Die Geburt des modernen Geschichtsdenkens in Europa [1 ed.] 9783428537990, 9783428137992

In seiner Studie über die Geburt des modernen Geschichtsdenkens in Europa zeigt Andreas Heuer auf, wie sich die beiden H

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German Pages 150 Year 2012

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Die Geburt des modernen Geschichtsdenkens in Europa [1 ed.]
 9783428537990, 9783428137992

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 68

Die Geburt des modernen Geschichtsdenkens in Europa Von Andreas Heuer

Duncker & Humblot · Berlin

ANDREAS HEUER

Die Geburt des modernen Geschichtsdenkens in Europa

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 68

Die Geburt des modernen Geschichtsdenkens in Europa Von

Andreas Heuer

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13799-2 (Print) ISBN 978-3-428-53799-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-83799-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Mareike und Madeleine

Vorwort „Der abendländische Ausweg aus dieser Unmöglichkeit der ­Politik innerhalb des abendländischen Schöpfungsmythos ist die Verwandlung oder die Ersetzung der Politik durch Geschichte. Durch die Vorstellung einer Weltgeschichte wird die Vielzahl der Menschen in ein Menschenindividuum zusammengeschmolzen, das man dann auch noch Menschheit nennt. Daher das Monströ­ se und Unmenschliche der Geschichte, das sich erst am Ende voll und brutal in der Politik selbst durchsetzt.“ (Hannah Arendt, August 1950, Denktagebuch)

Hannah Arendt hat nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren Denktagebüchern über die Lage der politischen Welt nach­ gedacht und über die Frage, was Politik im Angesicht des Totalitarismus bedeutet. Sie sah, dass der Zusammenfall von Geschichte, von historischer Bestimmung und einer Politik, die diese historische Bestimmung verwirklicht, Kern des Totalitarismus gewesen ist und noch war. Ihre Frage, wie die Politik vor dem Zugriff einer Geschichte gerettet werden kann, die den Anspruch stellt, allumfassend zu sein, beant­ wortet Hannah Arendt an einer Stelle in ihren Denktagebü­ chern: „Was ist Politik? Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.“1 Das moderne Geschichtsdenken in Europa hat zwei Deu­ tungen hervorgebracht, die gegenwärtiges naives Geschichts­ denken immer noch prägen: die Idee der Weltgeschichte, die im westlichen Kontext in der Regel nach wie vor als west­ liche Geschichte gedeutet wird, und den Historismus, die Anschauung, dass Welt und Mensch, die menschliche Welt, nur geschichtlich verstanden werden kann.

1  Arendt

(2002), 15.

8 Vorwort

Nach dem Ende des Kalten Krieges scheint der Anspruch, Politik vor dem Zugriff eines totalitären Geschichtsdenkens zu wahren, gebannt. Aber die Naivität eines westlichen Ge­ schichtsdenkens in einer nicht mehr westlichen geprägten Welt besteht fort. Dieses Geschichtsdenken sieht in Europa den Königsweg der Geschichte und deutet Weltgeschichte immer noch im Schema der Weltgeschichtsdeutungen des 19. Jahrhunderts. Um sich seiner Naivität zu entledigen, muss sich das moderne Geschichtsdenken in Europa seiner Herkunft bewusst sein, um seine Grenzen zu erkennen, und den Weg frei machen für ein bescheideneres und offeneres Geschichtsdenken als das, was immer noch allzu oft in Schulen und Universitäten gelehrt wird und den öffentlichen Diskurs, wenn es um historische Sachverhalte geht, be­ stimmt. Mein Dank gilt Liya Yu, die es mir ermöglichte, im Rah­ men einer außerordentlichen Lehrveranstaltung des Depart­ ment of Political Science der Columbia University New York unter der Leitung von Prof. Johnston einen Vortrag über den Zusammenhang von Religion und Politik zu hal­ ten. Bei der Abfassung des Vortrags The theologico-political foundation of modernity as a political problem war Lloyd West ein geduldiger Korrektor meines Manuskripts. In Ge­ sprächen mit Liya Yu und Lloyd West und ihren Erfahrun­ gen in einer globalisierten Welt sind meine Ansichten über die Grenzen des modernen europäischen Geschichtsdenkens weiter vertieft worden. Erneut gilt mein Dank dem Verlag Duncker & Humblot, der die Veröffentlichung dieser Schrift ermöglichte. Regine Schädlich danke ich für die unkomplizierte und gute Zu­ sammenarbeit bei der Fertigstellung des Manuskripts. Kassel, im Januar 2012

Andreas Heuer

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   11 B. Die anthropologische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   21 C. Die immanente Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   40 D. Die Entstehung der globalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   50 E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .   67 F. Historismus und historisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . .   80 G. Welt als Geschichte – Ideologien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   98 H. Die Kritik am historischen Denken: Karl Popper und Leo Strauss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 I. Historisches Denken und Anerkennung. . . . . . . . . . . . . . . . .  130 J. Jenseits der Welt-Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  136 Literatur- und Quellenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  141 Personen- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  147

A. Einleitung Das moderne Geschichtsdenken in Europa bildet sich seit dem 16. Jahrhundert heraus. Es hat zur Voraussetzung, dass die Welt zunehmend als eine innerweltliche gedeutet wird, in der sich die profane Zeit von der heiligen Zeit abkoppelt. Theologie und Religion werden in den Kontext einer Dies­ seitigkeit eingebettet und verlieren ihren Maßstab, Diessei­ tigkeit in der Transzendenz des Religiösen zu begründen. Indem die Welt in ihrer Natürlichkeit und geographischen Einheit entdeckt wird, entsteht eine Hinwendung zu Kultu­ ren und Zivilisationen, die durch Beobachtung und Be­ schreibung begriffen werden sollen. Damit entsteht eine neue Form der Fremderfahrung. Das Fremde wird, um es verstehbar zu machen, in das Eigene übersetzt. Die Fremd­ wahrnehmung bestimmt zunehmend die Eigenwahrneh­ mung. Eigene Geschichten verdichten sich zu einer Ge­ schichte, der die anderen Geschichten zu- und untergeordnet werden. Geschichte im Sinne von Geschichten, durch die Men­ schen versuchen, etwas über sich zu verstehen, ist kein neues Phänomen. Aber die Ansicht, dass man nur oder in erster Linie durch die Betrachtung von Geschichte Men­ schen, Kulturen und Zivilisationen verstehen könne, ist neu. Geschichte wird ins Zentrum von Welterklärung gestellt. Welterklärung ist ein umfassender Begriff, der die beiden Seiten menschlicher Erklärungsweisen über die Welt bein­ haltet, die traditionellerweise nicht zusammen gedacht wer­ den: die Geistes- und die Naturwissenschaften. Während die Naturwissenschaften versuchen, den Kosmos und die Natur zu erklären, sehen die Geisteswissenschaften ihr Ziel darin, den Menschen in seinen sozialen, moralischen, historischen Handlungen zu begreifen. Geschichte versucht auf eigene

12

A. Einleitung

Weise, alle menschlichen Handlungen und Tätigkeiten his­ torisch zu begreifen. Im deutschen, aber auch im europäi­ schen Sprach-Raum, hat sich die Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend als primär geisteswis­ senschaftliche Disziplin entwickelt. Von Droysen über Ran­ ke und Dilthey wurde das Verstehen ins Zentrum histori­ schen Denkens gestellt, das sich damit vom erklärenden Ansatz der Naturwissenschaften unterscheidet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Ernst Troeltsch diese Sichtweise in seinen Schriften exemplarisch zum Ausdruck gebracht. Er war der Überzeugung, dass die historische Betrachtung, der Historismus, eine grundsätzlich neue, wissenschaftliche Me­ thode zur Erkenntnis von Welt darstelle, die in ihrer Bedeu­ tung der wissenschaftlichen Methode der Naturwissenschaf­ ten gleichrangig sei. Die historische Methode bedeutet „ebenso wie die modernen Naturwissenschaften gegenüber dem Alterthum und Mittelalter eine völlige Revolution un­ serer Denkweise. Enthält die eine eine neue Stellung zur Natur, so enthält die andere eine neue Stellung zum mensch­ lichen Geist und zu seinen idealen Hervorbringungen.“2 Die Besonderheit der historischen Methode und Denkweise fasst er wie folgt zusammen: „Das ist die offenkundig vor Augen liegende Wirkung der histo­ rischen Methode. Sie relativiert Alles und Jedes, nicht in dem Sinne, dass damit jeder Werthmaasstab ausgeschlossen und ein nihilistischer Skepticismus das Endergebnis sein müsste, aber in dem Sinne, dass jeder Moment und jedes Gebilde der Geschich­ te nur im Zusammenhang mit anderen und schließlich mit dem Ganzen gedacht werden kann, und dass jede Bildung von Werth­ maasstäben deshalb nicht vom isolierten Einzelnen, sondern nur von der Überschau des Ganzen ausgehen kann.“3

Für Troeltsch war die Erkenntnis der historischen Metho­ de ein Ergebnis der Aufklärung. Durch sie hatte sich eine Kritik am Dogmatismus entwickelt, die den Absolutheitsan­ spruch des Christentums im Sinne einer außerzeitlichen Fun­ 2  Troeltsch 3  Troeltsch

(1900), 7. (1900), 9–10.



A. Einleitung13

dierung zerstört hatte. „Nirgends“, so schrieb Troeltsch, „ist das Christentum die absolute, von geschichtlicher, momenta­ ner Bedingtheit und ganz individueller Artung freie Religion, nirgends die wandellose, erschöpfende und unbedingte Ver­ wirklichung eines allgemeinen Begriffs der Religion.“4 Damit wurde die historische Methode, der Historismus, erkenntnis­ theoretisch in den Rang einer Wissenschaft erhoben, die sich in erster Linie nur in Bezug auf ihr Erkenntnisobjekt von den Naturwissenschaften unterschied. Letztendlich wurde da­ durch Geschichte von Natur abgegrenzt. Beide Bereiche wur­ den eigenständig wissenschaftlich fundiert, ohne die Proble­ matik des Übergangs von der Naturgeschichte in die mensch­ liche Geschichte angemessen zu thematisieren. Hier setzte sich der neuzeitliche Dualismus von Geist und Seele, Ver­ nunft und Gefühl, fort. Diese Dichotomie der Natur- und der Geisteswissenschaften, auf die sich das 20. Jahrhundert noch weitgehend berufen konnte, wird im 21. Jahrhundert nicht mehr aufrecht zu erhalten sein. Bewusstsein als Be­ standteil des Begriffs Geschichtsbewusstseins fußt in Berei­ chen, für die auch die Naturwissenschaften zuständig sind. Dennoch scheint es unbestreitbar, dass die Geschichtswissen­ schaft in ihren verschiedenen Ausprägungen stärker an der Besonderheit der Geisteswissenschaften als dem Fundament historischen Denkens festhält und festhalten wird. Ihr Selbst­ verständnis gründet in der Annahme, dass historisches Wis­ sen niemals in gleicher Weise Regelhaftigkeit und Gesetzmä­ ßigkeiten entdecken und nachweisen kann, wie dies in den Naturwissenschaften der Fall ist. Damit greifen die Geistes­ wissenschaften auf eine Argumentation zurück, die sich be­ reits in der griechischen Antike findet. Weder Platon noch Aristoteles sehen Geschichte als Teil der Philosophie, dem Fundament wahren Wissens. Platons Vorstellung der Ideen als Urbildern ewiger Wahrheit und Aristoteles’ Konzept der Erforschung des Allgemeinen, die zu wahrer Erkenntnis führt, findet in der Geschichte keine Entsprechung, da sie weder Immerseiendes noch Allgemeines hervorbringt. Erfor­ 4  Troeltsch

(1902), 33.

14

A. Einleitung

schung von Geschichte kann nicht zu verlässlichem, begrün­ detem Wissen führen, sondern lediglich zu unsicherem Mei­ nen. Diese Verbannung der Geschichte aus dem Bereich wah­ ren Wissens wird im europäischen Kontext in der Neuzeit nicht aufrechterhalten. Die Entdeckung der Welt, anderer Völker und Kulturen stellt das Eigene, Besondere in einen neuen Kontext. Während in der Antike die Entdeckung des Anderen als Beschreibung des Anderen wahrgenommen wird, wird in der europäischen Neuzeit der Andere in einen historischen Raum gestellt, der an die Idee einer Entwicklung geknüpft wird. Sein wird geschichtliches Sein. Es entsteht ein Bewusstsein über die Zeit als einem historischen Geschehen, das über dieses unmittelbare Geschehen hinausweist. Ge­ schichte wird Fortschritt, Entwicklung, Verwirklichung. Un­ ter diesen Leitmotiven verbinden sich Geschichten zu einem gemeinsamen Geschehen, aus vielen verschiedenen Geschich­ ten wird eine Geschichte, Welt-Geschichte. Es entsteht ein historisches Bewusstsein, das Geschichte als Erklärungsmo­ dell neben den Naturwissenschaften etabliert. Das heliozentrische Weltbild verbannt nicht nur die Erde aus dem Mittelpunkt des Kosmos, sondern weist den Men­ schen aus dem Bereich der äußeren Schöpfung in die Erfor­ schung des Inneren. In diesem Punkt erkennt Dilthey die Besonderheit der Geisteswissenschaften, deren Grundlage das historische Denken ist: „Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewusstseins fand ich den ersten Ankergrund für mein Denken, und ich habe den Mut, dass kein Leser sich der Beweisführung in diesem Punkte entziehen wird. Alle Wissenschaft ist Erfah­ rungswissenschaft, aber alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Bewusstseins, innerhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer Natur … Nun aber zeigte sich mir wei­ ter, dass die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften eben von diesem Standpunkt aus eine Begründung findet, wie die histori­ sche Schule sie bedarf.“5 5  Dilthey

(1962), XVII f.



A. Einleitung15

Dilthey setzt der Aufklärung, die alles Denken und Han­ deln an den Maßstäben einer äußeren Vernunft messen will, die Idee einer historischen Vernunft entgegen, die alle geis­ tigen Tatsachen geschichtlich begreift. Dabei geht er in dieser Deutung an einem zentralen Aspekt der Aufklärung vorbei. Die Vernunft der Aufklärung ist bereits selber eine histori­ sche und sie macht die Vernunft zum Maßstab der Beurtei­ lung von Geschichte. Der Entwicklungsstand eines Volkes und einer Kultur bemisst sich an der in ihr hervorgebrachten Vernunft, die als ein geschichtliches Vermögen begriffen wird. Die je individuelle Vernunft eines jeden Einzelnen bezieht sich auf seine moralische Urteilsfähigkeit, die histo­ rische Vernunft auf den Gesamtzusammenhang gesellschaft­ licher Erscheinungen, durch die eine Gesellschaft als Ganzes sich auf einem Entwicklungsweg zu einer vernünftigen Ge­ sellschaft befindet. Historische Vernunft kann nur in Bezug auf ein Bewusstsein gedacht werden, das selber historisch ist. Erst der Zusammenfall von geschichtlichem Sein und einer Idee, an der dieses gemessen wird, führt zu einer Ver­ bindung von Geschichte und Bewusstsein, in der Geschich­ te mehr ist als die Wahrnehmung und Erzählung einzelner Geschichten. „Man kann sich in der Tat fragen“, so Löwith, „ob es geschichtliches Sein, geschichtlichen Fortschritt, Kontinuität und Krisen überhaupt geben kann, ohne eine entsprechendes historisches Bewusst-sein.“6 Ein historisches Bewusstsein, Geschichtsbewusstsein, entsteht, wenn nicht einzelne Ereignisse, sondern das ganze Leben historisiert wird. Diese Verbindung von Sein, Geschichte und Bewusst­ sein ist ein Akt, ein Geschehen, das sich seit dem 16. Jahr­ hundert mit der geographischen Entdeckung der Welt vor­ nehmlich im Westen vollzieht. Die gesamte Welt, der Globus, wird ein natürlicher und ein historischer Raum. In dem historischen Raum werden die Zivilisationen, Völker, Kultu­ ren verglichen und zeitlich in einer Achse von Rückschritt und Fortschritt eingeordnet. Die fortschrittlichen Länder weisen den rückständigen den Weg in die Zukunft. Zivilisa­ 6  Löwith

(1966), 411 f.

16

A. Einleitung

tionen stehen nicht mehr als gleichberechtigt nebeneinander, sondern im direkten Vergleich einer Entwicklungsstufe. Aus Geschichten wird eine Geschichte, die sich auf die ganze Welt bezieht, Welt-Geschichte. Diese Weltgeschichte umfasst nicht alle Handlungen, Vorstellungen, Denkmuster und greift nicht in alle Lebensverhältnisse ein. Sie umspannt die Weltwirtschaft und die Weltpolitik, die ihrerseits zurückwir­ ken auf die mittleren und unteren Ebenen der Gesellschaf­ ten. Aus den nebeneinander existierenden Zivilisationen wird ein Weltinnenraum, der Anpassungen notwendig macht, um in diesem Raum als Handelnder (Nation, Staat) in das Weltgeschehen eingreifen zu können. Der Weltinnen­ raum, die Bühne der Weltgeschichte, ermöglicht neben der Vereinheitlichung von Wirtschaft und Politik das Gespräch über Normen und Werte, die in diesem Raum gelten sollen. Die Relativierung des Geschichtlichen weicht einer Univer­ salisierung von Normen und Werten, die überall gelten sol­ len. Ein solches Ideal bricht sich an der Realität, während Realität an diesem Ideal gemessen werden kann. Dieser Prozess ist schleichend und nicht geradlinig. Im 18. Jahr­ hundert ist die Zeitachse des Fortschritts noch nicht selbst­ verständlich. Es gab eine Vielfalt von Weltdeutungen, die nicht unter dem Diktum der Aufklärung, des Nationalismus und der Industrialisierung stehen. Vico differenziert in sei­ nen Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (1725) nicht zwischen weniger und weiter entwickelten Völkern, sondern betont immer wieder den Gemeinsinn des Menschengeschlechts.7 Vier Jahre zuvor äußert sich Christian Wolff in seiner Rede über die praktische Philosophie der Chinesen teilweise mit Bewunderung für dieses Volk. Er spricht ihnen die Tugend zu, sämtliche Handlungen auf die höchste Vollkommenheit zu richten.8 Wolff sieht keinen Grund, China im Sinne eines Fortschritts oder Rückschritts an Europa zu messen. Dieses Klima der Beobachtung, Wahrnehmung, Entdeckung wandelt sich im 7  Vico

(2009), 612. (1985), 55.

8  Wolff



A. Einleitung17

18. und 19. Jahrhundert. Die Parole der Gleichheit in der Amerikanischen und Französischen Revolution wird mit der Idee einer sich entwickelnden Zivilisation verbunden. Zivili­ siert sind die Weißen, die Anderen sind weniger zivilisiert oder wild. Die Zeitachse der Welt-Geschichte wird asymme­ trisch. Hegel unterscheidet Natur und Geist durch den Gedanken des Fortschritts: „In der Natur macht die Gattung keinen Fortschritt. Im Geist aber drängt die Veränderung auf eine neue Stufe, ist jede Veränderung Fortschritt.“9 In Afrika, so konstatiert Hegel, sind die Völker nie aus sich herausgekommen, „haben in der Geschichte keinen Fuß gefasst.“10 Es beginnt die Einteilung der Völker im Rahmen einer umfassenden Welt-Geschichte nach Kriterien von Fortschritt und Entwicklung. Geschichte löst Religion als Legitimation politischen Handelns ab. Der geschichtliche Fortschritt wird gemessen an dem Entwicklungsstand der Anderen. Worin dieser Fortschritt besteht, ist variabel. Er selber bleibt die zentrale Idee der Welt-Geschichte. In ihr und durch sie erfährt das menschliche Bewusstsein seinen Rang in der geschichtlichen Entwicklung, die nicht aus sich heraus, sondern nur im Vergleich zu anderen Völkern und Zivilisationen gemessen werden kann. Welt-Geschichte ist ein Produkt der Entdeckung der Welt aus der Perspektive des Entdeckers. Hierin liegt ihr Ursprung. Sie ist der Hori­ zont, aus dem und auf den sich Geschichtsbewusstsein be­ zieht. Die Entwicklung zu einem Geschichtsbewusstsein, das die Welt und die gesamte Geschichte im Sinne eines Fortschritts begreift, vollzieht sich langsam in der europäischen Neuzeit. Sie tritt nicht plötzlich mit der Ablösung des alten geozen­ trischen Weltbildes im 16. Jahrhundert auf. Die Entdeckun­ gen neuer Handelswege und Regionen ist kein euro­päisches Phänomen. Man denke etwa an die Handelsverbindungen im eurasischen Raum über die Seidenstraße, die Routen in­ 9  Hegel

(1996), 38. (1996), 99.

10  Hegel

18

A. Einleitung

nerhalb der islamischen Welt von Asien über A ­ frika nach Europa oder die Entdeckungsfahrten von Zheng He (1371– 1435) unter der chinesischen Ming-Regierung (1368–1644). Diese führten ihn nach Java, Sumatra, Indien. Seine längste Entdeckungsfahrt brachte ihn bis zur Ostküste Afrikas, zum Roten Meer und nach Mekka, 50 Jahre vor den Entde­ ckungsfahrten des Columbus.11 Noch im 18. Jahrhundert gibt es in Europa eine Hochachtung vor anderen Kulturen, die nicht an den Maßstäben des Eigenen im Sinne eines Fortschritts gemessen werden. Weltgeschichte wird nicht teleologisch auf die Europäisierung der Welt hin gedeutet. Die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung waren aber gelegt. Der Kolonialismus und der Imperialismus wa­ ren weder eine Fortsetzung noch ein radikaler Bruch mit der zunehmenden Hinwendung von Weltdeutung und Welt­ erklärung im Rahmen eines wissenschaftlichen Denkens, die im Verlauf der europäischen Neuzeit immer mehr versuch­ ten, ihre metaphysischen Wurzeln abzustreifen. Der Prozess der Rationalisierung als Ergebnis einer kapitalistischen Ver­ messung der Welt bildet Grundlage dieser Entwicklung und nicht eine spezifische Ausprägung der okkzidentalen Kultur. Die Besonderheit, wenn man überhaupt von einer solchen sprechen möchte, war die Umwandlung theologischen und religiösen Denkens in innerweltliche Vorstellungen. Doch auch hier ist Vorsicht geboten, um nicht von vornherein die Erwartung des Vor-Urteils einer Europäisierung der Welt zu erfüllen. Die Entwicklungen außerhalb Europas bereits vor dem 16. Jahrhundert zeigen, dass Rationalität und Rationali­ sierung keine westlichen Phänomene sind. Max Webers Versuch zu zeigen, dass „der Sohn der modernen europäi­ schen Kulturwelt“ universalgeschichtliche Probleme „unver­ meidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln“ wird: „welche Verkettungen von Umständen dazu geführt haben, dass gerade auf dem Boden des Okzi­ dents und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns vorstellen – in einer Ent­ 11  Dai

Shifeng (2003), 127.



A. Einleitung19

wicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültig­ keit lagen“,12 muss relativiert werden. Diese Annahme ba­ siert auf den Vorstellungen von Weltgeschichte, wie sie in Europa während des 19. Jahrhunderts konzipiert worden sind. Sie sind in dieser Form noch im 18. Jahrhundert so nicht zu finden. August Ludwig Schlözer (1735–1809), einer der Vorreiter einer Weltgeschichtsschreibung, dachte in sei­ nem Werk Vorstellungen einer Universalgeschichte weder über eine Vorreiterrolle Europas noch über eine normative Ausrichtung einer Weltgeschichte nach, die sich aus einem solchen Kontext ergibt.„Im Denkhorizont der Aufklärung“, so ­Osterhammel, „stellte Schlözer weitreichende und selbst noch für die Gegenwart bedenkenswerte Überlegungen da­ rüber an, wie eine nicht europazentrische Weltgeschichts­ schreibung aussehen könnte.“13 Die Hinwendung zu einer europazentrischen Weltge­ schichte, so die These, ist ein Ergebnis der ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des 18.  /  19. Jahrhunderts. Dies bedeutet aber nicht, dass sie voraus­ setzungslos wären. Eine auf Europa fixierte Weltgeschichte und die Entstehung eines entsprechenden Geschichtsbe­ wusstseins fußen auf historischen Prozessen, die seit dem 16. Jahrhundert zu einem Umdenken von Welterklärung im /  16.  /  Sinne einer immanenten Welt geführt haben. Im 15.  17. Jahrhundert vollzieht sich in Europa eine anthropologi­ sche Wende, die den Menschen und seine Bedürfnisse aus dem Rahmen eines teleologischen und metaphysischen Den­ kens löst. Der Mensch wird zunehmend in seiner Natürlich­ keit entdeckt und als ein Wesen gedeutet, das durch Egois­ mus und den Willen zur Selbsterhaltung gekennzeichnet ist. Mit dieser Deutung vollzieht sich im 17. / 18. Jahrhundert ein Prozess von der Transzendenz zur Immanenz. Religiöse Weltdeutungen, wie sie im europäischen Mittelalter typisch waren, werden nicht einfach durch die Naturwissenschaften abgelöst, sondern vielmehr in einen innerweltlichen Deu­ 12  Weber

(1988), 1. (2010), 62.

13  Osterhammel

20

A. Einleitung

tungshorizont umgewandelt. Die Reformation führt zu einer Übertragung religiösen Denkens in den Kontext einer Mo­ ralisierung des Inneren. Der naturwissenschaftlichen Erklä­ rung der natürlichen Welt, das, was die Welt im Innersten zusammenhält, folgt eine Verinnerlichung des Menschen. Die Entdeckungsfahrten und die Kartographie der Welt füh­ ren erst in dem Moment zu einer europazentrierten Welt­ deutung, als infolge dieser Entwicklungen die Welt nicht mehr als ein Ort verschiedener, gleichberechtigter Kulturen und Zivilisationen gesehen wird, sondern als ein Ort histo­ rischer Entwicklungen, die sich an einer Fortschrittsidee messen lassen. Vorher war das Nachdenken über Geschichte eher ein Diskurs über verschiedene Geschichten, die zwar in Bezug zueinander gesetzt wurden, ohne dass aber eine Überlegenheit einer Zivilisation über alle anderen postuliert worden wäre. Geschichtsbewusstsein als zusammenfassende Deutung aller Geschichten in einer Weltgeschichte ist das Ergebnis vielfältiger Entwicklungen, die im 19. Jahrhundert durch Kolonialismus und Industrialisierung zu einer euro­ pazentrierten Weltgeschichte führen. Der Historismus, der sich gegen die Vereinnahmung durch die philosophische Geschichtsbetrachtung gewehrt hat, bleibt in dieser Hinsicht ein Produkt solcher Weltgeschichtskonstruktionen. Ge­ schichte wird im Rahmen der Weltgeschichte zur zentralen Deutungs- und Legitimationsressource in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Erst wenn wir diesen Zusammenhang be­ greifen, können wir uns erneut der Weltgeschichte zuwen­ den, ohne in Europa den Königsweg einer weltgeschicht­ lichen Entwicklung zu sehen.

B. Die anthropologische Wende Im Kontext der europäischen Geschichte vollzieht sich im 16.  /  17. Jahrhundert eine anthropologische Wende, die ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Historisierung des Den­ kens ist. Diese anthropologische Wende vollzieht sich vor dem Hintergrund der religiösen Bürgerkriege und der Ab­ wendung von einer teleologischen Naturbetrachtung. Ihren Ausdruck findet sie in der neuen Grundlegung der politi­ schen Philosophie, die vor allem von Thomas Hobbes durchgeführt wird. Sie gründet in einer Infragestellung des antiken Naturbegriffs und einer Hinwendung zu einer in­ nerweltlichen Deutung des Menschen. Hobbes ist, so wie viele seiner Zeitgenossen des 16. / 17. Jahrhunderts, in seinem Denken nicht geleitet durch geographische Entdeckungen oder historische Vergleiche, sondern durch das Aufkommen des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens und den politischen Herausforderungen, die sich aus der Unfähigkeit der mittelalterlichen Staatenwelt ergaben, die religiösen Konflikte der Reformation zu lösen. Hobbes Naturzustand, ein wesentlicher Bestandteil seiner politischen Philosophie, ist kein historischer Zustand, den er in einer Zeitachse des historischen Fortschritts einordnet. Es ist die Beschreibung eines politischen Zustandes, in der es keinen Souverän gibt, der die aufbrechenden Konflikte seiner Bürger unter Kont­ rolle halten kann. Im westlichen Kontext ist die anthropologische Wende das Aufkommen des neuzeitlichen Säkularismus. Ausgehend von der Renaissance entsteht ein Humanismus, der nicht mehr auf religiöse Deutungen fixiert ist und keine letzten Ziele kennt. Darin unterscheidet er sich in der europäischen Geschichte vom antiken und mittelalterlichen Denken. Der Mensch rückt ins Zentrum von Welterklärung und bedarf

22

B. Die anthropologische Wende

keiner transzendenten, religiösen oder außerweltlichen Fun­ dierung. In der bisherigen Weltdeutung waren Kosmos und das Geschehen der Welt ein Beleg für die Absichten und Handlungen Gottes.14 Nun beginnt eine langsame Distan­ zierung, ohne dass Religion ihre Bedeutung für das Leben der meisten Menschen verliert. Doch Religion ist nicht mehr die umfassende und ausschließliche Fundierung von Welt­ deutung. Sie bleibt im Rahmen des neuzeitlichen Humanis­ mus Teil der Lebenswelt und Lebenspraxis. Ihre Referenz als Deutungsrahmen allen Geschehens schwindet. Im 16. Jahrhundert erfasst die Menschen – nicht nur in Eu­ ropa – eine Unruhe. Die meisten Menschen leben zu jener Zeit auf dem Land, alle Gesellschaften sind primär Agrarge­ sellschaften und leben von der Landwirtschaft. Überschüsse kommen den Reichen und Privilegierten zugute, in neu ent­ stehenden Städten erwächst eine Kultur, die sich nicht nur geographisch von der ländlichen Kultur unterscheidet. Ein aufblühender Fernhandel verbindet China und die Gewürz­ inseln in Südostasien mit Indien. Über die Seidenstraße füh­ ren Handelsrouten von China nach Europa. Von den italieni­ schen Stadtstaaten aus wird Handel über den Nahen Osten und dem Indischen Ozean betrieben. Das südliche Afrika ist mit dem Norden des Kontinents verbunden und wird über den Sklavenhandel in den Dreieckshandel von Afrika, Nordund Südamerika integriert. In den europäischen Städten bil­ det sich die neue Kultur eines diesseitigen Humanismus ­heraus. Die Schrecken der Schwarzen Pest, die Entdeckung neuer Genussmittel durch den Fernhandel, neue Kenntnisse anderer Länder und der Blick auf die Natur und die Natür­ lichkeit des Lebens führen zu einer neuen Wahrnehmung des Lebens und der Körperlichkeit. Im Leben des Galilei lässt Brecht seinen Protagonisten sagen: „Durch zweitausend Jahre glaubte die Menschheit, dass die Son­ ne und alle Gestirne des Himmels sich um sie drehen. Der Papst, die Kardinäle, die Fürsten, die Gelehrten, Kapitäne, Kaufleute, Fischweiber und Schulkinder glaubten, unbeweglich in dieser 14  Taylor,

Ein säkulares Zeitalter (2009), 51.



