frömmigkeit“ zum Tode Pius’ XI. bemerkte der Autor, von der Persönlichkeit des Papstes gehe eine besondere Bedeutung für die katholische Kirche und den einzelnen Katholiken aus. Die Kirchenbewegung Deutsche Christen selbst erblickte in Adolf Hitler das „Werkzeug Gottes“,47 der es durch seine Persönlichkeit und seinen Willen geschafft habe, das deutsche Volk wieder zu vereinen. Ohne Hitler im Denken der Kirchenbewegung die Rolle eines „Papstersatzes“ zuschreiben zu wollen – dies würde dem theologischen Verständnis widersprechen, worin Hitler für den gesellschaftlichen und politischen, die Kirchenbewegung für den religiösen Bereich im „Dritten Reich“ die Zuständigkeit besaßen –, so machte es die religiöse Fixierung auf eine Person mit Sicherheit schwierig, eine andere Person mit ähnlich positiven Etikettierungen durch einen Teil der deutschen Bevölkerung direkt anzugreifen. Zumal permanente Angriffe auf den Pontifex oder das Papstamt die Eingliederung der „deutschen“ Katholiken in die angedachte Nationalkirche erschwert hätte. Der letzte Grund, warum nach meiner Annahme dem Papsttum kaum Aufmerksamkeit in den Blättern der Kirchenbewegung geschenkt wurde, ist in den Adressaten der hier ausgewerteten Zeitungen zu finden. Die Periodika richteten sich in erster Linie an Mitglieder und Sympathisanten der Kirchenbewegung und waren 47 Weshalb sich Mitglieder der Deutschen Christen selbst als „SA Jesu Christi“ bezeichneten.
Papst und Papsttum aus der Perspektive der Kirchenbewegung Deutsche Christen |
nicht vorrangig dazu da, neue Anhänger zu gewinnen, sondern die bestehenden Mitglieder und Interessierten zu informieren. Die Fachabteilung „Katholische Kirche“ der Kirchenbewegung stellte sich selbst auf ihrer Sitzung am 10. Januar 1942 die Aufgabe, den Mitgliedern der eigenen Organisation grundsätzliche Kenntnisse über den Katholizismus zu vermitteln.48 Dies verdeutlicht, dass bei großen Teilen der Anhänger und Mitglieder der Kirchenbewegung wenige Kenntnisse über die theologischen Grundlagen von Katholizismus und Pontifikat vorhanden waren, weshalb eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesen in den Presseorganen der Kirchenbewegung wenig Sinn gemacht hätte. Grundsätzlich kann von einem grundlegenden Interesse der Kirchenbewegung am Katholizismus ausgegangen werden.49 Dieses war aber vornehmlich nicht auf den Papst ausgerichtet, sondern hatte den genannten Hintergrund, dass man die katholischen Gläubigen im „Dritten Reich“ für das Ziel der eigenen Nationalkirche gewinnen wollte, wobei die Erfolge letztendlich marginal blieben. Quellen- und Literaturverzeichnis
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48 Evangelisches Landeskirchenarchiv Eisenach, NL Grundmann 12/85 [unfoliert] (Skizze der Kirchenbewegung Deutsche Christen, Fachabteilung Katholische Kirche, über das eigene Aufgabengebiet vom 10.01.1942). 49 Heinonen: Anpassung 1978, S. 152.
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Böhm, Susanne: Deutsche Christen in der Thüringer evangelischen Kirche (1927– 1945), Leipzig 2008. Brechenmacher, Thomas: Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2005. Chapoutot, Johann: Der Nationalsozialismus und die Antike, Darmstadt 2014 (französische Erstveröffentlichung 2008). Dem Verdienste seine Krone!, in: Beobachtungsdienst (Beilage zu Christenkreuz und Hakenkreuz. Monatsblatt für Deutsche Christen, 3. Jg., Heft 4, April 1935), 4. Folge, April 1935, S. 6. Der Evangelische Bund und die Frage der Konfessionen, in: Deutsche Frömmigkeit, 6. Jg., Heft 11, S. 30–32. Esche, Alexandra: „[D]amit es auch wirklich etwas Gutes wird!“ Max Robert Gerstenhauers Weg in die NSDAP, in: Daniel Schmidt/Michael Sturm/Massimiliano Livi (Hg.): Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918 und 1933 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte. Beiträge 19), Essen 2015, S. 37–53. Evangelisches Landeskirchenarchiv Eisenach, NL Grundmann 12/85 [unfoliert]. Fitschen, Klaus: Protestantismus und Katholizismus, in: Christoph Picker u.a. (Hg.): Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus. Bd. 1: Sachbeiträge, Speyer 2016, S. 578–592. Greschat, Martin: Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2014. Grundmann, Walter: Das Gesetz der Volksgemeinschaft und der Kampf ums Christentum. Grundsätzliche Erwägungen zum Problem der Toleranz, in: Deutsche Frömmigkeit, 6. Jg., Heft 11, November 1938, S. 1–8. Grundmann, Walter: „Das Heil kommt von den Juden…!“ Eine Schicksalsfrage an die Christen deutscher Nation, in: Deutsche Frömmigkeit, 6. Jg., Heft 9, September 1938, S. 1–8. Hastings, Adrian: Nationhood and the Nation-State: England and Germany, in: Hans-Dieter Metzger (Hg.): Religious Thinking and National Identity, Berlin/ Wien 2000, S. 17–37. Heinonen, Reijo: Anpassung und Identität. Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933–1945 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen 5), Göttingen 1978. Hering, Rainer: Evangelium im Dritten Reich. Die Glaubensbewegung Deutsche Christen und ihre Periodika, in: Michal Grunewald/Uwe Puschner (Hg.): Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern u.a. 2008, S. 437–456.
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Bernward Schmidt
Papsttum im Umbruch: Zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Papsttum
Am aktuell amtierenden Papst Franziskus scheiden sich die Geister, in erster Linie natürlich unter Katholiken. Während ihm die einen seine politische Unberechenbarkeit, mangelnden theologischen Tiefgang oder generell eine eher unreflektierte Freundlichkeit vorwerfen, die es mit den Spielregeln von Kirche nicht allzu genau nehme, sind andere von eben dieser Freundlichkeit und Bescheidenheit des Papstes begeistert, die sich in seiner häufigen Selbstbezeichnung als Bischof von Rom ebenso äußert wie in der Wahl seines Wohnsitzes. Von evangelischer Seite wurden Franziskus’ Kirchenbild und Reformbegriff besonders positiv hervorgehoben.1 Für jede Kirchenreform müsse es Franziskus zufolge darum gehen, „der Wirksamkeit von Jesus Christus aufzuhelfen“. Damit habe der Papst „mit den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils den Reformbegriff innerhalb der katholischen Kirche rehabilitiert und ihm ein großes und bemerkenswertes Gewicht“ gegeben.2 Mit Aufmerksamkeit registriert wird zudem die Spannung zwischen einer von Franziskus angesprochenen „heilsamen Dezentralisierung“ einerseits, die sich auch auf den Umgang mit regionalen Besonderheiten auswirken müsste, und der kurialen Praxis bei den Ernennungen der Erzbischöfe von Köln und Freiburg, die auf wenig Rücksicht für die Ortskirchen hindeute.3 Mit dem Reformbegriff und der Frage nach dem „römischen Zentralismus“ sind Themen zur Sprache gebracht, die die Debatten auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil und um seine Interpretation bestimmten. Eine der großen Leitfragen war dabei in den letzten Jahren die 2005 von Papst Benedikt XVI. in seiner Weihnachtsansprache an die römische Kurie benannte Problematik der Konzilshermeneutik:4 1
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Vgl. Karl-Hinrich Manzke: Ganz und gar ihrem Herrn verpflichtet – Kirche Jesu Christi im Aufbruch. Bericht des Catholica-Beauftragten der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (7. Tagung der 11. Generalsynode der VELKD, Dresden, 8. November 2014, Drucksache Nr. 7/2014), S. 2–9, Online-Ansicht: http://www.velkd.de/downloads/141108_Catholica-Bericht.pdf, letzter Zugriff: 27.04.2017. Beide Zitate ebenda, S. 8. Vgl. ebenda., S. 9. Die relevanten Passagen aus dem Text der Ansprache finden sich in: Benedikt XVI. und sein Schülerkreis/Kurt Kardinal Koch: Das Zweite Vatikanische Konzil. Die Hermeneutik
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Er lehnte eine „Hermeneutik des Bruches“ scharf ab und vertrat für das Konzil eine stärker die Kontinuitäten betonende „Hermeneutik der Reform“, was zu einer weltweiten Debatte in der katholischen Theologie führte.5 Die Streitfragen, die hier verhandelt werden, reichen in ihrem Kern bis in die konziliaren Diskussionen zurück und betreffen auch das Papstamt, das während und nach dem Konzil Gegenstand intensiven – auch ökumenischen – Nachdenkens geworden war.6 Im Folgenden sei vor diesem Hintergrund nicht nach den evangelischen Perspektiven auf das Papstamt vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gefragt, sondern in kirchen- beziehungsweise theologiehistorischem Zugriff nach den Auswirkungen dieses Konzils auf das (Selbst-)Verständnis des Papsttums. Eine Darstellung des Papstamtes auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil kommt nicht ohne den Verweis auf das Erste Vatikanum von 1869/1870 aus, das in seiner dogmatischen Konstitution „Pastor aeternus“ die Position des Papstes in der Kirche auf der Ebene des Glaubensgutes festlegte.7 Die Wurzeln des Ersten Vatikanischen Konzils liegen mindestens im Ultramontanismus der Revolutionsepoche um 1800, vorbereitet wurde es durch die generelle „Ultramontanisierung“
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der Reform, Augsburg 2012, S. 9–19. Zur Einordnung in die theologische Biographie siehe: Hansjürgen Verweyen: Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. Die Entwicklung seines Denkens, Darmstadt 2007. Aus der reichhaltigen Literatur seien nur genannt: Wolfgang Beinert (Hg.): Vatikan und Pius-Brüder. Anatomie einer Krise, Freiburg im Breisgau u.a. 2009; Franz Xaver Bischof (Hg.): Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Stand und Perspektiven der Forschung im deutschsprachigen Raum (Münchener kirchenhistorische Studien 1), Stuttgart 2012; Massimo Faggioli:, Vatican II:. The Battle for Meaning, Mahwah (New Jersey)/New York (New York) 2012; Peter Walter: Kontinuität oder Diskontinuität? Das II. Vaticanum im Kontext der Theologiegeschichte, in: Günther Wassilowsky/Ansgar Kreutzer (Hg.): Das II. Vatikanische Konzil und die Wissenschaft der Theologie (Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge 28), Frankfurt am Main u.a. 2014, S. 11–19; Bernward Schmidt (Hg.): Kontinuitäten und Brüche. Trienter Konzil und Zweites Vatikanisches Konzil im Gespräch (Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungsfragen 37), Aachen 2015; Christoph Böttigheimer/René Dausner (Hg.): Das Konzil „eröffnen“. Reflexionen zu Theologie und Kirche 50 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2016. Siehe etwa Karl Rahner/Joseph Ratzinger: Episkopat und Primat (Quaestiones Ddisputatae; 11), Freiburg im Breisgau u.a. 1961; Heinrich Fries: Fundamentaltheologie, 2. Auflage, Innsbruck 1985, S. 461–496; Walter Kasper: Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung, Freiburg im Breisgau u.a. 2011, S. 350–382. Der Text wurde promulgiert in: Acta Sanctae Sedis, Heft 6, (1870–1871), S. 40–47, OnlineAnsicht: http://w2.vatican.va/content/pius-ix/la/documents/constitutio-dogmatica-pastoraeternus-18-iulii-1870.html, letzter Zugriff: 28.04.2017.
Papsttum im Umbruch: Zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Papsttum |
der katholischen Kirche nach 1830.8 Für die Mehrheit der Konzilsväter war die Stärkung des Papstes als ein Moment katholischer Identität ein wesentliches Anliegen.9 Als Leitmotiv stand seit der Ankündigung des Konzils durch Pius IX. am 26. Juni 1867 über der Versammlung: „Kraft und Mut gegen eine feindliche Welt strömt den Bischöfen durch die Verbundenheit mit Petrus (und seinem Nachfolger) zu.“10 Die Verbundenheit der Bischöfe mit dem Papst wurde auf dem Konzil selbst inszeniert, die Ausrichtung gegen die als feindlich gesehene Umwelt war auch Ziel der dogmatischen Konstitutionen des Konzils.11 Insbesondere die Unfehlbarkeitsdefinition wurde von den Zeitgenossen als „Gegendogma“ zu dem aufgefasst, was sich mit der Chiffre „1789“ verband. Der päpstliche Primat, der von Christus abgeleitet und dessen Fortdauer in der Geschichte aufgrund göttlichen Rechts vertreten wird, gewinnt konkrete Gestalt in der unfehlbaren Lehrentscheidung und im Jurisdiktionsprimat.12 Beide werden vom Ersten Vatikanischen Konzil als zu glauben vorgelegt. Die in diesem Kontext schon zeitgenössisch häufig übersehene päpstliche Jurisdiktionsgewalt erstreckt sich auf alle einzelnen Gläubigen und Hirten der Kirche wie auf die Kirche insgesamt. Sie bezieht sich auf Fragen des Glaubens und der Ethik sowie auf die Bereiche von kirchlicher Disziplin und Herrschaft, so dass
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Einen knappen Überblick über die Entwicklungen bietet Bernward Schmidt: Die Konzilien und der Papst. Von Pisa (1409) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65), Freiburg im Breisgau u.a. 2013, S. 213–248. Ausführlicher zu den theologiehistorischen Voraussetzungen: Klaus Unterburger: Vom Lehramt der Theologen zum Lehramt der Päpste? Pius XI., die Apostolische Konstitution „Deus scientiarum Dominus“ und die Reform der Universitätstheologie, Freiburg im Breisgau u.a. 2010, S. 179–222; Hubert Wolf: „Wahr ist, was gelehrt wird“ statt „Gelehrt wird, was wahr ist“? Zur Erfindung des „ordentlichen“ Lehramts, in: Thomas Schmeller/Martin Ebner/Rudolf Hoppe (Hg.): Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext (Quaestionis disputatae 239), Freiburg im Breisgau u.a. 2010, S. 236–259; Charles Michael Shea: Faith, Reason and Ecclesiastical Authority in Giovanni Perrone‘s Praelectiones Theologicae, in: Gregorianum, 95. Jg., Heft 1, 2014, S. 159–177. 9 Vgl. Klaus Schatz: Allgemeine Konzilien. Brennpunkte der Kirchengeschichte, 2. Auflage, Paderborn 2008, S. 215–262; ders.: Vaticanum I, 3 Bände, Paderborn 1992–1994. 10 Ders.: Verfahrensformen und Symbolpraxis des I. Vaticanums, in: Bernward Schmidt/Hubert Wolf (Hg.): Ekklesiologische Alternativen? Monarchischer Papat und Formen kollegialer Kirchenleitung (15.–20. Jahrhundert) (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 42), Münster 2013, S. 177. 11 Zu Inhalt und Interpretation der Ekklesiologie des I. Vaticanums siehe Schmidt: Konzilien 2013, S. 238–242. 12 Vgl. ebenda, S. 232.
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auf diese Weise die monarchische Struktur der Kirche dogmatisch festgeschrieben wird. Die päpstliche Unfehlbarkeit galt Theologen des 19. Jahrhunderts als Anwendung des Jurisdiktionsprimats auf dem Gebiet der Lehre. Sie ist seither an drei Kriterien gebunden: 1. Der Papst spricht „ex cathedra“, das heißt „in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen“, nicht als Bischof von Rom, Primas von Italien oder privater Theologe; 2. er spricht „kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität“, setzt also einen eindeutigen Schlusspunkt unter eine theologische Debatte; 3. er „entscheidet, dass eine Glaubens- oder Sittenlehre von der ganzen Kirche festzuhalten ist“, er wendet sich also ausdrücklich an die gesamte Kirche. Treffen diese Voraussetzungen zu, „besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte.“ Daraus folgt auch, dass diese Definitionen „aus sich, nicht aber aufgrund des Konsenses der Kirche unabänderlich“ sind.13 Dieser Schlusssatz wurde übrigens ebenso wie die Verurteilung des Konziliarismus im dritten Kapitel erst kurz vor Redaktionsschluss auf Wunsch Pius’ IX. in den Text eingefügt – er wollte damit ausdrücklich den Gallikanismus, näherhin die Bindung der Geltung päpstlicher Beschlüsse an ihre Rezeption durch die Kirche, verurteilt sehen. Die nachkonziliare Diskussion zeigte, dass damit kein päpstlicher Absolutismus gelehrt werden sollte, denn erstens bleibt auch der unfehlbar definierende Papst an die Traditionskette der Kirche gebunden, zweitens besteht die zumindest moralische Verpflichtung zur Anwendung „menschlicher Hilfsmittel“, also der Konsultation von Theologen und insbesondere Bischöfen.14 13 Alle Zitate hier aus: Heinrich Denzinger/Peter Hünermann: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen/Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 44. erw. Aufl., Freiburg im Breisgau u.a. 2014, Nr. 3074 (nachfolgend zitiert als: DH). 14 Vgl. Klaus Schatz: Das „noch nicht fertige“ Dogma. Zur Rezeption und Nachinterpretation des Ersten Vatikanums, in: Ludwig Bertsch/Medard Kehl (Hg.): Zur Sache. Theologische Streitfragen im „Fall Küng“. Im Anhang die Ordnung des römischen und bischöflichen Lehrverfahrens, Würzburg 1980, S. 80–118. So auch die Auslegung durch die Kongregation für die Glaubenslehre, in: Der Primat des Nachfolgers Petri im Geheimnis der Kirche, Nr. 10, Online-Ansicht: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19981031_primato-successore-pietro_ge.html, letzter Zugriff: 28.04.2017.
Papsttum im Umbruch: Zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Papsttum |
Die „antimoderne“ Positionierung der Päpste dauerte unter den Nachfolgern Pius’ IX. an. Zu nennen wären die Festlegung der Theologie auf den (Neu-)Thomismus durch Leo XIII. oder – besonders gravierend – die antimodernistischen Dekrete unter Pius X.15 Den ersten und bislang einzigen Fall einer praktischen Anwendung der Unfehlbarkeitsdefinition gab es mit der Definition der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel durch Pius XII. im Jahr 1950.16 Mit diesem Ereignis und mit der vorangegangenen Enzyklika „Humani generis“17 war die konservative Wende des Pacelli-Papstes eingeläutet, der in seinen Enzykliken der 1940er-Jahre durchaus reformerischen Kräften in der Kirche den Rücken gestärkt hatte.18 Nun aber hieß es in „Humani generis“ unter anderem: Man darf nicht meinen, dass das, was in Enzykliken vorgelegt wird, nicht aus sich heraus Zustimmung fordert, weil die Päpste in ihnen nicht die höchste Macht des Lehramtes ausüben. Durch das ordentliche Lehramt wird nämlich das gelehrt, wovon gilt: „Wer euch hört, hört mich“ (Lk 10,16); und das meiste, was in Enzykliken vorgelegt und eingeschärft wird, gehört schon aus anderen Quellen zur katholischen Lehre. Wenn also die Päpste in ihren Schriftstücken aufgrund mühevoller Arbeit über eine Kontroverse ein Urteil fällen, ist klar, dass die Sache gemäß der Absicht und dem Willen der Päpste unter Theologen nicht mehr frei diskutiert werden kann.19
15 Vgl. Unterburger: Lehramt 2010, S. 222–238; Claus Arnold/Giovanni Vian (Hg.): La condanna del modernismo: Documenti, interpretazioni, conseguenze (I libri di Viella 106), Roma 2010. 16 Vgl. Günter J. Ziebertz: „Mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen“. Rückblick auf eine innerkirchliche Kontroverse anlässlich der Verkündigung des Mariendogmas vor 50 Jahren, in: Theologie und Glaube, 90. Jg., 2000, S. 251–273; Ulrich Horst: Martin Grabmann und die Dogmatisierung der Aufnahme Mariens in den Himmel, in: Münchener Theologische Zeitschrift, 50. Jg., 1999, S. 133–144. 17 Text: Acta Apostolicae Sedis, 42. Jg., 1950, S. 561–578; siehe auch http://w2.vatican.va/content/pius-xii/la/encyclicals/documents/hf_p-xii_enc_12081950_humani-generis.html, letzter Zugriff: 28.04.2017. 18 Vgl. Robert Guelluy: Les antécédents de l’encyclique „Humani generis“ dans les sanctions romaines de 1942: Chenu, Charlier, Draguet, in: Revue d’histoire ecclésiastique, 81. Jg., 1986, S. 421–497; Ferdinand Cavallera:, La bulle „Munificentissimus Deus“ et l’encyclique „Humani generis“, in: Bulletin de littérature ecclésiastique, 100. Jg., 1999, S. 283–298. 19 Acta Apostolicae Sedis 1950, S. 561–578; DH 3875-3899 (Auszüge). Übersetzung hier vom Autor.
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In die Diskussion um unfehlbare Entscheidungen des Papstes brachte Pius XII. mit dieser lehramtlichen Aussage ein neues Element ein, das den Verbindlichkeitsgrad von Enzykliken erheblich anhob und sozusagen auf eine Stufe knapp unterhalb der unfehlbaren Entscheidung stellte. Hätte man diesen Paragraphen wirklich befolgt, wären zahlreiche Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils unmöglich gewesen, denn sie gingen klar über das hinaus, was in Enzykliken geregelt war. Doch man hatte eben hinter verschlossenen Türen doch weiter diskutiert.20 Der Kontrast zwischen Pius XII. und seinem Nachfolger Johannes XXIII. zeigt sich bereits im Einsatz symbolischer Mittel recht deutlich.21 Denn während unter Pius XII. und noch in den ersten Jahren Johannes’ XXIII. extensiver Gebrauch von päpstlichen Machtsymbolen gemacht wurde, zeigte sich bei der Konzilseröffnung rasch ein anderes Bild, das selbst zum Symbol für ein neuartiges Selbstverständnis des Papsttums wurde: Der Papst stieg von seiner „sedia gestatoria“ ab und legte den Weg durch die Petersbasilika zu Fuß zurück. Ohnehin sah das Konzilszeremoniell seit dem Mittelalter für den Papst eine differenzierte Symbolik vor, die auch auf dem Zweiten Vatikanum angewandt wurde: Seine Gewandung hatte derjenigen der Bischöfe zu entsprechen, mit Ausnahme der „mitra auriphrygiata“, die ihn als Konzilspräsidenten kennzeichnete. Seine Platzierung im Konzilsraum erlaubte es dagegen, seine herausgehobene Stellung zu inszenieren.22 20 So Otto Hermann Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte, 3. Auflage, Kevelaer 2011, S. 40. Vgl. auch Claus Arnold: Nach dem Antimodernismus? Wege der katholischen Theologie 1918–1958, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, 32. Bd., (2013), S. 15–26. 21 Gerade auch die symbolischen Handlungen machten das Konzil zu einem „Ereignis“ mit einem Mehrwert über die schriftlich niedergelegten Beschlüsse hinaus. Vgl. Bernward Schmidt: Wer ist eigentlich „die Kirche“? Ämter und Laien zwischen Trienter und Zweitem Vatikanischem Konzil, in: Ders. (Hg.): Kontinuitäten und Brüche. Trienter Konzil und Zweites Vatikanisches Konzil im Gespräch (Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungsfragen 37), Aachen 2015, S. 83–86. Zur medialen Vermittlung siehe Erich Garhammer: „Es gibt kein Jenseits der Medien“. Das Zweite Vatikanische Konzil und die Medien, in: Philipp Thull (Hg.): Ermutigung zum Aufbruch. Eine kritische Bilanz des Zweiten Vatikanischen Konzils, Darmstadt 2013, S. 39–47. 22 Zu Fragen von Verfahrensordnung und Symbolik siehe Klaus Ganzer: Zu den Geschäftsordnungen der drei letzten allgemeinen Konzilien. Ekklesiologische Implikationen, in: Winfried Aymans/Karl-Theodor Geringer (Hg.): Iuri canonico promovendo. Festschrift für Heribert Schmitz zum 65. Geburtstag, Regensburg 1994, S. 835–867; Günther Wassilowsky: Symbolereignis Konzil. Zum Verhältnis von symbolischer und diskursiver Konstituierung kirchlicher Ordnung, in: Bernward Schmidt/Hubert Wolf (Hg.): Ekklesiologische Alterna-
Papsttum im Umbruch: Zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Papsttum |
Sein Nachfolger Paul VI. ging den von Johannes XXIII. vorgezeichneten Weg in dieser Hinsicht konsequent weiter. In der Messe zur Wiedereröffnung des Konzils am 13. November 1964 legte er feierlich die Tiara, die in dieser Form seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert gebräuchliche dreifache Papstkrone, ab. Dieses Zeichen hatte zwar mit dem eigentlichen Konzilszeremoniell nichts zu tun, da die Tiara nur außerhalb von Kirchen getragen wurde, umso mehr aber mit einem erneuerten Selbstverständnis des Papsttums, das von den Symbolen der Herrschaft mehr und mehr Abschied nahm. In dieser Linie ist auch die vom italienischen Künstler Lello Scorzelli neu gestaltete „ferula“ zu sehen, das päpstliche Pendant zum Bischofsstab, die Paul VI. erstmals zum Konzilsabschluss 1965 verwendete und die seither – abgesehen von einer Phase im Pontifikat Benedikts XVI., in der die „ferula“ Pius’ IX. wieder hervorgeholt wurde – von allen Päpsten getragen wird.23 Das von Scorzelli gestaltete Kreuz mit dem charakteristisch gebogenen Querbalken hat nichts Triumphales an sich, es trägt vielmehr den leidenden Christus, ist aber zugleich als Baum des Lebens erkennbar. Die Konzentration der Kirche auf Christus, die Paul VI. bereits als Kardinal Montini für das Konzil gefordert hatte, wird hier symbolisch umgesetzt.24 Diese Elemente einer neuen päpstlichen Symbolik dürften ihren Teil zu dem starken Eindruck beigetragen haben, den die zutiefst geistliche Atmosphäre intensiver Diskussionen auf den französischen Dominikaner und Konzilstheologen Yves Congar machte und von der dieser in tiefen Betrachtungen schrieb.25 So sei ein „milieu“ entstanden, in dem das Wirken des Heiligen Geistes in der konziliaren Kollegialität erfahrbar geworden sei.26 Dass die Kirche im Zentrum der Überlegungen des Konzils würde stehen müssen, war bei Konzilsbeginn offensichtlich.27 Über das Schema wurde jedoch in den
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tiven? Monarchischer Papat und Formen kollegialer Kirchenleitung (15.–20. Jahrhundert) (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 42), Münster 2013, S. 37–53. Vgl. Schmidt: Konzilien 2013, S. 272; Cristina Siccardi: Paolo VI.: Il papa della luce, Mailand 2008, S. 320. Vgl. Jörg Ernesti: Paul VI.: Der vergessene Papst, Freiburg im Breisgau u.a. 2012, S. 81. Vgl. Noëlle Hausmann: Le Père Yves Congar au Concile Vatican II, in: Novelle Revue Théologique, 120. Jg., (1998), S. 267–281. Yves Congar: Remarques sur le concile comme assemblée et sur la conciliarité foncière de l’Eglise, in: Ders.: Le Concile au jour le jour: Deuxième session, Paris 1964, S. 9–39; siehe auch ebenda., S. 46. Knappe Überblicke vermitteln etwa Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil 2011 und Schatz: Allgemeine Konzilien 2008, S. 263–336. Großangelegte Darstellung: Giuseppe Alberigo u.a.
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ersten drei Tagungsperioden debattiert, bis 1964 dann die dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ (LG) stand. Anders als „Pastor aeternus“ (1870) befasst sie sich mit der gesamten Kirche. Der intensiv diskutierte Aufbau des Textes bietet zunächst einen Abschnitt über das gesamte Volk Gottes, bevor die Rede auf die Hierarchie kommt. Dies ist insofern von Bedeutung, als zum Ersten der Hierarchie damit auch theologisch der zweite Platz zugewiesen wurde, eine dienende Funktion für das Volk Gottes; zum Zweiten wurde die bis dahin vorherrschende Metapher vom Leib Christi, welche die Kirche einseitig-hierarchisch gezeigt hatte, sinnvoll ergänzt.28 Nur am Rande kann angemerkt werden, dass damit auch die Selbstrelativierung der römischen Kirche durch das berühmte und viel diskutierte „subsistit“ (LG 8) und die Rezeption der Rede vom allgemeinen Priestertum aus Martin Luthers Theologie einhergingen.29 Die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils ist vor diesem Hintergrund nicht zu Unrecht auf das Schlagwort der „communio“ gebracht worden, womit sowohl die Gemeinschaft der Gläubigen als auch die Kollegialität der Bischöfe ausgedrückt wird.30 Letztere freilich steht in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zu den expliziten Primatsaussagen, die sich in „Lumen gentium“ 22–25 finden.31 Das Erste Vatikanische Konzil hatte für die Primatsausübung den wenigstens angenommenen Konsens der Bischöfe vorausgesetzt.32 In „Lumen gentium“ 22
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(Hg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959-1965), 5 Bände, Mainz 1997– 2008. Eine „Gegendarstellung“ erfolgte durch Agostino Marchetto: Il Concilio Ecumenico Vaticano II.: Contrappunto per la sua storia, Vatikanstadt 2005. Bemerkenswert ist in diesem Kontext die Beschreibung des Amtspriestertums als „sacerdos ministerialis“ in „Lumen gentium“ 10, womit der dienende Charakter besonders hervorgehoben wird: vgl. Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil 2011, S. 180–182; Peter Hünermann: Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“, in: Ders./ Bernd Jochen Hilberath (Hg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 2, Freiburg im Breisgau u.a. 2004, S. 302 f., 461. Vgl. Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil 2011, S. 173 f. und 219–223; Hünermann: Theologischer Kommentar 2004, S. 367 und 375–377. Zur Debatte siehe etwau.a. Jörg Splett: „… subsistit in Ecclesia Catholica“. Katholisches Kirchenverständnis, „Dominus Iesus“ und Ökumene, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio, 34. Jg., 2005, S. 528–539; Wolfgang Thönissen:, Über Einheit und Wahrheit der Kirche. Zum Verständnis des „Subsistit“ im gegenwärtigen ökumenischen Disput, in: Catholica, 61. Jg., 2007, S. 230–240. Vgl. Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil 2011, S. 186–192. Vgl. Schmidt: „die Kirche“ 2015, S. 81–83. Zum Verhältnis der beiden Konzilien siehe Hermann Josef Pottmeyer: Kontinuität und Innovation in der Ekklesiologie des II. Vatikanums, in: Giuseppe Alberigo (Hg.): Kirche
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wird betont, dass das Kollegium der Bischöfe nur in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom Autorität hat und diese unbeschadet der primatialen Gewalt des römischen Bischofs ausübt. Die Begründung: „Der Bischof von Rom hat nämlich kraft seines Amtes als Stellvertreter Christi und Hirt der ganzen Kirche volle, höchste und universale Gewalt über die Kirche und kann sie immer frei ausüben.“33 Das Fehlen von Beratungen oder des Konsenses lässt eine maximalistische Auslegung des Ersten Vatikanischen Konzils wieder aufscheinen.34 Die Einbindung des Papstes in das Kollegium der Bischöfe zeigt Abschnitt 25, der unter anderem von der Unfehlbarkeit handelt. Zwar werden hier inhaltlich die Aussagen des Ersten Vatikanischen Konzils wiederholt, doch sind die sprachlichen Variationen aufschlussreich: Der Papst wird dabei als „Bischof von Rom“ tituliert, der als „Haupt des Bischofskollegiums“ handelt. Auch das Bischofskollegium kann als Kollegium und in Gemeinschaft mit dem Papst „authentisch in Glaubens- und Sittensachen lehren und […] auf unfehlbare Weise die Lehre Christi“ verkünden, so dass es in diesem Rahmen ebenfalls Unfehlbarkeit beanspruchen kann. Wenn Bischöfe und Papst somit gemeinsam von ihrer kollegialen Vollmacht in Bezug auf die Gesamtkirche Gebrauch machen – nicht aber, wenn das Kollegium ohne den Papst handelt – kommt ein solcher „kollegialer Akt“ zustande.35 Ein Konzil ist dazu zwar nicht nötig, verleiht der Lehre aber größere Offensichtlichkeit und mehr Nachdruck.36
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im Wandel. Eine kritische Zwischenbilanz nach dem Zweiten Vatikanum, Düsseldorf 1982, S. 89–110. Der Text von „Lumen gentium“ wurde promulgiert in Acta Apostolicae Sedis, 57. Jg., 1965, S. 5–64. Die autorisierte deutsche Übersetzung ist zugänglich auf http://www.vatican.va/ archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html, letzter Zugriff: 28.04.2017 oder in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, 35. Auflage, Freiburg im Breisgau u.a. 2008. Hervorhebung hier vom Autor. Vgl. Peter Hünermann: Theologischer Kommentar 2004, S. 425. Zu den Diskussionen um die Bestimmung des „kollegialen Aktes“ auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil ausführlich Klaus Winterkamp: Die Bischofskonferenz zwischen „affektiver“ und „effektiver Kollegialität“ (Studien zur systematischen Theologie und Ethik 43), Münster 2003, S. 122–344. Hinter dieser Aussage scheint eine rein instrumentelle Sichtweise von Konzilien zu stehen, die erstens in Spannung zur Hochschätzung von Konzilien in „Lumen gentium“ 19 und zweitens durchaus im Widerspruch zur deren liturgisch-symbolischer Realität steht: Vgl. Giuseppe Alberigo: Sinodo come liturgia?, in: Cristianesimo nella storia, 28. Jg., 2007, S. 1–40; Natacha-Ingrid Tinteroff: The Councils and the Holy Spirit: Liturgical Perspectives, in: Gerald Christianson/Thomas M. Izbicki/Christopher M. Bellitto (Hg.): The Church, the
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Andererseits wird im selben Abschnitt auch der „religiöse Gehorsam des Willens und des Verstandes“ für das ordentliche Lehramt des Papstes eingefordert, wenn dieser also nicht „ex cathedra“ spricht.37 Die ursprüngliche Zuspitzung auf die Aussagen des „Enzyklikenparagraphen“ aus „Humani generis“ Pius’ XII. haben die Konzilsväter aber nicht übernommen; die Passage ist damit offener formuliert und lässt bei aller „aufrichtigen Anhänglichkeit“ und allem Gehorsam, die eingefordert werden, noch Fragen, Zweifel und Diskussionen zu. Die skizzierte Spannung zwischen monarchischen und kollegialen Aspekten in der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils lässt sich auch im Umgang Papst Pauls VI. mit dem Konzil beobachten. Seine Wahl galt zunächst als Signal für Kontinuität, war er doch wohl auch der Wunschnachfolger Johannes’ XXIII. und ein dezidierter Anhänger des Konzils gewesen.38 In den Pontifikat des Montini-Papstes fallen sämtliche Beschlüsse des Konzils, da während der ersten Tagungsperiode unter Johannes XXIII. zwar wegweisende Entscheidungen gefällt, aber keine Texte verabschiedet werden konnten. Dabei wandelte Paul VI. die seit dem Mittelalter übliche Formel entscheidend ab: Statt einer päpstlichen Konstitution, die „sacro approbante concilio“ promulgiert wurde, hieß es nun zu Beginn: „Paulus Episcopus Servus Servorum Dei una cum Sacrosancti Concilii Patribus ad perpetuam rei memoriam“.39 Das „una cum“ signalisiert deutlich das Miteinander von Bischöfen und Papst, während die ältere Formel noch eine Unterordnung zum Ausdruck gebracht hatte. Diesem Ausdruck kollegialen Wohlwollens stehen verschiedene Momente gegenüber, in denen die Stellung des Papstes bekräftigt oder ausgebaut werden sollte. Dies gilt erstens für die Geschäftsordnung des Konzils, deren Reform noch von Johannes XXIII. initiiert und von Paul VI. fortgeführt wurde.40 Das bisherige Präsidium wurde dabei von vier Moderatoren abgelöst, die letztlich auf Amleto Cicognani hingeordnet waren, den Kardinalstaatssekretär und Vorsitzenden der Koordinierungskommission. Dies bedeutete zwar keine direkte Abhängigkeit der Moderatoren vom Papst, kann aber doch auch nicht einfach als synodales Element
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Councils & Reform: The Legacy of the Fifteenth Century, Washington, D.C. (District of Columbia) 2008, S. 140–154. Vgl. Hünermann: Theologischer Kommentar 2004, S. 436. Vgl. Ernesti: Paul VI. 2012, S. 67. Paul, Bischof, Diener der Diener Gottes, zusammen mit den Vätern des Heiligen Konzils, zu ewigem Gedächtnis. Vgl. Thomas Neumann: Konzil, System und Recht. Die Perpetuierung der hierarchischen Verfassung in der Ekklesiologie des Ordo Concilii Oecumenici Vaticani II Celebrandi, in: Annuarium Historiae Conciliorum, 45. Jg., 2013, S. 83–114.
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gewertet werden, insofern die Moderatoren weder vom Konzil gewählt wurden noch sich vor ihm verantworten mussten.41 Inhaltliche Leitlinien für das Konzil, aber auch für seinen Pontifikat formulierte Paul VI. in seiner ersten Enzyklika „Ecclesiam suam“ (6. August 1964). Es geht darin um die Kirche, jedoch nicht in dogmatischer Definition oder in kirchenpolitischer Planung, sondern um eine Reflexion vor dem Hintergrund des Konzilsgeschehens. Paul VI. möchte einen Stil beschreiben, der es der Kirche ermöglichen soll, ihre Aufgaben zu erfüllen, und der Selbstbesinnung, Erneuerung und Dialog umfasst, wobei der Dialog zum Schlüsselbegriff wird.42 Doch da der Dialog nicht als Relativierung der (Glaubens-)Positionen missverstanden werden darf, betont der Papst darüber hinaus das notwendige Zusammenwirken von Lehrautorität und Gehorsam in der Kirche.43 Vor diesem Hintergrund äußerte Paul VI. wiederum zwar den Vorsatz, die Freiheit des Konzils respektieren zu wollen, jedoch unbeschadet seiner Freiheit als Papst. Was dies bedeuten konnte, wurde in der „Novemberkrise“ des Jahres 1964 deutlich, die sich aus drei Momenten zusammensetzte:44 1. Das Schema über die Religionsfreiheit wurde kurzfristig nicht zur Abstimmung zugelassen; 2. in das Schema über den Ökumenismus wurden Veränderungen eingefügt, über die vor der Schlussabstimmung nicht mehr diskutiert werden konnte; 3. dem Schema über die Kirche wurde eine „erläuternde Vorbemerkung“ vorangestellt, die nicht Gegenstand der Abstimmung war. Diese „Nota explicativa praevia“ war von der konservativen Minderheit der Konzilsväter durchgesetzt worden und sollte gegenüber der Akzentuierung der bi-
41 Ebenda, S. 107–109. 42 Zur Frage des Stils siehe Christoph Theobald: Das Christliche als Lebensstil. Die Suche nach einer zukunftsfähigen Gestalt von Kirche aus einer französischen Perspektive, in: Christoph Böttigheimer (Hg.): Zweites Vatikanisches Konzil. Programmatik - Rezeption – Vision (Quaestiones disputatae 261), Freiburg im Breisgau u.a. 2014, S. 203–219; Joseph Famerée (Hg.): Vatican II comme style: L‘hermeneutique théologique du concile (Unam Sanctam 4), Paris 2012. 43 Der Text der Enzyklika wurde publiziert in den Acta Apostolicae Sedis, 56. Jg., 1964, S. 609–659. Siehe auch: http://w2.vatican.va/content/paul-vi/la/encyclicals/documents/ hf_p-vi_enc_06081964_ecclesiam.html, letzter Zugriff: 27.04.2017. Vgl. Jörg Ernesti: Die „Dialogenzyklika“ Ecclesiam Suam Pauls VI. Eine kritische Relecture 50 Jahre nach der Veröffentlichung, in: ET-Studies, 5. Jg., 2014, S. 3–20. 44 Vgl. Pesch: Konzil 2011, S. 99–102; Ernesti: Paul VI. 2012, S. 108 f.
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schöflichen Kollegialität den päpstlichen Primat noch einmal betonen.45 So wird explizit zwischen Kollegialität und Gleichrangigkeit unterschieden und der einzelne Bischof in eine „communio hierarchica“ unter dem Papst eingeordnet. Wenn das Bischofskollegium seine höchste Vollmacht in der Kirche ausüben will, dann ist dafür die Zustimmung des Papstes Voraussetzung. Damit wiederholt die „Nota explicativa praevia“ zwar nur bestimmte Ausführungen von „Lumen gentium“, interpretiert sie aber auf diese Weise unter Betonung des päpstlichen Primats. Somit stellte die „Nota“ zwar einen deutlichen Eingriff in die Entscheidungskompetenz des Konzils dar, ermöglichte andererseits aber auch die Zustimmung der konservativeren Konzilsteilnehmer zur gesamten Kirchenkonstitution, die mit nur fünf Gegenstimmen verabschiedet wurde. Die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils steht bezüglich des Papst amtes in der Spannung von Primat und Kollegialität. Die Hierarchie wurde in den Rahmen des Volkes Gottes gestellt, ihre Spitze mit dem Papst als Vorsteher des Bischofskollegiums teilweise neu konzipiert. Die damit verbundene Stärkung des Bischofsamtes ist damit auf diese Weise ein tragender Pfeiler der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils. Eine Konkurrenzsituation im Hinblick auf die oberste Autorität in der Kirche besteht somit streng genommen nicht zwischen Papst und Bischöfen, sondern zwischen dem Bischofskollegium mit dem Papst und dem Papst allein, die jeweils als Träger höchster Vollmacht aufgrund göttlichen Rechts definiert werden. Eine Auflösung dieser Spannung scheint schwierig, lediglich eine Vermittlung ist denkbar, indem nämlich das Bischofskollegium mit dem Papst und auch der Papst allein ihre Leitungskompetenz so wahrnehmen, dass die Kompetenz der je anderen Institution nicht negiert wird. Ziel muss dabei die „Wahrung des Evangeliums und damit verbunden die Aufrechterhaltung und Gewährleistung der verfassungsmäßigen Elemente der Kirche sein.“46 Über die konkrete Ausgestaltung sagen die Konzilstexte nichts. Bei welcher Art von Fragen der Papst zusammen mit dem Bischofskollegium agieren sollte, wann die Form des Konzils angebracht ist, wann eine den Papst beratende Bischofssynode, wann eine päpstliche Entscheidung – darüber gibt es keinerlei Festlegung. Hier wird deutlich, dass das Konzil keineswegs in allen Fragen abschließende Antworten geben konnte, oft genug verstanden sich die Konzilsväter selbst als Suchende, und auch die Diskussionen um das Papstamt in den letzten 50 Jahren zeigen in unterschiedlichen Interpretationen von „communio“ und Kollegialität den Grundkonflikt zwischen Zentralismus und Regionalismus. 45 Vgl. Hünermann: Theologischer Kommentar 2004, S. 539–548. 46 Ebenda, S. 425 f.
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Papst Franziskus hielt es jüngst für angebracht, zu Fragen von Ehe und Familie eine Bischofssynode abzuhalten und auf diesem Weg die Pluralität der Weltkirche vor aller Augen zu führen. Für die Frage nach dem Priestertum der Frau verwies er jedoch auf eine Entscheidung Johannes Pauls II., die ganz im Stil des Enzyklikenparagraphen Pius’ XII. gefällt wurde: Die von Johannes Paul II. durchaus begründete negative Entscheidung entzieht die Sache der weiteren theologischen Diskussion.47 Auf welchem der beiden Wege sich nicht nur päpstliche Vollmacht, sondern auch päpstliche Autorität am besten in die Zukunft vermitteln lassen, werden jedoch erst die Historiker des Bergoglio-Pontifikats beurteilen können. Quellen- und Literaturverzeichnis
a) Dokumente von Päpsten und Konzilien Denzinger, Heinrich/Hünermann, Peter: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen/Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 44. erweiterte Auflage, Freiburg im Breisgau u.a. 2014. Der Primat des Nachfolgers Petri im Geheimnis der Kirche, Nr. 10, Online-Ansicht: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/ rc_con_cfaith_doc_19981031_primato-successore-pietro_ge.html, letzter Zugriff: 21.12.2017. Erstes Vatikanisches Konzil: Dogmatische Konstitution Pastor aeternus (18. Juli 1870), in: Acta Sanctae Sedis, 6. Jg., 1870/71, S. 40–47, Online-Ansicht: http:// w2.vatican.va/content/pius-ix/la/documents/constitutio-dogmatica-pastor-aeternus-18-iulii-1870.html, letzter Zugriff: 21.12.2017. Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Ordinatio sacerdotalis (22. Mai 1994), in: Acta Apostolicae Sedis, 86. Jg., 1994, S. 545–548, Online-Ansicht: https:// w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_letters/1994/documents/hf_jpii_apl_19940522_ordinatio-sacerdotalis.html, letzter Zugriff: 21.12.2017.
47 So Papst Franziskus auf der Pressekonferenz im Flugzeug am 1. November 2016, siehe http:// www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/papst-erteilt-frauenpriestertum-erneut-absage, letzter Zugriff: 28.04.2017. Er nahm dabei Bezug auf: Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ (22. Mai 1994), in: Acta Apostolicae Sedis, 86. Jg., 1994, S. 545–548; siehe auch https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_letters/1994/documents/hf_jp-ii_apl_19940522_ordinatio-sacerdotalis.html, letzter Zugriff: 28.04.2017.
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Papst Franziskus auf der Pressekonferenz im Flugzeug am 1. November 2016, Online-Ansicht: http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/papst-erteiltfrauenpriestertum-erneut-absage, letzter Zugriff: 21.12.2017. Paul VI.: Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964), in: Acta Apostolicae Sedis, 56. Jg., 1964, S. 609–659, Online-Ansicht: http://w2.vatican.va/content/paul-vi/ la/encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_06081964_ecclesiam.html, letzter Zugriff: 21.12.2017. Pius XII.: Enzyklika Humani generis (12. August 1950), in: Acta Apostolicae Sedis, 42. Jg., 1950, S. 561–578, Online-Ansicht: http://w2.vatican.va/content/pius-xii/ la/encyclicals/documents/hf_p-xii_enc_12081950_humani-generis.html, letzter Zugriff: 21.12.2017. Rahner, Karl/Vorgrimler, Herbert: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, 35. Auflage, Freiburg im Breisgau u.a. 2008. Zweites Vatikanisches Konzil: Dogmatische Konstitution Lumen gentium (16. November 1964), in: Acta Apostolicae Sedis, 57. Jg., 1965, S. 5–64, Online-Ansicht: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/ vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html, letzter Zugriff: 21.12.2017. b) Literatur Alberigo, Giuseppe u.a. (Hg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965), 5 Bände, Mainz 1997–2008. Alberigo, Giuseppe: Sinodo come liturgia?, in: Cristianesimo nella storia, 28. Jg., 2007, S. 1–40. Arnold, Claus: Zur Einleitung: Nach dem Antimodernismus? Wege der katholischen Theologie 1918–1958, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, 32. Bd., 2013, S. 15–26. Arnold, Claus/Vian, Giovanni (Hg.): La condanna del modernismo: Documenti, interpretazioni, conseguenze (I libri di Viella 106), Roma 2010. Beinert, Wolfgang (Hg.): Vatikan und Pius-Brüder. Anatomie einer Krise, Freiburg im Breisgau u.a. 2009. Benedikt XVI. und sein Schülerkreis/Kardinal Koch, Kurt: Das Zweite Vatikanische Konzil. Die Hermeneutik der Reform, Augsburg 2012. Bischof, Franz Xaver (Hg.): Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Stand und Perspektiven der Forschung im deutschsprachigen Raum (Münchener kirchenhistorische Studien 1), Stuttgart 2012. Böttigheimer, Christoph/Dausner, René (Hg.): Das Konzil „eröffnen“. Reflexionen zu Theologie und Kirche 50 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2016.
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Papsttum im Umbruch: Zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Papsttum |
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Ziebertz, Günter J.: „Mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen“. Rückblick auf eine innerkirchliche Kontroverse anlässlich der Verkündigung des Mariendogmas vor 50 Jahren, in: Theologie und Glaube, 90. Jg., 2000, S. 251–273.
Rainer Gries
Johannes XXIII.: Der römische Papst als „Bruder“ und „Vater“
1. Johannes XXIII.: „Papa di transizione“?
„Empfange die mit der dreifachen Krone geschmückte Tiara und wisse, dass Du der Vater der Fürsten und Könige bist, der Lenker des Erdkreises, der Statthalter unseres Erlösers Jesus Christus auf Erden, dem Ehre und Ruhm gebühren in Ewigkeit.“1 Mit dieser hergebrachten, in der Mitte des 20. Jahrhunderts gleichwohl bombastisch anmutenden Formel wurde auch der 261. Nachfolger auf dem Stuhl des Apostels Petrus am 4. November 1958 getreu der Tradition zum römischen Pontifex Maximus gekrönt. Aber: „Vater der Fürsten und Könige“? „Lenker des Erdkreises“? Stellvertreter Gottes? Der neue Papst begrüßte die Gläubigen und die ganze Welt an jenem Tag mit einer einfachen und demütigen Sentenz, indem er aus dem ersten Buch Mose zitierte: „Ich bin Josef, Euer Bruder“ (Gen. 45,4).2 Mit diesen beiden Aussagen stellte er nicht nur vom ersten Tag seines Pontifikats an all die Distanz erzeugenden und Verehrung heischenden Epitheta des Papstamtes in Frage, indem der Pontifex auf seinen säkularen Vornamen verwies, sondern er ließ zugleich ein fundamentales theologisches, kirchen- und konfessionspolitisches Programm aufscheinen, das er bis zu seinem Tode ins Werk setzen sollte: „Ich bin Euer Bruder.“ Dieser Papst verstand sich und verhielt sich zuerst als „Bruder“ unter mitchristlichen Geschwistern – und als solcher sprach er auch alle seine Zeitgenossen überall auf der Welt an.
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Zitiert in: Josef Rußwurm: Die dreifache Krone. Machtvolle Sprache uralter Symbole, in: Deutsche Tagespost (Würzburg), Jg. 11, 27. November 1958. Beständig wiederholte Johannes XXIII. die alttestamentarische Geschichte vom Wiedersehen Josefs mit seinen Brüdern in Ägypten als Parabel für die Begegnung mit den christlichen Konfessionen; zahlreiche Medien griffen dieses Diktum in den Anfangsmonaten des Pontifikats auf. Vgl. dazu auch Robert Rothmann (Hg.): Ich bin Josef, Euer Bruder. Papst Johannes XXIII. Anekdoten und Erinnerungen, Leipzig 2001.
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Angelo Giuseppe Roncalli war 1881 in der Gegend von Bergamo geboren worden. 1958, zu Anfang seines Pontifikats, stand er bereits im 77. Lebensjahr. Ein neuer Papst in diesem hohen Alter konnte nur ein „papa di transizione“ sein, ein Übergangspapst, von dem nichts Umwälzendes zu erwarten war, so die allerersten Kommentare der Vatikanisti. Das Kardinalskollegium hatte mit der Wahl des Patriarchen von Venedig offenbar Zeit gewinnen wollen. Roncalli, der Sohn eines armen Pächters, eines Landarbeiters also, brach noch im Moment seiner Wahl selbst mit einer Tradition: Mit Bedacht setzte er sich von seinen unmittelbaren Vorgängern ab, indem er sich als Papst den Namen Johannes zulegte. Seine Botschaft schien schon am ersten Tag seiner Berufung eindeutig: Johannes XXIII. würde die Politik der vorigen Päpste nicht fortsetzen. Rasch wurde offenbar, dass Johannes die Performanz des Papsttums in der Moderne hinterfragen wollte, mehr noch: dass er die Art und Weise der Präsentation und der Repräsentanz des Papsttums in der Kirche, unter den christlichen Konfessionen und in der Welt neu zu justieren beabsichtigte. Von Beginn an erwies er sich als ein Pontifex, der Übergänge und Überschreitungen liebte, der einerseits Grenzen respektierte und andererseits Entgrenzungen wagte. Johannes XXIII. war der erste Papst der Moderne, dessen Person, dessen Botschaften und dessen „Politik“ nicht nur bei Katholiken, sondern auch bei evangelischen und orthodoxen Christen, ja bei Anders- und Nichtgläubigen auf der ganzen Welt Gehör fanden. Die außerordentliche Resonanz und Akzeptanz von Johannes XXIII. zeigte sich nicht zuletzt in der weltweiten Trauer bei seinem Ableben 1963: Zu einem Nekrolog aufgefordert, wird mein Gefühl der Unzuständigkeit durch die Bestürzung über den Tod eines Menschen zurückgedrängt, in dem erst die Zukunft den Staatsmann anerkennen wird, der tiefer und weiterreichend als jeder andere Papst in neuer Zeit dem Werk der Versöhnung diente3,
schrieb damals der Papstkritiker und Protestant Rolf Hochhuth. Johannes XXIII. habe es sich nicht ein einziges Mal erlaubt, überhaupt von „Protestanten“ zu sprechen: „Er nannte uns stets ‚unsere getrennten Brüder‘.“ Deshalb sei es auch für einen Nichtkatholiken wie ihn schwer, seinem Tod mit der Gelassenheit zu begegnen, mit der man sonst die Abberufung eines Greises hinnehme:
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Rolf Hochhuth: Ein Nachfolger seinesgleichen?, in: Der Spiegel, Jg. 17, 24/1963, 12. Juni 1963, S. 75.
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Denn wer wagte hier von Vollendung zu sprechen? Diesem Papst schien die Toleranz ein so selbstverständliches Gebot, daß er sie so wenig wie irgend etwas sonst zum Dogma erhob. […] Deshalb nämlich trauert um Papst Johannes aufrichtig eine ganze Welt, die in immer geringerem Maße vom katholischen Glauben bestimmt wird und die vom Glauben allein, ganz gleich von welchem, auch nicht mehr gehalten werden könnte.4
Damit sind die Eckpunkte des Parallelogramms benannt, das dieser Beitrag ausmessen möchte. Er unternimmt den Versuch einer Bestandsaufnahme der medial vermittelten Zuschreibungshorizonte von Papst Johannes XXIII. am Beginn des „aggiornamento“ der römischen Kirche unter den Auspizien einer sich rasant säkularisierenden Welt und unter besonderer Berücksichtigung protestantischer Relationen und Reaktionen. 2. Der neue Stil: Das Charisma des Alltäglichen revolutioniert die Symbolkulturen des Papsttums 2.1. Menschlichkeit und Offenheit
„Ein Mann aus dem Volke auf dem Thron Petri“, titelte „Die Welt“ bereits wenige Tage nach der Inthronisation des neuen Papstes.5 Johannes XXIII. wollte als Diener Gottes Bruder unter Brüdern und Schwestern, „Mensch unter Menschen“ sein. Die journalistischen Beobachter sprachen und schrieben bereits Ende 1958 vom „dolce stil nuovo“6, der jetzt im Vatikan eingezogen sei. Die extreme administrative und autokratische Zuspitzung der Kurie auf seinen Vorgänger Papst Pius XII. wurde beendet. Papst Johannes XXIII. umweht eine andere Luft als Pius XII. Der Unterschied ist sinnfällig, er springt geradezu ins Auge: Tausende Fotos zeigten Eugenio Pacellis ernste, asketische Gestalt, die beinahe nicht mehr von dieser Erde schien, inmitten einer zu Tränen bewegten, erschütterten Menge; den Papst Roncalli sehen wir von 4 Ebenda. 5 Friedrich Meichsner: Jubel um Johannes XXIII. Ein Mann aus dem Volke auf dem Thron Petri, in: Die Welt, Jg. 13, 30. Oktober 1958. 6 Otto B. Roegele: „Dolce stil nuovo“. Spekulationen und Tatsachen über den neuen Papst, in: Rheinischer Merkur, Jg. 13, 7. November 1958.
