Niccolò Machiavelli: Die Geburt des Staates 351509797X, 9783515097970

Bis heute wird leidenschaftlich darüber gestritten, wie Niccolò Machiavelli verstanden werden muss. Dem Facettenreichtum

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German Pages 235 [243] Year 2010

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Table of contents :
EDITORIAL
Inhalt
Einleitung
1. Teil: Wandlungen im Denken über Moral, Ordnung und Herrschaft zu Beginn der Neuzeit
2. Teil: Literarische Form, Denkstil und Methode bei Machiavelli
3. Teil: Die Wirkungen Machiavellis in den zeitgenössischen staatstheoretischen und philosophischen Diskursen
Autorenverzeichnis
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Niccolò Machiavelli: Die Geburt des Staates
 351509797X, 9783515097970

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Manuel Knoll / Stefano Saracino (Hg.)

Niccolo Machiavelli Die Geburt des Staates

11 Staatsdiskurse

Manuel Knoll / Stefano Saracino (Hg.) Niccolo Machiavelli

Staatsdiskurse Herausgegeben von RüdigerVoigt Band 11

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Leipzig Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Uanque, Augsburg Pier Paolo Portinaro, nllin Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Gary S. Schaal, Hamburg Virgilio Alfonso da Silva, Säo Paulo

Manuel Knoll / Stefano Saracino (Hg.)

Niccolo Machiavelli Die Geburt des Staates

@

Franz Steiner Verlag Stuttgart

2010

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09797-0 JedeVerwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbareVerfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2010 Franz SteinerVerlag, Stuttgart

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Printed in Germany

EDITORIAL

Der Staat des 2 1 . Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und De­ mokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine HandlungsHihigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdis­ kurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit "Globalisierung" bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits "arbeitender Staat" (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als "Idee" (He­ gel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewälti­ gen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als "organisierte Entscheidungs- und Wir­ keinheit" (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbe­ wussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann - idealtypisch in der Form der "deliberativen Politik" (Habermas), als Einbeziehung der Zivilge­ seIlschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Ranciere) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaft­ liche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Da­ bei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem of­ fenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt

INHALT

EINLEITUNG

Manuel KnolllStefano Saracino: Niccolo Machiavelli - Die Facetten seines politischen Denkens und die Perspektiven seiner Interpreten

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Methodische Ausrichtung des Bandes - Einführung in die Beiträge

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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l . TEIL: WANDLUNGEN IM DENKEN ÜBER MORAL, ORDNUNG UND HERRSCHAFT ZU BEGINN DER NEUZEIT

Eckhard Keßler: Niccolo Machiavellis experimentelle Moral in seinem Aufruf an Lorenzo de' Medici, Italien zu befreien

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.37

Thomas Maissen: Der Staatsbegriff in Machiavellis Theorie des Wandels

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

2. TEIL: LITERARISCHE FORM, DENKSTIL UND METHODE BEI MACHIAVELLI

Dirk Hoeges: Machiavellis Principe - Rhetorik - Struktur - Ästhetik

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Manuel Knoll.· Wissenschaft und Methode bei Machiavelli Die Neubegründung der empirischen Politikwissenschaft nach Aristoteles . . . . . . . . . . 9 1

8

Inhalt

3 . TEIL: DIE WIRKUNGEN MACHIAVELLIS IN DEN ZEITGENÖ SSISCHEN STAATS THEORETISCHEN UND PHILOSOPHISCHEN DISKURSEN

Günther Auth: Machiavelli und der Beginn ,bürgerlicher' Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Dirk Lüddecke: Niccolo hinter den Spiegeln Machiavelli und die politische Dämonologie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Stefano Saracino: Ständekampf, Parteienstreit, Pluralismus - Machiavellis agonales Politikverständnis im Republikanismus und Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Pravu Mazudmar: Machiavelli und die Regierungskunst Zur "Kunst des Nichtlesens" bei Michel Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 9 1

Pier Paolo Portinaro: Machiavelli und die imperi

Autorenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

233

EINLEITUNG

Manuel KnolllStefano Saracino

l . Niccolo Machiavelli - Die Facetten seines politischen Denkens und die Perspektiven seiner Interpreten Nachdem die Medici 1 5 1 2 die politische Macht in Florenz zurückgewannen, wur­ de Niccolo Machiavelli, einer der führenden Politiker der Republik, seiner Ämter enthoben. Bald darauf beschuldigte man ihn, er sei an einer Verschwörung gegen die Medici beteiligt. Er wurde eingekerkert und gefoltert, dann aber wieder freige­ lassen. Grund seiner Freilassung war eine anlässlich der Wahl Giovanni de' Me­ dicis zum Papst (Leo X.) in Florenz erlassene Generalamnestie. Machiavelli ver­ ließ die Stadt und zog sich auf sein ärmliches Landgut bei San Casciano zurück. Dort verbrachte er seine Tage mit Jagen, Lesen und Kartenspielen im Wirtshaus. Höhepunkt seines Tages war der Abend, über den er in dem berühmten Brief vom 10. Dezember 1 5 1 3 an seinen Freund Francesco Vettori schreibt: "Wenn der Abend komm� kehre ich nach Hause zurück und gehe in mein Arbeitszimmer. An der Schwelle werfe ich die Bauerntracht ab, voll Schmutz und Kot, ich lege prächtige Hofge­ wänder an und, angemessen gekleide� begebe ich mich in die Säulenhallen der großen Alten. Freundlich von ihnen aufgenommen, nähre ich mich da mit der Speise, die allein die meinige ist, für die ich geboren ward. Da hält mich die Scham nicht zurück, mit ihnen zu sprechen, sie um den Grund ihrer Handlungen zu fragen, und ihre Menschlichkeit mach� daß sie mir ant­ worten. Vier Stunden lang fühle ich keinen Kummer, vergesse alle Leiden, fürchte nicht die Armut, es schreckt mich nicht der Tod; ganz versetze ich mich in sie. ,,1

Machiavellis Schilderung ist eine großartige Selbstinszenierung, die ihn als Hu­ manisten und Angehörigen der Epoche darstellt, die seit dem 19. Jahrhundert als die "Renaissance" bezeichnet wird. 2 Seine Darlegung gibt aber auch das Ambien­ te wieder, in dem der vom politischen Leben ausgeschlossene Florentiner seinen berühmt berüchtigten Principe schrieb und sein Hauptwerk, die Discorsi, begann. Das bis heute ungebrochene Interesse an Machiavellis Werk kommt in einer unüberschaubaren Fülle an Literatur zum Ausdruck. Nimmt man diese genauer in Augenschein, dann wird deutlich, dass die Interpreten seines Werks in vielen Hin­ sichten zu gegensätzlichen Resultaten gelangt sind. Dagegen verbindet der Laie seinen Namen mit dem Ausdruck, für den der Florentiner Pate stehen musste, mit dem "Machiavellismus". Darunter versteht man eine politische Lehre oder Praxis,

2

Machiavelli 1 990, S. 434. Cantinori 1969; Hoeges 2010 in diesem Band. Vgl. zu einer hervorragenden Darstellung der Philosophie der Renaissance Kessler 2008.