B. Die anthropologische Wende23 kristallenen Kugel zu sitzen. Aber jetzt fahren wir heraus, ­Andrea, in großer Fahrt. Denn die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit. Seit hundert Jahren ist es, als erwartete die Menschheit etwas. Die Städte sind eng, und so sind die Köpfe. Aberglauben und Pest. Aber jetzt heißt es: da es so ist, bleibt es nicht so. Denn alles bewegt sich, mein Freund.“15

Brechts Beschreibung galt nicht für die ganze Gesellschaft. Für die meisten Menschen, die auf dem Land lebten, verlief das Leben nach wie vor in den Bahnen von Tradition und Überlieferung. Aber für die Händler, Kaufleute, Wissen­ schaftler, Gelehrte auf der ganzen Welt begann sich die Welt aus diesen Begrenzungen zu lösen. In der europäischen Malerei wird im 15. Jahrhundert die Zentralperspektive ent­ deckt. Sie symbolisiert auf einer höheren Ebene die Hin­ wendung des Menschen zu einer genauen Beobachtung sei­ ner selbst und der Natur. Dem Betrachter eröffnet sich der Gegenstand der Beobachtung, die er fixiert, indem er ihn eindringlich und in ganzer räumlicher Entfaltung verein­ nahmt. Das, was er auf dem Bild beobachtet, repräsentiert die Nachahmung der wirklichen, natürlichen Welt und das, was der Mensch aus und in ihr macht bzw. hervorbringt. In Ostasien wenden sich Gelehrte unter dem Einfluss des Neo­ konfuzianismus Fragen der Natur und des Kosmos zu. Es werden bedeutende Fortschritte in der Astronomie, Meteo­ rologie und Drucktechnik erzielt. In Korea wird der Buch­ druck mit beweglichen Metalllettern erfunden. Ein neues, einfaches Alphabet, das Hangul, ermöglicht das leichte Er­ lernen des Lesens und Schreibens. Die Eroberung von Kon­ stantinopel durch die Osmanen führte 1453 zum Untergang des Byzantinischen Reichs. Hier kamen unterschiedliche Kulturen und Zivilisationen in unmittelbare Berührung. Christen und Juden wurden bestimmte Rechte zugesichert, um in dem neuen, dem Osmanischen Reich zu bleiben. Neue Handelswege führten zu einer Intensivierung von Handelsverbindungen weltweit. Die Welt wurde nicht nur von den Europäern entdeckt, sondern über den Handel par­ 15  Brecht

(1988), 190.

24

B. Die anthropologische Wende

tizipierten Gesellschaften, die über den Globus verteilt wa­ ren, an diesen Entwicklungen. Robert B. Marks stellt fest, dass mit Ausnahme Amerikas, des südlichen Teils Afrikas und des größten Teils Ozeaniens, die Weltgesellschaften im 15. Jahrhundert in ausgedehnter und systematischer, vom Fernhandel bestimmter Wechselwirkung in Verbindung zu­ einander standen. „Die Welt wurde“, so führt er aus, „poly­ zentrisch, mit den drei bedeutenden Regionen, die ihre Mittelpunkte in China, Indien und der islamischen Welt hatten, und anderen, die mit einem oder mehreren dieser Kraftzentren der vormodernen Welt verbunden waren.“16 All diese Veränderungen brachten neben Unruhe auch apokalyptische Visionen hervor. Die Kirchen nutzten Ängs­ te, die durch diese Veränderungen hervorgerufen wurden, oder schürten sie sogar, um Unglaube und Gotteslästerung anzuklagen. Noch wollte in Europa die Kirche ihr vermeint­ liches Vorrecht, letzte Instanz von Politik und Weltdeutung zu sein, nicht aufgeben. Ihr Selbstverständnis war nach wie vor durch die Kernsätze aus der Bulle Unam Sanctam des Papstes Bonifaz VIII. aus dem Jahr 1302 geprägt: „Die geistliche Macht hat die weltliche Macht einzusetzen und ist Richterin über sie, wenn sie nicht gut ist.“17

Noch immer waren Kirche und Religion Sinnstifter und Welterklärer zugleich. Die Menschen lebten in einer verzau­ berten Welt, einer Welt, in der alle Geschehnisse Ausdruck des Willens Gottes war. Doch es gab erste Anzeichen für ein langsames Aufweichen dieser Weltvorstellung, die sich in der Hinwendung zur Natur äußerte. Wie kein Anderer symbolisiert Leonardo da Vinci die Abwendung von der Religion und die Hinwendung zur Natur. Die Erforschung des Menschen und der Natur durchzieht sein ganzes Werk und Wirken. Er lehnte bisheri­ ge religiöse Welterklärungen ab und verkörperte mit seinem Drang, das Diesseits zu erforschen, die Strömungen, die sich 16  Marks 17  Mirbt

(2006), 80. (1924), 162 f.



B. Die anthropologische Wende25

von Tradition und Überlieferung abwenden wollten, weil sie in ihnen Hindernisse des Wissens sahen. In seinen Philoso­ phischen Tagebüchern notierte er: „Mir aber scheint, als sei alles Wissen eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Erfahrung, der Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird und nicht im wahrgenommenen Versuch abschließt […] Dies ist die wahre Regel, nach der die Naturfor­ scher vorzugehen haben: Während die Natur stets mit dem Ge­ setz beginnt und mit der Erfahrung endet, müssen wir umgekehrt verfahren. Wir gehen von der Erfahrung aus, um das allgemeine Gesetz zu ergründen.“18

Die Natur und der Mensch in seiner Natürlichkeit wer­ den langsam aus den Banden von Religion, mystischen Kräften und Vorsehung gelöst. Pico della Mirandola drückte die neue Freiheit des Menschen in seiner berühmten Schrift Über die Würde des Menschen aus dem Jahr 1492 am klars­ ten aus: „Daher ließ sich Gott den Menschen gefallen als ein Geschöpf, das kein deutlich unterscheidbares Bild besitzt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: Wir haben dir keinen be­ stimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht noch irgendeine besondere Gabe verliehen, oh Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und deiner Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollt nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorher bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt. Wir haben dich weder als einen himmlischen noch als einen irdi­ schen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener vollkommen frei und eh­ renhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten, es steht dir ebenso frei, in die 18  Leonardo

(1958), 12, 30.

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B. Die anthropologische Wende

höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben.“19 

Der Mensch als ein Geschöpf ohne feste Bestimmung er­ langt seine Würde, indem es sich selbst entdeckt. Das Ab­ streifen jeglicher Transzendenz und die Entdeckung des Menschen in seiner Naturhaftigkeit weist den Weg in eine Abwendung übernatürlicher Erklärungen des Menschen zur Erforschung seiner Natur. Indem der Mensch sein eigener Bildhauer wird, übernimmt er die göttliche Aufgabe, Gottes Tun in Freiheit anzunehmen und auszuführen. Weder in der Renaissance noch in den Folgejahrhunderten vollzieht sich aber eine radikale Abkehr von der Religion. Es beginnt viel­ mehr ein Prozess, indem das Religiöse verinnerlicht wird und die bisherige Funktion der Religion als Gestalter von außen auf das Individuum einzuwirken, nach innen verlagert wird. Der Mensch selber wird zum Urheber und Ausführer von Religion, er gestaltet sie von innen heraus. Ihre Moralität bringt das moderne Gewissen hervor, das eigenständig und ohne Fremdbestimmung moralisch handeln soll. Diese Entwicklungen vollziehen sich in Europa vor dem Hintergrund der Veränderungen in Gesellschaft und Kultur. Besonders die Städtegründungen und vermehrte Kommuni­ kation zwischen Gelehrten und Wissenschaftlern führen zu neuen Formen der Selbstwahrnehmung. Zeit wird in der aufkommenden Textilproduktion und den Zins- und Wech­ selgeschäften, die Termingeschäfte sind, kalkuliert. Es beginnt eine Disziplinierung der Zeiteinteilung, die sich den Rhyth­ men von Erwerb und Arbeitszeit anpasst. In italienischen Städten werden im 14. Jahrhundert die ersten öffentlichen Uhren angebracht. Sie wurden in der Regel gut sichtbar an Türmen festgemacht und zeigten die Sequenz der Stunden eines vollen Tages akustisch durch Glockenschlag und / oder optisch mit Ziffernblatt und Zeiger an. Die Einrichtung öf­ fentlicher Uhren verbreitete sich im Verlauf des 14. Jahrhun­ derts überall in Europa. Die Ausbreitung dieser städtischen 19  Pico

della Mirandola.



B. Die anthropologische Wende27

Turmuhren erhöhte die Aufmerksamkeit wahrnehmbarer Zeit. Wahrnehmung von Zeit löste sich aus dem Kontext ei­ nes unmittelbaren Naturgeschehens durch Jahres- oder Ern­ tezeit. Das Leben in der Stadt war eine neue Raumwahrneh­ mung. Im Gegensatz zum Land war das Leben in der Stadt geräuschvoll, dynamisch, aber auch risikovoll. Man musste sich auf engerem Raum mit anderen und Fremden arrangie­ ren, Versorgungs- und Entsorgungsprobleme mussten gelöst und Formen von Selbstverwaltung entwickelt werden. Es entstand eine neue Mentalität der Stadtbürger, in der Selbst­ wahrnehmung und Eigenbeobachtung zunahmen. Das Rat­ haus als Symbol eigenständiger städtischer Macht, die unab­ hängig von Reich und König ist, markiert architektonisch den Wechsel von der Herrschaftsarchitektur des Schlosses zu einer Partizipationsarchitektur. Das Rathaus verkörpert diese neue politische Macht der wohlhabenden Stadtbürger über ihr Gemeinwesen. Die aufkommende Portraitkunst in Renais­ sance und Humanismus zielt auf eine realistische Darstellung der Personen und thematisiert neben der sozialen Stellung und dem Familienstand die Individualität der dargestellten Person. Es ging nicht mehr um eine Typisierung, sondern um eine möglichst genaue Wiedergabe des Portraitierten. In der Portraitmalerei von van Eyck, Dürer, Tizian schauen wir in Augen und Gesichter von Individuen, so wie uns die darge­ stellten Personen anzuschauen scheinen. Ein Portrait musste jetzt einmalig und unverwechselbar sein. So gibt ein Bild nicht nur das Äußere wieder, sondern befasst sich mit dem Wesen des dargestellten Menschen. In den Portraits dieser Zeit betreten wir den Raum, in dem sich der Mensch selbst zum Objekt der Erkenntnis macht, ohne dass es religiöse oder andere transzendente Bezüge gibt, die über den Portrai­ tierten oder den Betrachter hinausweisen. Die realistische Darstellung der Gesichtszüge hebt das Besondere, Einmalige, Einzigartige hervor und der Makel unvollkommener Schön­ heit ist der Verweis auf die Überlegenheit des Erkennenden. Aber nicht nur in den Portraits finden wir in der Malerei diese Hinwendung zur Realität. Gleiches gilt für die Darstel­ lung von Natur insgesamt. Pflanzen, Tiere, Stoffe wurden

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B. Die anthropologische Wende

detailgetreu wiedergegeben. In dieser Form der Wiedergabe fand die Entdeckung der Natur ohne Bezug auf Religion und Transzendenz ihren Ausdruck. Diese Hinwendung zur detailgetreuen Darstellung des Menschen und der Natur wurde durch die Verbürgerlichung der Städte und den Realismus dieser Gesellschaftsklasse, die durch Handel, Medizin, Architektur den Blick vom Transze­ denten ab- und der konkreten Welt zuwendet, gefördert. Die europäische Neuzeit war insgesamt durch eine Hinwendung zur Welt gekennzeichnet. Architektur, Städte, Malerei, Medi­ zin – all diese Bereiche stehen für eine Neuorientierung des Lebens. Während im Mittelalter der Mensch mit seiner Reli­ giösität im Mittelpunkt stand, ist er nun selber Ort der Be­ obachtung und Sezierung. Man will nicht nur die Oberfläche des Menschen genau erfassen, sondern auch wissen, was sich unter dieser Oberfläche verbirgt. Das Sezieren von Leichen, das eigentlich verboten war, regte die Wissensneugierde der Gelehrten an. Die Anatomie des Menschen wurde ein Stu­ dienobjekt von Kunst und Wissenschaft. 1538 veröffentlichte Vesal das erste anatomische Tafelwerk Tabulae anatomicae. Als Professor für Chirurgie sezierte er tote Menschen vor den Augen seiner Studenten, die alles aufzeichnen mussten. Vesals Schrift wurde 1551 ins Deutsche übersetzt und war das erste Anatomiewerk in deutscher Sprache. Es wurden die ersten anatomischen Theater gebaut: 1588 in Basel, 1594 in Padua, 1597 in Leiden. Dort wurden von Experten Lei­ chen vor einem interessierten Publikum seziert. Die Zur­ schaustellung von Leichen wurde ein öffentliches Ereignis und Leichenschauen waren während des Karnevals Teil der Volksfeste. Die anthropologische Wende im 15. / 16. Jahrhundert ent­ steht aus dem Kontext einer Hinwendung zur Welt. Leonardo da Vincis Darstellung der Proportionen des menschlichen Körpers, indem der Mensch in seinen Proportionen in ei­ nem Kreis dargestellt wird, ist sinnbildlicher Ausdruck die­ ser Wende. So wie im geozentrischen Weltbild die Sonne als neuer Mittelpunkt des Universums erkannt wird, steht hier



B. Die anthropologische Wende29

der Mensch in angemessenen Proportionen im Zentrum ei­ ner neuen Anschauung des Menschen. Er ist ganz auf seine Natur bzw. seine Natürlichkeit geworfen und darin liegt seine eigentliche Würde. Es geht weder um eine Idealisie­ rung wie in der Antike noch um eine metaphysische Über­ höhung wie im Mittelalter. Nackt, aber nicht entblößt, wird der Mensch in seiner Natürlichkeit gezeigt, und zwar unter der Perspektive einer wissenschaftlichen Beobachtung. Gliedmaßen und Muskeln sind Abbild dessen, was das Auge sehen kann. Diese Beschränkung auf das, was gesehen wer­ den kann, ist das eigentlich Neue. Malen selbst ist wissen­ schaftliche Erfassung und Darstellung dessen, was ist, was beobachtet werden kann. Die Natürlichkeit der Darstellung wird zum Maßstab künstlerischer Qualität und darüber hi­ naus ein Mittel wissenschaftlicher Erkenntnis. Der entscheidende Bruch drückt sich in der Abwendung des antiken Telos-Gedankens und der Aufweichung mittel­ alterlicher Transzendenzvorstellungen aus und in der Hin­ wendung zu einem Naturbegriff, der diese beiden Sichtwei­ sen auflöst. Die äußere Natur und die menschliche Natur öffnen sich dem direkten Zugriff einer Gesetzlichkeit, die durch keine inneren oder äußeren Gründe verursacht ist. Natur ruht in sich selbst, sie wird von einem sinnhaften Erlebnis zu einem Objekt, das durch Beobachtung und Er­ fahrung in seinen Abläufen wissenschaftlich erklärt werden kann. In der Antike hatte sich die Entdeckung der Natur in der Unterscheidung von Natur und Konventionen entwi­ ckelt. Die Infragestellung überlieferter Traditionen und Konventionen führte zu einer Hinwendung zur Natur, die vor jeder Tradition und Konvention liegt und dadurch ihre Autorität erhält. Leo Strauss formuliert diesen Gedanken über die Entdeckung der Natur in der Antike in Naturrecht und Geschichte: „Die Natur ist älter als jede Tradition; somit ist sie ehrwürdiger als jegliche Tradition. Die Anschauung, dass die natürlichen Dinge von höherer Würde sind als die vom Menschen geschaf­ fenen Dinge, basiert nicht auf irgendwelchen heimlichen oder unbewussten Anleihen, aus dem Mythischen oder auf den

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B. Die anthropologische Wende

Überbleibseln des Mythischen, sondern auf der Entdeckung der Natur selbst.“20

Nach Strauss führt die Entdeckung der Natur in der An­ tike zu einem neuen Verständnis nicht nur der Natur, son­ dern zu einem neuen Verständnis des Menschen über sich selbst. Sie drückt sich aus in Aristoteles Idee, dass in der Natur alles von einem Ziel, telos, geleitet wird. Die Natur ist nicht ein sinnloser, sich selbst ohne Ziel hervorbringen­ der Prozess, noch eine von einem Gott gestiftete und gelei­ tete Entwicklung. Die gesamte Natur ist davon durchdrun­ gen, dass in ihr Sinn waltet. Dieser liegt jedem natürlichen Einzelwesen von der Pflanze bis zum Menschen inne. Dieser Sinn ist aber nicht religiös, sondern vielmehr ein aus sich selbst hervorgehender Sinn. In der europäischen Neuzeit vollzieht sich ein Bruch zu diesem antiken Naturbegriff bzw. Naturdenken. Hobbes versteht den Menschen als ein künstliches Tier, das aus ver­ schiedenen Teilen zusammengesetzt ist wie eine Maschine: „Die Natur (das ist Kunst, mit der Gott die Welt gemacht hat und lenkt) wird durch die Kunst des Menschen wie in vielen anderen Dingen so auch darin nachgeahmt, dass sie ein künstli­ ches Tier herstellen kann. Denn da das Leben nur eine Bewegung der Glieder ist, die innerhalb eines besonders wichtigen Teils beginnt – warum sollten wir dann nicht sagen, alle Automaten (Maschinen, die sich selbst durch Federn und Räder bewegen wie eine Uhr) hätten ein künstliches Leben? Denn was ist das Herz, wenn nicht eine Feder, was sind die Nerven, wenn nicht viele Stränge, und was die Gelenke, wenn nicht viele Räder, die den ganzen Körper so in Bewegung setzen, wie es vom Künstler beabsichtigt wurde?“21

Der Mensch als Automat ist durch seine naturhafte Zusam­ mensetzung gekennzeichnet und alle Ziele gehen aus dieser Zusammensetzung hervor. Es ist die Aufgabe des Menschen, sein Leben, das keine transzendenten Bezüge hat, soweit wie möglich zu verlängern und Krankheiten und Einschränkun­ 20  Strauss 21  Hobbes

(1977), 94. (1984), 5.



B. Die anthropologische Wende31

gen, äußere und innere, die die Fortdauer des Lebens beein­ trächtigen können, auszuschalten. Die Gemeinschaft ist eine Zusammensetzung aus diesen individuellen, eigenständigen Wesen, die ihre Existenzbegründung nur in sich selbst finden. Gleiches gilt in der Folge auch für die Gemeinschaft. Ihr Ziel liegt nicht in einem äußeren oder höheren Zweck begründet, sondern hat die Aufgabe, die Egoismen der einzelnen Indivi­ duen zusammenzuführen und abzusichern. In der Antike galt die Vorstellung, dass die Gemeinschaft vor und ontologisch über den Einzelwesen steht. Diese Einzelwesen erhalten Stand und Bedeutung bzw. Sinn von ihr und nicht umgekehrt.22 Hobbes wird diese Auffassung durch seine Begründung des Naturzustandes umdrehen. Der Naturzustand als der ur­ sprüngliche vorgesellschaftliche Zustand ist ein Reich, indem die verängstigten Menschen nur darauf aus sind, ihr unsiche­ res Leben zu schützen. Die scheinbar unumschränkte Frei­ heit, durch keine Gesetze beschränkt zu sein, verkehrt sich in ihr Gegenteil, da niemand sicher sein kann, durch die absolu­ te Freiheit des anderen sein Leben zu verlieren. Der Egoismus der Selbsterhaltung führt dazu, dass die Menschen sich zu­ sammentun, um eine Gemeinschaft zu gründen, deren erster Zweck es ist, die Sicherheit des Lebens seiner Mitglieder vor äußeren und inneren Feinden zu schützen. Der Staat, den sie gründen, hat das Ziel, durch eine Autorität, der das Monopol zur Ausübung der Macht übertragen wird, Frieden und Ord­ nung herzustellen bzw. zu sichern. Hier gibt es keine trans­ zendente oder religiöse Begründung der politischen Gemein­ schaft. Ihr Ursprung liegt in der Diesseitigkeit ihrer Mitglie­ der. Innerhalb des Staates dürfen sie als Einzelne oder in Gruppen Religion ausüben, aber sie ist nicht mehr Legitima­ tionsgrund der politischen Gemeinschaft. Allein die Selbster­ haltung seiner Mitglieder, die im Naturzustand zu vielen Gefahren ausgesetzt sind, ist Quelle politischer Legitimation von Herrschaft. Der Staat ist diesseitig und findet in der Si­ cherung seiner Mitglieder seinen Sinn. Auch die Moral, mög­ liche Quelle einer übergreifenden, transzendenten Sinngebung 22  Tanguay

(2007), 107.

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B. Die anthropologische Wende

des Staates, unterliegt der Tatsache, dass der Mensch ein egoistisches Wesen ist und in erster Linie auf die Sicherung seines Lebens bedacht ist. Damit wird der antike telos Ge­ danke, dass alles in der Natur einen ihm inneliegenden Sinn hat, aufgegeben. Sinn vollzieht sich nach Hobbes nur noch in dem Zweck der Selbsterhaltung. Diese Hinwendung zum Menschen als Begründung politi­ scher Herrschaft kann als anthropologische Wende bezeichnet werden. Gehorsam gegenüber dem Staat ist nicht mehr in einer höheren Ordnung begründet, sondern nur noch in der Selbsterhaltung, die das politische Gemeinwesen sichern soll. Die Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika bringt diese Entwicklung deutlich zum Ausdruck: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu ver­ wirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesvertei­ digung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Verei­ nigten Staaten von Amerika.“23

Die Förderung des allgemeinen Wohls und die Wahrung der Freiheit für die Nachkommen und nicht Religion oder eine andere transzendente Begründung stehen als Leitmotive am Anfang der Verfassung. Jeder einzelne Staatsbürger soll das Recht bekommen, seinen Vorstellungen des Glücks zu folgen, die gelten, solange die Freiheit des anderen nicht be­ schränkt wird. Hier gibt es keine gemeinsame übergreifende Staatsidee. Diese selber findet sich in den unterschiedlichen Interessen begründet, die den Einzelnen dazu befähigen soll, aufgrund seiner Vorstellungen und Fähigkeiten materiellen Wohlstand zu erlangen. Religion als umfassende Ordnungs­ vorstellung, die aufgrund fester Prinzipien vorgibt, woran sich die politische Gemeinschaft orientieren soll, wird zur Privatsache. Diese kann durchaus politisiert bzw. in den Be­ reich des Politischen gebracht werden, ist aber nicht mehr 23  Verfassung

der Vereinigten Staaten von Amerika.



B. Die anthropologische Wende33

unbefragt dessen Voraussetzung. Die moralischen Vorstellun­ gen, die der Religion inhärent sind, werden nun selber Teil einer vom Menschen hervorgebrachten Welt. Damit ändert sich das Denken über Zeit und Geschichte. Indem der Mensch Sinn und Zweck der politischen Gemein­ schaft selber hervorbringt, wird auch die Zeit in den Bereich menschlicher Vorstellung geholt. Neben der Lebenszeit wird Zeit selber nicht mehr ausschließlich im Rahmen einer reli­ giösen Deutung erfahren, sondern zunehmend im Rahmen einer vom Menschen hervorgebrachten Ordnung. In der latei­ nischen Fassung des Leviathan schreibt Hobbes: „Seitdem uns Christen Gottes Gesetze bekanntgemacht worden sind, haben die Wunder aufgehört; und Wunder jemandem auf sein Wort zu glauben, sind wir nicht verpflichtet.“24

Das Wunder war in der christlichen Religion die Ausnah­ me, die Gottes Allmacht bestätigte. Hobbes verbannt das Wunder und unterstellt die Welt den Gesetzen. Diese Gesetze beziehen sich sowohl auf die neu entdeckten Naturgesetze als auch die von den Menschen für die Sicherung des Staates selbst verfassten Gesetze. Gesetze sind die Grundlage wissen­ schaftlicher, natürlicher, nicht religiöser Welterklärung. In ihnen manifestiert sich die Erhebung des Menschen über jede Form einer transzendenten Welterklärung bzw. Weltbegrün­ dung. Die Gesetze des Staates sind Ausfluss menschlicher Innovation und nicht mehr die Umsetzung einer vorgegebe­ nen moralischen Ordnung, die ihre Legitimation außerhalb der Welt hat. Damit verschiebt sich die Wahrnehmung über die Zeit von der Transzendenz zur Immanenz. Transzendente Zeit, Zeit, die sich auf eine äußere Ordnung bezieht, verringert sich in der konkreten Wahrnehmung und wird zunehmend verwelt­ licht. Das religiös bestimmte Zeitverständnis, das den Jahres­ ablauf bestimmte, verliert an Bedeutung. Religiöse Festtage werden eingebettet in die weltliche Zeit, die mehr und mehr Tagesablauf und Wochenrhythmus bestimmt. Während der 24  Hobbes

(1984), 219.

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B. Die anthropologische Wende

Sonntag für den Kirchgang bestimmt ist, sind die anderen Tage der Woche der Arbeit verpflichtet. Im Alltag entfaltet sich die Kraft der neuen Zeitwahrnehmung. Uhren, Zeitmes­ sungen, geregelte Arbeitsabläufe in den Städten verstärken den Eindruck einer innerweltlichen Zeit. Der Einzelne unter­ stellt sich den äußeren Gegebenheiten einer messbaren Zeit und verinnerlicht dadurch die Einteilungen des Tages und der Woche in sein diesseitiges Geschehen. In der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft entwickelt sich eine Zweiteilung der Zeitwahrnehmung, die die Wahr­ nehmung der diesseitigen Zeit verstärkt: es ist die Trennung in die für den Beruf zur Verfügung gestellte Zeit und die Zeit danach, die private Zeit. Letztere wird nicht mehr ausschließ­ lich für religiöse Zwecke verwendet, sondern es entsteht ein neuer Raum der Selbstwahrnehmung durch Familie, Lektüre, Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten. Die Familie, die Erziehung der Kinder, wird zu einer neuen Herausforderung. In der bürgerlichen Familie müssen Kinder erzogen werden. Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen müssen ebenso geschult werden wie Disziplin und Verinnerlichung morali­ scher Prinzipien. In diesem Sinn wird die bürgerliche Familie die Keimzelle der neuen Gesellschaft. In ihr begründet sich Sinn und Zweck des Seins, Erfüllung und Konflikte werden in ihr erlebt und ausgetragen. Bildung wird das neue Schlag­ wort, das Aufgabe und Wesen der Familie kennzeichnet. In der bürgerlichen Familie werden die Kinder, besonders die Jungen, gebildet, um auf Beruf und die Gestaltung des öffent­ lichen Lebens vorbereitet zu werden. Die Wahrnehmung und Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit, die Repräsentation bürgerlicher Werte wie Fleiß, Tugend, Ordnung sind zentra­ ler Bestandteil des neuen diesseitigen Lebens. Theater und Museum als öffentliche Orte der bürgerlichen Gesellschaft lösen die Kirche und die Predigt als Ort der Selbsterfahrung ab. Während in der Kirche die Ordnung nach wie vor auf eine höhere, transzendente Ordnung gerichtet ist, werden in Theatern und Museen Konflikte, Gedanken, Darstellungen des diesseitigen Lebens in den Vordergrund gerückt. In den



B. Die anthropologische Wende35

Stücken Shakespeares, Molières und Schillers entfalten sich Drama und Komödie des bürgerlichen Lebens. Hamelt als erster diesseitiger Held scheitert nicht mehr an einer höheren Ordnung, sondern an der eigenen Unfähigkeit, seine Gedan­ ken in eine Handlung umzusetzen. Harpagon macht sich mit seinem Geiz lächerlich und Karl Moor wird gegen die Werte der bürgerlichen Gesellschaft zu Felde ziehen. Immer sind es diesseitige, vom Menschen ausgehende Konflikte, die darge­ stellt werden. Das Museum ist, im Gegensatz zur Kirche, kein sakraler Raum, in dem Bilder und Kunstwerke gezeigt werden, sondern ein diesseitiger Raum, in dem der Betrachter die Kunstwerke um ihrer selbst willen erfahren soll, ohne Bezüge zu einer äußeren Ordnung, wie dies in der Kirche der Fall ist. Immer mehr erfährt sich der Mensch als diesseitiges Wesen, das sich selbst deutet und die Welt aus sich heraus betrachtet und begreift. So versteht Goethe seine Aufgabe in der Darstellung seines Lebens. Es geht ihm um die Darstel­ lung seiner Zeit, den Wechselwirkungen von Privatleben und öffentlichem Leben: „Denn dies scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich seine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt.“25

Das Leben wird in seiner Singularität, in seinen Bezügen zu seinem konkreten Leben und in seiner Besonderheit in Bezug zu seiner Zeit gesehen und nicht mehr in Bezug auf einer außerweltliche Bestimmung, durch die das Leben gelei­ tet wird. Das Leben findet zunehmend seine Erfüllung in sich selbst. Dies bedeutet nicht, dass die Religion keine Rolle mehr spielt. Sie wird allerdings aus dem Rahmen einer objek­ tiven, vorgegebenen Ordnungsvorstellung in den konkreten Lebensraum der Individuen eingebettet. Die Gestaltung der Kirchen obliegt immer mehr der Vorstellungswelt der Gläu­ bigen und weniger den vorgegebenen Prinzipien einer über 25  Goethe

(1981), 9.