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| Rainer Gries Besuchern umringt, die aus vollem Herzen lachen, denn dem Munde des Oberhirten ist soeben ein gutmütiges Scherzwort entflohen, in seinen eigenen Augen blitzt noch der Nachgenuß der Ironie.7
Bereits wenige Tage nach seiner Wahl konnten die Journalisten denn auch einen „bemerkenswerten Unterschied“ in der Art der „Verehrung“ feststellen.8 Zum verstorbenen Papst hatte die Menge ehrfurchtsvoll, wie zu einem Heiligen aufgeblickt. Bereits nach wenigen Tagen deutete sich im Vatikan ein fundamentaler Wandel an. Dieser Papst nun schien nicht nur – er war ganz und gar ein Mann des Volkes, seinesgleichen. Ein Bauernkopf von einfacher Herkunft, von unverkünstelter Denk- und Redeweise, von schlichtem Auftreten – ein Mann geradeaus, hinter dem die Phantasie nichts Unvermutetes, Rätselhaftes zu erspähen suchte. Nichts Fremdes war an ihm, nichts von jener Hoheit der Mächtigen, die Abstand befiehlt und Ehrfurcht erheischt. Die gedrungene, massige Gestalt mit dem großen Kopf, der fleischigen Nase, den mächtig ausgebildeten Ohren, dem weltlich-frohen Mund, den lächelnden Augen, die sich zum Lesen einer altmodischen Brille bedienten – dies war, rundheraus gesagt, ein Jedermannsgesicht […].9
Johannes XXIII. hatte sich buchstäblich mit dem Tag des Antritts seines Pontifikats wie kein anderer Papst in das kommunikative Gedächtnis seiner Zeitgenossen eingegraben. Kein Zweifel, die Interaktionen Johannes’ XXIII. mit seiner Umwelt waren im Sinne Max Webers charismatisch. Er entsprach dem Muster des religiösen Führers, dem es gelingt, sowohl das „Außeralltägliche“ wie das „Revolutionäre“ glaubwürdig zu repräsentieren. Doch nur auf den ersten Blick mutet diese These wie ein Paradoxon an: Hatte nicht gerade sein Vorgänger und Gegenbild, Papst Pius XII., die Würde und Hoheit des Amtes, mithin die Gottesnähe, wie kein anderer verkörpert? „Seine Erscheinung hebt sich nicht etwa bloß deshalb besonders hervor, weil sein Vorgänger, Papst Pius XII., aus ganz anderem Stoff war“, schrieb „Die Zeit“ 1962. Im Stil einer Litanei stellte die Wochenzeitung die eklatanten Unterschiede der beiden heraus:
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Hans Bauer: Im Vatikan weht jetzt eine andere Luft. Mit „Papa Giovanni“ kam der Zug zur Einfachheit und Natürlichkeit, in: Frankfurter Rundschau, Jg. 14, 5. November 1958. 8 Albert Wucher: Fünf Jahre – eine Epoche, in: Süddeutsche Zeitung, Jg. 19, 5. Juni 1963. 9 Ebenda.
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Jener aus Elfenbein, dieser aus Eichenholz, jener ein Aristokrat, dieser ein Bauer, jener ein Asket, dieser ein vollblütiger Mann, der vor einem mit einfachen Speisen bedeckten Tische nicht zurückscheut, jener ein Mystiker, dieser ein Realist, jener ein Einsamer, dieser ein Freund der Gespräche, jener ein strenges, forderndes Beispiel, dieser eine ‚breite‘, freizügige Natur, jener ein Geist des Apercus, der kristallklaren Bemerkung, dieser ein Mensch der epischen, wärmenden Mitteilung, jener ein großer Geist, dieser ein großes Herz.10
Ganz unvermittelt wandelte sich der Papstthron in einen Stuhl, Johannes lebte eine neue Art von Würde, eine neue Art von Hoheit: Das Außeralltägliche war Ende der 1950er-Jahre das Alltägliche: der „Mann des Volkes“, der Bruder unter Brüdern, der Mensch unter Menschen als Pontifex. Das Charismatisch-Außeralltägliche des Papstamtes hatte sich längst versteinert. Nicht nur für die Gläubigen in der römisch-katholischen Kirche, die nach Erneuerung strebten, sondern für die ganze Welt vermochte der einfache Bauernsohn mit einem Schlag das Charisma des Amtes mit seinem persönlichen Charisma neu aufzuladen: Für eine Vielzahl von Menschen schien damit, weiter in der Terminologie Max Webers gesprochen, das Urcharisma des Christentums, ja das Charisma der einen von Jesus Christus gestifteten Kirche, wieder aufzuscheinen. Soziologische Kommentatoren haben zu diesem Komplex noch das Charisma des von ihm einberufenen Konzils hinzugedacht.11 Kulturgeschichtlich gesehen, setzt eine solcherart gelungene Kommunikation, die sich auf eine politische oder religiöse Führungsfigur bezieht, zweierlei voraus: Erstens eine „Botschaft“, die in sich stimmig ist. Eine kohärente Botschaft stellt gerade beim Kommunikationsmuster „Charisma“ jedoch durchaus keine Selbstverständlichkeit dar, denn im Falle der charismatischen Kommunikation ist die Botschaft komplex und besteht wiederum aus dem Dreiklang von Person, Handeln und Kommunikation. Diese drei Elemente müssen in ihrem Zusammen- und 10 Josef Müller-Marein: Der Papst der Versöhnung. Nach Johannes XXIII. wird die Welt anders aussehen, in: Zeit, Jg. 16, 28. Dezember 1962. 11 Arnold Zingerle: Institution des Außeralltäglichen. Das Konzil aus der Sicht soziologischer Charisma-Theorie, in: Franz-Xaver Kaufmann/Ders. (Hg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996, S. 189– 208.
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Wechselspiel insgesamt als Angebot an die Vielen betrachtet werden, denn sie werden im Ensemble von den Adressaten angeeignet. Und zweitens Gruppen, Generationen oder ganze Gesellschaften, die bereit sind, diesen Botschaftskomplex wahr- und aufnehmen, sich anzueignen und in einem weiteren Schritt der Führungsfigur Folge zu leisten. Die Adressaten dieser dreifachen Botschaftsofferte sind nicht nur als bloße Respondenten zu denken, sondern ihre Handlung wird zum entscheidenden Akt des charismatischen Prozesses: Sie besetzen die Aussagen dieser Botschaft mit Bedeutungen, mit Emotionen und Konnotationen.12 Im besten Fall bringen sie der Führungspersönlichkeit Vertrauen und sogar Zuneigung entgegen: „Charisma“ bekommt somit eine aktive Komponente und geht von den Vielen aus – sie sind es, die der Führungsfigur Charisma entgegen bringen. Wenn die intendierten Botschaften und die akzeptierten Bedeutungen einen hohen Grad der Übereinstimmung erreichen, wenn Botschaften „von oben“ und Bedeutungen „von unten“ zu einem plausiblen und nachhaltigen Muster verschmelzen, das reziprok und repetitiv, vermittelnd und versichernd von den zahlreichen Akteuren gebildet und in Dienst gestellt wird, können wir von einer gelungenen charismatischen Kommunikation sprechen. So gesehen, sind die Vielen die eigentlichen, die bedeutsamen Akteure und Agenten des Charismas. Die Führerpersönlichkeit und seine Gefolgschaft „einigen“ sich auf Interaktionen im Rahmen des Kommunikationsschemas „Charisma“, das für alle beteiligten Kommunikatoren letztlich bestimmte Implikationen bereithält, wie sie Max Weber und andere beschrieben haben.13 Person, Handeln und Kommunikation müssen demnach in die individuellen Identifizierungs- und Sinnstiftungs-, kurz in die Lebenszusammenhänge der Vielen integrierbar sein, soll eine charismatische Kommunikation entstehen.
12 Vgl. Rainer Gries: Kulturgeschichte des Kommunizierens. Konjunktionen, Konjunkturen, und Konnektivitäten, in: Klaus Arnold/Markus Behmer/Bernd Semrad (Hg.): Kommunikationsgeschichte. Positionen und Werkzeuge. Ein diskursives Hand- und Lehrbuch, Münster 2008, S. 45–72. 13 Zur Konzeption des Charismas bei Max Weber siehe Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3, Tübingen 1971; ders.: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie, Hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976; Arnold Zingerle: Theoretische Probleme und Perspektiven der Charisma-Forschung. Ein kritischer Rückblick, in: Winfried Gebhardt/Arnold Zingerle/Michael N. Ebertz (Hg.): Charisma. Theorie – Religion – Politik, Berlin/New York (New York) 1993, S. 249–266, sowie Jörg Bergmann/ Thomas Luckmann/Hans-Georg Soeffner: Erscheinungsformen von Charisma – Zwei Päpste, in: ebenda, S. 121–155.
Johannes XXIII.: Der römische Papst als „Bruder“ und „Vater“ |
Nicht in der Kurie und in Rom, sondern überall auf der Welt nahm man den neuen Stil und die neue Politik des Roncalli-Papstes wahr – und betonte den Unterschied zu den vorangegangenen Pontifikaten. Während selbst Kardinäle und Bischöfe für Pius X. noch als „Untertanen“ galten, sprach Johannes XXIII. nun plötzlich „mit jedem“.14 Der Chefredakteur des „Osservatore Romano“, der päpstlichen Tageszeitung, hatte Pius XII. während dessen zwölf letzten Lebensjahren nie persönlich sprechen können. Johannes XXIII. aber stattete der Redaktion schon wenige Wochen nach seiner Inthronisation einen Besuch ab.15 Dieser Papst signalisierte von Beginn an, dass er kommunizieren und sich austauschen wollte – mehr noch: „Er läßt die andere Meinung gelten, ja sogar in der Öffentlichkeit bekannt werden. Und darin dokumentiert sich gewiß ein neuer Stil, ein Stil, der in den Zeiten des vatikanischen Zentralismus undenkbar gewesen wäre.“16 Die zeitgenössischen Beobachter sprachen gern und oft von einer „Demokratisierung“ der Kirche; einen derart „demokratischen“ Herrscher habe es noch nie im Vatikan gegeben, urteilte „Die Zeit“ zu Weihnachten 1958.17 Die zentralen Paradigmen des neuen Papstes waren jedoch eher die „Dekolonisierung“18 und die „Dezentralisierung“, denn eine „Demokratisierung“:19 Johannes XXIII. wusste nämlich sehr wohl den römischen Zentralismus zu nutzen, um denselben einzudämmen und – vor allem – um den Repräsentanten der Weltkirche künftig Raum zur Artikulation ihrer Perspektiven und Interessen zu geben: „Daher der Rückgriff auf das Konzil, nicht bloß als eine äußere Kundgebung, sondern als eine Erneuerung der ‚Christlichen Republik‘ neben der und mit der durch das Papsttum verkörperten Christlichen Monarchie.“20 14 Azio de Franciscis: Reformen in Rom. Doch geht der Papst behutsam vor, in: Zeit, 13. Jg., 24. Dezember 1958. 15 Volkstümlichkeit statt Etikette. Wandlungen und Reformen unter dem Pontifikat Johannes XXIII., in: Frankfurter Neue Presse, 15. Jg., 23. April 1959. 16 Friedrich Meichsner: Papst Johannes schafft einen neuen Stil. Ein Jahr nach der Krönung, in: Welt, 14. Jg., 9. November 1959. 17 Azio de Franciscis: Reformen in Rom. Doch geht der Papst behutsam vor, in: Zeit, 13. Jg., 24. Dezember 1958. 18 Vgl. die vierte Enzyklika des johanneischen Pontifikats: „Princeps pastorum“. Vgl. dazu: Kirche und farbige Welt. Der deutsche Katholizismus als Schrittmacher, in: Rheinischer Merkur, 14. Jg., 4. Dezember 1959. 19 Josef Müller-Marein: Der Papst der Versöhnung. Nach Johannes XXIII. wird die Welt anders aussehen, in: Zeit, 17. Jg., 28. Dezember 1962. 20 Vo. (Josef Schmitz van Vorst): Johannes XXIII. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Jg., 4. November 1961.
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| Rainer Gries 2.2. Kommunikation und Dialog
Zur Botschaft einer charismatischen Kommunikation gehören jedoch nicht nur die Person und ihre Symbolkraft, sondern auch ihr Handeln, ihre Politik. Johannes XXIII. gelang es, sinnfällig, glaubwürdig und nachhaltig „Bewegung“ im Allgemeinen und „Erneuerung“ sowie „Reform“ als Paradigmen seines Pontifikats zu postulieren und in der öffentlichen Inszenierung des Papstamtes symbolisch darzustellen. Ganz augenfällig wurde dies, als Roncalli die „glorreiche“ und seit dem 19. Jahrhundert propagandistisch genutzte „Gefangenschaft“ der Päpste im Vatikan für beendet erklärte. Als erster Papst des 20. Jahrhunderts überwand er immer wieder die Mauern seines Territoriums auf unterschiedlichen Pfaden „nach draußen“: „Dolcemente – auf sanfte Weise – bin ich dabei, mich aus der Gefangenschaft im Vatikan zu lösen.“21 Johannes, der Priester und Pastor, begab sich gerne ohne Zeremoniell auf den Weg zu den Gläubigen und Geistlichen seiner römischen Diözese – eine sinnfällige Metapher für die Wege der Begegnung und des Dialoges, die er kirchenpolitisch und weltpolitisch beschritt. Sogar zu Fuß machte er sich auf, weswegen ihn amerikanische Korrespondenten in Rom „Johnny Walker“ nannten.22 – Eine eindrückliche symbolische Verschwisterung des Paradigmas der Bewegung mit dem Prinzip des Dialogischen. Papst Johannes XXIII. wurde bereits von den Zeitgenossen als die vorweggenommene Personifizierung der kommenden Beschlüsse des von ihm einberufenen Zweiten Vatikanischen Konzils verstanden. Der Pontifex und das Konzil vermittelten erstmals „die Erfahrung einer durch gleichberechtigte Kommunikation konstituierten Gemeinschaft, die in augenfälligem Kontrast zur üblichen hierokratischen Herrschaft des Vatikans stand.“23 Das gilt gerade auch für die Rezeption des Papstes bei evangelischen Christen in Deutschland. Die damals an Auflage größte deutsche Wochenzeitung, die evangelische „Christ und Welt“, interpretierte die gängige These, Johannes sei als Übergangspapst gewählt worden, indem sie die Frage stellte, ob er denn dann wohl bloß einen „Kompromiss“ darstelle:
21 Vo. (Josef Schmitz van Vorst): Ende einer Gefangenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Jg., 31. Januar 1959. 22 Papst-Reisen. Johnnie Walker, in: Der Spiegel, 14. Jg., 31/1960, 27. Juli 1960, S. 72 f. 23 Franz-Xaver Kaufmann: Zur Einführung: Probleme und Wege einer historischen Einschätzung des II. Vatikanischen Konzils, in: Ders./Zingerle: Vatikanum II und Modernisierung 1996, S. 9–34, hier S. 27.
Johannes XXIII.: Der römische Papst als „Bruder“ und „Vater“ |
Man würde Roncalli wahrscheinlich verkennen und unterschätzen, wenn man ihn auf dem Stuhl Petri nur als den Kandidaten eines Kompromisses ansehen wollte. Seine Aufgeschlossenheit für den Osten, sein Verständnis für den französischen Geist, den modernen Westen, sein Ruhen in der beständigen Tradition – das alles zusammen läuft auf einen ganz anderen Grundcharakter hinaus. Wenn es für einen westlichen, einen lateinischen Menschen überhaupt so etwas gibt, wie das, was die Russen eine […] breite Natur nennen, dann ist das Angelo Guiseppe Roncalli.24
Seine geistlichen und geistigen Fundamente, die Spannbreite seiner Erfahrungen in den Welten des Westens und des Ostens evoziere eine Vielzahl von Forderungen und Anforderungen an den neuen Papst. Es erscheint aus heutiger Sicht jedoch bemerkenswert, dass der ebenso wohlmeinende wie abwägende Kommentator dieses christlichen Mediums keine Hoffnungen auf einen ökumenischen Frühling zu erkennen gab – zumindest nicht zu Beginn des johanneischen Pontifikats. Gleichwohl, die Paradigmen der Bewegung und der Begegnung, der Reform und der Erneuerung, der Kommunikation und des Dialoges, seine natürliche Demut und echte Bescheidenheit sowie die feine Selbstironie machten diesen Papst allein schon durch seinen Gestus und Habitus grundsätzlich kompatibel mit traditionell protestantischen Gefühls- und Glaubenswelten: Mit Johannes XXIII. sei „etwas Neues und Hoffnungsvolles in der Weltchristenheit gewachsen […] – ein ökumenisches Grundgefühl, das die Trennungen zwar nicht aufhebt, aber sie entschärft“, schrieb der Präsident des Evangelischen Bundes Wolfgang Sucker.25 Und der langjährige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Berliner Bischof Otto Dibelius, würdigte anlässlich des Todes von Johannes „die großen Gedanken und kühnen Pläne“ dieses Papstes, aber auch seine „Schlichtheit und Barmherzigkeit“. Sie hätten ihm weithin Verehrung und Liebe gewonnen.26
24 Johannes XXIII. Eine breite Natur auf dem päpstlichen Thron, in: Die Welt, 13. Jg., 6. November 1958. 25 Wolfgang Sucker in: Sonntagsblatt, 18. Jg., 9. Juni 1963, zit. in: Johann Christoph Hampe: Ende der Gegenreformation? Das Konzil. Dokumente und Deutung, Stuttgart/Berlin/ Mainz 1964, S. 52. 26 Politiker und Bischöfe bekunden Beileid, in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 18. Jg., 5. Juni 1963.
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| Rainer Gries 3. Das Ökumenische Konzil: Auf dem Weg zu Erneuerung und Einheit
„[…] damit nur noch eine Herde und ein Hirt sein werde.“ Johannes XXIII. zitierte Johannes, den Evangelisten (Joh. 10,16), als er im Juni 1959 das Zweite Vatikanum dezidiert als ein Ökumenisches Konzil nach Rom einberief.27 Diese Weltsynode werde sicherlich ein wunderbares Schauspiel der Wahrheit, Einheit und Liebe sein, dessen Anblick für jene, welche von diesem Apostolischen Stuhl getrennt sind, eine, wie Wir fest vertrauen, sanfte Einladung sein wird, jene Einheit zu suchen und zu finden, welche Jesus Christus vom himmlischen Vater so heiß erfleht hat28,
schrieb Johannes XXIII. in seiner Antrittsenzyklika „Ad Petri cathedram“ vom 29. Juni 1959. Die „Neue Zürcher Zeitung“ erinnerte daran, dass sich die römische Kirche bis zum Pontifikat Johannes’ zusehends und sogar zunehmend von der Ökumenischen Bewegung distanziert hatte. Papst Pius XII. habe in einer seiner ersten Enzykliken den überkommenen Anspruch der Ecclesia Romana wiederholt, dass sie die eine, heilige katholische Kirche sei und dass neben ihr keine gleichberechtigte Glaubensgemeinschaft existieren könne. Gerade der Vorgänger von Johannes XXIII. habe alle Initiative in der ökumenischen Bewegung ganz und gar den Protestanten überlassen, die ein Jahrzehnt zuvor, 1948 in Amsterdam, den „Ökumenischen Rat“ formierten. Den Protestanten sei es damit gelungen, vom Methodismus bis hin zur griechischen Hierarchie eine Zusammenarbeit in gemeinsamen Institutionen herbeizuführen. Dabei habe der Heilige Stuhl nur durch „unfruchtbares Abseitsstehen“ von sich reden gemacht. Die ökumenische Initiative aus Rom sei daher dringend notwendig, wenn der Heilige Stuhl nicht durch die kraftvoller werdende Föderation der anderen christlichen Kirchen „überspielt“ werden wolle.29 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die „Süddeutsche Zeitung“ eigens erwähnte, dass der Papst nunmehr den Genfer Weltkirchenrat auch als ein Instrument der Wiedervereinigung der Christenheit anerkannte.30
27 Zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Selbstverständnis des Papsttums siehe den weiterführenden Beitrag von Bernward Schmidt in diesem Band. 28 Zit. nach Hans Küng: Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit, Wien/Freiburg im Breisgau/Basel 1962, S. 10. 29 Das Oekumenische Konzil in Rom, in: Neue Zürcher Zeitung, 179. Jg., 15. Februar 1959. 30 Albert Wucher: Das Programm des Papstes, in: Süddeutsche Zeitung, 15. Jg., 3. Juli 1959.
Johannes XXIII.: Der römische Papst als „Bruder“ und „Vater“ |
Zwar war die Einheit der Christen stets von den Päpsten des vergangenen Jahrhunderts thematisiert worden – aber Johannes XXIII. ging völlig neue Wege, die eine große Resonanz in der zeitgenössischen Presse entfachten. Er mochte den Begriff von der Wiedervereinigung der christlichen Kirchen nicht. Er sprach von der wiederherzustellenden Einheit der Kirche Christi. Er war sich bewußt, daß sich die katholische Kirche selbst erst noch auf die wiederzugewinnende Einheit hin entwickeln müsse, daß sie in die Einheit als eine andere eintreten werde als die, die sie jetzt sei, sowohl in ihrem Aufbau wie in ihrer Lehre. Er begrüßte den Aufbruch der pluralistischen Kräfte im Schoß der eigenen Kirche. Im Orient war ihm deutlich zu Bewußtsein gekommen, daß die katholische Kirche nicht die lateinische allein sein kann, daß das geistliche Rom infolgedessen das im engeren Sinn Römische überwinden muß, um wirklich weltoffen zu werden.31
Der „lateinische Dünkel“, so konnte man lesen, müsse ein für alle Mal beseitigt werden. Johannes XXIII. bündelte all diese Erfahrungen und Erwartungen in der Vision eines Ökumenischen Konzils, das die Einheit der getrennten Brüder und die Reform der katholischen Kirche in eins setzte. „In den Akten findet man einen Brief des Papstes vom 28. Oktober 1959 an den General der Franziskaner. Darin ist davon die Rede, daß man ‚eine veraltete Mentalität, veraltete Voreingenommenheiten und veraltete Ausdrücke überwinden‘ müsse, wenn man dem Christentum eine neue Einheit ermöglichen und auch den Menschen anderer Religionen und Glaubensarten eine Brücke des Verstehens bauen will.“32 Nur durch eine umfassende „innerkirchliche Erneuerung“ vorab könne der Weg zur Wiedervereinigung der christlichen Kirchen geebnet werden, sekundierte der junge Tübinger Ordinarius für katholische Fundamentaltheologie Hans Küng damals dem greisen Papst. „Der Protest der gegen die katholische Kirche protestierenden Protestanten muß, soweit er ein Recht in sich trägt, von der katholischen Kirche selbst gegenstandslos gemacht werden“, postulierte Küng.33 Denn: „Nach der Auffassung Johannes’ XXIII. ist die Wiedervereinigung der getrennten Christen an die innerkirchliche Erneuerung gebunden, zu der das […] Konzil einen wesentlichen Beitrag 31 Josef Schmitz van Vorst: Der Papst und die Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Jg., 5. Juni 1963. 32 René Hocke: Zwei Jahre Pontifikat Johannes XXIII. Das geplante ökumenische Konzil wird die Bestrebungen des Papstes widerspiegeln, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Jg., 29. Oktober 1960. 33 Küng: Konzil und Wiedervereinigung 1962, S. 122.
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leisten soll“ – das sah damals nicht nur Hans Küng so.34 „Die Welt“ beobachtete das Geschehen im Vatikan und berichtete wie alle großen deutschen Tageszeitungen in umfangreichen Berichten nach Westdeutschland – für Protestanten wie für Katholiken. Ende 1959 zeigte sich der Korrespondent des Blattes kritisch über die „Wandlung des Konzilsgedankens“ seit dessen Ankündigung durch den Papst im Januar 1959.35 Im Laufe des Jahres mussten aufmerksame und aufgeschlossene Beobachter nämlich feststellen, wie die Akteure der römische Kurie den Impetus der Bischofsversammlung verschoben und umzuwidmen trachteten. „Von Monat zu Monat war deutlicher zu beobachten, wie die konservative Gruppe der Kurienkardinäle die ursprüngliche päpstliche Konzilsidee beeinflußte und sie schließlich in das Gleis des katholischen Ausschließlichkeitsanspruches lenkte.“ Am Ende des Jahres 1959 „ist längst nicht mehr von der ‚Suche nach der Einheit‘, sondern nur noch von der ‚Rückkehr der getrennten Brüder‘ die Rede.“ Eine Entwicklung, die eher eine „Verschärfung der Gegensätze zwischen der katholischen Kirche und den anderen christlichen Kirchen gebracht“ habe. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erkannte die Sprengkraft der Rede von der „Rückkehr“ und die damit einhergehende Wendung zur Wieder-Vereinigung, die sich im Vorfeld des Konzils eingeschlichen hatten. „‚Gestattet‘, bittet er, ‚daß wir Euch mit innigem Verlangen Brüder und Söhne nennen‘ und ‚beachtet, daß wir Euch nicht in ein fremdes Haus einladen, sondern in das eigene gemeinsame Vaterhaus‘“.36 So zitierte die Zeitung den Papst im Wortlaut – und mahnte wohl vor allem die Protestanten in Deutschland nicht ohne Grund zu Geduld und Großmut: Dieser verhaltene Ruf zur Rückkehr ‚ad cathedram Petri‘ sollte nirgends auf falsche Empfindlichkeiten stoßen, auch wenn alle, Katholiken wie Protestanten, wissen, wie zahlreich und groß die Schwierigkeiten sind, die dem Wunsch des Papstes entgegenstehen.37
Sowohl die Person und der neue Stil im Papstamt, wie auch das Ökumenische Konzil sollten Basis und Angebot für einen Dialog unter Brüdern in Christus sein.
34 Ebenda, S. 14. 35 Friedrich Meichsner: Papst Johannes schafft einen neuen Stil. Ein Jahr nach der Krönung, in: Die Welt, 14. Jg., 9. November 1959. 36 Die Stimme aus Rom, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Jg., 3. Juli 1959. 37 Ebenda.
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Ausdrücklich nimmt die Enzyklika auf Deutschland Bezug und erinnert daran, daß die furchtbare Katastrophe des Krieges wenigstens das eine Gute bewirkt hat: die Menschen einander näherzubringen. Das heißt doch auch: Johannes XXIII. weiß und berücksichtigt, daß an der konfessionellen Front zwischen Katholizismus und Protestantismus etwas wesentliches geschehen ist – sozusagen unter dem Eindruck höherer Gewalt. In Konzentrationslagern wie in der Gefangenschaft, in Bombennächten wie in der Todesgefahr im Schützengraben – in all diesen gemeinsam erlittenen Nöten, in Erwartung des letzten Stündleins, sind sich katholische und evangelische Christen nähergekommen, haben sich überhaupt erst wieder kennengelernt und zur Kenntnis genommen. Nach den Jahrhunderten des Auseinanderstrebens, des Betonens der Gegensätze, der gegenseitigen Verketzerung hat ein grausames, im letzten jedoch gnädiges Geschick den getrennten Christen die verlorengegangene Erfahrung des gemeinsamen Nenners, der gemeinsamen Herkunft beschert.38
Johannes’ Offerte wurde von evangelischen Christen in Deutschland mit Freude und Erwartung, aber auch mit gehöriger Skepsis und mit Zurückhaltung vernommen und kommentiert. „Wir werden herausgerufen aus unseren geistlichen Schützengräben und Stellungen, daß wir einander wahrhaft begegnen und einander ins Auge schauen. Das meint eine Menge Anstrengung, Mühe und Arbeit“, schrieb Pastor Martin Niemöller, der Präsident des Weltrates der Kirchen.39 Und „Christ und Welt“ merkte anlässlich des 80. Geburtstages des „Landpfarrers auf dem Papstthron“ vorsichtig an, es könne derzeit keine Prognose gestellt werden, in welcher Weise die auf Differenzierung drängenden Kräfte im katholischen Raum den Weg zu einer Wiedervereinigung der christlichen Kirchen freimachen können, für die nach dem erklärtem Willen des Papstes die Konzilsväter vornehmlich wirken sollen.40
Das Zweite Vatikanum, das im altüberlieferten Sinn des katholischen Kirchenrechtes unter „Ökumene“ zuvörderst die Versammlung der katholischen Bischöfe der Welt verstand, avancierte gleichwohl zu einem Konzil im modernen Verständnis
38 Albert Wucher: Das Programm des Papstes, in: Süddeutsche Zeitung, 15. Jg., 3. Juli 1959. 39 Vorwort vom 3. Februar 1964, in: Johann Christoph Hampe: Ende der Gegenreformation? Das Konzil. Dokumente und Deutung, Stuttgart/Berlin/Mainz 1964, S. 14. 40 Joachim Schilling: Landpfarrer auf dem Papstthron. Zum 80. Geburtstag von Papst Johannes XXIII., in: Christ und Welt, 14. Jg., 10. November 1961.
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des Begriffes: zu der Arena ökumenischer Begegnung und Beratung im 20. Jahrhundert schlechthin. 4. Paradigmen des johanneischen Pontifikats: Historizität – Reflexivität – Kommunikation
Der Pontifikat von Johannes XXIII. und seine Konzilspolitik können mithilfe von drei Paradigmen analytisch gefasst werden: Erstens zog mit dem gelernten Kirchenhistoriker Roncalli ein vertieftes Verständnis von Geschichtlichkeit in das Denken, Fühlen und Handeln der Kirche ein. Zweitens: Damit eng verknüpft und verbunden mit der Forderung nach einer „Öffnung des Fensters zur Welt“ wurde mit dem Konzil die ekklesiologische Selbstreflexion notwendig. Drittens: Johannes XXIII., der ehemalige Diplomat in Bulgarien, der Türkei und in Frankreich, sah sich nicht als Dogmatiker, sondern als Pastor, als Seelsorger „der ganzen Welt“. Das Zweite Vatikanum war somit erstmals in der Geschichte der Kirche kein Lehrkonzil, das Dogmen verteidigte und sogar Häretiker brandmarkte, sondern ein sogenanntes Pastoralkonzil, das Fragen der Beziehung von Kirche und Umwelt thematisierte. Papst und Konzil lagen also die erfolgreiche seelsorgerische Kommunikation am Herzen.41 Die Historizität der Kirche, auch die Historizität der Verkündigung des „depositum fidei“, des Glaubensschatzes, war für Roncalli selbstverständlich. Die Form der Verkündigung galt ihm als Akzidenz, während der Inhalt für ihn unwandelbare Substanz darstellte – hier wollte er keine Abstriche machen. Es waren daher die Mittel und Medien der Verkündigung der Glaubensbotschaft, die Johannes XXIII. an die Zeit anpassen wollte. Mit diesem dualen und zugleich historisierenden Verständnis der kirchlichen Heilsbotschaft blieb der Roncalli-Papst auch und gerade ein konservativer Geist, der noch vollends durch die Theologie der Neuscholastik geprägt worden war. Die Wahrnehmung der Historizität des Christlichen wiederum avancierte zum Fundament des Gespräches mit den anderen christlichen Konfessionen.
41 Vgl. dazu Rainer Gries/Roland Cerny-Werner: Der Vatikan und der Ostblock im Kalten Krieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/2009, 59. Jg., 29.12.2008 (Themenheft „Politische Kultur im Kalten Krieg“), S. 39–45, und Dies.: Mediation als Mission. Die weltpolitischen Dimensionen des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Forum Schulstiftung, Sonderheft 50 (Juni 2009), S. 172–189.
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Die Wendung zur Welt im Allgemeinen und die Zuwendung zu den „getrennten Brüdern“, also die Neukontextualisierung der Kirche, machte deren Selbstreflexion erforderlich: Johannes XXIII. symbolisierte durch seine Person, durch seinen Gestus und durch seinen Habitus in überzeugender Weise einen Weg hin zur Überwindung des überkommenen triumphalistischen Kirchenbildes, wie es zuletzt Pius XII. repräsentiert hatte.42 Das Kirchenbild der Mehrheit der Konzilsväter war denn auch nicht mehr durch die „ecclesia perfecta“ gekennzeichnet, sondern durch die Vorstellung von einer demütig sich immer wieder erneuernden „ecclesia semper reformanda“. Johannes XXIII. beendete mit diesem Verständnis der Kirche zugleich und für alle Gläubigen diesseits wie jenseits der konfessionellen Grenzen sicht- und fühlbar die Sakralisierung und Überhöhung des Papsttums ins Übermenschliche, die unter Pius XII. noch prägend gewesen war. Gleichzeitig bekräftigte er jedoch auch den Primat der römischen Kirche und den Primat des römischen Bischofs: „Wir bitten euch, doch recht zu begreifen, daß Unser liebevoller Aufruf zur Einheit der Kirche euch nicht dazu einlädt, in ein fremdes Haus zu kommen, sondern in das gemeinsame Haus, in das Haus des Vaters.“ Und dies bedeutete auch für Johannes XXIII.: ein Leben in Einheit mit dem Apostolischen Stuhl in Rom.43 Dass das Verhältnis zwischen Papst und Bischöfen auf eine neue Grundlage gestellt werden sollte, zeigt allein schon das unerwartete Ereignis des Konzils an sich. Die rund 2.500 Konzilsväter konnten denn auch frei und nahezu ohne Eingriffe des römischen Oberhirten tagen und beschließen. Der offene Geist des Konzils wurde aber nicht nur von den katholischen Bischöfen aus aller Welt und ihren Mitarbeitern, sondern auch von den Beobachtern der nichtrömischen Kirchen zunächst enthusiastisch gefeiert. Mehr noch, Johannes charismatisierte geradezu das Konzil: In dieser Versammlung in Sankt Peter sollte das „heißersehnte ‚neue Pfingsten‘ aufleuchten“ – für ihn sollte das Konzil mithin ein Fest der Verständigung und die Wiedergeburt der einen Kirche evozieren. Johannes institutionalisierte die Kommunikation und den Dialog mit den christlichen Kirchen und Gemeinschaften sowie ihren Repräsentanten bereits im Vorfeld des Konzils 1960, als er eigens das „Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen“ ins Leben rief, zunächst als eine vorbereitende Konzilskommission. 42 Vgl. Karl Gabriel: Katholizismus und katholisches Milieu in den fünfziger Jahren der Bundesrepublik: Restauration, Modernisierung und beginnende Auflösung, in: Kaufmann/Zingerle: Vatikanum II und Modernisierung, 1996, S. 67–84, hier S. 74. 43 Antrittsenzyklika „Ad Petri Cathedram“ vom 29. Juni 1959, in: Hampe: Ende der Gegenreformation? 1964, S. 32–34, hier S. 33.
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Diese Behörde hat bis heute als „Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen“ Bestand. Die Berufung von Augustin Kardinal Bea zu deren Präsidenten wurde mit Recht als ein glaubwürdiges Zeichen gerade an die protestantischen Glaubensbrüder gewertet. Als renommierter Bibelwissenschaftler genoss der Kurienkardinal gerade bei ihnen hohes Ansehen und große Glaubwürdigkeit; er galt gemeinhin als päpstlicher „Botschafter der Einheit“.44 Die katholische Kirche akzeptierte nun sowohl im Verhältnis zu den anderen christlichen Konfessionen wie auch zum modernen liberalen Verfassungsstaat den Grundsatz der Pluralität. Pius XII. hatte hingegen noch auf eine aggressive Grenzziehung zu den nicht-katholischen Glaubensgemeinschaften gedrungen. Der Korrespondent der „Zeit“ versuchte, seinen deutschen Lesern die ganze Tragweite dieses weltweiten Anspruchs nahe zu bringen: Wir Deutschen haben derweil vornehmlich die Jahrhunderte alten Spannungen zwischen den Christen katholischer und protestantischer Konfession gesehen. […] Nicht nur die deutschen, nicht nur die europäischen Sorgen – es werden die Sorgen der ganzen Christenheit vorgetragen. Erst in diesem weltweiten Rahmen begreift man die säkulare Bedeutung dieses Konzils. Es will nicht nur ‚Versöhnung‘ – das wäre allzu billig –, sondern es ist der gigantische Versuch, die Welt von den Ordnungen aus christlichem Geist her neu aufzuerbauen.45
Hinsichtlich der „getrennten Brüder“ erklärte das Konzil, Elemente der Heiligkeit könnten sich auch in anderen christlichen Gemeinschaften wiederfinden. Roncalli, der profunde Kenner der Ostkirche, förderte mit großem Ernst und Nachdruck den Dialog mit den christlichen Bruderkirchen, so dass auf dem Konzil auch die Patriarchate von Moskau und Konstantinopel vertreten waren. Die Repräsentanten der Orthodoxie und der christlichen Gemeinschaften erhielten ebenso wie die protestantischen Vertreter und die Anglikaner einen sogenannten qualifizierten Beraterstatus zuerkannt. Die Akzeptanz der gesellschaftlichen und religiösen Pluralität bedeutete die verspätete Akzeptanz der Prinzipien der Französischen Revolution und die Ankunft in der Moderne. Das sozialdemokratische Blatt „Vorwärts“ interpretierte das jo-
44 Vgl. sein Bild des „ökumenischen Frühlings“ in Augustin Kardinal Bea: Der Weg zur Einheit nach dem Konzil, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1966. 45 Josef Müller-Marein: Der Papst der Versöhnung. Nach Johannes XXIII. wird die Welt anders aussehen, in: Die Zeit, 17. Jg., 28. Dezember 1962.
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hanneische Programm als ein Programm der „Aufklärung“.46 Die Kirche fügte sich nunmehr in die Rolle einer gesellschaftlichen Institution von vielen im weltanschaulich offenen Staat – das hatte Folgen für das pastorale und das kommunikative Selbstverständnis der Kirche und ihrer Protagonisten – und trug maßgeblich dazu bei, die Voraussetzungen für ein gelingendes Gespräch mit den protestantischen Kirchen zu schaffen. „Soviel ist gewiß“, resümierte der evangelische Theologe und Publizist Johann Christoph Hampe: „Wäre Luther, Calvin und Zwingli ein solches Konzil angeboten worden, sie würden bis ans Ende der Welt gereist sein, um ihre Sache auf ihm vorzutragen.“47 5. Zeitenwende: Die drei Zeithorizonte des johanneischen Pontifikats
Die breite Akzeptanz dieses Papstes und seiner Politik scheint nicht zuletzt deshalb so außerordentlich überwältigend, weil mit seinem Pontifikat gleich drei Zeithorizonte der Kirchengeschichte gebündelt wurden und ganz neue Plattformen und Formen des Austausches und Dialoges, der Pastoral und der Liturgie aufschienen: Vierhundert Jahre Gegenreformation und rund ein Jahrhundert Antimodernismus endeten – die römische Kirche stellte sich im selben Atemzug als Weltkirche den drängenden Herausforderungen der sich modernisierenden Gegenwart und Zukunft. Tridentinum: Mit dem Reformpapst endet eine vierhundertjährige historische Amplitude: Grundlegende Prinzipien der nachtridentinischen, gegenreformatorischen Kirche des 16. Jahrhunderts wurden endgültig und glaubwürdig zu Grabe getragen. Diese zeitgenössische Einschätzung stammt von einem führenden Protestanten, dem amerikanischen Professor George A. Lindbeck,48 einem der Delegierten des Lutherischen Weltbundes beim Konzil. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Kurt Scharf, nahm diesen Gedankengang wie viele andere sogleich auf.49 46 Theo Risse: Aufrichtiger Freund aller Nationen. Zum Tode Papst Johannes XXIII., in: Vorwärts, 88. Jg., 5. Juni 1963. Auch die Neue Zürcher Zeitung sieht in den Botschaften dieses Papstes „Gedanken der Aufklärung“ aufscheinen: Papst Johannes XXIII. gestorben, in: Neue Zürcher Zeitung, 183. Jg., 5. Juni 1963. 47 Johann Christoph Hampe: Ende der Gegenreformation? Einleitung des Herausgebers, in: Ders.: Gegenreformation 1964, S. 15–19, hier S. 19. 48 Siehe George A. Lindbeck: Dialog unterwegs. Eine evangelische Bestandsaufnahme zum Konzil, Göttingen 1965. 49 Hampe: Gegenreformation 1964, S. 17.
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| Rainer Gries Abb. 1: Luther und der Papst, Buchcover aus dem Jahr 1964: „In der Verlagsgemeinschaft eines evangelischen und eines katholischen Verlages herausgebracht, durch das Vorwort eines Moderators des Konzils und eines Präsidenten des Weltrates der Kirchen empfohlen, von evangelischen und katholischen Autoren geschrieben, möchte dieses Buch gleichsam ein erster ökumenischer Vollzug dessen sein, was viele Christen heute erhoffen.“
Der Eckpfeiler dieser Periode war das Tridentinum, das von 1545 bis 1563 tagte und die Reorganisation der römischen Kirche als eigene Konfession im Widerstreit mit Luthertum und Calvinismus brachte. Für den bereits in den 1950er-Jahren bekannten Reformtheologen Hans Küng markierte das Pontifikat Johannes’ XXIII. das Ende des kirchlichen Mittelalters, insofern es scholastisch, juristisch, hierarchistisch, zentralistisch, sakramentalistisch, traditionalistisch, exklusiv und oft auch abergläubisch gewesen sei. Johannes sah die Kirche nicht mehr in statischen oder gar juridischen Kategorien, sondern als dynamische, geschichtlich-prozesshafte Gemeinschaft, zu deren Akteuren nicht mehr nur die Kleriker, sondern alle Gläubigen zählten.50 50 Vgl. Klaus Wittstadt: Perspektiven einer kirchlichen Erneuerung – Der deutsche Episkopat und die Vorbereitungsphase des II. Vatikanums, in: Kaufmann/Zingerle: Vatikanum II und Modernisierung 1996, S. 85–106, hier S. 102.
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Dieses Programm öffnete schon vor dem Konzil zahlreiche Türen, die bis dahin verschlossen geblieben waren. „Katholiken werden Ende dieser Woche ein Ereignis registrieren können, das nach dem Urteil des ‚Guardian‘ in Manchester ‚nicht minder bemerkenswert ist als die amerikanische Präsidentenwahl‘“, kommentierte „Der Spiegel“ 1960 den Besuch des Erzbischofs von Canterbury und Primas der anglikanischen Gemeinschaft, Geoffrey Fisher, im Dezember desselben Jahres bei Papst Johannes.51 Diese von der zeitgenössischen Presse zum „holy summit“ stilisierte Begegnung war eigentlich bloß als klandestines und informelles Gespräch zweier christlicher Bischöfe geplant. Gleichwohl war sie die erste Begegnung zwischen einem anglikanischen und einem katholischen Kirchenoberhaupt überhaupt – damit darf sie aller protokollarischer Vorbehalte zum Trotz als ein wirksames Zeichen für das Ende dieser Epoche gelten:52 Und wenn man bedenkt, daß vierhundert Jahre nach der von König Heinrich VIII. erzwungenen Trennung der anglikanischen Kirche von Rom vergehen mußten, bevor der höchste Priester der anglikanischen Schismatiker mit dem Papst von Angesicht zu Angesicht sprechen konnte, so ist das bisher Erreichte nicht hoch genug einzuschätzen53,
kommentierte „Die Zeit“ das Epoche machende Ereignis. Erstes Vatikanum: Im 19. Jahrhundert hatten sich breite Kreise in Deutschland und die römische Kurie unter Pius IX. auf ein verklärtes Bild von der mittelalterlichen Kirche berufen und das antimodernistische Profil erheblich verschärft. Die Kirche reagierte auf die gesellschaftliche und politische Defensive, mit der sie sich konfrontiert sah, mit Geboten und Verboten, mit Dogmen und Strenge – und mit der beständigen Stärkung des Papsttums wie des römischen Zentralismus. Heute aber gelte es, so Johannes in der Eröffnungsansprache des Konzils, nicht die autoritäre „Waffe der Strenge“, sondern „das Heilmittel der Barmherzigkeit“ anzuwenden. Die Kirche glaube, „es sei den heutigen Notwendigkeiten angemessener, die Kraft ihrer Lehre ausgiebig zu erklären, als zu verurteilen.“54 Insofern kam auch 51 Anglikaner. Sogar mit den Römischen, in: Der Spiegel, 14. Jg., 49/1960, 30. November 1960, S. 72 f. 52 Zur weiteren Entwicklung der Beziehungen zwischen den römischen Päpsten und den Primates der Anglikanischen Kirchen siehe den aufschlussreichen Beitrag von Gerulf Hirt in diesem Band. 53 Die Zeit, 15. Jg., 30. Dezember 1960. 54 Zit. nach Hampe: Gegenreformation 1964, S. 39.
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eine etwa hundertjährige Amplitude zu ihrem Ende, die mit der ultramontanen Kirche des 19. Jahrhunderts begründet wurde und aus der in Deutschland das Phänomen des Katholizismus erwuchs. Der Ausgangspunkt dieser Ära war die Regentschaft Pius’ IX. und das Erste Vatikanum von 1869 bis 1870, das in der Verkündung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes gipfelte. Das Dogma der Infallibilität hat Johannes zwar nicht revidiert, aber durch die neue Kultur seines Pontifikats augenfällig dementiert. Im Interesse der Dialogfähigkeit setzte Johannes XXIII. zudem die Renaissance des Marienkultes nicht fort, der von Pius IX. mit der Verkündung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens im Jahr 1854 forciert worden war. Pius XII. hatte den Marienkult durch das Dogma von der leiblichen Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel noch 1950 bekräftigt. Das Zweite Vatikanum dagegen dekretierte, bei der Formulierung des katholischen Glaubens sei alles zu unterlassen, was den Dialog mit den anderen christlichen Gemeinschaften behindern würde. Hinzu kamen drittens die Herausforderungen der unmittelbaren Gegenwart und Zukunft: Die Kirche holte mit Johannes XXIII. nicht nur adäquate Reaktionen auf die Modernisierungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert nach, sondern sie musste sich zu den Individualisierungs- und Liberalisierungsprozessen der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts55 verhalten; sie hatte mit dem sich beschleunigenden Säkularisierungsgeschehen umzugehen – und mit der beginnenden „Shift“ weg von der verfassten Religion hin zur selbst gestalteten Religiosität. Ganz unvermittelt avancierte die katholische Kirche mit diesem Papst an ihrer Spitze auf diese Weise Anfang der 1960er-Jahre zu einem Vorreiter, ja sogar zu einem Vorbild auch für Protestanten. Mancher katholische Christ habe in den Jahren des Pontifikats Johannes’ XXIII. eine „wesentliche innere Wandlung durchgemacht“, konstatierte die „Welt“ in ihrem Nachruf auf Johannes: Der Katholik habe gelernt, bei aller „Unnachgiebigkeit im Grundsätzlichen die verständnisvolle Liebe über den gegenreformatorischen Eifer“ zu stellen, er habe begriffen, dass er in einer pluralistischen Gesellschaft lebe, die nur im Bemühen um das gegenseitige Sichverstehen ihrer Glieder bestehen könne, „nicht aber aus der einseitigen Verdammung des Nächsten“. Dadurch habe sich nicht nur das Verhältnis zwischen den christlichen Konfessionen in Deutschland gebessert, sondern die katholische Kirche selbst habe an „Ausgeglichenheit und an Freiheit“ gewonnen.56 Die katholische Kirche, ihre Oberhirten, ihr Klerus, ihre Organisationen und die Laien 55 Vgl. Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002. 56 Friedrich Meichsner: Papst Johannes, in: Die Welt, 18. Jg., 4. Juni 1963.
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sahen sich in der Tat zeitgleich mit dem Pontifikat Johannes XXIII. einem gewaltigen gesellschaftlichen Wandelgeschehen ausgesetzt, das ganz überwiegend hoffnungsvoll als Aufbruch in eine neue Zeit gedeutet wurde. Bereits zuvor, während der 1950er-Jahre, war es zudem gerade mit Hilfe der Amtskirche gelungen, das „traditionelle katholische Milieu fast vollständig in die neue überkonfessionelle politische Struktur einzuschmelzen.“57 6. Johannes XXIII.: „Bruder“ und „Vater“ der Christen- und der Menschheit
Johannes XXIII. galt den Medien in Westdeutschland als Inkarnation des mentalen Wandels bei Protestanten und Katholiken während der ersten Jahrzehnte des Nachkriegs. Nördlich der Alpen, in Deutschland, haben sich die Christen daran gewöhnt, die Angehörigen anderer christlicher Bekenntnisse öffentlich Brüder zu nennen. Freilich, das ist noch nicht allzu lange her. Das Verhältnis zwischen den verschiedenen christlichen Bekenntnissen hatte in Deutschland seit der Reichsgründung jahrzehntelang unter einem anderen Zeichen gestanden. Das macht deutlich, welch erfreulicher Wandel, welch große Umwälzung sich unmerklich vollzogen hat. Die Überwindung der gegenseitigen Fremdheit ist ja beinahe so wichtig wie die Überwindung der theologischen Gegensätze, von der natürlich noch keine Rede sein kann.58
In den romanischen Ländern sei dieser seelische Wandel noch nicht eingetreten. Dort sei es nämlich mit dem Lutherbild eine besondere Sache, berichtete der Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ aus Rom. Ganz abgesehen davon, dass man die Reformatoren auch in gebildeten Kreisen kaum auseinanderhalten könne, herrsche „im Volk“ das verbreitete Gefühl vor, dass Protestanten keine „cristiani“, überhaupt keine Christen, seien. „Auch hinsichtlich des Konzils hat man die Befürchtung geäußert, daß die meisten Bischöfe aus den lateinischen Ländern aus diesem Grund keinen rechten Zugang zu der Aufgabe der Wiedervereinigung hätten.“ Erst vor diesem Hintergrund lasse sich die Tragweite des Programms 57 Karl Gabriel: Katholizismus und katholisches Milieu in den fünfziger Jahren der Bundesrepublik: Restauration, Modernisierung und beginnende Auflösung, in: Kaufmann/Zingerle: Vatikanum II und Modernisierung 1996, S. 67–84, hier S. 76. 58 Josef Schmitz van Vorst: Das Konzil soll mittelbar die Glaubenseinheit fördern. Die erste Enzyklika Papst Johannes’ XXIII., in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Jg., 6. Juli 1959.
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eines Ökumenischen Konzils ermessen – und die Relevanz des Wortes des heiligen Augustinus, der in den kirchlichen Streitigkeiten der ersten Jahrhunderte gesagt hatte: „Nur dann werden sie aufhören, unsere Brüder zu sein, wenn sie aufgehört haben zu sprechen: ‚Vater unser.‘“59 Wie sehr sich die zukunftsgerichteten Bestrebungen Johannes’ XXIII. mit den zeitgenössischen Befindlichkeiten von katholischen und auch von evangelischen Christen in Westdeutschland und in Westberlin in Einklang befanden, legt eine repräsentative Umfrage des Institutes für Demoskopie Allensbach nahe, die zeitgleich mit der Eröffnung des Zweiten Vatikanums im Herbst 1962 durchgeführt wurde.60 Damals war es nicht nur möglich, Gläubige der beiden Konfessionen mit dem johanneischen Programm und damit mit der denkbar größten Vision der Christenheit zu konfrontieren, sondern darauf zudem spontan entschlossene und sehr klare Antworten zu erhalten. Katholiken wie Protestanten wurden gefragt: Angenommen, die katholische und die evangelische Kirche könnten sich in allen wichtigen Fragen einigen und würden sich zu einer einzigen christlichen Kirche zusammenschließen – wären Sie dafür oder dagegen, wenn es in Zukunft nur noch eine christliche Kirche gäbe?
56 von hundert Katholiken und 42 von hundert Protestanten bejahten diese Gretchenfrage. „So befinden wir uns heute in einem Klima der öffentlichen Meinung, in dem die Frage der Einheit der Kirche unbefangen und ohne allzu große Widerstände seitens der Gläubigen diskutiert werden kann“, stellten die Meinungsforscher damals fest. Ein Klima in Deutschland, das ganz ohne Zweifel maßgeblich durch Papst Johannes XXIII. und seine charismatischen Kommunikationen begünstigt und hervorgerufen wurde. Es waren zwar Katholiken, die regelmäßig zur Messe gingen, die „am ausgeprägtesten“ für dieses große Ziel eintraten. Bei den Protestanten ergab sich jedoch kein nennenswerter Unterschied zwischen dem Anteil gläubiger und nomineller Kirchenmitglieder, die für die eine christliche Kirche einstanden. Es waren hier wie dort überwiegend Angehörige der „gebildeteren Schichten“, die für die Einheit votierten. Und hier wie dort zeigte sich die Bevölkerung auf dem Land am kritischsten. Offenbar standen auch die Agenten des deutschen Bundesnachrichtendienstes dem reformfreudigen Papst skeptisch
59 Ebenda. 60 Institut für Demoskopie Allensbach: Katholiken und Protestanten über die Einheit der christlichen Kirche, in: IfD-Pressedienst November 1962.
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gegenüber. Sie diagnostizierten bei ihm gar explizit eine „evangelische Naivität“,61 weshalb man ihn und seine Politik genau observierte. Diejenigen freilich, die ihrer Kirche den Rücken gekehrt hatten, sowohl als Katholiken wie als Protestanten, diejenigen, die nicht an Gottesdiensten teilnahmen, äußerten sich deutlich anders: Sie standen der Frage der Einheit der Christen großenteils gleichgültig oder unentschieden gegenüber. Nimmermüde hatte Johannes XXIII. die Geschwisterlichkeit aller Christen gepredigt, ja beschworen. In seinen Weihnachtsansprachen 1962 erblickte der Papst „neue Aussichten brüderlichen Vertrauens und den Schimmer heiterer Horizonte wahren sozialen und internationalen Friedens in der gegenwärtigen Weltlage.“ Die Sorge um den Frieden habe die vier Jahre seines Pontifikats stets begleitet. Er wolle von einem Wendepunkt, dem Beginn einer neuen Geschichte der gegenwärtigen Welt, sprechen. Wohl nie zuvor hat der Papst so über die Einheit der Christen gesprochen wie an Weihnachten 1962: Es ist ein Zusammenkommen, zuweilen schüchtern, zuweilen nicht ohne eine Befürchtung des Vorurteils, wie wir uns vorstellen können und auch verstehen wollen, um es mit der Gnade Gottes überwinden zu können. Das ‚eine Herde und ein Hirt‘ […] taucht als gebieterisches Echo aus dem Grunde von zwanzig christlichen Jahrhunderten auf und klopft an das Herz eines jeden. Daß sie eins seien, daß sie eins seien! – ‚Laßt sie alle eins sein, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so laß auch sie in uns eins sein, damit die Welt es glaube, daß du mich gesandt hast‘ (Johannes 17, 21). Dieses ist die letzte Erklärung des Wunders der Liebe, das in Bethlehem begann. Daß sie eins seien. Dies ist der Plan des göttlichen Erlösers, den wir verwirklichen müssen, ehrwürdige Brüder, und bleibt eine schwere Verpflichtung, die dem Gewissen eines jeden einzelnen auferlegt ist.62
Selbst als er an den beiden Pfingsttagen des Jahres 1963 mit dem Tode rang, verlor er „mit der Bitte Christi aus dem Abendmahlssaal auf den Lippen, ‚ut unum sint‘, auf daß sie eins seien, […] das Bewußtsein.“63 61 Ohren auf. Der Bundesnachrichtendienst bespitzelte Papst Johannes XXIII. – vor allem wegen dessen Reformeifers, in: Der Spiegel, 69. Jg., 44/2015, 24. Oktober 2015, S. 58. 62 Vo. (Josef Schmitz van Vorst): Der Papst spricht von einer Wende in der Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Jg., 24. Dezember 1962. 63 Vo. (Josef Schmitz van Vorst): Papst Johannes ist am Montagabend gestorben. Die Agonie hielt über die Pfingsttage an/Mehr als 100.000 Menschen auf dem Petersplatz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Jg., 4. Juni 1963.