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die der Machtpolitik den Vorrang vor der Moral gibt oder auch eine moralisch bedenkenlose und sich über alle sittlichen Rücksichten hinwegsetzende Interes­ sen- und Machtpolitik. Seinen schlechten Ruf verdankt Machiavelli vor allem der Tatsache, dass von seinen Schriften in erster Linie der Prinicipe gelesen und be­ kannt wurde. Er selbst bezeichnete dieses dünne Buch nicht ganz zu Unrecht als 3 ein "opuscolo", als ein Werkchen Die spektakuläre Wirkungsgeschichte von Machiavellis Werk und vor allem des Principe, die hier bestenfalls angedeutet werden kann, offenbart auf ein­ drucksvolle Weise eine Eigenart von Rezeptionsprozessen philosophischer Texte: Die Perspektive des Betrachters und weniger die Eigenschaften des Betrachteten bestimmt oftmals die Rezeption. Dies gilt im Besonderen für Machiavelli. Häufig wurde sein Werk zur Proj ektionsfläche oder zur Chiffre im politischen und philo­ sophischen Schlagabtausch, zur Waffe im Arsenal ideologischer Grabenkämpfe, in die (kritische wie apologetische) Rezipienten und ihr historisches Umfeld ver­ strickt waren. John Geerken hat dies treffend zum Ausdruck gebracht. Er bezeich­ 4 net Machiavelli als Chamäleon, das stets die Farbe seiner Kritiker annehme Kurz nach der Veröffentlichung des Principe 1 532 schrieb der englische Kar­ dinal Reginald Pole, das Werk sei "von der Hand des Teufels geschrieben,, 5 We­ nige Jahrzehnte später, 1 576, erschien das mit Contre-Machiavel betitelte Werk des Hugenotten Innocent Gentillet. 6 Damit war die Bahn für eine Reihe von anti­ machiavellistischen Schriften gebrochen, deren vielleicht bekannteste der 1 740 veröffentlichte Anti-Machiavell des späteren preußischen Königs Friedrich Ir. war. Friedrich bezeichnet Machiavelli als einen "Lehrer des Verbrechens" und als ein bösartiges "Ungeheuer", gegen das es die Menschheit "in Schutz zu nehmen" 7 gelte. Nicht alle antimachiavellistischen Schriften verteufelten den Florentiner im wahrsten Sinne des Wortes. Sie warfen ihm jedoch vor allem Atheismus und Amoralismus vor, der in seinem Principe zum Ausdruck komme. Auch noch Leo Strauss bekennt in den 1958 veröffentlichten Thoughts on Machiavelli seine Nei­ gung zu der überkommenen Meinung, der zufolge Machiavelli ein "Lehrer des Bösen" ist 8 Strauss begründet und erläutert diese Einschätzung durch die Frage, welche andere Beschreibung für einen Mann passend wäre, zu dessen Lehren 3 4

5 6 7 8

Machiavelli 1961, Brief vom 10. Dezember 1 5 1 3 an Francesco Vettori, S. 304. Geerken 1 990, S. 95. Zum Begriff der Chiffre in diesem rezeptionstheoretischen Sinn vgl. ZwierleinlMeyer 2010, S. 1 1, 15-16. Der an1ässlich des bevorstehenden Principe-Jubiläums 2013 in Gang kommende internationale Tagungsmarathon legt den Fokus auf die Machiave1li-Rezeption in verschiedenen nationalen und regionalen Kontexten und auf den ,1.1achiavel­ lismus' im Sinne eines Rezeptionsphänornens; s. die kürzlich erschienenen Kongressakte ArienzolBorrelli 2009 und ZwierleinlMeyer 2010. Pole, Apologia ad Carolum v: Caesarem, zitiert nach Lutz, 1 961, S. 32; s. auch Pole 1997. Gentil/et 1968. Friedrich der Große 1 922, S 1 1 2, 128; 94, 1 1 6, 144. Strauss 1958, S. 9. Strauss' Platonismus, die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Totalitarismus und die daraus resultierende pessimistische Einschätzung der Moderne prägen sein reichhaltiges und wirkungsrnächtiges Werk und seine Machiavelliexegese im Besonde­ ren. Strauss interessiert sich für Machiavelli primär wegen dessen philosophiegeschichtli­ chem Rang als Hauptverantwortlichem für den Umbruch zur Modeme; vgl. Rosen 2009.

Einleitung

11

zählt: Fürsten sollen die Familien der Herrscher ausrotten, deren Territorium sie sicher zu besitzen wünschen; Fürsten sollen ihre Gegner lieber ermorden als ihren Besitz zu konfiszieren, weil diejenigen die tot sind - im Gegensatz zu denen die beraubt wurden - nicht an Rache denken können; Menschen vergessen schneller die Ermordung ihrer Väter als den Verlust ihres Patrimoniums u.s. w 9 Die angeführten Lehren aus Machiavellis politischen Hauptwerken scheinen die Anschuldigungen der Antimachiavellisten eindeutig zu belegen. Zudem ma­ chen sie sofort verständlich, warum sich ein zentrales Problem der Machiavelli­ rezeption um die Frage dreht, wie der Florentiner in seinen politischen Werken das Verhältnis von Politik und Moral versteht. Nach der in der neueren Literatur vorherrschenden Auffassung trennt Machiavelli die Politik von der Mora1. 1 0 Diese Ansicht wurde bereits prominent von Benedetto Croce vertreten, dem zufolge Machiavelli die Notwendigkeit und die Autonomie der Politik entdeckt, die ihre eigenen Gesetze habe und vom moralisch Guten und Schlechten getrennt sei. 1 1 Die vorherrschende Auffassung, nach der Machiavelli die Politik von der Mo­ ral trennt, ist fragwürdig und bedarf einer differenzierteren Betrachtung. Liegt ihr doch in der Regel die Prämisse zugrunde, dass es nur eine einzige Moral gibt und dass diese in allen menschlichen Handlungsbereichen gilt. Beide Unterstellungen sind problematisch. Hinsichtlich des Principe ist außerdem zu bedenken, dass das Werk nicht eine allgemeine Herrschaftslehre begründen möchte, sondern die Möglichkeit der Gründung und Konsolidierung einer gänzlich neuen Fürstenherr­ schaft zum Gegenstand hat. 12 Fest steht jedenfalls, dass Machiavelli das traditio­ nelle stoisch-christliche Moralsystem seiner Zeit für den Handlungsbereich der Politik als unangemessen ansieht und verabschiedet. So konstatiert Herfried Münkler für Machiavellis politische Theorie treffend eine "konsequente Verdrän­ 13 gung der transzendent begründeten Moral aus dem Felde der Politik". Quentin Skinner geht einen Schritt weiter und erkennt bei dem Florentiner bereits eine "neue Moralität". 14 Noch stärker von der vorherrschenden Ansicht entfernt sich Isaiah Berlin, der Machiavelli als Anhänger einer gemeinschaftsbezogenen, anti­ ken und heidnischen ",politischen' Ethik" begreift, die mit der christlichen Ethik, 9 10

11 12 13 14

Strauss, ebenda. Vgl. Maehiavelli Principe 2003, III, S. 15, 17-19; XVII, S. 1 3 1 ; Maehiavelli Discorsi 1 977, L 16, S 58-59; III. 23, S 352 f Mittermaier 1 990, S. 398; Schwaabe 2007, S . 1 1 2-1 1 7. Henning Ottmann erklärt, dass Ma­ chiavelli die für den klassischen Humanismus und insbesondere Cicero zentrale Einheit von Sittlichkeit und Nutzen, von honestum und utile, auflöst (Ottmann 2006, S. 16). Zur Abwen­ dung des Prineipe von der Herrschaftsmoral des Fürstenspiegels und ihrer Fundierung in Ci­ cero und Seneca vgl. Skinner 1978, S. 128-138, Staeey 2007. George H. Sabine spricht von Machiavellis "moral indifference" (Sabine 1961, S. 340). Leo Strauss spricht von Machiavellis "moral obtuseness" (Strauss 1958, S. 1 1). Wolfgang Kersting behauptet die "Ausgrenzung der Ethik aus der Politik" und dass es für Machiavelli "zur Steigerung der Handlungsmächtigkeit eines Fürsten notwendig ist, das politische Handlungsfeld von allen sittlichen Einflüssen frei zu halten" (Kersting 1988, S. 240 f). eroee 1973, S. 137. Machiavelli spricht von "principati a1 tutto nuovi", Maehiavelli Principe 2003, VI, S . 40. Münkler 1984, S . 297. Skinner 1 990, S. 72 ff