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B. Die anthropologische Wende

der Welt stehenden Institution. Dies gilt wesentlich stärker für die protestantischen Kirchen, in denen sich die Wandlung zu einer diesseitigen, von den Menschen hervorgebrachten Moral deutlicher ausprägt. Die oft karge Gestaltung protes­ tantischer Kirchen ist ein Beleg für die innerweltlichen As­ pekte der Religion. Der Gläubige soll in der Kirche weniger an den äußeren Gott als vielmehr an die innere Moral und die eigene moralische Gestaltung des Lebens erinnert werden. Diese Entwicklung spiegelt sich im kirchlichen Liedgut. Belehrung und Bildung gewinnen auch hier an Gewicht. Es gilt nicht mehr, durch das kirchliche Lied eine transzendente Welt zu erfassen, sondern durch das Lied soll der Gläubige in seiner moralisch-frömmigen Sittlichkeit angesprochen wer­ den. Christian Fürchtegott Gellert kann in diesem Sinn als der bedeutendste Dichter des geistlichen Liedes einer aufge­ klärten Gesellschaft angesehen werden. Neben geistlichen Oden und Liedern hat Gellert Fabeln und Erzählungen ge­ schrieben und war zu seinen Lebzeiten einer der am meisten gelesenen Autoren. Er verfasste eine einfache, für jeden zu­ gängliche Poesie, um dem, der nicht viel Verstand hat, die Wahrheit durch ein Bild mitzuteilen. Damit sollten Gedanken einer aufgeklärten Gesellschaft auch den einfachen Menschen zugänglich gemacht werden. Frömmigkeit wurde eine innere Einstellung, eine moralische Lebenseinstellung, in der der Einzelne sich selbst erzieht. Der Gott, der angesprochen und besungen wird, ist ein Gott, der Orientierung gibt. Die ei­ gentliche Aufgabe des richtigen moralischen Handelns aber findet sich jetzt im Gläubigen, in seinem Gewissen. Ihm muss er vertrauen, um als Mensch richtig zu handeln. Überall finden sich Spuren einer Vermenschlichung und Verweltlichung der Religion und des Lebens. Feuerbach fasst im 19. Jahrhundert diese Entwicklung im Vorwort seiner Schrift Das Wesen des Christenthums zusammen: „Alle Religion hat für ihn ihre lebendigen Wurzeln im Wesen des Menschen und die vorliegende Schrift will darthun, dass das Christenthum nur verständlich und begreiflich, ja, herrlich und erhebend wird, wenn man es als Offenbarung des Tiefsten und



B. Die anthropologische Wende37 Höchsten nimmt, was als Ideal im Menschen lebt; dagegen wi­ derspruchsvoll, logisch unvollziehbar, wenn man seine Dogmen im Sinne der Theologie für Realitäten nimmt.“26

Der Mensch hat in die Religion nur die Ideale seiner eigenen Wirklichkeit projiziert. Nun ist die Religion dabei, sich zu an­ thropologisieren, d. h. der Mensch wird sich bewusst, dass er Ideal seiner religiösen Vorstellungen und damit selber Ur­ sprung der Religion ist. Die Verweltlichung der Religion voll­ zieht sich auf der Grundlage der anthropologischen Wende. Dies bedeutet nicht das Ende der Religion, aber das Ende einer objektiven, transzendenten, über den Menschen stehen­ den Religion, die umfassend für die Gesellschaft Orientierung und moralische Grundlage ist. Es fällt nun in die Entschei­ dung des Einzelnen, ob und in welcher Form er Religion ausüben möchte. Dabei spielen gesellschaftliche Zwänge, Normen, Werte nach wie vor eine entscheidende Rolle. Aber der Einzelne kann sich in anderer Weise als in früheren Ge­ sellschaften zu diesen distanzieren, über sie nachdenken und eigenständig zu ihnen Stellung beziehen. Für die Wahrnehmung von Zeit bedeutet dies, dass diese als Teil des je eigenen Lebens erfahren wird. Neben den gro­ ßen Einteilungen durch Jahreszeiten und Festtage befreit sich die erfahrene Lebenszeit von der höheren Zeit. Die Verwirk­ lichung eigener Lebensvorstellungen tritt in bürgerlichen Kreisen in den Vordergrund. Die Lektüre ist ein wichtiges Element dieser Selbstwahr­ nehmung und Selbstverwirklichung. Durch den Buchdruck und die zunehmende Bildung innerhalb des Bürgertums ent­ wickelt sich der Roman als zentrale Auseinandersetzung, in dem der Leser in andere Welten eintauchen und seine eigenen Gedanken, Gefühle, Empfindungen an literarischen Figuren nachvollziehen kann. Romanlektüre bedeutet inneres Erleb­ nis. Wenn auch das Vorlesen bis Mitte des 20. Jahrhunderts wichtiger Vollzug des Lesens bleibt, so sind Darstellung und Inhalt stark auf subjektive Selbstwahrnehmung angelegt. Im 26  Feuerbach

(1969), VII.

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B. Die anthropologische Wende

Gegensatz zur Kirche, zum Gottesdienst oder zur Bibellek­ türe geht es nicht um das Erfassen eines äußeren Sinns, son­ dern um die Subjektivierung von Welt und Erlebnis. Durch die Lektüre bildet sich in den verschiedenen Ländern Europas eine Nationalliteratur heraus, die Bezugspunkt bürgerlicher Selbstwahrnehmung wird. Shakespeare in England, Molière in Frankreich, Goethe in Deutschland – sie bilden den Kern eines neuen Selbstbewusstseins, in dem das Bürgertum seine Werte, Ideale, Normen und Konflikte repräsentiert sieht. Neben der Lektüre gehört die Hausmusik zu dieser Ent­ wicklung. Auch die Musik emanzipiert sich langsam vom Kontext religiöser Sinndeutung. Während Bachs Musik noch stark auf den religiösen Kontext bezogen war, gilt dies für die Klassik nicht mehr. Neben höfischer Musik entstehen Musik­ theater, öffentliche Aufführungen und Hausmusik. Die gebil­ dete bürgerliche Familie praktiziert Musik zu Hause. Bei festlichen Gelegenheiten oder zur Unterhaltung – Musik wird ein weitere Bereich der Erfüllung des privaten Lebens. Wie verbreitet die Hausmusik im deutschen Sprachraum war, be­ schreibt der Engländer Charles Burney nach seiner Reise durch den Kontinent in den Jahren 1770–72: „Wer sich die musikalischen Einrichtungen in Dresden und in anderen deutschen Städten anschaut, wird den musikalischen Geist erkennen, der auch noch in den fernsten Winkeln des Reichs zu spüren ist, einerlei ob in katholischen oder protestan­ tischen Ländern. Man muss zugestehen, dass jeder Bewohner im Adel ebenso wie in den ärmsten Familien in gleicher Weise Ge­ legenheit erhält, sein musikalisches Talent zu erkennen und zu entwickeln. Das ist der Grund, weshalb man in Deutschland eine so große Zahl von Musikanten, Kritikern und Musikliebhabern findet, denn die Überzeugungskraft dieser Kunst ist so groß, dass sie sich nur zu Gehör bringen muss, um Freunde und Lieb­ haber zu gewinnen.“27

Lektüre, Hausmusik, Kunst – bürgerliches Leben bezieht sich auf den Menschen und seine Wahrnehmung. Es ist die Hervorbringung einer neuen, diesseitigen Welt, in der Reli­ 27  Burney

(1992), 390.



B. Die anthropologische Wende39

gion nach wie vor anwesend ist, aber nicht mehr in einem allumfassenden, die ganze Gesellschaft transzendierenden Sinn. Werte, Zwecke und Ziele, nach denen Menschen stre­ ben, können nicht mehr vornehmlich in einer äußeren Ord­ nung, ob Natur oder Gott, gefunden werden. Um frei zu sein bzw. sich als frei handelndes Wesen zu begreifen, kann es eine autoritäre, von außen aufgezwungene Hierarchie nicht mehr geben.28

28  Berlin

(2004), 133.

C. Die immanente Welt Mit der anthropologischen Wende vollzieht sich eine Neu­ entdeckung der Welt und des Raums: die Entdeckung eines Weltinnenraums. Die Entdeckung neuer Länder und Konti­ nente, die das heliozentrische Weltbild hervorbringt, die Be­ gegnung mit anderen Zivilisationen und Kulturen, die auf­ strebenden Städte sind Eckpfeiler einer neuen Raumwahrneh­ mung. War bis dahin der Raum für die meisten Menschen auf ihren unmittelbaren Lebensraum beschränkt, treten nun grö­ ßere, reale Räume hinzu, von denen man sich zunehmend ein Bild machen kann. Die Vervielfältigung von Texten, Bildern, Geschichten, Erzählungen über die neu entdeckten Räume schärfen die Wahrnehmung des Eigenen. Man beginnt zu vergleichen, das Eigene durch das Fremde neu zu befragen und verliert die Angst, dass dahinter andere als weltliche Mächte stehen könnten. Der Kosmos und die Natur werden zwar noch auf einen Schöpfer bezogen, aber dieser Schöpfer hat seine Allmacht verloren. Er wird zum Uhrmacher des Universums, das nun nach seinen ewigen Gesetzen abläuft und diese können von den Menschen beobachtet, entdeckt und verstanden werden. In dieser Konfrontation mit dem Neuen findet eine Neudeutung des Menschen statt. Bisher galt es, den Gesetzen und Geboten Gottes zu folgen, nun gilt es, sie zu verinnerlichen. Die Kirche als realer Ort der All­ macht Gottes macht einer Sichtweise Platz, in der der Mensch moralischer Platzhalter der Kirche wird. Während in der Antike Weisheit darin bestand, sich in Einklang mit der Na­ tur zu wissen, ist es nun die Aufgabe, den inneren Dämonen Kraft seiner Vernunft Herr zu werden. Man könnte von einer umfassenden Disziplinierung sprechen, die Kennzeichen der entstehenden immanenten Welt ist. Diese Disziplinierung bezieht sich nicht nur auf die Moralisierung und Internalisie­ rung menschlichen Handelns, sondern auch auf die Wahrneh­



C. Die immanente Welt41

mung der Natur, die in ihrer Wahrheit und Richtigkeit er­ kannt werden soll. Dazu ist es nötig, alles bisherige Wissen in Zweifel zu ziehen und das Denken einer Methode zu unter­ stellen, die den Verstand diszipliniert. Descartes formuliert dieses Programm. Eine Sache darf nicht als wahr anerkannt werden, von der ich „nicht evidentermaßen erkenne, dass sie wahr ist“; man darf keinen Zweifel an der Richtigkeit seiner Erkenntnis haben. Alles, was untersucht wird, ist in so viele Teile zu zerlegen, wie es geht, „und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen“. Man muss mit den am leichtesten zu durchschauenden Dingen beginnen, „um so nach und nach, gleichsam über Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammenge­ setzten aufzusteigen, ja selbst in Dinge Ordnung bringen, die natürlicherweise nicht aufeinander folgen“.29 Dinge müssen zergliedert, auseinandergenommen werden, um von den ele­ mentaren Bestandteilen zu erfassen, welche Bedeutung und Funktion ein Ding hat. Diese Zergliederung bezieht sich auf alle Formen der Erkenntnis. Von nun an ist Kosmos, Welt und Mensch diesem Blick ausgesetzt. Hinter allen Dingen verbergen sich natürliche Phänomene, die erkannt und erklärt werden können. Die Welt kann entzaubert werden. Diese Entzauberung, von der Max Weber spricht, ist nicht nur eine Entzauberung der äußeren Welt und der Natur, son­ dern auch des Menschen. In Folge der Reformation beginnt unter dem Druck des sich entfaltenden Kapitalismus eine Rationalisierung aller Lebensbereiche, die eine fast religiöse Hingabe einfordert. Der äußere Gott als Schöpfer, der die Geschicke der Welt leitet, transformiert sich langsam in einen obersten Richter, dessen Gesetze von seinen Bürgern selbstund eigenständig umgesetzt werden müssen. In einer sich verkleinernden Welt, in den engeren Räumen der Städte, in der Begegnung mit anderen Menschen und Kulturen muss das eigene Verhalten diszipliniert werden, um einen neuen gemeinsamen Raum des Zusammenlebens zu ermöglichen. Von den Tischsitten, den neuen Vorstellungen eines angemes­ senen sittlichen Verhaltens über die Moralisierung des öffent­ 29  Descartes

(1997), 143 f.

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C. Die immanente Welt

lichen Lebens bahnt sich eine neue Idee ihren Weg: Lebens­ führung. Der Einzelne wird zunehmend verantwortlich für sein Verhalten gemacht und die Vernunft ist die Instanz, die dieses ermöglicht. Sie macht den Menschen erst zum Men­ schen, indem sie ihn in die Lage versetzt, sein eigener Gesetz­ geber zu werden. Wie kein anderer hat Kant diesen Begriff der Vernunft ge­ prägt. In seiner Kritik am Rationalismus und Empirismus, die beide nicht in der Lage seien, wirkliches Wissen zu begrün­ den, geht Kant letztlich dazu über, der bürgerlichen Gesell­ schaft den Begriff des Gesetzes und des Rechts als Grundlage einer politischen Gemeinschaft so zu formulieren, dass in ihm die neue bzw. eigentliche Würde des Menschen liege. Die Vernunft ist nach Kant die Möglichkeit der Freiheit zur Selbstbestimmung. Im Angriff auf die alte Ordnung lehnt er eine theologische Begründung oder eine durch äußere Ursa­ chen und Zwecke bestimmte Ordnung ab. Selbst die Natur wird dem Willen des Verstandes unterworfen. Dies ist nach Kant das allgemeine Charakteristikum seiner Zeit. Vernunft und Verstand sind Grundlage von Welt- und Selbsterkenntnis und keine Autorität kann sich dieser Kritik entziehen: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“30

Die Vernunft ist das Vermögen, sowohl die Natur als auch den Menschen zu erklären. Der Mensch wird zum immanen­ ten Träger der Welt. Durch seine Vernunft äußert, begründet, erfährt er jetzt sich selbst und die Welt und jede Form einer außervernünftigen Erklärung wird verworfen. Dies hat erheb­ liche Konsequenzen für die Religion. Sie selber wird der Disziplinierung der Vernunft unterworfen. Die vormals religiös oder theologisch begründeten moralischen Werte sind der Ver­ 30  Kant,

Kritik der reinen Vernunft (1983), 13.



C. Die immanente Welt43

nunft inhärent. Dies bedeutet nicht eine Auflösung der Religi­ on, sondern eher eine Umkehrung. Das, was vorher durch Re­ ligion, Gottesdienst, Hierarchie der Kirche geregelt war, wird nun der Vernunft des Menschen unterstellt. In allen morali­ schen Fragen wird der Einzelne Träger des Gottesdienstes. Gott zu dienen heißt nun, moralische Werte durch Vernunft zu begründen und sie in den Dienst einer Disziplinierung zu stellen, denen sich jeder Einzelne zu unterwerfen hat. Die Di­ chotomie von Vernunft und Gefühl wird zu einem prägenden Merkmal der Immanentisierung der Welt. Allerdings gibt es in der westlichen Welt einen deutlichen Unterschied zwischen den USA und Europa. Während man in Europa vielleicht von einer Zivilisierung der Religion sprechen könnte, wäre für die USA die Entste­ hung einer Zivilreligion kennzeichnend. Um diesen Unter­ schied erklären zu können, benutzt Charles Taylor den Be­ griff der sozialen Vorstellungsschemata, womit insbesondere die Vorstellung der Zivilgesellschaft von der gesellschaftlichen Rolle der Religion gemeint ist.31 Im Unterschied zu Europa hat sich Amerika seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als eine Einwanderungsgesellschaft verstanden, in der es keine für alle verbindlichen Traditionen und Überlieferungen gibt. Die Vielzahl der religiösen Gemeinschaften wurde durch die Idee zusammengehalten, dass die moralischen Werte der einzelnen Glaubensgemeinschaften in einer übergeordneten Zivilreli­ gion zusammenfinden. Protestanten verschiedenster Prove­ nienz, Katholiken und Juden konnten sich durch ihre Reli­ gion in die amerikanische Gesellschaft integrieren und in der Religion einen ersten Weg der Identitätsfindung durchlaufen. Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, die nicht staatlich organisiert war, ermöglichte die Aufnahme in die Gesellschaft vor Ort. Sie stiftete Gemeinsinn und war Ersatz für einen fehlenden Staat, über den soziale und moralische Konflikte gelöst werden konnten. In Amerika konnte man demnach über seine Religion in die Gesellschaft integriert werden. Ein wichtiges Motiv zur Auswanderung war für 31  Taylor

(2009), 874.

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C. Die immanente Welt

zahlreiche Immigranten, dass sie in den USA, im Gegensatz zu Europa, ihre Religion frei und ohne staatliche Bevormun­ dung ausüben konnten. Deshalb spielte der Kampf um die freie Ausübung der Religion in der Amerikanischen Revolu­ tion eine viel wichtigere Rolle als in Europa. Washington und Jefferson setzten sich hierfür mit Nachdruck ein. In seiner 1779 verfassten Schrift Virginia Statute For Religious Freedom brachte Jefferson diese Grundhaltung zum Ausdruck: „An Act for establishing religious Freedom. Whereas, Almighty God hath created the mind free; that all attempts to influence it by temporal punishments or burthens, or by civil incapacitations tend only to beget habits of hypocrisy and meanness, and there­ fore are a departure from the plan of the holy author of our religion, who being Lord, both of body and mind yet chose not to propagate it by coercions on either, as was in his Almighty power to do, …“32

Jeder habe das Recht, seine Religion frei auszuüben. Jef­ ferson verbindet die Allmacht Gottes mit der Idee der Frei­ heit. Es gibt keinen konfessionellen Gott mehr, sondern ei­ nen Schöpfer, der auf unterschiedliche Weise gepriesen werden kann. Damit wird die Freiheit zur Religionsausübung zu einem zentralen Merkmal der amerikanischen Zivilgesell­ schaft. Glaube, Religion und Fortschritt bedeuten keinen Gegensatz, sondern ergänzen sich. In gleicher Weise entwi­ ckelt sich auch eine andere Form nationaler Identität. Die Herkunft muss nicht abgelegt und dennoch kann das Neue als persönliche Errungenschaft angenommen werden: man ist Italiener und Amerikaner, Chinese und Amerikaner etc. Die Nichtfestlegung auf einen gemeinsamen Ursprung er­ möglicht soziale Vorstellungsschemata, die stärker auf die Aufnahme neuer, eigener Identifikationsmuster angelegt sind als in europäischen Ländern. Es bildet sich in den USA auch keine intellektuelle Elite heraus, die sich dadurch kennzeich­ net, dass sie Religion als veraltet und antimodern betrachtet. Es gibt keinen Staat, der sich auf Tradition und Geschichte berufen kann, und keine Gesellschaft, in der es aus der Ge­ 32  Virginia

Statue for Religious Freedom.



C. Die immanente Welt45

schichte überlieferte Normen und Werte gibt, die durch eine große Konfession geprägt sind. Diese Offenheit führt dazu, dass die neu zu errichtende Gesellschaft stärker durch die moralischen Normen der einzelnen religiösen Gemeinschaf­ ten geprägt wird. Der Staat als übergeordnete Institution, der die öffentliche Diskussion über Werte prägt, fehlt. Sozi­ alkontrolle muss daher stärker vor Ort in den Gemeinschaf­ ten geleistet werden, da fehlende staatliche Institutionen in den ersten Jahrzehnten nach der Ausrufung der Unabhän­ gigkeit nicht vorhanden sind. Dies führt zu der Herausbil­ dung einer Zivilreligion, d. h. einer Öffentlichkeit, in der die Umsetzung moralischer Werte, die religiös begründet sind, wesentlich für die Errichtung einer solchen Öffentlichkeit sind. Fragen über die Art der Gesellschaft, Ziele, verbind­ liche Werte werden in diesem Kontext vor Ort zur Sprache gebracht und prägen stärker als in Europa Fragen nach Sinn und Zusammenhalt der Gesellschaft. Dies wird dadurch er­ leichtert, dass die hierarchischen Strukturen in der amerika­ nischen Gesellschaft weniger ausgeprägt waren als in Euro­ pa. Religiöse Überzeugungen und Glaube waren nicht ge­ prägt durch intellektuelle Auseinandersetzung und theologi­ sche Argumentationen, sondern durch soziale Verbindlichkeit und Gemeinsinn in den jeweiligen Gemeinden. Hier mussten Menschen erlernen, wie man mit anderen und Fremden um­ geht, ohne seine eigene Identität aufzugeben. Es entwickelte sich eine andere Form der Toleranz, auf die intellektuelle Europäer gern herabschauen. Die religiöse Identifikation als wichtiges Merkmal der Identitätsfindung bei gleichzeitiger offener Distanz gegenüber dem Anderen kennzeichnet diese Toleranz. Man kann überzeugter Christ sein, sich dafür ein­ setzen, dass die Gesellschaft durch entsprechende Normen und Werte geprägt wird und dennoch anerkennen, dass es andere religiöse Überzeugungen gibt, die in ihrer Besonder­ heit und Andersheit respektiert werden. Religion und die Schaffung einer neuen Gesellschaft, die nicht auf eine ge­ meinsame, zentrale Tradition und Geschichte zurückblicken kann, hat der Religion andere Möglichkeiten gegeben, sich auch in einer modernen, auf Fortschritt und Materialismus

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C. Die immanente Welt

gegründeten Gesellschaft zu entfalten, ohne auf das Argu­ ment der Überlieferung und damit das Konservative redu­ ziert zu werden. Aus diesem Grund spielt die Religion, im Gegensatz zu Europa in den USA in der Öffentlichkeit eine größere Rolle, wenn es um das Selbstverständnis der Bürger und dem öffent­ lichen Bekenntniss zu ihrer Religion geht. Diese Entwicklung charakterisiert Charles Taylor: „Der Präsenz Gottes im Kosmos entspricht die Vorstellung von seiner Präsenz im politischen Gemeinwesen. Hier findet ein ähn­ licher Wandel statt. Das Göttliche existiert nicht mehr in einem König, der den Raum zwischen den Ebenen überbrückt. Es kann jedoch insofern präsent sein, als wir eine Gesellschaft aufbauen, die offenkundig mit dem Plan Gottes übereinstimmt. Dieser Gedanke lässt sich durch die Vorstellung von einer moralischen Ordnung ergänzen, die, wie es zum Beispiel in der amerikani­ schen Unabhängigkeitserklärung geschieht, als eine von Gott begründete Ordnung aufgefasst wird: Die Menschen wurden als gleiche geschaffen und von ihrem Schöpfer mit bestimmten un­ veräußerlichen Rechten ausgestattet.“33

Diese neue moralische Ordnung kennt keine überlieferte Hierarchie, die den einzelnen Bürgern bereits einen Platz in der Gesellschaft zuordnet. Damit ist sie im westlichen Kon­ text ein neuer Typ einer Gesellschaft, die zwar von Gott be­ gründet, aber nicht mehr von ihm bestimmt wird. Nun liegt es in der Verantwortung des Einzelnen, sich seinen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Die Identifikation mit der Umsetzung eines göttlichen Plans und der Errichtung einer freien Gesellschaft ist genau das, was der Begriff der Zivilre­ ligion zum Ausdruck bringen soll. Amerika ist nach diesem Grundverständnis dazu berufen, Gottes Plan zu verwirk­ lichen. Dieser Plan ist nicht mehr die überlieferte, hierarchi­ sche Gesellschaft, sondern die Idee einer allgemeinen, von Geburt zuerkannten Gleichheit, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zukommt. Diese ideale Beschreibung bricht sich selbstverständlich an der Wirklichkeit. Alle Nicht-Weißen werden von dieser Idee der Freiheit zunächst ausgeschlossen. Dennoch kann gesagt werden, dass es diese Idee ist, die die 33  Taylor

(2009), 746.



C. Die immanente Welt47

Religion für die Benachteiligten als Motor von Entwicklung und Identifikation attraktiv bleiben lässt. Religion wird nicht wie in Europa mit dem Alten, dem Ancien Régime, identifi­ ziert, sondern grundsätzlich als fortschrittlich gedeutet. So­ mit entsteht in den USA kein unmittelbarer Gegensatz zwi­ schen Religion und gesellschaftlichem Fortschritt. In Europa und besonders im Zuge der Französischen Revolution wird dagegen die Religion zivilisiert. Damit ist gemeint, dass die Religion stärker als in Amerika im Bereich des Privaten als verweltlichter Moralkodex seine Bestim­ mung hat und stärker die Zivilisierung der unteren Schichten im Auge hat, während im öffentlichen Bereich die Religion Angriffspunkt besonders zahlreicher Intellektueller ist, für die Religion Rückschritt und das alte System des Absolutis­ mus repräsentiert. Die Vernunft wird zum Markenzeichen der neuen bürgerlichen Gesellschaft. Alles soll vernünftig und durch Vernunft geleitet werden und sie begründet das angemessene moralische Verhalten. Gott und die überlieferte Religion sind nur noch Statthalter der sittlichen Idee, die selber aber nicht mehr aus der Religion heraus begründet werden kann. Fortschritt bezeugt sich durch die Zunahme der Vernunft, sie selber ist der Endzweck der Natur: „Alle Fortschritte in der Kultur, wodurch der Mensch seine Schu­ le macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Ge­ schicklichkeiten zum Gebrauch für die Welt anzuwenden; aber der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwen­ den kann, ist der Mensch: weil er sein eigener Zweck ist, – Ihn also, seiner Spezies nach, als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders, Weltkenntniss genannt zu werden; ob er gleich nur ein Teil der Erdgeschöpfe ausmacht.“34

Die Kritik an der Religion war in Europa der Angriff auf Überlieferung, Tradition, Feudalismus, Absolutismus, die sämtlich als Behinderung für die Errichtung einer neuen, ver­ nünftigen Gesellschaft angesehen wurden. Absolutistische Herrschaft wurde mit der Religion, so wie sie überliefert war, identifiziert und die Religion wurde in diesem Zusammen­ 34  Kant,

Anthropologie (1983), 399.

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C. Die immanente Welt

hang als Zielscheibe einer notwendigen Kritik angesehen, um eine moderne bürgerliche Gesellschaft auch politisch durch­ zusetzen. Hierzu war eine kritische Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift notwendig. Sie wurde nicht mehr als Gottes Wort angesehen, sondern als ein Text, dessen Entste­ hung, Überlieferung und Sinn nach denselben Regeln zu er­ forschen ist, die bei der Erforschung jedes anderen Textes zugrundegelegt wird. Vernunft bedeutet die Anwendung von Kritik und diese Kritik darf nur von der Vernunft selbst in seine Schranken verwiesen werden. Bereits Spinoza hatte in seinem Theologisch-Politischen Traktak diese Freiheit des Denkens gefordert. Nach einer eingehenden Kritik an der überlieferten Religion, die sich durch die Institution der Kir­ che rechtfertigen will, stellt er am Ende fest, dass „jedem das Recht zugestanden wird, zu denken, was er will, und zu sa­ gen, was er denkt.“35 Diese Freiheit des Denkens bezog sich auf die Durchsetzung vernünftiger Prinzipien und gegen die auf eine äußere Autorität handelnde Kirche. Während in Amerika Religion eine Ressource der Modernisierung war, trennte sich in Europa zumindest für die meisten Intellektu­ ellen die Idee der Religion von der Vernunft. Um das Alte zu überwinden, musste die Religion auf den Richterstuhl der Kritik gezehrt werden. Religion wurde stärker als in Amerika in den Bereich des Privaten verdrängt und ihre Rolle wurde in der Aufrechterhaltung moralischer Prinzipien gesehen, die aber von der Vernunft allein begründet werden konnte. Da­ mit hatten sich die Rollen vertauscht. Nun war es die Ver­ nunft, die die Religion prüfte und in ihre Schranken verwies und nicht mehr die Religion, die letzte und unbefragte Auto­ rität war, aus der Vernunft hervorging. Beide Entwicklungen haben dennoch Gemeinsamkeiten, die für die Herausbildung der westlichen Moderne und ei­ nem neuen Zeit- und Geschichtsverständnis Platz machen. In beiden Entwicklungen wird der Religion die bisher gel­ tende umfassende Weltdeutung genommen. Sie wird ver­ weltlicht, indem sie vermenschlicht wird. Religion repräsen­ 35  Spinoza

(1984), 309.