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| Rainer Gries Der leidvolle Todeskampf Johannes’ XXIII. erschütterte die Menschheit. Das Mitgefühl kannte keine Grenzen der Konfession oder Nation. In den Kirchen Martin Luthers in Deutschland, von wo vor über 400 Jahren die christliche Glaubensspaltung ausgegangen war, beteten während der Pfingstfeiertage die protestantischen Gläubigen ebenso für den sterbenden Papst wie ihre katholischen Brüder. Was seinem Vorgänger in 15 Jahren nicht gelang, das konnte dieser schlichtgläubige, einfache Mensch Angelo Giuseppe Roncalli in seinem knapp fünfjährigen Pontifikat bereits aller Welt sichtbar machen: die Eintracht der Christen, solange die Einheit noch in eschatologischer Ferne ist.64
In den Reaktionen auf sein Sterben und seinen Tod wurde gerade auch in der veröffentlichten Meinung deutlich, in welchem Ausmaß es Johannes gelungen war, nicht nur den Bruder in der Familie der christlichen Kirchen,65 sondern auch den Bruder aller Menschen zu repräsentieren. So ist er in der Tat zu einem Papst des ‚Übergangs‘ geworden, aber nicht im Sinne eines schwächlichen Bindeglieds zwischen einem großen Vorgänger und einem großen Nachfolger, sondern als eine Gestalt von säkularer Bedeutung: Johannes markiert den Übergang von einer Epoche der Kirchengeschichte zur andern, von der ‚konstantinischen‘ mit ihrer reichskirchlichen wie mit ihrer Tradition der Bündnisse zwischen ‚Thron und Altar‘, also zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, hin zu einer neuen Epoche,
schrieb der sozialdemokratische „Vorwärts“ in memoriam Johannes’. In dieser neuen Ära würden die Christen die Kirche „durch ihre praktische Solidarität, durch ihr praktisches Zeugnis […] inmitten der profanen, pluralistischen Gesellschaften präsent machen.“ Johannes, der „Diener Gottes“ und der Freund aller Menschen, habe diese „universale Solidarität“ allen Konfessionen und allen Nationen aufgezeigt.66 Die von ihm eher vorgelebte denn vorgedachte Brüderlichkeit wird hier sowohl theologisch wie auch politisch verstanden. – Als ein moralischer Imperativ nicht nur in Richtung auf die eine Kirche Jesu Christi, sondern zugleich als ein politischer Imperativ in Richtung auf die eine Welt. Er könne als einer der 64 Zeugnis menschlicher Größe und Demut, in: Allgemeine Zeitung, 14. Jg., 4. Juni 1963. 65 Papst Johannes Paul II. sollte die Brudermetapher ausweiten: Er bezeichnete erstmals auch die Juden als „unsere“ Brüder – als die „fratelli maggiori“, die „älteren Brüder“. 66 Theo Risse: Aufrichtiger Freund aller Nationen. Zum Tode Papst Johannes XXIII., in: Vorwärts, 88. Jg., 5. Juni 1963.
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wenigen Menschen gelten, denen der Ehrentitel „Freund der Menschheit“ zukäme, so das sozialdemokratische Parteiblatt.67 Papst Johannes, der Pastor und Hirte der Welt, der „Lehrer der Welt“68, der „Weltbotschafter des großen Ausgleichs“ war verstorben, einer, dem es gelungen war, nicht nur Andersgläubigen, sondern auch Nichtgläubigen Achtung und Zuneigung abzuringen – „und das sind sogar die Gottesleugner im Westen und Osten, deren Angriffslust gegenüber der Lauterkeit der Persönlichkeit Angelo Guiseppe Roncallis entmutigt wurde […]“, ergänzte die linksliberale „Frankfurter Rundschau“.69 Die Horizonte dieses Papstes erstreckten sich keineswegs nur auf die katholische Kirche, sondern auf die Christenheit als ganze und auf die Menschheit als ganze. Für sie alle galt es, Freiheit und Frieden zu erhalten. Für sie alle wünschte sich dieser Papst Eintracht und Einheit. Papst Johannes war der erste Pontifex, der die Horizonte seines päpstlichen Dienstes so radikal entgrenzte. „Deswegen sein Streben nach einer universal offenen, die eine ganze Menschheitsfamilie einladenden Christlichkeit.“70 Die Theologie und die Politik der einen Kirche und der einen Welt waren für ihn eng miteinander, geradezu untrennbar verzahnt. Die Revue der veröffentlichten Meinungen im deutschsprachigen Kulturraum offenbart, dass seine kardinale Botschaft Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht nur von Christen aller Konfessionen sowie von Politikern und Journalisten jedweder Couleur wahrgenommen, sondern dass sie mit großer Emotionalität, mit großer Anteilnahme und auch Zuneigung von den Zeitgenossen angeeignet wurde. Und das galt cum grano salis für die ganze Welt. Nicht von ungefähr hatte das US-amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ Johannes XXIII. 1962 zum „Mann des Jahres“ gekürt und ihn mit einem Cover geehrt. In den deutschen Zeitungen war als Begründung dafür zu lesen: Papst Johannes hat der Welt in der Darstellung von Time etwas gegeben, was weder der Wissenschaft noch der Diplomatie möglich ist: Das Gefühl einer Einheit als menschlicher Familie. Der Papst habe, vor allem durch die Einberufung des Öku67 Ebenda. 68 Im Geist tiefen Vertrauens. Der 80. Geburtstag Papst Johannes’ XXIII., in: Deutsche Tagespost, 14. Jg., 14. November 1961. 69 Hans Bauer: Weltbotschafter des großen Ausgleichs. Johannes XXIII. – einer der bedeutendsten Träger des Pontifikats in der Geschichte der Kirche, in: Frankfurter Rundschau, 19. Jg., 5. Juni 1963. 70 Peter Nellen: Johannes XXIII., in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 16. Jg., 3. November 1961.
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| Rainer Gries menischen Konzils der katholischen Kirche, die Christenheit auf neue Weise mit der Welt konfrontiert und Wunden gemildert, an denen sie seit Jahrhunderten gelitten habe.71
Was genau suchte die Familie der Christen, die Familie der Welt? Was vermochte eben dieser Papst den Menschen seiner Zeit, Protestanten wie Katholiken, Gläubigen wie Ungläubigen, glaubwürdig zu vermitteln? Eine vertiefende Antwort darauf mag abschließend ein Blick auf die zeitgenössischen Diskurse zur zweiten familialen Metapher geben, die mit diesem Papst auf ganz besondere und neue Weise verbunden wurde. Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Peter Nellen stellte in seinem Nachruf die Frage, „ob wir ihn den Vater seiner Kirche oder den uneingeschränkt verehrten, den ältesten Bruder in der Menschheitsfamilie nennen sollen, um seine einzigartige Persönlichkeit zu charakterisieren und ihm für seine Sorge und Arbeit zu danken.“72 Johannes XXIII. verstand sich als „Bruder“ und als „Vater“ – doch wie gingen die Menschen seiner Zeit mit dieser Metaphorik um? Schon von Beginn seines Pontifikats an wurde Roncalli von den Römern liebevoll „Papa Giovanni“ genannt – alles Hoheitlich-Unnahbare bleibt sogleich außen vor. „Vater der Arbeiter“ war bereits einer der Ehrentitel des Patriarchen von Venedig gewesen:73 Das einfache römische Volk spricht mit großer Unbekümmertheit von ‚Papa Giovanni‘, ohne die Zahl hinzuzufügen, die so lang ist, dass ein neuer Atemzug notwendig wäre. Psychologisch bemerkenswert ist diese Tatsache, weil sich in der Vergangenheit niemand unterfangen hätte, kurzweg ‚Papa Pio‘ zu sagen; es hätte Unbehagen hervorgerufen, wäre fehl am Platze erschienen.74
Dieser Papst jedoch sei wahrhaft ein Heiliger Vater gewesen, spitzte die „Süddeutsche Zeitung“ posthum zu. Einerseits stillte er Sehnsüchte nach väterlicher Au-
71 Papst Johannes XXIII. – Mann des Jahres. Nachfolger Kennedys auf der Time-Titelseite, in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 17. Jg., 31. Dezember 1962. 72 Peter Nellen: Bruder der Menschheit. Zum Tode Papst Johannes’ XXIII., in: Vorwärts, 88. Jg., 5. Juni 1963. 73 Johannes XXIII., in: Mannheimer Morgen, 13. Jg., 29. Oktober 1958. 74 Hans Bauer: Im Vatikan weht jetzt eine andere Luft. Mit „Papa Giovanni“ kam der Zug zur Einfachheit und Natürlichkeit, in: Frankfurter Rundschau, 14. Jg., 5. November 1958.
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torität in einer Zeit unabsehbarer historischer, gesellschaftlicher und kultureller Umbrüche: Die negativen Aspekte der Welt, in der wir leben, liegen vor unser aller Augen und betrüben unseren Geist, manchmal versuchen und verwirren sie unsere gejagte Seele mit dem Anflug des Pessimismus. Johannes XXIII. aber bietet den Menschen unseres Zeitalters […] die Vision, das Bild eines Vaters, der die Gründe und Motive von Leid und Schmerz […] verbirgt und ganz für sich behält, dafür den Geist des Friedens, ruhiger Sicherheit, froher Abklärung um sich ausströmt, wie Jesus Christus ihn Petrus schon vermacht und verliehen hat […]75,
schrieb die „Deutsche Tagespost“ 1961. Das katholische Blatt sprach mit Recht davon, dass der Papst diesen väterlichen Geist des Friedens und der Sicherheit unterschiedslos allen Menschen des Zeitalters spende – keineswegs nur den Katholiken, keineswegs nur den Christen. Und die „Süddeutsche Zeitung“ führte in ihrem Nachruf auf Johannes XXIII. mit klaren Worten vor, wie die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Nachkriegszeit mit den psychischen Bedürfnissen der Menschen korrelierten – und wie dieser Papst als Vater und als Bruder allen Antwort war und Heilung offerierte: Die Epoche der Weltkriege und des sie fortführenden Kalten Krieges, die Ära der Blockbildungen, Spaltungen und allgemeinen Zerrissenheit hat die Sehnsucht nach Überbrückung des Unüberbrückbaren, nach Frieden in der friedlosen Welt mit Nachdruck geweckt. Der weidlich geschürten und ausgekosteten Feindschaften überdrüssig, verlangt es die Menschheit zutiefst nach Versöhnung und Brüderlichkeit. Was im Grunde dasselbe sagt wie die Formel vom verlorenen Vaterbild. So wurde der Vater-Bruder Johannes zu einer Art Symbolgestalt für die geheimen Wünsche.76
„Ich bin der Papst derjenigen, die auf das Gaspedal treten, und der Papst derjenigen, die auf die Bremse treten,“ hatte er einmal von sich gesagt. Dieser gute Hirte der Welt, in manchem sicherer Hort der Tradition, gleichzeitig jedoch Motor eines drängenden „Aggiornamento“, versammelte, so die „Süddeutsche Zeitung“, „viele von geheimer Sehnsucht getriebene Strömungen unserer Zeit gleichsam unter seiner segnenden Hand“. Indem er die Transformationsprozesse der Modernisierung 75 Im Geist tiefen Vertrauens. Der 80. Geburtstag Papst Johannes’ XXIII., in: Deutsche Tagespost, 14. Jg., 14. November 1961. 76 Albert Wucher: Fünf Jahre – eine Epoche, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Jg., 5. Juni 1963.
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aktiv begleitete und förderte, war Johannes XXIII. tatsächlich nicht „ein“ papa di transizione, sondern der Papst des Überganges schlechthin. Ein Papst, eine Vaterfigur, mit der man gemeinsam Bewegung und Dynamik, Dialog und Erneuerung wagen konnte, da er selbst diese Paradigmen im selben Atemzug durch die Projektionen von Menschlichkeit und Einfachheit, Demut und Sicherheit ausbalancierte. Noch einmal sei der sensible Nachruf der „Süddeutschen Zeitung“ zitiert: Es wird darum späteren Geschlechtern nicht eben leichtfallen, zu begreifen, dass und warum diese schlichte Gestalt vom ersten Augenblick an geradezu Sturmwellen der Sympathie auf sich zog, warum sie in kürzester Zeit in aller Welt eine solch ungewöhnliche Popularität gewann; eine Popularität, die gelegentlich den Eindruck erwecken konnte, als habe es in unserer Zeit nur diesen einen Papst gegeben, keinen anderen. […] Das Geheimnis dieser Popularität liegt im Falle Johannes XXIII. gewiß zum guten Teil in einer menschheitlichen Disposition unserer Tage begründet: In der Atmosphäre einer Zeit, die von Freiheits- und Gleichheitsdrang erfüllt ist, sich wider alle Autoritäten auflehnt und dabei doch an chronischer Führungs- und Richtungslosigkeit leidet. Das Paradox regiert die Stunde: eine Generation, die keinen Herrn mehr über sich dulden will, vermisst zutiefst den Vater. Das heißt, genauer: Die väterliche Erscheinung des ‚Volkspapstes‘ strahlte nicht nur Güte, Milde, Menschenfreundlichkeit aus, sie besaß, woran es Vätern heutzutage oft gebricht, was aber den Vater erst eigentlich zum Vater macht: natürliche Würde, Autorität. Im Mittelpunkt seines Wesens, so spürte man, war Kraft, Entschiedenheit, Souveränität.77
Seine auf natürlicher Autorität fußende Väterlichkeit machte Johannes zu einem all die Komplexitäten des Aufbruchs und der Moderne reduzierenden Hort des Vertrauens im Sinne von Niklas Luhmann.78 Mehr noch: Giovanni Roncalli darf überdies als Inkarnation eines völlig neuen Vatermodells gelten.79 In ihm findet sich der Vorschein eines Musters von Väterlichkeit, das sich durch „Güte, Milde und Menschenfreundlichkeit“ auszeichnete, woran es den Vätern oft gebreche, analysierte die „Süddeutsche“ anlässlich seines Todes. Roncalli repräsentierte einen partnerschaftlichen Bruder-Vater, ja einen
77 Ebenda. 78 Vgl. zur Konzeption des Vertrauens bei Niklas Luhmann: Ders., Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. Auflage, Stuttgart 1989. 79 Zum Wandel des Männer- und damit auch des Vaterbildes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit (1450–2000), Wien 2003.
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mütterlichen, gar „zärtlichen“80 Vater. Nicht Strenge, sondern Güte, nicht Strafe, sondern Barmherzigkeit, nicht das Dogma, sondern der Dialog, nicht distanzierendes Ab- und Ausschließen, sondern umarmendes Einschließen waren das Credo dieses Papstes. Johannes, das Urbild eines neuen Vaters, zeigte sich zugleich als eine brüderliche Offerte für alle. Mit diesem Programm von Vaterschaft wies Johannes den Weg für die „Mutter“ Kirche nach seiner Zeit und nach dem Konzil. – Theologiegeschichtliche Forschungen bestätigen, dass sich während der 1960erJahre ein neues Gottesbild durchsetzte, das eben denselben Werten folgt:81 War das vornehmste Prädikat Gottes während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch dessen Gerechtigkeit, setzte bereits in den 1950er-Jahren eine Umdeutung ein – hin zum Gott der Barmherzigkeit. Quellen- und Literaturverzeichnis
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80 C. G. Mundt: Abschied von Papst Johannes. Das Konklave steht vor einer schwierigen Aufgabe, in: Rheinischer Merkur, 18. Jg., 7. Juni 1963. 81 Vgl. Heinz Brantzen: Familienspiritualität. Am Beispiel einer christlichen Wochenzeitung, Mainz 1984.
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Cerny-Werner, Roland/Gries, Rainer: Der Vatikan und der Ostblock im Kalten Krieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1–2/2009, 59. Jg., 29.12.2008 (Themenheft „Politische Kultur im Kalten Krieg“), S. 39–45. Cerny-Werner, Roland/Gries, Rainer: Mediation als Mission. Die weltpolitischen Dimensionen des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Forum Schulstiftung, Sonderheft 50 (Juni 2009), S. 172–189. Derwahl, Freddy: Johannes XXIII.: Ein Leben für den Frieden, München 2004. Deutschsprachige Printmedien von 1957 bis 1965. Gabriel, Karl: Katholizismus und katholisches Milieu in den fünfziger Jahren der Bundesrepublik: Restauration, Modernisierung und beginnende Auflösung, in: Franz-Xaver Kaufmann/Arnold Zingerle (Hg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996, S. 67–84. Gries, Rainer: Kulturgeschichte des Kommunizierens. Konjunktionen, Konjunkturen, und Konnektivitäten, in: Klaus Arnold/Markus Behmer/Bernd Semrad (Hg.): Kommunikationsgeschichte. Positionen und Werkzeuge. Ein diskursives Hand- und Lehrbuch, Münster 2008, S. 45–72. Hampe, Johann Christoph: Ende der Gegenreformation? Das Konzil. Dokumente und Deutung, Stuttgart/Berlin/Mainz 1964. Herbert, Ulrich (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002. Johannes XXIII.: Geistliches Tagebuch und andere geistliche Schriften, Leipzig 1965. Kaufmann, Franz-Xaver: Zur Einführung: Probleme und Wege einer historischen Einschätzung des II. Vatikanischen Konzils, in: Ders./Arnold Zingerle (Hg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996, S. 9–34. Küng, Hans: Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit, Wien/Freiburg im Breisgau/Basel 1962. Lindbeck, George A.: Dialog unterwegs. Eine evangelische Bestandsaufnahme zum Konzil, Göttingen 1965. Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. Auflage, Stuttgart 1989. Mathieu-Rosay, Jean: Die Päpste im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2005. Mertens, Heinrich A.: Ich bin Joseph, Euer Bruder. Chronik – Dokumente – Perspektiven. Zum Leben und Wirken Papst Johannes XXIII., Recklinghausen 1959. Nürnberg, Helmuth: Johannes XXIII., Reinbek 1985.
Johannes XXIII.: Der römische Papst als „Bruder“ und „Vater“ |
Rothmann, Robert (Hg.): Ich bin Josef, Euer Bruder. Papst Johannes XXIII. Anekdoten und Erinnerungen, Leipzig 2001. Schmale, Wolfgang: Geschichte der Männlichkeit (1450–2000), Wien 2003. Schwaiger, Georg: Papsttum und Päpste im 20. Jahrhundert. Von Leo XIII. zu Johannes Paul II., München 1999. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3. Auflage, Tübingen 1971. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976. William, Franz Michel: Vom jungen Angelo Roncalli (1903–1907) zum Papst Johannes XXIII. (1958–1963), Innsbruck 1967. Wittstadt, Klaus: Perspektiven einer kirchlichen Erneuerung – Der deutsche Episkopat und die Vorbereitungsphase des II. Vatikanums, in: Franz-Xaver Kaufmann/Arnold Zingerle (Hg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996, S. 85–106. Zingerle, Arnold: Institution des Außeralltäglichen. Das Konzil aus der Sicht soziologischer Charisma-Theorie, in: Franz-Xaver Kaufmann/Ders. (Hg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996, S. 189–208. Zingerle, Arnold: Theoretische Probleme und Perspektiven der Charisma-Forschung. Ein kritischer Rückblick, in: Winfried Gebhardt/Arnold Zingerle/Michael N. Ebertz (Hg.): Charisma. Theorie – Religion – Politik, Berlin/New York (New York) 1993, S. 249–266. Abbildungsnachweis Abb. 1: Luther und der Papst, Buchcover aus dem Jahr 1964: „In der Verlagsgemeinschaft eines evangelischen und eines katholischen Verlages herausgebracht, durch das Vorwort eines Moderators des Konzils und eines Präsidenten des Weltrates der Kirchen empfohlen, von evangelischen und katholischen Autoren geschrieben, möchte dieses Buch gleichsam ein erster ökumenischer Vollzug dessen sein, was viele Christen heute erhoffen.“
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Papst Paul VI. in anglikanischen Augen: Begegnungen und Projektionen in England
Am 23. März 1966 kam es in der Sixtinischen Kapelle zu einer ebenso historischen wie symbolträchtigen Begegnung: Der italienische Papst Paul VI. (1897 bis 1978)1 empfing Michael Ramsey (1904 bis 1988)2, den englischen Erzbischof von Canterbury und das geistliche „Oberhaupt“3 der Church of England.4 Es handelte sich um die erste offizielle Zusammenkunft beider Kirchenführer seit der protestantischen „Englischen Reformation“ des 16. Jahrhunderts. Zwar hatte Ramseys Vorgänger, Geoffrey Fisher (1887 bis 1972), bereits am 2. Dezember 1960 den damaligen Papst Johannes XXIII. (1881 bis 1963)5 im Vatikan getroffen, doch handelte es sich dabei um eine inoffizielle Begegnung, an der Fisher als Privatperson teilnahm.6 Hinge1
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Giovanni Battista Enrico Antonio Maria Montini wurde am 26. September 1897 in Concesio bei Brescia geboren und starb am 6. August 1978 in Castel Gandolfo. Seine Proklamation zum Papst erfolgte am 21. Juni 1963. Einschlägige Biographien, in denen jedoch die Begegnungen dieses Pontifex mit Anglikanern allenfalls auf wenigen Seiten angerissen werden: Jörg Ernesti: Paul VI.: Die Biographie, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2015; ders.: Paul VI.: Der vergessene Papst, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2012; Peter Hebblethwaite: Paul VI: The First Modern Pope, New York (New York) u.a. 1993; Luitpold A. Dorn: Paul VI.: Der einsame Reformer, Graz u.a. 1989. Jüngst zu Paul VI. (ohne eine Thematisierung seiner Beziehungen zur anglikanischen Kirche): Volker Reinhardt: Pontifex. Die Geschichte der Päpste – von Petrus bis Franziskus, München 2017, S. 851–858. Überdies versteht sich das norditalienische Istituto Paolo VI – Centro Internazionale di Studi e Documentazione in Concesio bei Brescia als ein Zentrum der Dokumentation und der Förderung von (vornehmlich theologischen) Studien zum Leben und Werk Pauls VI. Einschlägig: Owen Chadwick: Michael Ramsey: A Life, Oxford/New York (New York) 1990; Michael De-la-Noy: Michael Ramsey: A Portrait, London 1990. Diese Bezeichnung missbilligten viele Anglikaner, da das „Oberhaupt“ ihrer Kirche allein Jesus Christus sei. Die Church of England war und ist zugleich die Mutterkirche der globalen anglikanischen Gemeinschaft. Vgl. Hervé Picton: Short History of the Church of England: From the Reformation to the Present Day, Newcastle upon Tyne 2015, S. 118. Siehe zu Johannes XXIII. ausführlich den Beitrag von Rainer Gries in diesem Band. Die Initiative zu dieser einstündigen Zusammenkunft war von Fisher ausgegangen, der sich gerade auf einer Reise im Zeichen der Ökumene befand, die ihn unter anderem auch nach
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gen geriet die Zusammenkunft zwischen Michael Ramsey und Paul VI., der immerhin 28 Journalisten7 beiwohnten, zu einem globalen Medienereignis. Dieses rief insbesondere in England eine große Aufmerksamkeit hervor, zumal eine neue Ära der ökumenischen Beziehungen zwischen „Canterbury“ und „Rom“8 angebrochen schien. Ausgehend von dieser verheißungsvollen Annäherung wird im Folgenden der Frage nachgespürt, inwiefern und mit welchen Konsequenzen es in den Krisen- und Umbruchsdekaden der 1960er- und 1970er-Jahre zu Kommunikationen britischer Anglikaner (Klerus wie Laien) mit und über Paul VI. in England kam. Bis heute liegen keine kultur- oder kommunikationshistorischen Studien zu protestantischen Reaktionen auf den vermeintlich „vergessenen“ (Jörg Ernesti) Pontifex vor.9 Während dessen rund fünfzehnjährigen Pontifikats (1963 bis 1978) entfalteten Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozesse ihre komplexen gesellschaftlichen Dynamiken innerhalb des Vereinigten Königreichs wie auch in weiten Teilen Westeuropas. Diesbezüglich lautet die hier zugrunde gelegte These, dass für die jeweilige Wahrnehmung des Montini-Papstes durch britische Anglikaner sowohl Veränderungen innerhalb der Church of England, der Catholic Church in England and Wales und der römisch-katholischen Kirche als auch tiefgreifende gesellschaftliche Transformationsprozesse maßgeblich waren. In analytischer Hinsicht sei der Pontifex im Folgenden als ein personalisiertes „Medium“, eine „Sonde“ in die britische Gesellschaft hinein beziehungsweise als eine Projektionsfolie verstanden – im Sinne einer menschgewordenen „Plattform
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Istanbul und Jerusalem geführt hatte (vgl. Dominic Aidan Bellenger/Stella Fletcher: The Mitre & The Crown: A History of the Archbishops of Canterbury, Stroud 2005, S. 175; Josef Müller-Marein: Wie mächtig ist der Papst? Der Erzbischof von Canterbury besucht den Vatikan, in: Die Zeit, Nr. 49, 02.12.1960, S. 2). Zur Auswahl der ausnahmslos männlichen Journalisten: Luitpold A. Dorn: Anekdoten um Papst Paul VI., München/Esslingen 1968, S. 100. Die örtlichen Zuschreibungen „Canterbury“ und „Rom“ werden hier – wie auch zeitgenössisch – stark vereinfacht als Sinnbilder für die anglikanische beziehungsweise für die römisch-katholische Kirche verwendet. Für den deutschsprachigen Raum finden sich erste Ansätze bei: René Schlott: Papsttod und Weltöffentlichkeit seit 1878. Die Medialisierung eines Rituals (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte 123), Paderborn u.a. 2013; Stefanie Faber: Paul VI. in Wahrnehmung und Beurteilung der deutschen Presse (1963–1978), in: Hermann Josef Pottmeyer (Hg.): Paul VI. und Deutschland. Studientage in Bochum, 24.–25. Oktober 2003 (Pubblicazioni dell’Istituto Paolo VI 27), Roma 2006, S. 223–240; Giselbert Deussen: Ethik der Massenkommunikation bei Papst Paul VI. (Abhandlungen zur Sozialethik 5), München/ Paderborn/Wien 1973.
Papst Paul VI. in anglikanischen Augen: Begegnungen und Projektionen in England |
des sozialen Austauschs“ (Thomas A. Bauer). Ausgehend von diesen Prämissen besteht das hier verfolgte Ziel darin, erste Einblicke in die Identitätskonstruktionen und Mentalitäten britischer Anglikaner in den turbulenten 1960er- und 1970er-Jahren zu ermöglichen. Damit sollen zugleich Potentiale für zukünftige Studien ausgelotet werden, die ausgehend von einem Pontifex – im Sinne eines analytischen Nukleus – kommunikations- und kulturhistorische Fragestellungen verfolgen, anstatt eine konventionelle Papst- oder Kirchengeschichtsschreibung zu betreiben. 1. Annäherungen
Die eingangs erwähnte Begegnung zwischen Papst Paul VI. und dem Erzbischof von Canterbury stand unmittelbar im Zusammenhang mit dem nur wenige Monate zuvor beendeten Zweiten Vatikanischen Konzil.10 In dessen Folge öffnete („Aggiornamento“) sich die römisch-katholische Kirche bekanntlich, trotz aller aus heutiger Perspektive zu konstatierenden Hindernisse und Rückschritte, in einem bis dato nicht gekannten Maße hin zur nicht-katholischen Welt.11 Zumindest in dieser Hinsicht ganz in der Tradition seines unmittelbaren Vorgängers stehend, dem Initiator des Zweiten Vatikanums, Johannes XXIII., suchte Paul VI. die auf dem Konzil initiierten Reformprozesse zu verstetigen („Approfondimento“). Dabei vertiefte er den Dialog mit unterschiedlichen protestantischen Kirchen – auch und insbesondere mit der Church of England, die sich ebenfalls als eine solche verstand und versteht.12 Seit ihrer im Jahre 1534 vollendeten Trennung von der römisch-katholischen Kirche stellte sie eine einzigartige reformierte und gleichsam ambivalente Glaubensgemeinschaft dar, die in sich höchst gegensätzliche 10 Einschlägig zum Zweiten Vatikanischen Konzil: Gerd-Rainer Horn: The Spirit of Vatican II: Western European Progressive Catholicism in the Long Sixties, Oxford 2015; Roberto De Mattei: Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte (Edition Kirchliche Umschau), Stuttgart 2012; Godehard Lindgens: Katholische Kirche und moderner Pluralismus. Der neue Zugang zur Politik bei den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Geschichte und Theorie der Politik 4), Stuttgart 1980. 11 Zur postkonziliaren Krise: Jörg Ernesti (Hg.): Paolo VI e la crisi postconciliare: giornate di studio. Bressanone 25–26 febbraio 2012 (Pubblicazioni dell’Istituto Paolo VI 32), Brescia 2013. 12 Im Verlauf des Konzils nahmen insgesamt fünfzehn (mit der Zeit wechselnde) Vertreter aus der anglikanischen Gemeinschaft als protestantische Beobachter teil.
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Richtungen vereinte: Anhänger der sogenannten Low Church orientierten sich in der Ekklesiologie, Liturgie und Theologie eng an genuin protestantischen Riten. Hingegen folgten Anhänger der „High Church“, zu denen auch Michael Ramsey zählte, katholischen Traditionen ohne damit jedoch zwangsläufig die Autorität des Papstes zu akzeptieren. Jene Anglikaner, die sich hingegen der sogenannten Broad Church zugehörig fühlten, zeichneten sich wiederum durch liberalere Haltungen aus und verorteten sich irgendwo zwischen „Low Church“ und „High Church“. Gerade wegen dieses hybriden und polarisierenden Charakters, den anti-päpstliche Evangelikale, Liberale und Anglokatholiken prägten, verstanden sich Anglikaner als Teil einer eigenständigen Konfessionsfamilie. Aus demselben Grund schrieb sich ihre Kirche eine wesentliche Brückenfunktion zwischen den reformierten Glaubensgemeinschaften auf dem europäischen Kontinent und der römisch-katholischen Kirche zu.13 Spätestens seit der World Interdenominational Missionary Conference, die 1910 im schottischen Edinburgh stattfand, spielten britische Anglikaner tatsächlich eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der globalen ökumenischen Bewegung.14 Michael Ramsey begegnete Paul VI. aber nicht nur als Primas der Church of England, sondern auch als religiöser „Leader“ der globalen und wiederum hochgradig diversen anglikanischen Gemeinschaft mit ihren größtenteils autonomen Mitgliedskirchen. Diese waren in jedem Land präsent, in dem Englisch als Umgangssprache diente. Wo dies nicht zutraf, wurden die jeweiligen anglikanischen Kirchen meistens von englischen Bischöfen beziehungsweise Metropoliten15 geleitet, die ihre Ausbildung in England oder zumindest im Vereinigten Königreich erhalten hatten.16 Als Präsident der sogenannten Lambeth Conference17, einer im Turnus von zehn Jahren stattfindenden Vollversammlung aller anglikanischen Bi13 Zu diesem Selbstverständnis: Reinhard Frieling: Amt. Laie – Pfarrer – Priester – Bischof – Papst (Bensheimer Hefte 99), Göttingen 2002, S. 66. Vgl. dazu auch Picton: History 2015, S. 111, 133; Mary Reath: Rome & Canterbury: The Elusive Search for Unity, Lanham u.a. 2007, S. 33–36. 14 Vgl. Paul Avis: Anglicanism and Christian Unity in the Twentieth Century, in: Jeremy Morris (Hg.): The Oxford History of Anglicanism – Volume IV: Global Western Anglicanism, c. 1910–present (The Oxford History of Anglicanism 4), Oxford 2017, S. 186–213, hier S. 187 f. 15 Darunter ist eine spezifische Form von Bischöfen zu verstehen, die einem Verbund von Bistümern vorstanden. 16 Vgl. William Purdy: The Search for Unity: Relations between the Anglican and Roman Catholic Churches from the 1950s to the 1970s, London u.a. 1996, S. 93. 17 Benannt nach dem offiziellen Amtssitz des Erzbischofs von Canterbury in London, dem Lambeth Palace.
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schöfe, fungierte der Erzbischof von Canterbury als Ehrenoberhaupt dieser Anglican Communion mit all ihren landes- wie kirchenspezifischen Eigenheiten. Vor seiner historischen Begegnung mit Paul VI. hatte Michael Ramsey sämtliche anglikanische Metropoliten kontaktiert, die schließlich ausnahmslos der Zusammenkunft zustimmten. Somit repräsentierte der Erzbischof von Canterbury bei seiner Begegnung mit dem Papst rund 50 Millionen Anglikaner aus weltweit insgesamt 19 Provinzen. Die Zusammenkunft beider Kirchenführer gründete aber nicht nur im Zweiten Vatikanischen Konzil und mag durch den Anglokatholizismus des Erzbischofs von Canterbury begünstigt worden sein, sondern auch und insbesondere in der Persönlichkeit des Montini-Papstes: Ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern waren gerade diesem Pontifex weder die durchaus sehr heterogenen Befindlichkeiten der Anglikaner insgesamt noch die Geschichte ihrer Kirche und globalen Gemeinschaft sowie die Strukturen der britischen Gesellschaft fremd.18 Bereits als junger Mann hatte Montini die Bischofssitze von Canterbury und Durham besucht. Aufmerksam studierte er sowohl das Book of Common Prayer (die Agende der Church of England) als auch die Schriften des Scholastikers Anselm von Canterbury. Sein Leben lang liebte er die Werke Shakespeares und soll sogar in den 1930er-Jahren dessen vermeintliche Heimatstadt Stratford-upon-Avon in der Grafschaft Warwickshire besucht haben. Überdies hegte Montini eine gewisse Bewunderung für den einstigen anglikanischen Priester und Mitbegründer der anglokatholischen Oxford-Bewegung19 John Henry Newman (1801 bis 1890), der 1845 zum Katholizismus konvertierte, anschließend in den römisch-katholischen Oratorianerorden eintrat und schließlich sogar von Papst Leo XIII. (1810 bis 1903) den Kardinalshut empfing.20 Der zeitgenössisch oftmals als hochgewachsen, schlank und feinsinnigintellektuell wirkend charakterisierte Montini pflegte bereits seit seiner Ernennung zum Erzbischof von Mailand sowie später als Kardinal enge persönliche Beziehungen zu Teilen des anglikanischen Klerus. Bisweilen fungierte er sogar als Gastgeber ökumenischer Kolloquien: Beispielsweise lud Montini im Jahre 1956, vermittelt 18 „It is an understatement to say that this Pope knew more than any other Pope about the Church of England. He was the only Pope who had given the necessary time and trouble to understand the Church of England.“ (Owen Chadwick: The Church of England and the Church of Rome from the Beginning of the Nineteenth Century to the Present Day, in: E. G. W. Bill (Hg.): Anglican Initiatives in Christian Unity: Lectures Delivered in Lambeth Palace Library 1966, London 1967, S. 73–107, hier S. 104). 19 Das „Oxford Movement“ versuchte seit etwa 1830 innerhalb der anglikanischen Kirche katholische Prinzipien und Orientierungen stärker hervorzuheben (Anglokatholizismus). 20 Vgl. Paul VI. nach Jean Guitton: Dialog mit Paul VI., Wien 1967, S. 128, 134–139.
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durch den Bischof von Chichester, George Bell (1883 bis 1958), eine Gruppe junger anglikanischer Priester für zehn Tage zu sich nach Mailand ein.21 Darunter befand sich auch Bernard Pawley (1911 bis 1981), der später (seit 1961) als ständiger Repräsentant des Erzbischofs von Canterbury in Rom fungierte. In der Folge versicherte der damalige Erzbischof von Canterbury, Geoffrey Fisher, Montini in einem Brief seinen herzlichsten Dank für dessen ökumenische Bemühungen. Schon im Vorfeld seiner inoffiziellen Begegnung mit Johannes XXIII. hatte Fisher im November 1960 den Sekretär des Rates für Auslandsbeziehungen der Church of England, Leonard Prestige (1889 bis 1955), in die „Ewige Stadt“ entsandt, um herauszufinden, welche gemeinsamen Themen mit dem Pontifex diskutiert werden könnten. Prestige erhielt wiederum von seinem Freund Gregory Dix (1901 bis 1952), einem anglokatholischen Benediktinermönch aus Nashdom Abbey in der Grafschaft Buckinghamshire, den ausdrücklichen Rat, unbedingt Montini zu treffen. In letzterem erkannte Dix nicht nur eine Persönlichkeit mit einem gewissen Einfluss auf den Roncalli-Papst, sondern auch jemanden, der die Anliegen und Strukturen der Church of England wie kein Zweiter verstand. In Rom überreichte Prestige schließlich ein Memorandum an Montini, in dem ein vertiefter Dialog zwischen beiden Kirchen vorgeschlagen sowie die Hoffnung geäußert wurde, dieser Austausch könne in ein zweites Malines münden.22 Im belgischen Mechelen (französisch: Malines), einer Stadt in der Provinz Antwerpen, hatten vom 5. Dezember 1921 bis 1927 erste vorsichtige (inoffizielle) Annäherungen zwischen Vertretern der Church of England und der römischkatholischen Kirche stattgefunden.23 Dabei wurde insbesondere die Frage des päpstlichen Primats intensiv und kontrovers diskutiert. Obgleich letztlich sowohl anglikanische Evangelikale als auch britische Katholiken diese sogenannten Malines Conversations torpedierten und Papst Pius XI. (1857 bis 1939) nach dem Tod 21 Vgl. Reath: Rome 2007, S. 43; Keith Robbins: England, Ireland, Scotland, Wales: The Christian Church 1900-2000 (Oxford History of the Christian Church), Oxford u.a. 2008, S. 359. Siehe auch: Purdy: Search 1996. Zu George Bell: Andrew Chandler: George Bell: Bishop of Chichester – Church, State, and Resistance in the Age of Dictatorship, Grand Rapids (Michigan)/Cambridge 2016. 22 Vgl. Chadwick: Church 1967, S. 95 f. 23 Als Vertreter der „anglikanischen Sache“ nahmen vornehmlich Lord Halifax (1881 bis 1959), der emeritierte Bischof von Oxford, Charles Gore (1853 bis 1932), der zukünftige Bischof von Truro, Walter Frere (1863 bis 1938), sowie der Dekan von Wells, Joseph Armitage Robinson (1858 bis 1933), an den Gesprächen teil. Die katholische Seite repräsentierten vor allem der belgische Kardinal Désiré-Joseph Mercier und der französische Abbé Fernand Portal (1855 bis 1926).
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des maßgeblichen Initiators dieses Dialogs, des belgisch-katholischen Kardinals Désiré-Joseph Mercier (1851 bis 1926), im Jahre 1926 allen Katholiken die zukünftige Teilnahme an solchen ökumenischen Gesprächen untersagte, bezeichnete Paul VI. diese Zusammenkunft später im Rückblick als epochal.24 Zweifellos galt Montini, schon lange bevor er aus dem Konklave als Papst hervorging, vielen im anglikanischen Klerus als ein „anglophiler“ Kandidat. Dementsprechend große Hoffnungen setzten nicht wenige nach seiner Wahl auf ihn.25 Beispielsweise zeigte sich Bernard Pawley, der seit dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils zu den anglikanischen Beobachtern zählte, in seinen regelmäßigen Berichten nach London über den Ausgang des Konklaves geradezu begeistert: The Pope eventually appeared on the balcony and gave a blessing. The applause in the square was most moving. I must admit that I was very moved at the announcement. I was naturally thinking of the thrilling time we had at Milan in 1955 [sic!] with Montini, and of how he had said that we should live to see considerable change in Christian relations in our lifetime. I went back to the Secretariat [for Promoting Christian Unity, G. H.] afterwards and asked if I could procure a bottle of champagne and bring it in, which I did. We then all toasted the new Pope and the cause of Christian union.26
Die erste päpstliche Privataudienz von Bernard Pawley und dem Bischof von Ripon, John Moorman (1905 bis 1989), der eine Delegation anglikanischer Beobachter während des Zweiten Vatikanischen Konzils angeführt hatte, soll am 1. Juli 1963 sehr herzlich gewesen sein: Pawley berichtete, der Pontifex habe die beiden Anglikaner als „old friends“ bezeichnet und an ihre persönliche Begegnung in Mailand erinnert. Der päpstliche Privatsekretär Pasquale Macchi (1923 bis 2006), der Montini aus Mailand nach Rom begleitet hatte, versicherte wiederum Pawley, dass er fortan als direkter „Kommunikationskanal“ zu Paul VI. zur Verfügung ste-
24 Zu den „Malines Conversations“ vgl. Picton: History 2015, S. 117; Reath: Rome 2007, S. 33– 36. 25 Vgl. Andrew Chandler/Charlotte Hansen: Introduction, in: Dies. (Hg.): Observing Vatican II: The Confidential Reports of the Archbishop of Canterbury’s Representative, Bernard Pawley, 1961–1964 (Camden Series, Royal Historical Society 5/43), Cambridge u.a. 2013, S. 1–19, hier S. 16; Andrew Chandler/David Hein: Archbishop Fisher, 1945–1961: Church, State and World (The Archbishop of Canterbury Series), Farnham u.a. 2012, S. 105. 26 Bernard Pawley: POPE PAUL VI., Report No. 76, 21.06.1963, in: Chandler/Hansen (Hg.): Vatican II 2013, S. 197.
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he.27 Als Pawley und Moorman Ende November 1963 erneut zu einer päpstlichen Audienz empfangen wurden, soll der Pontifex wiederum von seiner großen Zuneigung für die Church of England gesprochen und dieser eine zentrale Bedeutung für die Ökumene attestiert haben.28 Tatsächlich blieb Paul VI. zunächst seiner ökumenischen Linie treu und knüpfte darüber hinaus – auf institutioneller Ebene – an diesbezüglich grundlegende Vorarbeiten von Johannes XXIII. an: Letzterer hatte bereits am 5. Juni 1960 das Päpstliche Sekretariat für die Förderung der Einheit der Christen (das sogenannte Einheitssekretariat) eingerichtet; zunächst als eine vorbereitende Konzilskommission. Als deren erster Präsident fungierte der deutsche Kardinal Augustin Bea (1881 bis 1968), dem der holländische Sekretär Monsignore Johannes Willebrands (1909 bis 2006) zur Seite stand. Letzterer war wiederum persönlich gut mit Michael Ramsey bekannt.29 Johannes Willebrands berichtete Bernard Pawley im September 1963, dass sich Paul VI. – diesbezüglich ganz im Gegensatz zu Johannes XXIII. – tatsächlich auch regelmäßig nach den Fortschritten der Arbeit des „Einheitssekretariates“ erkundigt habe.30 Nach dem Tod von Bea übernahm der inzwischen zum Titularbischof von Mauriana (im Norden des heutigen Algerien gelegen) ernannte Willebrands im Jahre 1969 die Leitung des „Einheitssekretariates“. Mit dieser Institution, die Paul VI. im Jahre 1966 als permanenten „Einheitsrat“ (heute: der Päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen) bestätigte, verfügte die römisch-katholische Kirche erstmals in ihrer langen Geschichte über eine Einrichtung, die sich ausschließlich der Ökumene widmete. Seither liefen und laufen über diese Institution aber nicht nur theologische Dialoge mit der Church of England beziehungsweise mit den Mitgliedskirchen der anglikanischen Gemeinschaft, sondern auch mit dem Baptistischen Weltbund, der Christlichen Kirche (Disciples of Christ), der koptisch-orthodoxen Kirche, dem Lutherischen Weltbund, den malankarisch-orthodoxen Kirchen, dem Methodistischen Weltbund, mit einigen pentekostalen Gruppen sowie mit dem Weltbund reformierter Kirchen. Die eher anglokatholisch orientierte Zeitung „Church Times“ berichtete im Oktober 1960, dass insbesondere die Führungsebene der Church of England die Gründung beziehungsweise den Ausbau dieses „Einheitssekretariates“ auch des27 Vgl. ders.: THE POPE, Report No. 78, 01.07.1963, in: Ebenda, S. 201. 28 Vgl. ders.: PAPAL AUDIENCE, Report No. 108, 29.11.1963, in: Ebenda, S. 278. 29 Vgl. Warm Welcome for New Primates: Reactions at the Vatican – Free Church Comments, in: Church Times, CXLIV. Jg., Heft 5, London, Friday, 27.01.1961, S. 1. 30 Vgl. Bernard Pawley: THE NEW POPE, Report No. 79, 20.09.1963, in: Chandler/Hansen (Hg.): Vatican II 2013, S. 204.
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halb sehr begrüßt habe, weil Johannes XXIII. den katholischen Erzbischof von Liverpool, John Carmel Heenan (1905 bis 1975), zu einem der führenden Mitglieder dieser Institution ernannt habe. Zu dieser Zeit galt Heenan in anglikanischen Augen noch als eher liberal gegenüber anderen christlichen Konfessionen eingestellt; ein Image, das sich allerdings nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Westminster, und somit zum höchsten Würdenträger der Catholic Church in England and Wales, im September 1963 verändern sollte.31 Auch eine Reihe weiterer Positionierungen und Handlungen des Papstes wurden von anglikanischer Seite begrüßt: Im Jahre 1964 hob Paul VI. zwar nicht das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma – aus anglikanischer Sicht ein wesentliches Hindernis auf dem Weg der Ökumene – auf, löste es aber gewissermaßen ein Stück weit aus seiner Isoliertheit heraus, indem er eine beratende Bischofskommission ins Leben rief. Zudem wurde beispielsweise das Dogma der unbefleckten Empfängnis zwar nicht widerrufen, doch blieb eine Erhebung der Gottesmutter Maria zur Gnadenmittlerin („Maria mediatrix gratiae“) oder gar zur Miterlöserin („Maria corredemptrix“) aus. Stattdessen sollte Maria nun nicht mehr als eine quasi göttliche Gestalt betrachtet, sondern als die „Königin der triumphierenden Kirche“ verehrt werden.32 Überdies errichtete Paul VI. am 19. Mai 1964 das Päpstliche Sekretariat für den Dialog mit Nicht-Christen sowie am 9. April 1965 das Päpstliche Sekretariat für die Nicht-Glaubenden.33 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wirkte im März 1966 die symbolträchtige Begegnung zwischen Paul VI. und Michael Ramsey vor dem Altar der Sixtinischen Kapelle, wo beide Kirchenführer auf damast- und seidenbezogenen Stühlen vor Michelangelos monumentalem Fresko vom Jüngsten Gericht thronten, katalysierend auf die gegenseitigen Bemühungen um einen vertieften Dialog. Der Papst trug eine weiße Soutane, die von einer goldenen und einer roten Stola bedeckt war – althergebrachte Insignien seiner Macht. Der Erzbischof trat in einem violetten und purpurnen Umhang sowie mit einem Barett aus dunklem Samt, dem symbolischen Zeichen eines Doktors der Reformation, auf. An diesen formalen Auftakt schlossen sich Privatgespräche an. Seinen Höhepunkt fand die Zusammenkunft in einem gemeinsamen Gottesdienst, der bezeichnenderweise in der 31 Vgl. Vatican Sets Up Christian Unity Secretariat: Move is Welcomed by Anglican Leaders, in: Church Times, CXLIII. Jg., Heft 5, London, Friday, 14.10.1960, S. 1. 32 Vgl. Bernard Pawley: Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Einheit der Christen in anglikanischer Sicht, in: Peter Meinhold/Otto B. Roegele (Hg.): Christenheit in Bewegung. Eine Bestandsaufnahme der Konfessionen, Hamburg 1964, S. 65–76, hier S. 69 f. 33 Vgl. Roland Cerny-Werner: Vatikanische Ostpolitik und die DDR, Göttingen 2011, S. 73.
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Abb. 1: Michael Ramsey überreicht Paul VI. ein Pektorale, 26. März 1966.
päpstlichen Basilika San Paolo fuori le Mura zelebriert wurde. Dabei handelte es sich um eines der sechs ranghöchsten römisch-katholischen Gotteshäuser und zugleich um eine der sieben Pilgerkirchen Roms. In dieser Kathedrale soll das Grab des Apostels Paulus gelegen haben, nach dem sich der Montini-Papst benannt hatte. Der ökumenischen Messe an diesem – in mehrfacher Hinsicht – symbolträchtigen Ort wohnten überdies insgesamt 26 römisch-katholische Kardinäle bei. Bemerkenswerterweise befanden sich darunter nahezu sämtliche Kurienkardinäle, die keineswegs alle von der Annäherung zwischen Paul VI. und dem Erzbischof von Canterbury begeistert waren.34 Doch sowohl die Anwesenheit dieser hohen römisch-katholischen Würdenträger als auch die besondere räumliche Wahl jener „Basilica maior“ unterstrich eindrucksvoll die von päpstlicher Seite zugemessene Bedeutung dieser Zusammenkunft und ihren hochoffiziellen Charakter.
34 Vgl. Chadwick: Church 1967, S. 105.
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Überdies tauschten beide Kirchenführer ebenso kostbare wie symbolisch in mehrfacher Hinsicht aufgeladene Geschenke aus, die ihre offensichtliche Zuneigung noch einmal in materieller Hinsicht bekräftigen sollten: Unmittelbar vor dem gemeinsamen Gottesdienst überreichte Michael Ramsey dem Papst ein modern gehaltenes Pektorale an einer Kette, das acht Studierende der School of Industrial Design am Canterbury College of Art unter der Leitung der 21-jährigen Katrine Shearer entworfen und gefertigt hatten. Dieses kostbare Brustkreuz, an dessen oberem Ende das päpstliche Wappen Pauls VI. in Gold eingefasst war, legte Montini sofort an.35 Zudem erhielt der Pontifex eine Sammlung von acht in Saffianleder eingebundenen und mit den in Gold gefassten Wappen des Erzbischofs wie des Papstes versehenen Büchern, die Ramsey selbst verfasst hatte.36 Im Gegenzug schenkte Paul VI. seinem Gast ein Brevier aus dem Besitz von Johannes XXIII. – ein symbolisches Versprechen für die angestrebte Intensivierung der ökumenischen Beziehungen zwischen Canterbury und Rom. Später überraschte der Montini-Papst den Primas der Church of England, indem er diesem spontan jenen Bischofsring an den rechten Ringfinger ansteckte, den er 1954 anlässlich seiner Ernennung zum Erzbischof von Mailand erhalten hatte. Da Mailand eine der ältesten und mit rund vier Millionen Katholiken in mehr als eintausend Pfarreien zugleich bedeutendsten Diözesen Italiens war, wohnte dieser Geste noch einmal eine ganz besondere Tiefe inne.37 Es handelte sich um den hier abgebildeten Siegelring. Dessen grüner Edelstein wird von einem goldenen Kreuz durchbrochen, an das sich wiederum vier hochkarätige Diamanten anschmiegen.38 Dieses gänzlich unerwartete, nicht vom Protokoll vorgesehene und dennoch hochoffizielle Geschenk soll Michael Ramsey zu Tränen gerührt haben. Rückblickend fühlte sich dieser geradezu an eine feierliche Hochzeitszeremonie erinnert: „As we walked down St Paul’s-without-the-walls [San Paolo fuori le Mura, G. H.], he [Paul VI., G. H.] took off his ring and he put it on my finger, just like a wedding, very nice […].“39 Indem 35 Vgl. ebenda. 36 Vgl. Dr. Ramsey’s Gifts to the Pope, in: Church Times, 380. Jg., Heft 5, 25.03.1966, S. 1. 37 Zur Zeit als Erzbischof von Mailand: Luca Bressan/Angelo Maffeis: Montini: Arcivescovo di Milano, Brescia 2016; Luigi Crivelli: Montini arcivescovo a Milano: Un singolare apprendistato (Attualità e storia 28), Milano 2002. 38 Vgl. Bellenger/Fletcher: Mitre 2005, S. 175; Christopher Howse: Sacred Mysteries: The Ring that Rome gave to Canterbury, in: The Telegraph, 02.04.2016, Online-Ansicht: http://www. telegraph.co.uk/opinion/2016/04/01/sacred-mysteries-the-ring-that-rome-gave-to-canterbury/, letzter Zugriff: 12.07.2017. 39 Michael Ramsey zit. Bellenger/Fletcher: Mitre 2005, S. 175.
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Abb. 2: Bischofsring von Paul VI.
dieser freundschaftliche Akt mit dem ansonsten ritualisierten Prozedere brach, wohnte ihm eine hohe bildliche Qualität und symbolische Intensität inne: Im Moment seiner Übergabe durch den Papst, avancierte der Ring zu einem Medium der Verständigung. In diesem ebenso kleinen wie kostbaren Schmuckstück objektivierte, komprimierte, konservierte und ritualisierte sich das Versprechen gegenseitiger Achtung und Zuneigung.40 Michael Ramsey trug dieses sehr persönliche Geschenk des Montini-Papstes bis zu seinem Tod. Seither legen die Erzbischöfe von Canterbury eben diesen Bischofsring an, wenn sie einem Pontifex begegnen.
40 Zur Bedeutung von materiellen Dingen bei symbolischen Akten: Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung, in: Dies./Thomas Weißbrich (Hg.): Die Bildlichkeit symbolischer Akte (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 28), Münster 2010, S. 9–22, hier S. 12, 15. Zum Ritual als eine Handlung, eine Art funktionaler oder struktureller Mechanismus, um Denken und Handeln zu integrieren: Andréa Bellinger/David J. Krieger: Einführung, in: Dies. (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 7–36, hier S. 10; Catherine Bell: Ritualkonstruktion, in: Andréa Bellinger/ David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 37–48, hier S. 37.