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Manuel Knoll/Stefano Saracino

ihrer Fokussierung auf Nächstenliebe, Demut und das Seelenheil nicht bloß un­ vereinbar sei, sondern mit ihr auch im Konflikt stehe. 1 5 Eine andere Interpretation, die der Auffassung von Isaiah Berlin nahe steht, stützt sich auf Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwor­ tungsethik, die möglicherweise durch Machiavelli inspiriert wurde 16 Webers Un­ terscheidung liegt die Einsicht zugrunde, dass sich die menschlichen Handlungs­ bereiche stark voneinander unterscheiden und daher nicht für jeden die gleichen ethischen Gebote aufgestellt werden können. Im Gegensatz etwa zum privaten Bereich arbeitet die Politik mit einem "sehr spezifischen Mittel: Macht, hinter der G e w altsamkeit steht". 17 Eine Gesinnungsethik wie die christliche Ethik der Bergpredigt ist nach Weber für das Handlungsfeld der Politik unangemessen. In diesem können "gute" Zwecke oft nur durch gewaltsame und damit "sittlich be­ denkliche oder mindestens gefährliche Mittel" erreicht werden. Die Gesinnungs­ ethik scheitert, weil sie die spezifisch politischen Mittel und Handlungen verwer­ 18 fen muss Wer Politik betreibt, lässt sich mit "den diabolischen Mächten ein, die 19 in jeder Gewaltsamkeit lauern" und "gefahrdet das ,Heil seiner Seele",. Für den politischen Bereich und die Anwendung von Gewaltmitteln gilt nach Weber die verantwortungsethische Maxime, "daß man für die (voraussehbaren) F 0 I g e n seines Handeins aufzukommen hat". 20 Seiner Auffassung nach geht "alle ,Realpolitik'" von dem Postulat der Verantwortung für die "möglichen oder wahr­ scheinlich vorauszusehenden Folgen des Handeins" aus. 21 Es gibt gute Gründe, Machiavelli nicht bloß als Realpolitiker und Realisten22 , sondern auch als Ver15 16

17 18 19

20 21 22

Berlin 1982, S . 1 1 4 f., 126-128, 1 3 8 ; zu Berlins Machiavelli-Interpretation Saracino 2010 in diesem Band S. 179-185. Im Zusammenhang mit seinen knappen Reflexionen über die "ethischen Probleme der Poli­ tik" in Politik als Beruf, im Zuge derer er seine Unterscheidung einf Florentiner mehrmals (Weber 1993, S. 77, 75, 79). Zudem thematisiert Weber die für Machiavellis politische Werke charakteristische Spannung zwischen Politik und Moral in sei­ nen Reflexionen auch in vielen Passagen, in denen er Machiavelli nicht explizit anführt. Ebenda, S . 6 8 (Hervorhebungen von Weber). Ebenda, S. 7 1 f. Ebenda, S. 78 f. Webers Akzentuierung des ,Diabolischen' lässt sich mit der Deutung Machiavellis im Schlüssel der "Dämonie der Macht" verbinden, dazu Lüddecke in diesem Band. Lüddecke stellt allerdings subtil heraus, dass die "dämonologische" Leseweise Machiavellis im 20. Jahrhundert nicht als Neuauflage der Satanisierung des Florentiners im frühneuzeitlichen konfessionalisierten Antirnachiavellisrnus zu verstehen ist. Ebenda, S. 70 f. (Hervorhebungen von Weber). Weber 1982, S. 505. Im Principe erklärt Machiavelli über seinen Realismus: "Da es aber meine Absicht ist, etwas Nützliches (utile) für den zu schreiben, der es versteht, schien es mir angemessener, der Wirk­ lichkeit der Dinge (verita e.!fetluale della cosa) nachzugehen als den bloßen Vorstellungen (imaginazione) über sie. Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat; denn es liegt eine so große Entfernung zwi­ schen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, daß derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet läßt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt; denn ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Gu­ ten bekennen will, muß zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind. Da-

Einleitung

13

antwortungsethiker23 Z U interpretieren, der die traditionelle christliche Gesin­ nungsethik für den Handlungsbereich der Politik verabschiedet oder zumindest bezüglich ihrer kategorischen Gültigkeit einschränkt. Aus dieser Perspektive er­ scheinen die von Leo Strauss angeführten Lehren in einem anderen Licht. Ma­ chiavelli rät dem Fürsten etwa, das Geschlecht des bisherigen Herrschers eines 24 Territoriums auszurotten, das er sicher zu besitzen wünscht. Die Anwendung dieser begrenzten Gewalttat hält Machiavelli für das notwendige Mittel, um ein neu erworbenes Fürstentum stabil zu bewahren. Wird die Gewalttat wegen mora­ lischer Bedenken unterlassen, dann erlaubt die geschichtliche Erfahrung voraus­ zusehen, dass der bisherige Herrscher oder seine Nachkommen mit Hilfe auswär­ tiger Mächte versuchen werden, ihre Ansprüche auf das Territorium gewaltsam durchzusetzen. Als Folge gesinnungsethischen Handeins lassen sich also zukünf­ tige Unruhen und Krieg prognostizieren, während verantwortungsethisches Han­ deln die Stabilisierung und Erhaltung des Territorium erwarten lässt. Sind die vor­ aussehbaren Folgen des ersteren Handeins auch aus moralischen Gründen zu ver­ werfen, kann die stabile Bewahrung eines Staates mit Machiavelli als guter Zweck 25 verstanden werden, auf den politisches Handeln abzuzielen hat. Mit der vorgeschlagenen Interpretation geht offensichtlich auch eine Vertei­ digung des Florentiners gegen die Anschuldigungen der Antimachiavellisten ein­ her oder zumindest deren Relativierung. Eine andere Art der Machiavelli­ Apologie, für die sich etwa Herder, Hegel und Fichte in Deutschland, Foscolo und De Sanctis in Italien anführen lassen, versteht ihn als italienischen Patrioten. 26 Diese Deutung kann sich auf Machiavellis flammenden Appell im Schlusskapitel des Principe stützen. Darin ruft er wortgewaltig dazu auf, Italien (,/talia") mit italienischer Tüchtigkeit ("virtu italica") von den Barbaren zu befreien, womit die europäischen Großmächte und ihre Truppen gemeint sind, die seit dem Einmarsch des französischen Königs Karl VIII. 1494 in Italien kämpften und plünderten. 27 Auch wenn die modernen Nationalismen, die in Westeuropa und Nordamerika entstanden, die politische Bühne erst seit Ende des 1 8 . Jahrhunderts betraten, lässt sich bei Machiavelli bereits ein "frühnationalistisches" Denken aufweisen. So erklärt der Florentiner, dass eine "nazione" "Iange die gleichen Gewohnheiten" behält und dass die alten Germanen und Gallier dieselben Eigenschaften hatten

23 24 25 26 27

her muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit" (Machiavelli 2003, XV, S. 15. Die Wörter aus dem Originaltext, die in vorliegender Einleitung in die Übersetzungen der zitierten Werke in Klammem eingefügt wurden, sind von M.K. und S.S.). Vgl. zur Deutung von Machiavelli als Realisten Ottmann 2006, S. 49 f Vgl. zu einer ausführlichen Begründung der These, dass Machiavelli als Verantwortungsethiker zu verstehen ist, Kno1l 2003. Machiavelli Principe 2003, III, S. 15. Vgl. dazu Knoll 2003. Vgl. zur Deutung von Machiavelli als Patrioten im Kontext des deutschen und des italieni­ schen Nationalismus Procacci 1965; Polcar 2002; Ottmann 2006, S. 50 f; Steinkamp 2008. Machiavelli Principe 2003, XXVI, S. 204 f; die "italica virtute" beschwört Machiavelli auch in einer an Ovid angelehnten Serenade, abgedruckt in Hoeges 2006, S. 1 88.