C. Die immanente Welt49

tiert sich nicht mehr unbefragt durch eine Institution, auf der sich weltliche Herrschaft gründet, sondern ihre neue Funktion liegt, bei allen Unterschieden, darin, weltliches Leben, Alltag, Werte, Normen in öffentlichen und privaten Gesprächen zu deuten. Damit beginnt eine Individualisie­ rung der Religion, über die der Einzelne zunehmend verfü­ gen kann. Religion entzieht sich seinem konkreten Raum und wird auf ihre Substanz verwiesen, zu der sich der Ein­ zelne ohne Zwang der Überlieferung verhalten kann. Religion wandelt sich von einer transzendenten zu einer immanenten Religion. Sie wird Teil der Welt und steht nicht mehr über oder außerhalb von ihr. Die religiösen Führer müssen ihre Religion erklären, auslegen, rechtfertigen und das aufgeklärte Publikum partizipiert an diesem Diskurs. Damit findet eine Entheiligung der Zeit statt. Theologisches Denken war in seinem Zeithorizont auf die überweltliche Zeit, auf die Transzendenz seiner Herkunft gerichtet. Das Heilige und das Profane, Gott und die Welt waren zwei unterschiedliche Sphären, die strikt voneinander getrennt waren. Die Verbürgerlichung der Gesellschaft führt dazu, dass diese Grenzziehung aufweicht. Das Heilige, das reli­ giöse Fest, wird privatisiert, in den Horizont der Familie geholt. Die Profanisierung der Zeit, die Einreihung des Heiligen in den zeitlichen Kontext des weltlichen Jahres, führt zu einer Auflösung außerweltlicher Zeitbezüge. Der Wandkalender zu Hause symbolisiert die Verweltlichung der Zeit. Der Umgang mit den heiligen Festen wird Teil des privaten Raums. Es entsteht eine neue Topographie des Raums, des äußeren wie des inneren. Der Mensch wird Trä­ ger einer Immanenz. Er wehrt sich gegen die Inanspruch­ nahme transzendenter Forderungen und erkennt sich, wie Kant es oben formuliert hat, als eigenen Zweck. Religion und Welt werden in den Horizont der Selbstbestimmung verlegt. Aus einer transzendenten Welt, in der die Zeit im­ mer auch auf die außerweltliche Zeit gerichtet war, entsteht eine immanente Welt, in der die Zeit verweltlicht. Dieser Prozess ist eng an die Entdeckung der Welt geknüpft.

D. Die Entstehung der globalen Welt Neben der anthropologischen Wende und der Herausbil­ dung einer immanenten Welt ist ein weiteres Charakteristi­ kum der Zeit seit dem 16. Jahrhundert die Entstehung einer globalen Welt. Der Ausdruck globale Welt verweist darauf, dass es um die Herausbildung einer neuen Weltsicht geht, die von neuen Kenntnissen über die geographische Welt und die Entdeckungen der Naturwissenschaften geprägt werden. Diese globale Welt ist im 16. und 17. Jahrhundert keine pri­ mär europäische oder westliche Welt. Diese Vorstellung entwickelt sich erst im 18. Jahrhundert heraus und hält sich zum Teil bis heute in der westlichen Wahrnehmung. Chris­ topher A. Bayle geht soweit, die frühe Phase der europäi­ schen Expansion als „eine von mehreren zeitgenössischen Beispielen von Globalisierung“ und nicht als „ein im Entste­ hen begriffenes Weltsystem“ zu verstehen.36 Wenn wir eine angemessene Vorstellung der Entstehung der globalen Welt aus westlicher Sicht gewinnen wollen, müssen wir eine eurozentrische Sichtweise, die diese Ent­ wicklung im Nachhinein einseitig erklärt, zurückweisen. Der westliche Horizont war im 16. und 17. Jahrhundert, zur Zeit der Entdeckungen und Eroberungen, noch nicht so einseitig von einer westlichen Weltwahrnehmung geprägt, wie dies heute zum Teil erscheint. Die großen Kultur- und Zivilisationsräume, Europa, China, Indien, das Osmanische Reich, Persien, Afrika standen sich gleichberechtigt gegen­ über und Handelsverbindungen und Handelsnetze durchzo­ gen diese Räume, die nicht von Europa dominiert wurden. Im 15. Jahrhundert war China die größte Wirtschaftsmacht der Welt, das Osmanische Reich erbte einen Großteil „des 36  Bayle

(2008), 59.



D. Die Entstehung der globalen Welt51

westlichen Teils der islamischen Welt, das Reich der Safavi­ den, die im frühen 16. Jahrhundert ihre Herrschaft über Persien errichteten, und das Reich der Mogule, die den größten Teil Indiens unterwarfen.“37 Im 16. Jahrhundert waren die Osmanen auf dem Gipfel ihrer Macht. W. Mont­ gomery Watt fasst diese Entwicklung zusammen: „Sie eroberten Syrien und Ägypten und beherrschten teilweise Tunesien und Algerien. Auch Irak und Arabien gerieten unter ihre Herrschaft, und im Indischen Ozean unterhielten sie eine Flotte. In Europa besetzten sie Ungarn und hielten es ein Jahr­ hundert lang, während die Eroberung von Wien 1528 misslang.“38

Das 18. Jahrhundert markierte den Höhepunkt des chine­ sischen Reiches, dessen Ausdehnung unter Kaiser Qianlong seinen Höhepunkt hatte. China war an Größe und Macht allen anderen Reichen überlegen. Die öffentliche Verwaltung wurde verbessert, das Studium der Wissenschaften gefördert und das staatliche Prüfungssystem für die Beamten neu or­ ganisiert. Europa war noch nicht, wie es die spätere Ge­ schichtsschreibung deutet, Zentrum der Welt. Die Entste­ hung einer globalen Welt war in der Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert ein globales Phänomen. Bis 1800 begann in Amerika bereits Kolonialisierung und Völkermord, während gegenüber Asien die Hochachtung eines gleichberechtigten Partners vorhanden war. Jürgen Osterhammel deutet diese Entwicklung: „Insgesamt war das 18. Jahrhundert machtpolitisch und ökono­ misch eine Zeit des labilen Gleichgewichts zwischen Europa und Asien. Dem entsprach ein geistiges Equilibrium, welches das Denken dieser Epoche bei weitem attraktiver und bis heute be­ deutsamer macht als die späteren Triumphideologen eines welt­ erobernden Westens.“39

Die Entstehung der globalen Welt aus westlicher Perspek­ tive muss deshalb differenzierter sein und darf nicht von 37  Marks

(2006), 67. (2002), 42. 39  Osterhammel (2010), 35. 38  Watt

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D. Die Entstehung der globalen Welt

einseitigen, später geprägten Entwicklungen und Ansichten ausgehen. Hans-Henrich Nolte hat in seinen Arbeiten über Weltgeschichte auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Seine Kritik richtet sich darauf, dass Europa eine Sonderrol­ le zugesprochen worden ist, die ausgehend vom 19. Jahrhun­ dert auf die gesamte Geschichte der Neuzeit ausgedehnt worden ist. Dabei habe man es unterlassen, komparativ vorzugehen und die Geschichte anderer Länder und Kultur­ kreise aus ihrer eigenen Geschichte zu deuten.40 Wie vollzog sich die Entstehung der globalen Welt aus europäischer Sicht? Hier sollte man zwischen verschiedenen Weltregionen unterscheiden, in denen die europäische Ex­ pansion unterschiedlich verlief. Ostasien wurde nur zum Teil oder gar nicht unterworfen. In Südostasien war der europäi­sche Einfluss ebenfalls geringer als in Lateinamerika, das als erster Kontinent europäischen Kolonialismus erfuhr. Afrika wurde erst spät, nämlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, direkt kolonialisiert. Die islamische Welt wurde nie in gleicher Weise europäischer Herrschaft unter­ worfen. Indien war zwar englische Kolonie, aber auch hier war der Einfluss geringer als allgemein vermutet. Durch die europäi­schen Expansionen wurde aber die Welt neu vermes­ sen und Vorstellungen über Raum und Zeit änderten sich. Länder und Kontinente wurden auf Landkarten und Globen in Größe und Entfernung in einer geographischen Weltin­ nenperspektive neu geordnet, ohne dass es über die entspre­ chenden Regionen genauere Kenntnisse gab. Mit der Entde­ ckung anderer Völker, Kulturen und Zivilisationen wurden eigene Lebensvorstellungen relativiert. Dabei zeichnete sich schnell ein Bild ab, das zwischen Naturvölkern und zivili­ sierten Völkern unterschied. Diese Einteilung rechtfertige Verhaltensweisen, die sehr unterschiedlich waren. Naturvöl­ ker wurden nicht als gleichberechtigt behandelt und Aus­ beutung und Zivilisierung mischten sich in einer Missach­ tung für die Rechte dieser Völker. Anders war der Umgang 40  Nolte

(2009), 13.



D. Die Entstehung der globalen Welt53

mit zivilisierten Völkern wie etwa China. Hier gab es eine Hochachtung gegenüber dieser Kultur, die bis ins 18. Jahr­ hundert anhielt. Die Entstehung einer globalen Welt aus europäischer Perspektive war keine einheitliche Entwicklung und es gab viele Auseinandersetzungen über den angemesse­ nen Weg und Umgang mit anderen Völkern. Europa war noch nicht das weltgeschichtliche Zentrum, zu dem es sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts machte. Der Beginn europäischer Expansion liegt im 15. Jahrhun­ dert. Die Portugiesen begannen ihre Entdeckungsfahrten nach Afrika, um direkten Zugang zu den Handelsstraßen nach Osten zu gewinnen. Madeira wurde 1420 besetzt, 1431 wurden die Azoren entdeckt, 1444 die Senegalmündung und 1447 die Goldküste erreicht. 1488 erreicht Bartolomeo Diaz die Südspitze Afrikas und eröffnet den östlichen Seeweg nach Indien. Auf der Suche nach dem westlichen Seeweg nach Indien entdeckt Columbus 1492 Amerika. Portugal und Spanien sind die ersten großen europäischen Kolonial­ mächte, die 1494 im Vertrag von Tordessailas den amerika­ nischen Kontinent in zwei Einflusssphären unterteilen. Während sich in Afrika und Asien die Stützpunkte der Europäer oft auf Niederlassungen an der Küste beschränken und keine territorialen Eroberungen im Landesinneren ge­ lingen, gehen die Europäer in Amerika dazu über, die beiden einflussreichsten Reiche zu zerstören. Hernàn Cortés erobert 1519–21 das Reich der Azteken im heutigen Mexiko und 1531–33 Francisco Pizarro das Inkareich mit seiner Haupt­ stadt Cuzco.41 Diese Eroberung begleitet von Anbeginn eine Diskussion um Ziele und Umgang dieses Vorgehens, die das Eigenrecht der einheimischen Bevölkerungen betont. Francisco de Vito­ ria argumentiert 1538, dass die Spanier in den Ländern der Neuen Welt das Eigenrecht der dortigen Bevölkerungen re­ spektieren müssen: 41  Brückmann

(1993), 7.

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D. Die Entstehung der globalen Welt

„Die Spanier haben das Recht, in die überseeischen Länder zu ziehen und sich dort aufzuhalten, allerdings ohne den Eingebo­ renen Schaden zuzufügen, und diese dürfen ihnen dabei nichts in den Weg legen.“42

Vitoria appelliert an die Vernunft und das Prinzip des ge­ genseitigen Interesses, das bei den Handelsbeziehungen ge­ wahrt werden müsse. Doch die Realität sah anders aus. Mit dem Argument der Christianisierung und Zivilisierung wur­ de die Idee einer Gleichberechtigung von vornherein abge­ lehnt. Amerika entwickelte sich, anders als die anderen Kon­ tinente, zu einer Region, in der europäisches Recht keine Geltung hatte. Die Unterteilung in Alte und Neue Welt war ein Synonym für dieses Rechtsempfinden. Anders als der eu­ rasische Kontinent und selbst Afrika wurde Amerika in eine neue Raumordnung integriert, die sich auf Europa und Ame­ rika beschränkte. Diese Raumordnung basierte auf zwei Ent­ wicklungen: der Raumrevolution durch die Erkenntnis des heliozentrischen Weltbildes und der Entdeckung Amerikas als einem bisher unbekannten Kontinent. Durch Keplers Entdeckungen konnte sich die Vorstellung eines leeren Raums in Bezug auf das Weltall herausbilden. Die Entde­ ckung Amerikas dagegen löste die mittelalterlichen Raum­ vorstellungen der Respublica Christiana ab. Bis dahin „hiel­ ten die christlichen Fürsten und Völker Europas Rom oder Jerusalem für die Mitte der Erde und sich selbst für einen Teil der alten Welt.“43 Durch das Auftauchen einer neuen Welt wurde diese Raumvorstellung zerstört. Der neue Raum, die Neue Welt, wurde trotz der dort ansässigen Völker als rechts­ freier, der Okkupation offenstehender Raum angesehen. Der Teilungsvertrag von Tordessailas im Jahr 1494 zwischen Spa­ nien und Portugal besiegelte diese Vorstellung in einem neu entstehenden Völkerrecht, welches das Verhältnis zwischen Europa und Neuer Welt regelte. Für Europa war die Neue Welt fortan ein rechtsfreier Raum, in dem die Europäer durch Eroberung ihre jeweiligen Rechtsgrundsätze errichten und 42  Zitiert

nach Brückmann (1993), 14. (1988), 55.

43  Schmitt



D. Die Entstehung der globalen Welt55

durchsetzen konnten. Damit einher ging die Legitimierung des Krieges von christlichen gegen nicht christliche Völker, da ein solcher Krieg an den Missionsauftrag des Papstes ge­ bunden war. Diese neue Raumvorstellung setzte sich in einer Geheimklausel zum spanisch-französischen Vertrag von ­Cateau Cambrésis im Jahr 1559 fort und wurde zentraler Be­ standteil des europäischen Völkerrechts jener Zeit. In so ge­ nannten Freundschaftslinien, die die Territorien der erobern­ den europäischen Kolonialmächte voneinander abgrenzten, wurde grundsätzlich zwischen dem alten Europa und der je­ weils dort geltenden Rechtsordnung und der Neuen Welt, dem Kontinent der freien Landnahme, unterschieden. In die­ sem Räumen enden gemeinsame Rechtsvorstellungen und aus christlichen Missionaren werden Eroberer im Namen der menschlichen Zivilisation. Es beginnt der Dreieckshandel, in dem Sklaven aus Afrika in die Neue Welt gebracht werden, um als Sklaven auf den Plantagen eingesetzt zu werden. Die Indianer werden an die Spanier als Arbeitskräfte ausgeliehen (encomendia), um für sie wie Sklaven arbeiten zu müssen. Dieser grausame Umgang wurde in Europa nicht kritiklos hingenommen. In einem Auszug aus einem Gutachten eines königlichen Hofgeistlichen aus dem Jahre 1519 heißt es: „Das größte Übel, das die totale Verwüstung jener Länder be­ deutet hat und, wenn man nicht Abhilfe schafft, auch noch für den übrigen Rest bedeuten wird und welches man nach Recht und Vernunft gar nicht beibehalten kann und darf, ist die Dienst­ barkeit (encomendia) der Indianer in ihrer jetzigen Form. Wir meinen damit, dass sie so, wie es zur Zeit geschieht, zur Dienst­ leistung verteilt und in der heute üblichen Weise ausgebeutet werden, so nämlich, dass der ganze Ertrag ihrer Arbeit ihren Dienstherren zufließt. Diese so geübte Art der Ecomendia ist gegen das Wohl der Indianer und ihres Gemeinwesens, ist aber auch gegen alle menschliche Vernunft und Klugheit, gegen das Wohl und den Dienst des Königs, unseres Herrn, gegen jedes weltliche und geistliche Recht, gegen alle Grundsätze der philo­ sophischen und christlichen Ethik gegen Gott und gegen seinen Willen, gegen die Kirche.“44 44  Zitiert

nach Brückmann (1993), 31.

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D. Die Entstehung der globalen Welt

Hier zeigt sich, dass sich die Eroberung und Kolonialisie­ rung in der Neuen Welt von seinen theologischen, christ­lichen Wurzeln befreite. Das entstehende kapitalistische System ver­ weltlichte die christliche Missionierungsidee in eine weltliche Zivilisierungsidee. In der Neuen Welt waren die Europäer die Zivilisierten und die anderen Völker, die auf die Stufe der ­Naturvölker herabgestuft wurden, dienten den Zivilisierten, ohne dass ihnen eine Chance eingeräumt wurde, selbst den Zustand der Zivilisation zu erreichen. Die Zivilisierungsidee war deshalb von Anfang an paradox: auf der einen Seite soll­ ten die Eingeborenen dazu gebracht werden, sich zu europäi­ sieren, auf der anderen Seite hätte dies den ökonomischen Interessen der Europäer widersprochen. Deshalb wurde kaum etwas dafür getan, Einheimischen Wege zu eröffnen, die es ihnen erlaubt hätten, sich den Europäern anzugleichen. Neben dieser Raumrevolution wurde das freie Meer, die neu entdeckten Ozeane, die von Franzosen, Holländern und Engländern als freier Raum gedeutet wurden, in die Ansätze des neuen europäischen Völkerrechts integriert.45 Zunächst wurde das Meer wie die Neue Welt als rechtsfreier Raum angesehen. Da jedoch die Bedeutung des Meeres im Zuge europäischer Expansion immer wichtiger wurde, war das Meer als rechtsfreier Raum zu gefährlich. Im Utrechter Frie­ den von 1753 gelingt eine teilweise Hegung des Krieges auf dem Meer. In einem zweiten Abschnitt wird dort festgelegt, „dass die Kontrolle der Regierungen über die Kaperschiffe ihrer Untertanen stärker wird, so dass der Freibeuter alten Stils zum kriminellen Piraten herabsinkt.“46 Es wird also deutlich zwischen den Krieg führenden Parteien und den Freibeutern unterschieden, die aus der völkerrechtlichen Ordnung ausgeschieden werden.47 Somit zeigt sich in der Raumvorstellung, die sich im Zuge der Entdeckung der Neuen Welt entwickelt hat, ein neuer 45  Schmitt

(1988), 75. (1988), 153. 47  Heuer (2010), 27. 46  Schmitt



D. Die Entstehung der globalen Welt57

Ansatz, in dem es nicht nur um die Neuformulierung eines europäischen Völkerrechts geht, sondern insgesamt um eine neue Wahrnehmung von Raum und Zeit. Unter dem Ein­ druck der Entdeckung, dass die Erde als Globus endlich ist, und innerhalb des Sonnensystems einer unter mehreren Pla­ neten, die um die Sonne kreisen, verweltlicht sich die Wahr­ nehmung über die Erde, die ihre Sonderstellung in einem theologisch bzw. religiös gedeuteten Kosmos verliert. Die Welt als Globus wird eine einheitliche Welt mit verschiede­ nen Kulturen und Zivilisationen. In der Eroberung der Neu­ en Welt zeigen sich erste Anzeichen einer innerweltlichen Deutung von Entwicklungsstufen, auf die Kulturen und Völ­ ker eingeordnet werden. Die Ungleichheit, die sich in den Eroberungen in der Neuen Welt mit den einheimischen Völ­ kern entwickelt, wiederholt sich im gleichen Zeitraum auf der anderen Seite der Erdkugel nicht. In Afrika dagegen wird diese Ungleichheit Grundlage des Sklavenhandels. Im Gegensatz zu den Eroberungen in Amerika bleibt Schwarzafrika für die Europäer bis in die zweite Hälfte des 19.  Jahrhunderts ein unbekannter Kontinent. Seit dem 16. Jahrhundert werden zwar an den Küsten Forts errichtet, aber das Landesinnere bleibt eine terra incognita. Dort liegt der Handel in den Händen von Arabern und Afrikanern. Die Araber hatten seit dem 13. Jahrhundert einen Großteil des Mittelmeerhandels unter Kontrolle. Gleichzeitig be­ herrschten sie die Karawanenrouten im Nahen Osten, in Nordafrika und teilweise durch die Sahara; auch der Handel im Indischen Ozean wurde zum Teil von ihnen kontrolliert. Dies war eine der Gründe, warum die Portugiesen Seewege nach und um Afrika herum suchten, um sich direkten Zu­ gang zu neuen Handelswegen zu eröffnen.48 Der Sklaven­ handel wurde im Landesinneren von Arabern und Afrika­ nern durchgeführt, die Europäer nahmen die Sklaven an der Küste auf und verschifften sie von dort in die Neue Welt. Dieser grausame Sklavenhandel bestimmte dreihundert Jahre 48  Heuer

(1989), 35.

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D. Die Entstehung der globalen Welt

lang die Kontakte zwischen Afrika und Europa. Erst im 18. Jahrhundert entwickelten sich politische Strömungen, die auf die Abschaffung des Sklavenhandels drängten. Dazu gehörten die Abolitionisten seit dem späten 18. Jahrhundert in England, wo es offiziell im Britischen Empire 1838 zur Beseitigung des Sklaventransports auf britischen Schiffen kam.49 Dennoch dauerte es bis in die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts, dass afrikanische Kolonien unabhängig wurden und erst 1994 kam es zur offiziellen Abschaffung der Apartheid in Südafrika. Dies sind Hinweise, dass der Rassismus der Europäer gegenüber den Afrikanern nicht mit dem Ende des Sklavenhandels aufhörte. Das Bild, das sich die Europäer von den Afrikanern machen, dient oft als Be­ gründung für den Sklavenhandel und nicht einer realen Be­ schreibung des afrikanischen Kontinents oder der afrikani­ schen Völker. Die Europäer dünken sich ihrer Überlegenheit, stellen die afrikanische Wirtschaft und Mentalität, Fleiß und Ehrlichkeit als unterlegen dar und erhöhen sich damit ge­ genüber ihren afrikanischen Handelspartnern. In dieser Ge­ schichte der Ungleichheit liegt aus europäischer Perspektive der Keim einer langsamen Verschiebung der Wahrnehmung gegenüber anderen menschlichen Kulturen und Zivilisatio­ nen. Ohne dies in einen größeren historischen Kontext einzuordnen, entwickelt sich ein Gefühl der Überlegenheit. Unterschiede werden betont und Begründungen gemacht, warum es solche Unterschiede zwischen den Europäern und Afrikanern gibt. Diese Hierarchisierung unterscheidet sich von anderen Formen der Fremdwahrnehmung, die es immer in menschlichen Zivilisationen gegeben hat. Hier entsteht über einen vierhundert Jahre dauernden Zeitraum kontinu­ ierlich die Vorstellung, dass es generelle Unterschiede zwi­ schen Weißen und Schwarzen gebe. Diese Unterschiede dienen als Rechtfertigung für Rassismus und Unterdrückung. Doch entsteht daraus im 16.  /  17. Jahrhundert noch keine umfassende Deutung einer Geschichte aller Zivilisationen. Auf dem eurasischen Kontinent und besonders im Fernen 49  Alter / Rumpf

(1988), 7.



D. Die Entstehung der globalen Welt59

Osten treffen die Europäer aus ihrer Sicht auf Zivilisationen, die nach europäischer Vorstellung Hochachtung und Res­ pekt hervorrufen. Die Handelsbeziehungen werden auf europäischer Seite von reichen Handelsstädten wie Venedig oder Amsterdam oder von Handelsgesellschaften wie der East India Company oder der Compagnie des Indes Occidentales organisiert. Die Handelsgesellschaften erfreuen sich staatlicher Unterstüt­ zung und sollen neben dem Handel das Prestige des Staates in Übersee erhöhen. Auf dem asiatischen Kontinent entste­ hen an den Küsten zahlreiche Handelsniederlassungen Von 1680 bis etwa 1730 „entstehen zu fast allen Ländern des Kon­ tinents empirisch anspruchsvolle Beschreibungen, die bis ins 19. Jahrhundert kanonisch bleiben werden.“50 Hier findet sich ein ganz anderer Umgang und ganz andere Beschreibun­ gen der dortigen Kulturen und Zivilisationen, die nicht von einer europäischen Überhöhung geprägt sind. Dies spiegelt sich nicht nur in den Reiseberichten wider, sondern auch in Überlegungen zur Wahrnehmung des Anderen. Anders als in den Darstellungen über die Neue Welt wer­ den in Indien die Entwicklungen des Handels zwischen Europäern und den dortigen Bevölkerungen vor dem Hin­ tergrund einer Gleichberechtigung beschrieben. Abfällige Bemerkungen, die die dortigen Bevölkerungen als unter den Europäern stehend beschreiben, finden sich so nicht. Der portugiesische Jesuit Manuel Godinho bereiste 1655–1662 Indien und beschreibt unter anderem das Handelszentrum Surat an der westlichen Küste Indiens: „Surat ist der größte Handelsplatz Indiens, und ich kann wohl sagen, der reichste der ganzen Welt, weil hier auf dem Landweg und über das Meer von überall her die besten Waren angeliefert werden: Von Europa bringen sie die Engländer und Holländer, von Afrika die Schiffe des Roten Meeres, von Groß- und Klein­ asien die dort ansässigen Völker. [Zur Bedeutung Sutras] trägt auch [der Umstand] bei, dass die besten Drogen aus Indien über Land mit Ochsen- und Kamelkarawanen nach Surat geschafft 50  Osterhammel

(2010), 32.

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D. Die Entstehung der globalen Welt

werden, die zu jeder Stunde dort ankommen. Die Kaufleute und die Geschäftsleute, die in dieser Stadt wohnen, sind sehr reich: es gibt etliche, die weit über fünf und sechs Millionen besitzen, sie haben wahrscheinlich an die 50 Schiffe, die überall hinfahren. Die Ausländer, die diesen Hafen aufsuchen, kann man nicht zählen. Das ganze Jahr über findet man in Surat Schiffe aus […] jedem Ort, den man überhaupt aufsuchen kann.“51

Diese Offenheit in den Beschreibungen Asiens im Allge­ meinen bleibt bis zum 18. Jahrhundert vorherrschend. Os­ terhammel stellt fest, dass die Weltreisenden des 18. Jahr­ hunderts wie Georg Forster, Michael Symes, Samuel Turner, Mountstuart Elphinstone und Alexander von Humboldt eine dialogische Haltung zum Anderen einnahmen, „die es nicht als Axiom voraussetzte, der Europäer habe immer recht.“52 Indien gehört zu den Regionen, die leicht zugänglich waren. „Kein asiatisches Land“, so Osterhammel, war „leichter zugänglich als Indien, keines war schon im 17. Jahrhundert dichter und häufiger bereist worden. Die Moguldynastie hatte eine vollkommende Reisefreiheit für Europäer zugelas­ sen, mit anderen Worten: die Fremden ignoriert.“53 Ähnlich gut bereist war im Nahen Osten Persien. Unter den Shahs der Safawiden-Dynastie (1501–1722) herrschte weitgehend Reisefreiheit. Weniger bekannt waren Teile Südostasiens, vor allem der Himalaya-Raum. Ostasien war dagegen für die Europäer am schwersten zugänglich. Über China hatte man Berichte durch die Jesuiten, die als Missionare im 17. Jahr­ hundert oft für viele Jahre im Reich der Mitte blieben und es zum Teil zu hohen Stellungen am Kaiserhof brachten. Dazu kamen die Berichte diplomatischer Gesandtschaften, von denen es zwischen 1692 und 1795 insgesamt sieben gab.54 Anders lag der Fall mit Korea und Japan. Über Korea lag nur ein längerer Bericht aus dem 17. Jahrhundert vor. Im August 1653 geriet ein Handelsschiff der Niederländischen nach Brückmann (1993), 43. (2010), 84. 53  Osterhammel (2010), 102. 54  Osterhammel (2010), 100.

51  Zitiert

52  Osterhammel



D. Die Entstehung der globalen Welt61

Ostindien Kompanie in einen Sturm und erlitt an der Küste der heutigen Insel Cheju-do Schiffbruch. Hendrick Hamel, der Sekretär des Schiffes, und die anderen Überlebenden der Besatzung wurden auf das Festland gebracht, wo ihnen auf­ grund der Abschottungspolitik die Ausreise verweigert wurde. Erst dreizehn Jahre später gelang einigen von ihnen unter der Führung von Hameln die Flucht nach Japan. Ha­ meln verfasste später einen Bericht über seinen Aufenthalt in Korea. Ansonsten wusste man in Europa nur über Be­ richte aus Peking über dieses abgeschlossene Land. Ähnlich war es mit Japan. Auch hier dauerte es bis zum 19. Jahrhun­ dert, bis erste ausführliche Berichte von Europäern über das Land vorlagen. Die Wahrnehmung Chinas ist in unserem Zusammenhang der Entstehung der globalen Welt und die damit einherge­ hende Beurteilung dieses Landes und seiner Kultur von Bedeutung, weil sie verdeutlicht, wie vielfältig bis Ende des 18. Jahrhunderts die Wahrnehmung anderer Kulturen und Zivilisationen gewesen ist. Es gab bis in diese Zeit noch keine eindeutige Gesamthierarchie, die so etwas wie eine umfassende Welt-Geschichte, in der alle Kulturkreise vor­ kommen, und die auf Europa als den Gipfel des Fortschritts ausgerichtet war, in den Horizont des Möglichen stellte. Noch gab es neben Hierarchisierungen wie etwa gegenüber den Afrikanern und Indianern Kulturen, die in Teilen der europäischen Kultur als überlegen galten. Diese Mischung und auch Offenheit drückte sich besonders gegenüber China aus. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts gerät China in den Blickwinkel Europas. 1585 erscheint das erste große China­ buch in Europa nach Marco Polo von dem spanischen Au­ gustiner Juan Gonzalez de Mendoza. Er beschreibt China als ein reiches, mächtiges und wohlgeordnetes Land, mächtig und reich an Einwohnern, mit guten ausgebauten Handels­ wegen und einer üppigen Versorgung der Menschen.55 Hier 55  Osterhammel

(1989), 23.