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Abgesehen von solchen Geschenken unterzeichneten der Erzbischof von Canterbury und der Papst bereits am 24. März 1966 eine gemeinsame Erklärung, welche die beabsichtigte Intensivierung des Dialogs bekräftigte.41 Es blieb nicht bei solchen Absichtsbekundungen, denn nur zwei Wochen später eröffnete Michael Ramsey persönlich das Anglican Centre in Rome, im dortigen Palazzo Doria, unweit des Pantheons. Unter der Leitung von John Findlow (1915 bis 1970), der Anfang 1965 Bernard Pawley als ständiger Repräsentant des Erzbischofs von Canterbury in der „Ewigen Stadt“ abgelöst hatte, sollte diese ökumenische Institution einen dauerhaften Platz zum gemeinsamen Gebet von Anglikanern und Katholiken sowie zum ökumenischen Dialog bieten. Eine Bibliothek (die heutige Moorman Library) lädt seither insbesondere Studierende der Päpstlichen Universität Gregoriana zum Studium des Anglikanismus ein. Zudem werden anglikanische Theologen in Rom sowie Wissenschaftler aus aller Welt bei ihren Studien unterstützt.42 Das Ziel eines institutionalisierten Ausbaus der ökumenischen Beziehungen verfolgte auch eine am 4. November 1966 ins Leben gerufene Joint Preparatory Commission, die sich paritätisch aus anglikanischen und katholischen Klerikern zusammensetzte.43 Ähnliches galt für die 1969 institutionalisierte Anglican-Roman Catholic International Commission (ARCIC); ein Ergebnis der Zusammenarbeit des Anglican Consultative Council, eines der heute vier „Instruments of Unity“44 der anglikanischen Gemeinschaft, mit dem päpstlichen „Einheitsrat“.45 Die erste, während des Montini-Pontifikats arbeitende ARCIC führte zu gemeinsamen Erklärungen hinsichtlich der Eucharistie, dem Priestertum und der Autorität in der Kirche. Allerdings wurden diese Verlautbarungen von beiden Kirchen weder offiziell ratifiziert noch zurückgewiesen. Gleichwohl erklärten vor diesem Hintergrund nun auch einige britische Massenmedien Paul VI. hoffnungsvoll zum ersten „anglophilen Papst“ in der Geschichte.46 Jedenfalls wurden in den 1960er-
41 Siehe: Paul VI./Michael Ramsey: The Common Declaration by Pope Paul VI and the Archbishop of Canterbury, in: Joseph W. Witmer/J. Robert Wright (Hg.): Called to Full Unity: Documents on Anglican-Roman Catholic Relations 1966-1983, Washington, D.C. (District of Columbia) 1986, S. 3 f. 42 Vgl. Chadwick: Church 1967, S. 107. 43 Vgl. Purdy: Search 1996, S. 99. 44 Diese „Four Instruments of Unity“ sind: Der Erzbischof von Canterbury, das Primates Meeting, die Lambeth Conference sowie das Anglican Consultative Council. 45 Vgl. Paul A. Welsby: A History of the Church of England, 1945-1980, Oxford 1984, S. 179 f. 46 Vgl. etwa Chandler/Hein: Archbishop 2012, S. 105.
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Jahren nachweislich nahezu alle Institutionen gegründet, die bis heute maßgeblich der anglikanisch-katholischen Ökumene dienen. 2. Spannungen
Trotz oder gerade wegen der geschilderten Annäherungen zwischen Canterbury und Rom auf höchster kirchlicher Ebene, geriet der italienische Pontifex seit den 1960er-Jahren innerhalb der britischen Gesellschaft zu einem kontrovers diskutierten Politikum und mitunter zu einem gesellschaftspolitischen Streitgegenstand. Teilweise wurzeln die Ursachen für ein traditionell spannungsgeladenes Verhältnis zwischen Päpsten und britischen Anglikanern zweifellos in der Trennung der Church of England von der römisch-katholischen Kirche und in deren Folgen. Lange Zeit war das gegenseitige Verhältnis von gegenseitiger Distanz bis hin zu tiefer Abneigung geprägt:47 Mit Ausnahme der ebenso blutigen wie kurzen „gegenreformatorischen“ Regentschaft der katholischen Königin Mary I. Tudor (1516 bis 1558) und seit deren Schwester, die entschiedene Protestantin Elizabeth I. (1533 bis 1603), den Thron bestieg, verkörperte der britische Monarch über Jahrhunderte hinweg sowohl in theologischer als auch in machtpolitischer Hinsicht den zentralen Gegenpol zur fremd bis befremdlich empfundenen Autorität des Papstes. Daher blickte insbesondere die englische Gesellschaft auf eine geradezu existentielle und lange anti-papistische Tradition zurück. Überdies war in der Church of England, aufgrund ihrer bereits geschilderten, bisweilen inkonsistent anmutenden Struktur, von jeher ein besonderes Aushandlungs- und Konfliktpotential in Bezug auf das Papsttum, als institutionelle und gleichsam personifizierte Speerspitze des universellen Machtanspruchs des Katholizismus, angelegt.48 Auf kirchlich-institutioneller Ebene änderten sich jedoch, in Canterbury wie in Rom, erst seit den 1960er-Jahren langsam die über Jahrhunderte hinweg tradierten Paradigmen: Das bereits erwähnte Zweite Vatikanische Konzil brachte nicht nur das Selbstverständnis und das globale Image des Papsttums in Bewegung, sondern führte umgekehrt auch von anglikanischer Seite zu einer Hinterfragung der bis47 Siehe etwa: Peter D. Clarke: Canterbury as the New Rome: Dispensations and Henry VIII’s Reformation, in: The Journal of Ecclesiastical History, 64. Jg., Heft 1, 07.01.2013, S. 20–44; Peter Marshall: Religious Identities in Henry VIII’s England (St. Andrews Studies in Reformation History), Aldershot u.a. 2006. 48 Vgl. Frieling: Amt 2002, S. 66; Callum G. Brown: Religion and Society in Twentieth-Century Britain (Religion, Politics and Society in Britain 3), Harlow u.a. 2006, S. 17.
Papst Paul VI. in anglikanischen Augen: Begegnungen und Projektionen in England |
herigen Beziehungen zum Pontifex, zur römisch-katholischen Kirche sowie zur Catholic Church in England and Wales. Dabei handelte es sich wechselseitig um einen ebenso langwierigen wie komplizierten Prozess, der stets von gegenseitigen Projektionen und vor allem bei protestantischen Extremisten anzutreffenden Ressentiments begleitet wurde: Schon vor der verheißungsvollen Begegnung zwischen Paul VI. und Michael Ramsey hatten etwa einige Anglikaner lebhaft gegen einen subjektiv als zunehmend bedrohlich empfundenen Einfluss des Papstes in England protestiert. Als der Erzbischof von Canterbury am 17. Juni 1963 ein Requiem für den kürzlich verstorbenen Johannes XXIII. in der Kapelle des Lambeth Palace, seinem Londoner Amtssitz an der Themse, zelebrieren wollte, rief dies Protestbriefe und antikatholische Petitionen einiger entsetzter Anglikaner und weiterer Protestanten hervor.49 Seither erreichten den Erzbischof von Canterbury aus unterschiedlichen Pfarrgemeinden immer wieder Mahnungen und Warnungen vor einer weiteren oder gar weitergehenden Annäherung an die römisch-katholische Kirche. Dies mag ein Auszug aus einem im Januar 1966 verfassten Brief einer offenbar empörten Anglikanerin an den Erzbischof von Canterbury illustrieren: […]I beseech you to think seriously about allowing the Roman Catholics to have more control in this beloved Protestant country. We do not want to be dominated by the Pope or the Roman Church again. The Reformation gave us freedom & liberty, and I am sure, Sir, you would not wish to be under bondage as our forefathers were.50
Im unmittelbaren Vorfeld des Treffens zwischen Paul VI. und Michael Ramsey scheinen sich derartige (aus heutiger Sicht irrationale) radikale Haltungen noch einmal verschärft zu haben, die allerdings eher die Ausnahme darstellten: Beispielsweise berichtete der „Guardian“ über einige protestantische Demonstranten, unter denen sich auch der nordirisch-presbyterianische Pfarrer und spätere First Minister der nordirischen Regionalregierung Ian Paisley (1926 bis 2014) befand, die den Erzbischof bereits auf dem römischen Flughafen Leonardo da Vinci (heute: Fiumicino) mit dem Vorwurf des „Hochverrats an der protestantisch-britischen Nation“
49 Vgl. etwa Letter of Beatrix Dunalley to the Archbishop of Canterbury, 10 June 1963, S. 1–2, in: Lambeth Palace Library [LPL], Ramsey Papers, Vol. 46, 1963, Bl. 248 f.; Hayes Lane Strict Baptist Church (Kent): Petition, 10 June 1963, in: LPL, Ramsey Papers, Vol. 46, 1963, Bl. 250 f. 50 L. E. Carvell: Letter to the Archbishop of Canterbury, 24 January 1966, S. 1–2, hier S. 1, in: LPL, Ramsey Papers, Vol. 107, 1966, Bl. 104 f. Hervorhebungen im Original.
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konfrontierten.51 Die „Church Times“ berichtete, dass diese Extremisten lautstark Parolen wie „A betrayal of the Reformation“, „England, a Protestant country“, „No peace with Rome“ und „Ramsey’s a traitor“ skandiert hätten.52 Währenddessen trafen auch an der Themse einige Petitionen von besorgten bis aufgebrachten anglikanischen Gläubigen ein, die sich gegen jegliche „Annäherungen“ der Church of England an die römisch-katholische Kirche wandten; Michael Ramsey erhielt Morddrohungen. Vor dem Lambeth Palace demonstrierte zwischenzeitlich eine aufgebrachte Menschenmenge mit Schildern, auf denen unter anderem „No Pope for us!“ geschrieben stand. Eine Petition, die den Erzbischof von Canterbury des Hochverrats an der britischen Nation bezichtigte, erreichte sogar den britischen Premierminister Harold Wilson (1916 bis 1995) und Königin Elizabeth II. (geb. 1926).53 Offenbar avancierte Paul VI. zumindest für jene Anglikaner zu einer bisweilen hochgradig emotional aufgeladenen Chiffre, die ihre protestantisch-britische oder aber protestantisch-englische Identität bedroht sahen. Es wäre aber noch genauer zu erforschen, ob andere (zumindest einige Anglokatholiken) hingegen dem Papst sehr viel offener gegenüberstanden. Jedenfalls sind durchaus auch positive Reaktionen auf die von Paul VI. und Michael Ramsey katalysierte Annäherung zwischen Canterbury und dem Vatikan überliefert: Auf Initiative des Dekans von Westminster, Eric Symes Abbott (1906 bis 1983), zelebrierten etwa anglikanische und katholische Benediktiner sowie auch einige Mitglieder anderer religiöser Orden gemeinsam eine Messe in Westminster Abbey, da Michael Ramsey am St. Benedikt-Tag in Rom eingetroffen war. Rund vierhundert Mönche und Nonnen füllten den Chor der Hauskirche der britischen Monarchie im Herzen Londons. In diesem Gotteshaus ist auch Königin Elizabeth I. begraben, unter deren Herrschaft die Church of England ihre bis heute gültige Ausprägung als reformierte Kirche erhielt. Von diesem symbolträchtigen Ort aus, dem Herzen der anglikanischen Glaubensgemeinschaft, wurde also ein durchaus bemerkenswertes Zeichen für eine bessere Verständigung zwischen britischen Anglikanern und Katholiken ausgesendet.54 Nichtsdestotrotz stellte Paul VI. noch immer das personifizierte, universale Symbol des Katholizismus dar, wohingegen der Anglikanismus die britische Staats51 Vgl. George Armstrong: Rome Turns Back the Ulster Dissenters, in: The Guardian, 23.03.1966, S. 1. 52 Vgl. Three Historic Meetings Held with the Pope, in: Church Times, 380. Jg., Heft 5, 25.03.1966, S. 1. 53 Vgl. Chadwick: Church 1967, S. 106. 54 Vgl. ebenda.
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religion geblieben war. Bis heute subventioniert der britische Staat die Church of England, deren Erzbischöfe und 24 Bischöfe als Mitglieder des Oberhauses im britischen Parlament wiederum aktiv Einfluss auf die Staatspolitik nehmen. Überdies durfte der englische (beziehungsweise später britische) Monarch seit der Regentschaft von Mary I. Tudor nicht katholischen Glaubens sein, da er sowohl das weltliche Oberhaupt der Church of England (Supreme Governor of the Church of England) als auch den Hüter (Defender of the Faith) der britischen Staatsreligion in Personalunion verkörpert. Zur Zeit des Montini-Pontifikats hatte Königin Elizabeth II. zwar praktisch keine machtpolitische Autorität inne, sie kam aber geradezu dem personifizierten Sinnbild protestantischer „Britishness“, im Sinne eines nationalen, zunehmend brüchigen Identitäts- und Identifikationssymbols, gleich. Jenen Anglikanern, deren „Britishness“ einer Art „civil religion“ entsprach, schien der Papst unvereinbar mit dem protestantisch gefärbten Staats- und Nationalverständnis. Allerdings waren antikatholische Einstellungen zu dieser Zeit zumindest in England rückläufig und weitaus weniger verbreitet als etwa in Nordirland. Gleichwohl konservierten und konservieren nationale Feiertage wie die „Bonfire Night“, die seit rund 400 Jahren vor allem von Anglikanern mit Feuerwerken und Fackelzügen zelebriert wird, eine gewisse antikatholische Grundstimmung als ein fest verwurzeltes Element in der britischen Alltagskultur.55 Diese Tendenz zeigte sich in den späten 1960er-Jahren auch dann, als der katholische Erzbischof von Westminster, John Carmel Heenan, im Februar 1965 öffentlich seiner Hoffnung auf eine Teilnahme des Papstes an der Zeremonie anlässlich der Einweihung der Roman Catholic Metropolitan Cathedral of Christ the King in Liverpool – wo die evangelikale Tradition innerhalb der Church of England traditionell besonders stark war – im Jahre 1967 Ausdruck verlieh.56 Kurz darauf soll Paul VI. eine formelle Einladung vom katholischen Erzbischof von Liverpool, George Andrew Beck (1904 bis 1978), während des Zweiten Vatikanischen Konzils 55 An diesem Feiertag wird dem gescheiterten Attentat gedacht, das der katholische Konvertit und Offizier Guy Fawkes (1570 bis 1606) am 5. November 1605 mithilfe von Sprengstoff auf das englische Parlament und auf König James I. verüben wollte (siehe ausführlich: Brenda J. Buchanan u.a.: Gunpowder Plots: A Celebration of 400 Years of Bonfire Night, London 2005). Ein noch heute in England populäres Gedicht trägt den Titel „The Fifth of November“ (um 1870 entstanden). Dessen erste Verse werden häufig von britischen Kindern rezitiert: „Remember, remember! The fifth of November, the Gunpowder treason and plot; I know of no reason why the Gunpowder treason should ever be forgot!“ Am Ende des Gedichtes heißt es noch: „A rope, a rope, to hang the Pope, a penn‘orth of cheese to choke him, a pint of beer to wash it down, and a jolly good fire to burn him.“ 56 Vgl. Pope to be Invited to Britain, in: The Times, Issue 56253, Tuesday, 23.02.1965, S. 14.
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erhalten haben.57 Bis dato hatte noch kein ausländischer Pontifex die britische Insel betreten. Seither verbreiteten sich unter britischen Anglikanern und Katholiken, im Klerus, innerhalb der Gesellschaft und auf politischer Ebene, rasch Gerüchte über einen bevorstehenden Besuch des Montini-Papstes im „protestantischen“ Liverpool. Den katholischen Erzbischof von Westminster erreichten sogar Briefe von Kindern, die auf eine persönliche Begegnung mit Paul VI. hofften.58 Insbesondere der Privatsekretär des Erzbischofs von Westminster, Monsignor David Norris (1922 bis 2010), betonte aber wiederholt, dass ein solcher Besuch noch keineswegs sicher sei, zumal nicht einmal die britische Regierung offiziell Kenntnis von einer derartigen Absicht habe und sich dementsprechend irritiert zeige.59 Tatsächlich kam es aus letztlich nicht ganz aufzuklärenden Gründen nie zu einer Reise von Paul VI. nach England.60 Dabei hatte der Montini-Papst hinsichtlich der Anzahl und Weite seiner Reisen längst seinen unmittelbaren Vorgänger, dem US-amerikanische Korrespondenten den scherzhaften Spitznamen „Johnnie Walker“ gegeben hatten, übertroffen.61 Paul VI. gilt gemeinhin als der erste „Reisepapst“, der als erster „Stellvertreter Christi“ auch das Flugzeug nutzte.62 Allerdings erscheint bemerkenswert, dass allein die bloßen Gerüchte hinsichtlich der Möglichkeit seines Besuches in England für einige Irritationen auf kirchlicher, gesellschaftlicher wie auf höchster politischer Ebene sorgten.
57 Vgl. The Pope Likely to Visit Liverpool, in: The Times, Issue 56446, Thursday, 07.10.1965, S. 12. 58 Beispielsweise: „Your Eminence, I have heard on the news that the Pope is coming to England soon. I and my five brothers would like to meet him. My Brothers [sic!] ages are 12, 8, 7, 3, 1 and I am 10. Please could you help us?“ (Jean Utteridge, Middlesex: Letter to the Archbishop of Westminster, 13.11.1965, S. 1 f., in: Westminster Diocesan Archives [WDA], Pope Paul VI. 1963–1975, HEI/P4, Bl. 1 f.). 59 Vgl. David Norris: Letter to Jean Utteridge, 19.11.1965, in: WDA, Pope Paul VI. 1963–1975, HEI/P4, Bl. 1). 60 Aus der Korrespondenz zwischen Paul VI. und dem Erzbischof von Canterbury, die in der Lambeth Palace Library in London eingesehen werden konnte, geht der Grund nicht hervor. Leider sind die Akten des Montini-Pontifikats im Vatikanischen Geheimarchiv noch nicht zugänglich. 61 Zu den päpstlichen Reisen siehe den Beitrag von Mariano Barbato in diesem Band. 62 Für entsprechende Zuschreibungen vgl. etwa The Pilgrim Pope May Carry the Cross, in: Daily Express, 772. Jg., Heft 19, Tuesday, 24.12.1963, S. 1.
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3. Krisen
Die bisweilen höchst spannungsgeladenen Wahrnehmungen des Montini-Papstes durch nicht wenige Anglikaner hingen auch damit zusammen, dass sein Pontifikat in eine Zeit fiel, in der sich die britische Gesellschaft mit existenziellen Krisen von nationaler wie globaler Bedeutung konfrontiert sah: In Nordirland, mit seiner protestantischen Bevölkerungsmehrheit, eskalierte Ende der 1960er-Jahre die Gewalt zwischen pro-britischen Unionisten, die nicht zwangsläufig protestantischer Konfession sein mussten, und anti-britischen beziehungsweise pro-irischen (nicht notwendigerweise katholischen) Nationalisten.63 Der Historiker Markus Büchele hat eindrücklich herausgearbeitet, dass Katholiken die Konfliktparteien häufig als „Irish Nationalist“ und „Ulster Unionist“ bezeichneten, wohingegen Protestanten die Gegensätze „Irish Catholic“ und „Ulster/British Protestant“ aufstellten. Folglich war das protestantische Feindbild genuin katholisch, während Katholiken ihren zentralen Gegner in „den“ Unionisten sahen. Letztere nahmen wiederum „den“ Katholizismus stärker als einen monolithischen Block wahr, was wiederum zu ihrer eigenen Identitätsbildung als eine heterogene protestantische Gruppe beitrug.64 Mit ihrer keinesfalls auf einen „Religionskonflikt“ reduzierbaren Gemengelage aus Nationalismus, paramilitärischem Terror und radikalem Konfessionalismus wühlten die „Troubles“ die britische Gesellschaft nahezu täglich auf.65 Dieser höchst gewalttätige Konflikt musste vielen britischen Zeitgenossen realer und näher erscheinen als die lauernde Gefahr des „Kalten Krieges“ mit seinen Phasen der Entspannung wie der Verschärfung sowie mit allen damit verbundenen Herausforderungen auf diplomatischer Ebene. Unionisten stilisierten den Papst zu einem genuin pro-irischen und damit zwangsläufig anti-britischen Feindbild. Eindrücklich belegen dies noch heute erhaltene und mitunter erneuerte Graffiti wie „Home Rule is Rome Rule“, „Kick the Pope“ oder „No Pope for us“ an Häuserwänden in protestantisch dominierten Stadtteilen in Nordirland. Solche territorialen Grenzmarkierungen konnten den jeweiligen Betrachtern entweder ein Gefühl drohender Gefahr oder aber der Sicherheit vermitteln – je nach ihrem Selbstbild 63 Vgl. Brown: Religion 2006, S. 20. 64 Vgl. Markus Büchele: Autorität und Ohnmacht. Der Nordirlandkonflikt und die katholische Kirche (Historische Mitteilungen 77), Stuttgart 2009, S. 13. 65 Vgl. Simon J. D. Green: Towards a Social History of Religion in Modern Britain: Secularisation Theory, Religious Change and the Fate of Protestant England, in: Ders. (Hg.): The Passing of Protestant England: Secularisation and Social Change, c. 1920–1960, Cambridge u.a. 2011, S. 3–28, hier S. 10.
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und Standpunkt. Zugleich versinnbildlichen die damit verknüpften Abgrenzungs-, Aushandlungs- und Bedeutungszuschreibungsprozesse die zutiefst in den Alltag der Menschen eingeschriebene Brisanz des Pontifex als eine Projektionsfläche für divergierende politische Einstellungen und (Macht-)Interessen. Im Nordirlandkonflikt avancierte der Papst aus dem fernen Vatikan zu einer spannungsgeladenen und politisch höchst bedeutsamen Chiffre für Nationalisten wie Unionisten. Tatsächlich verurteilte Paul VI. aber mehrfach die anhaltende Gewalt auf beiden Seiten und rief zum Frieden auf: Am 17. August 1969, dem ersten Sonntag nach dem Ausbruch der bürgerkriegsähnlichen Unruhen, bezog er in seiner Wochenbotschaft klar Stellung gegen jede Form von Gewalt und Hass.66 Erst der Beginn der Internierungen von (vermeintlichen) Kämpfern der sogenannten Provisional Irish Republican Army (PIRA)67 am 9. August 1971 und damit verbundene Misshandlungen von „Verdächtigen“ durch Einheiten der britischen Armee führten dazu, dass Paul VI. die rigide britische Sicherheitspolitik verhältnismäßig scharf kritisierte. Der britische Premierminister Edward Heath (1916 bis 2005) wies diese päpstliche Kritik daraufhin vehement zurück: Surely we should send a message pointing out to the Pope his complete failure to condemn those who are using violence and in particular his failure wholeheartedly to condemn the IRA. If his intention ‚to invoke divine help in such conditions‘ is to bear credibility, surely he must also condemn the devil and all his works in similar circumstances.68
Eine Woche später bemühte sich der Papst um eine Glättung der diplomatischen Wogen, indem er öffentlich den Tod der nur siebzehn Monate alten Angela Gallagher beklagte, die in Belfast durch einen Querschläger aus dem Gewehr eines PIRA-Scharfschützen getötet worden war.69 Die Gewalt in Nordirland hielt aber nicht nur weiterhin an, sondern erreichte, verschärft durch die verhängnisvollen Ereignisse am 30. Januar 1972, eine neue 66 Vgl. Talk given by His Holiness Pope Paul VI at the Angelus Address, August 17, 1969 zit. Büchele: Autorität 2009, S. 295 f.; The Pope Says Violence cannot Solve Anything, in: The Times, Issue 58430, Saturday, 18.03.1972, S. 2. 67 Die Provisional Irish Republican Army war aus einer Spaltung der IRA im Jahre 1969 hervorgegangen (vgl. dazu Timothy Shanahan: The Provisional Irish Republican Army and the Morality of Terrorism, Edinburgh 2009, S. 23). 68 Edward Heath am 31. August 1971 zit. Büchele: Autorität 2009, S. 297. 69 Vgl. Robert W. White: Ruairí Ó Brádaigh: The Life and Politics of an Irish Revolutionary, Bloomington (Indiana)/Indianapolis (Indiana) 2006, S. xxi.
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Stufe: An diesem „Bloody Sunday“ hatten Bürgerrechtler im katholischen Stadtviertel Bogside des nordirischen Derry gegen die britische Politik der Internierung von „Verdächtigen“ demonstriert. Im Laufe der Demonstration erschossen britische Fallschirmjäger insgesamt 13 Menschen und verwundeten ebenso viele teils schwer. Als Paul VI. später ein von der britischen Regierung veröffentlichtes „White Paper“ in der Absicht gut hieß, den Friedensprozess in Nordirland voranzubringen, zog er sich am 26. April 1973 erstmals öffentlich die Kritik der PIRA zu. Bei diesem Dokument handelte es sich um den Vorläufer des späteren „Sunningdale Agreement“, das am 9. Dezember 1973 im Sunningdale Park in der englischen Grafschaft Berkshire unterzeichnet wurde. Das sogenannte Weißbuch und das spätere Abkommen sahen eine überkonfessionelle und überparteiliche Regierungsbildung (Northern Ireland Executive) in Nordirland durch nationalistische Iren und nordirische Unionisten vor. Darüber hinaus war die Wahl einer Nationalversammlung (Northern Ireland Assembly) beabsichtigt, um das aufgelöste nordirische Parlament zu ersetzen. Die Bildung eines sogenannten Council of Ireland sollte schließlich sowohl Nordirland als auch der Republik Irland ein gegenseitiges Mitspracherecht geben.70 Diese Intentionen widersprachen jedoch dem zentralen Ziel der PIRA, eine vereinigte, sozialistisch-föderalistische irische Republik mit politischen Mitteln wie mit Waffengewalt zu errichten, wozu zunächst sowohl Nordirland als auch die Republik Irland abgeschafft werden sollten. Die „Times“ berichtete: In a long statement tonight, which covered in detail the IRA‘s own version of recent events in the province, the organization said it regretted that ‚the Pontiff could be so misinformed‚ as to believe that the British White Paper provided the basis for a solution to the problems here.‘ Although the IRA has criticized leading Catholic churchmen for their condemnation of violence, it has never before dared to challenge the Pope. […] The statement blamed the British Army for breaking the truce last year and said that Catholics were subject to internment, raids, searches and the killing of innocent people. ‚In the face of such oppression, can his Holiness deny us the right to resist? Must we be condemned to slavery for all time or have we not a duty to achieve dignity for ourselves, our families and our nation?‘71
70 Zum sogenannten Sunningdale Agreement: Mary-Alice C. Clancy: Peace Without Consensus: Power Sharing Politics in Northern Ireland, Farnham u.a. 2010, S. 33–52. 71 PIRA zit. Robert Fisk: Pope’s Plea for Peace Challenged by the IRA, in: The Times, Issue 58768, Friday, 27.04.1973, S. 2.
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Offenbar sah sich der Papst nun dem Vorwurf des Verrats an der – zumindest aus Sicht der PIRA – genuin „katholischen“ und gesamtirischen Sache ausgesetzt, obwohl er stets für ein Ende der Gewalt und einen Friedensschluss eingetreten war, der alle Seiten zufriedenstellen sollte. Paul VI. geriet zwischen die Fronten und zu einer politischen Chiffre, die für höchst unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert wurde. Eine politische Mehrheit, die sich aus der moderat unionistischen Alliance of Northern Ireland, der Ulster Unionist Party und der nationalistischen Social Democratic and Labour Party zusammensetzte, trug das „Sunningdale Agreement“ mit. Allerdings scheiterte dessen Umsetzung letztendlich am starken Widerstand nordirischer Unionisten, am fortwährenden Terror der PIRA und an einem Generalstreik unionistischer Arbeiter, dem sogenannten Ulster Worker’s Council Strike, am 28. Mai 1974. Bis dahin war es wiederum auch zu erneuten Spannungen zwischen London und Rom gekommen, als der Papst im September 1973 seiner Hoffnung auf eine „[…] union of ‚the small and large Ireland‘ […]“72 Ausdruck verliehen hatte. Diese Stellungnahme interpretierte die britische Regierung als eine Stellungnahme für ein vereinigtes und von Großbritannien unabhängiges Irland.73 4. Transformationen
Die kontroversen Reaktionen auf Paul VI. in England interagierten aber nicht nur mit politischen Krisenerscheinungen, sondern auch mit fundamentalen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen: In den 1960er- und 1970er-Jahren schritten die Dekolonisationsprozesse in Afrika und in der Karibik rasch weiter voran. Im Umkehrschluss verblasste das Erbe des früheren „British Empire“ immer mehr, was wiederum „das“ britische Selbstverständnis negativ tangierte. Zur selben Zeit, aber besonders in den 1970er-Jahren, litt das Vereinigte Königreich insgesamt an einer geringen industriellen Produktivität und gestiegener Arbeitslosigkeit – der „British Disease“. Zudem veränderte sich insbesondere in England die Sozialstruktur sukzessive hin zu einem multiethnischen und multireligiösen „melting pot“.74 72 Paul VI. zit. Pope Hopes for Irish „Union and Peace“, in: The Times, Issue 58889, Monday, 17.09.1973, S. 1. 73 Vgl. etwa Christopher Walker: Ulster „Loyalists“ will Try to Close the Ranks, in: The Times, Issue 59526, Tuesday, 14.10.1975, S. 2. 74 Vgl. Brown: Religion 2006, S. 224. Zur Verbreitung hinduistischer und muslimischer Glaubensgemeinschaften: G. I. T. Machin: Churches and Social Issues in Twentieth-Century Britain, Oxford u.a. 1998, S. 211.
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Manche Forscher sprechen sogar vom Beginn der Auflösung des christlichen Fundaments der britischen Gesellschaftsstruktur.75 Gleichwohl wies kein anderer westeuropäischer Kultur- und Kommunikationsraum noch immer derart vielschichtige christlich-konfessionell konditionierte Nuancen auf wie England: Neben der Church of England existierte eine ganze Reihe weiterer protestantischer Kirchen. Während sich England, Nordirland und Wales eher in ihren kirchlichen Strukturen ähnelten, war in Schottland der Presbyterianismus besonders weit verbreitet und nur dort lebte überdies eine größere Anzahl von Katholiken. Teilweise erklärt sich diese Besonderheit aus den vorreformatorischen Gemeinden in eher abgelegenen Landesteilen, welche die sogenannte Englische Reformation überdauerten. Ein weiterer Grund dürfte in der Einwanderung vieler Iren in die industriellen Zentren der schottischen Lowlands während des 19. Jahrhunderts zu sehen sein.76 Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts migrierten auch Katholiken aus dem Commonwealth und aus Kontinentaleuropa in größerer Zahl auf die britische Insel.77 Insgesamt waren aber lediglich etwa zehn Prozent aller britischen Staatsbürger im 20. Jahrhundert katholischen Glaubens; jenseits von Schottland insbesondere in Lancashire und in einigen aristokratischen Familien.78 Generell verliefen die konfessionellen Trennungslinien innerhalb des Vereinigten Königreiches entlang von Landes-, Stadt- und Dorfgrenzen sowie bisweilen auch – vor allem in Nordirland – innerhalb einiger Städte. Geografische Schwerpunkte der Church of England befanden sich in London, in den südlichen und südöstlichen Gebieten, im Südwesten, in East Anglia sowie in Lincolnshire. Die 75 Für diese These vgl. Simon J. D. Green: Religion in the Twilight Zone: A Narrative of Religious Change in Britain, in: Ders. (Hg.): The Passing of Protestant England: Secularisation and Social Change, c. 1920–1960, Cambridge u.a. 2011, S. 29–91, hier S. 32. Zur These eines „Death of Christian Britain“: „The sixties was the most important decade for the decline of religion in British history.“ (Brown: Religion 2006, S. 224). Für eine Gegenposition: „Christian Britain […] has not died. Rather, it has been transformed.“ (Jane Garnett u.a.: Conclusion: Christian Britain Reconsidered, in: Dies. (Hg.): Redefining Christian Britain: Post-1945 Perspectives, London 2007, S. 289–293, hier S. 289). Siehe dazu ausführlich: Grace Davie: Religion in Britain: A Persistent Paradox, Chichester u.a. 2015; Hugh McLeod: The Religious Crisis of the 1960s, Oxford u.a. 2010. 76 Vgl. Brown: Religion 2006, S. 19 f. 77 Vgl. ebenda, S. 17 f. 78 Vgl. Robert Currie/Alan Gilbert/Lee Horsley: Estimated Roman Catholic Population of Great Britain, 1887-1971, in: Dies.: Churches and Churchgoers: Patterns of Church Growth in the British Isles since 1700, Oxford 1977, Table A5, S. 153, Online-Ansicht: http://www. brin.ac.uk/figures/churches-and-churchgoers/catholic-community-england-wales-scotland-1887-1970/, letzter Zugriff: 12.07.2017.
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Catholic Church in England and Wales hatte ihre Zentren in London und im Nordwesten; vor allem in der schottischen Arbeitermetropole Glasgow. Während alle protestantischen Glaubensgemeinschaften seit den frühen 1960er-Jahren einen teils gravierenden Mitgliederschwund verzeichneten, erfuhr die Catholic Church in England and Wales einen zwar langsamen, doch stetigen Zuwachs aufgrund von Heiraten, Taufen und Konversionen.79 Gleichzeitig sah sich die britische Gesellschaft – wie auch nahezu ganz Westeuropa – mit fortschreitenden, ebenso dynamischen wie teils widersprüchlich anmutenden, Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozessen konfrontiert. Im gesamten Vereinigten Königreich verzeichneten alle protestantischen Glaubensgemeinschaften eine stetige Abnahme der Bedeutung amtskirchlich ritualisierter beziehungsweise institutionalisierter und gemeinschaftlich zelebrierter Religion. Damit ging aber keineswegs zwangsläufig auch eine generelle Abkehr von christlichen Werten oder eine Ablehnung jeglicher Religiosität einher. Vielmehr scheint sich bei vielen Anglikanern eine Verschiebung hin zu einer weitgehend entkirchlichten, privatisierten, freiwillig und somit eher „lose“ ausgelebten Religiosität vollzogen zu haben.80 Im Grunde eröffnete erst dieser „Shift“ – so die hier vertretene und in weiteren Forschungen erst noch genauer zu überprüfende These – von einer amtskirchlich ritualisierten Religionsausübung hin zur stärker individualisierten und zunehmend in die Privatsphäre hinein verlagerten Religiosität auch anglikanischen Gläubigen überhaupt erst die Möglichkeit, den römischen Pontifex in ihre komplexe Collage aus religiösen und wertebezogenen Überzeugungen zu integrieren oder eben davon auszuschließen und sich über eine Distanzierung vom Papst der eigenen Werte zu versichern. Parallel zu diesen komplexen 79 Vgl. Green: Religion 2011, S. 72 f. Siehe: V. Alan McClelland/Michael Hodgetts (Hg.): From Without the Flaminian Gate: 150 Years of Roman Catholicism in England and Wales 18502000, London 1999; Michael P. Hornsby-Smith: Roman Catholic Beliefs in England: Customary Catholicism and Transformations of Religious Authority, New York (New York) u.a. 1991. Siehe auch Robert Currie/Alan Gilbert/Lee Horsley: Annual Church Membership in Britain, 1900-1970, in: Dies.: Churches and Churchgoers: Patterns of Church Growth in the British Isles since 1700, Oxford 1977, Table 2.4, S. 31 f., Online-Ansicht: http://www.brin. ac.uk/figures/churches-and-churchgoers/annual-british-church-membership-1900-1970/, letzter Zugriff: 12.07.2017. 80 Zu diesem Prozess: Ulrich Beck: Der eigene Gott. Die Individualisierung der Religion und der Geist der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main/Leipzig 2008; Karl Gabriel (Hg.): Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkt moderner Religiosität (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1), Gütersloh 1996.
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und bisher kaum detaillierter analysierten Prozessen einer „Individualisierung der Religion“ (Ulrich Beck), die eng mit dem Selbstverständnis und der Lebenswelt des Einzelnen verknüpft war, differenzierte sich aber auch das optionale Angebot von alternativen, religiös konnotierten Inhalten und Riten immer facettenreicher aus. Neben diesen Transformationsprozessen veränderte sich ebenfalls die Politik Pauls VI. mit der Dauer seines Pontifikats hin zu einer Agenda, die möglicherweise am ehesten unter dem Rubrum einer Art konservativen Bewahrung zusammengefasst werden kann: Wie zu Zeiten Pius’ XII. ermahnte der Montini-Papst etwa „vom herkömmlichen Kurs“ abgekommene Theologen mittels Lehrschreiben. Auch die im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils zunächst so verheißungsvoll vertiefte Ökumene erfuhr insbesondere und ausgerechnet im Jahre 1968 eine empfindliche Störung: In diesem Jahr fand mit der Lambeth Conference in Westminster eine Art anglikanisches „Konzil“ statt, zu dem erstmals auch katholische Beobachter eingeladen waren. Kurz zuvor war zudem die päpstliche Enzyklika „Humanae vitae“ erschienen. Mit diesem Lehrschreiben beabsichtigte Paul VI. zwar eine Stärkung der Eigenverantwortung von Eheleuten, was jedoch angesichts seines antimodernistisch anmutenden Votums für ein generelles Verbot künstlicher wie natürlicher Verhütungsmittel in den Hintergrund geriet. In ganz Westeuropa wollten sich immer weniger Katholiken „ex cathedra“ vorschreiben lassen, wie sie ihr Privat- und Liebesleben zu führen hätten. Ebenso ging die Mehrheit der anglikanischen Gemeinschaft nicht mit der päpstlichen „Ehe-Enzyklika“ konform. Sie äußerte sich aber mit großem Fingerspitzengefühl, wofür sich der inzwischen (seit Februar 1965) zum katholischen Kardinal aufgestiegene John Carmel Heenan im Rahmen einer Messe in der Londoner St. Paul’s Cathedral, die während einer Woche des Gebetes für die christliche Einheit stattfand, ausdrücklich bedankte – zumal der Papst in nicht wenigen Massenmedien als „Pillen-Paul“ geschmäht wurde.81 Doch gab es durchaus auch Anglikaner, und keinesfalls ausschließlich Anglokatholiken, welche die zunehmend konservativen Positionen des Papstes teilten. Darauf deuten etwa Leserbriefe an überregionale wie regionale Medien hin. Exemplarisch mag dies ein Statement eines jungen Anglikaners aus Luton (damals ein Teil der Grafschaft Bedfordshire) illustrieren, das im August 1968 in der „Times“ veröffentlicht wurde: […] As a younger member of the Anglican Church, may I express my warm welcome for the Pope’s statement upholding the traditional authority of the Catholic Church 81 Vgl. Cardinal Thanks Anglicans for Their „Compassion“, in: The Times, Issue 57466, Thursday, 23.01.1969, S. 10.
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| Gerulf Hirt on the question of contraception. It seems to me that we all too often lose sight of the fact that moral standards are absolute. There is a dangerous attitude abroad today which claims that if majority practice rejects some previously established moral standard then it is ethical teaching which must be thrown overboard. To my mind it is this shamefaced retreat in the face of an increasingly permissive society which has led to the undermining of moral authority in this country. Our own leaders, both in the Church and in other established positions of authority, could learn much from the courage of Pope Paul.82
Solche Wortmeldungen deuten auf eine Suche nach Halt in einer immer unübersichtlicher werdenden und teilweise sogar als unmoralisch wahrgenommenen Gesellschaft und Welt hin. Schließlich verkörperte der Papst eine ewige und (zumindest für Katholiken) heilige Autorität, die alle Unwägbarkeiten und Turbulenzen im Mahlstrom des „Zeitalters der Extreme“ (Eric J. Hobsbawm) überdauert hatte und sich dazu bisweilen auch gegen den Zeitgeist stellte. Gleichwohl vertrat Paul VI. in den folgenden Jahren eine Reihe von Standpunkten, die den ökumenischen Beziehungen zwischen Canterbury und Rom kaum dienlich waren. In der viele Anglikaner wie Katholiken umtreibenden „Mischehenproblematik“ nahm der Papst mit dem am 1. Oktober 1970 veröffentlichten Dekret „Matrimonia mixta“ (ein sogenanntes Motu proprio83) eine eher unversöhnliche Position ein: Die aus einer solchen „Mischehe“ hervorgehenden Kinder sollten ausschließlich im katholischen Glauben erzogen werden, wozu sich der nicht-katholische Ehepartner zunächst schriftlich, später mündlich vor Zeugen verpflichten musste. Dieser autoritäre Eingriff in die private Lebensführung britischer Familien musste zumindest gläubige Anglikaner (aber auch Katholiken!) tief enttäuschen. Überdies und vor dem Hintergrund des eskalierenden Nordirlandkonfliktes rief die vom Papst beabsichtigte Kanonisierung84 der sogenannten Vierzig Märtyrer von England und Wales kontroverse Reaktionen hervor. Bei diesen „Märtyrern“ handelte es sich um vornehmlich englische Katholiken, die sich im 16. und 17. Jahrhundert der Suprematsakte von König Henry VIII. widersetzt und dafür, größtenteils zwischen 1535 und 1681, grausame Tode auf dem Schafott erlitten 82 Robert Spooner: Authority Upheld, in: The Times, Issue 57318, Thursday, 01.08.1968, S. 9. 83 Dabei handelt es sich um ein apostolisches Schreiben des Papstes, das von diesem aus eigener Initiative und persönlich erlassen wird. 84 Darunter versteht man die Heiligsprechung einer oder mehrerer bereits seliggesprochener Personen.
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hatten. Englische und kontinentaleuropäische Theologen, Katholiken wie Protestanten, hatten bereits zu Beginn der 1960er-Jahre gemeinsam damit begonnen, intensiv über den Umgang mit dieser Personengruppe zu diskutieren.85 Schon im Mai 1964 berichtete die „Times“, dass der katholische Erzbischof von Westminster, John Carmel Heenan, einen „Schrein der Märtyrer von Tyburn“ im dortigen Benediktinerinnen-Konvent eröffnet habe. Nahe Marble Arch hatte sich mit dem „Tyburn Tree“, einem Dreifach-Galgen, an dem mehrere Verurteilte gleichzeitig exekutiert werden konnten, einst die zentrale Hinrichtungsstätte der City of London befunden. Überdies ersuchte Heenan in einem Schreiben an Paul VI. nachdrücklich um die Heiligsprechung dieser Persönlichkeiten. Seiner Auffassung nach könnte eine solche Handlung sogar der Ökumene dienlich sein, da zutiefst fromme Christen ein Zeugnis ihres unerschütterlichen Glaubens abgelegt und dafür den höchsten Preis bezahlt hätten: „Nobody now says that all Catholics were wonderful and all Protestants wicked. On both sides people gave their lives for what they believed to be true.“86 Diese versöhnliche Einschätzung teilte zumindest die Führungsebene der Church of England zunächst nicht: Als sich die Anzeichen für eine Kanonisierung verdichteten, berichtete die „Times“ im November 1969 von einem großen Unbehagen des Erzbischofs von Canterbury, der einen ernsthaften Schaden für die ökumenischen Beziehungen zwischen Anglikanern und Katholiken befürchtete.87 Für die Führungspersönlichkeit des evangelikalen Flügels in Englands anglikanischem Kirchenparlament, den Pfarrer R. Peter P. Johnston, war Paul VI. sogar auf dem „Höhepunkt des Wahnsinns“88 angelangt. Allerdings zeigen zahlreiche Leserbriefe an die „Times“, dass anglikanische Kleriker und Gläubige in dieser Frage nicht unbedingt einer Meinung waren: Einerseits kritisierten viele Stimmen, dass eine Kanonisierung nach mehr als 400 Jahren unnötigerweise den ökumenischen Annäherungsprozess empfindlich störe.89 Mitunter argumentierten diese Leser, dass Paul VI. damit im Grunde den „Fehler“ von 85 Vgl. Illtud Evans: After Four Hundred Years: England’s Ecumenical Awakening, in: The Commonweal, Nr. 78, 1963, S. 222–224, hier S. 222. 86 John Heenan zit. Canonization Plea for 40 Martyrs, in: The Times, Issue 56020, Monday, 25.05.1964, S. 7. 87 Vgl. Warning on Canonizing Martyrs, in: The Times, Issue 57729, Friday, 28.11.1969, S. 2. Für weitere Kritik von anglikanischer Seite an der Kanonisierung vgl. Bitterness Feared on Martyrs, in: The Times, Issue 57744, Tuesday, 16.12.1969, S. 6. 88 R. Peter P. Johnston zit. England/Heiligsprechung: Schauerliches Schlitzen, in: Der Spiegel, Heft 1, 05.01.1970, S. 68. 89 Vgl. etwa Patrick Lingard (St. Mark’s Vicarage, Farnborough): Letters to the Editor: Cult of the English Martyrs, in: Church Times, 02.01.1970, S. 12; Mervyn George Semple (Dunkirk
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Papst Pius V. (1504 bis 1572) wiederholen würde, der Königin Elizabeth I. am 25. Februar 1570 mit der Bulle „Regnans in excelsis“ exkommuniziert hatte.90 Vereinzelt nutzten einige dieser Anglikaner sogar die Gelegenheit dazu, um den Dialog insgesamt in Frage zu stellen. Sie machten dabei keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber dem Pontifex: We of the Church of England believe that the ‚Bishop of Rome hath no jurisdiction in this realm of England‘ (Article XXXVII). […] Let us therefore put an end to all this ecumenism and efforts towards unity which […] are doomed to failure. Let us, rather, continue to worship all in our own ways without let or hindrance by anyone.91
Doch neben derart radikalen Positionen verbreiteten sich insbesondere solche Stimmen, die sich gerade in der Frage des Umgangs mit katholischen wie protestantischen „Märtyrern“ eine versöhnliche Begegnung wünschten: […] As an Anglican, I find it utterly distressing that the proposed canonization of the 40 English Roman Catholic Martyrs should be met by any expression of disfavour by the Anglican Church. […] I would suggest, that in the new ecumenical atmosphere in which both our Churches now live, it would be fitting if in, say, Canterbury Cathedral Anglicans were to erect a simple memorial to the 40 with an expression of our thanksgiving for their faith and also of our penitence and desire to make amends. Such an action on our part might possibly inspire a similar memorial, this time in Westminster Cathedral, to the Anglican martyrs who in the time of Queen Mary went to their death in torment for what they too held to be true. Is not this a better way?92
Tatsächlich prozessierten im Januar 1970 sogar einige britische Katholiken zu einem 1870 von Protestanten errichteten Denkmal in den Londoner Stadtteil West Smithfield. Dort hatten Protestanten zwischen 1555 und 1557, unter der RegentVicarage, Faversham): Letters to the Editor: Cult of the English Martyrs, in: Church Times, 02.01.1970, S. 12. 90 Vgl. A. L. Rowse (St. Austell, Cornwall): Letters to the Editor: Canonizing the 40 English Martyrs: Faith and Politics, in: The Times, Issue 57750, Tuesday, 23.12.1969, S. 7. 91 J. Hamilton Fleming (Court Hall, Sidbury, South Devon): The 40 Martyrs, in: The Times, Issue 57756, Thursday, 01.01.1970, S. 11. 92 W. Wallis (The Vicarage, Pickering, Yorkshire): The 40 Martyrs, in: The Times, Issue 57746, Thursday, 18.12.1969, S. 9. Für eine ähnliche Einschätzung vgl. Joan Phillips (The Dunster Pottery, Dunster, Somerset): Canonization of the 40 Martyrs, in: The Times, Issue 57747, Friday, 19.12.1969, S. 9.
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schaft der katholischen Königin Mary I. Tudor, den qualvollen Feuertod für ihren Glauben erlitten. Die „Times“ berichtete, dass viele Anglikaner diesen symbolischen Akt im Geist der Ökumene sehr befürwortet hätten. Andererseits kam es zu einer Demonstration von Mitgliedern des British Council of Protestant Christian Churches, da der Jesuit Clement Tigar (ein aktiver Befürworter der Kanonisierung der sogenannten Vierzig katholischen Märtyrer) die katholische Bußprozession anführte. Die Demonstranten hielten Schilder in die Höhe, die den katholischen Teilnehmern ein scheinheiliges Verhalten unterstellten. Der Baptistenpfarrer Brian Green propagierte etwa gegenüber der empörten Menge: We thank God for the martyrs. They gave their lives so that we might have Protestantism, but in 1970 there is a great move to put us back to the days of Romanism. We protest against those who would steal our heritage by trickery. We believe that this act on the part of the Roman Catholics this afternoon is an act of hypocrisy. If it was real we would say: Rome must change her doctrine. The things that the martyrs died for we would die for.93
Solche radikalen Aussagen deuten darauf hin, dass die Verknüpfung von protestantischem Glauben und britischer Identität bei einigen nicht-katholischen Gläubigen noch immer eng war. Als Paul VI. schließlich die sogenannten Vierzig katholischen „Märtyrer“ am 25. Oktober 1970, im Rahmen einer etwas mehr als zweistündigen Messe, im Petersdom kanonisierte, waren rund 10.000 britische Katholiken anwesend.94 Zuvor hatte der Erzbischof von Canterbury noch einmal ablehnend auf diese Heiligsprechung reagiert, während die große Mehrheit britischer Anglikaner und Katholiken diese Geste offenbar nicht als eine ernsthafte Torpedierung der Ökumene verstand. Diese Wahrnehmung dürfte auch mit der versöhnlich gemeinten Begründung des Papstes zusammengehangen haben, dass die katholischen „Märtyrer“ eben nicht schlicht als eine anti-protestantische Gruppe, sondern vielmehr als fromme Christen zu verstehen seien, die ihr Leben für ihr Gewissen und ihren Glauben geopfert hätten.95 Schließlich lenkte Michael Ramsey etwas ein, indem er die Teilnahme sei93 Reverend Brian Green zit. Unity Pilgrims Recall Protestant Martyrs, in: The Times, Issue 57777, Monday, 26.01.1970, S. 10. 94 Vgl. The Pope’s Hopes for Unity with Anglicans, in: The Times, Issue 58006, Monday, 26.10.1970, S. 1. 95 Vgl. Peter Nichols: Pope’s Unity Hope in Canonizing 40 English Martyrs, in: The Times, Issue 57873, Tuesday, 19.05.1970, S. 5.
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nes Repräsentanten und (seit 1970) Direktors des Anglican Centre in Rome, Harry Smythe (1923 bis 2005), an der Zeremonie im Petersdom erlaubte. Auch Repräsentanten der britischen Regierung hörten des Papstes salomonisch gemeinte Fürbitte: „May the blood of these martyrs be able to heal the great wound inflicted upon God’s church by reason of the separation of the Anglican Church from the Catholic Church.“96 Als ein Zeichen der Ökumene erklangen während der Zeremonie verschiedene Lieder anglikanischen Ursprungs wie etwa „All people that on earth do dwell“ oder „For all the saints“, die der Westminster Cathedral Choir sang. Gleichwohl zeigten sich Anglikaner, aber durchaus auch britische Katholiken, dahingehend enttäuscht, dass Paul VI. entgegen aller Erwartung die anglikanischen „Märtyrer“ unerwähnt ließ, die ihr Leben für ihren Glauben gewaltsam während der Regentschaft von Königin Mary I. Tudor verloren hatten.97 Bisweilen fehlte dem Papst in seinem späten Pontifikat offenbar das Gespür für die passenden Gesten zur richtigen Zeit. Verglichen mit Johannes XXIII., Johannes Paul II. (1920 bis 2005) oder Franziskus (geb. 1936) war Paul VI. sicher kein Charismatiker im Sinne Max Webers.98 Rückblickend mag er als abwägender bis zögerlicher Stratege erscheinen, dessen Pontifikat bis heute vor allem von der bereits erwähnten Enzyklika „Humanae vitae“ überschattet wird.99 Entsprechend seiner persönlichen Erfahrungen mit der Amtsführung der höchst gegensätzlichen Päpste Pius XII. und Johannes XXIII. blieb er zweifellos einer Art „doppelten Kontinuität“ (Alberto Melloni) verhaftet, die in kirchenrechtlicher wie theologischer Hinsicht zwischen Reformeifer und konservativer Bewahrung schwankte. Bezogen auf die Fremdwahrnehmungen des Montini-Papstes durch britische Anglikaner und deren dadurch beeinflusste Selbstwahrnehmungen erscheint aber besonders interessant, dass sein ambivalenter Charakter auf die Hybridität der Church of England und auf den jeweiligen Individualismus des anglikanischen Klerus wie der Laien in einer in mehreren Wandlungsprozessen verflochtenen britischen Gesellschaft traf. Neben der Persönlichkeit, dem Amt und den multiplen Botschaften des Papstes spielten aber auch die Dynamiken und Eigenarten der wechselnden kirchlichen Führungsge96 97 98 99
Paul VI. zit. The Pope’s Hopes 1970, S. 1. Vgl. ebenda. Zum Charisma-Begriff vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1976, S. 140. Allerdings verzerrt der Fokus auf „Humane vitae“ den Blick auf den Pontifikat Pauls VI. insbesondere aus diplomatiegeschichtlich-politischer Perspektive. Dazu ausführlich: Roland Cerny-Werner: Papst in Bedrängnis? Paul VI. und die Globalisierung vatikanischer (Aussen-)Politik nach dem II. Vaticanum, in: Jörg Ernesti (Hg.): Paolo VI e la crisi postconciliare: giornate di studio. Bressanone 25–26 febbraio 2012, Brescia 2013, S. 63–72.
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stalten auf der britischen Insel eine nicht zu unterschätzende Rolle: Nach dem Tod von John Carmel Heenan, des höchsten Prälaten der Catholic Church in England and Wales, ernannte Paul VI. am 9. Februar 1976 den Benediktinermönch Basil Hume (1923 bis 1999) zu dessen Nachfolger. Im Vergleich mit Heenan galt Hume als ein deutlich moderaterer Charakter. Insbesondere Bernard Pawley hatte John Heenan zuvor wiederholt massiv kritisiert, diesem sogar vorgeworfen, alle Protestanten zu Konvertiten machen zu wollen und ihm einen bisweilen diametralen Gegensatz zu den ökumenischen Absichten des Papstes unterstellt.100 Wenngleich Pawleys Verhältnis zu Heenan auch von persönlichen Ressentiments geprägt war und dementsprechend mit Vorsicht zu bewerten ist, war Hume allgemein dafür bekannt, dass eine Verbesserung der ökumenischen Beziehungen zu seinen höchsten Prioritäten zählte.101 Auf anglikanischer Seite erscheint bemerkenswert, dass nicht nur der charismatische Anglokatholik Michael Ramsey eine ökumenische Annäherung an die römisch-katholische Kirche anstrebte, sondern auch dessen Nachfolger Donald Coggan (1909 bis 2000), der von 1974 bis 1980 amtierte und den wiederum eine Freundschaft mit Basil Hume verband.102 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger stand Coggan aber nicht der „High Church“ nahe, sondern galt als ein moderner Evangelikaler.103 Bereits als Erzbischof von York hatte er sich seit den frühen 1960erJahren für die Ordination von Frauen ausgesprochen. Gleichwohl führte er nicht nur die ökumenischen Bemühungen von Michael Ramsey fort, sondern knüpfte überdies an die alte anglikanische Diskussion an, unter welchen Bedingungen der Papst als eine Art „universeller Pastor“ akzeptiert werden könne. Allein über diese Überlegung beklagten sich wiederum einige anglikanische Gläubige bitterlich in Protestbriefen, welche die von Coggan anvisierte Einheit in legitimer Diversität offenbar missverstanden und das baldige Ende ihrer Kirche befürchteten: My Lord Archbishop, As an Anglican and a practising christian, I am deeply dismayed to read in the ‚Authority in the Church‘ report, that the Anglican Communion would be ready to recognise the universal primacy of the Pope. […] If the recommendations
100 Vgl. etwa Bernard Pawley: 89TH GENERAL CONGREGATION, MONDAY 28TH SEPTEMBER, Report No. 136, 01.10.1964, in: Chandler/Hansen (Hg.): Vatican II 2013, S. 331; ders.: HEENAN’S SPEECH, Report No. 84, 04.10.1963, in: Ebenda, S. 215. 101 Vgl. Clifford Longley: Benedictine Abbot Takes Over at Westminster, in: The Times, Issue 59631, Wednesday, 18.02.1976, S. 1. 102 Zu Michael Ramseys „quest for unity“: Welsby: History 1984, S. 108 f. 103 Vgl. Picton: History 2015, S. 130.