14

Manue1 Knoll/Stefano Saracino

wie die Deutschen und Franzosen seiner Zeit. Beide Völker sind ilun zufolge "habsüchtig, hoclunütig, wild und treulos". 28 In einem Brief an Vettori äußert Ma­ chiavelli kurz vor seinem Tod, er liebe sein Vaterland (patria) mehr als seine See­ le, womit er nach Isaiah Berlin "seine grundlegende moralische Überzeugung" aufdeckt. 29 Dafür dass Machiavelli, wenn er vom Vaterland (patria) und der Va­ terlandsliebe (amore deUa patria) spricht, nicht ausschließlich Italien meint, son­ dern diese Begriffe an den engeren Horizont von Florenz und Toskana und zudem an eine republikanisch-freistaatliche Verfassung des Gemeinwesens koppelt, fin­ den sich im Werk interessante Belege. Vaterlandsliebe und republikanische Frei­ heitsliebe stehen beim Florentiner oftmals in enger Beziehung. 30 Darauf verweist Maurizio Viroli in einer begriffsgeschichtlichen Studie zum patria-Begriff. Er erkennt Parallelen zwischen Machiavellis Begriffsgebrauch und der römisch­ republikanischen Auffassung, wonach das Engagement und die emotionale Bin­ dung des Bürgers an das Vaterland von der Freiheit und der Herrschaft von Ge­ 31 setzen statt von Personen im Gemeinwesen abhängig sind. Ein thukydideisch anmutender, weil kritischer und desillusionierter aber nichtsdestotrotz leiden­ schaftlicher republikanischer Patriotismus bestimmt in diesem Sinne Machiavellis Istorie Fiorentine. Außerordentlich interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine kleinere Schrift Machiavellis, die zur Sprachenfrage und der Bedeutung des Toskanischen für die Entwicklung des volgare zur National- und Kultursprache Stellung bezieht: Der Dialogo 0 discorso intorno aUa nostra lingua. Die Frage nach dem Rang und der zukünftigen Entwicklung des volgare wurde im frühen Cinquecento heftig und kontrovers debattiert. Machiavelli verteidigt gegen Dantes De vulgari eloquentia mit lokalpatriotischem Pathos die Vorrangstellung des Tos­ 32 kanischen und der toskanischen Literatur als höchster Form des volgare 28 Machiavelli Discorsi 1 977, III. 43, S. 396 f. In der ÜbersetZllilg von Rudo1f Zorn ist "nazione" mit "Vo1k" übertragen; vgl. zum Begriff "nazione" bei Machiavelli Chabod 1 967. Es ist hier auf das deutlich positive Bild hinzuweisen, dass 1.1achiavelli von der französischen Monarchie und ebenso von den Schweizern und den freien Reichsstädten zeichnet; vgl. zum Frankreich-Bild Machiavelli Principe 2003, IV, XIX, S. 33-35, 1 47-149; Machiavelli Discorsi 1 977, I. 16, I. 58, III. 1 , S. 60, 149, 278; Matteucci 1972; Maissen 1994. Zum Bild der Schweizer und der deutschen Reichsstädte Machiavelli 2003, XII, S. 97; Machiavelli 1 977, I. 55, 11. 4, S 141 f., 179-1 8 1 ; Reinhardt 1995. 29 Brief an Vettori, 16. April 1527, in: Machiavelli 1 96 1 : 50S; vgl. die gleiche Redewendung in Machiavelli Istorie Fiorentine 1986, III. 7, S. 425; Berlin 1982, S. 127. 30 "Würden sie bedenken, daß unsere Religion den Kampf für die Größe und Verteidigung des Vaterlandes (patria) erlaubt, so würden sie auch einsehen, daß wir nach deren Willen das Va­ terland auch lieben und ehren (amiamo ... onoriamo) und uns zu Männern heranbilden sollen, die es verteidigen können. Es ist also eine Folge unserer Erziehung und der so falschen Aus­ legung unserer Religion, daß es in der Welt nicht mehr so viele Freistaaten (republiehe) gibt wie in der Antike und daß die Völker infolgedessen nicht mehr von solcher Liebe zur Freiheit (amore alla liberta) beseelt sind wie ehemals" (Machiavelli Discorsi 1 977, 11. 2, S. 1 72). 3 1 Vgl. Viroli 1995, v.a. S . 29-40; Viroli folgend auch Hächli 2005, Kap. 9. 32 Vgl. Machiavelli 2006, S. 1 063-1077; eine entgegengesetzte Kritik aus Sicht der italieni­ schen Hofkultur an der Manie, das Toskanische nachzuahmen und zu verehren ("quasi una religione"), findet sich beispielsweise in Castigliones Hofmannstraktat: Castiglione 1987, I. 37, S 93-96.

15

Einleitung

Machiavellis Patriotismus kann als Verteidigung oder zumindest als Relativierung der Anschuldigungen seiner vermeintlichen Amoralität angeführt werden. Denn der Florentiner begreift patriotische Werte als gute Zwecke, die auch den Einsatz von moralisch verwerflichen Mitteln rechtfertigen können: "Wo es um das Wohl und Wehe des Vaterlandes

(patria)

geht, darf man nicht überlegen, ob es recht

oder unrecht, mild oder grausam, löblich oder schändlich ist. Man muß vielmehr jede Rücksicht beiseite lassen und darf nur die Maßnahmen ergreifen, die ihm Leben und Freiheit retten, Eine weitere Art der Machiavelli-Apologie ist das gängige und wohl begrün­ dete Verständnis von ihm als Republikaner.34 Machiavellis Republikanismus kommt in seinem umfangreichen Hauptwerk, den Discorsi

Tito Livio,

sopra la prima deca di

deutlich zum Ausdruck. Darin reflektiert er vor allem über die römi­

sche Geschichte, die er auf der Grundlage der ersten zehn Bücher

(753-293 v. A b urbe condita deutet. angelegt, leisten die Discorsi bei

Chr.) des von Titus Livius verfassten Geschichtswerks Als Kommentar zum römischen Text des Livius weitem

mehr

auctoritas.

als

bloß

eine

Auseinandersetzung

mit

dieser

altrömischen

Das Werk ist als Sequenz unterschiedlich langer Kapitel oder Kurz­

traktate angelegt, die Sentenzen aus Livius oder Ereignisse aus seinem Ge­ schichtswerk erörtern ("discorrere"). Über weite Strecken besitzen die Einzelkapi­ tel der Schrift aphoristische und autoreferentielle Züge.

Der kommentierende

Duktus und die Liviusbezüge werden zur Plattform für die Entwicklung einer ei­ genständigen politischen Theorie, die schwerpunktmäßig die Republik, aber eben­ so die monarchische Staatsform zum Gegenstand hat3 5 Machiavelli interpretiert in den

Discorsi

die Verfassung der römischen Re­

publik als eine vorbildliche Mischverfassung, die Qualitäten der königlichen, der aristokratischen und der demokratischen Regierungsform vereint. Die königliche Gewalt sieht Machiavelli in den beiden Konsuln verkörpert, die aristokratische im Senat und die demokratische in den Volkstribunen. Roms Mischverfassung insti­ tutionalisiert den sozialen Konflikt zwischen den Großen

(grandi)

und dem Volk

(popolo) und stellt zwischen den

beiden Schichten ein spannungsvolles politisches 3 6 Gleichgewicht her Die gegenseitige Überwachung und Kontrolle zwischen den Ständen und den Verfassungsorganen der Republik bewahrt dieses Gleichgewicht 33

Machiavelli Discorsi

34

Im ang10phonen Raum steht die Untersuchung von Machiavellis Republikanismus im Zent­ rum

1977, III. 41, S. 395.

der Forschung über den Florentiner. Die Arbeiten können hier nicht im Einzelnen ange­

führt werden. Es lassen sich zwei Stränge unterscheiden: Einerseits Forschungsarbeiten in der Nähe der einflussreichen Studien von Quentin Skinner und John Pocock, den Nestoren der ,Cambridge Schoo1', s. 1997;

Nelson 2004.