62

D. Die Entstehung der globalen Welt

taucht bereits ein Motiv auf, das auch die Schriften der Je­ suiten aus dem 17. und 18. Jahrhundert prägen wird: China wird als die andere große Zivilisation wahrgenommen, die sich unter ganz anderen Bedingungen entwickelt hat als die europäische Zivilisation. Man begegnet China mit Hochach­ tung und erkennt die Leistungen der chinesischen Kultur uneingeschränkt an. Seit 1583 lassen sich die ersten jesuiti­ schen Missionare in China nieder und Matteo Ricci wird der erste bedeutende Chronist, der vorurteilsfrei darüber nach­ denkt, worin die Besonderheit der chinesischen Zivilisation liegt. Obwohl er als Missionar nach China gekommen war, misst er die chinesische Kultur nicht einseitig an einem christlichen Weltbild. Ricci lernte chinesisch, kleidete sich wie ein chinesischer Mandarin und gelangte dadurch bis in die Hauptstadt. Im 17. Jahrhundert engagierten sich die je­ suitischen Missionare in China vor allem für die Vermittlung mathematischen Wissens und der aristotelischen Philosophie und übersetzten religiöse und wissenschaftliche Werke. 1645 wurde Adam Schall von Bell Direktor des Kaiserlichen ­Astronomischen Amtes, an dem Jesuiten bis 1775 Präsenz hielten.56 Paul Oberholzer fasst die Vorgehensweise der je­ suitischen Missionare in China zusammen: „Angeregt von Alessandro Valignano griffen die Jesuiten in Chi­ na zu einer völlig neuen Art der Verkündigung. Sie übten sich in den chinesischen Höflichkeitsformen und studierten die Lehre des Konfuzianismus. Gleichzeitig weckten sie mit der Vermitt­ lung naturwissenschaftlicher Errungenschaften Achtung und Neugierde für die europäisch christliche Kultur. Im Dialog mit gebildeten Nicht-Christen knüpften sie an deren Verständnis­ horizont an und sprachen von Gott als Herrn des Himmels und ließen kulturell fremde Elemente wie die Gottessohnschaft Jesu und die Erlösungslehre vorerst ruhen. Vor allem Nicolas Trigault vermochte diese Anliegen in Rom gut zu vertreten, so dass er 1615 die Erlaubnis zur Feier der Liturgie in chinesischer Sprache erhielt – ein fortschrittliches Zugeständnis, dessen Umsetzung an ordensinternen Differenzen in China selbst scheiterte. Im Kon­ fuzianismus sahen die Jesuiten keine konkurrierende Religion, 56  Oberholzer

(o. J.), 1.



D. Die Entstehung der globalen Welt63 sondern eine Staatsphilosophie, die mit dem Christentum verein­ bar war und sich ursprünglich an einem Monotheismus orientiert hatte. Damit verbanden sie die aus dem Mittelalter überlieferte Theologie, dass sich Gott auch auserwählten Heiden wie Sokra­ tes offenbart habe. In diese Linie stellten sie Konfuzius mit der Überzeugung, die Chinesen würden sich dem Christentum öff­ nen, wenn sie zum Ur-Konfuzianismus zurückgeführt werden.“57

Die Offenheit gegenüber der chinesischen Kultur spiegelt die Wertschätzung wider, die man der langen überlieferten Geschichte Chinas zollte. Hier sah man sich auf Augenhöhe mit einer anderen Kultur, die ältere Wurzeln hatte als die eigene. Hinzu kam das Fremdartige, das in verschiedenen Formen der europäischen Vorstellung eines zivilisierten Be­ nehmens und Lebensstils entgegenkam. Auch die wirtschaft­ liche Macht des Reiches, das zahlreiche Tributstaaten hatte, ohne diese militärisch in Schach zu halten, erzeugte Bewun­ derung. In der Aufklärung folgte in dieser Tradition eine Kritik an dem eigenen christlichen Geschichtsbild Europas. Man rühmte die Zivilisiertheit Chinas, die ohne Aberglau­ ben und die Berufung auf einen Gott eine solche Zivilisation hat errichten können. Christian Wolff rühmte in einer Rede 1721 diese Grundsätze des chinesischen Denkens: „Was nämlich an erster Stelle hervorgehoben werden muss: Nichts schrieben die Chinesen in bezug auf Handlungen der Menschen vor, und nichts setzten sie in bezug auf die Ausübung der Tugenden und der Sitten fest, als das, von dem sie einsahen, dass es mit dem menschlichen Geist vorzüglich übereinstimmt. Es gibt also einen Anlass, uns darüber zu wundern, dass ihre Anstrengungen von Erfolg gekrönt waren, weil sie nichts unter­ nahmen, was der Natur widerstritt.“58

Zur selben Zeit befasste sich der deutsche Philosoph Leib­ niz ausführlich mit China. Sein Interesse richtete er auf die chinesische Schrift und Sprache, die chinesische Medizin und Geschichte, auf Wissenschaft und Technik, die Literatur im Sinne von Quellen und Urkunden und die konfuzianische 57  Oberholzer 58  Wolff

(o. J.), 2. (1985), 25.

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D. Die Entstehung der globalen Welt

Philosophie, die er bewunderte. Leibniz wollte, dass mög­ lichst viele Quellen aus China in europäische Sprachen über­ setzt werden, damit man sich in Europa ein genaueres und besseres Bild über diese Kultur machen könne.59 Voltaire geht darüber hinaus und kritisiert in seinem 1756 veröffent­ lichen Essay über die Sitten und den Geist der Nationen im ersten Kapitel die biblische Schöpfungsgeschichte. Die chine­ sische Zivilisation sei nicht nur viel älter und ehrwürdiger, sondern auch sehr viel zivilisierter und fortgeschrittener als die Geschichte des Judentums, die bisher Mittelpunkt der christlichen Geschichtsauslegung gewesen war. Chinas Ge­ schichte sei, so Voltaire, frei von absurden Fabeln, Wundern und Prophezeiungen. Die weltliche Deutung des Menschen im Konfuzianismus faszinierte Voltaire so sehr, dass er dessen Bild in seinem Schlafzimmer aufhängte.60 Die Begegnung mit China spiegelt nochmals die These wider, dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in der Ent­ stehung der globalen Welt Europa nicht den Mittelpunkt bildete und in sich selber nicht den Königsweg einer welt­ geschichtlichen Entwicklung gesehen hat. Allerdings hatten sich die Gesellschaften in Europa vom 16. bis zum 18. Jahr­ hundert grundsätzlich verändert. Die Naturwissenschaften hatten das alte christliche Weltbild in Frage gestellt. Die Hinwendung des Denkens auf den Menschen, neue Erklä­ rungen, die sich auf den Körper des Menschen und die Stellung des Menschen im Kosmos bezogen, verwiesen stär­ ker auf die natürliche und gesellschaftliche Stellung des Menschen und weniger auf seine Religiosität. Der Mensch wurde sich seiner eigenen Naturhaftigkeit gewahr und stell­ te diese in den Kontext seiner Gesellschaft. Theologisches oder religiöses Denken wurde von seinen transzendenten Wurzeln abgeschnitten und in innerweltliche Zusammen­ hänge gestellt. Die Moralisierung des öffentlichen Lebens in der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft führte zu einer 59  Leibniz 60  Löwith

und China (o. J.), 5. (1960), 575.



D. Die Entstehung der globalen Welt65

Verinnerlichung religiöser Werte. Religion wurde im alltäg­ lichen Leben praktiziert, in der richtigen Lebensführung und nicht mehr in einer angemessenen Unterordnung unter kirchliche Autorität. Die Welt bzw. die Wahrnehmung der Welt verliert ihre transzendenten Züge, sie wird weltlich. Die Entdeckungen fremder Länder, Regionen, Kulturen und Zivilisationen zeigt eine Welt, die in sich abgeschlossenen und dennoch viele neue Dinge hervorbringt. Die Welt wird entdeckt. Auch dies trägt zur Verweltlichung des Lebens in Europa bei. Die Entdeckung anderer Kulturen und Zivilisa­ tionen fördert den Blick auf das Eigene, Besondere, Andere. Zunehmend wird der Mensch in den Kontext seiner Kultur und Zivilisation gestellt und erste Anzeichen einer Hierar­ chisierung zeigen sich. Schwarze und Indianer werden nicht als gleichrangig angesehen. Auf der anderen Seite entsteht bereits ein erster Diskurs über die Unrechtmäßigkeit einer solchen Hierarchisierung. Mit China tritt eine Kultur in das Blickfeld, die der europäischen Zivilisation an Dauer und Innerweltlichkeit überlegen erscheint. Zivilisation ist nicht nur ein Kennzeichen Europas. In der Aufklärung tritt sogar eine Kritik an eigenen Denkvorstellungen in Bezug auf an­ dere Kulturen auf. Am Ende des 18. Jahrhunderts sind europäische Gesell­ schaften immanenter geworden. Religion ist immer noch ein wesentlicher Bestandteil des Lebens, aber Intensität und Ausdrucksformen haben sich geändert. Die Welt in ihrer natürlichen Beschaffenheit tritt in den Vordergrund. In der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft entwickelt sich eine Öffentlichkeit, in der man über das Allgemeine, das Wohl der politischen Gemeinschaft nachdenkt. Globen zeigen die Form der Erde als Kugel und die Entdeckungen lassen aus Regionen, Ländern, Kontinenten die Welt in ihrer Kugel­ form erscheinen. Um Welt zu verstehen, muss man offen für Neues sein. Neue Genussmittel wie Kaffee, Kakao, Tee, Schokolade sind zu Hause Beweise für diese Offenheit. ter, Konzertsäle und Museen sind die neuen Räume Thea­ einer bürgerlichen Öffentlichkeit, in denen innerweltliche

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D. Die Entstehung der globalen Welt

Reflexion über eigene Werte, Normen, Lebensentwürfe stattfindet. Überall beginnen Differenzierungen: Stadt und Land, Land und Meer, Alt und Neu, Vernunft und Aber­ glauben. Neues bricht sich seinen Weg und aus den Diffe­ renzierungen bildet sich eine neue Synthese: die von Welt und die von Geschichten. Aus den vielen Einzelgeschichten entsteht langsam die Vorstellung einer einzigen Geschichte, die sich in der Welt entfaltet.

E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte Bis zum 18. Jahrhundert war die Wahrnehmung von Ge­ schichte eine Wahrnehmung neben anderen, um Welt zu verstehen. Welt meint hier die von den Menschen hervorge­ brachte Kultur, die sich von der selbst hervorbringenden Natur unterscheidet. Die Entdeckung neuer Kulturen, Zivi­ lisationen und Kontinente hatte zu einer Relativierung des Eigenen geführt. Das Andere, Fremde, wurde an ihm ge­ messen, ohne dass dies in die umfassende Deutung einer Welt-Geschichte gestellt worden ist. Erst die anthropologi­ sche Wende, die Herausbildung einer immanenten Welt und die geographische Entdeckung der Welt legen den Grund für eine neue, umfassendere Sicht auf Geschichte. Die Profanisierung des Lebens, die Verweltlichung, legen den ­ Schwerpunkt von Welterklärung, die Deutung und das Ver­ stehen anderer Kulturen und Zivilisationen, auf Fragen von weltlicher Herkunft, Überlieferung, Tradition, Wertvorstel­ lungen. Kulturen und Zivilisationen werden in ihrem welt­ lichen Kontext verstanden und auch Religion wird in Bezug auf die Besonderheiten der jeweiligen Kultur gedeutet. Die verschiedenen Kulturen und ihre Geschichten werden bis ins 18. Jahrhundert noch in ihrer Verschiedenheit gesehen, ohne direkte Bezüge einer alle Kulturen und Zivilisationen umfassenden Geschichte zum Vorschein zu bringen. Am Ende des 18. Jahrhunderts taucht vermehrt die Idee auf, dass es nicht nur verschiedene Geschichten gibt, die miteinander verglichen werden können, sondern eine alle Kulturen umfassende Geschichte, eine Entwicklung in der Geschichte, ähnlich wie in der Natur, die aus den verschie­ denen Geschichten eine zusammenhängende Geschichte aller Menschen erkennen lässt. August Ludwig Schlözer ist einer der ersten, der den Versuch unternimmt, eine Weltgeschich­

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E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte

te zu schreiben. 1772 veröffentlicht er eine Vorstellung der Universalgeschichte. Schlözer lässt sich in seiner Deutung einer Weltgeschichte nicht von einem normativen Ansatz oder der Vorstellung, Europa sei Vorreiter oder Mittelpunkt einer solchen Weltgeschichte, leiten. „Schlözer“, so resümiert Osterhammel, „hatte dabei keine Geschichtsschreibung im Sinn, die den Auf­ stieg Europas gegenüber den anderen Zivilisationen feiern sollte. Unter die herrschenden und weltreichbildenden ‚HauptVölker‘ der Geschichte rechnet er neben die Römer und die mittelalter­ lichen Deutschen auch Chinesen, Araber, Mongolen und Türken, während Griechen und Ägypter für ihn unter dem Aspekt ihrer Wirkungsmächtigkeit nur zu den ‚bloß wichtigen Völkern‘ zäh­ len. Schlözers Weltgeschichte ist aus dem Erfahrungshorizont des späten 18. Jahrhunderts entworfen, wird aber nicht teleologisch auf die Europäisierung der Welt hin konstruiert.“61

Im Geiste der Aufklärung wurde das Verhalten der Euro­ päer in Bezug auf die Kolonialsierung und der Umgang mit anderen Völkern scharf kritisiert. Kant empörte sich über dieses Vorgehen, obwohl er im gegenseitigen Handel den Grundstein für ein zukünftiges, friedliches Zusammenleben aller Völker sah: „Vergleicht man hiermit das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuch fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Neger­ länder, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren, bei ihrer Entde­ ckung, für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwoh­ ner rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie, unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen, fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten des­selben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treue­ losigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.“62 61  Osterhammel 62  Kant

(2010), 61. (1796), 214 f.



E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte69

Dennoch ist es Kant, der als einer der ersten darüber nachdenkt, in welcher Form eine Weltgeschichte zu denken möglich sei. Und nicht die ganze Aufklärung ist gegenüber anderen Völkern und ihrer Geschichte gegenüber so tole­ rant wie Schlözer und in Ansätzen Kant. Condorcet ent­ wirft 1793 in seiner Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain bereits das Bild einer histori­ schen Entwicklung, die einen Kernbegriff der neuen Idee einer Weltgeschichte beinhaltet: die Idee eines Fortschritts. Nun werden verschiedene Kulturen und Völker nicht mehr in ihrer eigenen Entwicklung gesehen und miteinander ver­ glichen, sondern vielmehr anhand einer Hierarchisierung in eine historischen Entwicklung bzw. Entwicklungsstufe ein­ geordnet. Condorcet preist die Segnungen der Zivilisation, die „verschmelzen und eins werden müssen, wenn das Licht der Aufklärung in einer größeren Zahl von Nationen zugleich einen bestimmten Höhepunkt erreicht hat und die gesamte Masse eines großen Volkes durchdringt, dessen Sprache universal werden und dessen Handelsverkehr die ganze Erdoberfläche umfassen wird. Wenn sich diese Vereinigung einmal in der ganzen Klasse aufge­ klärter Menschen vollzogen hat, dann wird man diese als die Freunde des Menschengeschlechts betrachten, die sich gemein­ sam bemühen, Besserung und Glück der menschlichen Spezies zu beschleunigen.“63

Hier taucht die Idee einer alle umfassenden Geschichte auf, die in einer bestimmten, alle Zivilisationen und Kultu­ ren umfassenden Geschichte ihren Sinn findet. Das Men­ schengeschlecht in seiner Singularität, der Handel, der alle Völker miteinander verbinden wird, und die ganze Klasse aufgeklärter Menschen bilden das Fundament einer solchen, alle Menschen umfassenden Geschichte. Zunehmend rückt dabei die Frage in den Mittelpunkt, welches der eigentliche Sinn dieser Weltgeschichte sei. Geschichte müsse, so der Gedanke, mehr sein als die zufällige Aneinanderreihung von Ereignissen. Ähnlich wie in den Naturwissenschaften müsse 63  Zitiert

nach Löwith (1953), 102.

70

E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte

es möglich sein, bei aufmerksamem Studium der Geschichte Voraussagen über die Zukunft zu machen. Condorcet for­ muliert: „Wenn der Mensch mit fast vollständiger Sicherheit jene Erschei­ nungen, deren Gesetze er versteht, voraussagen kann; wenn ihn, sollten ihm selbst die Gesetze unbekannt sein, die Erfahrungen der Vergangenheit instand setzen, mit beträchtlicher Wahrschein­ lichkeit künftige Erscheinungen vorauszusehen: warum sollten wir es dann für ein chimärisches Unterfangen halten, mit einiger Wahrscheinlichkeit das Bild des künftigen Schicksals der Mensch­ heit nach den Ergebnissen ihrer Geschichte zu entwerfen? Die einzige Grundlage der Überzeugung in den Naturwissenschaften ist der Gedanke, dass die allgemeinen Gesetze, ob bekannt oder unbekannt, die die Phänomene des Weltalls beherrschen, not­ wendig und konstant sind. Und warum sollte dieses für das Naturgeschehen geltende Prinzip weniger wahr sein, wenn es auf die geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen angewen­ det wird?“64

Geschichte wird eine innerweltliche Angelegenheit, ein Vollzug, der aus sich heraus verstanden werden kann, ohne Bezug zu einer außerweltlichen Deutung. Der Mensch (an­ thropologische Wende) erkennt sich in seiner Welt (imma­ nente Wende) und bezieht alle Kulturen und Völker (Entste­ hung der globalen Welt) in einen innerweltlichen, zeitlichen Verlauf, der Aufschluss über zukünftige Entwicklungen ge­ ben kann. Geschichte wird analog zu den Naturwissenschaf­ ten als ein Verlauf angesehen, indem es bestimmte, festste­ hende Entwicklungen gibt, die alle Zivilisationen durchlau­ fen müssen. Kant fasst diese Entwicklungen in seiner kleinen, bahn­ brechenden Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht vorläufig zusammen. In dieser Schrift denkt er über die Frage nach, nach welchem gehei­ men Plan der Natur die Weltgeschichte verlaufe: „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürger­ 64  Zitiert

nach Löwith (1953), 103.



E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte71 liche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muss als möglich, und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden. Es ist zwar ein befremdlicher und dem An­ scheine nach, ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müsse, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stan­ de kommen. Wenn man indessen annehmen darf: dass die Natur, selbst im Spiele der menschlichen Freiheit, nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden; und, ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung zu durchschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggre­ gat menschlicher Handlungen, wenigstens im großen, als ein System darzustellen.“65

Kants Bezug auf den Plan der Natur ist ein Hinweis auf die Verweltlichung der Zeit. Es gibt nicht mehr einen Plan Gottes oder eine Vorsehung, die von außen an die Geschich­ te herangetragen wird, sondern so wie die Naturgesetze ohne das Wirken Gottes gedacht werden können, so ist der sinnvolle Verlauf der Geschichte letztendlich die Entwick­ lung eines innerweltlichen Geschehens. Dieses innerweltliche Geschehen ist nicht planlos, sondern einer Idee unterworfen. Kant denkt hier an die Idee der Autonomie und der mensch­ lichen Würde, die darin liegt, sich unabhängig der Natur sein eigenes Moralgesetz geben zu können. Das Vermögen der Vernunft, Welt zu erkennen und die bürgerliche Gesell­ schaft und den bürgerlichen Rechtsstaat hervorzubringen, ist der Maßstab, an dem sich vernünftige Entwicklungen in der Geschichte erkennen lassen. Schien die Geschichte bisher als ein Geschehen von Macht, Herrschaft, Unterdrückung, Stre­ ben nach Freiheit und dessen Misslingen, so wird Geschich­ te nun Ort einer Entwicklungsidee. Die bisherigen unter­ schiedlichen Entwicklungen streifen ihre Zufälligkeit ab und werden in den Rahmen einer Gesamtgeschichte gesteckt, deren Ziel die bürgerliche Gesellschaft und der aufgeklärte Staat ist, den die Europäer im 18. Jahrhundert hervorge­ 65  Kant

(1784), 47 f.

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E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte

bracht haben. Im europäischen Kontext verliert die Antike ihren Vorbildcharakter und das Mittelalter wird in den Voll­ zug eines aufstrebenden Fortschritts gedeutet. Andere Kul­ turen werden dieser Entwicklungsidee zu- und in diese eingeordnet. Die bis dahin teilweise vorherrschende Offen­ heit gegenüber anderen Kulturen und Geschichten schwin­ det. In der Idee der Weltgeschichte offenbart sich ein neuer Blick auf die Welt: Europa wird als Zentrum einer gegen­ wärtigen und künftigen weltgeschichtlichen Entwicklung gesehen. Hegel bringt dieses Denken und die Vorstellung, dass es eine Weltgeschichte mit einer Entwicklung gibt, die alle Völ­ ker der Erde umfasst, in ein System historischen Denkens, das nicht nur alle Formen historischen Denkens umfasst, sondern verdeutlicht, dass alles Denken geschichtlich ist. He­ gels gesamte Philosophie von der Ästhetik über die Rechts­ philosophie bis zur Logik ist Ausdruck eines Systemgedan­ kens, dessen Kern die Idee einer Vernunft ist, die sich durch die Geschichte in den einzelnen Disziplinen entfaltet. Den Gesamtzusammenhang dieses Systemansatzes entfaltet Hegel in seiner Philosophie der Geschichte. In ihr zeigt sich die Be­ stimmung der Vernunft und der Endzweck allen Seins. Die Philosophie selber ist in ihrer Entfaltung Ausdruck des in der Weltgeschichte sich entäußernden Geistes. Bereits Feuerbach fasste Hegels philosophischen Ansatz so zusammen: „Obwohl der Gang der Geschichte der Philosophie ein in sich notwendiger, von Außen unabhängigger Ideengang, sie selbst nichts weiter als die zeitliche Entfaltung von den ewigen inneren Selbstbestimmungen oder Unterschieden der absoluten Idee ist, so steht sie doch zugleich im innigsten Zusammenhang mit der Weltgeschichte. Die Philosophie unterscheidet sich nur dadurch von den übrigen Gestalten des Geistes, dass sie das Wahre, das Absolute, als Gedanke oder in der Form des Gedankens erfasst.“66

Die Philosophie der Geschichte befasst sich mit der allge­ meinen Weltgeschichte, „nicht Reflexionen über sie, sondern 66  Feuerbach

(1959), 7.



E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte73

sie selbst, – ihr Entstehen, ihr Fortgang, nicht Betrachtun­ gen, in denen wir sie als Beispiel anführen“.67 Damit tritt mit Hegel die Frage nach dem Endzweck aller Geschichte in den Vordergrund. Die vielen scheinbar unabhängig vonein­ ander sich vollziehenden Entwicklungen stehen nach Hegel in einem unmittelbaren großen Zusammenhang: „So anziehend diese Betrachtungen auch an sich sind, so ist ihr nächster Erfolg doch der, dass wird durch dieses Durchlaufen des Gedränges am Einzelnen ermüden und zu der Frage kom­ men, was das Ende aller dieser Einzelheiten sei, denen jeder sein Interesse bezeugt. In ihren besonderen Zwecken können wir sie nicht erschöpft finden; dieser ungeheuren Aufopferung muss ein Endzweck zugrunde liegen. Ist nicht ein Endzweck aller dieser Bewegung zu denken? Die Frage drängt sich uns auf, ob hinter dem Lärmen, dieser lauten Oberfläche der Erscheinungen, nicht ein inneres, stilles, geheimes Werk sei, in welchem die Kraft aller Erscheinungen aufbewahrt werde und dem alles zugute komme, um [dessentwillen] das alles geschehe. Dies ist die dritte Katego­ rie, die der Vernunft, der Gedanke eines Endzwecks in sich selbst. Die Frage ist also nach einem an und für sich bestimmten Inneren, das Eines ist, dessen ewige Arbeit es ist, sich zum Wis­ sen, zur Anwendung und zum Genusse seiner selbst fortzutrei­ ben, fortzubringen. Dass in den Begebenheiten der Völker ein solcher letzter Zweck das Herrschende und allein sich Vollbrin­ gende ist, dass also Vernunft in der Weltgeschichte ist, ist eine Wahrheit.“68

Die gesamte Geschichte, die Weltgeschichte, ist Ausdruck und Bestimmung der Vernunft. Sie geht über die einzelnen Völker und Schicksale hinweg, um seine Bestimmung zu verwirklichen. Alles Geschehen wird geschichtlich und kann nur durch ein angemessenes Verstehen der Geschichte rich­ tig gedeutet werden. Bevor sich Hegel dem eigentlichen Thema, der Darstel­ lung der Weltgeschichte zuwendet, reflektiert er über die anderen die Formen der historischen Betrachtung. Er un­ terscheidet drei Behandlungsarten der Geschichte: die ur67  Hegel 68  Hegel

(1996), 3. (1996), 20 f.

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E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte

sprüngliche Geschichte, die reflektierte Geschichte, von der es mehrere Arten gibt, und die philosophische Weltgeschichte. Zur ursprünglichen Geschichte zählt Hegel die antiken Ge­ schichtsschreiber wie Herodot und Thukydides. Sie schrei­ ben über ihre unmittelbare Vergangenheit, den Geist der Zeit, wie Hegel es nennt, und bringen das „Vorübergegan­ gene, in der Erinnerung Zerstreute, in eine feste dauernde Vorstellung“.69 In der reflektierten Geschichte werden Er­ gebnisse der ursprünglichen Geschichte vereint und in grö­ ßeren Zusammenhängen gedeutet. Der Historiker ist nicht unmittelbar Beteiligter, kein Zeitgenosse, und denkt aus ei­ nem allgemeinen Gesichtspunkt über einen größeren Zeit­ raum der Geschichte nach. Die höchste Form dieser Ge­ schichtsschreibung ist nach der Zusammenfassung schon vorhandener Geschichtsschreibung, der pragmatischen Ge­ schichtsschreibung, in der aus einem allgemeinen Gesichts­ punkt über das Vergangene reflektiert wird und der kriti­ schen Geschichtschreibung, in der der Verfasser nicht über das Geschehen, sondern über die Geschichtsschreibung sel­ ber kritisch nachdenkt, die abstrahierende Geschichtsschrei­ bung. Diese befasst sich mit einem Spezialgebiet eines allge­ meinen Gesichtspunktes wie Geschichte der Kunst, der Wissenschaft, Verfassung etc. und bildet den Übergang zur philosophischen Weltgeschichte.70 Nur die philosophische Weltgeschichte erfasst den Endzweck der Weltgeschichte und dieser Endzweck ist, „was Gott mit der Welt gewollt [hat].“71 Die Verwirklichung Gottes in der Weltgeschichte ist die Übertragung des Immanenz-Gedankens auf die Welt­ geschichte. Gott steht nicht mehr über oder außerhalb der Welt, sondern ist sein innerstes Geschehen, seine Selbstver­ wirklichung. Hegels Philosophie der Geschichte ist Aus­ druck einer Welt, die den transzendenten Gott aufgelöst und eine immanente Welt geworden ist. Die Weltgeschichte sel­ ber ist durch einen Fortschritt gekennzeichnet, der sich von 69  Hegel

(1996), 4. (1996), 13. 71  Hegel (1996), 24. 70  Hegel



E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte75

einer unteren zu immer höheren Stufen vollzieht. In diesen Stufen entwickelt sich das, was den Menschen im Gegensatz zur Natur auszeichnet: die Idee der menschlichen Freiheit. Die einzelnen weltgeschichtlichen Epochen offenbaren den Fortgang dieser Idee. „Im Orient“, so fasst Löwith Hegels Fortschrittsidee zusammen, „war nur Einer frei im Sinne unbeschränkter Willkür – der des­ potische Herrscher; in Griechenland und Rom waren Einige frei – die freigeborenen Bürger, im Unterschied zu den Sklaven; die germanische Welt hat, unter dem Einfluss des Christentums, er­ reicht, dass der Mensch als solcher frei ist. Der Orient war das Kindesalter der Weltgeschichte, Griechenland und Rom ihr Jüng­ lings- und Mannesalter, die christlich-germanischen Völker sind ihr Greisenalter.“72

Die gesamte Geschichte der Menschheit entpuppt sich als eine auf Europa hin zielgerichtete Entwicklung und Europa bzw. der Westen wird von nun an in der eigenen geschicht­ lichen Entwicklung den Königsweg historischer Vernunft und historischen Fortschritts erkennen. Was Hegel leistet, ist die Zusammenführung und Zusammenfassung der bishe­ rigen Weltgeschichte aus dem Geist seiner Gegenwart, in der sich in Europa der Gedanke verbreitet, dass Europa fort­ schrittlicher und weiter entwickelt sei als alles anderen Kul­ turen und Zivilisationen. Das radikal Neue ist nicht unbe­ dingt dieser Sachverhalt, sondern dass er die Grundlage für eine Deutung der gesamten bisherigen Weltgeschichte ist, in der sich Kulturen und Zivilisationen nicht mehr auf Augen­ höhe begegnen, sondern aus europäischer und westlicher Sicht andere Kulturen und Zivilisationen rückständig und zurückgeblieben sind. Die Weltgeschichte ist das immanente Weltgericht. Von nun sollen Europa bzw. der Westen be­ stimmen, wie sich andere Kulturen und Zivilisationen zu entwickeln haben, wenn sie auf der Höhe der Zeit sein wollen. Diesen Gedanken vertieft August Comte, indem er in seiner positivistischen Philosophie den letzten Rest einer transzendenten Welt verbannt. Historischer Fortschritt voll­ 72  Löwith

(1953), 66 f.