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Tatsächlich ging es dem Erzbischof von Canterbury aber keineswegs um eine einseitige Unterwerfung der Church of England unter den päpstlichen Primat. Donald Coggan wandte sich vielmehr gegen jedwede Vorstellungen vom Pontifex als die einzige, vollständige und durch göttliches Recht gegebene Autorität der Christenheit. Im April 1977 knüpfte der Erzbischof von Canterbury in der „Ewigen Stadt“ an die Begegnung zwischen Paul VI. und Michael Ramsey an, wobei er sogar persönlich beim Pontifex um die uneingeschränkte Zulassung von Anglikanern zur Kommunion in katholischen Messen und von Katholiken in anglikanischen Gottesdiensten ersuchte.105 Allerdings blieben diese Bemühungen erfolglos, wenngleich die Interkommunion nicht selten bereits auf Gemeindeebene gelebt wurde. Der Papst versicherte aber in einer Ansprache an seinen Gast noch einmal, dass von allen durch die protestantische „Reformation“ getrennten Kirchen die Church of England der römisch-katholischen Kirche am nächsten stehe und ihr somit unter den reformierten Glaubensgemeinschaften stets ein „sehr besonderer Platz“ zukomme.106 5. Projektionen
Der Papst verstarb am 6. August 1978 um 21:40 Uhr, während des Festes der Verklärung des Herrn, das mehrere Glaubensgemeinschaften feierten. In diesem Zufall erkannten einige Presseorgane ein Zeichen, da sich Paul VI. stets für die Ökumene eingesetzt habe. Der Historiker René Schlott konstatiert in Italien insgesamt eine vergleichsweise geringe öffentliche Anteilnahme an seinem Tod. Dieser fiel in den italienischen Ferienmonat „Ferragosto“, was zumindest teilweise die über-
104 M. E. Mace: Letter to Donald Coggan, 5 February 1977, in: LPL, Coggan Papers, Vol. 58, 1977, Bl. 117. 105 Vgl. The Archbishop and the Pope, in: The Times, Issue 59993, Tuesday, 03.05.1977, S. 15. Zum Besuch allgemein vgl. auch Dr Coggan’s Visit to Rome, in: The Times, Issue 59988, Wednesday, 27.04.1977, S. 17. 106 Vgl. Paul VI. und Erzbischof Coggan für Einheit der Christen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.04.1977, Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin [ELAB], 55.1/448. Papst Paul VI.
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Abb. 3: Justin Welby überreicht Franziskus ein Pektorale, 5. Oktober 2016.
schaubare Menschenansammlung auf dem Petersplatz erklären mag. In Großbritannien sendete hingegen BBC 2 live das Requiem für den „anglophilen“ Papst.107 Als Johannes Paul II. im Jahre 1982 Canterbury besuchte und gemeinsam mit dem nunmehr amtierenden Erzbischof Robert Runcie (1921 bis 2000) an einem ökumenischen Gottesdienst teilnahm, erntete er in gewisser Weise die Früchte der jahrelangen Arbeit seines Vorgängers.108 Ganz anders agierte hingegen Benedikt XVI.: Mit der apostolischen Konstitution „Anglicanorum coetibus“ unterbreitete er jenen traditionalistischen Anglikanern, die insbesondere Anstoß an der Ordination von Priesterinnen in ihrer Kirche nahmen, am 4. November 2009 das spalterische Angebot, über die Errichtung sogenannter Personalordinariate in die volle Gemeinschaft mit der römischkatholischen Kirche ein- beziehungsweise überzutreten. Nach dem Rücktritt des ersten deutschen Papstes seit Hadrian VI. (1459 bis 1523) knüpfte Franziskus in den Beziehungen zu Canterbury aber wieder an die Linie des Montini-Pontifikats an: Im Gedenken an die eindrucksvolle und massenmedial verbreitete Begegnung 107 Vgl. Schlott: Papsttod 2013, S. 157, 172 f., 205. 108 Vgl. Picton: History 2015, S. 126, 188.
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zwischen Michael Ramsey und Paul VI. vor etwas mehr als 50 Jahren, wiederholten Franziskus und der derzeitige (evangelikale) Erzbischof von Canterbury, Justin Welby (geb. 1956), im Oktober 2016 die kraftvolle Geste dieser Begegnung. Bei genauem Hinsehen ist auf dem hier abgebildeten Foto der einstige Bischofsring von Paul VI. an der rechten Hand des Erzbischofs zu erkennen.109 Überdies besuchte Franziskus am 26. Februar 2017 einen „Choral Evensong“ (eine Art anglikanisches Pendant zum katholischen Vespergottesdienst) in der All Saints’ Anglican Church im Zentrum Roms. Im Gegenzug fand am 13. März 2017 im Petersdom, dem Herzen der römisch-katholischen Kirche, erstmals in der Geschichte sogar ein Chorgebet nach anglikanischem Ritus statt.110 Zusammengefasst brachen sich gesellschaftspolitisch wie innerkirchlich relevante Themen der Zeit an und durch Paul VI. Selbst oder aber gerade eben in den turbulenten 1960er- und 1970er-Jahren verkörperte dieser italienische Papst für viele gläubige Anglikaner auf mehreren, bisweilen miteinander verwobenen Ebenen ein Politikum. Aufgrund der ihm zugeschriebenen Autorität und seiner besonderen Beziehung zur Church of England wie zur britischen Gesellschaft insgesamt geriet Paul VI. in den Krisen- und Umbruchsdekaden zu einem Prisma der (teil-)öffentlichen Meinungen. Als Referenzpunkt massenmedial verstärkter Kommunikationsprozesse rief der bisweilen als geradezu „anglophil“ wahrgenommene Pontifex einen spannungsgeladenen Mix aus Vertrauen und Misstrauen, Zustimmung und Ablehnung, Orientierung und Irritation hervor. Die damit verbundenen Aushandlungsprozesse und Projektionen reflektierten nicht nur individuelle und konfessionelle, sondern vor allem gesellschaftliche und politische „Identitäten“. Sie dienten der Herausbildung, Abgrenzung und Selbstvergewisserung teilgesellschaftlicher „imagined communities“ (Benedict Anderson)111 oder gar der Konstruktion nationaler Kultur- und Wertegemeinschaften: Die Auseinandersetzungen mit und über diesen Papst gaben nicht wenigen Anglikanern gewissermaßen Halt und Orientierung in einer ebenso dynamischen wie krisenbehafteten 109 Vgl. David Moxon: Division and Hope, 26.10.2016, Online-Ansicht: http://www.anglicancentreinrome.org/Groups/108980/Anglican_Centre_in/News/News.aspx, letzter Zugriff: 20.02.2017. 110 Vgl. Grund zum Feiern, 08.02.2017, Online-Ansicht: https://www.domradio.de/ themen/%C3%B6kumene/2017-02-08/erstmals-anglikanisches-gebet-im-petersdom, letzter Zugriff: 24.02.2017; Der Papst bei den Anglikanern, 26.02.2017, Online-Ansicht: https:// www.domradio.de/themen/papst-franziskus/2017-02-26/franziskus-besucht-all-saints-kirche-im-zentrum-roms, letzter Zugriff: 28.02.2017. 111 Siehe: Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London 1983.
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Zeit gesellschaftlicher Transformation. Manch ein Anglikaner grenzte sich aber auch von Paul VI. als Gegenbild ab, um sich über dieses „Andere“ seiner erschütterten „Britishness“ zu versichern. Denn nicht nur das „British Empire“ war längst untergegangen und Dekolonisationsprozesse schritten immer weiter voran, auch die traditionell als genuin protestantisch empfundene „Britishness“ diffundierte in einer zunehmend multiethnischen und multireligiösen, von einer Wirtschaftskrise wie von nationalen und globalen politischen Konflikten tangierten Gesellschaft. Wiederum andere britische Anglikaner betrachteten den Pontifex hingegen als eine ihnen zugewandte, den ökumenischen Dialog stützende und möglicherweise sogar überkonfessionelle (christliche) Petitionsinstanz der Menschlichkeit – insbesondere im Zusammenhang mit dem brutalen Nordirlandkonflikt. Und selbst die nicht nur im Vereinigten Königreich verbreitete Kritik an der sogenannten Ehe-Enzyklika („Humanae vitae“) teilten keineswegs alle Anglikaner: Manch einer befürwortete vielmehr die Bemühungen des Papstes, althergebrachte „moralische Standards“ zu verteidigen und inzwischen als konservativ geltende Werte in einer zunehmend permissiv erscheinenden Gesellschaft der „swinging sixties“ und „early seventies“ zu bewahren. Wie weit diese Projektionen und die damit verbundenen Selbstvergewisserungen jeweils gingen, muss die weitere Forschung zeigen. Noch heute bestehen nach wie vor fundamentale dogmatische Differenzen zwischen der Church of England und der römisch-katholischen Kirche hinsichtlich so zentraler Fragen wie Abtreibung, Geburtenkontrolle oder der Weihe von Priesterinnen beziehungsweise Bischöfinnen, die tief bis in die britische Gesellschaft hineinreichen. Die Zukunft wird zeigen, ob es jemals ein „reformiertes“ Pontifikat geben wird, das den anglikanischen Hoffnungen auf eine Einheit mit Rom in legitimer Diversität entspricht. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Mariano Barbato
Pilgerfahrten in die Ökumene: Papstreisen als Bühnen der interkonfessionellen Begegnung
1. Das Ende ist der Anfang
Begegnungen der Päpste im 20. und 21. Jahrhundert profitierten und profitieren vom modernen Reisepapsttum, das Paul VI. 1964 mit seiner bereits ökumenisch ausgerichteten Pilgerreise ins Heilige Land erfand und popularisieren konnte.1 Johannes Paul II. perfektionierte mit 104 Reisen in 127 Länder (Italien und die italienischen Reisen nicht mitgerechnet) das Reisepapsttum und seine mediale Inszenierung als Instrument päpstlicher Politik in Zeiten der Globalisierung und setzte dabei so starke ökumenische Akzente, dass er sich überkonfessionell „als christliche Leitfigur behauptete“.2 Nachdem Benedikt XVI. nicht nur als schreibender Theologe, sondern, trotz medialen Gegenwinds, auch als reisender Pontifex ökumenische Brücken geschlagen hatte, trat er laut seines Privatsekretärs Georg Gänswein deswegen zurück, weil er den Strapazen des Reisepapsttums gesundheitlich nicht mehr gewachsen war und die indirekte mediale Präsenz nicht als Ersatz für die persönliche Begegnung vor Ort akzeptieren wollte.3 Franziskus, selbst des Reisens erklärtermaßen unlustig, verbringt seinen Sommerurlaub nicht mehr auf der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo und auch nicht in den Bergen, sondern bleibt im Vatikan. Die Notwendigkeit der persönlichen Begegnung, die er zu einem Markenzeichen seines Pontifikats gemacht hat, nötigt aber auch ihn, in 1 2
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Jörg, Ernesti: Paul VI. Die Biographie, Freiburg im Breisgau 2015, S. 101–113. Andrea Riccardi: Johannes Paul II. Die Biographie, Würzburg 2012, S. 535. Riccardi führt weiter aus: „Der Papst hatte sich durchgesetzt, unter den Massen wie auf den Bildschirmen, und konnte auch im Namen der anderen Christen sprechen, wie der anglikanische Erzbischof Carey betonte. Tatsächlich wurde Johannes Paul II. zur ersten Leitfigur des christlichen Universums.“ Peter Seewald: „Ich versuche, die beiden Realitäten zusammenzuschweißen“. Interview mit Georg Gänswein, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 09/2014, Online-Ansicht: http:// sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/41614/Ich-versuche-die-beiden-Realitaetenzusammenzuschweissen, letzter Zugriff: 29.09.2017.
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die Fußstapfen der Vorgängerpäpste zu treten, die sie rund um den Globus hinterlassen haben.4 Sein Treffen mit Protestanten zur Eröffnung des Luther-Jahres am 31. Oktober 2016 im schwedischen Lund kann als ein Höhepunkt päpstlicher Pilgerfahrten in die Ökumene gelten. Die Bedeutung des Reisepapsttums am Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich vielleicht am besten in seiner Repräsentation in den Massenmedien der Unterhaltungsindustrie einfangen. In Paolo Sorrentinos Fernsehserie „The Young Pope“ von 2016, in der ein fiktionaler Pius XIII. mit den modernen Ausprägungen des Papsttums brechen will, landet der für Papstreisen zuständige Kardinal in der alaskischen Verbannung. Reisen soll es keine mehr geben, da sich der junge Papst aus der Öffentlichkeit in die Mysterien geheimnisvoller Unsichtbarkeit zurückziehen will. Doch der Plan geht nicht auf, der Reisemarschall wird zurückgeholt und auch der revolutionäre junge Papst geht auf Reisen. Das Ende des Reisens ist nur sein neuerlicher Anfang.5 Für das historische Verständnis der Reisen im 20. und 21. Jahrhundert als ökumenische Pilgerreisen in der Begegnung mit den Protestanten liegt der Anfang ebenfalls in einem Ende – in der letzten freien Reise des Papstes Pius VI. vor den Umbrüchen der Französischen Revolution am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Diese Reise war bereits öffentlichkeitswirksam genug, um noch in die Unterhaltungsliteratur des 20. Jahrhunderts Eingang zu finden:6 Sie führte 1782 zunächst nach Wien und dann über Süddeutschland zurück nach Rom. In Österreich hatte Pius VI. am Hof Josephs II. keinen Erfolg bei den Verhandlungen über die Rücknahme der josefinischen Kirchenreform erzielt, er wurde aber von den gläubigen Massen gefeiert. Auf der Heimreise führte ihn sein Weg über München in die paritätische Reichsstadt Augsburg.7 Dort, wo Martin Luther 1518 dem päpstlichen Legaten Thomas Kardinal Cajetan nach unfruchtbarem Gespräch entweichen musste, löste der Besuch des Papstes keinen Proteststurm aus, obwohl immerhin der Würdenträger kam, in dessen Vorgänger Luther noch den Antichrist gesehen hatte. Der religiöse Streit trat zurück hinter die Begegnung mit dem Staatsmann und der öffentlichen Gestalt, die man anachronistisch als „celebrity“ bezeichnen könnte. In der letzten Reise des 18. Jahrhunderts lassen sich 4 5 6 7
Pasquale Ferrara: Il mondo di Francesco. Bergoglio e la politica internationale, Cinisello Balsamo (Milano) 2016. Paolo Sorrentino: The Young Pope, Oktober-November 2016. Peter Dörfler: Die Papstfahrt durch Schwaben, Kempten 1979 (zuerst 1923). Volker Reinhardt: Pontifex. Die Geschichte der Päpste. Von Petrus bis Franziskus, München 2017, S. 727–729.
Pilgerfahrten in die Ökumene: Papstreisen als Bühnen der interkonfessionellen Begegnung |
so schon die Parameter der Begegnungen des 20. und 21. Jahrhunderts ablesen. Auch die Ökumene profitierte vom niederschwelligen Begegnungsangebot, das das Papsttum in seinen Reisen vorlegte. Was 1782 in Augsburg eher ad hoc arrangiert werden musste, erhob Paul VI. bei seiner Pilgerreise 1964 ins Heilige Land zum programmatischen Entwurf. Ein erster Teil dieses Aufsatzes analysiert diese Grundstruktur päpstlicher Pilgerreisen in ökumenischer Hinsicht am Beispiel von Augsburg 1782 und Bethlehem 1964. Papstreisen ersetzen nicht die theologischen Mühen der Ebene im ökumenischen Gespräch und können hierfür auch keine Durchbrüche wie die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung von 1999 liefern, der im Juli 2017 auch die Weltgemeinschaft reformierter Kirchen zustimmte.8 Aber sie ermöglichen Höhepunkte des Brückenbauens in der niederschwelligen Begegnung im fruchtbaren Spannungsfeld von Politik, Öffentlichkeit und Religion. Ein zweiter Teil wirft mit Blick auf die vier Pontifikate des modernen Reisepapsttums – Johannes Paul I. unternahm in seinem kurzen Pontifikat keine Auslandsreise – Schlaglichter auf unterschiedliche Bühnen päpstlicher Begegnung mit dem Protestantismus, zu dem hier im weiteren Sinne auch die anglikanische Kirche gezählt wird. Herausgearbeitet werden soll, in welchen Konstellationen die Ökumene gefestigt wird beziehungsweise schon gefestigt genug ist, um eigene Beiträge für die verstärkenden Effekte des Reisepapsttums zwischen Religion, Politik und Öffentlichkeit zu liefern. 2. Reisen als Begegnung und Massenmobilisierung
Über die Konfessionsgrenze hinaus und in den öffentlichen Raum hinein wird dem Papsttum selbst in der Politikwissenschaft „Soft Power“ zugetraut.9 Die sanfte Macht der Päpste arbeitet mit dem überkommenen Status des Heiligen Stuhls als
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Die am Reformationstag 1999 zwischen der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund in Augsburg unterzeichnete Erklärung, der vor der Weltgemeinschaft reformierter Kirchen auch der Weltrat methodistischer Kirchen zugestimmt hatte, legte ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigungslehre fest – die „sola gratia“, welche im Zentrum der theologischen Kontroverse um die Reformation gestanden hatte. Andreas Sommeregger: Soft Power und Religion. Der Heilige Stuhl in den internationalen Beziehungen. Wiesbaden 2012; Jodok Troy: Die Soft Power des Heiligen Stuhls. Unsichtbare Legionen zwischen internationaler Gesellschaft und Weltgesellschaft, in: Zeitschrift für Außen-und Sicherheitspolitik, 3. Jg., Heft 4, 2010, S. 489–511.
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Völkerrechtsubjekt.10 Entscheidend für den legalen Erhalt der Völkerrechtsubjektivität war die politische Fähigkeit des modernen Papsttums, seine Legitimität der monarchischen Absicherung auf eine breite Massenbasis zu stellen. Populäre Massenbasis und diplomatische Elitenzugehörigkeit gaben einander gegenseitig Auftrieb und retteten das Papsttum durch die Krise des 19. Jahrhunderts hindurch nicht nur ins 20. Jahrhundert hinüber, sondern erlaubten auch seinen im 21. Jahrhundert global fortgesetzten Aufstieg.11 Dieser Aufstieg gelang zunächst über die katholische Massenmobilisierung, in der die europäischen und amerikanischen Katholiken als Pilger nach Rom zogen. Die Differenzierung des Pilgerbetriebs aus der Sphäre von Gesellschaft und Politik erreichte bereits in Privataudienzen im Pontifikat von Pius XII. eine so breite ökumenische Dimension, dass 1958 sowohl eine Delegation des isländischen Parlaments wie die Basketballmannschaft der Harlem Globetrotters in Audienzen empfangen wurden. John Pollard zieht daraus den Schluss, dass Pius XII. gegen Ende seines Pontifikats zu den populärsten Berühmtheiten seiner Zeit zählte.12 Als Paul VI. die Möglichkeiten der Begegnung dadurch ausbaute, dass er selbst zum Pilger wurde, gehörte die ökumenische Dimension bereits so selbstverständlich zur öffentlichen Rolle des Papstamtes, dass die überraschend angekündigte Pilgerfahrt ins Heilige Land auch als Pilgerreise in die Ökumene und insbesondere als Versöhnungsgeste mit der Orthodoxie angelegt wurde. Sobald der Papst sich außerhalb des Vatikans oder Roms bewegte, vermehrten sich die Möglichkeiten, auf Nicht-Katholiken zu treffen. Was als Risiko hätte eingestuft werden können, wurde als Chance wahrgenommen und als solche genutzt. Programmatisch legte Paul VI. in einer Ansprache bei seiner Heiliglandreise in Bethlehem die Ebenen der Reisetätigkeit des Pontifex fest, die bis heute als Blaupause der Papstreise angesehen werden können und auch die ökumenische Dimension beinhalten. Die reflektierte Programmatik arbeitet mit der gleichen Grundkonstellation, die für einen reisenden Papst in pluraler Gesellschaft bereits im 18. Jahrhundert galt und deren Chancen eher zufällig auf der süddeutschen Heimreise von Pius VI. zutage traten. Diese Grundbedingung illustriert ein genauerer Blick auf die beiden Reisen von 1782 und 1964. 10 Robert John Araujo: The International Personality and Sovereignty of the Holy See. Catholic University Law Review, 50. Jg., Heft 2, 2001, S. 291–360; Friedrich Germelmann: Heiliger Stuhl und Vatikanstaat in der internationalen Gemeinschaft. Völkerrechtliche Praxis und interne Beziehungen, in: Archiv des Völkerrechts, 47. Jg., Heft 2, 2009, S. 147–186. 11 Mariano Barbato: Legionen des Papstes. Pilgermobilisierung als Machtgrundlage des Heiligen Stuhls in der Moderne, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 26. Jg., Heft 4, 2016, S. 375–396. 12 John Pollard: The Papacy in the Age of Totalitarianism 1914-1958, Oxford 2014, S. 441 f.
Pilgerfahrten in die Ökumene: Papstreisen als Bühnen der interkonfessionellen Begegnung |
2.1. Der Zwischenstopp in Augsburg
1782 brach Pius VI. zu seiner Reise nach Wien auf, um seinen Einspruch gegen die josefinischen Kirchenreformen dem Kaiser direkt vorzutragen. Statt wirkungslos mit einem Bann gegen einen eigenmächtigen Sohn der Kirche zu drohen, hob der Papst das kirchenpolitische Anliegen auf die Ebene der Diplomatie und wurde dementsprechend auch mit allen Ehren eines Staatsgasts, als Souverän des Kirchenstaats, von Kaiser Josef II. empfangen. Die diplomatischen Zugeständnisse blieben jedoch gering. Volker Reinhard nimmt an, dass Papst und Kurie auch gar nicht mit einem Erfolg ihrer diplomatischen Bemühungen rechneten. Die päpstliche Absicht zielte vielmehr auf die Ebene der „public diplomacy“. Die internationale Ebene der Diplomatie war ein Vehikel, um auf die Bühne der Öffentlichkeit zu gelangen: Mit seiner spektakulären Reise ins Herz der aufgeklärten Finsternis wollte der vicarius Christi der Welt ein Zeichen zur Umkehr gegeben und, falls dieses ungehört verhallte, zumindest feierlichen Einspruch gegen die Verwirrung aller Werte einlegen. Darüber hinaus wollte er den Mächtigen vor Augen führen, dass ihre Untertanen im Gegensatz zu ihnen dem wahren Glauben und der gottgewollten Ordnung treu geblieben waren.13
Diese von langer Hand geplante Inszenierung gelang über die Maßen gut. Pius VI. spielte seine Rolle als „apostolischer Pilger“ – eine Bezeichnung, die aus volkstümlichen Papstweissagungen geschöpft war – perfekt, und das Volk tat, was man von ihm erwartete: Überall wo der Papst durchzog, knieten die kleinen Leute ergriffen nieder und baten um den Segen des Petrus-Nachfolgers, den dieser gerne spendete.14 Die Inszenierung von 1782 ließ sich zunächst nicht zu einem schlagkräftigen Instrument ausbauen. Die Französische Revolution nahm den Kirchenstaat ein und zwang den gefangenen Papst über Siena, Florenz und Turin immer weiter nach Norden, wo er schließlich in Valence im August 1799 verstarb. Doch der Nachhall eines triumphal reisenden Papstes durch eine plurale und konfliktreiche Welt blieb auch unter prekären Umständen erhalten. Der Leichnam Pius VI. wurde von seinem Nachfolger im Triumphzug nach Rom zurückgeholt. Pius VII. musste zur Kaiserkrönung nach Paris, um dort eine Statistenrolle bei der Selbstkrönung 13 Reinhardt: Pontifex 2017, S. 728. 14 Ebenda.
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Napoleons einzunehmen, nutzte die Reisestrecke aber wie sein Vorgänger auf dem Heimweg aus Wien, um die Huldigungen der Bevölkerung der durchreisten Landstriche entgegen zu nehmen. Schließlich blieb auch ihm, wie seinem Vorgänger Pius VI, die Gefangenschaft nicht erspart, die er duldend, aber unbeugsam durchhielt, bis er als regierender Souverän des Kirchenstaats nach Rom zurückkehren konnte.15 Die moderne Reisetätigkeit der Päpste ab der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte auf die Erfahrungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Die Begegnung auf der Heimreise aus Wien mit den Protestanten in Augsburg blieb so zwar zunächst Episode. Der Augsburger Zwischenstopp enthielt jedoch bereits das Grundgerüst, auf dem die Bühne für geplante und tiefergehende Begegnungen im Reisepapsttum der Moderne aufgebaut werden konnten: das Zusammenspiel der Ebenen von Politik, Öffentlichkeit und Religion. Diese Reise verdient deswegen als Blaupause des modernen Reisepapsttums und seines Pilgerwegs in die Ökumene eine eingehende Analyse. Besonders aufschlussreich scheint die mediale Rezeption, in der ebenfalls Grundmuster für die spätere mediale Inszenierung durchscheinen. Die Heimreise aus Wien verband Pius VI. mit einem Staatsbesuch in München, um dann durch die schwäbischen Territorien, die 20 Jahre vor dem Reichsdeputationshauptschluss noch ihre Unabhängigkeit von Bayern genossen, Richtung Alpen zu ziehen. Bereits in München war der Papst auch eine ökumenische Attraktion. Die spitze Feder von Ferdinand Gaum, eines zeitgenössischen protestantischen Professors und Publizisten, überliefert einen Brief aus München, der den konfessionsunabhängigen Enthusiasmus schildert: Bey dem Aufenthalte des H. Vaters dahier wurde jedermann, auch der geringste Bauer, zum Handkusse gelassen. Der Papst hält die rechte Hand in die Höhe, so daß er einem das Inwendige der Hand, mit aufgehobnen Fingern darbiethet, und diese innwendige Hand küsset man. Gemeiniglich ergreift er mit der Linken die Hand des Knieenden und drükt sie. Diese Handlung hat so etwas rührendes daß man sie selbst gethan haben muß, um alles zu fühlen. Die Person, das Ansehen, die ganze Miene, alle Züge des Pabstes wirken, daß eine bey Annäherung ein heiliger Schauer überfällt; man zittert aus Ehrfurcht, und ist dem Fürsten so herzlich gut, der mit so einem Himmel voll Leutseeligkeit, Menschenliebe und Gutgönnen, auf einen herabblikt. Was ich gefühlt habe, das haben alle, Junge und Alte, ohne Ausnahme, gefühlt, oder geben wenigstens vor, es gefühlt zu haben. Was aber über allen Glauben geht, ist, daß die 15 Ebenda, S. 738–753.
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Gemahlin des Englischen Gesandten, Madame Trevor, öffentlich in der H. Peterskirche, sich mit Gewalt durch den Haufen gedrängt hat, und mit den wahren Eifer der ersten Christen, niedergeknieet ist, den Pabst die Hand zu küssen, eine Thräne war in ihrem Auge, als sie sich umdrehte, diese Dame ruhete nicht, bis alle ihre Bediente ihrem Beispiel gefolgt waren. Ihr Gemahl der Herr von Trevor, soll gesagt haben, als Minister konnte ich die Hand des Pabsts nicht küssen, allein als Privatmann, habe ich es mit einer im Herzen gefühlten Ehrfurcht gethan. Was ich vom Englischen Gesandten gesagt, ist über 40 Reformierten und Lutherischen Officiers begegnet.16
Die Publikation solch authentischer oder journalistischen Kunstgriffen geschuldeter Briefe stellt einen wichtigen Teil der publikumswirksamen Reisepolitik dar. Durch die mediale Berichterstattung erleben nicht nur diejenigen die Begegnung, die tatsächlich dabei waren, sondern das mediale Massenpublikum lässt sich potentiell ebenfalls in den Bann des niederschwelligen Angebots des Pontifex schlagen, einen Handkuss zu erwägen und Teil des Erlebnisses „Papst“ werden zu wollen. Beim Halt in Augsburg stellte sich anders als in den katholischen Monarchien die Frage, wie sich die gemischtkonfessionelle Stadt mit ihrer paritätischen Verfassung gegenüber dem Papst zu verhalten habe. Gaum räsoniert, dass es „allerdings viele Schwierigkeiten verursachen konnte, um über die Frage einig zu werden, wie soll man den reisenden Papst empfangen?“17 Die vordem für Päpste und Monarchen gebräuchliche Variante, inkognito zu reisen, wurde als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Als Lösung präsentiert die Quelle die Akzeptanz des Papstes als weltlichen Fürsten: Zum Glük ist der Papst sowohl das Oberhaupt der katholischen Kirche, als ein Weltlicher Fürst, der ansehnliche Staaten besitzt. Dis gab die beste Auskunft. Als katholischer Theils angefragt wurde, auf was für eine Art der Empfang veranstaltet werden sollte, so gab man Lutherischen Teils zur Antwort: Den von den Protestanten angenommenen Grundsätzen zufolge, könne man ihn als Oberhaupt der Kirche nicht verehren, aber als einen weltlichen gekrönten Souverain, würde man sich alle Veranstaltungen katholischen Theils gefallen lassen. Dahero entstand die Paradierung der Bürger Kompagnien, die Abfeuerung der Kanonen, die Ueberreichung der gewöhn-
16 Ferdinand Gaum, Die Heim-Reise des Pabsts Pius VI. von Wien nach Rom: Mit einigen Anmerkungen und Beobachtungen, o.O. 1782, S. 53 f. 17 Ebenda, S. 51.
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| Mariano Barbato lichen Reichsstädtischen Ehrengeschenke, welches alles ohne Einverständnis beeder Theile nicht hätte bewerkstelliget werden können.18
Doch der paritätische Stadtrat ging eigentlich viel weiter als den Papst lediglich als Territorialherrn und Staatsmann anzuerkennen. „Nach altem Zeremoniell das man bisher nur dem Kaiser gegenüber gebrauchte, überbrachten sie dem Papst die Ehrengeschenke der Stadt, Wein, Fische und Hafer […].“19 Die Protestanten verhielten sich bei der Huldigung wie Katholiken und der aufgeklärte Kaiser zu Wien war entsetzt.20 Gaum schließt seinen Absatz mit einer rhetorischen Frage zur Innenperspektive des Papstes, die nicht ohne rhetorische Spitze die besondere Situation zwischen protestantischer Reformation und josefinischer Reform bemüht: Was Pius VI. in der Stadt muß gedacht haben, wo wegen der allzuhochgestiegenen Mißbräuche, die Trennung so vieler Staaten von dem Römischen Stuhle, zum ersten male öffentlich den Anfang nahm, und das auf einer Reise, zu welcher dem ehrwürdigen Greise, einer abermal bevorstehende Reformation, der von neuem wieder so hoch getriebenen Mißbräuche, Anlas gegeben hatte.21
Um dem Papst eine Wirkung auf offener Bühne der pluralen Öffentlichkeit zu erlauben, darf er keine entrückte Repräsentationsfigur sein, um deren Rolle sich ja der Streit dreht, sondern er muss als Mensch wahrgenommen werden, der sich von den ungeheuerlichen geschichtlichen Zusammenhängen den gleichen leisen Schauer über den Rücken jagen lässt, wie ihn der Besucher der Begegnung oder der Leser des Berichts erfährt. Erst wenn er als Mensch zur Identifikation herabgeholt wurde, kann er wieder als öffentliches Kultobjekt entrückt werden, das dann aber die konfessionelle Akzeptanzschranke nicht mehr spürt, weil er zur populären Figur, zur „celebrity“, avancierte. Der mediale Mechanismus, der zur Wirkung von Papstreisen damals wie heute unerlässlich ist, lässt sich hier bereits erkennen. Tatsächlich lud der Papst die Protestanten der Stadt vom Balkon des bischöflichen Palais, von dem aus die Confessio Augustana verkündet wurde, zur Rückkehr in die katholische Kirche ein und die polizeiliche Vorsorge hinsichtlich protestantischer Unruhen erweist sich in Anbetracht des allseitigen Jubels als gänzlich unbe18 Ebenda, S. 51 f. 19 Elisabeth Kovács: Der Papst in Teutschland. Die Reise Pius VI. im Jahre 1782, Wien 1983, S. 122. 20 Ebenda, 122 f. 21 Gaum: Heim-Reise, 1782, S. 52.
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gründet. Nur eine überzogen papalistische Huldigung des lutherischen Stadtbibliothekars hinterließ ein Rauschen im medialen Blätterwald.22 Peter Dörfler veröffentlichte in den 1920er-Jahren eine fiktional ausgeschmückte Erzählung der Fahrt des Papstes durchs Schwabenland, die noch bis Ende der 1970er weitere Auflagen erfuhr und diese Stimmung aufgreift und tradiert.23 Das ökumenische Thema als Teil des öffentlichen Interesses an einem „Star“ blieb auch hier präsent: Die evangelischen Mitbürger hätten sich nicht in ihren Häusern gehalten, und wenn ihnen gepredigt worden wäre, der Papst sei der Antichrist und hinke an einem Pferdefuß. Was einzelne auch, Illuminaten, Aufklärer, Reformierte, Lutheraner, Juden, gegen die Päpste auf der Seele hatten, d i e s e r Papst war auf alle Fälle ein guter Mann, ein bezaubernd liebenswürdiger Fürst, ein Vater der Armen, ein Mann der Wissenschaft, und trug den Adel einer großen Seele auf der Stirn. Und so umschwärmten sie ihn alle wie die Biene den Weichsel, und wo er sich zeigte, da schwirrte es, zog mit ihm, und hätten die Menschen Flügel gehabt, eine goldene Traube, größer als alle Türme der Stadt, wäre mit ihm geflogen von Stätte zu Stätte.24
2.2. Der Neubeginn in Jerusalem
Die ineinanderfließenden Ebenen von Kirche, Politik und Öffentlichkeit wurden bei der ersten Auslandsreise des 20. Jahrhunderts, die das moderne, internationale Reisepapsttum begründete, von Paul VI. programmatisch vorgetragen und in komplexen Kontexten umgesetzt. Paul VI. unternahm 1964 die erste Auslandsreise mehr als 100 Jahre nach der Rückkehr Pius VII. aus französischer Gefangenschaft und die erste Reise der Nachfolger Petri ins Heilige Land überhaupt. Die Pilgerreise stand zuerst im Kontext des nach Papsttod und Papstwahl wiederaufgenommen Zweiten Vatikanischen Konzils und sollte die Erneuerung der Kirche auf Christus hin in den Mittelpunkt stellen.25 Paul VI. stand damit ganz in der katholischen Tradition der Bittwallfahrt, mit der schon Johannes XXIII. das Konzil durch eine Wallfahrt nach Assisi und Loreto – die erste Reise eines Papstes außerhalb der stadtrömischen Grenzen seit dem Ende des Kirchenstaats – eröffnet hatte. Neu war 22 23 24 25
Kovács: Papst in Teutschland 1983, S. 123 f. Dörfler: Papstfahrt 1979 (zuerst 1923). Ebenda, S. 225. Ernesti, Paul VI. 2015, S. 101.
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jedoch der zentrale ökumenische Akzent, der die Reise prägen und Anstöße für die ökumenische Arbeit als Schwerpunkt der zweiten Sitzungsperiode des Konzils geben sollte. Im Mittelpunkt stand dabei nicht die Begegnung mit den Protestanten, sondern mit der Orthodoxie. Als Höhepunkt der Reise trafen sich der Bischof von Rom und der Bischof von Konstantinopel als Pilger in Jerusalem. Dieses erste Zusammentreffen der Repräsentanten der seit 1054 in Ost und West getrennten Christenheit gab auch starke Impulse für das ökumenische Klima insgesamt.26 Die Begegnung der Konfessionen bekam darüber hinaus auch eine interreligiöse Dimension, da das Heilige Land und die Stadt Jerusalem unter israelischer und jordanischer Souveränität standen und das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum und zum Islam noch nicht durch das Konzilsdokument „Nostra Aetate“ auf eine neue Stufe gestellt worden war, sondern sich diese Entwicklung erst anbahnte. Zudem hatte der Heilige Stuhl den Staat Israel bei seiner Gründung nicht nur nicht anerkannt, sondern auch unter verantwortlicher Mitarbeit Montinis – des späteren Paul VI. – den freien Zugang zu den Heiligen Städten, das Rückkehrrecht der auch christlichen, zum Teil mit Rom unierten palästinensischen Flüchtlinge und die Internationalisierung Jerusalems gefordert. Auch die politische Ebene war eine dementsprechend schwierige Bühne für den Pontifex, da sich Paul VI. weder von der einen noch von der anderen Seite des Nahostkonflikts vereinnahmen lassen konnte. Der Montini-Papst traf mit den Repräsentanten beider Staaten zusammen, bemühte sich aber beim Betreten der diplomatischen Bühne internationaler Politik, die religiöse Dimension der Pilgerreise herauszustreichen.27 Thomas Brechenmacher nennt dies das „programmatische Konstrukt“ der Reise.28 Die programmatische Konstruktion aus religiöser Pilgerreise, internationalen Beziehungen und Begegnung im öffentlichen Raum ist nicht nur der besonderen Situation im Heiligen Land geschuldet, sondern baut die Grundstruktur des apostolischen Pilgers aus, mit der bereits Pius VI. auf seiner Wienreise gearbeitet hatte. Sie wird wegweisend für alle Papstreisen und spannt damit auch den Raum auf, in dem ökumenische Begegnungen zwischen persönlichem Treffen und medialem Massenerlebnis möglich werden. Diese programmatische Konstruktion lässt sich am besten in der Ansprache Pauls VI. in Bethlehem erkennen. Dort unterscheidet Paul VI. nicht Religion, Öffentlichkeit und Politik, sondern akzentuiert die Differenzierung stärker von der religiösen Dimension her. Er benennt drei Ziele 26 Ebenda, S. 101–106. 27 Ebenda, S. 106–113. 28 Thomas Brechenmacher: Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung, München 2005, S. 241.
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seiner Reise: „a’abord au Christ, puis à l’Eglise, enfin au monde.“29 In der Ausrichtung päpstlichen Reisens als Pilgerreise zu Christus hin ist nicht nur die tiefste Dimension des päpstlichen Hirtenamts angesprochen, sondern auch das Kernziel einer Ökumene der Tiefe. Sie sichert zudem den grundlegend religiösen Charakter des reisenden Papstes als apostolischer Pilger. Der Besuch der Kirche vor Ort setzt die Vorstellung der apostolischen Pilgerreise fort und zielt zunächst auf das katholische Verständnis des päpstlichen Hirtenamts für die lokalen Glieder der Weltkirche. Auf der kirchlichen Ebene erhebt sich aber auch die zentrale Bühne des ökumenischen Dialogs. Die Reise in Richtung „Welt“ lässt sich, wie ausgeführt, in den Raum der Öffentlichkeit und der Politik – spezifischer: der internationalen Diplomatie – ausdifferenzieren. Mal ist das diplomatische Parkett leichter zu betreten, wie am Beispiel der Heimreise aus Wien gesehen, und es lässt sich von dort aus ein öffentlicher Raum aufspannen, der die ökumenische Begegnung ermöglicht. Ein anderes Mal, wie bei der Reise ins Heilige Land, kann der Papst die religiöse Ebene betonen, um damit diplomatische Klippen der internationalen Politik zu umschiffen. Die sanfte Macht der Päpste liegt im gekonnten Spiel auf den verschiedenen Bühnen.30 Im gelungenen Zusammenspiel der Bühnenwechsel findet auch die ökumenische Begegnung statt. Als Frucht fünfzigjähriger päpstlicher Übung auf der Pilgerfahrt in die Ökumene konnte Papst Franziskus 2014 bei seiner Reise ins Heilige Land in der unter christlichen Konfessionen umstrittenen Grabeskirche erstmals vereint mit mehreren christlichen Konfessionen das Vaterunser beten – „ein historisches Ereignis.“31 3. Ökumene als ständiger Begleiter
Bereits auf der zweiten Auslandsreise, die Papst Paul VI. schon im Dezember 1964, der Besuch im Heiligen Land war im Januar 1964 erfolgt, über einen Zwischenstopp im Libanon zum Eucharistischen Weltkongress nach Indien führte, wurde deutlich, dass die interreligiöse und die ökumenische Dimension keine Einmalig29 Paul VI: Discourse du Pape Paul VI en la solennité de L’Ephiphanie a la Grotte de Bethléem, 6. Januar 1964, Online-Ansicht: http://w2.vatican.va/content/paul-vi/fr/speeches/1964/documents/hf_p-vi_spe_19640106_epiphanie.html, letzter Zugriff: 29.09.2017. 30 Mariano Barbato: A State, a Diplomat, and a Transnational Church: The Multi-layered Actorness of the Holy See, in: Perspectives. Review of International Affairs, 54. Jg., Heft 2, 2013, S. 27–48. 31 Jürgen Erbacher: Ein radikaler Papst. Die franziskanische Wende, München 2014, S. 218.
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keit der Pilgerreise ins Heilige Land bleiben, sondern zur Grundstruktur des Reisepapsttums gehören würden.32 Das Reisen in die Ökumene birgt aber auch Risiken. Bei seiner Reise nach Australien erfuhr Paul VI. die demonstrative Zurückweisung durch den anglikanischen Patriarchen von Sydney, der ein Treffen verweigerte.33 Die ökumenische Dimension rückte auf Reisen immer dann stärker in den Mittelpunkt, wenn das ökumenische Anliegen in der Ortskirche Gewicht hatte. Einen besonderen Stellenwert erhält die ökumenische Begegnung dann, wenn sie eigens als Ziel der Reise ausgewiesen wird. 3.1. Paul VI: Der Besuch beim Ökumenischen Rat der Kirchen im September 1969 in Genf
Anlässlich des 50. Jahrestags der Internationalen Organisation der Arbeit besuchte Paul VI. die UN-Organisation am 10. Juni 1969 an ihrem Sitz in Genf. Zuvor hatte der Montini-Papst bereits am 4. Oktober 1965 zur Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York gesprochen. Seit 1964 besaß der Heilige Stuhl einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Die diplomatische Ebene der internationalen Politik bereitete so den Boden für die Reise in die Stadt Calvins, in der auch der Ökumenische Rat der Kirchen seinen Sitz hatte. Die Beziehung des Heiligen Stuhls zum größten Verband christlicher Kirchen gestaltete sich nicht ohne Spannungen. Die Teilnahme an der konstituierenden Weltkonferenz des Rates 1948 war Katholiken von Rom untersagt worden, genauso wie die Teilnahme an den Weltkonferenzen der Vorgängerorganisationen. Erst seit knapp einer Dekade, seit 1961, bestanden über einen Beobachterstatus Beziehungen zum Ökumenischen Rat der Kirchen. Auf höchster Ebene hatte es zuvor nur 1966 die Begegnung mit dem anglikanischen Erzbischof von Canterbury in Rom gegeben.34 In der Ökumenischen Bewegung hatte das Papsttum bis dahin eher eine Gefahr für die päpstliche Vorstellung von Einheit gesehen, die sich hierarchisch um den Papst organisieren und nicht auf demokratischer Gleichrangigkeit von selbstständigen Kirchen aufbauen sollte. Diese Skepsis teilte Paul VI. Eine Mitgliedschaft verbot sich überdies bereits aus dem ganz pragmatischen Grund, da eine solche die Mehrheitsverhältnisse – bei Beibehaltung der proportionalen Gewichtung – in Richtung einer strukturellen katholischen Majorisierung verschoben hätte. 1972 entschied sich der Montini32 Ernesti: Paul VI. 2015, S. 132. 33 Eamon Duffy: Saints and Sinners: A History of the Popes, New Haven (Connecticut) 2014, S. 336. 34 Siehe dazu auch den Beitrag von Gerulf Hirt in diesem Band.
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Papst, nach Prüfung des Berichts einer dafür eigens eingesetzten Kommission, gegen die Vollmitgliedschaft. Trotz des bleibenden Dissenses und einer freundlichen Distanz war die symbolische Ebene der überkonfessionellen Gemeinschaft in den konkreten Gesten des Besuchs überdeutlich: Der Papst betrat mit ausgebreiteten Armen die Eingangshalle des Zentrums in Genf und setzte sich auf dem vorbereiteten Podium in einen gleichrangig bestuhlten Halbkreis unter die Vertreter der Reformation und der Orthodoxie. Gemeinsam wurden Schriftlesungen und Ansprachen gehört. Gemeinsam betete man das Vaterunser.35 Eine solche offiziell zelebrierte Annäherung in einem institutionellen großen Kreis hatte es seit der Reformation nicht gegeben. Trotz des offiziellen Vorrangs der Feier zur Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation, mit der der Besuchstag begonnen hatte, rückte die Begegnung mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen in der medialen Berichterstattung nach vorn. Die Symbolik eines Papstes in der Hauptstadt des Calvinismus, der sich im ökumenischen Gebet vereint, überstrahlte alles andere. In seiner Ansprache gelang Paul VI. der schwierige Spagat, die Symbolik der Gemeinsamkeit nicht mit der Betonung der katholischen Position zu stören, ohne sie dabei aufzugeben. Bereits in den einleitenden Worten wird dieser Balanceakt deutlich: Was kann der Ökumenische Rat anderes sein als eine wunderbare Bewegung der Christen, ‚der versprengten Kinder Gottes‘ (Joh.11,52), die jetzt auf der Suche nach Wiedererlangung ihrer Einheit sind. Und was kann der Sinn unseres Kommens hier auf der Schwelle Ihres Hauses anderes sein als der frohe Gehorsam gegenüber der diskreten Eingebung, die, durch Lehre und Barmherzigkeit Christi, unseren Dienst und unseren Auftrag ausmacht? Welch glückliche Begegnung, wahrhaftig, was für ein prophetischer Moment, die Morgendämmerung eines künftigen Tages und erwartet seit Jahrhunderten!36
35 Ernesti: Paul VI. 2015, S. 205–212. 36 Paul VI. Visite du Pape Paul VI au Centre du Conseil Œcumenique des Eglises, Genf 10.06.1969, eigene Übersetzung: Qu’est-ce, en effet, que ce Conseil œcuménique, sinon un merveilleux mouvement de chrétiens, de „fils de Dieu qui étaient dispersés“ (Io. 11,52) et qui sont maintenant à la recherche d’une recomposition dans l’unité? Et quel est le sens de notre venue ici, sur le seuil de votre maison, sinon celui d’une joyeuse obéissance à l’impulsion secrète qui qualifie, par précepte et miséricorde du Christ, notre ministère et notre mission? Heureuse rencontre, en vérité, moment prophétique, aurore d’un jour futur et attendu depuis des siècles! http://w2.vatican.va/content/paul-vi/fr/speeches/1969/june/documents/ hf_p-vi_spe_19690610_consiglio-ecumenico-chiese.html, letzter Zugriff: 29.09.2017.
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Nach der Freiluftmesse im Genfer Park de la Grange traf Paul VI. noch einmal in ökumenischer Begegnung mit den Vertretern der Kirchen der Stadt Genf zusammen und sprach zu ihnen ein Wort, das in der deutschen Variante des Programmablaufs mit dem „Geist des gesunden Ökumenismus“ überschrieben ist und im französischen Original als „Discours du Pape Paul VI. sur L´Oecuménisme“37 firmiert. Der Papst spannte noch einmal den Bogen zum Treffen mit dem Ökumenischen Rat, streifte die historische Dimension der Kirchentrennung in der Stadt Genf und betonte das gute Miteinander der Kirchen vor Ort in der Schweiz, das nun auch bei den kirchlichen Autoritäten bestehe. Für seinen Besuch äußerte er die Hoffnung, ein „Pilger der Versöhnung“ („le pèlerin de la réconciliation“)38 sein zu können. Das Pilgermotiv des Aufbruchs und des Unterwegsseins schien somit als Leitbild päpstlichen Reisens in die Ökumene wieder durch. 3.2. Johannes Paul II. Weltgebetstreffen in Assisi und Weltjugendtag in Denver
Johannes Paul II. setzte einen starken ökumenischen Akzent gegenüber den Kirchen der Reformation im außerordentlichen Heiligen Jahr 1983, das der Papst zum Gedenken an die Kreuzigung Christi vor 1950 Jahren als Heiliges Jahr der Erlösung ausgerufen hatte und in das auch der 500. Geburtstag Martin Luthers fiel. Zum Reformationstag 1983 schrieb Johannes Paul II. Kardinal Johannes Willebrands, dem Präsidenten des Päpstlichen Rats für die Einheit der Christen, einen Brief der Würdigung Luthers, mit Wirkung nach innen und außen. Am 11. Dezember 1983 besuchte er beim Treffen mit der evangelisch-lutherischen Gemeinde Roms als erster Papst eine lutherische Kirche.39 Im Jahr zuvor hatte er schon in der Kathedrale von Canterbury zusammen mit dem anglikanischen Erzbischof von Canterbury Robert Runcie eine ökumenische Feier abgehalten.40 Am 10. Januar 1984 nahmen die USA volle diplomatische Beziehungen zum Heiligen Stuhl auf, nachdem dies fast 100 Jahre lang durch ein Kongressgesetz verhindert worden war, gegen das sich bis dahin in den protestantisch dominierten Vereinigten Staaten von Amerika 37 Vgl. https://w2.vatican.va/content/paul-vi/de/travels/documents/ginevra.html und http:// w2.vatican.va/content/paul-vi/fr/speeches/1969/june/documents/hf_p-vi_spe_19690610_ ecumenismo.html, letzter Zugriff: 29.09.2017. 38 Paul VI.: Discourse du Pape Paul VI sur L’Œcuménisme, Genf, Dienstag 10.06.1969, Online-Ansicht: http://w2.vatican.va/content/paul-vi/fr/speeches/1969/june/documents/hf_pvi_spe_19690610_ecumenismo.html, letzter Zugriff: 29.09.2017. 39 Siehe dazu auch den Beitrag von David Schmiedel in diesem Band. 40 Siehe unten.
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keine Mehrheit gefunden hatte.41 Auf seinen 104 Reisen in 127 Ländern gab es eine Vielzahl ökumenischer Begegnungen. Das Pilgern in die Ökumene wurde bei Johannes Paul II. aber nicht nur durch einen Quantitätssprung vorangetrieben, sondern erfuhr auch eine Institutionalisierung der Reisebegegnungen. Die ökumenische Begegnung als solche hatte im päpstlichen Reisekalender jedoch kein eigenes Format gefunden. Sie wuchs aber als wichtiger Faktor in andere institutionalisierte Formate hinein. Zwei sollen hier kurz ausgeleuchtet werden: das interreligiöse Weltgebetstreffen in Assisi und der Weltjugendtag, der in Denver zum ersten Mal in einem protestantisch dominierten Umfeld erfolgreich veranstaltet wurde.
3.2.1. Das Weltgebetstreffen in Assisi Auf Initiative Johannes Paul II. und gegen den nicht unbeträchtlichen Widerstand von Teilen der Kurie, inklusive des Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, der das Projekt dann jedoch in seinem Pontifikat fortsetzte, kam 1986 in Assisi ein interreligiöses Gebetstreffen für den Frieden zustande, das christlicherseits nicht nur von der katholischen Kirche, sondern auch von den Kirchen der Reformation und der Orthodoxie getragen wurde. Der Papst-Biograf und Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio, Andrea Riccardi, die sich zu einem Träger der Gebetstreffen entwickelt hat, führt den päpstlichen Impuls auch auf eine Anregung Carl Friedrich von Weizsäckers zurück, der aus protestantischer Perspektive die ökumenische Idee eines Konzils des Friedens aller christlichen Kirchen formuliert hatte. Diese Idee entwickelte sich nach Auskunft Kardinal Willebrands im ökumenischen Gespräch zum Anliegen eines interreligiösen Gebetstreffens weiter.42 Das interreligiöse Gebetstreffen muss deswegen als ökumenische Initiative verstanden werden. Im Kern dieses interreligiösen Gebetstreffens stand das ökumenische Gebet. Die Kritik entzündete sich dann an der Sorge vor Synkretismus, wie er ganz generell in das Treffen oder spezifisch in die Öffnung einer Kirche für die Mediation der buddhistischen Teilnehmer hineininterpretiert wurde.43 Doch ein gemeinsames interreligiöses Gebet wurde tunlichst vermieden. Was stattfand, war ein ökumenisches christliches Gebet. Die Christen, angeführt von Johannes Paul II., dem orthodoxen und dem anglikanischen Vertreter, betraten zur Eröff41 Tassilo Wanner: Heilige Allianz? Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Heiligen Stuhl, Wiesbaden 2017. 42 Riccardi: Johannes Paul II 2012, S. 601. 43 Ebenda, S. 602.
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nung gemeinsam die Basilika di Santa Maria degli Angeli, die die franziskanische Portiunkulakapelle überwölbt. Als die Religionsgemeinschaften sich zum getrennten Gebet in Assisi verteilten, kamen die Christen gemeinsam zum ökumenischen Gebet in der Kathedrale di San Rufino zusammen. Zum gemeinsamen Abschluss im Vorhof der Grabeskirche des Hl. Franziskus, bei der die Inszenierung vorsah, dass jede Religionsgemeinschaft ihr Gebet separat sprach, trugen die verschiedenen christlichen Konfessionen ihr Gebet zusammen als Christen vor.44 Riccardi resümiert: „Das Treffen von Assisi führte aller Welt gewissermaßen den moralischen Primat des Papstes vor Augen, wie Wojtyla ihn erlangt hatte. Rom war in der Lage, die Führer der christlichen Kirchen und aller anderen Religionen an einen Tisch zu bringen.“45 Dieses Kunststück an Führungsfähigkeit vollbrachte Johannes Paul II. aber gerade auch deswegen, weil er nicht nach Rom einlud, sondern sich als Pilger unter Pilgern nach Assisi einreihte und mit dem Friedenstreffen eine Idee aufgriff, die im ökumenischen Gespräch gereift war.
3.2.2. Der Weltjugendtag in Denver Das außerordentliche Heilige Jahr 1983/84 hatte – wie gesehen – eine spezifische ökumenische Dynamik ausgelöst. Ein anderer Impuls des Heiligen Jahres waren die Weltjugendtage. Paul Josef Kardinal Cordes berichtet in seiner Autobiographie wie er als damaliger Vize-Präsident des Rats für die Laien zu einer Beteiligungsform für Jugendliche aufgefordert wurde und hier bereits auf die von geistlichen Gemeinschaften getragene Anlaufstelle für Jugendliche in San Lorenzo zurückgreifen konnte. Trotz der Bedenken, nicht nur derer, die sich an Schwierigkeiten mit ähnlichen Versuchen im Heiligen Jahr 1975 erinnerten, konnte er zusammen mit den geistlichen Gemeinschaften einen Prototyp des Weltjugendtags in Rom auf die Beine stellen. Johannes Paul II. war vom Erfolg des Unternehmens ebenso angetan wie die Jugendlichen der tragenden Gemeinschaften. Das UN-Jahr der Jugend gab 1985 den Anlass, ein zweites Treffen nachzuschieben, das vor allem von der Fokolarbewegung46 getragen wurde. Kardinal Cordes schildert, wie er schließlich überrascht die päpstliche Ankündigung vernahm, dass dieses aufwändige Format 44 Mario Collarini/Giuseppe Ferdinandi/Nicola Giandomenico/Gian Maria Polidoro Assisi Profezia di Pace. 27 ottobre 1986, Bergamo 1987, S. 62–69, 90–91. 45 Riccardi: Johannes Paul II 2012, S. 603. 46 Die Fokolarbewegung ist eine von Chiara Lubich gegründete, geistliche Gemeinschaft der katholischen Kirche mit interkonfessioneller und interreligiöser Mitgliedschaft.