Pocock

1975;

Skinner 1978, 1990a, 2002; Viroli

1992, 1995;

Petlit

Andererseits Arbeiten, die in der Tradition von Leo Strauss' Machiavelli­

Deutung stehen und von einern ambivalenten bis hin zu einern pejorativen Verständnis der modernen Republik und ihrem philosophischen Gründervater Machiavelli geprägt sind; s.

Pangle

1988;

Rahe

1992, 2006;

Sullivan

1996, 2004. Skinner kritisiert in seinem Werk

Strauss' Machiavelli-Interpretation. Vgl. auch Münkler 1991, 2000, 2004 und Hächli 2005. 35 36

Discorsi als Textgattung Strauss 1958, S. 85-173, Gilbert chardson 1972,Bausi 1985,Sherberg 1991. Vgl. dazuMünkler 1984, S. 379 und Saracino 2010 in diesem Band.

Zu den

1953, Baron 1961, Ri­

16

Manuel Knoll/Stefano Saracino

und stellte einen wichtigen Grund für die Stabilität, aber auch für die Vitalität und imperiale Expansion der römischen Republik dar. Vor allem wegen dieser Vorzü­ ge begreift Machiavelli die römische Republik, die er wegen ihrer gemischten Verfassung als "vollkommene Republik politisch nachahmenswert37

(republica perfetta)"

auszeichnet, als

Die Republik hat auch noch andere Qualitäten, die Machiavelli schätzt. Wie im Staat als solchem werden in Republiken die gefahrlichen menschlichen Triebe und Leidenschaften durch gute Gesetze und eine durch sie geregelte Erziehung gezügelt 38 Republiken fördern die Tugend der Bürger (virtu civile) und ermögli­

chen ihnen ein Leben in Freiheit und Wohlstand39 Militärische Bürgertugenden wie Tapferkeit, Gehorsam, Ehrbedürfnis und Vaterlandsliebe werden durch die Teilnahme an einer Bürgermiliz entwickelt, für die sich Machiavelli im Gegensatz zum Söldnerwesen, das in seiner Zeit weit verbreitet war, stark macht 4 0 In einer Passage der

Discorsi

charakterisiert Machiavelli die Vorzüge der Republik in et­

was idealisierender Weise: "In der Tat machen alle Städte und Länder, die in innerer und äußerer Freiheit leben [ . . . ] die größten Fortschritte. Sie sind dichter bevölkert, weil die Ehen freier und den Männern begeh­ renswerter sind. Jeder zeugt gerne Kinder, wenn er glaubt, sie ernähren

zu

können und nicht

fürchten muß, daß ihm sein Vennögen genommen wird, und wenn er ferner weiß, daß sie als freie Menschen und nicht als Sklaven geboren werden, ja, daß sie durch Tüchtigkeit zu den höchsten Stellen im Staat emporsteigen können. Unter solchen Umständen vermehrt sich der 41

Reichtum in größerem Maß; es blühen Ackerbau und Gewerbe.,,

Machiavelli begreift die Republik als die

relativ beste

Staatsform. Das folgt auch

aus seinen verfassungstheoretischen Reflexionen, bei denen er an das traditionel­ le, auf Platon und Aristoteles zurückgehende Verfassungsschema4 2 anknüpft. Den drei guten Regierungsformen Alleinherrschaft

(principato), Aristokratie (stato d'ottimati) und Volksherrschaft (stato popolare) stellt er die drei schlechten Ty­ rannis (stato tirannico), Oligarchie (stato di pochi) und Anarchie (licenzioso) ge­ genüber. Die drei schlechten Regierungsformen hängen von den drei guten ab, die

37 38 39

Machiavelli Discorsi 1977, I. 2, S. Ebenda, I. 3 und 4, S. 18 f Die Arte della Guerra beinhaltet

17; I. 2-6, S. 12-29. eine prägnante Ausformulierung dessen, was Machiavelli

unter Bürgertugend versteht: "Die Tugend

(virtiJ)

ehren und belohnen, die Armut nicht ver­

(disciplina militare) achten, die Bürger (sette) zu leben und weniger Wert auf ih­ ren Privatvorteil (privato) als auf das öffentliche Wohl (publico) zu legen" (Machiavelli 2006, S. 716). Zu Machiavellis republikanischem Freiheitsbegriff Saracino 2010 in diesem Band. Machiavelli Principe 2003,XII, S. 93 ff; Machiavelli Discorsi 1977, I. 6, S. 27-28; I. 43, S. 117-118; Machiavelli Arte della Guerra 1997, Buch I. Zur Miliz und der militärischen Lehre Mächiavellis Mallett 1990 und Metzger 1999. Machiavelli Discorsi 1977,11. 2, S. 173. Machiavelli fährt fort: "Jeder vermehrt gerne seinen achten, die Regeln und Vorschriften der Kriegszucht zwingen, sich gegenseitig zu lieben, ohne Parteien

40

41

Besitz und sucht Güter

zu

enverben, wenn er seinen Erwerb genießen zu können glaubt. Da­

her kommt es dann auch, daß die Bürger um die Wette darauf bedacht sind, ihr Privatvermö­ gen wie das Staatsvennögen

zu

mehren, und beides in erstaunlichem Maß wächst. Das Ge­

genteil von all dem tritt in denjenigen Ländern ein, die in Knechtschaft leben". 42

Vgl. dazu Knoll 201011 1.

17

Einleitung

ihnen nächstverwandt sind. Wegen dieser Ähnlichkeiten entarten die gnten For­ men zwangsläufig leicht und gehen jeweils in ihr schlechtes Gegenstück über. Genauer erläutert Machiavelli diese Entartungen im Rahmen der Theorie des Ver­ fassungskreislaufs, die er leicht modifiziert aus Buch VI der

Historien

des

Polybios übernimmt und die seinem zyklischen Geschichtsverständnis ent­ spricht43 Polybios dynamisiert das klassische Sechserschema der Verfassungen und erweitert es um eine siebte Form, die Urmonarchie. Eine Gegenüberstellung der Texte von Machiavelli und Polybios belegt, dass das Gemeinwohl und die Beachtung des Gesetzes in Machiavellis Aneignung des polybianischen Textes als Unterscheidungsmerkmale zwischen guten und schlechten Verfassungsformen in ihrer Bedeutung noch verstärkt werden. Nach Machiavellis Darstellung entartet die Monarchie zur Tyrannis, weil die Erben des Alleinherrschers nicht mehr des­ sen Tüchtigkeiten aufweisen und verhasst werden44 Der Tyrann wird gestürzt und die besten und tüchtigsten Bürger errichten eine Aristokratie. Regieren diese Bür­ ger den Staat gesetzmäßig und zum gemeinsamen Wohl, sind ihre Nachfahren nicht mit der bürgerlichen Gleichheit zufrieden und geben sich "der Habsucht (avarizia), dem Ehrgeiz (ambizione) und dem Gelüst nach Weibern" hin45 Die Aristokratie entartet zur Oligarchie, die Herrscher werden verhasst und wie der Tyrann gestürzt. Auf Grund der schlechten Erfahrungen mit den anderen Regie­ rungsformen wird nun eine Demokratie errichtet, die sich wiederum eine Genera­ tion lang halten kann, bevor sie in Zügellosigkeit, Ungerechtigkeit und letztlich Anarchie ausartet. Am tiefsten Punkt des Verfassungskreislaufs kommt man zur Alleinherrschaft zurück und der Kreislauf, den Machiavelli im Vergleich zu Polybios weniger schematisch und starr auffasst, beginnt von Neuem46 Das muss jedoch nicht unbedingt die Rückkehr zur Monokratie bedeuten, wie das im Kapi­ tel angeführte Beispiel des ,uomo buono' Lykurg, des Gesetzgebers von Sparta und Stifters der spartanischen Mischverfassung veranschaulicht.