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E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte

zieht sich in drei großen Stadien, die keinen Bezug mehr auf eine theologische oder eine andere von außen an den Gegen­ stand herangetragene Idee mehr hat. Comte formuliert das fundamentale Gesetz, dass jeder Zweig unseres Wissens und unserer Zivilisation drei verschiedene Stadien durchläuft: „das theologische oder fiktive (Kindheit), das metaphysische oder abstrakte (Jugend) und das wissenschaftliche oder ­positive (Mannesalter)“.73 Die Geschichte ist ein Geschehen in und von der Welt und der Fortschritt Richtschnur, an der die Entwicklungsstufen von Ländern und Nationen gemes­ sen werden. Marx radikalisiert diesen Gedanken und führt ihn zu ei­ nem vorläufigen Abschluss. Er streift alle letzten Reste einer möglichen Transzendierung weltgeschichtlichen Denkens ab und begreift den Prozess der gesamten Geschichte inklusive der Naturgeschichte als einen aus sich selbst heraus zu ver­ stehenden Prozess. Natur- und Kulturgeschichte gehen inei­ nander über, die Geschichte der Natur ist die Vorbedingung der Geschichte aller menschlichen Gesellschaften. Die Natur, die natürlichen Voraussetzungen, ist die Grundlage, auf der Gesellschaftsgeschichte entsteht. Beide Seiten der Geschichte werden durch Gesetze bestimmt. Die Naturgesetze sind im Rahmen der Wissenschaften über die Natur zu erforschen. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften wird, ausge­ hend von dem Gesetzesbegriff der Naturwissenschaften, durch die Untersuchung ihrer materiellen Produktion er­ kannt. Der Schlüssel zu dieser Erkenntnis liegt nach Marx in der Erforschung der materiellen Produktionsbedingungen menschlicher Gesellschaften. Die wirklich wahre Geschichte seien die wirklich tätigen Menschen in ihrem wirklichen Lebensprozess, wozu auch die Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses gehören. Es ist, wie Marx sagt, nicht das Bewusstsein, das das Sein bestimmt, sondern das Sein, das das Bewusstsein bestimmt. Unter diesem Gesichtspunkt deutet er die Hegelsche Philosophie der Geschichte um, indem er den Gang der Weltgeschichte nicht als einen geis­ 73  Löwith

(1953), 81.



E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte77

tigen Prozess begreift, sondern als einen Prozess der mate­ riellen Produktion. Er fordert ein Umdenken, indem er die materielle Produktion und nicht die Vernunft als solche in den Mittelpunkt der historischen Analyse stellt.74 Im Manifest der Kommunistischen Partei erläutert Marx diesen An­ satz: „Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken, Woh­ nung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschicht­ liche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muss, um die Menschen nur am Leben zu erhalten. […] Die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun sogleich als ein doppeltes Verhältnis – einerseits als ein na­ türliches, andererseits als ein gesellschaftliches Verhältnis –, ge­ sellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird. Hieraus geht hervor, dass eine bestimmte Produktionsweise oder indus­ trielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwir­ kens oder gesellschaftlichen Stufe vereint ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine ‚Produktivkraft‘, dass die Men­ ge der den Menschen zugänglichen Produktivkräfte den gesell­ schaftlichen Zustand bedingt und also die ‚Geschichte der Menschheit‘ stets im Zusammenhang mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden muss.“75

Marx formuliert Hegels Idee der Weltgeschichte um, in­ dem er sie als Hervorbringung des Menschen durch die Arbeit erklärt. Alle Gesellschaften sind durch das Studium ihrer materiellen Produktion bzw. ihrer materiellen Produk­ tionsbedingungen wissenschaftlich zu untersuchen. Alle an­ deren Phänomene, Recht, Kunst, Politik etc. sind der Über­ bau dieser materiellen Produktionsbedingungen und nur durch diese zu verstehen. Hegels Fortschrittsmodell der 74  Heuer 75  Marx

(2011), 51. (2008), 339 f.

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E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte

Freiheit wird übertragen in ein Fortschrittsmodell materiel­ ler Produktionsgesellschaften. Dabei sind alle bisherigen Gesellschaften Klassengesellschaften, d. h. Gesellschaften, in denen einige von den Produktionsbedingungen profitieren, die Besitzer der Produktionsmittel, während die anderen, diejenigen, die keine Produktionsmittel besitzen, zu den Unterdrückten gehören. Analog zu Hegel unterscheidet Marx die bisherigen Klassengesellschaften in asiatische Pro­ duktionsweise, antike Sklavenhaltergesellschaft, Feudalge­ sellschaft, kapitalistische Gesellschaft. In dieser Entwick­ lungsstufe nimmt der gesellschaftliche Reichtum durch die Verbesserung der materiellen Produktionsbedingungen zu. Im Zuge dieser Entwicklung entsteht schließlich im Kapita­ lismus der Antagonismus der beiden Hauptklassen im Kapi­ talismus: Kapitalist und Proletarier. In einem letzten großen Klassenkampf soll die bisherige Vorgeschichte der Mensch­ heit, die Geschichte der Klassengesellschaften, in das Reich der Freiheit führen, in der es keine Klasse mehr gibt, die über eine andere herrscht. Mit diesem Ansatz schafft Marx die Hinwendung zu einer rein innerweltlichen Deutung der Geschichte. Hier gibt es keinen Platz mehr für Transzen­ denz, Religion oder andere Formen der Spiritualität, die ei­ nen Blick außerhalb der Welt zulassen. In seiner Überspit­ zung formuliert Marx damit, was sich realhistorisch im eu­ ropäischen und westlichen Kontext seit dem 15. Jahrhundert vollzogen hat: die Hinwendung zu einer innerweltlichen Deutung des Menschen und der Welt. Die vom Menschen hervorgebrachte Kultur wird weltlich gedeutet. Die Idee der Weltgeschichte bringt zum Ausdruck, dass sich das mensch­ liche Denken nur noch in der profanen, der weltlichen Zeit deuten und verstehen lässt. Hier findet die Geburt des mo­ dernen europäischen Geschichtsdenkens seinen vorläufigen Höhepunkt. Alles Denken, Natur, Kultur, Kunst, Religion sind historisch. Nur durch die Geschichte haben wir Zugang zu einem angemessenen Verständnis des Menschen. Dieses Denken unterscheidet sich grundsätzlich von anderen For­ men der Welterklärung, die es bis dahin gegeben hat. Das Besondere des modernen europäischen Geschichtsdenkens



E. Von Geschichten zur Welt-Geschichte79

liegt in der Ausschließlichkeit ihres Ansatzes, dass nur die Geschichte zu einem richtigen Verständnis von Mensch und Welt führt. Die Natur als eigener Horizont von Welterklä­ rung wie in der Antike oder die Religion als Grund aller Existenz wie im europäischen Mittelalter stehen dahinter zurück. Denkmodelle von Welterklärung anderer Kulturen werden in diesen Weltgeschichtskonzeptionen in den Fort­ schrittsgedanken integriert und an ihm gemessen.

F. Historismus und historisches Denken Der Historismus ist die andere Seite von Welterklärung im 19. Jahrhundert, die sich dem geschichtlichen Denken zu­ wendet und in ihm den Schlüssel für das Verstehen von Welt und Mensch sieht. Er fußt auf den gleichen Voraussetzungen wie die Weltgeschichtsdeutungen, ohne deren implizite Fort­ schrittsgläubigkeit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen zu stellen. Der Fortschrittsbegriff taucht im Historismus ver­ steckt auf, denn die Vorstellungen von Bildung und Entwick­ lung, die entscheidend für den Historismus waren, sind nicht so wertfrei und neutral, wie es dessen Vertreter zu glauben scheinen. Allerdings versteht sich der Historismus als Über­ windung eines spekulativen historischen Denkens und möch­ te ohne von außen an die Geschichte herangetragene Ideen oder Prinzipien die Geschichte nachvollziehen. Der Historismus entsteht zur gleichen Zeit wie die Ent­ wicklungen der Weltgeschichtsdeutungen, wie sie in dem vori­ gen Kapitel vorgestellt worden sind. Das Besondere des His­ torismus liegt nicht in der Hinwendung zur historischen Deu­ tung, sondern in seinem Anspruch, alle Phänomene geschicht­ lich zu erklären. In diesem Sinn hatte Friedrich Meinecke den Historismus gedeutet, nämlich als „eine umfassende Lebens­ philosophie, die jegliche gesellschaftliche Realität als einen ge­ schichtlichen Strom sieht, in dem kein Moment dem anderen vergleichbar ist, und die voraussetzt, dass Wertmaßstäbe und logische Kategorien ebenfalls völlig in den Strom der Ge­ schichte eingetaucht sind“.76 Damit wird ein einseitiger Fort­ schrittsbegriff, wie er in den Weltgeschichtskonzeptionen des 19. Jahrhunderts bestimmend ist, abgelehnt und dennoch die Geschichte in das Zentrum von Welterklärung gestellt. 76  Iggers

(1971), 44.



F. Historismus und historisches Denken81

Der Mentor einer solchen Geschichtsauffassung war Jo­ hann Gottfried Herder. In verschiedenen Schriften legt er seine Auffassung dar, dass jedes Zeitalter in den ihn innelie­ genden Wertbegriffen gesehen werden muss. Herder lässt sich von dem Begriff der Humanität leiten. Humanität, die Besonderheit des Menschen, die ihn vom Tier unterscheidet, bedeutet die Fähigkeit, das, was spezifisch menschlich ist, zum Vorschein zu bringen. In der Humanität sieht Herder den Zweck der Menschennatur und alle Kulturen und Ge­ sellschaften bauen auf diesem Zweck auf: „Zu diesem offenbaren Zweck, sahen wir, ist unsere Natur orga­ nisiert; zu ihm sind unsere feineren Sinne und Triebe, unsere Vernunft und Freiheit, unsere zarte und dauernde Gesundheit, unsere Sprache, Kunst und Religion uns gegeben. In allen Zu­ ständen und Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts an­ ders im Sinn haben, nichts anders anbauen können als Humani­ tät, wie er sich dieselbe auch dachte. Ihr zugute sind die Anord­ nungen unserer Geschlechter und Lebensalter von der Natur gemacht, daß unsere Kindheit länger daure und nur mit Hülfe der Erziehung eine Art Humanität lerne. Ihr zugute sind auf der weiten Erde alle Lebensarten der Menschen eingerichtet, alle Gattungen der Gesellschaft eingeführt worden. Jäger oder Fi­ scher, Hirt oder Ackermann und Bürger, in jedem Zustande lernte der Mensch Nahrungsmittel unterscheiden, Wohnungen für sich und die Seinigen errichten; er lernte für seine beiden Geschlechter Kleidungen zum Schmuck erhöhen und sein Haus­ wesen ordnen. Er erfand mancherlei Gesetze und Regierungsfor­ men, die alle zum Zweck haben wollten, daß jeder, unbefehdet vom andern, seine Kräfte üben und einen schönem, freieren Genuß des Lebens sich erwerben könnte. Hiezu ward das Eigen­ tum gesichert und Arbeit, Kunst, Handel, Umgang zwischen mehreren Menschen erleichtert; es wurden Strafen für die Ver­ brecher, Belohnungen für die Vortrefflichen erfunden, auch tau­ send sittliche Gebräuche der verschiedenen Stände im öffentli­ chen und häuslichen Leben, selbst in der Religion angeordnet.“77

Humanität kommt allen Menschen zu und ist Grundlage aller Kulturen und Zivilisationen. Allerdings manifestiert 77  Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit, Dritter Teil, Fünfzehntes Buch, I.

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F. Historismus und historisches Denken

sie sich auf unterschiedliche Art und Weise. Das ist das je Besondere der verschiedenen Kulturen und Zivilisationen. Das für Herder entscheidende Merkmal von Kulturen und Zivilisationen ist ihre Individualität. Alle Kenntnisse, die wir aus der Geschichte über Kulturen und Zivilisationen gewinnen können, sind individuelle Kenntnisse über diese Kulturen und Zivilisationen. Das Stabile in diesem Wech­ selstrom der Geschichte sind die Nationen. Diese sind Or­ ganismen, die eine Lebensspanne haben, in der sie sich ent­ falten. Herder spricht vom Geist der Völker, den es in sei­ ner Besonderheit zu verstehen gilt, ohne ihn an einem äußeren Maßstab der Vernunft oder des Fortschritts zu ­ messen. Damit wird der Begriff der Vernunft als einziger Zugang zum Verstehen von Geschichte in Frage gestellt. Das Verstehen von Geschichte vollzieht sich über das Ein­ fühlen, das Nachvollziehen einer Kultur, und nicht durch einen von außen an die Geschichte herangetragenen Beur­ teilungsmaßstab. Herder interessiert sich für Sprache, Mär­ chen, Dichtungen, Schrift, Architektur, Kunst und an ihnen untersucht er das Besondere einer Kultur. Dieses Besondere gründet nicht auf einem äußeren Zweck, sondern liegt in der jeweiligen Kultur verborgen. In ihren kulturellen Ent­ äußerungen müssen wir den Geist einer Kultur aufspüren, um sie zu verstehen, um ihr Gerecht zu werden. Herder kritisiert die damals gängig auftretende Klassifizierung von Kulturen nach ihrem Entwicklungsstand. „Man ist ge­ wohnt“ so Herder, „die Nationen der Erde in Jäger, Fi­ scher, Hirten und Ackerleute abzuteilen und nach dieser Abteilung nicht nur den Rang derselben in der Kultur, son­ dern auch die Kultur selbst als eine notwendige Folge die­ ser oder jener Lebensweise zu bestimmen.“78 Herder sieht in dieser Entwicklung nicht nur Fortschritt, wenn über­ haupt, sondern auch Rückschritt: „Auch wo der Ackerbau eingeführt ist, hat es Mühe gekostet, die Menschen an einen Erdkloß zu befestigen und das Mein und 78  Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit, Zweiter Teil, Achtes Buch, III.



F. Historismus und historisches Denken83 Dein einzuführen; manche Völker kleiner kultivierter Negerkö­ nigreiche haben noch bis jetzt keine Begriffe davon, da, wie sie sagen, die Erde ein gemeines Gut ist. Jährlich teilen sie die Äcker unter sich aus und bearbeiten sie mit leichter Mühe; ist die Ern­ te eingebracht, so gehöret der Boden sich selbst wieder. Über­ haupt hat keine Lebensart in der Gesinnung der Menschen so viele Veränderungen bewirkt als der Ackerbau auf einem bezirk­ ten Stück Erde. Indem er Hantierungen und Künste, Flecken und Städte hervorbrachte und also Gesetze und Polizei befördern mußte, hat er notwendig auch jenem fürchterlichen Despotismus den Weg geöffnet, der, da er jeden auf seinem Acker zu finden wußte, zuletzt einem jeden vorschrieb, was er auf diesem Stück Erde allein tun und sein sollte Der Boden gehörte jetzt nicht mehr dem Menschen, sondern der Mensch dem Boden. Durch den Nichtgebrauch verlor sich auch bald das Gefühl der ge­ brauchten Kräfte; in Sklaverei und Feigheit versunken, ging der Unterjochte vom arbeitseligen Mangel zur weichen Üppigkeit über. Daher kommt’s, daß auf der ganzen Erde der Zeltbewohner den Bewohner der Hütte wie ein gefesseltes Lasttier, wie eine verkümmerte Abart seines Geschlechts betrachtet. Der herbste Mangel wird jenem eine Lust, solange Selbstbestimmung und Freiheit ihn würzet und lohnet; dagegen alle Leckereien Gift sind, sobald sie die Seele erschlaffen und dem sterblichen Ge­ schöpf den einzigen Genuß seines hinfälligen Lebens, Würde und Freiheit, rauben.“79

Herder verherrlicht nicht und geht jedem direkten Ver­ gleich im Sinne einer einseitigen Bewertung aus dem Weg. Er relativiert seine eigene Lebensart, indem er die andere in ihrer Andersartigkeit respektiert: „Glaube niemand, daß ich einer Lebensart, die die Vorsehung zu einem ihrer vornehmsten Mittel gebraucht hat, die Menschen zur bürgerlichen Gesellschaft zu bereiten, etwas von ihrem Wert rauben wolle; denn auch ich esse Brot der Erde. Nur lasse man auch andern Lebensarten Gerechtigkeit widerfahren, die der Beschaffenheit unsrer Erde nach ebensowohl zu Erzieherinnen der Menschheit bestimmt sind als das Leben der Ackerleute.“80  79  Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit, Zweiter Teil, Achtes Buch, III. 80  Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit, Zweiter Teil, Achtes Buch, III.

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F. Historismus und historisches Denken

Die Relativierung des Eigenen ist das Kennzeichen dieser historischen Betrachtungsweise. In ihr entsteht ein Wesens­ zug des Historismus, der sich gegen die philosophische Be­ trachtung der Weltgeschichte mit ihrem Fortschrittsdenken entgegenstellt. Doch dieses Ideal einer einfühlenden Ge­ schichtsbetrachtung verblasst schnell im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund aufstrebender Nationalstaaten. In der Machtpolitik der Nationalstaaten verliert sich zunehmend der Anspruch einer zurückhaltenden, wertfreien Betrach­ tung der Geschichte. Industrialisierung, sozialer Wandel, Verstädterung führen zu einem dramatischen Wandel, der nicht auf Europa beschränkt bleibt. Der Historismus ver­ sucht diesen Veränderungen zu begegnen, indem er metho­ disch und wissenschaftlich seinen Anspruch auf das ge­ schichtliche Denken theoretisch formuliert. Johann Gustav Droysen unterzieht sich dieser Aufgabe. Als eifriger Hörer Hegels ist er mit dessen Konzeption einer Philosophie der Geschichte und dessen Weltgeschichtskon­ zeption bestens vertraut. Auf der anderen Seite speist sich Droysens Geschichtsverständnis aus zentralen Ideen der deutschen Klassik. In Anlehnung an Herder ist er von der Einsicht in die Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Werke überzeugt. Sein Ziel ist es, die Geschichte als Wissen­ schaft zu begründen, und diese vom Positivismus abzugren­ zen. Die Wissenschaftlichkeit der Geschichte muss anders begründet werden als die Wissenschaftlichkeit der Natur­ wissenschaften. Geschichte ist nach Droysen zunächst „die Summe dessen, was im Lauf der Zeit geschehen ist.“81 Die Natur zeichnet sich durch Wiederholung und ihr inneliegen­ de Gesetze aus. „Für das individuelle Leben des Tiers, der Pflanze“, so Droysen, „haben wir kein Verständnis als das der in ihnen sich wiederholenden Perioden, das ihrer Stoff­ lichkeit, der physikalischen und chemischen Gesetze, die in ihnen zur Wirksamkeit kommen.“82 Im Gegensatz zu der 81  Droysen 82  Droysen

(1977), 6. (1977), 11.



F. Historismus und historisches Denken85

sich wiederholenden Natur zeichnet sich die Geschichte durch Erweiterung aus, in der das Frühere sich zu fort­ schreitenden Ergebnissen summiert und „jeder der durch­ lebten Gestaltungen als ein Moment der werdenden Summe erscheint. In diesem rastlosen Nacheinander, in dieser sich steigernden Kontinuität gewinnt die allgemeine Anschauung Zeit ihren diskreten Inhalt, den einer unendlichen Folgenrei­ he fortschreitenden Werdens. Die Gesamtheit der sich uns so darstellenden Erscheinungen des Werdens und Fort­ schreitens fassen wir auf als Geschichte.“83 Grundbedingung dieser offenen Entwicklungen ist die Freiheit des Menschen. Nur der Mensch ist in der Natur dadurch gekennzeichnet, dass er erst Möglichkeit ist und sich im Gegensatz zur Na­ tur erst zu dem bilden muss, was er ist bzw. sein kann. Darin liegt das sittliche Moment der Geschichte. Die vor­ nehmste Aufgabe des Menschen ist es, seine Natur zu kul­ tivieren, sich zu bilden, ein Streben nach Vollkommenheit: „Das ist es, was die Menschenwelt zur sittlichen Welt macht. Das Wesen der sittlichen Welt ist der Wille und das Wollen, das indi­ viduell, also frei wie es ist, ein stetes Streben nach dem Vollkom­ menen, ein stetes Fortschreiten sein soll und das auch unter demselben Gesetz bleibt, wenn der Wille und das Wollen dies Gesetz missachtet und verletzt. Die Bewegung dieser sittlichen Welt fassen wir also zusammen als Geschichte. Und den Erschei­ nungen gegenüber, die uns unsere empirische Wahrnehmung aus diesen Bereichen zuführt, haben wir auffassend ein anderes Ver­ hältnis als der Natur gegenüber […] Natürlich kann man, wie bemerkt, auch von Dingen, welche die dargelegte Auffassung als der Natur zugehörig bezeichnete, ihre Veränderlichkeit und die Reihenfolge ihrer Veränderungen ins Auge fassen, sie nach dem Moment der Zeit betrachten; und so wird von der Geschichte der Erde, von der Entwicklungsgeschichte etwa der Raupe, es wird von der Geschichte der Erdbeben, von Naturgeschichte gesprochen. Aber man wird sagen dürfen, das ist nur vel quasi Geschichte; Geschichte im eminenten Sinn ist nur die des sitt­ lichen Kosmos, die der Menschenwelt.“84 83  Droysen 84  Droysen

(1977), 12. (1977), 13.

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F. Historismus und historisches Denken

Droysen schließt daraus, dass die Menschenwelt durch und durch geschichtlicher Natur ist. Darin liegt ihr Unter­ schied von der natürlichen Welt. In der geschichtlichen Welt verwirklicht sich das Sittliche, welche das Rohe und Natür­ liche abstreift und den Zustand der Kultur ermöglicht. Hin­ ter dieser Vorstellung steckt bereits der Keim einer versteck­ ten Fortschrittsidee, die doch eigentlich bestritten werden soll. Droysen schwankt zwischen der Möglichkeit, Vergan­ genes aus sich heraus zu verstehen, und Zweck der histori­ schen Erkenntnis, die auf die Gegenwart bezogen ist. So konstatiert Droysen auf der einen Seite, dass „jede frühere Gegenwart bis in die fernsten Urzeiten zurück in analoger Weise durch das, was damals war und galt, getragen und bestimmt, und wir würden dem Ringen der Staufer, den Reform­ versuchen der Gracchen, dem Periklerischen Athen nicht gerecht werden, wenn wir sie nicht in der ganzen Bedingtheit ihres Tuns, in dem gewordenen Zustand, der ihre geschichtliche Arbeit er­ möglichte und hinderte, zu fassen versuchten.“85

Droysen erkennt an, dass es eine vornehme Aufgabe des Historikers ist, die vergangene Zeit in ihrer Einmaligkeit zu erfassen. Auf der anderen Seite sieht er die Aufgabe der Geschichte darin, „unsere Kenntnis von der Gegenwart nach ihrem Inhalt um das Verständnis ihres Gewordenseins zu vertiefen.“86 Im Mittelpunkt steht die Erkenntnis der sitt­ lichen Mächte, also der historischen Entwicklungen, die Geschichte zu einer menschlichen Geschichte machen. Zu diesen sittlichen Mächten zählt Droysen die natürlichen Gemeinsamkeiten (Familie, Geschlecht und Stamm, Volk), die idealen Gemeinsamkeiten (das Sprechen und Sprache, das Schöne und die Künste, das Wahre und die Wissenschaf­ ten, das Heilige und die Religionen) und die praktischen Gemeinsamkeiten (die Sphäre der Gesellschaft, die Sphäre der Wohlfahrt, die Sphäre des Rechts, die Sphäre der Macht). Diese zu erforschen, ist die eigentliche Aufgabe des Histo­ rikers. Hier zeigen sich deutlich die bürgerliche Herkunft 85  Droysen 86  Droysen

(1977), 199. (1977), 202.



F. Historismus und historisches Denken87

Droysens und die Ideale des deutschen Idealismus. Entgegen dem Pathos der Einmaligkeit historischer Entwicklungen schreibt dann auch Droysen: „Will die Historie ein Zeitalter, einen Staat, eine religiöse Ge­ meinschaft forschend verstehen, so wende sie sich vor allem da­ rauf, zu sehen, wie der Typus Familie dort ist. Wie kann es in der Vielweiberei Treue des Weibes, Ehrfurcht der Kinder geben? Wie kann es, wo der Wert des Weibes nur im Gebären der Kin­ der gesehen wird – die ganze Kraft der Gegenseitigkeit sich sittlich ausprägen? Je höher die sittliche Entwicklung, desto in­ niger wird die monogamische Ehe, desto sorgsamer die Zucht der Kinder, desto freier in Zucht und Liebe das Verhalten aller Glieder der Familie. Die altrömische Tugend hat genau so lange gedauert, als die Familie streng, einfach war. Es gilt dieselbe Probe noch in unseren Tagen.“87

Droysen entfaltet das historische Denken zwischen He­ gels Weltgeschichte und Herders Anspruch auf Individuali­ tät. Bei aller Offenheit gegenüber dem Geschehen der Ver­ gangenheit, ist der Blick auf die Geschichte auch bei Droy­ sen von bestimmten Vorstellungen über Entwicklung ge­ prägt. Diese Vorstellungen bestimmen Sichtweise und Urteil über vergangene Epochen in ihrer Bedeutung für die Gegen­ wart. Auch betont Droysen stärker als Herder, dass Ge­ schichte einen Zweck, einen Sinn habe, der über die einzel­ nen Epochen hinausgeht. Es sind die sittlichen Mächte, durch die sich Fortschritt in der Geschichte erkennen lässt. Auf der anderen Seite grenzt sich Droysen gegen die Auf­ klärung und die einseitige Betonung einer durch Vernunft zu erklärenden Geschichte ab, da sie dem Gegenstand nicht angemessen sei. Immer wieder betont Droysen, dass es das Verstehen sei – hier knüpft er an Herder an –, das das We­ sen historischer Erkenntnis ausmacht: „Unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, dass wir die Erinne­ rungen und Überlieferungen, die Überreste und Monumente ei­ ner Vergangenheit so verstehen, wie der Hörende den Sprechen­ den versteht, dass wir aus jenen uns noch vorliegenden Materia­ lien forschend zu erkennen suchen, was die so Formenden, 87  Droysen

(1977), 208.

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F. Historismus und historisches Denken

Handelnden, Arbeitenden wollten, was ihr Ich bewegte, das sie in solchen Ausdrücken und Abdrücken ihres Seins aussprechen wollten.“88

Indem Droysen das Verstehen zum Merkmal historischer Forschung erklärt, versucht er den Riss zwischen der Er­ kenntnis des Allgemeinen in der Geschichte und der Hin­ wendung zu dem Besonderen, Einmaligen zu überbücken. Unstreitbar ist für Droysen Geschichte, die Menschenge­ schichte bzw. die Geschichte der Menschen, der Ort, an den und durch den wir unsere Welt erkennen. Die sittlichen Mächte sind Mächte dieser Welt. Auch die Religion gehört in die Reihe der sittlichen Mächte und ist deshalb einer Entwicklung unterworfen. Damit ist sie selber weltlich ge­ worden, obwohl sie in ihrem Anspruch etwas anderes for­ dern kann. Droysens Historik spiegelt die Entwicklungen wieder, die im 19. Jahrhundert in Europa zu einer Deutung der Welt geführt hat, die durch und durch geschichtlich ist. Damit verwirklicht sich der Anspruch des modernen Ge­ schichtsdenkens in Europa, der dadurch gekennzeichnet ist, dass Geschichte umfassend Welt und Mensch erklärt. Dilthey wird diese Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss führen. Am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich unter dem Einfluss der auftrumpfenden Naturwissenschaften eine neue Grundsatzdebatte um die Grundlage der Wissenschaften. Für die Auseinandersetzung über eine methodologische Fundierung der Geisteswissen­ schaften spielte das Erbe Kants eine zentrale Rolle. Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert, beide aus dem Kreis der Neukantianer, versuchten in der Tradition Kants das Beson­ dere der Geisteswissenschaften innerhalb des Bewusstseins zu entdecken. Die naturwissenschaftlichen Methoden waren zwar erfolgreich, aber nicht unmittelbar auf die Geisteswis­ senschaften zu übertragen. Dennoch sollten auch Geistes­ wissenschaften rational begründet werden. Windelband und 88  Droysen

(1977), 26.