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den Papst so überzeugt hatte, dass es zum festen Bestandteil der Jungendkatechese gehören sollte.47 Nicht zuletzt aufgrund der Sorge der Ortsbistümer, die Jugend zu zentralistisch in Rom zu sammeln, nahm der Weltjugendtag die Dimension einer globalen Pilgerschaft an, die aus der spezifischen personalen Konstellation dieser Jahre zuerst nach Buenos Aires führte. In den 1980er-Jahren war das Ziel der Weltjugendtage immer ein katholisches Kernland mit einer spezifischen Wallfahrtstradition: 1989 Santiago de Compostela und 1991 Tschenstochau. Der Weltjugendtag 1993 brachte eine völlig neue Variante: Denver – eine säkulare Metropole mit mehrheitlich protestantischer Tradition. In den protestantisch geprägten USA sollte der Weltjugendtag nicht in einer katholischen Hochburg veranstaltet werden, sondern Johannes Paul II. wollte zusammen mit einem Diasporabistum ein Zeichen setzen, dass Jugendliche überall von ihm und der christlichen Botschaft erreicht werden könnten. Trotz großer Bedenken, nicht zuletzt mancher US-amerikanischer Bischöfe, wurde dieser Ort gewählt, der einerseits dem bergbegeisterten und medialer Bildprogramme kundigen Papst die Naturschönheit der Rocky Mountains lieferte, andererseits aber vor allem die Möglichkeit bot, in einem katholisch schwierigen Umfeld Präsenz zu zeigen. Dieser Versuch gelang. Zunächst anvisierte Ortspläne für eine kleinere Versammlung wurden verworfen und die Veranstalter einigten sich auf das Footballstadion und ein Parkgelände. Trotz ungünstiger Bedingungen zwischen Regen und Hitze, konnte Johannes Paul II. die vielschichtige Heerschau katholischer Frömmigkeit zwischen Kreuzwegmeditation und Wallfahrtsfestival abhalten.48 Was als katholisches Auftrumpfen unter Protestanten hätte verstanden werden können, wurde aufgrund der breiten Akzeptanz der Ökumene ein Glaubensfest. Es behielt innerhalb und außerhalb der katholischen und christlichen Kirchen seine Kritiker, kam aber in der medialen Öffentlichkeit als großes Festival mit Tiefgang an, das junge Christen begeisterte. Der deutsche Weltjugendtag in Köln, den Johannes Paul II. noch ausgerufen hatte und der von Benedikt XVI. übernommen wurde, stieß auf ein eben solches ökumenisches Wohlwollen im gemischtkonfessionellen Deutschland. Eine mit der Erfahrung in Denver vergleichbare Konstellation meisterte Benedikt XVI. in Sydney, wo beim ersten Besuch eines Papstes, wie gesehen, der anglikanische Bischof noch ferngeblieben war. 47 Paul Josef Kardinal Cordes: Drei Päpste. Mein Leben, Freiburg im Breisgau 2014, S. 111–130. Im Interview mit dem Autor wies Kardinal Cordes ergänzend auf die besondere Bedeutung des Weltjugendtags in Denver hin. 48 George Weigel: Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Eine Biographie, Paderborn 2003, S. 714–722.
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Papst Benedikt XVI., der als Präsident der Glaubenskongregation den Pontifikat Johannes Pauls II. maßgeblich mitbestimmt hatte, knüpfte nahtlos an das ökumenisch geprägte Reisepapsttum seines Vorgängers an. Seine dogmatisch schärfer akzentuierte Unterscheidungsbereitschaft eröffnete einerseits neue Chancen, rieb sich aber an der ganz anderen Zuspitzungsbereitschaft des medialen Verstärkers, der einerseits auf Harmonie- und Hochglanzformate, andererseits auf Skandalisierungsmöglichkeiten von Konflikt und Kontroverse anspringt. Unter diesen Bedingungen waren ökumenische Begegnungen in pluraler Gesellschaft durch Erwartungen der Kontroverse vorgeprägt, die gerade im ökumenischen Gespräch vom Wunsch überlagert wurden, der theologisch fundierte Papst möge sichere Wege finden, die Kontroverse substanziell zu überbrücken. Das theologische Gespräch wurde von Benedikt XVI. zweifelsohne befördert, aber auf Reisen blieb auch er in der vorsichtigen Kontinuität seiner Vorgänger. Auf den Pilgerreisen in die Ökumene waren niederschwellige Gesten und persönliche wie massenmediale Begegnungen zwischen Religion, Öffentlichkeit und Politik möglich, aber keine Durchbrüche. Die Bewertung des Möglichen schwankte mit den Erwartungen.
3.3.1. Die Seligsprechung Kardinal Newmans und der Besuch im Vereinigten Königreich Großbritannien lässt sich ähnlich wie Dänemark als markante Fallstudie anführen, in der das Staatskirchentum einer „established church“ mit einer stark pluralisierten und säkularisierten Öffentlichkeit einhergeht. Obwohl die anglikanische Kirche zu den Wegbereitern der Ökumene zählt, tat sich die politische Seite nicht leicht, volle diplomatische Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl aufzubauen. Trotz vieler Kontakte auf allen Ebenen, konnten erst zum ersten Papstbesuch von Johannes Paul II. 1982 volle diplomatische Beziehungen aufgenommen werden. Das Wechselspiel auf den Bühnen von Politik, Öffentlichkeit und Religion verlangte gerade in diesem Jahr besonders großes Geschick, um das Greifbare nicht zu gefährden. Denn der Besuch stand im Schatten des Falklandkrieges, der auch als Konflikt eines katholischen Landes, Argentinien, mit einer protestantischen Macht verstanden wurde. Johannes Paul II. gelang der diplomatische Spagat aufgrund einer Absprache der beiden Bischofkonferenzen der beteiligten Länder, die er nach Rom beordert hatte. Diese Vereinbarung sah vor, dass es nach dem Besuch des Vereinigten Königreichs auch eine außerplanmäßige Kurzvisite in Argentinien
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geben sollte. Johannes Paul II. gelang es so unter schwierigen Bedingungen, den Großbritannienbesuch zu retten und dabei auch eine substanzielle ökumenische Begegnung möglich zu machen. Der Papst traf nicht nur die Queen, Staats- und Kirchenoberhaupt wie er, sondern er leitete zusammen mit dem anglikanischen Erzbischof von Canterbury und Primas der Church of England, Robert Runcie, einen gemeinsamen Gebetsgottesdienst in der Kathedrale von Canterbury, was in dieser Form als Premiere gewertet werden kann. Überdies unterzeichnete der Wojtyla-Papst eine gemeinsame Erklärung der Einheit. Die Pilgerreise in die Ökumene hat hier zweifelsfrei einen ihrer Höhepunkte erlebt.49 Der Besuch Benedikts XVI. im Vereinigten Königreich war eine Staatsvisite auf Einladung der britischen Regierung, die aber in wesentlich geringerem Maße als sonst üblich für die Kosten dieses Besuches aufkommen wollte. Da die englische und schottische Ortskirche arme katholische Diasporakirchen waren und sind, und der Heilige Stuhl weder willens noch in der Lage war und ist, die Kosten von Papstbesuchen zu tragen, stand der Besuch unter einem unüblichen Finanzdruck, der sogar zum Verkauf von Einlasskarten zu Papstmessen führte – eigentlich ein absolutes „No-Go.“ Die aus vielfältigen Gründen, das größte Ärgernis dürfte der Missbrauchsskandal gewesen sein, kritische, zum Teil antireligiös und antipäpstlich gestimmte Öffentlichkeit, die mit den damaligen Wortführern eines militanten Atheismus bereits die sparsame Haltung der britischen Regierung befördert hatte, erhielt weitere Nahrung, die gerade im ökumenischen Gespräch Erinnerungen an Ämterkauf und Ablasshandel weckten und damit leicht an antikatholische Stereotype anschließen konnten.50 Der Papstreporter Andreas Englisch griff deswegen tief in die journalistische Trickkiste, um den Erfolg der Reise zu erklären: Ein polizeilicher Fehlalarm um ein angebliches Attentat habe die antipäpstliche Stimmung kurz vor dem Besuch gedreht. Englisch übernahm diese Hypothese aus dem Reich der Verschwörungstheorien, die im Fehlalarm eine Inszenierung des Vatikans ausmachten. Er blieb beim Plot des Umschwungs aus einem Schulterschluss gegen den Terror heraus und ließ nur die Kausalität beim Zufall und nicht bei der vatikanischen „Weltverschwörungszentrale“ enden.51 Englisch selbst gibt aber auch einen Hinweis auf eine vielleicht gewichtigere Variante der Kausalitätskette: Die Nähe Benedikts zu John Henry Newman, der – wie Englisch überspitzt
49 Weigel: Zeuge der Hoffnung 2003, S. 453–454. 50 Andreas Englisch: Benedikt XVI. Der deutsche Papst, München 2011, S. 617–639. 51 Ebenda, S. 638–639.
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dargestellte – gleichsam im Alleingang von Benedikt XVI. bei seinem Besuch seliggesprochen worden sei.52 John Henry Newman war eine große Gestalt nicht nur des Anglokatholizismus, sondern der britischen Öffentlichkeit in den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, dessen Übertritt von der Church of England zur römisch-katholischen Kirche hohe Wellen geschlagen hatte. Obwohl vom seinerzeit überragenden englischen Kardinal Manning beargwöhnt, sah schon der zeitgenössische Papst Leo XIII. hier einen herausragenden Geist, den er als Theologen in den Kardinalsrang erhob. Offensichtlich war es gerade auf der Basis einer starken Ökumene auch über ein Jahrhundert hinweg überzeugend, Newman nicht einseitig in konfessioneller Kalkulation als Gewinn und Verlust zu verbuchen, sondern ihn als Wegbereiter der Ökumene auf zeitkritischer Basis zu begreifen. In der Besinnung auf die Wahrheitssuche in einer pluralen Welt, als zentrale Aufgabe christlicher Identität, erschienen Benedikt XVI. und Newman auf einer Wellenlänge. Auf dieses Lebensthema Benedikts reagierten trotz oder gerade wegen der Konfrontation mit einem militanten Atheismus auch Teile der britischen Öffentlichkeit positiv.53 Neben der Seligsprechung Newmans sind als zentrale Wegmarken die ökumenische Feier in der Abtei von Westminster und die Ansprache Benedikts in Westminster Hall zu nennen, die zu den großen Reden vor säkularen Parlamenten zählt.54 Überall findet sich der sanfte, aber doch unumwunden zeitkritische Grundton, der zuerst im ökumenischen Gespräch auf Resonanz stieß und darüber hinaus die Gesellschaft erfasste. Dazu ein Beispiel aus der Ansprache bei der ökumenischen Feier in der Abtei von Westminster: Liebe Freunde, wir sind uns alle der Herausforderungen, der Gnadengeschenke, der Enttäuschungen und der Zeichen der Hoffnung bewußt, die unseren ökumenischen Weg kennzeichnen. Heute abend legen wir all das im Vertrauen auf seine Vorsehung und die Kraft seiner Gnade in Gottes Hände. Wir wissen, daß die unter uns geschlossenen Freundschaften, der begonnene Dialog und die uns leitende Hoffnung uns auf unserem weiteren gemeinsamen Weg Kraft und Orientierung spenden werden. 52 Ebenda, S. 627–634. 53 James Crossley/Jackie Harrison: Atheism, Christianity and the British Press: Press Coverage of Pope Benedict XVI’s 2010 State Visit to the UK, in: Implicit Religion, 18. Jg., Heft 1, 2005, S. 77–105. 54 Benedikt XVI.: Begegnung mit Vertretern der Gesellschaft Großbritanniens. Papst Benedikt XVI., Westminster Hall – City of Westminster, 17. September 2010, in: Annette Schavan (Hg.): Päpste vor Parlamenten. In Verantwortung vor Gott und den Menschen, Freiburg im Breisgau 2015, S. 87–93.
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Zugleich müssen wir mit einem im Evangelium begründeten Realismus die Herausforderungen anerkennen, die uns erwarten, nicht nur auf dem Weg zur Einheit der Christen, sondern auch bei unserer Aufgabe, Christus in unserer Zeit zu verkünden. Die Treue zum Wort Gottes – denn dieses ist ja das wahre Wort – verlangt von uns einen Gehorsam, der uns gemeinsam zu einem tieferen Verständnis des Willens des Herrn führt, einen Gehorsam, der frei sein muß von intellektuellem Konformismus und bequemer Anpassung an den Zeitgeist. Dieses Wort der Ermutigung möchte ich Ihnen heute abend mitgeben, und ich tue das getreu meines Amtes als Bischof von Rom und Nachfolger des heiligen Petrus, der den Auftrag hat, in besonderer Weise für die Einheit der Herde Christi zu sorgen.55
3.3.2. Benedikt XVI. in Martin Luthers Augustinerkloster zu Erfurt Als Benedikt XVI. nach Deutschland kam, waren die Erwartungen an die ökumenischen Fortschritte hoch. Der Ratzinger-Papst schien durchaus gewillt zu liefern. So kolportierte die Presse, dass er sich explizit dafür ausgesprochen hatte, dem ökumenischen Termin in Deutschland mehr Zeit einzuräumen.56 Die Erwartungen wurden so hoch, dass sich Benedikt genötigt fühlte, sich mit der Bemerkung in seiner Erfurter Ansprache zu wehren, dass keine Gastgeschenke zu erwarten seien.57 Diese griffige Formulierung war medial gut transportierbar, kam aber gar nicht gut an. Dementsprechend kritisch wurden die Ergebnisse des Besuchs gewertet. Benedikt XVI. sprach bei der Begegnung mit den Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland im ehemaligen Augustinerkloster, in das der junge Martin Luther eingetreten war, aber auch von der Größe der Gottsuche des Reformators.
55 Benedikt XVI.: Einleitungsworte von Papst Benedikt XVI. vor dem Abendgebet. Westminster Abbey – City of Westminster, Freitag 17. September 2010, Online-Ansicht: http:// w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2010/september/documents/hf_ben-xvi_ spe_20100917_celebrazione-ecumenica.html, letzter Zugriff: 29.09.2017. 56 Frank Vollmer: Benedikt will bei Besuch mehr Zeit für die Ökumene, in: RP, 10. März 2011, Online-Ansicht: http://www.rp-online.de/kultur/benedikt-will-bei-besuch-mehr-zeit-fueroekumene-aid-1.474257, letzter Zugriff: 29.09.2017. 57 Benedikt XVI: Ökumenischer Gottesdienst. Ansprache von Papst Benedikt XVI. Augustinerkloster Erfurt. Freitag 23. September 2011, Online-Ansicht: http://w2.vatican.va/content/ benedict-xvi/de/speeches/2011/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20110923_augustinian-convent-erfurt.html, letzter Zugriff: 29.09.2017.
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Der Augustinuskenner Benedikt würdigte diesen Aspekt ausführlich. Er konnte so aus seiner Perspektive mit seinen Anliegen an Luther gut anschließen. ‚Wie kriege ich einen gnädigen Gott?‘ Daß diese Frage die bewegende Kraft seines ganzen Weges war, trifft mich immer wieder ins Herz. Denn wen kümmert das eigentlich heute noch – auch unter Christenmenschen? Was bedeutet die Frage nach Gott in unserem Leben? In unserer Verkündigung? Die meisten Menschen, auch Christen, setzen doch heute voraus, daß Gott sich für unsere Sünden und Tugenden letztlich nicht interessiert. Er weiß ja, daß wir alle nur Fleisch sind. Und sofern man überhaupt an ein Jenseits und ein Gericht Gottes glaubt, setzen wir doch praktisch fast alle voraus, daß Gott großzügig sein muß und schließlich mit seiner Barmherzigkeit schon über unsere kleinen Fehler hinwegschauen wird. Die Frage bedrängt uns nicht mehr. Aber sind sie eigentlich so klein, unsere Fehler? Wird nicht die Welt verwüstet durch die Korruption der Großen, aber auch der Kleinen, die nur an ihren eigenen Vorteil denken? Wird sie nicht verwüstet durch die Macht der Drogen, die von der Gier nach Leben und nach Geld einerseits, von der Genußsucht andererseits der ihr hingegebenen Menschen lebt? Wird sie nicht bedroht durch die wachsende Bereitschaft zur Gewalt, die sich nicht selten religiös verkleidet? Könnten Hunger und Armut Teile der Welt so verwüsten, wenn in uns die Liebe zu Gott und von ihm her die Liebe zum Nächsten, zu seinen Geschöpfen, den Menschen, lebendiger wäre? Und so könnte man fortfahren. Nein, das Böse ist keine Kleinigkeit. Es könnte nicht so mächtig sein, wenn wir Gott wirklich in die Mitte unseres Lebens stellen würden. Die Frage: Wie steht Gott zu mir, wie stehe ich vor Gott – diese brennende Frage Luthers muß wieder neu und gewiß in neuer Form auch unsere Frage werden, nicht akademisch sondern real. Ich denke, daß dies der erste Anruf ist, den wir bei der Begegnung mit Martin Luther hören sollten.58
Benedikt streicht in seinen weiteren Ausführungen heraus, dass die Begegnung mit Gott nicht die Begegnung mit einem Prinzip, sondern mit einer Person ist, die sich in Christus offenbart hat. Diesen alle Christen verbindenden Kern des Glaubens als Schlüssel der Ökumene hat nicht nur die Annäherung der Konfessionen möglich gemacht, sondern, so ließe sich ergänzen, diese Ausrichtung bestimmt auch die Grundausrichtung des Reisepapsttums und seiner Pilgerschaft in 58 Benedikt XVI: Begegnung mit Vertretern des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ansprache von Papst Benedikt XVI., Augustinerkloster Erfurt 23.09.2011, Online-Ansicht: https://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2011/september/documents/ hf_ben-xvi_spe_20110923_evangelical-church-erfurt.html, letzter Zugriff: 29.09.2017.
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die Ökumene. Oder um es noch einmal mit seinem Erfinder Paul VI. zu sagen: „a’abord au Christ, puis à l’Eglise, enfin au monde.“59 3.4. Franziskus in Lund und Malmö
Die Feier des 500-jährigen Jubiläums der Reformation und des siebzigjährigen eigenen Bestehens nahm 2017 der Lutherische Weltbund mit Sitz in Lund zum Anlass, den Papst einzuladen. Obwohl katholischerseits die Reformation nicht als Grund zum Feiern gilt, nahm Franziskus die Einladung im Sinne eines gemeinsamen Gedenkens und Betens an. Sowohl die Einladung wie die Annahme können selbstredend als ein starkes Zeichen der Ökumene gewertet werden, ohne jedoch darin automatisch ein Momentum für weitreichende Schritte zu sehen. Die Institution des Reisepapsttums schuf eine niederschwellige Grundlage für die Begegnung, gerade auch in einer Situation, in der in der theologischen Substanz der ökumenische Dialog nicht wirklich vorangegangen war und im gemeinsamen Zeugnis im politischen und öffentlichen Raum eher neue Unterschiede deutlich geworden waren. Am 31. Oktober 2016 traf Papst Franziskus in Begleitung von Kurt Kardinal Koch, dem Präsidenten des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen, zur Eröffnung des Jubiläumsjahres in der lutherischen Kathedrale von Lund die Repräsentanten des Lutherischen Weltbundes, seinen Präsidenten Munib Younan und seinen Generalsekretär Martin Junge, sowie die Erzbischöfin Antje Jackelén aus Stockholm als Vertreterin der schwedischen Lutheraner. Die beiden Konfessionen kamen zusammen, um zu beten, zu erinnern und dann eine gemeinsame Erklärung zu unterschreiben, die weniger theologische Position zusammenbrachte als die Gemeinsamkeit der tätigen Nächstenliebe suchte. Die politische Ebene war wie selbstverständlich mit dem schwedischen Königshaus ebenfalls vertreten; die lutherische Kirche gab erst 2000 ihren Status als Staatskirche auf. Das ökumenische Zeichen war dem Papst so wichtig, dass er anfänglich auf die Feier einer Messe am zweiten Tag seines Besuches verzichten wollte und erst auf die dringende Bitte der schwedischen Katholiken hin, das am 1. November folgende katholische Hochfest Allerheiligen mit einer öffentlichen Messe beging.60 Auch dort stellte er das Gedenken der Reformation in den Mittelpunkt seiner Predigt: 59 Paul VI.: Bethléem, 1964, Online-Ansicht: http://w2.vatican.va/content/paul-vi/fr/speeches/1964/documents/hf_p-vi_spe_19640106_epiphanie.html, letzter Zugriff: 29.09.2017. 60 Austen Ivereigh: Pope explains reluctance to celebrate Mass in Sweden, in Crux, 28. Oktober 2016, Online-Ansicht: https://cruxnow.com/vatican/2016/10/28/pope-explains-reluctance-
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| Mariano Barbato Die Sanftmut ist eine Seins- und Lebensweise, die uns Jesus näher bringt und uns miteinander vereint sein lässt. Sie erreicht es, dass wir alles, was uns trennt und uns entzweit, beiseitelassen und immer neue Möglichkeiten suchen, um auf dem Weg der Einheit voranzukommen. So handelten Söhne und Töchter dieses Landes, zum Beispiel die kürzlich heiliggesprochene Maria Elisabeth Hesselblad und die heilige Birgitta von Schweden, die Mitpatronin Europas. Sie beteten und arbeiteten, um Bande der Einheit und Gemeinschaft unter den Christen zu knüpfen. Ein sehr beredtes Zeichen ist die Tatsache, dass wir gerade hier in eurem Land, das sich durch das Zusammenleben ganz verschiedener Bevölkerungen auszeichnet, gemeinsam des 500. Jahrestags der Reformation gedenken. Die Heiligen erreichen Veränderungen dank der Sanftmut ihres Herzens. Mit ihr begreifen wir die Größe Gottes und beten ihn aufrichtig an; und außerdem ist sie die Haltung dessen, der nichts zu verlieren hat, weil sein einziger Reichtum Gott ist.61
Im Vorfeld des Besuches gab Papst Franziskus den schwedischen und römischen Jesuitenzeitungen Signum und Civiltà Cattolica ein Interview, bei dem er sich jovialkritisch gegenüber den Schwierigkeiten äußerte, die Theologen in der Ökumene machen. Zuvor hatte er beim Besuch der Lutheraner in Rom zur individuellen Entscheidung hinsichtlich der Abendmahlgemeinschaft en passant eine breite Interpretationsmöglichkeit eröffnet. Beides fand ein entsprechendes mediales Echo.62 Dennoch war die inhaltliche Vorbereitung des Besuchs ganz auf die theologisch geförderte Akzentsetzung einer Ökumene der Tiefe auf Christus hin ausgelegt und dementsprechend waren die Texte der Gebetsfeier angelegt. Der auf römischer Seite für die theologische Begleitung zuständige Präsident des Päpstlichen Rats für die Einheit der Christen, Kurt Kardinal Koch, war immer an der Seite des Papstes. Bei der farblichen Inszenierung stach aber der Kardinal in schwarzer Soutane und roten Pileoli heraus. Die lutherischen Vertreter waren ebenso weiß und mit roter Stola gekleidet wie der Papst, der nur durch den weißen Pileolus seinen päpstlichen Akzent setzte. Die Nähe zwischen Pontifex und Lutheraner lag für Franziskus in Luthers Frage nach einem gnädigen Gott. Das von Franziskus ausgerufene celebrate-mass-sweden/, letzter Zugriff: 29.09.2017. 61 Franziskus: Eucharistiefeier im Swedbank-Stadion von Malmö. Homilie von Papst Franziskus, Malmö 1. November 2016, Online-Ansicht: http://w2.vatican.va/content/francesco/ de/homilies/2016/documents/papa-francesco_20161101_omelia-svezia-malmo.html, letzter Zugriff: 29.09.2017. 62 Julius Müller-Meiningen: Papstbesuch in Lund. These. Antithese, Synthese?, in: Zeitonline/ Christ und Welt, 4. November 2016, Online-Ansicht: http://www.zeit.de/2016/46/reformationsfeier-lund-papst-franziskus-protestanten-katholiken, letzter Zugriff: 29.09.2017.
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außerordentliche Heilige Jahr der Göttlichen Barmherzigkeit, das beim Besuch in Schweden noch andauerte, lag in der Perspektive des Papstes auf einer Linie mit Luthers Frage. Seine Gedanken schlossen aber auch nahtlos an die Ausführungen von Benedikt XVI. in Erfurt an: Die geistliche Erfahrung Martin Luthers hinterfragt uns und erinnert uns daran, dass wir ohne Gott nichts vollbringen können. ‚Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?‘ – das ist die Frage, die Luther ständig umtrieb. Tatsächlich ist die Frage nach der rechten Gottesbeziehung die entscheidende Frage des Lebens. Bekanntlich begegnete Luther diesem barmherzigen Gott in der Frohen Botschaft vom menschgewordenen, gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus. Mit dem Grundsatz ‚Allein aus Gnade‘ werden wir daran erinnert, dass Gott immer die Initiative ergreift und jeder menschlichen Antwort zuvorkommt, und zugleich, dass er versucht, diese Antwort auszulösen. Daher bringt die Rechtfertigungslehre das Wesen des menschlichen Daseins vor Gott zum Ausdruck.63
Nach dem gemeinsamen Gebet in der Kathedrale von Lund ging es am Nachmittag weiter nach Malmö, wo ein geeignet großes Stadion zur Verfügung stand, das dem üblichen Festivalcharakter bei Papstreisen gerecht werden konnte. Im offenen Wagen fuhr Franziskus mit seinem Kurienkardinal und den lutherischen Gastgebern zu viert durch das Stadion und integrierte so den Präsidenten des Lutherischen Weltbundes und seinen Generalsekretär in den vielleicht aus protestantischer Sicht eigentlich überzogenen Papstkult. Auch hier war die niederschwellige Variante des Papstbesuches eine Möglichkeit, Begegnung zu zelebrieren. Wie bei allen Papstreisen misst sich der Erfolg eines solchen Massenevents zuerst in der massenmedialen Verbreitung von Bildern einer fröhlich dem Pontifex zujubelnden Menge. Die qualitative Seite des Jubels dürfte genauso Relevanz besitzen wie die quantitative Zustimmung. Wie auch bei anderen Papstevents, war das Echo nicht garantiert und die freudig jubelnde Menge war zumindest nicht so groß und dicht, dass sich Franziskus wie auf dem Petersplatz fühlen konnte. Den ernsthaften Charakter dieser Begegnung unterstrich das gemeinsame Engagement für die sozialen und politischen Weltprobleme. Konkret wurde die Ausweitung der Zusammenarbeit zwischen Caritas Internationalis und Lutheran World Federation – World Service bekanntgegeben. Die Organisatoren setzten einen besonderen Akzent auf die Ökumene der verfolgten und leidenden Kirche, als deren Vertreter der Bischof von Aleppo eingeladen worden war. Hier taucht auch bei Franziskus wieder die 63 Ebenda.
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Gemeinsamkeit der Ökumene der Verfolgung auf, die Benedikt mit Bezug auf die verfolgten Christen des Nationalsozialismus schon als Wegbereiter der Ökumene gewürdigt hatte.64 4. Obama statt Franziskus
Wurde eine Chance verpasst, als in der Fortsetzung des Reformationsjubiläums nicht der Papst nach Wittenberg, sondern Obama zum Kirchentag nach Berlin kam? Im Vorfeld hatte es zu einem Papstbesuch in Deutschland Einladungen, Wünsche und Spekulationen, aber auch Bedenken gegeben. Andere, wie die Religionsredakteurin der Zeit, Evelyn Finger, hatten für einen Papstbesuch in Deutschland und zum Reformationsgedenken engagiert die mediale Werbetrommel gerührt. Dabei waren auch Erwartungen auf einen Durchbruch in der Ökumene und einen papstinduzierten Massenansturm für das Jubiläum laut geworden: Sowohl in der Deutschen Bischofskonferenz als auch in der Evangelischen Kirche Deutschlands gibt es jetzt schon Bedenkenträger, die jammern: Das sei doch nun nicht optimal, wenn der Papst ausgerechnet vorm Reformationsjubiläum eine ökumenische Agenda setze. Gewisse Katholiken fürchten wohl um ihren machtgeschützten Konservatismus. Und gewisse Protestanten fürchten um ein lieb gewordenes Feindbild: Wer sind wir eigentlich, wenn wir nicht antikatholisch sind? Beide Seiten aber fürchten, dass der populäre Papst ihnen die Show stiehlt. Reformationsjubiläum als protestantische Selbstvergewisserung, als deutsches Provinzfest, so hatten sich die Besitzstandswahrer das vorgestellt. Jetzt aber ist es ein bisschen so, als hätten Schülerbands ein Konzert geplant – und plötzlich sagt sich der Rapper 50 Cent an. Tja, liebe Miesepeter: Die Massen werden begeistert sein.65
64 Franziskus: Ökumenische Veranstaltung im Malmö-Stadion. Ansprach des Heiligen Vaters, Montag 31. Oktober 2016, Online-Ansicht: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2016/october/documents/papa-francesco_20161031_svezia-evento-ecumenico.html, letzter Zugriff: 29.09.2017. 65 Evelyn Finger: Papst Franziskus: Fürchtet euch! Denn der Papst kommt. Ausgerechnet im Luther-Jahr 2017, in: Die Zeit, 23.07.2015, Online-Ansicht: http://www.zeit.de/2015/28/ papst-franziskus-deutschland-reformation-luther, letzter Zugriff: 29.09.2017.
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Der „Rapper aus Rom“ kam dann doch nicht. Offensichtlich war ein solcher Besuch in Rom als Überreizung des niederschwelligen Angebots der päpstlichen Reiseökumene angesehen worden. Statt des „Popestars“66 kam zumindest der Politstar Barack Obama nach Berlin. Bei der Fortsetzung des Kirchentags in Wittenberg fehlte dann aber nicht nur der Papst. Auch ein Wetter wie aus einem Sommernachtstraum und eine stimmungsvolle Kulisse konnten nicht die ursprünglich anvisierte Zahl an Feiernden auf die Elbwiesen vor der Silhouette der Türme der Stadt locken. In der deutschen Presselandschaft gab es dazu kritische Stimmen.67 Offensichtlich war gerade die nächtliche Freiluftgebetswache, die in die sommerliche Hauptfeier zu Christi Himmelfahrt hineinleiten sollte, dem Repertoire des Weltjugendtags entnommen. Aber ohne den Papst, so hatte Evelyn Finger richtig prognostiziert, ließ sich kein Massenereignis in päpstlichem Format veranstalten. Kein religiöser Führer kann das Spiel zwischen Politik, Religion und Öffentlichkeit so spielen wie der Pontifex und dementsprechend Massen und Medien in sich gegenseitig verstärkenden Effekten mobilisieren. Aber bei allen Erfolgen und Stärken kann das niederschwellige Angebot der Pilgerfahrt in die Ökumene – wie gesehen – nicht mit kraftvollen Entscheidungsgesten, sondern nur mit einem vorsichtigen Spiel über die Ebenen seine Erfolge erzielen. Die Analyse der tatsächlich stattgefundenen Begegnungen der Päpste mit Protestanten lässt zumindest den kontrafaktischen, spekulativen Schluss zu, dass ein Papstbesuch in Wittenberg zur Feier der Reformation Erwartungen geweckt hätte, hinter denen die substanziellen Schritte des theologischen Gesprächs weit zurückgeblieben wären. Der Erfolg der Päpste auf Reisen hängt auch für die Begegnungen auf den Pilgerwegen der Ökumene vom sorgfältig austarierten Spiel auf den Bühnen von Politik, Öffentlichkeit und Religion ab. Quellen- und Literaturverzeichnis
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David Schmiedel
„Der Papst in einer lutherischen Kirche“: Rezeption, Wirkung und Bedeutung des Besuches von Papst Johannes Paul II. in einer evangelisch-lutherischen Kirche am 11. Dezember 1983 in Ost- und Westdeutschland
1. Einführung
Als Papst Franziskus am 15. November 2015 die deutsche evangelisch-lutherische Christuskirche in Rom besuchte, war dies ein Ereignis, das auf den Medienplattformen des Internets sowie in der weltweiten Presse nachhaltige Beachtung und Rezeption erfuhr.1 Denn die Berichterstatter sahen im Besuch des Pontifex, der der Hirte aller Menschen sein möchte, mehrheitlich ein weiteres Zeichen für ein neues und innovatives Papsttum, wie es durch die offene und zahlreichen alten Regeln entsagende Amtsführung von Franziskus vertreten wird.2 Doch so sehr der Besuch ein Zeichen dieser neuen Zeit zu sein schien, war er doch bereits der dritte Besuch eines katholischen Kirchenoberhauptes in dieser Gemeinde. Sein emeri-
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Vgl. https://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2015_11_16_papst_christuskirche_rom.html, letzter Zugriff: 27.04.2017; https://zenit.org/articles/pope-s-visit-to-lutheran-communityin-rome/, letzter Zugriff: 27.04.2017; https://www.commonwealmagazine.org/doctrinal-authority-francis-era, letzter Zugriff: 27.04.2017 oder https://cruxnow.com/vatican/2017/02/17/ pope-francis-visit-romes-anglican-community/, letzter Zugriff: 27.04.2017; https://www. youtube.com/watch?v=jHM7s1tmYaQ, letzter Zugriff: 04.05.2017. 2 Vgl. http://www.evangelische-zeitung.de/nachrichten/top-thema/news-detail-top-thema/ nachricht/der-papst-zu-gast-im-gottesdienst.html, letzter Zugriff: 04.05.2017; http://ekiba. de/html/aktuell/aktuell_u.html?t=687a223720ee00087508d96b7c6552a0&tto=e65af13a& &cataktuell=&m=2359&artikel=9282&stichwort_aktuell=&default=true, letzter Zugriff: 04.05.2017.
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tierter Vorgänger, Papst Benedikt XVI., war im Jahr 2010 zu Gast gewesen,3 den Anfang aber hatte bereits im Jahr 1983 Johannes Paul II. gemacht.4 Als der polnische Pontifex am 11. Dezember des Jahres – es war der dritte Advent – die Pforte der „Chiesa di Cristo“ durchschritt, war er der erste Papst, der seit Beginn der Reformation ein protestantisches Gotteshaus betrat. Allein für einen Besuch war Johannes Paul II. jedoch nicht gekommen, sondern auch für eine Predigt, die er vor der kleinen Gemeinde hielt – und das sogar von der Kanzel aus.5 Passend zu diesem bis dahin neuen und unbekannten Bild war gleichwohl das Thema der Ansprache: Der Papst sprach vorrangig über die christliche Einigkeit im Advent – der erwarteten Ankunft Jesu Christi –, bevor er gegen Ende der Predigt seinen Fokus auf Martin Luther und dessen 500. Geburtstag im Jahr 1983 legte: Schließlich meinen wir, im Jahr der Erinnerung an den Geburtstag von Martin Luther vor fünf Jahrhunderten, wie von ferne die Morgenröte des Advents einer Wiederherstellung unserer Einheit und Gemeinschaft zu sehen. Diese Einheit ist eine Frucht der täglichen Erneuerung, Bekehrung und Buße aller Christen im Licht des ewigen Wortes Gottes. Sie ist zugleich die beste Wegbereitung für die Ankunft Gottes in unserer Welt. Folgen wir der großen Gestalt der Adventszeit, folgen wird dem Leitbild Johannes des Täufers, der Stimme des Rufers in der Wüste: ‚Bereitet den Weg des Herrn‘ (Joh 1,23). Folgen wird der Einladung zur Versöhnung mit Gott und untereinander. Christus, der Allherrscher, ist nicht nur über, sondern mitten unter uns als der Kyrios, der, der ist und der in Ewigkeit sein wird.
Diese Worte scheinen in der Ära eines Papst Franziskus von keiner gesteigerten Bedeutung zu sein, im Dezember 1983 waren sie jedoch von einer bis dahin kaum gekannten Klarheit. Es war dabei kein Zufall, dass sie in dem Jahr gesprochen wur-
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Vgl. http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2010_03_08_2_papst_bei_lutherarnern_rom. html und https://www.evangelisch.de/inhalte/98904/12-03-2010/papst-feiert-gottesdienstmit-lutherischer-gemeinde-rom, letzter Zugriff: 04.05.2017. Vgl. Horst Schlitter: Einführung. Wie wir den polnischen Papst einluden, in: Jürgen Krüger/Jens-Martin Kruse (Hg.): Ökumene in Rom. Erfahrungen, Begegnungen und Perspektiven der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Rom, Karlsruhe 2010, S. 114–124, hier S. 118. Das Predigen von der Kanzel ist im Katholizismus zwar nicht üblich, es ist aber auch nicht ausgeschlossen oder untersagt.
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den, in dem Protestanten weltweit ein halbes Jahrtausend Martin Luther feierten,6 den Initiator der Loslösung vom Katholizismus und damit auch vom römischen Papsttum. Dass der Besuch 1983 stattfand, war also in dieser Terminierung durchaus von der katholischen Kirche gewollt. Die Initiative zum Besuch jedoch war ursprünglich weder von Papst Johannes Paul II. noch von einer anderen katholischen Institution ausgegangen. 2. Das Zustandekommen und die Vorbereitung des Besuches
Begonnen hatte der Prozess, der schlussendlich zu dem Besuch führte, mit einer Geste der Ökumene fast zwei Jahre zuvor, als die nur 550 Meter von der deutschen evangelisch-lutherischen Christuskirche entfernt liegende katholische Nachbargemeinde Besuch von Johannes Paul II. erhalten hatte. Dieser hielt am 29. Januar 1982 in Santa Teresa d’Avila die Abendmesse ab,7 wobei er sich auf Visitation in seiner Funktion als Bischof von Rom befand. Zu diesem Anlass waren auch die Mitglieder des Kirchenvorstandes der deutschsprachigen evangelisch-lutherischen Christuskirche geladen gewesen. Im Anschluss an die abendliche Messe (das Abendmahl selbst wurde nur für die katholischen Gläubigen gereicht) gab es ein ausführliches Treffen zwischen dem Pontifex und den protestantischen Gästen,8 wobei sich miteinander in deutscher Sprache unterhalten wurde.9 Zunächst erkundigte sich Johannes Paul II. – wohl aus Höflichkeit – lediglich nach dem Standort der protestantischen Kirche. Nachdem er eine Antwort erhalten hatte und auf seine Feststellung hin, dass die Kirche ja sehr nah sei, erfolgte die erste Einladung in das protestantische Gotteshaus durch die Mitglieder des Kirchenvorstandes. Diese Einladung war nur mittelbar aus der Situation und dem Interesse des Pontifex heraus entstanden, da die Idee, den Papst in die evangelische Gemeinde einzuladen, bereits auf dem kurzen Fußmarsch zur Nachbargemeinde 6
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Besonders in Deutschland ist eine starke Fokussierung auf die Person Martin Luthers festzustellen, die sich auch im Reformationsjahr 2017 erneut manifestiert hat. Von reformierten Kirchen weltweit wird an dieser Fokussierung Kritik geübt, da diese Luther zwar als Initiator der Reformation anerkennen, die Fokussierung auf seine Person jedoch als Einschränkungen des Verständnisses von Vielfalt sehen, die sich in den Jahrzehnten und Jahrhunderten bis heute entwickelt und entfaltet hat. Vgl. Schlitter: Einführung 2010, S. 114. Bei dem Treffen war, ebenfalls im Zeichen der Ökumene, auch eine orthodoxe Abordnung anwesend, mit der sich Papst Johannes Paul II. ebenfalls ausführlich unterhielt. Vgl. Schlitter: Einführung 2010, S. 114.
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im Vorfeld des Gottesdienstes aufgekommen war. Ein Mitglied des Kirchenvorstandes soll auf diesem Weg vorgeschlagen haben: „Wir könnten doch bei dieser günstigen Gelegenheit den Papst zu uns einladen.“10 Von einem langfristigen „Plan“ kann trotz dieses später am Abend durchgeführten Vorhabens jedoch nicht die Rede sein, weshalb die Einladung von Johannes Paul II. als mehr oder minder spontan bezeichnet werden muss. Der Pontifex jedenfalls antwortete zunächst defensiv und unverbindlich, wenngleich auch freundlich: „Am besten gleich heute Abend, aber das geht ja wohl nicht.“11 Damit hätte diese Causa als höflicher Wortwechsel – als „small talk“ – erledigt sein können, doch die Mitglieder des Vorstandes ließen sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen und wiederholten wenige Minuten später ihre Einladung. Johannes Paul II. wurde nun etwas konkreter: „Ja, eines Tages, würde ich Sie auch besuchen.“12 Mehr geschah am Abend des 29. Januar 1982 in dieser Sache nicht. Es wäre wahrscheinlich auch weiter nichts geschehen, hätte der Kirchenvorstand sich nicht weiter bemüht: Dieser bedankte sich im Frühjahr 1982 beim vatikanischen Staatssekretariat über die Zusage des Papstes und wollte den genauen Tag des Besuches in Erfahrung bringen,13 wobei man sich einen Termin noch im Kalenderjahr 1982 erhoffte. Doch die Reaktion des Sekretariats blieb zunächst betont verhalten. Dass der Besuch überhaupt noch stattfinden würde, war zu diesem Zeitpunkt bereits unwahrscheinlich geworden. 10 Zit. ebenda. 11 Zit. ebenda. In der Presse waren teils andere Wortlaute zu lesen, so gab zum Beispiel die „Kölnische Rundschau“ vom 9. Dezember 1983 Papst Johannes Paul II. wie folgt wieder: „‚Am liebsten täte ich es gleich… Aber es wird eines Tages geschehen, und der Tag muss nicht fern sein.‘“ (Zit. Christa Peduto: Vorsichtig heißen die Protestanten den Papst willkommen. Einladung der deutschen-lutherischen Christusgemeinde an das katholische Kirchenoberhaupt gilt nur dem „Bischof von Rom“, Kölnische Rundschau vom 9. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 6). Die Darstellung der „Kölnischen Rundschau“ weicht in Folge in weiteren Punkten ab, indem zum Beispiel nicht die zweite Nachfrage der Mitglieder des Kirchenvorstandes erwähnt wird, sondern – der Darstellung der zweiten Nachfrage entgegengesetzt – eine Initiative von Johannes Paul II. erwähnt wird, welcher sich persönlich und noch am Abend des 29. Januar 1982 nach der Machbarkeit eines Besuches in der evangelischlutherischen Kirche im Lutherjahr 1983 erkundigt habe. Diese Darstellung impliziert, dass Johannes Paul II. selbst die Intention hegte, das Lutherjahr für ein Zeichen der Ökumene zu nutzen. Für diese Lesart finden sich jedoch abseits des Artikels keine verlässlichen Quellen. 12 Vgl. Schlitter: Einführung 2010, S. 114. 13 Vgl. ebenda.
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Was genau die Meinung des Staatssekretariats schlussendlich veränderte, ist ohne die noch unter Verschluss liegenden vatikanischen Akten nicht detailliert nachzuvollziehen. Wahrscheinlich ist jedoch, dass man im Sekretariat begann, die Einladung als Chance zu verstehen: Der Besuch wurde nun auch von Seiten des Sekretariats zugesagt, jedoch sollte dieser nicht mehr – wie vom protestantischen Kirchenvorstand erhofft – im Jahr 1982 stattfinden, sondern es wurde zunächst der Beginn des Lutherjahres 1983 forciert. Der Besuch sollte – so die Hoffnung des Vatikans – zu einem Zeichen der Ökumene werden, in einem Jahr in dem die Protestanten ihre Loslösung von Papst und Papsttum feierten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass, sobald im Herbst 1982 der Termin für den Zeitraum zwischen dem 23. und dem 29. Januar 1983 selbst bestätigt war,14 das „Tauziehen“ der Institutionen begann. 3. Die Partizipation und die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland
In einem besonderen Maße war die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in der Bundesrepublik Deutschland an dem spannungsreichen Aushandlungsprozess der Bedingungen der Begegnung beteiligt, da sie massiv versuchte, Einfluss auf die Gestaltung des Besuches zu nehmen. Dabei hatte sie im Grunde keine unmittelbare Möglichkeit zur Einflussnahme auf dessen Ablauf, da die Gemeinde in Rom keine Auslandsgemeinde der EKD war und ist, sondern Mitglied der im Jahr 1949 gegründeten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien (ELKI).15 Bereits seit dem 23. Februar 1982 wusste die EKD aufgrund eines Schreibens des Pfarrers der Gemeinde in Rom, Dekan Meyer, von der Einladung an Johannes Paul II.16 Aktiv wurde sie jedoch erst, als die Nachrichtenagentur „idea“ am 7. Ok14 Vgl. Landeskirchliches Archiv Hannover. D 15 XI Nr. A 0022. Schreiben von Klaus Kremkau (Mitarbeiter im Kirchlichen Außenamt der EKD) an den Vorsitzenden des Rates der EKD, Landesbischof Prof. Dr. E. Lohse und den Leitenden Bischof der VELKD, Bischof K. Stoll vom 21. Oktober 1982 über einen Besuch Kremkaus bei Dekan Meyer in Rom. 15 Eine kleine Vereinigung von 15 (zumeist deutschsprachigen) Gemeinden mit 18 Pfarrern und gerade einmal 7000 Mitgliedern (siehe dazu Norbert Denecke: Spurensuche. Die Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien, Erlangen 1999). 16 Vgl. Landeskirchliches Archiv Hannover, D 15 XI Nr. A 0022, Schreiben von Klaus Kremkau (Mitarbeiter im Kirchlichen Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland) an den Vorsitzenden des Rates der EKD, Landesbischof Prof. Dr. E. Lohse und den Leitenden Bischof der VELKD, Bischof K. Stoll vom 21. Oktober 1982 über einen Besuch Kremkaus bei Dekan Meyer in Rom.
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tober des Jahres offiziell über den Besuch berichtete. Klaus Kremkau, der spätere Leiter der Europa-Abteilung im Kirchenamt in Hannover, wurde zu Dekan Meyer entsandt. Am 21. Oktober erreichte ein Schreiben mit den Ergebnissen von Kremkaus Gespräch mit Meyer den Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof Lohse, und den Leitenden Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Bischof Stoll. In diesem war unter anderem zu lesen: Dekan Meyer legte besonderen Wert auf die Feststellung, daß es sich um einen Besuch bei der lutherischen Gemeinde in Rom und nicht etwa um einen Besuch bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien handeln werde. Die ELKI sei daher auch weder an der Vorbereitung noch an der Verantwortung für die Durchführung des Besuches beteiligt.17
Dies war eine deutliche Aussage: Nicht nur der EKD, sondern auch der ELKI sollte nach dem Wunsch der römischen Gemeinde kein Recht auf Mitsprache bei der Gestaltung des Besuches eingeräumt werden. Diese Haltung ist als umso brisanter zu verstehen, da Meyer – der Titel des Dekans zeigt es an – nicht nur Pfarrer der Gemeinde in Rom, sondern auch der Vorsitzende der ELKI war. Beim Treffen jedoch wollte er als Pfarrer auftreten und das Brustkreuz des Dekans nicht tragen. Der Besuch sollte Sache der Gemeinde bleiben: Der evangelische Pfarrer wollte den Bischof von Rom empfangen und nicht der Vorsitzende der ELKI den römisch-katholischen Pontifex. Seitens der EKD wiederum glaubte man nicht, dass diese Einstellung Bestand haben könnte, auch wenn man sich nach dieser ersten Sondierung durch Kremkau nur noch wenig Hoffnung auf „eine wesentliche Einflußnahme […] auf die Gestaltung des Besuches“18 machte. Eine solche Einwirkung hielt die EKD jedoch für notwendig, da sie 1. die Übervorteilung von Dekan Meyer durch die katholische Kirche,19 2. des Weiteren ebenso eine katholische Einfärbung der ökumenischen Bestrebungen aufgrund einseitiger Initiativen und 3. schlussendlich das nationale und internationale publizistische Echo, etwa, dass man sich zu sehr dem Katholizismus zuwenden und öffnen würde, fürchtete. Aufgrund dieser Sorgen fühlte man sich bei der EKD ausmanövriert und dachte in einem ernsten Ton über die Auswirkungen für sich und die ELKI nach. An die 17 Zit. ebenda. 18 Zit. ebenda. 19 Die „Kräfte“ zwischen der Gemeinde und dem Vatikan wurden als ungleich verteilt betrachtet, was diese Sorge hervorrief.
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Vorsitzenden von EKD und VELKD erging deshalb die klare Empfehlung, keine Einladung anzunehmen, die eventuell ausgesprochen werden würde. Ebenso sollte man keinen Vertreter entsenden.20 Auch dieser „Rat“ sprach eine deutliche Sprache: Da man nicht in die Planung des Besuches einbezogen worden war beziehungsweise nicht den gewünschten Einfluss hatte nehmen können, wollte man ihm nun auch keinen Vorschub leisten. Besonders fürchtete man sich vor einer katholischen Hegemonie über die Ausdeutung des Lutherjahres 1983. Denn zu diesem Zeitpunkt war der Besuch noch immer zwischen dem 23. und dem 29. Januar terminiert,21 die endgültige Festlegung auf den 9. Dezember 1983 sollte Dekan Meyer erst im November 1982 erfahren, an einem Tag, an dem der Vatikan auch ein Schreiben des Papstes über die Persönlichkeit Luthers veröffentlichte.22 Diese zeitliche Gleichsetzung war als klares Zeichen dafür zu verstehen, welche Bedeutung man dem Besuch zuwies. Deshalb war die Sorge groß, dass ausgerechnet der Pontifex das Lutherjahr 1983 „eröffnen“ würde. Dies durfte nach Ansicht der EKD in keinem Fall geschehen. Ein weiterer Reibungspunkt war die eingangs bereits zitierte Predigt, die Johannes Paul II. auf Wunsch der Gemeinde halten sollte und über die auch im vatikanischen Sekretariat eine genaue Vorstellung herrschte: Papst Johannes Paul II. sollte eine Viertelstunde lang sprechen, während die Predigt von Dekan Meyer nur die Hälfte der Zeit andauern sollte.23 4. Die Stimmungslage unter den westdeutschen Protestanten im Vorfeld des Besuches
In einem Artikel der Zentralausgabe des Evangelischen Pressedienstes (epd) vom 9. Dezember 1983 fasste der epd-Redakteur Joachim Schabram all diese Bedenken sehr treffend in einem Satz zusammen: „Bedeutet der Auftritt des Papstes als Pre20 Vgl. Landeskirchliches Archiv Hannover, D 15 XI Nr. A 0022, Schreiben von Klaus Kremkau (Mitarbeiter im Kirchlichen Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland) an den Vorsitzenden des Rates der EKD, Landesbischof Prof. Dr. E. Lohse und den Leitenden Bischof der VELKD, Bischof K. Stoll vom 21. Oktober 1982 über einen Besuch Kremkaus bei Dekan Meyer in Rom. 21 Vgl. ebenda. 22 Vgl. Peduto: Protestanten 1984, S. 6. 23 Schlussendlich sprach Johannes Paul II. ein paar Minuten weniger, während der Pastor ein paar Minuten mehr sprach, sodass sich die Anteile nahezu anglichen (vgl. Schlitter: Einführung 2010, S. 118).
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diger nicht zugleich eine Anerkennung des Papsttums durch eine protestantische Gemeinde?“24 Sowohl die EKD als auch viele Protestanten in der Bundesrepublik konnten und wollten diesen Schritt nicht gehen. Denn auch wenn die Wahl von Johannes Paul II. im Jahr 1978 unter den westdeutschen Protestanten noch große Hoffnungen auf eine intensive Fortführung der Ökumene erweckt hatte, so war man fünf Jahre später bereits enttäuscht. Joachim Schabram dazu in seinem Artikel: „[Der Papst] [will] möglicherwiese über die Tatsache hinwegtäuschen […], daß sich trotz aller verbalen Bekundungen in Sachen Ökumene seit seinem Amtsantritt wenig getan hat.“25 Zu dieser negativen Bewertung, die die Beliebtheit des Papstes zwar geschmälert, aber noch nicht negiert hatte, trug auch der Papstbesuch in Westdeutschland vom 15. bis 19. November 1980 bei.26 Der katholische Theologe Norbert Greinacher bemerkte in dessen Anschluss in einem Artikel der „Frankfurter Rundschau“ vom 20. November 1980, dass „durch den Deutschlandbesuch des Papstes in den Sachfragen zwischen den beiden christlichen Konfessionen ‚überhaupt nichts geschehen‘“27 sei. Lediglich die Spontanität und die Güte des Pontifex hätten überzeugt, so Greinacher weiter. In der Tat waren diese beiden Eigenschaften Faktoren, die bei vielen westdeutschen Protestanten noch immer trugen, sodass Johannes Paul II. in den protestantischen Teilen der westdeutschen Gesellschaft bisweilen relativ beliebt blieb.28 Dabei halfen auch Bilder, die ihn als Privatier zeigten, etwa beim Skifahren und bei anderen nicht amtlichen Aktivitäten, die die Gläubigen aus ihrem eigenen Leben und ihrem eigenen Alltag kannten. Kaum ein anderer Papst hatte sich zuvor so privat präsentiert und war 24 Zit. Hans Joachim Schabram: Viel Wirbel um einen Adventsgottesdienst. Umstrittener Papstbesuch bei der lutherischen Gemeinde in Rom, epd-Zentralausgabe vom 9. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 2 f., hier S. 2. 25 Zit. ebenda. 26 Vgl. George Weigel: Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Eine Biographie, 3. erweiterte Auflage, Paderborn u. a. 2011, S. 397 f. 27 Zit. Landeskirchliches Archiv Hannover, S 9a Nr. 170, Artikel des Korrespondenten Peter Henkel der Frankfurter Rundschau vom 20. November 1980 über die Ansichten des Theologen Norbert Greinacher. 28 Zumindest im Vergleich zu seiner späteren Amtszeit: Waren in den 1980er-Jahren noch knapp über zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung von Johannes Paul II. begeistert, sank dieser Wert in den 1990er-Jahren auf unter ein Drittel (vgl. Petra E. Dorsch-Jungsberger: Papstkirche und Volkskirche im Konflikt. Die Kommunikationsstrategien von Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus, in: Walter Hömberg/Michael Schmolke (Hg.): Religion – Medien – Kommunikation, Band 7, Berlin 2014, S. 331).
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damit auch den Anhängern der „anderen“ Konfession nahe gekommen. Problematisch und spannungsgeladen blieb jedoch die Tatsache, dass Johannes Paul II. gleichzeitig zahlreiche protestantische Wünsche nach Annäherung, zum Beispiel nach der Öffnung der katholischen Eucharistie für Protestanten, ablehnte, wie es ein Schreiben des epd vom 27. November 1980 eindrücklich darlegt.29 In diesen Dingen hatten die westdeutschen Protestanten sich mehr vom polnischen Pontifex erhofft, weshalb ihm eine noch größere und umfassendere Wirkung unter ihnen verwehrt blieb. Trotzdem waren sie weiter an spezifischen Handlungen und Worten des Papstes interessiert und verfolgten sie in den zahlreichen Medien der Bundesrepublik. 5. Die mediale Rezeption des Besuches in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)
Im deutschen Bruderstaat sind zur gleichen Zeit in der Partizipation an spezifischen Papsthandlungen, wie dem Besuch der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Rom, erhebliche Abweichungen festzustellen. Zum einen gab es vom Bund der evangelischen Kirchen (BEK), der die ostdeutschen Protestanten vertrat, faktisch keine Wortmeldungen im Vorfeld des Besuches. Auch wurde nicht versucht, einen gewissen Einfluss auf diesen zu nehmen. Eine Behandlung des Besuches, geschweige denn eine Aushandlung über ihn, fand innerhalb der BEK nicht statt. Ebenso gab es auch in der ostdeutschen Presse im Vorfeld keine Berichterstattung: nicht in den kirchlichen Medien wie der evangelischen Wochenzeitung „Die Kirche“ oder den Amtsblättern der Kirchenprovinzen, aber auch nicht in weltlichen Zeitungen wie „Neues Deutschland“ oder der „Berliner Zeitung“. Die Bürger der DDR hatten de facto keine Möglichkeit, im Vorfeld des Besuches von diesem zu erfahren. Und auch in dessen Anschluss blieb die Berichterstattung über ihn außerordentlich spärlich. Der einzig auffindbare Bericht erschien in der Zeitung „Neue Zeit“. Diese druckte am 13. Dezember 198330 – zwei Tage nach dem Besuch – auf Seite zwei einen kleinen Artikel, der wie folgt übertitelt war: „Papst Johannes 29 Vgl. Landeskirchliches Archiv Hannover, 59a Nr. 170. epd-Schreiben Nr. 197/80 vom 27. November 1980. 30 Papst Johannes Paul II. besuchte evang.-lutherische Gemeinde in Rom, Neue Zeit, Zentralorgan der DDR-CDU, Berlin Ost vom 13. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 32.