43

Polybios

2006, s. 14-17. Nach Machiavellis zyklischem Geschichtsverständnis pflegen die

meisten Staaten von "Ordnung zu Unordnung überzugehen, um dann von der Unordnung zur Ordnung zurückzukehren. Denn da die Natur den menschlichen Dingen keinen Stillständ ge­ stattet, so müssen sie notwendig abwärts steigen, nachdem sie den Gipfel der Vollkommen­ heit erreicht haben, wo sie nicht ferner aufwärts zu steigen vennögen. Sind sie nun herabge­ stiegen und durch Zerrüttung aufs tiefste gesunken, so müssen sie, da ferneres Sinken unmög­ lich, notwendig wieder aufwärts steigen. So in stetem Wechsel geht es abwärts zum Bösen, aufwärts zum Guten"

(Machiavelli

Istorie Fiorentine 1934, S. 241). Vgl. dazu

Machiavelli

Discorsi 1977, I. 6, I. 39, 11. Vorwort, S. 28, 107 f, 161 und Münkler 1984, S. 338-351. 44 45

46

Machiavelli Discorsi 1977, I. 2, S. 13 f; vgl. hierzu I. 11, S. 45 f und Polybios 2006, S. 15. Ebenda, I. 2, S. 14. Bemerkenswert ist, dass Machiavelli die "Vorlage" des Polybios an dieser Stelle noch um den Ehrgeiz (ambizione) ergänz� den er wie die Habgier (avarizia) als eine grundlegende Eigenschaft des Menschen begreift (vgl. dazu Polybios 2006, S. 16). Ebenda, I. 2, S. 14 f; vgl. hierzu Polybios 2006, S. 16 f Für Polybios' realitätsfremden Schematismus hat Machiavelli nichts übrig. Er unterschlägt nicht nur Polybios' bizarre Äuße­ rung, man könne anhand der

anakyklosis

den Zustand eines Gemeinwesens diagnostizieren

und seine zukünftige Entwicklung prognostizieren. Er bekräftigt darüber hinaus, dass kein Gemeinwesen tatsächlich den ganzen Zyklus geschweige denn mehrmals durchlaufe.

18

Manue1 Knoll/Stefano Saracino

Aus seinen verfassungstheoretischen Reflexionen zieht Machiavelli

den

Schluss, dass alle sechs Regierungsfonnen verwerflich sind, die drei schlechten wegen ihrer Schlechtigkeit und die drei guten wegen ihrer Kurzlebigkeit47 Seine Konklusion gibt Anlass zu der Frage, in welchem Verhältnis die römische Repub­ lik zur Kreislauftheorie der Verfassungen steht. Die römische Republik vereint Eigenschaften der königlichen, der aristokratischen und der demokratischen Re­ gierungsfonn. Sie muss als Mischung von Qualitäten der drei guten Regierungs­ fonnen des Zyklus verstanden werden. Herfried Münkler interpretiert die Misch­ verfassung treffend als "die beste Antwort auf den Imperativ der Selbsterhaltung und Dauerhaftigkeit des Staates" und als eine "listige Lösung", weil sie die "Kräf­ te der Geschichte" einbezieht und es ihr durch die Mischung gelingt, dem "steten Auf und Ab zwischen guten und schlechten Verfassungsformen zu entgehen".48 Machiavellis verfassungstheoretische Reflexionen könnten so missverstanden werden, dass er die Alleinherrschaft wegen ihrer Kurzlebigkeit in Bausch und Bogen verwirft, was natürlich die Frage aufwürfe, warum er den

Principe

dann

überhaupt geschrieben hat. Auch wenn wir das zentrale Problem des Verhältnisses von

Principe und Discorsi,

von Alleinherrschaft und Republik, noch eingehender

analysieren werden, sei hier bereits eine erste Antwort versucht. Machiavelli hat ein klares Bewusstsein von der Tatsache, dass politisches Handeln und Regieren immer in einer bestimmten Situation und unter bestimmten zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen stattfindet. Diese Tatsache erfasst er mit dem für sein politi­ sches Denken zentralen Tenninus der "qualita de' tempi", der "Eigenschaften der Zeiten" oder der "Zeitumstände". Politisches Handeln, das erfolgreich sein möch­ te, muss mit den zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen übereinstimmen49 Be­ findet sich ein Territorium in einem anarchischen Zustand und damit am untersten Ende des Verfassungskreislaufs, dann bedarf es eines Alleinherrschers, zumindest o aber eines alleine handelnden Verfassungsstifters und Refonnators5 , um eine neue politische Ordnung zu errichten. Das begründet Machiavelli nicht bloß mit den Gesetzmäßigkeiten des Verfassungskreislaufs, sondern auch mit dem Argu­ ment: "Viele Köpfe sind nicht dazu geeignet, Ordnung in ein Staatswesen zu bringen, weil sie bei der Verschiedenheit der Meinungen, die von allen Seiten geltend gemacht werden, das Beste für dieses nicht zu erkennen vennögen". 51

47 48 49

Machiavelli Discorsi 1977, I. 2, S. 12 f, 15. Münkler 1984, S. 376 f, 380; zu einer diachronen Studie zur Mischverfassung Riklin 2005. Machiavelli erläutert den Tenninus qualitd de ' tempi mit der ersten Unternehmung des unge­ stümen Papsts Julius 11. gegen Bologna, die erfolgreich war, weil sie mit den Zeitumständen übereinstimmte. Diese konkretisiert er mit der Haltung und dem Verhalten der Mächte Spani­ en, Venedig und Frankreich, die für den Ausgang der Unternehmung relevant waren

chiavelli Principe 2003,XXV, S. 50

196

f; vgl. Machiavelli Discorsi 1977,III.

In geistiger Nähe zu den Gedanken Rousseaus zum

(Ma­

9, S. 313-316).

legislateur verwendet Machiavelli für die

Figur des Gesetzgebers, Staatsgründers und Verfassungsreformators die Begriffswendungen "savio datore di 1eggi" republica"

(ebenda,

(Machiavelli Istorie Fiorentine

293); "ordinatore di republica" 51

1986, III. 1, S. 413); "fondatore di una

VII. 1, S. 641); "datore delle leggi"

Machiavelli Discorsi

(ebenda, I.

1977, I. 9, S. 37.

2, S. 65). Vgl.

(Machiavelli Discorsi Kersting 2004.

1996,11. 1, S.

19

Einleitung

Überträgt man Machiavellis Kreislauftheorie auf das ihm zeitgenössische Ita­ lien, dann ist dieses Territorium am untersten Ende des Kreislaufs und in einem anarchischen Zustand zu verorten. Daher bedarf es eines tüchtigen Alleinherr­ schers als Ordnungsstifter, der den Staat jedoch spätestens bei seinem Tod in eine Republik zu überführen hat. Der Florentiner erklärt: ,,1.1ag ferner auch ein einzelner die Fähigkeit haben, eine Verfassung zu geben, so ist diese doch nicht von langer Dauer, wenn ihre Erhaltung nur auf den Schultern dieses einzelnen 1.1annes ruht, ist ihre Erhaltung aber der Sorge vieler anvertraut, so wird sie dauern. ,,52

Machiavellis Einschätzung des Verhältnisses von Republik und Monokratie im Geschichtsverlauf kommt auch in seinem

mortem iuniorii Laurentii Medices

Discursus florentinarum rerum post 1 5 19 zum Ausdruck. Diese Schrift ist in Leo X. und Kardinal Giulio de' Medici ge­

von

Form eines Memorandums an Papst

richtet. Angesichts des Mangels an männlichen Erben in der direkten Nachfolge­ linie der Medici sind die beiden nach dem unerwarteten Tod Lorenzinos de' Me­ dici