F. Historismus und historisches Denken89

Rickert bemühten sich, für die Geisteswissenschaften „eben­ so rationale Kategorien wie jene für die Naturwissenschaften zu finden und Kausalbegriffe zu formulieren, die für eine Wissenschaft des menschlichen und sozialen Verhaltens brauchbar waren.“89 Es sollten rationale Methoden für einen Gegenstand gefunden werden, der nicht rational war. So wie Weber stimmten sie der Auffassung zu, dass ein rationaler Zugang zu Geschichte und Gesellschaft möglich sei. Diltheys Versuche einer Grundlegung der Geisteswissen­ schaften muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Dabei sah sich Dilthey selber in einer Tradition zu Kant. Sein Ziel war es, in Anlehnung an Kants Kritik der reinen Vernunft, eine Kritik der historischen Vernunft zu schrei­ ben, in der die erkenntnistheoretischen Grundlagen für die Geisteswissenschaften neu formuliert werden. Dilthey ging von vornherein von der Annahme aus, dass die Geisteswis­ senschaften sich grundsätzlich von den Naturwissenschaften unterscheiden. Er beruft sich in seiner Argumentation auf die historische Schule – auf Winckelmann, Herder, Nie­ buhr –, die im Gegensatz zur Aufklärung das Besondere der Geschichtswissenschaft bereits erkannt hätten. Allerdings hätten sie ihre Einsichten nicht systematisch begründet und nicht einer Analysis der Tatsachen des Bewusstseins unter­ worfen.90 Hierin liege der Schlüssel zu einer methodischen Begründung der Geisteswissenschaften: „Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewusstseins fand ich einen festen Ankergrund für mein Den­ ken […] Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, aber alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Be­ wusstseins, innderhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer Natur. Wir bezeichnen diesen Standpunkt, der folgerecht die Unmöglichkeit einsieht, hinter diese Bedingungen zurückzuge­ hen, gleichsam ohne Auge zu sehen oder den Blick des Erken­ nens hinter das Auge selber zu richten, als den erkenntnistheo­ 89  Iggers

(1971), 176. (1962), XVI.

90  Dilthey

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retischen; die moderne Wissenschaft kann keinen anderen aner­ kennen. Nun aber zeigte sich mir, dass die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften eben von diesem Standpunkt aus eine Begründung findet, wie die historische Schule sie bedarf. Denn auf ihm erweist sich unser Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, den eine uns verborgene Wissenschaft wirft, dagegen Realität, wie sie ist, besitzen wir nur an den in der inneren Er­ fahrung gegebenen Tatsachen des Bewusstseins.“91

An den Philosophen der Aufklärung kritisiert er, dass nicht wirkliches Blut in ihren Adern rinne, „sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit“.92 Dilthey greift auf den Begriff des Lebens zurück, denn nach ihm bildet das Leben die wahre Grundlage der Geisteswis­ senschaften. In der Auseinandersetzung mit Hegel möchte er zu einem neuen Verständnis von Hegels Begriff des ob­ jektiven Geistes beitragen. Er kritisiert an Hegel, dass dieser von einem Begriff ausgegangen sei und nach diesem Begriff Wirklichkeit gedeutet habe. Gleichzeitig sei Hegel von der Annahme ausgegangen, dass Begriff und Wirklichkeit zu­ sammenfallen. Dies repräsentiere sich in dem objektiven Geist. Dies sind bei Hegel Familie, Gesellschaft und Staat, in denen und durch die sich die Geschichte der Menschheit entfaltet. An einer solchen Konstruktion könne man aber nach Dilthey nicht mehr festhalten: „Hegel hat in Einen Begriff das Ergebnis dieser ganzen Bewe­ gung zusammengefasst – in den des objektiven Geistes. Aber die Voraussetzungen, auf die Hegel diesen Begriff gestellt hat, kön­ nen heute nicht mehr festgehalten werden. Er konstruiert die Gemeinschaften aus dem allgemeinen vernünftigen Willen. Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen; im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhanges wirksam. Hegel konstruiert metaphysisch, wir analysieren das Gegebene. Und die heutige Analyse der menschlichen Existenz erfüllt uns alle mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit, der Macht des dunklen Triebes, des Leidens an den Dunkelheiten und den Illusionen, der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen. So können 91  Dilthey 92  Dilthey

(1962), XVII f. (1962), XVIII.



F. Historismus und historisches Denken91 wir den objektiven Geist nicht aus der Vernunft verstehen, son­ dern müssen auf den Strukturzusammenhang der Lebenseinhei­ ten, der sich in den Gemeinschaften forstsetzt, zurückgehen. Und wir können den objektiven Geist nicht in eine ideale Kon­ struktion einordnen, vielmehr müssen wir seine Wirklichkeit in der Geschichte zugrunde legen. Wir suchen diese zu verstehen und in adäquaten Begriffen darzustellen. Indem so der objektive Geist losgelöst wird von den einseitigen Begründungen in der allgemeinen, das Wesen des Weltgeistes aussprechenden Vernunft, losgelöst auch von der ideellen Konstruktion, wird ein neuer Begriff desselben möglich; in ihm sind Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebensogut umfasst wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht. Und nun fällt auch das, was Hegel als den absoluten Geist vom objektiven unterschied: Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff, ja gerade in ihnen zeigt sich das schaffende Individuum zugleich als Repräsentation von Gemeinsamkeit, und eben in ihren mächtigen Formen objektiviert sich der Geist und wird in denselben erkannt“93

Dilthey spricht von der menschlichen Existenz, den Strukturzusammenhängen der Lebenseinheiten, die Wirklichkeit in der Geschichte, um Hegels Ansatz der Metaphysik, der konstruierten Begriffe, die von außen an die Geschichte herangetragen werden, aufzulösen in eine neue, radikalere Form der Geschichtsdeutung, die sich dem konkreten Leben zuwendet. Wenn Dilthey von der Gebrechlichkeit des Lebens und der Macht des dunklen Triebes spricht, dann ist es die Konkretheit des Lebens und der Erfahrungen, die Men­ schen machen, die er im Auge hat. Er bestreitet, dass es im objektiven Geist eine unmittelbare Wahrheit gibt. Dies ist eine Konstruktion. Er weist Hegels Anspruch des spekula­ tiven Begriffs als Ausdruck von Wahrheit zurück, indem er Kunst und Religion mit Philosophie gleichsetzt.94 Diese re­ präsentieren zwar auch Ausdrucksformen des Geistes, aber nicht mehr im Sinne eines objektiven Geistes, der spekulativ erkannt werden kann, sondern als Ausdrucksformen des Lebens in seiner Geschichtlichkeit. An die Stelle des objek­ 93  Diltey

(1973), 150 f. (1986), 233.

94  Gadamer

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tiven Geistes tritt das geschichtliche Bewusstsein, das sich in diese Ausdrucksformen vertieft. Das geschichtliche Be­ wusstsein eignet sich diese Objektivationen des Geistes an, versteht sie und übersetzt sie zurück in die geistige Leben­ digkeit, aus der sie hervorgegangen sind.95 Dabei lehnt er einen einseitigen Fortschrittsbegriff ab, so wie ihn Hegel formuliert hatte. Losgelöst von den Konstruktionen einer Vernunft, die den Weltgeist erkennt, wendet sich das ge­ schichtliche Bewusstsein jeder Art von Lebensform und von Stil des Lebens zu. Damit bestreitet Dilthey Hegels An­ spruch einer fortschrittlichen Entwicklung in der Geschich­ te und einer generellen Messbarkeit und Zuordnung von Entwicklungsstadien. Das geschichtliche Bewusstsein öffnet sich allen Möglichkeiten des Lebens, die sich in der Ge­ schichte realisieren. Und dennoch hält Dilthey an der Idee einer Objektivierung des Geistes, in denen sich das schaffen­ de Individuum erkennt, fest. Er versucht letztendlich, Kants Grundansatz, Hegels Anspruch und die Idee einer durch und durch geschichtlichen Welt miteinander zu verbinden. Sein Ziel ist es, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildete historische Forschung erkenntnistheoretisch als die neue Sichtweise des Menschen auf das Leben zu etablieren. „Das historische Bewusstsein“, so deutet Gadamer Dilthey, „brei­ tet sich ins Universelle aus, sofern es alle Gegebenheiten der Geschichte als Äußerung des Lebens versteht, dem sie entstammen“.96 Das historische Bewusstsein vertieft sich in die gesamte Überlieferung und begegnet sich in ihr. Damit wird Geschichte zu dem Fundament menschlichen Lebens und der gesamten menschlichen Kultur. Alle Formen, ob Wissenschaften, Religion, Kunst, Philosophie, sind Ausdruck des menschlichen Geistes. Er entäußert sich im Leben und in dieses, in die Formen, in die es sich entäußert, muss er zurücktauchen, um es verstehend wieder aufzunehmen. In der Geschichte, in den Ausdrucksformen, in denen sich Ge­ schichte in der Überlieferung manifestiert, erkennt sich der 95  Gadamer 96  Gadamer

(1986), 233. (1986), 233.



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Mensch als durch und durch geschichtliches Wesen wieder. Die Geschichtlichkeit des Menschen ist die Voraussetzung dafür, dass wir Geschichte erkennen können. Dilthey warnt aber davor, sich in der geschichtlichen Singularität zu verlie­ ren. Im Gegensatz zu Droysen betont er stärker die objek­ tive Seite der Geschichte. Dieses Paradox, dass wir auf der einen Seite Geschichte nur verstehen und erleben, nicht aber wirklich erklären können, und der Anspruch, dass dies nur im Studium der objektiven Entäußerungen des menschlichen Geistes gelingt, kann Dilthey nicht wirklich auflösen. Immer wieder betont er, dass Geschichte nur durch Verstehen und Erleben möglich sei. Dennoch hält er an dem Anspruch ei­ nes universalhistorischen Wissens, wie er in Hegels Philoso­ phie der Geschichte gestellt wird, fest: „So tut sich uns im Erleben und Verstehen vermittels der Objek­ tivation des Lebens die geistige Welt auf. Und diese Welt des Geistes, die historische wie die gesellschaftliche Welt, ihrem Wesen nach als Objekt der Geisteswissenschaften näher zu be­ stimmen, muss nun die Aufgabe sein. Fassen wir zunächst die Ergebnisse der vorhergehenden Untersuchungen in bezug auf den Zusammenhang der Geisteswissenschaften zusammen. Die­ ser Zusammenhang beruht auf dem Verhältnis von Erleben und Verstehen, und in diesem ergeben sich drei Hauptsätze. Die Er­ weiterung unseres Wissens über das im Erleben Gegebene voll­ zieht sich durch die Objektivation des Lebens, und diese Ausle­ gung ist ihrerseits nur möglich von der subjektiven Tiefe des Erlebens aus. Ebenso ist das Verstehen des Singularen nur mög­ lich durch die Präsenz des generellen Wissens in ihm, und dies generelle Wissen hat wieder im Verstehen seine Voraussetzung. Endlich erreicht das Verstehen eines Teils des geschichtlichen Verlaufs seine Vollkommenheit nur durch die Beziehung des Teiles zum Ganzen, und der universal-historische Überblick über das Ganze setzt das Verstehen der Teile voraus, die in ihm ver­ einigt sind.“97

Somit ist fraglich, worin das methodisch Besondere der Geisteswissenschaften letztendlich liegt. In der Tradition Droyens und des Historismus liegt es in dem Gegenstand der Erkenntnis und dem dadurch bedingten unterschied­ 97  Dilthey

(1973), 152.

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F. Historismus und historisches Denken

lichen Zugang zu diesem Gegenstand. Geschichte, die Handlungen, die sich aus den grundsätzlichen Möglichkeiten des Menschen aufgrund seiner Freiheit ergeben, kann nicht die gleiche Kausalität beanspruchen wie der Gegenstand Natur. Die Freiheit des Menschen hebt den Kausalitätsge­ danken, der den Naturwissenschaften aufgrund ihres Gegen­ standes als selbstverständlich erscheint, zumindest partiell auf. Deshalb muss die Frage auftauchen, was denn der Ge­ genstand der Geisteswissenschaften ist, um nicht einem haltlosen Relativismus zu verfallen. Während bei Hegel der Gegenstand durch den objektiven Geist bestimmt ist, ringt Dilthey und der Historismus mit der Frage, welche Aus­ drucksformen den Gegenstand Geschichte konstituieren. Alles ist Geschichte – diese radikale Schlussfolgerung Diltheys kann nicht das letzte Wort sein. Wodurch sollten wir sonst unterscheiden, mit welchen Ausdrucksformen des menschlichen Geistes wir uns befassen sollten? Andererseits wird durch die Betonung des Lebens, des konkreten Lebens, der Gegenstand selber unbestimmt. Wenn der Gegenstand und damit die Ausdrucksformen des menschlichen Geistes durch und durch geschichtlich sind, dann gilt dies gleicher­ maßen für den Gedanken, der dies zum Ausdruck bringt. Dieses Dilemma kann vom Historismus nicht gelöst werden. Und genau deshalb versucht Dilthey immer wieder, eine Antwort auf dieses Problem zu geben. Der Ansatz, in An­ lehnung an Kant, dies vom Bewusstsein des Menschen her zu bestimmen, schien eine mögliche Antwort auf dieses Grundproblem zuzulassen. Die Besonderheit aller geschicht­ lichen Ausdrucksformen, Ausdruck des menschlichen Geis­ tes zu sein, führte zu der Annahme, dass nur das vom Be­ wusstsein verstanden und nacherlebt werden kann, was von ihm hervorgebracht worden ist. Damit war die Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften gelungen. In der er­ kenntnistheoretischen Begründung einer historischen Ver­ nunft aber fällt Dilthey am Ende in die Aporien des Histo­ rismus zurück. Einerseits ist das, was das menschliche Be­ wusstsein hervorbringt, subjektiv, andererseits münden die Folgen, wenn sie historisch wirksam und in der Überliefe­



F. Historismus und historisches Denken95

rung zur Geltung kommen sollen, in objektive Formen. Und nur in diesem ist historische Erkenntnis möglich. Am Ende fragt sich, wie Dilthey in dieser Intensität über die erkenntnistheoretischen Fragen einer Neubegründung der Geisteswissenschaften nachdenken konnte, ohne konkret Bezug zu nehmen auf die realen, durch die Industrialisie­ rung hervorgebrachten Veränderungen. Diltheys Untersu­ chungen und historischen Studien bewegen sich im Rahmen der klassischen Bildungsidee des deutschen Idealismus, aber zu einem Zeitpunkt, als Industrialisierung und Erster Welt­ krieg reale soziale Erfahrungen einer modernen Welt waren. Dilthey bietet, trotz seiner scheinbaren Nicht-Modernität und seinem Versuch, über einen Methodenbegriff, der sich an dem der Naturwissenschaften orientiert, nämlich sicheres und gesichertes Wissen über den Menschen und seine ge­ schichtliche Welt hervorzubringen, einen Einblick in das moderne Geschichtsdenken in Europa. Indem Dilthey die Geisteswissenschaft mit einer Kritik der historischen Vernunft neu begründen will, stellt er die Geschichte und das historische Denken in den Mittelpunkt von Welterklärung und Weltdeutung, wenn es um das Verstehen von Kulturen, Zivilisationen und Nationen geht. Alles, was der Mensch hervorgebracht hat, entzieht sich den Erklärungsversuchen der Naturwissenschaften und muss eigenständig und anders begründet werden. Der Versuch, eine Kritik der historischen Vernunft zu konzipieren, formuliert den Anspruch, dass die Geschichte Maßstab aller anderen Erklärungsweisen ist, die Mensch und Welt verstehen wollen. In letzter Konsequenz muss dies zu dem Anspruch führen, dass Kunst, Religion, Philosophie, Recht, Staatswissenschaft als Wissenschaft nur angemessenen sind, wenn sie sich ihrer geschichtlichen ­Fundierung bewusst sind. Dies ist eine Absage aus die aus der Aufklärung stammenden Vernunftprinzipien, die ohne Rückgriff auf Geschichte Sinn und Bedeutung haben. Es ist deshalb kein Zufall, dass Dilthey in Anlehnung an Kant seine Kritik der historischen Vernunft formuliert hat. Kants Imperativ einer Moralphilosophie, die unabhängig der Er­

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F. Historismus und historisches Denken

fahrung das Sittengesetz begründet, musste auf Diltheys Widerstand stoßen. Gleiches gilt für Hegels Konzept des objektiven Geistes. Wenn alles Menschliche geschichtlich ist, kann es keine außergeschichtliche, sichere Erkenntnis geben. Wahrheit ist selber der Geschichte unterworfen und muss aus ihr verstanden werden. Dieses Verstehen ist aber, anders als bei Hegel, nicht mit einer Vernunft an die Geschichte heranzutragen, sondern ist selber Ausfluss von Geschichte. Das, was vernünftig ist, kann nur die konkrete Geschichte hervorbringen und nur ihr konkretes Studium kann erwei­ sen, was vernünftig ist. Eine solche Sichtweise setzt sich der Kritik des Relativismus aus. Diesen wunden Punkt versuch­ te Dilthey zu beheben. Dabei verliert er sich in Aporien, die er letztendlich nicht lösen kann. Eine Offenheit gegenüber allen geschichtlichen Entwicklungen kann niemals zu einer abschließenden Erkenntnis darüber kommen, was die wirk­ lich historisch wirksamen Kräfte sind, die eine vernünftige Gesellschaft begründen. Das Fundament einer jeden Gesell­ schaft ist ihre Geschichtlichkeit. Eine solche Sichtweise wi­ derspricht den Forderungen einer wissenschaftlichen Er­ kenntnis, die sicheres Wissen hervorbringen soll. Das neue Fundament der Geisteswissenschaften, das Verstehen und Erleben dessen, was das menschliche Bewusstsein im Laufe seiner Geschichte hervorgebracht hat, verliert sich in den Aporien seiner Grundlegung. Doch diese erkenntnistheore­ tische Schwäche konnte der Historisierung des Lebens kei­ nen Abbruch tun. Am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich das moderne historische Denken etabliert. In den unter­ schiedlichen Schattierungen wirkte es in alle Bereiche wis­ Jahrhundert senschaftlichen Denkens. So wie es im 15.  möglich war, nicht umfassend historisch zu denken und die eigene Gegenwart in Bezug auf Religion und Theologie zu verstehen, war es nun kaum noch möglich, ohne Verweis auf Geschichte Gegenwart zu deuten. Das moderne historische Denken war Ausdruck einer Gesellschaft, die ihre Normen, Werte, Herkunft auf Geschichte gründete. Besonders der Nationalstaatsgedanke in Europa, der sich realhistorisch im 19. Jahrhundert durchgesetzt hatte, hatte das historische



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Denken gestärkt. Nationen und die dazu gehörige Kultur galt es aus der je eigenen Geschichte zu verstehen. Damit fehlte ein übergreifendes Denken, das die verschiedenen Geschichten überbrückte. Die Welt war zu einer Welt der Geschichte geworden. Dilthey hatte diesen Ansatz radikaler als andere formuliert. Sein Scheitern, die methodische Be­ gründung der Geisteswissenschaften überzeugend zu formu­ lieren, hatte wenig Einfluss auf die Entwicklung, die er sel­ ber vielleicht besser verstand als andere: das alles Menschli­ che geschichtlich ist. In den Ideologien des 20. Jahrhunderts wurde dieser Anspruch radikal erhoben.

G. Welt als Geschichte – Ideologien In einer kürzeren Abhandlung Mensch und Geschichte im Jahr 1960 fasst Karl Löwith das moderne europäische Ge­ schichtsdenken folgendermaßen zusammen: „Das seit Hegel und Marx und dann durch Dilthey und Heideg­ ger zur Herrschaft gekommene Vorurteil in der Beurteilung des Menschen setzt Mensch und Geschichte einander ebenbürtig. Während es von Aristoteles bis ins 18. Jahrhundert als festste­ hend galt, dass sich der Mensch vom Tier durch Sprache und Vernunft unterscheidet, wird nun behauptet, dass die Vernunft eine historisch bedingte Vernunft der Aufklärung oder gar der ‚Widersacher des Denkens‘ sei und dass sich der Mensch vor allen anderen Lebewesen dadurch auszeichnet, dass er – mitsamt seiner historisch wandelbaren Vernunft – ‚geschichtlich‘ existiere. Der Mensch, so wird uns versichert, habe nicht nur eine ihm angehörige Geschichte, sondern er sei geradezu eine geschichtli­ che Existenz und nur deshalb könne ihn auch die Geschichte der Welt etwas angehen.“98

Löwith kritisiert diese Entwicklung und konstatiert damit gleichzeitig den Befund, dass sich das moderne europäische Denken seit dem 18. Jahrhundert im Sinne eines Geschichts­ denkens, eines Denkens, das alle menschlichen Schöpfungen historisch versteht, durchgesetzt hat. Im 20. Jahrhundert haben besonders die beiden großen Ideologien, der Faschis­ mus und der Marxismus, ihre Kraft und Legitimation aus diesem Denken begründet. Beide gehen in unterschiedlicher Weise davon aus, dass aus der Geschichte abgeleitet werden kann, warum Gegenwart und Zukunft in einer bestimmten Weise verläuft bzw. verlaufen wird bzw. verlaufen sollte. Der Faschismus gründet seine Legitimation in der Idee des Kampfes der Rassen, der Marxismus in seiner Deutung der Weltgeschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen, die 98  Löwith

(1960), 352 f.



G. Welt als Geschichte – Ideologien99

mit der Überwindung des Kapitalismus ihr notwendiges Ende finden wird. Im Gegensatz zum Marxismus ist der Faschismus nicht an ein besonderes Werk oder an einen Autor geknüpft. Er ist ein Sammelsurium unterschiedlicher Schriften und Gedan­ ken, die nicht in gleicher Weise systematisiert (worden) sind wie die Gedanken des Marxismus. Der Faschismus zeichnet sich eher durch bestimmte Schlüsselbegriffe aus, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftauchen und dann in den politischen Strömungen des Faschismus zu einer mehr oder weniger einheitlichen Ideologie zusammengesetzt wur­ den. Ausgangspunkt aller faschistischen Ideologien ist der Gedanke der Reinheit der Rassengemeinschaft.99 Dieser Gedanke der Rassengemeinschaft entwickelt sich im 19. Jahr­ hundert. Er wurde hervorgerufen durch eine Tradition des christlichen Antijudaismus, der sich durch die politische Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert in einen rassis­ tischen Antisemitismus wandelte. In Anlehnung an Darwins Theorie einer biologischen Evolution entwickelten der Fran­ zose Joseph Arthur Graf von Gobineau und der Engländer Houston Stuart Chamberlain eine Theorie der Geschichte auf biologisch-rassistischer Grundlage. Bereits 1850 hatte sich Richard Wagner in seiner Schrift Das Judentum in der Musik, das 1869 neu verlegt worden ist, abfällig über das Judentum geäußert. Ausgangspunkt Richard Wagners ist die Behauptung, „die unbewusste Emp­ findung, die sich im Volke als innerlichste Abneigung gegen jüdisches Wesen kundgibt, zu erklären“ und er fährt an an­ derer Stelle fort: „[…] wir haben uns das unwillkürlich Abstoßende, welches die Persönlichkeit und das Wesen der Juden für uns hat, zu erklären, um diese instinktmäßige Abneigung zu rechtfertigen, von wel­ cher wir doch deutlich erkennen, daß sie stärker und überwie­ gender ist, als unser bewußter Eifer, dieser Abneigung uns zu entledigen.“100 99  Friedländer 100  Wagner

(2006), 19. (1850) 2 f.

100

G. Welt als Geschichte – Ideologien

Wagner spricht von der „Verjüdung der modernen Kunst“ und davon, dass diese Nationalität „etwas unangenehm Fremdartiges hat und davon, dass „wir wünschen unwill­ kürlich mit einem so aussehenden Menschen Nichts gemein zu haben.“101 Der Jude, so Wagner, „spricht die Sprache der Nation, unter welcher er von Geschlecht zu Geschlecht lebt, aber er spricht sie immer als Ausländer.“102 Am Ende seiner Schrift stellt sich Wagner die Frage: „Ob der Verfall unserer Kultur durch eine gewaltsame Auswer­ fung des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könne, vermag ich nicht zu beurteilen, weil hierzu Kräfte gehö­ ren müssten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist.“103

Indem Wagner die künstlerische Auseinandersetzung auf dem Boden einer rassistischen Auseinandersetzung führt, bringt er die Grundgedanken des aufkommenden Antisemi­ tismus seiner Zeit zum Ausdruck. Das Judentum wird als rassisch anders, als weniger kreativ, nicht gebunden an die rassische Zugehörigkeit des Staatsvolkes gesehen. In diesem Sinn hatte Gobineau in den 1850er Jahren sein Werk Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen veröffent­ licht. Er deutet die Geschichte als einen Kampf der Rassen. Die Geschichte der Völker und Nationen beruht nach ihm auf den Faktoren des Rassenkampfes und der Rassenmi­ schung. Er formuliert die These von der Verderbnis der Volksrassen durch Vermischung und propagiert die Überle­ genheit der weißen Rasse. 1899 veröffentlichte Chamberlain Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Dort schreibt er in seinem Vorwort, dass „so lange es noch echte Germanen auf der Welt gibt, so lange können und wollen wir hoffen und glauben. Dies ist die Grundüberzeugung, aus der das vorliegende Werk hervorgegangen ist.“104 Cham­ berlain geht davon aus, dass nur die Völker, die sich zum Christentum bekannt haben, auch eine Geschichte haben. 101  Wagner

(1850), 5. (1850), 6. 103  Wagner (1850), 41. 104  Chamberlain (1912), XIII. 102  Wagner



G. Welt als Geschichte – Ideologien101

Alle anderen Völker, ob Chinesen, Inder, Türken haben keine wahre Geschichte.105 Gipfel der historischen Entwick­ lung im 19. Jahrhundert sind die Germanen, denn sie sind schöpferisch und kulturschaffend. Die Juden dagegen gilt es „als ein besonderes und zwar als ein fremdes Element in unserer Mitte zu erkennen.“106 Hier tauchen die Elemente eines rassistischen Antisemitismus auf, der in Verbindung mit der biologischen Evolutionstheorie Darwins gebracht wurde. Die biologische Idee der Evolution wird auf die Entwicklung menschlicher Rassen übertragen und die Ge­ schichte als Kampf zwischen minderwertigen und höher­ wertigen Rassen gedeutet. Der Faschismus nimmt dieses Element auf und formuliert eine Geschichtsdeutung, in der die gesamte Geschichte in einer pseudowissenschaftlichen und pseudobiologischen Deutung als Kampf für die Rein­ heit der Rasse, den Krieg, die Gemeinschaft gedeutet wird. Ideen wie Demokratie, Gleichheit, Gerechtigkeit werden als Schwäche eines liberalen Denkens angesehen, die Staat und Reinheit der Rasse untergraben. Mussolini begründet vor allem die Notwendigkeit, alles dem (faschistischen) Staat unterzuordnen: „Der Faschismus fordert den tätigen, mit allen Willenskräften sich einsetzenden Menschen, der bereit ist, allen Schwierigkeiten männlich entgegenzutreten und sich ihnen zu stellen. Ihm ist das Leben ein Kampf […] Das gilt für das Individuum, das gilt für die Nation, das gilt für die Menschheit […] Als antiindividualis­ tische Idee tritt der Faschismus für den Staat ein […] Der Fa­ schismus bejaht den Staat als die einzig wahre Realität des Indi­ viduums […] Der Faschismus glaubt weder an die Möglichkeit noch an die Nützlichkeit des ewigen Friedens […] Der Krieg allein bringt alle menschlichen Energien zur höchsten Anspan­ nung und verleiht den Völkern die Würde des Adels […] Der Faschismus behauptet die unabänderliche, fruchtsame und heilsa­ me Ungleichheit der Menschen, die nicht auf dem mechanischen und äußerlichem Wege wie bei dem allgemeinen Stimmrecht auf das gleiche Niveau gebracht werden können […] Der Faschismus 105  Chamberlain 106  Chamberlain

(1912), 42. (1912), 329.

102

G. Welt als Geschichte – Ideologien

lehnt in der Demokratie die absurde konventionelle Lüge von der politischen Gleichheit und kollektiven Verantwortungslosig­ keit […] ab.“107

Mussolini bereitet den Weg für eine Radikalisierung des Faschismus, den in seiner extremsten Form Hitler formulie­ ren wird. Hitler ist davon überzeugt, dass es Herrenrassen und Kriegerrassen als höchster Verkörperung rassischer Kraft gibt. Es seien die nordischen Völker, die diese Stufe erreicht haben. In einer ideologischen Schrift zur Weltan­ schauung der NSDAP heißt es, dass sie zum Schwerte grei­ fen, „wenn man sie ihrer Freiheit berauben will oder andere, insbesondere niedere Rassen, ihrem Nachwuchs einen Le­ bensraum streitig machen wollen“.108 Der Staat hat nach Hitler nur die Aufgabe und den Zweck, die Erhaltung des rassischen Daseins des Menschens durchzusetzen: „Sie glaubt somit keineswegs an eine Gleichheit der Rassen, sondern erkennt mit ihrer Verschiedenheit auch ihren höheren oder minderen Wert und fühlt sich durch diese Erkenntnis ver­ pflichtet, gemäß dem ewigen Wollen, das dieses Universum be­ herrscht, den Sieg des Besseren, Stärkeren zu fördern, die Unter­ ordnung des Schlechteren und Schwächeren zu verlangen.“109

Der Jude verkörpert nach Hitler den Antipoden zum Arier. So wie Wagner spricht er den Juden eine eigene Kul­ tur ab, da er von sich aus nicht in der Lage sei, kulturschöp­ ferisch zu handeln: „[Der Jude] ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazilus sich immer mehr ausbreitet, so­ wie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab […] Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubens­ bekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser 107  Mussoloni, Benito, Der Geist des Faschismus, zitiert nach Borth / Schanbacher (2002), 319 f. 108  Zitiert nach Pfändtner / Schell (1994), 126. 109  Hitler, Mein Kampf, zitiert nach Borth / Schanbacher (2002), 320.