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Paul II. besuchte evang.-lutherische Gemeinde in Rom. Ein ‚lokales Ereignis‘ mit ökumenischer Perspektive“.31 Interessant und aufschlussreich für die ostdeutsche Lesart des Besuches ist, wie dieser Artikel dessen Zustandekommen beschreibt: „Papst Johannes Paul II. hat am Sonntag an einem Gottesdienst der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Rom teilgenommen. Auf dem Rückweg von einem Besuch in der katholischen Pfarrei San Camillo begab er sich in die evangelisch-lutherische Pfarrkirche, wo er als ‚Bischof von Rom‘ begrüßt wurde.“32 Die Darstellung der „Neuen Zeit“ ist grundsätzlich nicht fehlerhaft, doch stark tendenziös. Im Spiegel des Zustandekommens des Besuches, dem ebenso eine lange Planungsphase vorausgegangen war, wie die zahlreichen Aktionen und Reaktionen der verschiedenen beteiligten Parteien belegen, war diese Beschreibung eine zumindest fragwürdige Darstellung. Was die Bürger der DDR hier zu lesen bekamen, klang vollkommen spontan; wie ein kurzer, fast zufälliger Halt auf dem Weg zu einem anderen Ziel. Die Bedeutung und die Besonderheit des Ereignisses wurden vermindert wiedergegeben. Dies hatte neben der grundsätzlich religionsfeindlichen Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) eine besondere Ursache, die wiederum spezifisch die Situation im Jahr 1983 betraf. Denn auch der sozialistische Staat hatte ein Jubiläum zu feiern: den 100. Todestag des ideologischen Urvaters Karl Marx. Sollte 1983 für die Bürger der Bundeszu einem Lutherjahr und dessen Geburt gefeiert werden, so war das Jahr aus der Sicht der SED alleinig dem Tod des Verfassers des „Kapitals“ vorbehalten. Trotzdem war ein halbes Jahrtausend Luther nicht so einfach zu übergehen, allein schon, da sich zahlreiche zentrale Stätten seines Lebens und Wirkens auf dem Territorium des „sozialistischen“ Staates befanden. Die Führung der SED ging deshalb das Thema Luther betreffend in die Offensive: Über 100 Bücher, Schallplatten und Bildbände brachten DDR-Verlage im Jahr 1983 über ihn heraus. Der sonst in der DDR so zurückgestellt behandelte Reformator wurde mithilfe der sogenannten marxistischen Lutherforschung zu einem frühbürgerlichen Revolutionär33 stilisiert – einem Visionär und Wegbereiter –, die Reformation und die mit ihr verbundene Abnabelung vom römischen Papsttum inszenierte die Staatsführung als einen Schritt und einen Fortschritt auf dem Weg zum Sozialismus. Für einen gesellschaftlichen
31 Zit. ebenda. 32 Zit. ebenda. 33 Eine Rolle, die in der DDR sonst eher dem Reformator und Theologen Thomas Müntzer vorbehalten gewesen war.
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Diskurs über die Bedeutung einer Annäherung zwischen den Konfessionen war deshalb 1983 in der Presse der DDR kein Platz. 6. Die mediale Rezeption des Besuches in der Bundesrepublik
Betrachtet man hingegen die zahlreichen Artikel, die vor und nach dem Besuch in der westdeutschen Presse erschienen sind, zeichnet sich ein ganz anderes Bild ab: Ausführlich wurde bereits im Vorfeld über die Bedeutung des Besuches berichtet. In der „Kölnischen Rundschau“ vom 9. Dezember 1983 wurden – die Gedanken glichen hier den Sorgen des oben bereits zu Wort gekommenen epd-Redakteurs Schabram – die Bedeutung des Besuches für die Anerkennung des Päpstlichen und des Papstes durch protestantische Gläubige und die Folgen für die eigenen Gemeinschaften diskutiert: „Hinter solcher Vorsicht steckt die Sorge um Manipulationen, um ein Aufbauschen des Ereignisses, noch mehr jedoch darum, in den eigenen Reihen niemanden vor den Kopf zu stoßen.“34 Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hingegen teilte diese Befürchtungen nicht und bezeichnete den Besuch am 10. Dezember 1983 – also einen Tag vor seinem Stattfinden – als „historische Tat“35; und zwar ausdrücklich von Johannes Paul II. und nicht von den einladenden Protestanten. Am gleichen Tag brachte der „Weser-Kurier“ noch einmal ein brisantes Gerücht auf, welches im Vorfeld des Besuches immer wieder im Raum gestanden hatte: Dass Johannes Paul II. und der evangelische Pfarrer Meyer – an dieser Stelle von der Zeitung explizit nicht als Dekan bezeichnet – gemeinsam das Abendmahl feiern würden.36 Die letzte öffentlich umfassend geführte Diskussion um ein gemeinsames Abendmahl hatte es in der Bundesrepublik zuvor während und im Anschluss an den Deutschlandbesuch von Johannes Paul II. im November 1980 gegeben. Bedenkt man die ablehnende Haltung des Wojtyla-Papstes gegenüber der gemeinsamen Eucharistie zu diesem Anlass, wäre das gemeinsame 34 Zit. Peduto: Protestanten 1984, S. 6. 35 Zit. Heinz-Joachim Fischer: Der Papst geht zum Pastor. Der gemeinsame Gottesdienst in der evangelischen Christus-Kirche in Rom – eine historische Tat, Frankfurter Allgemeine Rundschau vom 10. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 8. 36 Vgl. Wolfgang Saile: Der Papst kommt zu den Lutheranern. Mit Eintrittskarte zum Gottesdienst, Weser-Kurier vom 10. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 7.
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Abendmahl in der Tat theologisch und religiös gesehen eine Sensation gewesen und dass der „Weser-Kurier“ das Gerücht zu diesem Zeitpunkt noch einmal erwähnte, ist als ein weiterer Beitrag zum Diskurs über die gemeinsame Eucharistie zu verstehen, der nach der öffentlichen Aushandlung 1980 im Jahr 1983 weiter anhielt37 – und heute noch immer nicht abgeschlossen ist. Die westdeutsche Diskussion um und über den Besuch richtete jedoch nicht ihr Hauptaugenmerk auf die Frage des Abendmahles, sondern versuchte, das Ereignis unter möglichst vielen Aspekten zu betrachten. Zu den diversen Äußerungen über den Besuch zählen dadurch auch Leserbriefe, wie sie zum Beispiel in der „Hannoverschen Zeitung“ vom 2. Dezember 1983 zu lesen waren. Der evangelische Pastor Klaus-Eberhard Sander, der von 1964 bis 1970 selbst Pfarrer der evangelischlutherischen Gemeinde in Rom gewesen war, bezog in einem Leserbrief Stellung: Für ihn war der Besuch kein Zeichen des Respekts vor der lutherischen Auslegung des Protestantismus, sondern vor der gesamten reformatorischen Bewegung in all ihren Ausprägungen.38 Diese wenigen Beispiele sollen nur als ausgewählte Schlaglichter einer lebendig geführten Debatte dienen, die von den in der Bundesrepublik lebenden protestantischen Christen geteilt und wahrgenommen werden konnte und auch wahrgenommen wurde. 7. Gedanken über Papst und Papsttum in der DDR
Die Bürger der DDR hatten die Möglichkeit zu einer solch offenen und mittels der Printmedien geführten Debatte nicht. Da, wie oben bereits dargestellt, der einzige Zeitungsartikel in der DDR, der das Thema des Besuches behandelte, erst einen Tag nach seinem Geschehen erschien, konnte in der Bevölkerung kaum ein Nach37 Ein Beleg dafür ist zum Beispiel die gegenseitige Einladung zur gemeinsamen Eucharistie aus dem Jahr 1985, zwischen der EKD und dem Bistum der Altkatholiken in Deutschland (vgl. Harding Meyer/Günther Gaßmann: Rechtfertigung im ökumenischen Dialog, in: Dies./Marc Lienhard (Hg.): Ökumenische Perspektiven, Band 12, Frankfurt am Main 1987, S. 250). 38 Vgl. Klaus-Eberhard Sander: Wird die Predigt des Papstes den Protestanten mehr schaden als nützen?. Leserbrief zum Artikel „Roms Lutheraner sind voll banger Erwartung“ in der Ausgabe vom 12./13. November 1983 in Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 2. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 5.
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denken oder Reflektieren über diesen einsetzen. Die Quellen belegen trotz dieser massiven Einschränkung, dass es in den frühen 1980er-Jahren auch bei den Protestanten in der DDR eine rege und kontrovers geführte Debatte über den Umgang mit Papst und Papstamt gab. So schrieb zum Beispiel der Pfarrer Alfred Beuse aus Schönebeck an der Elbe am 13. August 1984 an den Superintendenten Ernst Neugebauer des Pastoralkollegs Gnadau: Seit über 2 Jahrzehnten ist mir die Wiedervereinigung mit der römischen Kirche ein dringliches Anliegen. Neben allen anderen Lehrgesprächen erscheint es mir als eine vordringliche Aufgabe unserer Zeit, daß unsere ev. Kirche ein positives Verhältnis zum Petrusamt, dem Amt des Papstes, mit seiner Letztverbindlichkeit gewinnt.39
Diese Worte waren zu Beginn des Schreibens von Beuse zu lesen, der sich vornehmlich mit dem Thema der Wiedervereinigung der evangelischen mit der katholischen Kirche beschäftigte. Der protestantische Pfarrer bekräftigte in seinen Worten nicht nur seinen Wunsch nach einer Einigkeit der Kirchen unter dem Amt des Pontifex, sondern er lieferte zumindest unterschwellig eine Begründung für diesen Wunsch mit: Es war die „Letztverbindlichkeit“40 des Papstamtes, die ihn anzog. Mit diesem Wunsch war er nicht allein, sondern er gehörte vielmehr einer ganzen Strömung in der DDR an, die sich zu Beginn der 1980er-Jahre für eine „Wiedervereinigung“ einsetzte. Entsprechend deutete Beuse auch das Motto des evangelischen Kirchentages, den er im Jahr 1983 in Magdeburg erlebte. Dieses lautete: „Vertrauen wagen“41. Beuse bemerkte zu diesem Motto gegen Ende seines Schreibens: „Auf dem Magdeburger Kirchentag 1983 ist von der ‚Einheit in versöhnter Verschiedenheit[‘] gesprochen worden. Ich wünsche mir eine ev. Kirche, die eine kooperative Vereinigung mit der röm.-kath. Kirche eingeht.“ Diese Hoffnung stand der im Lutherjahr 1983 von der Führung der SED verfolgten Auslegung des Reformators und „seiner“ Reformation diametral entgegen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass sich die BEK in Bezug auf dieses Thema gegenüber ihren Anhängern bedeckt hielt und eine vorsichtige Rhetorik walten ließ. Beispielhaft ausgedrückt wird diese in einem Schreiben, das der Magdebur39 Zit. Archiv der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Rep. D5 Nr. 112, Schreiben des Pfarrers Alfred Beuse an den Superintendenten des Pastoralkollegs Gnadau vom 13. August 1984. 40 Zit. ebenda. 41 Zit. Raina Zimmering: Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen 2000, S. 170.
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ger Bischof Werner Krusche am 15. August 1983 als Antwort auf einen Brief der evangelischen Schwester Sabine Franz vom 27. Februar desselben Jahres verfasste. Franz hatte sich an den Bischof mit drei Fragen über ihren Glauben gewendet, wovon die dritte das Verhältnis von evangelischer Kirche und dem „Petrusamt“ betraf: Der dritte Punkt […] ist möglicherweise der Schwierigste. Hier kommt es darauf an, was Sie unter dem ‚biblischen Petrusamt‘ verstehen. Um es gleich vorweg zu sagen: wenn Sie das ‚biblische Petrusamt‘ mit dem Amt des römischen Papstes identifizieren sollten, so wie es im 1. Vatikanischen Konzil dogmatisiert worden ist, und dieses so verstandene Amt als wesensnotwendig für die Kirche Christi auf Erden und seine Anerkennung als heilsnotwendig ansehen würden, wären Sie nicht mehr in Übereinstimmung mit der Lehre unserer Kirche. Diese Aussagen […] machen eine ökumenische Verständigung über den Petrusdienst unmöglich.42
Anders als im Fall Beuses ist bei Krusches Antwort der Wunsch nach der „Letztverbindlichkeit“43 nicht nur nicht zu erkennen, sondern geradezu ausgeschlossen. Ob diese Ausrichtung auf den persönlichen oder offiziellen Ansichten des Bischofes beruhte oder ob man sich seitens der BEK schlicht auf Linie gegenüber der SED-Führung befand, ist an dieser Stelle nur schwer nachzuvollziehen und soll daher nicht weiter diskutiert werden. Wichtig jedoch ist, dass die Einlassung von Beuse, aber auch die Fragen von Franz, aufzeigen, dass es abseits von der „klassischen“ protestantischen Lehrmeinung auch noch andere Strömungen gab, die dafür sorgten, dass auch die Bürger der DDR ihren Anteil an Papst und Papsttum hatten, jedoch war die Art und Weise zu der in der Bundesrepublik divergent. Anders als ihre Glaubensbrüder in der Bundesrepublik waren sie nicht ohne weiteres in der Lage, sich über bestimmte aktuelle Entwicklungen auszutauschen und diese frei im Spiegel aktueller politischer Entwicklungen zu betrachten.
42 Zit. Archiv der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Rep. A. Generalia Nr. 5413, Antwortschreiben vom Magdeburger Bischof Werner Krusche auf einen Brief von Schwester Sabine Franz (Brief ist nicht erhalten) vom 27. Februar 1983. 43 Zit. Archiv der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Rep. D5 Nr. 112, Schreiben des Pfarrers Alfred Beuse an den Superintendenten des Pastoralkollegs Gnadau vom 13. August 1984.
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8. Die Bedeutung des Besuches
Für einen solchen Austausch, der nicht am „Eisernen Vorhang“ stoppte, wurde das Ereignis auch in einem zu geringen Maße über Fernsehen und Radio rezipiert. In der Bundesrepublik, für die eine starke Rezeption nachzuweisen ist, blieb das Nachdenken über die Bedeutung des Papstbesuches ein Phänomen der Printmedien. Betrachtet man zusätzlich, dass sich der Besuch fast ausschließlich in protestantischen Quellen niederschlug und in den katholischen kaum bis keine Vermerke über den Besuch zu finden sind, wird auch klar, warum dies der Fall war: Der Pontifex in einer evangelisch-lutherischen Kirche interessierte im Jahr 1983 vor allem die Protestanten. Ganz im Gegensatz zum Papstbesuch 1980 in der Bundesrepublik, der die meisten Bundesbürger – ob Katholiken, Protestanten oder Nichtgläubige – interessierte, bisweilen mit sich riss und deshalb auch entsprechend in Fernsehen und Radio aufgenommen und rezipiert wurde. Für die vergleichende Forschung über die Partizipation von Protestanten in Ostund Westdeutschland am Papsttum und den Päpsten eröffnet sich an dieser Stelle ein grundlegendes Problem: die unterschiedliche Informationszugänglichkeit in Demokratien und Diktaturen. Jedoch zeigen gerade die angeführten Quellen, dass der Zugang zu tagesaktuellen Informationen zwar die Art der Beschäftigung mit dem Thema der Vereinbarkeit zwischen Protestantismus und Petrusamt veränderte, nicht jedoch das grundlegende Bedürfnis eine solche zu erreichen. Nachgedacht wurde dabei nicht nur über die Person Johannes Paul II., sondern über das Petrusamt selbst. Die Neuheiten und Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils lagen zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Jahre zurück, ihre Bedeutung für eine veränderte und positivere Wahrnehmung des Papstamtes trugen jedoch noch immer. Denn das Zweite Vatikanum, das oftmals – und vollkommen zu Recht – als ein Schritt des Papsttums in die Welt verstanden wird, als eine Öffnung,44 war im gleichen Atemzug auch ein Zurücktreten von der Absolutheit des Amtes, wie sie im Ersten Vatikanum propagiert worden war45: „Johannes Paul predigte nach dem 44 Siehe dazu: Helmut Krätzl: Das Konzil – ein Sprung vorwärts. Ein Zeitzeuge zieht Bilanz, Innsbruck 2012. 45 Zwar wurde das Dogma der Unfehlbarkeit auch im Zweiten Vatikanischen Konzil ohne Einschränkungen bestätigt (vgl. Lutherisch-Katholische Gruppe von Farfa Sabina: Gemeinschaft der Kirchen und Petrusamt. Lutherisch-katholische Annäherungen, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2011, S. 67 f.), jedoch wurde diese Bestätigung in der Öffentlichkeit nur wenig oder gar nicht wahrgenommen. Für Papst Johannes Paul II. stand die Unfehlbarkeit ebenso nicht zur Debatte (vgl. Rüdiger Achenbach/Helmut Kriege: Die Päpste und die Macht, 2. überarbeitete Auflage, Düsseldorf u.a. 2002, S. 259).
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Manuskript, ohne jedes rhetorisches Pathos, als ob er ganz in den Hintergrund rücken wollte.“46 schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 13. Dezember 1982. Und die „Bild“ berichtete am gleichen Tag: „Dank dem Papst, der sich einladen ließ. Dank der evangelischen Gemeinde, die ihn eingeladen hat.“47 Auch das waren die neuen Möglichkeiten in Folge des Konzils: Das Heraustreten in die Welt konnte nun – trotz aller Probleme und Diskrepanzen – geschehen, ohne aufdringlich oder dogmatisch zu sein. 9. Was blieb?
Für die nächsten beiden Jahre blieb das Interesse am Besuch noch ungebrochen, wie Schreiben an die deutsche evangelisch-lutherische Gemeinde in Rom belegen. Am 29. Mai 1984 zum Beispiel ging ein Brief einer wahrscheinlich aus dem Vereinigten Königreich stammenden niedersächsischen Fremdsprachenassistentin bei der deutschen-evangelischen Gemeinde in Rom mit dem folgenden Inhalt ein: Sehr geehrter dienender Pfarrer, Ich heiße Lynn J.48 und ich studiere Deutsch und Französisch in Schottland. Seit September 1983 bin ich als Fremdsprachenassistentin an einem Gymnasium hier in Wolfsburg tätig. Im Augenblick arbeite ich an einer sehr wichtigen Diplomarbeit. Mein Titel heißt: ‚Die katholische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland und Martin Luther über die Jahre‘. Natürlich habe ich im November 1983 mit großem Interesse von der Absicht des Papst[es] Johannes Paul II[.] gelesen, in einem evangelischen Gottesdienst zu predigen. Diese[n] Gottesdienst hat er bei Ihnen gehalten. Meine Frage ist diese – Wurde diese so wichtige Predigt aufgeschrieben und ist sie inzwischen in irgendeiner Form herausgegeben worden? Der Inhalt von Papst Johannes Paul II. Predigt w[…][ü]rde mir natürlich eine große Hilfe für meine Arbeit leisten! Ich freue mich auf Ihre Antwort!“49
46 Zit. Fischer: Papst 1984, S. 8. 47 Vgl. Pfarrer Sommerauer: Heute wichtig, Evangelische Kirche und Papst, in: BILD (Ausgabe Hamburg) vom 13. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 19. 48 Der Name wurde aus Gründen der Anonymisierung abgekürzt. 49 Zit. Archiv der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde in Rom, GR 160-1 (Band 2).
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Dieser Brief in der mittelbaren Folge des Besuches zeigt noch einmal, welche Bedeutung dem Besuch in der Zeit zugekommen war, selbst wenn der Inhalt der Predigt offensichtlich nicht allgemein zugänglich gewesen ist. Ein weiterer Brief an die Gemeinde vom 15. April 1985 illustriert gleichwohl, wie gering trotzdem seine Halbwertszeit war. Ein Karlsruher Professor fragte in diesem: Sehr geehrter lieber Herr Pfarrer! Gestatten Sie mir eine Anfrage: im vergangenen oder wahrscheinlich im vorvergangenen Jahr 1983 hat meiner Erinnerung nach Papst Johannes Paul II. anlässlich des Lutherjahres einmal Ihre Kirche besucht. Ich wüsste gern, an welchem Tage dies geschah. Wenn Sie mir darüber hinaus auch einige Worte darüber, wie dieser Besuch verlaufen ist, mitteilen wollten, würde ich mich freuen, will Ihnen aber keine große Mühe damit machen.50
Trotz der intensiven printmedialen Berichterstattung in der zweiten Jahreshälfte 1983 war ihm bereits Mitte 1985 nicht einmal mehr das Datum gewahr. In der Folge reißen weitere Nachfragen oder Äußerungen zu diesem Thema auch fast komplett ab, es sei denn, es stand ein neuer Papstbesuch wie 2010 durch Benedikt XVI. oder 2015 durch Franziskus an: Dann wurde in den Medien jeweils der erste Besuch in einer evangelischen Kirche durch ein katholisches Kirchenoberhaupt wieder aufgegriffen. Nur auf wenigen Medienplattformen findet er auch in diesem Kontext überhaupt noch eine Erwähnung.51 Im Kontext der historischen Forschung ist der Besuch in seiner theologischen und ökumenischen Bedeutung fast gänzlich vergessen. Wie die hier angeführten Briefe belegen, die nur wenige Monate beziehungsweise Jahre nach dem Besuch abrissen, ist das „Vergessen“ des Besuches kein Phänomen unserer Zeit, sondern setzte rasch ein. Auch findet weder in den zahlreichen Biographien, die bisher über das Leben und die Handlungen Johannes Pauls II. erschienen sind,52 noch in den Werken, die
50 Zit. Archiv der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde in Rom, GR 160-1 (Band 3), Unterstreichung im Original. 51 Als Beispiel sei an dieser Stelle eine Website angeführt, die unter „Papst Johannes Paul II. – Wichtige Stationen in seinem Leben“ auch den Besuch in der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde im Dezember 1983 aufführt (vgl. http://www.medienwerkstatt-online. de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=1971, letzter Zugriff: 09.05.2017). 52 Siehe dazu beispielhaft Andreas Englisch: Johannes Paul II. Das Geheimnis des Karol Wojtyla, München 2003 oder George Weigel: Der Papst der Freiheit – Johannes Paul II. Seine letzten Jahre und sein Vermächtnis, Paderborn u.a. 2010.
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sich spezifisch mit dem interreligiösen Dialog in dieser Zeit beschäftigen,53 das Ereignis einen herausgehobenen Platz.54 Dieser Umstand mag auch damit begründet sein, dass der polnische Papst in den folgenden Jahren zahlreiche weitere „erste Schritte“ unternahm, die damals wie heute noch außergewöhnlicher als die Predigt von einer Kanzel für eine evangelisch-lutherische Gemeinde waren – der Besuch der römischen Synagoge und die dortige Predigt am 13. April 198655 gehören zweifellos zu diesen Dingen und lassen den Besuch der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde geradezu als eine „Generalprobe“ für das Kommende erscheinen. Dass aus dem Besuch trotzdem mehr als eine Einmaligkeit, nämlich eine kleine Tradition geworden ist, liegt vielleicht auch in der Nachfolge Johannes Pauls begründet: Denn als der polnische Pontifex als erstes katholisches Religionsoberhaupt eine evangelische Kirche betrat, betrat er ein Gotteshaus, in dem zu dieser Zeit noch fast ausschließlich die deutsche Sprache – heute herrscht auch hier das Italienische vor56 – gesprochen wurde – die Sprache des Reformators Martin Luther. Auch dieser Umstand ist nicht als Zufall, sondern als Zeichen der Annäherung zu verstehen, das jedoch weniger aus der Vita des polnischen Papstes und seiner Zeit unter der deutschen Besatzung zwischen 1939 und 194557 gelesen werden sollte, sondern aus der Bedeutung des deutschen respektive mitteldeutschen Raumes für die reformatorische Bewegung. Sein Nachfolger Benedikt XVI., der „deutsche Papst“58, wird wohl auch aufgrund dieser Verbindung über 20 Jahre später noch einmal zur deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde in Rom gegangen sein. Mit diesem zweiten Besuch war der Grundstein für mehr gelegt, sodass es geradezu plausibel erscheint, dass auch Franziskus die Gemeinde aufsuchte, um zu predigen. Und was er dort sagte, ist sowohl ein Hinweis darauf, warum der Besuch Johannes Pauls II. heute weitgehend vergessen ist, als auch darauf, welche 53 Siehe dazu beispielhaft Ernst Fürlinger: „Der Dialog muss weitergehen“. Ausgewählte vatikanische Dokumente zum interreligiösen Dialog (1964-2008), Freiburg im Breisgau 2009. 54 Eine kurze Erwähnung des Besuches findet sich in Weigel: Zeuge 2011, S. 492. 55 Vgl. https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/speeches/1986/april/documents/hf_jpii_spe_19860413_sinagoga-roma.html, letzter Zugriff: 15.05.2017. 56 Vgl. Schlitter: Einführung 2010, S. 116. 57 Vgl. Josef Gelmi: Die Päpste in Kurzbiographien. Von Petrus bis Benedikt XVI., 2. erweiterte Auflage, Limburg-Kevelaer 2005, S. 161. 58 Am deutlichsten wurde dieses Gefühl wohl durch die Bildschlagzeile „Wir sind Papst!“ vom 20. April 2005 zum Ausdruck gebracht (vgl. http://www.bild.de/media/vw-wir-sind-papstpdf-40595960/Download/3.bild.pdf, letzter Zugriff: 18.05.2017 und http://www.bild.de/politik/inland/papst/die-geschichte-der-bild-schlagzeile-40593824.bild.html#fromWall, letzter Zugriff: 18.05.2017).
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Bedeutung ihm grundsätzlich zugemessen werden muss: „Die ökumenische Bewegung ist heute ein grundlegendes Element im Leben unserer Gemeinschaften geworden.“59 Die Ökumene aus der Sicht eines katholischen Religionsoberhauptes als etwas Selbstverständliches und Alltägliches – im Jahr 1983 war dies noch nicht der Fall gewesen. Der Besuch war vielleicht nicht einer der ersten und nicht einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zu diesem Verständnis, aber er war ein unverzichtbarer. Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen Archiv der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde in Rom GR 160-1 (Band 2). GR 160-1 (Band 3). Archiv der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen Rep. D5 Nr. 112. Rep. A. Generalia Nr. 5413. Landeskirchliches Archiv Hannover 59a Nr. 170. D 15 XI Nr. A 0022. S 9a Nr. 170. Fischer, Heinz-Joachim: Der Papst geht zum Pastor. Der gemeinsame Gottesdienst in der evangelischen Christus-Kirche in Rom – eine historische Tat, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche, Die Predigt. Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 8. „Mit Herrn Luther ist alles in Butter“. Wie die SED den 500. Geburtstag des Reformators feiert, in: Der Spiegel, Nr. 10, 1983, S. 103–113. Papst Johannes Paul II. besuchte evang.-lutherische Gemeinde in Rom, Neue Zeit, Zentralorgan der DDR-CDU, Berlin Ost vom 13. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 32. 59 Zit. https://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/november/documents/ papa-francesco_20151115_chiesa-evangelica-luterana.html, letzter Zugriff: 15.05.2017.
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Peduto, Christa: Vorsichtig heißen die Protestanten den Papst willkommen. Einladung der deutschen-lutherischen Christusgemeinde an das katholische Kirchenoberhaupt gilt nur dem „Bischof von Rom“, Kölnische Rundschau vom 9. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 6. Pfarrer Sommerauer: Heute wichtig, Evangelische Kirche und Papst., BILD (Ausgabe Hamburg) vom 13. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 19. Saile, Wolfgang: Der Papst kommt zu den Lutheranern. Mit Eintrittskarte zum Gottesdienst, Weser-Kurier vom 10. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 7. Sander, Klaus-Eberhard: Wird die Predigt des Papstes den Protestanten mehr schaden als nützen. Leserbrief zum Artikel „Roms Lutheraner sind voll banger Erwartung in der Ausgabe vom 12./13. November 1983 in Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 2. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 5. Schabram, Hans Joachim: Viel Wirbel um einen Adventsgottesdienst. Umstrittener Papstbesuch bei der lutherischen Gemeinde in Rom, epd-Zentralausgabe vom 9. Dezember 1983, in: Evangelischer Pressedienst (Hg.): Der Papst in einer lutherischen Kirche. Die Predigt, Berichte und Kommentare, Brief zu Luther, ergänzende Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 2 f. Literatur Achenbach, Rüdiger/Kriege, Helmut: Die Päpste und die Macht, 2. überarbeitete Auflage, Düsseldorf u.a. 2002. Die Gruppe von Farfa Sabina: Gemeinschaft der Kirchen und Petrusamt. Lutherisch-katholische Annäherungen, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2011. Dorsch-Jungsberger, Petra E.: Papstkirche und Volkskirche im Konflikt. Die Kommunikationsstrategien von Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus, in: Walter Hömberg/Michael Schmolke (Hg.): Religion – Medien – Kommunikation, Band 7, Berlin 2014, S. 331. Englisch, Andreas: Johannes Paul II. Das Geheimnis des Karol Wojtyla, München 2003.
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Fürlinger, Ernst: „Der Dialog muss weitergehen“. Ausgewählte vatikanische Dokumente zum interreligiösen Dialog (1964–2008), Freiburg im Breisgau 2009. Gelmi, Josef: Die Päpste in Kurzbiographien. Von Petrus bis Benedikt XVI., 2. erweiterte Auflage, Limburg-Kevelaer 2005. Krätzl, Helmut, Das Konzil – ein Sprung vorwärts. Ein Zeitzeuge zieht Bilanz, Innsbruck 2012. Lutherisch-Katholische Gruppe von Farfa Sabina: Gemeinschaft der Kirchen und Petrusamt. Lutherisch-katholische Annäherungen, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2011. Meyer, Harding/Gaßmann, Günther: Rechtfertigung im ökumenischen Dialog, in: Dies./Marc Lienhard (Hg.): Ökumenische Perspektiven, Band 12, Frankfurt am Main 1987. Schlitter, Horst: Einführung. Wie wir den polnischen Papst einluden, in: Jürgen Krüger/Jens-Martin Kruse (Hg.): Ökumene in Rom. Erfahrungen, Begegnungen und Perspektiven der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Rom, Karlsruhe 2010, S. 114–124. Weigel, George: Der Papst der Freiheit. Johannes Paul II. Seine letzten Jahre und sein Vermächtnis, Paderborn u.a. 2010. Weigel, George: Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Eine Biographie, 3. erweiterte Auflage, Paderborn u.a. 2011. Zimmering, Raina: Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen 2000. Internetbelege https://cruxnow.com/vatican/2017/02/17/pope-francis-visit-romes-anglicancommunity/, letzter Zugriff: 27.04.2017. http://ekiba.de/html/aktuell/aktuell_u.html?t=687a223720ee00087508d96b7 c6552a0&tto=e65af13a&&cataktuell=&m=2359&artikel=9282&stichwort_ aktuell=&default=true, letzter Zugriff: 04.05.2017. https://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/november/documents/papa-francesco_20151115_chiesa-evangelica-luterana.html, letzter Zugriff: 15.05.2017. https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/speeches/1986/april/documents/ hf_jp-ii_spe_19860413_sinagoga-roma.html, letzter Zugriff: 15.05.2017. http://www.bild.de/media/vw-wir-sind-papst-pdf-40595960/Download/3.bild. pdf, letzter Zugriff: 18.05.2017. http://www.bild.de/politik/inland/papst/die-geschichte-der-bild-schlagzeile40593824.bild.html#fromWall, letzter Zugriff: 18.05.2017.
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https://www.commonwealmagazine.org/doctrinal-authority-francis-era, letzter Zugriff: 27.04.2017. https://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2015_11_16_papst_christuskirche_ rom.html, letzter Zugriff: 27.04.2017. http://www.evangelische-zeitung.de/nachrichten/top-thema/news-detailtop-thema/nachricht/der-papst-zu-gast-im-gottesdienst.html, letzter Zugriff: 04.05.2017. http://www.medienwerkstatt-online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard. php?id=1971, letzter Zugriff: 09.05.2017. https://www.youtube.com/watch?v=jHM7s1tmYaQ, letzter Zugriff: 04.05.2017. https://zenit.org/articles/pope-s-visit-to-lutheran-community-in-rome/, letzter Zugriff: 27.04.2017.
Ulrike Treusch
Mediales Interesse und ökumenische Annäherung? Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus und der deutsche Protestantismus „Habemus papam“ schallte es im April 2005 in alle Welt und durch die Medien. Die deutsche Tageszeitung „BILD“ konstatierte: „Wir sind Papst“.1 Schon bei der Bekanntgabe, dass Kardinal Joseph Ratzinger der neue Papst sei, wurden auf dem Petersplatz Deutschlandfahnen geschwenkt, und in den ersten Tagen nach der Wahl des neuen Pontifex zeichnete sich in der Berichterstattung deutscher Medien ab, dass mit Papst Benedikt XVI. nicht nur der höchste Vertreter der römisch-katholischen Kirche gewählt worden war, sondern dass seine Wahl auch eine nationale Seite hatte: Die Deutschen hatten nach Jahrhunderten wieder einen deutschen Papst.2 Dass der neue Papst aus Deutschland kam, war ein Faktor, der dazu beitrug, dass sich der Pontifikat von Benedikt XVI. vom 19. April 2005 bis zu seinem Rücktritt am 28. Februar 2013 durch eine stärkere mediale Präsenz im deutschen Fernsehen, Radio oder in Zeitungen auszeichnete, als sie den vorausgehenden Päpsten des 20. Jahrhunderts zuteilwurde.3 Doch trugen und tragen, medienwissenschaftlich betrachtet, zur fortgesetzten deutschen Berichterstattung über Papst 1
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Vgl. die Titelseite der Bild-Zeitung zur Wahl Joseph Kardinal Ratzingers vom 20. April 2005, Online-Ansicht: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/f/f0/Bild-Wir_sind_ Papst-2005-JD.jpg, letzter Zugriff: 25.03.2017. Als „deutsche“ Päpste werden meist die Päpste der Jahre 1046 bis 1058 von Clemens II. bis Stephan IX. verstanden, deren Herkunftsorte noch heute (weitgehend) im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland liegen. Allerdings deutete sich bereits im Pontifikat von Papst Johannes Paul II. eine stärkere Medienpräsenz an, was ihm den Titel „Medienpapst“ eintrug (vgl. Gerd Bacher: Der „Medienpapst“. Statements von Gerd Bacher, Hubert Feichtlbauer, Sigmund Gottlieb und Otto B. Roegele, in: Communicatio Socialis. Zeitschrift für Medienethik und Kommunikation in Kirche und Gesellschaft, 38. Jg., Heft 3, 2005, S. 281–290, hier S. 282): „Das Prädikat ‚Medienpapst‘ trifft, bei aller zeitgeistigen Oberflächlichkeit, sicherlich eine der ganz großen Wirkmächte dieses Pontifikats. Es gab vor Wojtyla keinen Papst, der die Weltöffentlichkeit und die Weltmedien so zu beschäftigen und zu faszinieren vermochte. Jeder seiner Nachfolger wird auch an diesem Beispiel einer nicht nur im religiösen Bereich nie dagewesenen ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ gemessen werden.“
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Benedikt und inzwischen über Papst Franziskus neben der Nationalität auch die Prominenz des Pontifex, sein Amtscharisma und die mediale Inszenierung des päpstlichen Auftretens seitens der römisch-katholischen Kirche dazu bei, dass die Berichterstattung, zum Beispiel rund um die Wahl Benedikts XVI., seine Deutschlandbesuche und seinen Rücktritt, nicht nur in säkularen und katholischen Medien, sondern auch in protestantischen Medien regelmäßig zu finden ist.4 Für das Verhältnis von deutschem Protestantismus und Papsttum zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die konfessionell-evangelischen Publikationen ein Indikator für die protestantische Wahrnehmung von Papst und päpstlichem Handeln und die protestantischen Interessen am Papsttum. 5 Diese Rezeption in Büchern und Zeitschriften – so die These dieses Beitrags – steigt mit den Pontifikaten von Benedikt XVI. und Franziskus quantitativ und qualitativ an, und mit ihr verbindet sich inhaltlich eine Annäherung von Teilen des Protestantismus an den Papst, die sich in einer im Grundton stets positiven Berichterstattung über seine Person, sein Reden und Handeln ausdrückt. Exemplarisch soll im Folgenden das Verhältnis von deutschem Protestantismus und Päpsten skizziert werden, (1) an der Rezeption von Papst Benedikts Schriften in der evangelischen Theologie sowie (2) in der Berichterstattung über die beiden Päpste in drei protestantischen Publikationsorganen („zeitzeichen“, „chrismon“, „ideaSpektrum“), die als Teil der evangelischen Medienlandschaft in Deutschland sowohl die stärker liberale als auch die konservative Tradition des deutschen Protestantismus vertreten.
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Vgl. zur päpstlichen Medienpräsenz und ihren Faktoren auch die Studien von Klenk und Konzett: Christian Klenk: Ein deutscher Papst wird Medienstar. Benedikt XVI. und der Kölner Weltjugendtag in der Presse (Religion – Medien – Kommunikation 4), Berlin 2008; ders.: Die katholische Kirche und ihr Nachrichtenwert. Der Papst in der Presse, in: Klaus-Dieter Altmeppen/Regina Greck (Hg.): Facetten des Journalismus. Theoretische Analysen und empirische Studien, Wiesbaden 2012, S. 221–245; ders.: Der Papst in den Medien. Franziskus – der Medienstar, in: Communicatio socialis. Zeitschrift für Medienethik und Kommunikation in Kirche und Gesellschaft, 47. Jg., Heft 1, 2014, S. 72–93; Michaela Adah Konzett: Die Berichterstattung über die Papstwahl von Papst Benedikt XVI. im April 2005, Masterarbeit, Universität Wien, Online-Ansicht: http://othes.univie.ac.at/17236/, letzter Zugriff: 25.03.2017. Im Folgenden werden die Adjektive „evangelisch“ und „protestantisch“, dem heutigen Sprachgebrauch entsprechend, synonym verwendet.
Mediales Interesse und ökumenische Annäherung? |
1. Evangelische Theologie und päpstliche Schriften
Die Rezeption der Schriften von Papst Benedikt XVI. in der evangelischen Theologie in Deutschland ist zunächst ein neues Phänomen. Päpstliche Verlautbarungen und Enzykliken wurden zwar auch während des Pontifikats von Johannes Paul II. (1978 bis 2005) kommentiert, aber in der Regel durch mündliche Kommentare von Repräsentanten der evangelischen Kirche und durch Artikel in den Print-Medien. Mit dem Pontifikat von Benedikt XVI. (2005 bis 2013) beginnt eine wissenschaftliche Rezeption seiner Schriften, an der auch evangelische Theologen beteiligt sind, zum Beispiel in der ökumenischen Kommentierung von päpstlichen Enzykliken. Wolfgang Huber, 2003 bis 2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), kommentierte 2008 die Enzyklika „Spe salvi“ von Benedikt XVI. und ein Jahr später die päpstliche Sozialenzyklika „Caritas in veritate“6, zusammen mit Augoustinos Labardakis, dem griechisch-orthodoxen Erzbischof und Metropolit von Deutschland, und Robert Zollitsch, dem römisch-katholischen Erzbischof von Freiburg und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz (2008 bis 2014). Damit kommentierte der offizielle Vertreter der evangelischen Kirche in Deutschland zeitnah ein lehramtliches, römisch-katholisches Dokument und dies in freundlich-konstruktiver Weise: Und wie die Enzyklika über die Liebe, so lese ich auch diese über die Hoffnung mit großem Respekt, vielfachem Gewinn und manch kritischer Frage. […] Aus evangelischer Perspektive folge ich den Ausführungen des Papstes insbesondere in der intensiven Anknüpfung an die Heilige Schrift gerne.7
Bereits das Faktum der Kommentierung zeigt, dass die päpstlichen Verlautbarungen protestantischerseits ernstgenommen und wissenschaftlich-theologisch diskutiert werden. Dazu trägt sicher bei, dass Wolfgang Huber wie Joseph Ratzinger als Professor der Systematischen Theologie an einer deutschen Universität lehrte;8 als Teil der 6
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Vgl. Benedikt XVI.: Auf Hoffnung hin gerettet. Die Enzyklika ‚Spe salvi‘. Ökumenisch kommentiert von Bischof Wolfgang Huber, Metropolit Augoustinos Labardakis, Karl Kardinal Lehmann, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2008; ders.: Die Liebe in der Wahrheit. Die Sozialenzyklika ‚Caritas in veritate‘. Ökumenisch kommentiert von Wolfgang Huber, Metropolit Augoustinos Labardakis, Erzbischof Robert Zollitsch, Freiburg im Breisgau/Basel/ Wien 2009. Wolfgang Huber, in: Benedikt XVI.: Auf Hoffnung hin gerettet 2008, S. 103 f. Wolfgang Huber war von 1980 bis 1984 Professor für Sozialethik an der Universität Marburg, von 1984 bis 1994 Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an
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scientific community blieb er auch als Papst der theologische Kollege, mit dessen Werk man sich entsprechend akademischer Gepflogenheiten in Schriften auseinandersetzte. Zu dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung gehören auch die Reaktionen evangelischer Theologen auf die dreibändige Darstellung „Jesus von Nazareth“.9 Hier stellte Papst Benedikt sein Verständnis der biblischen Schriften und ihres Zeugnisses von Person und Botschaft Jesu Christi vor, wobei das Geschriebene, so das Vorwort zum ersten Band, ausdrücklich nicht als lehramtlicher Akt verstanden werden soll, sondern als „Ausdruck meines persönlichen Suchens ‚nach dem Angesicht des Herrn‘ (vgl. Ps. 27,8). Es steht daher jedermann frei, mir zu widersprechen.“10 Wenn Papst Benedikt einleitend die Erkenntnisgrenzen der historisch-kritischen Methodik anspricht,11 fordert er eine theologische Diskussion heraus, auf die sich sowohl katholische als auch evangelische Theologen eingelassen haben: in Rezensionen der Jesus-Bücher und in wissenschaftlichen Beiträgen. Noch im Erscheinungsjahr des ersten Bandes (2007) gab der katholische Theologieprofessor Thomas Söding den Aufsatzband „Das Jesus-Buch des Papstes. Die Antwort der Neutestamentler“ heraus, an dem auch evangelische Exegeten mit Aufsätzen beteiligt waren.12 Söding begründet dies im Vorwort: Das Jesusbuch des Papstes ist ein Ereignis. Noch nie hat ein Papst ein Jesusbuch geschrieben, noch nie so offen zur Diskussion eingeladen. Seine Einladung nehmen an dieser Stelle evangelische und katholische Neutestamentler aus Deutschland an. […] Es ist selbstverständlich, dass an dieser Stelle nicht nur katholische, sondern auch evangelische Neutestamentler antworten, weil die Exegese seit langem eine Paradedisziplin ökumenischer Zusammenarbeit ist und der Papst, ohne selbst Unterschiede zu machen, evangelische Exegeten ebenso wie katholische zitiert (und kritisiert).13
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der Universität Heidelberg, bevor er 1994 das Bischofsamt der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburg-schlesische Oberlausitz (bis 2009) übernahm. Vgl. Joseph Ratzinger: Jesus von Nazareth, 3 Bde., Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2007–2012. Joseph Ratzinger: Jesus von Nazareth, Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2007, S. 22. Vgl. ebenda, S. 14 f.: „Die historisch-kritische Methode […] bleibt von der Struktur des christlichen Glaubens her unverzichtbar. Aber […] sie schöpft den Auftrag der Auslegung für den nicht aus, der in den biblischen Schriften die eine Heilige Schrift sieht und sie als von Gott inspiriert glaubt.“ Vgl. Thomas Söding (Hg.): Das Jesus-Buch des Papstes. Die Antwort der Neutestamentler, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2007. Dagegen enthält der von Hermann Häring veröffentlichte Sammelband keine Beiträge evangelischer Theologen, vgl. Hermann Häring (Hg.): „Jesus von Nazareth“ in der wissenschaftlichen Diskussion, Wien/Berlin 2008. Söding, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Das Jesus-Buch 2007, S. 5.
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Von den beteiligten protestantischen wie katholischen Theologen wurde der erste Band „Jesus von Nazareth“ positiv anerkannt als Versuch einer Jesus-Darstellung, die den Glauben stärken will, wobei an Benedikts Verständnis wissenschaftlicher, historisch-kritischer Theologie durchaus auch Kritik geübt wurde, ungeachtet der konfessionellen Zugehörigkeit der Autoren: „Das vorliegende Buch zeigt, dass Zustimmung und Ablehnung nicht nach Konfessionen sortiert werden können und dass weder die katholischen Exegeten besonders zahm noch die evangelischen besonders bissig sind.“14 Von den Jesus-Büchern ausgehend, geriet schließlich auch das Gesamtwerk Joseph Ratzingers/Papst Benedikts XVI. in den Blick der wissenschaftlichen Theologie, auch aus ausdrücklich protestantischer Perspektive, zum Beispiel zum Ökumeneverständnis.15 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Benedikts theologischen Schriften konzentriert sich auf gemeinsame Interessensgebiete wie die Schriftauslegung, ethische Fragen oder das Verständnis von Ökumene. Vergleicht man damit die Rezeption der Schriften von Papst Johannes Paul II. in der evangelischen Theologie, so scheint diese dezidiert protestantische Rezeption neu. Obwohl auch Karol Wojtyla/Papst Johannes Paul II. sich in Lublin mit einer Arbeit zur christlichen Ethik in Auseinandersetzung mit der Philosophie Max Schelers habilitiert hatte,16 erfuhren weder diese Qualifikationsschrift noch weitere theologische Schriften Papst Johannes Pauls II. eine vergleichbare protestantische Würdigung, wie seine Schriften überhaupt erst nach seinem Pontifikat in der deutschsprachigen Theologie rezipiert wurden, meist in katholisch-theologischen Qualifikationsarbeiten.17 14 Ebenda, S. 5 f. 15 Vgl. exemplarisch die Monographie von Thorsten Maaßen: Das Ökumeneverständnis Joseph Ratzingers (Kirche – Konfession – Religion 56), Göttingen 2011, und den Sammelband von Christoph Raedel (Hg.): „Mitarbeiter der Wahrheit“. Christuszeugnis und Relativismuskritik bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. aus evangelischer Sicht, Göttingen 2013. 16 Vgl. Karol Wojtyła: Ocena możliwości zbudowania etyki chrześcijańskiej. Przy załozeniach systemu Maksa Schelera [franz. Résumé: Le système phénoménologique de Max Scheler peut-il etre employé comme instrument d‘élaboration de l‘éthique chrétienne?], Lublin 1959, zugleich: Univ. Krakau, Habilitationsschrift. Vgl. die Liste der Schriften von Papst Johannes Paul II., Online-Ansicht: https://en.wikipedia.org/wiki/Pope_John_Paul_II_bibliography, letzter Zugriff: 25.03.2017. 17 An neueren deutschsprachigen Arbeiten vgl. Thomas Maria Rimmel: Die Theologie des Leibes von Papst Johannes Paul II. Philosophische und theologische Grundlagen (Moraltheologische Studien 8), St. Ottilien 2014 (zugleich: Diss. Univ. Augsburg 2013); Katharina Sauer: Dives in misericordia. Barmherzigkeit Gottes, ein Schlüsselbegriff in der Theologie und im
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Die protestantische, wissenschaftlich-theologische Rezeption der Schriften Papst Benedikts XVI. kann daher ein Indikator für ein positives Verhältnis von Protestantismus und Papsttum sein. Vor allem aber werden hier, ausgehend von der Prominenz und damit Medienpräsenz von Papst Benedikt XVI., die Schriften eines Theologen durch Theologen rezipiert in der Tradition des kollegialen Diskurses. Insofern kann die noch weitgehend ausstehende Rezeption von Schriften von Papst Franziskus durch deutsche, protestantische Theologen zeigen, ob sich das protestantische Interesse an päpstlichen Schriften fortsetzt oder ad personam Ratzinger konzentriert war. – In evangelischen Magazinen deutet sich ein bleibendes Interesse an. 2. Die Rezeption von Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus in evangelischen Zeitschriften
Einen breiteren Leserkreis als wissenschaftliche Publikationen haben die evangelischen Printmedien, wie zum Beispiel die Monatszeitschriften „zeitzeichen“ und „chrismon“ oder die Wochenzeitschrift „ideaSpektrum“. Auch sie berichten über päpstliche Verlautbarungen, päpstliche Reisen und Begegnungen sowie die Päpste als (fromme) Personen, setzen dabei aber unterschiedliche Akzente, wie die inhaltliche Analyse zeigt.18 2.1. Die Monatsschrift „zeitzeichen“
Die evangelische Monatsschrift „zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft“ erscheint seit dem Jahr 2000 unter diesem Titel.19 Sie gehört wie „chrismon“ zum Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik; beide werden von der EKD finanziell bezuschusst und können als evangelisch-landeskirchlich geprägte Magazine mit bundesweiter Reichweite gelten, wobei „zeitzeichen“
Leben Papst Johannes Pauls II., Berlin 2012 (zugleich: Diss. Philos.-Theol. Hochschule Vallendar); Martin Mayer: Zölibat als Weg personaler Selbstverwirklichung. Die Sicht des Zölibates bei Johannes Paul II./Karol Wojtyła und dessen anthropologisch-spirituelle Grundlagen (Moraltheologische Studien 7), St. Ottilien 2011 (zugleich: Diss. Univ. Augsburg 2010). 18 Zur Methodik vgl. Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 12. Auflage, Weinheim/Basel 2015. 19 „zeitzeichen“ ging hervor aus den Magazinen „Evangelische Kommentare, Die Zeichen der Zeit, Lutherische Monatshefte und Reformierte Kirchenzeitung“, vgl. https://de.wikipedia. org/wiki/Zeitzeichen_(Zeitschrift), letzter Zugriff: 25.03.2017.
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derzeit eine monatliche Auflage von rund 12.800 Exemplaren (im Abonnement) hat.20 Für die Jahre 2005, dem Beginn des Pontifikats Benedikts XVI., bis 2016 finden sich in „zeitzeichen“ etwas mehr als 20 Artikel zu den Päpsten Benedikt und Franziskus,21 darunter zwölf längere Beiträge, die sich mit dem Handeln und den Äußerungen Papst Benedikts befassen, sowie Rezensionen zu den Bänden „Jesus von Nazareth“.22 Die Hintergrundartikel betrachten aus dezidiert evangelischer Perspektive Benedikts Handeln in Wort und Tat, zum Beispiel seinen Umgang mit den Piusbrüdern und deren Wiederaufnahme in die römisch-katholische Kirche23, sein Ökumeneverständnis24, die Sozial-Enzyklika „Caritas in veritate“ im Vergleich zu einem ebenfalls 2010 erschienenen Dokument der EKD zur Wirtschafts- und
20 Zu den Herausgebern von „zeitzeichen“ gehören durchweg profilierte Vertreter der evangelischen Kirche in Deutschland, etwa der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und seine Vorgänger im Amt Wolfgang Huber und Margot Käßmann, siehe http://www. zeitzeichen.net/impressum/, letzter Zugriff: 25.03.2017. 21 Die Erhebung von Artikeln in „zeitzeichen“, „chrismon“ und „ideaSpektrum“ erfolgte sowohl über die Online-Archive/-Datenbanken als auch in Durchsicht der gedruckten Exemplare; inhaltlich analysiert wurden Artikel vom Beginn des Pontifikats Benedikts (2005) bis zum 15.11.2016. Wo die Artikel nur online (etwa wegen regionaler Unterschiede der Printausgaben oder weil das Internet eine erweiterte Ausgabe bietet) oder online in voller Länge kostenfrei („chrismon“) zugänglich waren, wird in der Regel mit Online-Link zitiert. 22 Vgl. Silke Petersen: Schade. Jesu Kindheitsgeschichten, in: zeitzeichen 4/2014, S. 67 f.; Hajo Goertz: Selbstverständnis. Der Jesus des Papstes, in: zeitzeichen 6/2011, S. 69 f. Beide Rezensenten kritisieren die Methodik der Schriftauslegung Benedikts, vgl. Goertz: Selbstverständnis 2011, S. 69: „Die ‚kanonische‘ Exegese nimmt die Bibel als Ganze, als kirchlich autorisierte Einheit in den Blick und befasst sich von dieser Gesamtheit her mit den einzelnen Schriften oder Textteilen, während die historisch-kritische Auslegung den umgekehrten Weg verfolgt […] damit verliert die Bibel jedoch ihren Prüfcharakter für das Dogma und die Gestalt der Kirche.“ 23 Vgl. Jürgen Wandel: Jetzt erst recht. Der Papst, die Piusbrüder und die Protestanten, in: zeitzeichen 3/2009, Online-Ansicht: http://www.zeitzeichen.net/archiv/meinung/juergenwandel-papst-benedikt-xvi/, letzter Zugriff: 25.03.2017. 24 Vgl. Jürgen Wandel, Männer entscheiden. Welche Ökumene Papst Benedikt XVI. vorschwebt, in: zeitzeichen 12/2009, Online-Ansicht: http://www.zeitzeichen.net/no_cache/ archiv/meinung/juergen-wandel-papst-benedikt-xvi_2914/?sword_list%5B0%5D= m%C3%A4nner&sword_list%5B1%5D=entscheiden, letzter Zugriff: 25.03.2017.