1 5 19,

Enkel Lorenzos des Prächtigen und Adressat des Principe, die de facto

Herrscher der Stadt. Machiavelli schlägt im

Discursus ein

ingeniöses Reformpro­

gramm und eine detaillierte Verfassungsordnung für Florenz vor. Diese verbürgt eine sichere Machtposition für die beiden Mediciprälaten und ihr Haus, soll die Stadt jedoch nach dem Ableben der beiden zur republikanischen Ordnung zurück­

führen.53 hn Einklang mit seiner prinzipiellen Parteinahme für die Republik for­ muliert Machiavelli in den Discorsi eine Reihe von Argumenten dafür, dass "Völ­ ker besser regieren als Fürsten". 54 Dennoch hält er die Republik nur für die relativ beste Regierungsform, weil die zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen eine temporäre Alleinherrschaft erforderlich machen können. Die Republik hat gegenüber der Alleinherrschaft noch den weiteren Vorteil, dass sie sich grundsätzlich besser den

qualita de ' tempi

anpassen kann. Machia­

velli begründet dies mit seiner anthropologischen Überzeugung, dass alle Men­ schen eines von zwei gegensätzlichen Temperamenten haben, die sie natürlich dazu neigen, entweder mit Besonnenheit oder mit Ungestüm

52 Ebenda; vgl. I. 18, S. 66-67. 53 "Betrachtet man diese ganze

(I 'uno con respetto,

Verfassung als Republik und ohne Eure Gewalt, so scheint ihr

nichts zu mangeln [ . . . ]. Betrachtet man sie aber während des Lebens Eurer Heiligkeit und Se. Ehrwürden Monsignores, so ist sie eine Monarchie. [ . . . ] Ich bin überzeugt, daß durch die Gewalt Eurer Heiligkeit, die alles leiten würde, die gegenwärtige Verfassung sich so mit der vorgeschlagenen, und diese mit jener verschmelzen würde, daß sie eines und dasselbe und ein einziger Körper würden

zum

Frieden der Stadt und

zum

ewigen Ruhm Eurer Heiligkeit; denn

Eure Gewalt könnte immer den Mängeln, die entstehen sollten, abhelfen. Ich glaube, daß die größte Ehre, die der Mensch erwerben kann, die ist, welche ihm sein Vaterland freiwillig ent­ gegenbringt. Ich glaube auch, daß das größte und Gott wohlgefälligste Gute, das man tun

kann, das ist, welches man seinem Vaterland tut. [ . . . ] Von so vielem Glück, das Gott Eurem Haus und Eurer Heiligkeit selbst geschenkt, ist daher das das größte, daß er Euch Macht und Gelegenheit gibt, Euch unsterblich

zu

und Großvaters weit zu übertreffen"

54 Machiavelli Discorsi 1977, I. 58,

S.

machen und auf diesem Weg den Ruhm Eures Vaters

(Machiavelli 2006,

152.

S. 938 f). Machiavelli formuliert die Argumente für die Über­

legenheit der Regierung der Völker in dem angegebenen Kapitel.

20

Manue1 Knoll/Stefano Saracino

I 'uno con impeto)

zu handeln 55 Auf Grund dieser natürlichen Neigung und der

unüberwindlichen menschlichen Schwierigkeit, "einen Weg zu verlassen, den man immer mit Erfolg gegangen ist, die Zeitumstände statt eines ungestümen ein bedächtiges politisches Vorgehen erfordern oder umgekehrt. Dagegen kann sich eine Republik je nach den

de ' tempi

qualita

die verschiedenen Veranlagungen ihrer Bürger zu Nutze machen. Das

erläutert Machiavelli mit den römischen Feldherren Fabius Maximus und Scipio, deren gegensätzliches Vorgehen gegen die Karthager jeweils den Zeitumständen angemessen und daher erfolgreich war.

Aus den vorangehenden Reflexionen

schließt der Florentiner, dass eine Republik "eine längere Lebensdauer und länger Glück" haben wird als eine Alleinherrschaft.57 Nach Machiavellis Auffassung ist die menschliche Natur in ihrem Kern un­ veränderlich. Das bedeutet jedoch nicht, dass Machiavelli ein statisches Men­ schenbild entwickelt. Der Mensch befindet sich in seinem Entwicklungsprozess vielmehr im dynamischen Spannungsverhältnis zwischen Tüchtigkeit Verfall

(corruzione)

58

(virtu)

und

Für einen erfahrenen Politiker oder einen politischen Theo­

retiker ist es empfehlenswert, mit der menschlichen Natur zu rechnen und Hand­ lungsalternativen auch auf Grund von anthropologischen Einsichten zu entschei­ den. Machiavellis Auffassung von der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur bedeutet vor allem, dass die Menschen zu allen Zeiten dieselben Leidenschaften (appetiti, desideri, umori, passioni) haben 59 Als die fundamentalen menschlichen Leidenschaften dürfte er den Ehrgeiz

(ambizione)

und die Habgier

(avarizia)

an­

sehen. Zielt der Ehrgeiz vor allem auf Ruhm und Ehre, so die Habgier auf Reich­ tum und Güter 6 0 Als weitere zentrale natürliche Begierde der Menschen sieht Machiavelli ihr Verlangen an, zu herrschen und zu befehlen sowie Eroberungen zu machen 61 Ist Machiavellis Menschenbild auch als ein egoistisches zu deuten, so handelt es sich jedoch nicht notwendig um ein materialistisches. 6 2 Von den zwei Hauptleidenschaften der

ambizione

und der

avarizia,

ist nur letztere eindeu­

tig im Sinne einer pleonektischen Neigung, eines Mehr-Haben-Wollens an mate­ riellen Gütern zu deuten. Die von Leo Strauss und seinem Schüler Harvey C. Mansfield angeregte Interpretation, die Machiavellis Menschenbild mithilfe der 55

Machiavelli Principe

2003, XXV, S. 194

f;

vgl. dazu

Machiavelli

Discorsi 1977, III. 9, S.

313-315. 57

Ebenda. Ebenda 1977, m

58

Vgl. zum Kontrast zwischen der

56

9, S 313-316.

virtu

der alten Römer und der

cOJTUzione

der zeitgenössi­

schen Italiener Knall 2010 in diesem Band S. 108. 59 60

61 62

Ebenda 1977,I. Vorwor� I. 39, III. 43; S. 5, 107 f, 396; vgl. dazu Münkler 1984, S. 251-256, Knall in diesem Band S. 99-111. Machiavelli Discorsi 1977, I. 37, S. 100 f; Lehrgedicht über den Ehrgeiz, in: Haeges 2006, S. 144-150; Machiavelli Principe 2003,XXV, S. 194 f; vgl. hierm Machiavelli Discorsi 1977, 11. Vorwort, S. 163. Machiavelli Discorsi 1977, I. 1, III. 4; S. 9, 283; Machiavelli Principe 2003, III, 26 f Die marxistischen Interpretationen erscheinen diesbezüglich verkürzt, so die Deutung Machiavellis als Sprachrohr des frühkapilalistischen Bürgertums bei

Harkheimer

1987 und

ebenso Althussers 2003 Rekonstruktion eines "aleatorischen Materialismus" bei Machiavelli.

21

Einleitung

platonischen Seelenlehre und der seelischen Eigenschaft des

thymos

(Zorn, Ehr­

geiz) entschlüsselt und Machiavellis Denken als "politische Thymotik" auffasst, ist durchaus attraktiv. Sie entgeht der verkürzten Deutung des Menschen bei Ma­ chiavelli als homo oeconomicus und ist ein Gegenmittel gegen liberalistische Übe. . nnterpretatlOnen. 63 Die Einsichten in die unveränderliche menschliche Natur stellen für Machia­ velli wie der Kreislauf der Verfassungen geschichtsimmanente Notwendigkeiten dar.