G. Welt als Geschichte – Ideologien103 Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen. Die ewige Natur rächt unerbitterlich die Übertretung ihrer Gebote.“110

Der Faschismus zielte in seiner Kritik auf den modernen liberalen Gesetzesstaat. Gewaltenteilung, Gerechtigkeit, Friede waren Begriffe, die Dekadenz und Zerfall ausdrück­ ten. In seinem extremen Antisemitismus war der deutsche Faschismus die extreme Begründung und dann Durchset­ zung der faschistischen Ideologie. Der Antisemitismus war kein Nebenprodukt des Faschismus, sondern Kern seiner rassistischen Ideologie. Die Umsetzung dieser Ideologie hatte das Ziel, den jeweiligen Staat in seiner Gesamtheit den Stempel dieser Ideologie aufzudrücken.111 Im Kern deckte der Faschismus, die Ideologie des Faschismus, Schwächen und Grenzen der historischen Betrachtungsweise auf. Das Dilemma des Historismus, alle menschlichen Schöpfungen als historische zu deuten, fiel beim Faschismus auf fruchtba­ ren Boden. Die Unentschiedenheit gegenüber den unter­ schiedlichen politischen Strömungen und Ideologien, die auch in der Ablehnung eines an der Aufklärung orientierten Vernunftdenkens lag, ermöglichte eine Haltung und Offen­ heit gegenüber dem Faschismus, die auch durch den Histo­ rismus ermöglicht wurde. Wenn alles geschichtlich ist, wenn es keine Werte gibt, die nicht durch die Geschichte begrün­ det werden können, dann muss auch solchen Ideologien historisch eine Chance zugebilligt werden, sich in der kon­ kreten Politik und in der Geschichte nach vorne zu bewei­ sen. Im Jahr 1933 brachte Martin Heidegger, der 1927 sein Werk Sein und Zeit veröffentlicht hatte, in seiner Rede Die Selbstbehauptung der deutschen Universität als Rektor der Universität Freiburg diese Haltung zum Ausdruck: „Die Übernahme des Rektorats ist die Verpflichtung zur geisti­ gen Führung dieser hohen Schule. Die Gefolgschaft der Lehrer und Schüler erwacht und erstarkt allein aus der wahrhaften und 110  Hitler,

321.

Mein Kampf, zitiert nach Borth / Schanbacher (2002),

111  Longerich

(1998), 22.

104

G. Welt als Geschichte – Ideologien

gemeinsamen Verwurzelung im Wesen der deutschen Universität. Dieses Wesen aber kommt erst zu Klarheit, Rang und Macht, wenn zuvörderst und jederzeit die Führer selbst Geführte sind – geführt von der Unerbittlichkeit jenes geistigen Auftrags, der das Schicksal des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Ge­ schichte zwingt. Wissen wir um diesen geistigen Auftrag? Ob ja oder nein, unabwendbar bleibt die Frage: sind wir, Lehrerschaft und Schülerschaft dieser hohen Schule, in das Wesen der deut­ schen Universität wahrhaft und gemeinsam verwurzelt? […] Die Selbstbehauptung der deutschen Universität ist der ursprüngli­ che, gemeinsame Wille zu ihrem Wesen. Die deutsche Universität gilt uns als die hohe Schule, die aus Wissenschaft und durch Wissenschaft die Führer und Hüter des Schicksals des deutschen Volkes in die Erziehung und Zucht nimmt. Der Wille zum We­ sen der deutschen Universität ist der Wille zur Wissenschaft als Wille zum geschichtlichen geistigen Auftrag des deutschen Vol­ kes als eines in seinem Staat selbst wissenden Volkes.“112

Das Aufgehen in der Geschichte, der geschichtliche geis­ tige Auftrag des deutschen Volkes – am Beginn der national­ sozialistischen Herrschaft fällt die Begründung für den neuen Geist in die Geschichte. Der Historismus wird in letzter Konsequenz die ideologische Grundlage der natio­ nalsozialistischen Politik. Heidegger hatte bereits in Sein und Zeit versucht darzulegen, dass das Sein selber Zeit ist. Dass das Sein überhaupt da ist, Dasein, kann als Paradox formuliert werden, wenn man nicht auf eine theologische Argumentation zurückgreifen will. Dieses Dasein manifes­ tiert die Differenz von Seiendem und Sein und ist Grundbe­ dingung für die Frage nach dem Sein. Heidegger spricht von der „Geschichtlichkeit des Daseins“ als Voraussetzung dafür, dass das „Seiende, das als In-der-Welt-sein existiert.“113 „Geschichtlichkeit des Daseins ist wesenhaft Geschichtlich­ keit der Welt“, so Heidegger.114 Heidegger versucht, den vulgären Zeitbegriff, der immer schon auf das Geschichtliche als Geschichte gerichtet ist, durch die grundsätzlichere Frage zu vertiefen: „inwiefern und auf Grund welcher ontologi­ 112  Heidegger

(1990), 9 f. (1993), 388. 114  Heidegger (1993), 388. 113  Heidegger



G. Welt als Geschichte – Ideologien105

schen Bedingungen gehört zur Subjektivität des ‚geschichtli­ chen‘ Subjekts die Geschichtlichkeit als Wesensverfassung?“115 Damit wird Geschichte, Geschichtlichkeit zur existenziellen Grundbedingung des Seins, aus der das Dasein hervorgeht. Bevor wir uns der Tatsache, dass es Zeit und Geschichte gibt, bewusst werden, ist die Geschichtlichkeit als Bedin­ gung des In-der-Welt-Seins bereits da. Mit dieser Argumen­ tation wird der historistische Ansatz nochmals radikalisiert. Denn was das aus der Vergangenheit auf uns Zukommende ist und was in unseren Blickpunkt gerät und welche Ant­ worten wir darauf geben, unterliegt stärker dem Zeit-Geist als einer einzig wirklichen Antwort, die aus der Geschicht­ lichkeit der Seins kommt, wie es der Faschismus suggeriert hat und wie es in Heideggers Rektoratsrede anklingt. Der Historismus ist aufgrund seines historischen Relativismus tendenziell für jede Ideologie offen – zumindest so lange, bis die historische Erfahrung gezeigt hat, wozu eine solche Ideologie führen kann. Die Ideologie des Faschismus ist neben dem Marxismus die extremste Position eines Historismus, der die Geschich­ te zum alleinigen Maßstab der Beurteilung von Politik, Gesellschaft, Herrschaft, Moral macht. Die sittlichen Mäch­ te, von denen noch Droysen sprach, werden abgestreift, um andere Mächte an ihre Stelle zu setzen. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Faschismus ausgerechnet dort Erfolg hatte, wo der Historismus seine tiefste Ausprägung hatte. In einer Welt der Geschichte relativieren sich in letzter Konsequenz alle Werte. Diese müssen sich im Zuge ihrer historischen Realisierung beweisen. Es gibt keinen Maßstab, der von vornherein Distanz und einen klaren Blick ermöglicht, da die noch nicht gewesene Geschichte erst ihre Rechtmäßig­ keit als Möglichkeit einer Realisierung erwerben muss. Dies war in den 1930er Jahren auch ein Argument der Kritiker des Nationalsozialismus. Solange der Faschismus seine Ideo­ logie nicht habe umsetzen können, solange könne man kein Urteil bzw. kein abschließendes Urteil über diese Ideologie 115  Heidegger

(1993), 382.

106

G. Welt als Geschichte – Ideologien

fällen. Nach dieser Argumentation brauchen wir immer erst die historische Erfahrung, bevor wir uns ein angemessenes Urteil über eine politische Ideologie bilden können. Der Faschismus bzw. die faschistische Ideologie ist in diesem Sinn neben dem Marxismus die extremste Form historischen Denkens, in der alle Entwicklungen auf immanente Tenden­ zen der bzw. aus der Geschichte zurückgeführt werden. Der Rassismus, der seinen Ursprung in der Lehre der Rassen hat, ist in letzter Konsequenz eine historische Argumenta­ tion. Der pseudowissenschaftliche Biologismus ist eine im­ manente Entwicklung, der sich historisch in der Bewusst­ werdung der Rassen äußert. Diese Bewusstwerdung ist nicht an universelle Normen und Werte gebunden, sondern auf die willentlich politisch herbeigeführte Entscheidung, in der Politik das umzusetzen, was als immanente Tendenz in ihrer Naturgeschichte angelegt ist. Diese Naturgeschichte bzw. die Auslegung und Deutung dieser Naturgeschichte unter­ liegt wiederum der geschichtlichen Einordnung, der ge­ schichtlichen Deutung der jeweiligen Gegenwart und ihrer Selbsterkenntnis, die auf die Geschichte projiziert wird. Historismus und Faschismus sind Teil einer modernen Ar­ gumentation, die die umfassendste Deutung von Welt und Mensch auf Geschichte gründet. Damit wird nicht gesagt, dass der Historismus bzw. die Vertreter des Historismus, die Inhalte der faschistischen Ideologie geteilt hätten. Im Ge­ genteil: ihre Hauptvertreter waren tief in der deutsche Klas­ sik verankert und dem klassischen Bildungsideal verpflichtet. Aber durch ihre Historisierung als dem Fundament von Kultur und Zivilisation eröffneten sie dieser Ideologie einen Raum, in dem sie sich entfalten konnte. Die Welt als Ge­ schichte findet im Faschismus die eine Form seiner radikalen Deutung. Die andere findet sich in der Umsetzung des Mar­ xismus im 20. Jahrhundert. Im Juli 1951 notiert Hannah Arendt in ihrem Tagebuch, dass bei Marx „die totalitären Elemente“ dadurch begründet seien, dass Politik durch Geschichte ersetzt worden sei.116 116  Arendt

(2002), Heft V, 2, 102.



G. Welt als Geschichte – Ideologien107

Hannah Arendt möchte Politik vor dem allumfassenden Zugriff der Geschichte retten und der Politik ihre Würde als öffentlichen Gebrauch der Vernunft zurückgeben. Marx hatte die gesamte Geschichte, die Naturgeschichte und die Menschheitsgeschichte zusammen als Gesamtgeschichte un­ bewusster und bewusster Organismen gedeutet, die zusam­ mengehören und im Rahmen einer materiellen Deutung aller bisherigen Natur- und Menschheitsgeschichte in einer Welt­ geschichte zusammengefasst. Die Naturgeschichte ist die Voraussetzung der Menschheitsgeschichte und diese fußt deshalb in den natürlichen Voraussetzungen der Produktion und Reproduktion der eigenen Gattung. Die ganze bisherige Weltgeschichte ist nach Marx nichts anderes als die Erzeu­ gung des Menschen durch die menschliche Arbeit und die Natur ist die notwendige Vorbedingung für diese Erzeu­ gung.117 Geschichte kann nur als materialistische Deutung der Geschichte verstanden werden. Die wissenschaftliche Erkenntnis der materiellen Produktionsbedingungen führt zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis aller anderen Phäno­ mene wie Politik, Recht, Gesellschaft, Moral. In der Kritik der politischen Ökonomie schreibt Marx: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängi­ ge Verhältnisse ein, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaft­ liche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaft­ liches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produk­ tionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich 117  Jung / Staehr

(1983), 125.

108

G. Welt als Geschichte – Ideologien

bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktiv­ kräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Verände­ rung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze unge­ heure Überbau langsamer oder rascher um. […] In großen Um­ rissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervor­ wachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zu­ gleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonis­ mus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorge­ schichte der menschlichen Gesellschaft ab“118

Diese umfassende, materialistische Deutung der gesamten Geschichte findet durch die Russische Revolution 1917 Ein­ gang in die politische Realität. Noch vor der Etablierung der ersten faschistischen Macht in Europa in Italien im Jahr 1922 entsteht und etabliert sich in Russland die erste große politische Ideologie des 20. Jahrhunderts. Auf der Grundla­ ge der Schriften von Marx und Engels entwickelt Lenin die Ausweitung der Marxschen Lehre auf die Praxis der Revo­ lution und ihre Folgen weiter. In ähnlicher Weise, aber mit ganz anderen Schlussfolgerungen, wird dies später Mao Ze­ dong in China tun. Ähnlich wie der Faschismus gründet eine Annahme des Marxismus darauf, dass das Zukünftige aus dem Wissen um die Vergangenheit richtig gedeutet wer­ den kann. Karl Löwith formuliert dies als einen Grundzug der Marxschen Lehre, die dann Lenin übernommen und weiterentwickelt hat: „Im Unterschied zu den bürgerlichen Propheten der Zeitenwen­ de spricht Marx von der bisherigen Geschichte und den bisheri­ gen Menschen, aber nicht nur aus einem unbestimmten Vorgefühl des Kommenden und Künftigen, sondern er glaubt das Kom­ mende und Künftige genau zu wissen und den neuen Menschen 118  Marx

(2008), 490 f.



G. Welt als Geschichte – Ideologien109 einer ganz neuen Gesellschaft durch eine radikale Kritik des Bestehenden und eine revolutionäre Aktion herstellen zu kön­ nen. Der Kommunist der klassenlosen Gesellschaft ist dieser ‚neue Mensch‘ einer neuen geschichtlichen Welt im Verhältnis zu der alle bisherige Geschichte eine bloße ‚Vorgeschichte‘ ist. Er ist Kommunist, dass heißt ein gemeinschaftlich lebender und produ­ zierender Mensch, im Unterschied zum bürgerlichen Klassen­ menschen, der habgierig ist, weil er meint, man könne sich nur dadurch etwas zu eigen machen oder aneignen, dass man es wie eine Habe hat und als privates Eigentum, als Kapital, besitzt.“119

Nach marxistischem Verständnis oder besser, nach dem offiziellen Verständnis der KPdSU hat Lenin die wissen­ schaftliche Analyse der Geschichte weiterentwickelt und den neuen Umstände nach der Revolution angepasst. Ähn­ lich wie Marx Schriften hatten in der Sowjetunion die Schriften Lenins bis in die letzten Jahre der Sowjetunion kanonischen Charakter. Lenin wurde wie Marx zugestanden, die Entwicklungen und Entwicklungsgesetze der Geschichte richtig erkannt zu haben. In beiden Fällen wurde nicht von einer Vision gesprochen, sondern immer wieder der wissen­ schaftliche Charakter der Aussagen über zukünftige Ent­ wicklungen gerühmt. In einer Einleitung zu Lenins Schriften hieß es dazu 1971: „Manche Gelehrte versuchen festzustellen, worin der Marxismus des 20. Jahrhunderts besteht. Ohne Zweifel sind in den Jahr­ zehnten seit dem Tode Lenins gewaltige Veränderungen im Le­ ben der Gesellschaft vor sich gegangen. Aber diese Veränderun­ gen und die neuen Prozesse, die die gesellschaftliche Entwicklung unserer Zeit kennzeichnen, verlaufen nicht anders, als es Lenin auf Grund seiner Analysen und Verallgemeinerungen vorausge­ sagt hat.“120

Lenin habe in allen Bereichen die Lehren von Marx und Engels weiterentwickelt, ohne dass dadurch die Grundlagen des Marxismus modifiziert werden mussten. Im Gegensatz zum Faschismus berief sich dabei der Marxismus-Leninis­ mus auf das Erbe des deutschen Idealismus. Der Marxis­ 119  Löwith

(1958), 331. (1971), 9.

120  Rosental

110

G. Welt als Geschichte – Ideologien

mus war in seinem Selbstverständnis ein wissenschaftlicher Humanismus. Die bürgerliche Idee des Humanismus wurde als Klassenideologie abgetan. Gemäß der Lehre des histori­ schen Materialismus, dass alle bisherige Geschichte die Ge­ schichte von Klassenkämpfen gewesen sei, deutete Lenin bereits ein Jahr nach der Revolution die Errungenschaften seiner Partei: „Und diese Politik, die Losung ‚Die Macht den Sowjets‘, die wir in das Bewusstsein der breitesten Volksmassen einpflanzten, ga­ ben uns im Oktober [1917] die Möglichkeit, in Petersburg leicht zu siegen, und verwandelten die letzten Monate der russischen Revolution in einen einzigen Triumphzug.“121

Lenin wird den Sieg der Sowjets umwandeln in eine The­ orie der Diktatur des Proletariats. Stellvertretend für das Proletariat wird in einer Übergangsphase die Partei die In­ teressen des Proletariats vertreten und verhindern, dass ein Rückfall in bürgerliche, revisionistische Politik stattfinden kann. So hatten zumindest Marx und Engels argumentiert allerdings unter der Annahme, dass zu diesem Zeitpunkt das Proletariat bereits die Mehrheit der Bevölkerung ausmachte. Lenin wandelt diesen Ansatz um, indem er die Diktatur des Proletariats umdeutet in die Organisierung der Avantgarde der Unterdrückten zur herrschenden Klasse zwecks Nieder­ haltung der Unterdrücker.122 Die Kommunistische Partei wird von Lenin zu dieser Avantgarde gemacht. Damit war der entscheidende Schritt in die erste totalitäre Diktatur des 20. Jahrhunderts getan. Lenins These von der Diktatur des Proletariats wird zum Herrschaftsinstrument der Partei über Volk und Staat. Durch die Scheidung von bürgerlichen Werten und klassenloser Gesellschaft wird ein rationaler Diskurs über die Grundla­ gen des Staates verhindert. In Anschluss an Hegels Konzep­ tion der Weltgeschichte und des Fortschritts wird die Sow­ jetunion zum Führer aller sozialistischen Staaten ausgerufen. 121  Zitiert

nach Service (2000), 463. (2008), 48.

122  Winkler



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Grundlage hierfür ist die wissenschaftliche Erklärung der Wirklichkeit durch den dialektischen und historischen Ma­ terialismus: „Der dialektische und historische Materialismus gibt eine allge­ meine wissenschaftliche Erklärung der Wirklichkeit und der menschlichen Erkenntnis. Er beschäftigt sich nicht nur mit den Beziehungen und Auffassungen des Menschen zur Natur, son­ dern auch mit dem Verhältnis der Ideen und Theorien zum ge­ sellschaftlichen Sein, zur Gesamtheit der materiellen Seiten des gesellschaftlichen Lebens.“123

Die wissenschaftliche Erkenntnis der Geschichte, die in der materialistischen Wirklichkeit fußt, die wiederum selber materialistisch historisch (begründet) ist, findet keinen Ho­ rizont außerhalb seiner geschichtlichen Wirklichkeit. Die wissenschaftliche Geschichte ist immer schon eine Erklärung der daraus abgeleiteten wissenschaftlichen Gegenwart. Der Marxismus-Leninismus erweist sich im 20. Jahrhun­ dert als die andere extreme Form des Historismus. Indem, wie es Hannah Arendt formulierte, Politik durch Geschich­ te ersetzt und die Geschichte wissenschaftlich erkannt wird, wird im Marxismus der öffentliche Gebrauch der Vernunft in einer nicht historischen, aufklärerischen Weise diskredi­ tiert. Indem die Geschichte schon erklärt, warum die Dik­ tatur des Proletariats durch die Partei eine historische Wei­ terentwicklung gegenüber der bürgerlichen Demokratie ist, kann es keinen Diskurs geben, der sich auf Werte und Normen beruft, die nicht aus der Geschichte begründet werden können. Die Historisierung von Welt und Mensch kommt auch hier an die Grenze seiner Fundierung. Im Na­ men der Weltgeschichte und des Fortschritts wird die Un­ terdrückung des eigenen Volkes durch das Versprechen auf eine bessere Zukunft legitimiert. Damit schließt sich der Kreis eines historischen Denkens, das das Fundament sei­ nes Denkansatzes nicht mehr gegen sich selbst wenden kann. Wie im Faschismus kann auch hier nur die histori­ 123  Rosental

(1971), 325.

112

G. Welt als Geschichte – Ideologien

sche Erfahrung zeigen, wohin eine solche Ideologie führen kann. Die Welt als Geschichte hat durch die beiden Ideologien, dem Faschismus und dem Marxismus, seine extreme Reali­ sierung erfahren. Nach dem Ende des Zweiten Krieges no­ tierte Adorno: „Panik bricht nach Jahrtausenden von Aufklärung wieder herein über eine Menschheit, deren Herrschaft über Natur als Herr­ schaft über den Menschen an Grauen hinter sich lässt, was je Menschen von Natur zu fürchten hatten.“124

Die Erfahrungen einer vollkommenen Historisierung der Welt durch die beiden Ideologien des Marxismus und Fa­ schismus in seiner konkreten Wirklichkeit erschütterte zu­ mindest teilweise das moderne europäische Geschichtsden­ ken. In Europa bzw. der westlichen Welt begann ein Diskurs über die Voraussetzungen des modernen historischen Den­ kens.

124  Adorno

(2001), 463.

H. Die Kritik am historischen Denken: Karl Popper und Leo Strauss Zwei Denker begannen in den 1940er und 1950er Jahren mit einer Kritik an der oben dargestellten Historisierung der Welt. Karl Popper führte diese Auseinandersetzung vor­ nehmlich als Kritik an den totalitären Ausläufern dieser Entwicklung, dem Faschismus und Marxismus und damit in erster Linie an Hegels Konzept der Weltgeschichte, während Leo Strauss die Idee des Naturrechts ins Feld führte, um die Schwächen eines historistischen Denkens, des Historismus, nachzuweisen. Beiden Denkern ist gemeinsam, dass sie eine umfassende Deutung der Geschichte als Grundlage des Ver­ stehens von Mensch und Welt ablehnen. Eine solche Deu­ tung habe vielmehr den Boden für die totalitären Ideen des 20. Jahrhunderts vorbereitet. H. Kritik am historischen Denken: Popper und Strauss 

Karl Poppers Kritik an den totalitären Ideen des 20. Jahr­ hunderts entwickelt er bereits während des Zweiten Welt­ krieges. Er begann sein 1945 veröffentlichtes Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1938 nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich zu schreiben. 1992 schrieb er rück­ blickend im Vorwort der siebten deutschen Auflage, dass die Geschichte des Sowjetreichs „die grausame Geschichte einer völlig verfehlten Ideologie“ sei, „für die ihre Begründer in Anspruch nahm, sie sei eine Wissenschaft, die Wissenschaft von der historischen Evolution“.125 Popper wendet sich von Anfang an gegen die beiden totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts und macht keinen grundsätzlichen Unter­ schied zwischen Marxismus und Faschismus. Beide beruhen nach ihm auf einer geistesgeschicht­lichen Haltung, die er mit dem Begriff Historizismus wiedergibt. Darunter versteht er 125  Popper,

Band I (2003), XIII.

114 H. Kritik am historischen Denken: Popper und Strauss 

ein Denken, das vorgibt, die Gesetze der historischen Ent­ wicklung zu verstehen, um aus diesem Verstehen zukünftige Entwicklungen vorherzusagen. Diese Erkenntnisse werden auf die Politik übertragen und teilen mit, „welche politischen Handlungen aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgreich sein werden“.126 Der Kern der historizistischen Lehre ist „die Lehre, dass die Geschichte von besonderen historischen oder Entwicklungsgesetzen beherrscht ist, deren Entdeckung uns die Möglichkeit geben würde, das Schicksal der Menschen vorauszusagen.“127 Genau dies trifft auf die beiden Haupt­ ideologien des 20. Jahrhunderts, den Faschismus und den Marxismus, zu. Popper unterscheidet im Wesentlichen vier Formen des Historizismus: einen naturalistischen Historizis­ mus, der das Entwicklungsgesetz als ein Naturgesetz ansieht, einen spirituellen Historizismus, der das Gesetz als geistige Entwicklung auffasst, einen ökonomischen Historizismus auf der Grundlage eines Gesetzes der ökonomischen Entwick­ lung und schließlich den theistischen Historizismus, der da­ von ausgehe, „dass es besondere historische Gesetze gibt, die entdeckt werden können und auf die sich Voraussagen über die Zukunft der Menschheit gründen lassen.“128 In der letzte­ ren Form des Historizismus wähnt Popper einen versteckten teleologischen Sinn, der aus der monotheistischen Religion kommt. Er greift auf die Lehre vom auserwählten Volk zu­ rück, die er als einen theistischen Versuch ansieht, „die Ge­ schichte durch eine theistische Interpretation verständlich zu machen.“129 Diesen Ansatz verbindet er mit den beiden Ideo­ logien Faschismus und Marxismus: „Die Lehre vom auerwählten Volk dient […] bloß als eine Illus­ tration. Ihre Eignung dazu kann man aus der Tatsache ersehen, dass sie in den Hauptzügen mit den beiden wichtigsten moder­ nen Formen des Historizismus übereinstimmt […] – mit der Geschichtsphilosophie der Rassenlehre oder des Faschismus auf 126  Popper,

Band Band 128  Popper, Band 129  Popper, Band 127  Popper,

I I I I

(2003), (2003), (2003), (2003),

12. 13. 13. 13.



H. Kritik am historischen Denken: Popper und Strauss  115 der einen (rechten) Seite und mit der marxistischen Geschichts­ philosophie auf der anderen (linken) Seite. An die Stelle des auserwählten Volkes tritt bei der Rassenlehre die auserwählte Rasse (auserwählt von Gobineau). Sie ist als ein Instrument des Schicksals zum Besitz der Erde auserkoren. In der Geschichts­ philosophie von Karl Marx nimmt die auserwählte Klasse ihre Stelle ein. Sie ist das Instrument zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft und zur gleichen Zeit diejenige Klasse, die bestimmt ist, die Erde zu besitzen. Beide Theorien gründen ihre histori­ schen Voraussetzungen auf einer Deutung der Geschichte, die zur Entdeckung eines Gesetzes ihrer Entwicklung führt. Im Fall der Rassenlehre hält man dieses Gesetz für eine Art Naturgesetz; die biologische Überlegenheit des Blutes des auserwählten Vol­ kes erklärt den Verlauf der Geschichte in Vergangenheit, Gegen­ wart und Zukunft; dieser Verlauf ist nichts als ein Kampf der Rassen um die Herrschaft. In der marxistischen Geschichtsphilo­ sophie finden wir ein ökonomisches Entwicklungsgesetz: die Geschichte wird als ein Kampf der Klassen um die ökonomische Vorherrschaft interpretiert.“130

Den Ursprung für diese beiden totalitären Ideologien wähnt Popper in einem Teil der abendländischen Philoso­ phie, die bis Heraklit zurückreicht und sich über Platon, Aristoteles und Hegel erstreckt, um dann im 19. und 20. Jahr­ hundert Marxismus und Faschismus als realisierte Staatsideo­ logie zu ermöglichen. Nach Popper befindet sich (im Jahr 1945) die menschliche Zivilisation noch immer ihrem Ge­ burtstrauma ausgesetzt – dem Trauma „des Übergangs aus der Stammes- oder ‚geschlossenen‘ Gesellschaftsordnung, die magischen Kräften unterworfen ist, zur ‚offenen‘ Gesell­ schaft, die die kritische Fähigkeit des Menschen freisetzt.“131 Er ist davon überzeugt, dass „die Ideen, die wir heute totali­ tär nennen, einer Tradition angehören, die ebenso alt oder ebenso jung ist wie unsere Zivilisation selbst.“132 In der An­ tike haben vor allem Heraklit, Platon und Aristoteles einen Historizismus vertreten, der die Idee einer geschlossenen Ge­ sellschaft gefördert habe. Besonders Platons Kritik an der at­ 130  Popper,

Band I (2003), 14. Band I (2003), 3. 132  Popper, Band I (2003), 3. 131  Popper,

116 H. Kritik am historischen Denken: Popper und Strauss 

tischen Demokratie wird von Popper als Beweis dafür heran­ gezogen, dass die modernen totalitären politischen Ideologi­ en ihren Ursprung nicht in der Moderne haben, sondern in ihren Ansätzen bis in die Antike zurückreichen. Popper wirft Platon vor, dass dieser über die Idee des idealen Staates nach­ gedacht habe, aber dabei nicht die Absicht hatte, „einen zu­ künftigen Staat zu konstruieren, er wollte vielmehr einen Staat wiederherstellen, der vergangen war – den Vater des spartanischen Staates, und dieser hatte sicher nicht die Form einer klassenlosen Gesellschaft. Es war ein Sklavenstaat und dementsprechend ist auch Platons bester Staat auf eine sehr starre Unterscheidung zwischen den Klassen gegründet: ein Klassenstaat.“133 In diesem Staat sei ein Wechsel zwischen den Klassen nicht möglich und bei der Erziehung der Her­ renrasse solle man wie bei der Aufzucht von Hunden, Pfer­ den oder Vögeln vorgehen. Diese Elemente führten nach Popper dazu, dass Platon dem Ideal einer Stammesgesell­ schaft bzw. einer geschlossenen Gesellschaft nacheiferte. Aris­ toteles Idee des Telos, das jedes Ding ein ihm innewohnendes Ziel hat, sieht Popper als weiteres Indiz für die Ansätze einer geschlossenen Gesellschaft. Er fasst diesen Ansatz der Philo­ sophie des Aristoteles so zusammen: „Für Aristoteles ist alle Bewegung oder Veränderung die Ver­ wirklichung (oder >Aktualisierung>dass das, was wir Prinzip, Endzweck, Be­ stimmung … genannt habennicht vollständig wirklich ist