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Finanzkrise25 und den Papstbesuch in Deutschland 2011.26 Im Fokus steht, dem Charakter einer evangelischen Monatszeitschrift entsprechend, die evangelische Kirche und Christenheit in Deutschland; Handeln und Aussagen des Papstes werden da thematisiert, wo sie für diese und ihre Bemühungen um Ökumene relevant scheinen. Dabei werden unter „evangelischer Kirche“ primär die evangelischen Landeskirchen verstanden, mit einem – für den untersuchten Zeitraum – lutherischen Akzent. Das Verhältnis von Papst und evangelischen Freikirchen wird tendenziell ausgeklammert und vereinzelt als wenig relevant für die Bemühungen um eine evangelisch-katholische Ökumene beurteilt.27 In der Perspektive der Ökumene werden päpstliche Verlautbarungen und päpstliches Handeln freundlich bis kritisch betrachtet. So wird Papst Benedikts Ökumeneverständnis mehrfach kritisch kommentiert: „Die Frage nach der Bedeutung Benedikt[s] XVI. für die Ökumene ist schwer zu beantworten. […] Aber richtig starke Impulse sind von Rom nicht ausgegangen.“28 Papst Franziskus, dem bis 25 Vgl. Franz Segbers: Riss in der Mauer. Der Papst und die evangelische Kirche zur Wirtschaftskrise – ein Vergleich, in: zeitzeichen 9/2009, Online-Ansicht: http://www.zeitzeichen.net/no_cache/archiv/geschichte-politik-gesellschaft/wirtschaftskrise/?sword_ list%5B0%5D=riss&sword_list%5B1%5D=in&sword_list%5B2%5D=der&sword_ list%5B3%5D=mauer, letzter Zugriff: 25.03.2017. 26 Joachim Frank: Traum von einem Wunder. Papst Benedikt XVI. besucht Deutschland. Und was bringt er mit?, in: zeitzeichen 9/2011, S. 8–11. 27 Vgl. Ellen Ueberschär: Viel Zeit bleibt nicht. Eine Ökumene der Langsamkeit können wir uns nicht leisten, in: zeitzeichen 1/2010, S. 8–11, hier S. 8: „Insbesondere die Pfingstgemeinden und die charismatische[n] Gemeinschaften haben wenig Verständnis für ökumenische Zusammenarbeit. Aber auch an den Rändern der traditionellen Kirchen üben Bewegungen eine hohe Anziehungskraft aus, die eine soziale oder geistliche Ökumene jenseits der Klärung theologischer Probleme leben. Sie sind stärker individualethisch ausgerichtet, neigen eher der ‚Praxis‘ zu als der ‚Theorie‘. Sie warten nicht auf die theologische Ökumene.“ Allerdings wird auch gesehen, dass Papst Franziskus die Pfingstkirchen und evangelikal geprägten (Frei-)Kirchen als Gesprächspartner sieht, vgl. Thomas Jansen: Richtung Süden. Unter Papst Franziskus nimmt der Eurozentrismus schrittweise ab, in: zeitzeichen 9/2015, S. 30–32, hier S. 32: „Pfingstkirchen und evangelikale Kirchen galten aus katholischer Sicht oft als theologische Leichtgewichte […] Doch unter Franziskus sind sie ins Zentrum des Interesses gerückt.“ 28 Gefahr des Provinzialismus. Gespräch mit Bischof Friedrich Weber über die evangelische Sicht des Papstamtes und das Pontifikat Benedikts XVI., in: zeitzeichen 9/2012, S. 39–42, hier S. 41. Ebenda, S. 40: „Das unterschiedliche Verständnis des ordinierten Amtes ist noch ein großes Hindernis auf dem Weg der Ökumene. Und das gilt besonders für das Papstamt.“ Vgl. dazu den Gastbeitrag von Joachim Frank: Traum von einem Wunder 2011, S. 8: „Joseph Ratzinger hat in seiner nunmehr sechsjährigen Amtszeit noch keinen einzigen Akzent ge-
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November 2016 vier längere Beiträge sowie zwei Kommentare gewidmet waren, erscheint zunächst in einem positiveren Licht. Seine „Option für die Armen“, der Aufruf zur Barmherzigkeit, sein entschlossenes Vorgehen gegen Korruption und die Hoffnung auf eine dogmatische Öffnung, zum Beispiel in der Frage der wiederverheirateten Geschiedenen, bieten positive Anknüpfungspunkte für den deutschen Protestantismus.29 Dabei darf, auch angesichts der quantitativ geringen Zahl der Beiträge, nicht übersehen werden, dass jede „zeitzeichen“-Ausgabe ein anderes Schwerpunktthema hat und dass die Beiträge verfassergeprägte Momentaufnahmen sind. Denn neben dem Redaktionsteam (für die Beiträge zu Papst Benedikt vor allem der Redakteur und evangelische Pfarrer Jürgen Wandel) zählen zu den Autoren evangelische Theologieprofessoren, die teils auch dem Herausgeberkreis angehören. So finden sich Beiträge über Papst Benedikt XVI. aus der Feder der Professoren Ulrich H. Körtner (Universität Wien), Christoph Schwöbel (Tübingen) oder Eilert Herms (Tübingen). Dazu kommen römisch-katholische (im untersuchten Zeitraum: drei) und altkatholische (einer im Untersuchungszeitraum) Gastbeiträge, so dass in „zeitzeichen“ eine Vielfalt von Stimmen zum Verhältnis von Protestantismus und Papsttum erklingt. Zu den gleichen Themen fallen die Urteile der Autoren daher unterschiedlich aus. Die einzelnen Artikel bilden Positionen einzelner profilierter deutscher Protestanten aus Universitätstheologie und Landeskirche ab, wie der Untertitel „evangelische Kommentare“ bereits signalisiert. Daher kann beispielsweise ein Beitrag das Ökumeneverständnis von Papst Benedikt darin kritisieren, dass er die protestantischen Kirchen nur als „kirchliche Gemeinschaften“ anerkennt,30 während ein anderer Beitrag erläutert, dass aus römisch-katholischer Sicht nur diese Bezeichnung für die protestantische Kirche möglich sei und da-
setzt, der von der Doktrin seines Vorgängers, Johannes Pauls II., abwiche.“ Dagegen positiv zu Papst Johannes Paul II., ebenda, S. 10: „In seiner Enzyklika ‚Ut unum sint‘ von 1995 forderte Johannes Paul II. darum eine theologische Relecture des Papstamtes in ökumenischer Perspektive.“ 29 Vgl. Thomas Jansen: Richtung Süden 2015, S. 32: „Der Papst verdrängt die auch weiterhin bestehenden theologischen Differenzen nicht. Aber sie dürfen aus seiner Sicht das ‚Zeugnis unserer gemeinsamen Liebe zu Gott und den Nächsten‘ nicht behindern.“ Vgl. Jürgen Wandel: Fröhlicher Wettbewerb. Papst Franz fordert seine Kirche heraus – und die Protestanten, in: zeitzeichen 5/2013, S. 13: „Die evangelischen Kirchen sollten sich von Papst Franz herausfordern lassen und mit ihm und seiner Kirche fröhlich gelassen um eine menschenfreundliche Form des Christentums wetteifern.“ 30 Vgl. Wandel: Jetzt erst recht 2009.
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her die evangelischen Erwartungen zu korrigieren seien.31 Wo eine Autorin die Ökumene als ein Diskutieren und Verhandeln theologischer Grundsatzfragen versteht,32 unterstützt ein anderer Autor in seinem Beitrag die Ablehnung einer Verhandlungsökumene durch Papst Benedikt XVI. zugunsten einer Ökumene des gemeinsamen Sich-Hineinlebens und -denkens in den Glauben.33 Mit den Beiträgen verschiedener evangelischer Autoren bietet die Monatsschrift „zeitzeichen“ Anstöße zur Meinungsbildung, insbesondere für den akademisch gebildeten oder interessierten Leser, wobei das Interesse am Pontifex sich auf die Aspekte einer ökumenischen Zusammenarbeit und Übereinstimmung konzentriert. Eine generelle Annäherung an das Papsttum ist nicht gegeben, und vereinzelt wird die päpstliche Lehrautorität für den Protestantismus abgelehnt.34 2.2. „chrismon“
Auch „chrismon, das evangelische Magazin“ erscheint seit dem Jahr 2000 monatlich und ging aus dem „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“ (1997 bis 2000) hervor. Anders als „zeitzeichen“ liegt „chrismon“ in der Print-Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ sowie in mehreren Tageszeitungen als Supplement bei.35 Zudem sind die Artikel online kostenfrei zu lesen. Als Supplement hat „chrismon“ eine Auflage von etwa 1,6 Millionen Exemplaren.36 Während „zeitzeichen“ sich wechselnden Schwerpunktthemen in evangelisch-theologischer Perspektive wid-
31 Vgl. Johannes Friedrich: Die drei großen V. Gegner, Konkurrenten, Freunde, Geschwister: Wir brauchen eine Ökumene des Verständnisses, in: zeitzeichen 4/2012, S. 12–15, hier S. 12 f. 32 Vgl. Ueberschär: Viel Zeit bleibt nicht 2010, S. 8–11. 33 Vgl. Eilert Herms: Als Getrennte eins. Die Spaltung ist Quelle des Reichtums: Zum ökumenischen Vermächtnis des emeritierten Papstes, in: zeitzeichen 4/2014, S. 45–47. 34 So im historischen Artikel von Christoph Markschies: Am Anfang Petrus? Wie sich aus der kollektiven Leitung der Gemeinde von Rom das Papstamt entwickelte, in: zeitzeichen 9/2012, S. 24–26. 35 „chrismon“ liegt den Tageszeitungen „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Die Welt“, „Mitteldeutsche Zeitung“ und „Schweriner Volkszeitung“ bei; eine erweiterte Print-Ausgabe („chrismon Plus“) ist im Abonnement erhältlich, vgl. http://static. evangelisch.de/get/?daid=HRwcA7V6vkMuQEVhY2Gm4sJ-00053045&dfid=download, letzter Zugriff: 25.03.2017. Die Analyse bezieht sich auf die Artikel in der Print- und OnlineAusgabe. 36 Nach http://static.evangelisch.de/get/?daid=HRwcA7V6vkMuQEVhY2Gm4sJ-00053045& dfid=download, letzter Zugriff: 25.03.2017.
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met, hat „chrismon“ einen stärker populären und zum Glauben einladenden Charakter. In den Jahren 2005 bis 2016 erschienen in „chrismon“ knapp 40 Artikel zu den Päpsten Benedikt XVI. und Franziskus, davon etwa 21 Artikel zu Benedikt und 11 Artikel zu Franziskus. Auch hier signalisieren die Zahlen ein Interesse am Papsttum; allerdings finden sich wenige ausführliche Beiträge, sondern zu den 40 Artikeln zählen neben redaktionellen Artikeln auch Presse-Meldungen und kommentierende Gastbeiträge. Inhaltlich widmen sich die Artikel der Papstwahl (1995), dem Papstbesuch in Deutschland (2006, 2011), Papst Benedikts Rücktritt (2013) und den Hoffnungen auf das Pontifikat von Franziskus sowie den päpstlichen Enzykliken. Mit rund 15 von 21 Beiträgen zu Papst Benedikt nimmt dessen Besuch in Deutschland 2011 quantitativ den größten Raum ein, und hier finden sich neben Berichten der Agenturen dpa und epd auch kommentierende Gastbeiträge und redaktionelle Beiträge. Für die Frage nach dem Verhältnis von Protestantismus und den Päpsten Benedikt und Franziskus scheinen die Artikel in „chrismon“ zunächst weniger aussagekräftig zu sein, handelt es sich doch vielfach nur um eine Berichterstattung über Reisen, Begegnungen und Reden der beiden Päpste. Dezidierte Wertungen finden sich aber in Beiträgen von Gastautoren wie dem bayerischen Alt-Landesbischof Johannes Friedrich oder dem (ehemaligen) EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider. Stärker als in der Schwesternzeitschrift „zeitzeichen“ sind in „chrismon“ Artikel des Redaktionsteams über die Päpste Benedikt und Franziskus vertreten, besonders häufig von „chrismon-Cheftheologe“37 Eduard Kopp, ebenso von Redakteur Burkhard Weitz, beide studierte Theologen, und Chefredakteur Arnd Brummer, der von der römisch-katholischen zur evangelischen Kirche konvertierte.38 Auch als Vertreter der Redaktion äußern sich die Autoren zu Worten und Handeln der Päpste individuell: So wird beispielsweise die Rede von Papst Benedikt vor dem deutschen Bundestag anlässlich seines Deutschlandbesuchs 2011 von Eduard Kopp als „glühendes Plädoyer für die Achtung des Lebens“ gelobt, während sein Redaktionskollege Burkhard Weitz die Rede als „unbrisant“ und „sehr abstrakt“ beurteilt.39 37 Vgl. die chrismon-Bildunterschrift: https://chrismon.evangelisch.de/comment/23415, letzter Zugriff: 25.03.2017. 38 Zwischen 2005 und 2016 bietet das Archiv zu Papst Benedikt fünf Artikel von Eduard Kopp, je einen von Arnd Brummer und Burkhard Weitz; zu Papst Franziskus bisher acht Artikel von Eduard Kopp, einen Beitrag von Arnd Brummer (Datenbank-Abfrage am 15.11.2016). 39 Eduard Kopp: Ein glühender Appell für mehr ethische Sensibilität, in: chrismon, 23.09.2011, https://chrismon.evangelisch.de/meldungen/ein-gluehender-appell-fuer-mehr-ethischesensibilitaet-12475, letzter Zugriff: 25.03.2017; Burkhard Weitz: Ein leidenschaftliches Papst-
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Benedikts Rücktritt vom Papstamt erfährt eine Würdigung in zwei Artikeln, die besonders seinen Intellekt hervorheben.40 Insgesamt überwiegt in den „chrismon“Beiträgen die freundliche Wahrnehmung des päpstlichen Handelns. Im Blick auf Papst Franziskus ist „Hoffnung“ das wiederkehrende Stichwort, eine Hoffnung auf eine „180-Grad-Wende“.41 So formulierte der Chefredakteur im September 2013: „Wie Papst Franziskus auftritt, gefällt mir sehr“,42 während Eduard Kopp im April 2016 seine Enttäuschung über das Papstschreiben „Amoris Laetitia“ mit den Worten ausdrückt: „Die Trendwende bleibt aus. Die Hoffnung war groß“.43 Als Supplement überregionaler Tageszeitungen erreicht „chrismon“ eine große und nicht nur protestantische oder kirchennahe Leserschaft. Daher greift die Zeitschrift oft Themen auf, über die auch die säkularen Printmedien berichten, wie den Papstbesuch in Deutschland. Sie setzt aber zugleich evangelische Akzente, indem evangelische Theologen und kirchlich engagierte Protestanten als (Gast-)Autoren das päpstliche Handeln kommentieren und, auch hier unter dem Aspekt der evangelisch-katholischen Ökumene, reflektieren. Wie in „zeitzeichen“ wird dabei die patriarchale Autorität des Papstes nur selten angesprochen. So fragt ein redaktioneller Artikel in „chrismon“ kurz nach der Wahl Benedikts XVI. „Ein Papst für
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wort wäre spannender gewesen, in: chrismon, 23.09.2011, http://chrismon.evangelisch.de/ meldungen/ein-leidenschaftliches-papstwort-waere-spannender-gewesen-12473, letzter Zugriff: 25.03.2017. Vgl. Arnd Brummer: Mozart hören und Bücher schreiben, in: chrismon, 11.02.2013, http:// chrismon.evangelisch.de/artikel/2013/mozart-hoeren-und-buecher-schreiben-17489, letzter Zugriff: 25.03.2017; Eduard Kopp: Benedikt XVI. – ein theologisches Porträt, in: Chrismon, 11.02.2013, http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2013/benedikt-ein-theologischesportraet-17493, letzter Zugriff: 25.03.2017: „In seiner Person vereinigen sich hohe Intelligenz und auffallende Ängstlichkeit. […] Bis heute ist er ein fleißiger theologischer Autor, aber vor wagemutigen Neuorientierungen der Kirche zum Beispiel bei den Themen Zölibat oder Frauenordination schreckt er zurück.“ Eduard Kopp: Hoffnung auf eine 180-Grad-Wende. Papst Franziskus will wissen, was die Katholiken zum Thema Ehe denken, in: chrismon, Dezember 2013, http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2013/dei-180-grad-wende-20254, letzter Zugriff: 25.03.2017. Arnd Brummer: Die Kirche mit offenen Türen… und Streit unter Geschwistern, in: chrismon, September 2013, http://chrismon.evangelisch.de/blog/was-ich-notiert-habe/die-kirche-mit-offenen-tueren-19577, letzter Zugriff: 25.03.2017. Eduard Kopp: Mehr Mut wär gut! Dem Papstschreiben ‚Über die Liebe in der Familie‘ fehlt es an Zutrauen in die Gläubigen, in: chrismon, 8. April 2016, sowie in: chrismon plus, Mai 2016, http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2016/32163/papst-franziskus-vatikan-zu-familie-homo-ehe, letzter Zugriff: 25.03.2017.
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alle Kirchen?“ und beantwortet die Frage mit dem Statement: „Nicht undenkbar, aber auch nicht erforderlich.“44 Dieses Votum ist Grundlinie evangelischer Berichterstattung in „zeitzeichen“ und „chrismon“, und das Interesse an den Päpsten Benedikt und Franziskus gilt nicht primär ihrem Amt als geistliche Führer und Repräsentanten einer Weltkirche, sondern den Möglichkeiten eines ökumenischen Wegs und einer glaubensmäßigen Übereinstimmung. Dies gilt auch für das dritte untersuchte Magazin, die evangelische Wochenzeitschrift „ideaSpektrum“. 2.3. „ideaSpektrum“
Die Wochenzeitschrift „ideaSpektrum“ ist aus dem 1970 „zur Belebung und Förderung der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus“ gegründeten Informationsdienst der Evangelischen Allianz (idea) hervorgegangen und erscheint seit 1979.45 Von der Entstehungsgeschichte her sieht sich die Zeitschrift bekenntnismäßig an die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz gebunden. „IdeaSpektrum“ gilt als Stimme und Informationsmedium des konservativen Flügels des landes- und freikirchlichen deutschen Protestantismus.46 Als Teil der evangelischen Publizistik in Deutschland erhält auch „ideaSpektrum“ einen finanziellen Zuschuss der EKD. Die deutsche Ausgabe von „ideaSpektrum“ erscheint wöchentlich in einer Auflagenhöhe von rund 34.000 Exemplaren und wird in der Regel im Abonnement bezogen.47 Das Online-Archiv von „ideaSpektrum“ weist für die Stichworte „Papst Benedikt“ und „Papst Franziskus“ in den Jahren 2005 bis 2016 die zunächst überraschend hohe Zahl von 261 Beiträgen zu Papst Franziskus und 561 Beiträgen zu Papst Benedikt sowie (ab 1997) immerhin noch 152 Beiträgen zu Papst Johannes Paul II. aus.48 Die hohe Zahl lässt sich teilweise erklären durch Überschneidungen sowie dadurch, dass sowohl Pressemeldungen (Agentur idea) als auch Berichte, Kommentare und 44 Burkhard Weitz: Ein Papst für alle Kirchen, in: chrismon, Mai 2005, Online-Ansicht: http:// chrismon.evangelisch.de/artikel/2005/ein-papst-fuer-alle-kirchen-226, letzter Zugriff: 25.03.2017. 45 Vgl. https://www.ekd.de/EKD-Texte/publizistik_1997_mandatmarkt4.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 46 Vgl. Matthias Pöhlmann: Art. Publizistik/Presse. III. Evangelische Publizistik und Presse. 4. Evangelische Publizistik im 20. Jahrhundert, in: TRE 27 (1997), S. 711–715, hier S. 714. 47 Die Auflagenzahl folgt https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelische_Nachrichtenagentur_ idea, letzter Zugriff: 25.03.2017. 48 Abfrage der Datenbank am 15.11.2016; das für Abonnenten zugängliche Online-Archiv erfasst – weitgehend – die seit 1997 in „ideaSpektrum“ erschienenen Beiträge.
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Gastbeiträge ausgewiesen werden. Dennoch lässt sich zugespitzt sagen: Die PapstBerichterstattung spielt, zumindest quantitativ, eine prominente Rolle in „idea Spektrum“. Die Berichterstattung über den Papst als Person, über sein Reden und Handeln und besonders die Begegnungen mit Vertretern des konservativen Protestantismus zählt zum festen Repertoire dieser Zeitschrift, wie dort auch (in quantitativ geringerem Maß) über die Kirchenführer im Lutherischen Weltbund oder dem Rat der EKD berichtet wird. Dabei hat die Berichterstattung einen im untersuchten Zeitraum wachsend positiven Grundton, der sich auf unterschiedliche Weise ausdrückt: Einerseits wird ein direktes Lob oder die Zustimmung zu päpstlichem Verhalten und Aussagen vermieden, aber es werden spezifisch die Themen aufgegriffen, in denen es eine Übereinstimmung zwischen dem konservativen Protestantismus und den vom Pontifex vermittelten Werten gibt: Tritt Papst Benedikt für die Stärkung von Ehe und Familie49 oder das regelmäßige Bibellesen50 ein, so ist dies ein Anliegen, das auch die Redaktion und Leser von „ideaSpektrum“ teilen. Das gilt auch für den Schutz des ungeborenen Lebens,51 die Kritik am Gender-Konzept52 oder das Thema Neuevangelisation bei Papst Franziskus.53 In den Beiträgen werden die päpstlichen Äußerungen wiedergegeben, und es bleibt dem Leser überlassen, Parallelen zu seinem eigenen Glaubensverständnis zu ziehen. Alternativ kommen Persönlichkeiten aus dem konservativen Protestantismus zu Wort, die das Handeln oder die Aussagen des Pontifex wertschätzend kommentie49 Vgl. Evangelische Allianz begrüßt Papst-Aussagen zur Familie, in: ideaSpektrum, 04.06.2012, Online-Ansicht: http://www.idea.de/gesellschaft/detail/evangelische-allianzbegruesst-papst-aussagen-zur-familie-22273.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 50 Vgl. Papst: „Geistlicher Frühling“ durch Bibellesen, in: ideaSpektrum, 21.09.2005, http:// www.idea.de/spektrum/detail/papst-geistlicher-fruehling-durch-bibellesen-81715.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 51 Vgl. Papst: Der Mensch darf nicht zur Wegwerfware werden, in: ideaSpektrum, 15.09.2014, Online-Ansicht: http://www.idea.de/menschenrechte/detail/papst-der-mensch-darf-nichtzur-wegwerfware-werden-87924.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 52 Vgl. Papst warnt vor „globalem Krieg gegen die traditionelle Ehe“, in: ideaSpektrum, 03.10.2016, Online-Ansicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/papst-warnt-vor-globalem-krieg-gegen-die-traditionelle-ehe-98417.html, letzter Zugriff: 25.03.2017; Gender ist eine Form der „ideologischen Kolonialisierung“, in: ideaSpektrum, 03.08.2016, OnlineAnsicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/gender-ist-eine-form-der-ideologischenkolonialisierung-97769.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 53 Papst: Christ sein und Missionar sein ist dasselbe, in: ideaSpektrum, 24.01.2016, OnlineAnsicht: http://www.idea.de/glaube/detail/papst-christ-sein-und-missionar-sein-ist-dasselbe-93439.html, letzter Zugriff: 25.03.2017.
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ren. Entsprechend wird auch Kritik am Handeln des Papstes nicht direkt geäußert, sondern referiert: „Prominente US-Evangelikale kritisieren den Papst“.54 Zu dieser redaktionell nicht kommentierten Darstellung gehört auch die Berichterstattung über die Begegnung des Papstes mit evangelischen Gruppierungen, darunter die Begegnungen von Franziskus mit Vertretern der methodistischen Freikirche,55 der Waldenser56 oder charismatisch-pfingstlichen Gemeinden.57 Die ausgewählten Zitate signalisieren aber eine Annäherung von (konservativem) Protestantismus und Papsttum: „Wir sind nahe beieinander“58 oder „Papst: Katholiken und Evangelikale können voneinander lernen“59 oder „Kein Papst war so evangelisch wie 54 Auch Franklin Graham. Prominente US-Evangelikale kritisieren den Papst, in: ideaSpektrum, 20.02.2016, Online-Ansicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/prominente-usevangelikale-kritisieren-den-papst-93730.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 55 Vgl. Papst empfängt Methodisten, in: ideaSpektrum, 11.04.2016, Online-Ansicht: http:// www.idea.de/frei-kirchen/detail/papst-empfaengt-methodisten-im-vatikan-96413.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 56 Vgl. Franziskus empfing als erster Papst Waldenser im Vatikan, in: ideaSpektrum, 07.03.2016, Online-Ansicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/franziskus-empfing-als-erster-papstwaldenser-im-vatikan-93875.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 57 Vgl. „Rom“ weitet den Dialog mit Freikirchen aus, in: ideaSpektrum, 12.06.2015, OnlineAnsicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/rom-weitet-den-dialog-mit-freikirchenaus-91104.html, letzter Zugriff: 25.03.2017; Papst Franziskus sucht Kontakt zu Pfingstkirchen, in: ideaSpektrum, 09.05.2015, Online-Ansicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/ detail/papst-franziskus-sucht-kontakt-zu-pfingstkirchen-90640.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 58 Lutheraner beim Papst: „Wir sind nahe beieinander“, in: ideaSpektrum, 18.12.2014, OnlineAnsicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/lutheraner-beim-papst-wir-sind-nahe-beieinander-89043.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 59 Papst: Katholiken und Evangelikale können voneinander lernen, in: ideaSpektrum, 06.11.2016, Online-Ansicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/papst-katholiken-undevangelikale-koennen-voneinander-lernen-88533.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. Die Annäherung von Evangelikalen und Papsttum wird auch in katholischen und säkularen Medien gesehen und durchaus kritisch kommentiert, vgl. Till-Reimer Stoldt: Wie Papst und Evangelikale die Familie retten wollen, in: Welt online, 02.11.2015, Online-Ansicht: http:// www.welt.de/politik/deutschland/article148322454/Wie-Papst-und-Evangelikale-die-Familie-retten-wollen.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. Vgl. Neue Videobotschaft von Papst Franziskus an Evangelikale, 20.11.2014, in: Katholisches. Magazin für Kirche und Kultur, Online-Ansicht: http://www.katholisches.info/2014/11/neue-videobotschaft-von-papst-fran ziskus-an-evangelikale/, letzter Zugriff: 25.03.2017: „Die Vorgängerpäpste pflegten mehr höfliche Begegnungsdiplomatie als Ökumene oder schrieben den ‚Reformierten‘ einiges ins Stammbuch, wie Benedikt XVI. 2011 in Erfurt. Sie taten dies aber nur gegenüber den
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Benedikt XVI.“.60 Ausdrücklich positiv wird das Wirken von Benedikt und Franziskus schließlich in den Kommentaren gewürdigt, die teils Gastbeiträge sind, teils von Redaktions- und Herausgeberseite erfolgen. Der Kommentar von Helmut Matthies, Leiter der Evangelischen Nachrichtenagentur idea, im Dezember 2014 formuliert exemplarisch auch die Position von „ideaSpektrum“: Keine Angst: Weder ich noch idea werden katholisch. Dazu trennt uns theologisch noch zu viel. Aber: […] [es] hat sich seit dem Amtsantritt von Benedikt XVI. 2005 Entscheidendes geändert. Die drei Jesus-Bücher des Deutschen Joseph Ratzinger, die er als Papst schrieb, sind – wie alle führenden evangelikalen Theologen feststellten – durchweg bibeltreu. […] Benedikts Nachfolger Franziskus ging dann noch einen Schritt weiter, indem er im Sommer eine Gemeinde der mitgliederstärksten Gruppe unter den Evangelikalen, der Pfingstkirchen, besuchte und sie um Vergebung für geschehenes Unrecht bat. […] Die Allianz hat recht, wenn sie feststellt, dass die Beziehungen zwischen „Rom“ und den Evangelikalen noch nie in der Kirchengeschichte so eng waren wie gegenwärtig. Und das hat vor allem damit zu tun, dass sowohl Benedikt als auch Franziskus wie vermutlich wenige Päpste zuvor Christus als absolute Mitte der Kirche herausstellen und ihr alles andere unterordnen. Gab es in ethischen Fragen – Ehe, Familie und Abtreibung – schon lange größere Übereinstimmungen zwischen den Evangelikalen und der katholischen Seite als zu vielen evangelischen Landes-, aber mittlerweile auch zahlreichen Freikirchen, so ist die neue theologische Annäherung umso bedenkenswerter. Hier geschieht kirchengeschichtlich Historisches.61
Die hier konstatierte Annäherung von Teilen des konservativen Protestantismus62 an das gegenwärtige Papsttum muss vor dem Hintergrund der Evangelischen Aloffiziellen Reformationskirchen. Die Evangelikalen existierten für sie nicht. Anders Papst Bergoglio. Er drängt mit Nachdruck auf Kontakte zu den Evangelikalen, während er die landeskirchlichen Protestanten wie Lutheraner und Calvinisten links liegenläßt.“ 60 Kein Papst war so evangelisch wie Benedikt XVI., in: ideaSpektrum, 20.02.2012, Online-Ansicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/kein-papst-war-so-evangelisch-wie-benediktxvi-21428.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 61 Helmut Matthies: Der Versöhner des Jahres: Franziskus, in: ideaSpektrum, 23.12.2014, Online-Ansicht: http://www.idea.de/spektrum/detail/die-christen-des-jahres-89100.html, letzter Zugriff: 25.03.2017.Vgl. auch Katholiken und Evangelikale werden sich annähern, in: ideaSpektrum, 18.03.2013, Online-Ansicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/katholiken-und-evangelikale-werden-sich-annaehern-24510.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 62 Es gibt auch latent papstkritische evangelikale Gruppierungen, die sich vor allem im Web äußern.
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lianz gesehen werden, die sich seit ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts als weltweiter, überkonfessioneller „Bund von Christusgläubigen, die verschiedenen christlichen Kirchen, Gemeinden und Gruppen angehören“, versteht und die „geistliche Einheit aller, die von Herzen an Jesus Christus glauben“, sucht.63 Hat die Evangelische Allianz historisch die Überwindung von Denominationsgrenzen im gemeinsamen Bekenntnis zu Jesus Christus und seiner Heilstat zum Ziel, erklärt dies, dass „ideaSpektrum“ als der Allianz verbundenes Magazin die Päpste Benedikt und Franziskus so positiv wahrnimmt. Deren christliche Ethik und Frömmigkeit, die Betonung der Bibeltreue und das Zugehen auf evangelische Freikirchen sind die entscheidenden inhaltlichen Anknüpfungspunkte von Herausgeber, Redaktion und Leserschaft von „ideaSpektrum“. 3. Mediales Interesse und ökumenische Annäherung?
Die einzigartige Prominenz des Papstes als Oberhaupt einer weltweiten christlichen Kirche ist ein Faktor, der zur häufigen Berichterstattung über Person, Reden und Handeln des Pontifex in protestantischen Printmedien wie „zeitzeichen“, „chrismon“ und „ideaSpektrum“ sowie zur akademischen Rezeption päpstlicher Schriften beiträgt. Dabei spiegelt die evangelische Rezeption die Vielfalt des deutschen Protestantismus wider. So liegt die größte Gemeinsamkeit der Berichterstattung über die Päpste in den drei untersuchten Magazinen darin, dass bei seit 2005 steigendem medialen Interesse die patriarchale Autorität des Papstes selten oder nicht mehr thematisiert wird, obwohl deren Kritik bis in die Neuzeit noch zum Selbstverständnis protestantischer Christen gehörte. Das Interesse protestantischer Medien am Papsttum liegt – verständlicherweise – in der Ökumene. In der Perspektive einer evangelisch-katholischen Ökumene werden die Person des Papstes als eines authentischen, frommen Christen und sein Handeln in den protestantischen Medien gewürdigt. Im jeweiligen Verständnis von evangelisch-katholischer Ökumene ist zugleich die quantitativ und qualitativ unterschiedliche Rezeption der beiden Päpste (mit-) begründet. Denn die Ökumene der gemeinsamen ethischen Werte,64 der Bibeltreue oder einer christuszentrierten Frömmigkeit, wie sie in „ideaSpektrum“ Ausdruck 63 Siehe http://www.ead.de/die-allianz/auftrag.html, letzter Zugriff: 25.03.2017. 64 Wo innerprotestantisch ethische Fragen derzeit heftige Diskussionen auslösen, prägt dies auch die evangelische Wahrnehmung von katholischen Äußerungen, vgl. Jürgen Wandel: Zwickmühle, in: zeitzeichen 4/2012, S. 15: „Die Ethik könnte verstärkt zum Zankapfel der
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findet,65 unterscheidet sich von einer Ökumene der Verständigung über theologische Grundsatzfragen (etwa zum Kirchen- und Amtsverständnis), wie sie die evangelische Monatszeitschrift „zeitzeichen“ vertritt.66 Dem Ökumeneverständnis entsprechend, werden die protestantischen Erwartungen an den jeweiligen Pontifex eher als erfüllt oder unerfüllt gesehen. Insofern kann in Teilen des (konservativen) Protestantismus von einer gegenwärtig sich vollziehenden Annäherung an das Papsttum gesprochen werden.67 Ein „Habemus papam“ ruft aber auch dieser Teil des deutschen Protestantismus nicht aus. Quellen- und Literaturverzeichnis
Bacher, Gerd u.a.: Der „Medienpapst“. Statements von Gerd Bacher, Hubert Feichtlbauer, Sigmund Gottlieb und Otto B. Roegele, in: Communicatio Socialis. Zeitschrift für Medienethik und Kommunikation in Kirche und Gesellschaft, 38. Jg., Heft 3, 2005, S. 281–290.
Ökumene werden“, nämlich „Stammzellforschung, Abtreibung, Sterbehilfe, Ehe, Familie und Homosexualität.“ 65 Vgl. Was der Papst und Evangelikale gemeinsam haben, in: ideaSpektrum, 19.11.2011, Online-Ansicht: http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/was-der-papst-und-evangelikalegemeinsam-haben-20705.html, letzter Zugriff: 25.03.2017: „Papst Benedikt XVI. und evangelikale Christen stimmen in der entscheidenden Frage überein: Beide sind der Auffassung, dass das Herz des christlichen Glaubens die Beziehung zu Jesus Christus ist.“ 66 Vgl. Ueberschär: Viel Zeit bleibt nicht 2010, S. 11: „Woher soll in zehn oder zwanzig Jahren noch die Motivation für die Teilnahme an theologischen Lehrgesprächen oder an ihrer Rezeption kommen? […] Auch nicht von konservativen Gruppen, die einen „starken Glauben“ mit einer abgrenzenden Profilierung verbinden. Diese sind schlagkräftig bei bestimmten moralischen Themen wie Sex vor der Ehe oder Homosexualität, interessieren sich aber wenig für theologische Grundlagengespräche.“ Vgl. auch Wandel: Männer entscheiden 2009, der Benedikt vorwirft, nur eine „Ökumene konservativer Christen“ anzustreben. 67 Einzelne Vertreter des konservativen Protestantismus repräsentieren in ihrer Person diese Annäherung, vgl. Thomas Schirrmacher: Kaffeepausen mit dem Papst. Meine Begegnungen mit Franziskus, Holzgerlingen 2016. Vgl. auch den evangelischen Theologen Reinhard Hempelmann: Koalition der Missionare? Annäherungen zwischen Evangelikalen und Katholiken, in: Herder Korrespondenz, Jg. 66, Heft 2, 2012, S. 90–94, hier S. 92: „Angesichts des bisherigen Verhältnisses zwischen römischem Katholizismus einerseits und Evangelikalismus andererseits wird man von erkennbaren Annäherungen und einer grundlegenden Veränderung des Stils sprechen können.“
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Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien 2002. Benedikt XVI.: Auf Hoffnung hin gerettet. Die Enzyklika ‚Spe salvi‘. Ökumenisch kommentiert von Bischof Wolfgang Huber, Metropolit Augoustinos Labardakis, Karl Kardinal Lehmann, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2008. Benedikt XVI.: Die Liebe in der Wahrheit. Die Sozialenzyklika ‚Caritas in veritate‘. Ökumenisch kommentiert von Wolfgang Huber, Metropolit Augoustinos Labardakis, Erzbischof Robert Zollitsch, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2009. [Benedikt XVI.] Ratzinger, Joseph: Jesus von Nazareth, Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2007. [Benedikt XVI.] Ratzinger, Joseph: Jesus von Nazareth, Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2011. [Benedikt XVI.] Ratzinger, Joseph: Jesus von Nazareth: Prolog – Die Kindheitsgeschichten, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2012. Häring, Hermann (Hg.): ‚Jesus von Nazareth‘ in der wissenschaftlichen Diskussion, Wien/Berlin 2008. Hepp, Andreas/Krönert, Veronika: Medien – Event – Religion. Die Mediatisierung des Religiösen, Wiesbaden 2009. Höhne, Florian: Einer und alle. Personalisierung in den Medien als Herausforderung für eine Öffentliche Theologie der Kirche (Öffentliche Theologie 32), Leipzig 2015. Klenk, Christian: Ein deutscher Papst wird Medienstar. Benedikt XVI. und der Kölner Weltjugendtag in der Presse (Religion – Medien – Kommunikation 4), Berlin 2008. Ders.: Die katholische Kirche und ihr Nachrichtenwert. Der Papst in der Presse, in: Klaus-Dieter Altmeppen/Regina Greck (Hg.): Facetten des Journalismus. Theoretische Analysen und empirische Studien, Wiesbaden 2012, S. 221–245. Ders.: Der Papst in den Medien. Franziskus – der Medienstar, in: Communicatio socialis. Zeitschrift für Medienethik und Kommunikation in Kirche und Gesellschaft, 47. Jg., Heft 1, 2014, S. 72–93. Lenze, Malte: Postmodernes Charisma – Marken und Stars statt Religion und Vernunft, Wiesbaden 2002. Maaßen, Thorsten: Das Ökumeneverständnis Joseph Ratzingers (Kirche – Konfession – Religion 56), Göttingen 2011. Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 12. Auflage, Weinheim/Basel 2015.
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Matthias Pöhlmann, Art. Publizistik/Presse. III. Evangelische Publizistik und Presse. 4. Evangelische Publizistik im 20. Jahrhundert, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 27, Berlin 1997, S. 711–715. Raedel, Christoph (Hg.): „Mitarbeiter der Wahrheit“. Christuszeugnis und Relativismuskritik bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. aus evangelischer Sicht, Göttingen 2013. Schirrmacher, Thomas: Kaffeepausen mit dem Papst. Meine Begegnungen mit Franziskus, Holzgerlingen 2016. Söding, Thomas (Hg.): Das Jesus-Buch des Papstes. Die Antwort der Neutestamentler, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2007. Wippersberg, Julia: Prominenz. Entstehung, Erklärungen, Erwartungen, Konstanz 2007. chrismon, Online-Archiv https://chrismon.evangelisch.de/ Deutsche Evangelische Allianz, http://www.ead.de/die-allianz/auftrag.html Evangelische Kirche in Deutschland: Mandat und Markt. Publizistisches Gesamtkonzept 1997, http://www.ekd.de/EKD-Texte/publizistik_1997_einleitung.html ideaSpektrum, Online-Archiv http://www.idea.de/startseite.html Konzett, Michaela Adah: Die Berichterstattung über die Papstwahl von Papst Benedikt XVI. im April 2005, Masterarbeit, Universität Wien, http://othes.univie. ac.at/17236/, letzter Zugriff: 25.03.2017. zeitzeichen, Online-Archiv http://www.zeitzeichen.net/start/
Reinhard Frieling
Das Papsttum aus evangelisch-ökumenischer Sicht: Erinnerungen eines Wegbereiters
Im 20. und 21. Jahrhundert war das Verhältnis zwischen dem Protestantismus und dem Papsttum in einer stetigen und differenzierten Entwicklung begriffen. Die Päpste dieser Zeit haben trotz aller Veränderungen durchgängig betont, dass die Kirche als „Corpus Christi Mysticum“ verwirklicht sei – durch die apostolischepiskopale Sukzession im Amt des Bischofs von Rom als Stellvertreter Christi und als Petrusnachfolger. Eine Teilhabe an den Vorkonferenzen und seit 1948 am Ökumenischen Rat der Kirchen wurde auch deshalb den katholischen Vertretern lehramtlich verboten, weil diese die gesuchte Einheit finden könnten, wenn sie zur vorhandenen Einheit „cum et sub Petro“ zurückfinden würden. Diese „RückkehrÖkumene“ wurde jedoch aufgrund der anerkannten Taufe der nicht-katholischen Christen gelockert, indem mit den getrennten Schwestern und Brüdern mancherlei gemeinsames Tun bei Zeugnis und Dienst ausdrücklich erlaubt wurde: Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil existiert etwa eine gemeinsame Arbeitsgruppe zwischen dem Vatikan und dem Ökumenischen Weltrat der Kirchen in Genf. In vielen weiteren gemeinsamen bi- und multilateralen Arbeitsgruppen wurden zahlreiche Dokumente mit wachsender Übereinstimmung verabschiedet. Deren Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden: Der gemeinsame christliche Glaube an den dreieinigen Gott stellt nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern einen Fundamentalkonsens dar, der allen Christen grundsätzlich das Heil Gottes verheißt. Die Zugehörigkeit zur jeweils anderen Konfession ist damit kein Ausschlusskriterium mehr. In der Charta Oecomenica, die 2001 von der Konferenz Europäischer Kirchen und vom Rat der katholischen Bischofskonferenzen in Europa als gemeinsame Verpflichtung verabschiedet sowie 2003 auf dem ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin von fast allen Kirchen in Deutschland angenommen wurde, ist zudem unter der Nummer 6 zu lesen: „Unsere in Christus begründete Zusammengehörigkeit ist von fundamentaler Bedeutung gegenüber unseren unterschiedlichen theologischen und ethischen Positionen.“ Die christlichen Konfessionen sind eins im Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus, aber theologisch uneins über das, was sie von sich selber glauben: von der jeweiligen Kirche und ihrer Autorität und von den Autoritäten innerhalb eben dieser Glaubensgemeinschaft.
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Vor diesem Hintergrund und im Rahmen eines Konzils kann das Papstamt nur dann eine überkonfessionelle Dimension im Geiste der Ökumene entfalten, wenn alle – auch und gerade die Protestanten – in gemeinschaftlicher Verbindung mit dem Pontifex stehen, aber diesem eben nicht untergeordnet werden. Die nichtrömisch-katholischen Kirchen hoffen deshalb, dass der Papst um der Einheit der Kirche willen auf historisch gewachsene Rechte verzichtet und eine ökumenische Entwicklung einleitet, bei der er von den nicht-römisch-katholischen Christen vor allem keine Anerkennung des Unfehlbarkeitsdogmas und des Jurisdiktionsprimates fordert. Im Rahmen der konziliaren Gemeinschaft kann er aber in Absprache mit den anderen Kirchen auf der universalen Ebene als ein Sprecher der Christenheit fungieren. In Nummer 3 der Charta Oecumenica kann man des Weiteren lesen: „Wir verpflichten uns, Selbstgenügsamkeit zu überwinden und Vorurteile zu beseitigen, die Begegnungen miteinander zu suchen und füreinander da zu sein.“ Konfessionelles Milieu und Heimatbewusstsein können gläubigen Christen noch immer Geborgenheit beziehungsweise ein Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln und haben zweifellos viele weitere Vorteile. Aber rechtfertigen diese psychologischen Selbstverständnisse die wechselseitig noch immer bestehenden Vorurteile? Vor allem sollen viel mehr als bisher die kulturellen und philosophischen Denkvoraussetzungen konfessioneller Dogmen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Differenzen betreffen etwa die Gegenwart Christi in Brot und Wein beim Abendmahl. Aber auch die Frage über die unauslöschliche Taufgnade, welche in der katholischen Kirche bewirkt, dass eine gültig geschlossene Ehe zweier Getaufter als unauflösliches Sakrament gilt, das von keiner irdischen Instanz aufgehoben werden kann, ist ein spannungsgeladenes Thema. Ähnlich ist es bei der sogenannten Amtsgnade („character indelebilis“), welche bei der Ordination oder Priesterweihe durch einen gültig geweihten Bischof vermittelt wird und die Amtsvollmacht einschließt, bei der Eucharistie eine Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi zu zelebrieren. Wohingegen aus katholischer Perspektive beim evangelischen Abendmahl „wegen des Fehlens des Weihesakraments die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt“ wurde (Ökumenismusdekret des II. Vatikanischen Konzils Nr. 22). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Philosophie – konkret welche Ontologie, Transzendenz und Metaphysik – den jeweiligen Glaubenssätzen zugrunde liegt! Und daran unweigerlich anknüpfend: Wie kann und soll der ökumenische Dialog weitergehen, damit es schließlich zu einer vollen gegenseitigen Anerkennung und zu einer konziliaren Gemeinschaft der christlichen Kirchen kommen kann? Als Zwischenziele stehen seit Jahrzehnten verschiedene Ökumene-
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Formeln zur Debatte, wie zum Beispiel: „Differenzierter Konsens“, „Ökumene der Profile“ oder „Versöhnte Verschiedenheit“. Die orthodoxen Kirchen betonen hingegen, dass bei ihnen die „Fülle der Katholizität“ bewahrt sei, wie sie in der biblischen und altkirchlichen Tradition dogmatisiert wurde. Die römisch-katholische Kirche lehrt darüber hinaus, dass die 1854 und 1950 formulierten Dogmen über die unbefleckte Empfängnis und Himmelfahrt Mariens sowie über die Unfehlbarkeit des Papstes bei Ex-cathedra-Entscheidungen in seinem Amt als Pontifex zur unerlässlichen „Fülle der Wahrheit“ gehören; die reformatorischen Kirchen hätten nur Elemente der einen Wahrheit und seien darum nach römisch-katholischem Verständnis „nicht Kirchen im eigentlichen Sinne“. Auf protestantischer Seite führt dies zu emotionaler Empörung: Wir sind evangelische Christen und Kirchen und keine defizitären Katholiken. In der Sache lautet dann die logische Antwort der evangelischen Kirchen umgekehrt: „Nicht wir haben zu wenig, Ihr habt zu viel: Ihr fordert über das biblische Zeugnis hinaus zusätzliche Bedingungen zum Heil.“ Harte und verletzende Urteile wie „auf ewig geschieden“ oder gar „vermaledeite Abgötterei“ waren die Folge. Für die eigene Konfessionalität mag die jeweilige Haltung realistisch und legitim sein, aber in der Gemeinschaft mit anderen Kirchen schadet diese „quantitative Dialogmethode“ der Ökumene, weil sie die eigene Position strikt zum Maßstab der Verständigung erhebt. Quantitative Dialogmethoden sind daraus resultierend ökumenische Sackgassen, weil 1. von der eigenen „Fülle der Wahrheit“ her bei den „Anderen“ vor allem „Defizite“ herausgestellt werden – das ist die lehramtliche römisch-katholische Tendenz – und weil 2. von dem eigenen Anspruch „Es ist genug zur wahren Einheit“ her, bei den anderen vor allem inakzeptable zusätzliche Bedingungen angenommen werden – dies ist evangelische Tendenz. Allerdings haben sowohl die römisch-katholische Kirche mit ihren lehramtlichen Verlautbarungen des Zweiten Vatikanischen Konzils als auch die evangelischen Kirchen mit ihren Bekenntnisschriften andere Dialogmethoden entwickelt, die in keine Sackgassen, sondern zu gemeinsamen ökumenischen Wegen führen. Diese „qualitativen Dialogmethoden“ fördern die Ökumene, weil sie 1. eine „Hierarchie der Wahrheiten“ beachten, die „je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens“ (Zweites Vatikanisches Konzil: Ökumenismusdekret Nr. 11) verbunden sind;
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2. von der „Mitte der Heiligen Schrift“ her Kriterien gewinnen, die für die Erkenntnis der Wahrheit Gottes und der legitimen Vielfalt in der Kirche (Leuenberger Konkordie) stehen. Mit diesen nicht identischen, aber doch einander nahestehenden Methoden wurden in den letzten Jahrzehnten viele Dokumente wachsender Übereinstimmung erzielt. Die Erklärung von voller Kirchengemeinschaft zwischen reformierten, lutherischen, unierten und methodistischen Kirchen in der Leuenberger Konkordie 1973 ist dafür ein kirchengeschichtlicher Meilenstein. Und die Gemeinsame katholische-lutherische Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) formulierte den Fundamentalkonsens im Gesamten und einen „differenzierten Konsens“ in einzelnen Punkten bei den noch offenen und strittigen Fragen. Die Reformierten waren bei diesem Dialog nicht offiziell beteiligt, sind aber in der Sache mit eingeschlossen. Auch deshalb konnte in der Charta Oecumenica unter Nummer 4 festgehalten werden: „Wir verpflichten uns, auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen.“ Die Kirche Christi braucht auf allen geografischen Ebenen diejenige Gemeinschaftsstruktur, die der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat am besten dient. Abschließend seien einige Sätze von Kardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., zitiert, welche dieser im Lutherjahr 1983 vortrug. Er hielt „[…] den Gedanken, man könne durch ein ‚wirklich allgemeines (ökumenisches) Konzil‘“ diese Einheit herstellen, für eine hybride Idee: „Das wäre babylonischer Turmbau, der nur mit umso größerer Verwirrung enden müsste.“ Über diese Sorge kann man mit Verweis auf das urchristliche sogenannte Apostelkonzil in Jerusalem (Apostelgeschichte15) und die altkirchlichen Konzilien wohl auch etwas weniger skeptisch sein. Aber wichtiger ist, wie Kardinal Ratzinger, knapp 20 Jahre vor der Charta Oecumenica, engagiert für „realistische Zwischenziele“ plädierte: Das Zeugnis der Liebe (caritative, soziale Werke) soll man grundsätzlich immer gemeinsam abgeben können oder zumindest aufeinander abstimmen, wenn getrennte Organisationen aus technischen Gründen wirksamer erscheinen. Es sollte auch ein gemeinsames Grundzeugnis des Glaubens in einer von Zweifel und Ängsten erschütterten Welt abgelegt werden. All dies müsste auch dazu führen, dass man immer mehr das gemeinsame Christsein in und trotz der Trennung erkennt und liebt; dass Trennung nicht mehr Grund zum Gegeneinander, sondern erst recht Herausforderung zu einem inneren Verstehen und Annehmen des anderen ist, das mehr bedeutet als bloße Toleranz: ein Sich-Zuhören in der Treue zu Jesus Christus.
Das Papsttum aus evangelisch-ökumenischer Sicht: Erinnerungen eines Wegbereiters |
Hier zeigt sich der dogmatisch oft abgrenzende Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation als ein offener und liebevoller Ökumeniker. Im Himmel werden wir wohl nicht gefragt, wie wir über Luther und Papst gedacht haben, sondern wie wir in Wort und Tat dem gefolgt sind, dessen Namen wir als Christen tragen. Konfessionelle, ortskirchliche und landeskirchliche Selbstgenügsamkeit ist Sünde. Mehr ökumenische Gemeinschaft ist Gnade.
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Die Herausgeberin und die Herausgeber Gerulf Hirt, geb. 1982, ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit an der Universität Halle-Wittenberg. Nach seinem Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Sozialpolitik und Geschlechterforschung an der Universität Göttingen wurde er an der Universität Jena mit einer kommunikations- und mentalitätsgeschichtlichen Arbeit zur Expertenkultur der ersten Werbeberater und Werbeleiter der westdeutschen Konsum- und Investitionsgüterindustrie promoviert. Silke Satjukow, geb. 1965, ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Halle-Wittenberg. Nach ihrem Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie, der russischen Sprache und Literatur sowie der Erziehungs- und Kommunikationswissenschaften an den Universitäten Moskau, Berlin, Erfurt und Jena wurde sie an der Universität Jena mit einer Arbeit zur Kulturgeschichte der Bahnhofstraßen promoviert. Ebenfalls in Jena habilitierte sie sich mit einer Arbeit zu den russischen Besatzern in Deutschland. David Schmiedel, geb. 1986, ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit an der Universität Halle-Wittenberg. Nach seinem Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Germanistik und Religionswissenschaft an der Universität Jena wurde er an der Universität Magdeburg mit einer Arbeit über die Selbstzeugnisse christlicher Wehrmachtssoldaten während des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion promoviert.
Die Autorinnen und Autoren Mariano Barbato, geb. 1972, ist derzeit DFG-Heisenberg-Stipendiat und Leiter des Projekts „Die Legionen des Papstes II: Eine Fallstudie zu sozialer und politischer Transformation“ am Centrum für Religion und Moderne an der Universität Münster. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte sowie Philosophie an der Universität München wurde er ebendort mit einer Arbeit zur Macht und Legitimität politischer Sprache im Prozess der europäischen Integration promoviert. Er habilitierte sich mit einer Studie zur politischen Theorie der Pilgerschaft in der Globalisierung im Fach Politikwissenschaft an der Universität Passau, wo er derzeit als Privatdozent lehrt. Reinhard Frieling, geb. 1936, war von 1981 bis zu seinem Ruhestand im Jahre 1999 Direktor des Evangelischen Bundes und Leiter des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim. Nach seinem Studium der Evangelischen Theologie an den Universitäten Marburg und Münster sowie an der Ökumenischen Hochschule des Ökumenischen Rates der Kirchen in Bossey bei Genf absolvierte er sein Vikariat in der Evangelischen Kirche von Westfalen. Rainer Gries, geb. 1958, ist Inhaber des Franz Vranitzky Chair for European Studies am Institut für Zeitgeschichte und am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Zudem ist er Professor für Psychologische und Historische Anthropologie an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien/Berlin/Paris. Nach seinem Studium der Fächer Deutsch und Geschichte an der Universität Freiburg im Breisgau wurde er ebendort mit einer Arbeit zu den Versorgungskämpfen und Vergleichsmentalitäten der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft am Beispiel Leipzigs, Münchens und Kölns promoviert. Die Habilitation erfolgte an der Universität Jena mit einer vergleichenden Studie über die Kulturgeschichte von Produktkommunikationen in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften. Charlotte Pissors, geb. 1988, studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Politikwissenschaft und Publizistik an den Universitäten Mainz und Umeå. Derzeit ist sie Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg „Die christlichen Kirchen vor der Herausforderung ‚Europa‘ (1890 bis zur Gegenwart)“ an der Universität Mainz und arbeitet an ihrem Dissertationsprojekt, das sich mit den verschiedenen Europaperspektiven im schwedischen Staatskirchensystem auseinandersetzt.
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| Die Autorinnen und Autoren
Bernward Schmidt, geb. 1977, ist Juniorprofessor am Institut für Katholische Theologie an der RWTH Aachen. Nach seinem Studium der Katholischen Theologie und Geschichte an den Universitäten Freiburg und Münster wurde er mit einer Arbeit zur Lektüre und Zensur gelehrter Zeitschriften an der römischen Kurie (1665 bis 1765) an der Universität Münster promoviert. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Konzilien und des Papsttums in der Neuzeit sowie Martin Luthers frühe Gegner. Bertram Schmitz, geb. 1961, ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Jena. Nach seinem Studium der Religionswissenschaft, Evangelischen Theologie, Orientalistik, Slawistik und Philosophie an der Universität Marburg wurde er ebendort in Religionsphilosophie/Systematischer Theologie mit einer Arbeit zur Existenztheologie (Paul Tillich) und Existenzphilosophie (Karl Jaspers) sowie in Religionswissenschaft an der Universität Hannover mit einer Studie zu „Religion“ und deren Entsprechungen im interkulturellen Bereich promoviert. Die Habilitation erfolgte an der Universität Hannover zur Transformation der Eucharistiefeier als ein Zentralsymbol aus religionswissenschaftlicher Perspektive. Dirk Schuster, geb. 1984, ist derzeit akademischer Mitarbeiter am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft an der Universität Potsdam. Nach seinem Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie Religionswissenschaft an der Universität Leipzig wurde er an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit zum wissenschaftlichen Selbstverständnis des „Entjudungsinstituts“ in Eisenach promoviert. Ulrike Treusch, geb. 1971, ist derzeit Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen. Nach ihrem Studium der Evangelischen Theologie und Germanistik an den Universitäten Tübingen und Jerusalem wurde sie an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über einen Theologen der Melker Reformbewegung im 15. Jahrhundert promoviert.