Die

(necessita)

Annahme,

dass

in

der

Geschichte

eine

derartige

Notwendigkeit

existiert, war von herausragender Bedeutung in einer Welt, die seit

dem Spätmittelalter als weitgehend undurchschaubar und kontingent angesehen wurde. Ennöglichte sie es doch dem Florentiner, wissenschaftliche Aussagen über die Politik zu machen und allgemeine Regeln Handeln aufzustellen 64

(regole generali)

für das politische

Die philosophischen Positionen des Spätmittelalters, die in der Renaissance die Perspektive auf die Welt und die Wissenschaft stark beeinflussten, waren der Voluntarismus des Johannes Duns Scotus von Wilhelm von Ockham (ca. chen Allmacht

( 1 265-1308) und 1347). Nach Scotus

1280 - ca. (potentia Dei absoluta), dass

der Nominalismus folgt aus der göttli­

Gott die Gesetze der Schöpfung je­

derzeit ändern kann. Das bedeutete gegenüber dem traditionellen mittelalterlichen Weltbild, dass die Welt nicht mehr als notwendige Ordnung angesehen werden konnte und die Wissenschaft vor das gravierende Problem gestellt wurde, wie Erkenntnisse über einen kontingenten Gegenstand möglich sein können. Wilhelm von Ockham erlangte seine zentrale philosophiegeschichtliche Bedeutung vor allem dadurch, dass er den Jahrhunderte währenden Streit um die Universalien, die Allgemeinbegriffe, zugunsten des Nominalismus entschied 65 Vor Beginn des Universalienstreits herrschte lange das durch Platon und Augustinus geprägte be­ griffsrealistische Verständnis, dem zufolge den Allgemeinbegriffen als platoni­ schen Ideen oder Gedanken Gottes eine selbstständige, den Einzeldingen vorran­ gige Wirklichkeit zukomme. Nach Ockham dagegen entspricht den Allgemeinbe­ griffen nichts an sich selbst bestehendes Reales. Statt dessen versteht er sie ledig­ lich als natürliche Zeichen für die individuellen Dinge der Welt. Die Konsequenz seiner Lehre war, dass die aristotelische Einheit von Sprache und Welt aufgelöst und das Denken mit einer unhintergehbaren Differenz von Begriff und Wirklich­ keit konfrontiert wurde 66

63

Vgl.

Strauss 1958, S.

288-291; Mansfield 1996, S. 40,44; und auch Saracino 2010. Für diese

Sichtweise besitzt Machiavellis Berufung auf das heroische Bürgerethos der heidnischen An­ tike in den Discorsi eine kardinale Bedeutung; vgl.

Machiavelli Discorsi 1977,11. 2, S. 171 f; (patrimonio) hin wenn sie sehen, daß es für ei­ genen Ruhm, eigne Ehre und Größe geschieht" (Machiavelli 1934, S. 256). Vgl. hierzu Kersting 1988, S. 246; Münkler 1984, S. 246-250, 254 f, 338- 380; Buck 1985, S. 156 f, 161; Knoll in diesem Band. Vgl. zum Voluntarismus und Nominalismus Kessler 2008, S. 12 f, 18, und zum Universali­ enstreit Libera 2005. "Der begriffliche Terminus (terminus conceptus) ist eine Intention oder ein Eindruck der Seele (intentio seu passio animae), der von Natur aus etwas bedeutet (naturaliter significans) "Denn gerne geben die Menschen das Ihrige

64 65 66

22

Manuel Knoll/Stefano Saracino

Die Theologie der göttlichen Allmacht trat notwendig in Konflikt mit dem mittelalterlichen Bild des Menschen als

viator mundi,

"der nach der gottgewollten

Ordnung seinen sicheren Weg zum jenseitigen Ziel geht". 67 Die göttliche Vorse­

hung, die providentia Dei, die die Geschichte nach dem mittelalterlichen Weltbild leitete, wurde in Anbetracht von Gottes Allmacht und unerforschlichem Rat­ schluss fragwürdig. Der Mensch konnte nicht mehr auf die

providentia Dei

als

Garanten "seiner Geschichte vertrauen und auf eine endlich auch seiner Vernunft

einsichtige Integration des Zufalligen, der fortuna, in diese providentia hoffen". 68 Seit Petrarca

(1304-1374),

dem Begründer des Humanismus, kam es zu einer

ausgeprägten Wiederbelebung des Kults der römischen Schicksalsgöttin Fortuna, die als unberechenbare und launische Lenkerin des menschlichen Geschicks ver­ standen wurde. Wird die göttliche Vorsehung unerkennbar, "ist die Geschichte für den Menschen ein Spielball der Fortuna, wenn es ihm nicht gelingt, sie als Ergeb­ nis seines Tuns, seiner eigenen virtus zu begreifen und ihre Gestaltung selbst zu leisten". 69 Als Humanist war Machiavelli der "Gegensatz von virtus und fortuna als Raum menschlichen Handeins" nicht bloß geläufig, er stellte ihn sogar ins Zentrum seiner Interpretationen und Analysen der geschichtlichen Erfahrung. For­ tuna ist für ihn "nicht mehr durch das Vertrauen in die hinter ihr stehende göttli­ che Vorsehung gemildert", sondern wird zur "Metapher für die schlechthinnige Wandelbarkeit und Unbeständigkeit der geschichtlichen Welt".7 0

In seinem Lehrgedicht über die Fortuna

versteht Machiavelli diese als gesetz­

loses und unberechenbares Schicksal, das die Menschen durch ihre ihnen günsti­ gen oder ungünstigen Wandlungen zum Glück oder ins Verderben führt.71 Im vergleicht er sie mit einem reißenden und gewaltigen Strom, der an­ schwellen und "die Ebenen überfluten, Bäume und Häuser niederreißen" kann.72

Principe

Trotz der natürlichen Gewalt der Fortuna ist der Mensch ihr nicht völlig ausgelie­ fert. In Anbetracht von dessen freiem Willen

(libero arbitrio) hält

es Machiavelli

für durchaus möglich, dass die Fortuna "zwar zur Hälfte Herrin über unsere Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder beinahe so viel unserer Entscheidung über­ läßt, baut; und sie zeigt ihre Macht dort, wo nicht genügend Tüchtigkeit

(virtu)

ist, ihr

zu widerstehen. Hätte Italien genug Tüchtigkeit und damit Dämme und Deiche

oder rnitbedeutet, Teil einer mentalen Aussage sein kann und für das Bedeutete supponieren kann" (Ockham 1987, S. 1 6 f). Vgl. zu Ockham Beckmann 1 995 und zu dem Modell des Aristoteles von dem Verhältnis von extrarnentalen Tatsachen, Denken, Stirnrnlauten und

67 68 69 70

Schrift Aristoteles 1958, 1 6 a 3-8, S. 95. Keßler 2004, S 144, vgl. 146. Ebenda, S. 147. Kessler 2008, S. 23 f Ebenda, S. 57 f ; zu den moralphilosophischen

Konsequenzen des mit Scotus und Ockham

eingeleiteten Umbruchs in der Renaissance und im Humanismus und zu dessen Bedeutung

für Machiavelli siehe Keßler 2010 in diesem Band. 71 Machiavelli Lehrgedicht über die Fortuna i n Hoeges 2006, 72 Machiavelli Principe 2003, XXV, S. 192 f 73 Ebenda.

S.

1 1 4-1 19.

23

Einleitung

besessen, so beklagt Machiavelli, dann wäre es nicht von den fremden Truppen überschwemmt worden oder die Überschwemmung hätte zumindest nicht so gro­ ße Veränderungen nach sich gezogen.74 Die vorangehenden Ausführungen zeigen, dass die Termini "fortuna" und "virtu", die für Machiavellis politisches Denken zentral sind, zusammenhängen. Der Begriff "virtu" ist dabei nicht im Sinne der christlichen Tugendlehre, sondern der griechischen "arete" und der römischen "virtus" als "Tüchtigkeit" zu verste­ hen. In "virtus" steckt das Wort "vir" für "Mann", so dass der Terminus auch mit " Mannhaftigkeit" , " Tapferkeit" , " Mut" , " Tatkraft" , " Entschlossenheit" , oder im übertragenen Sinnen mit "Kraft", "Vortreillichkeit" oder "Vorzüglichkeit" über­

setzt werden kann 75 Zur

virtu gehören für Machiavelli auch die List, die Voraus­ sicht und die Klugheit (prudenzia). Insbesondere benötigt ein Staatsmann die virtu, um die Gelegenheit (occasione) wahrnehmen zu können, worunter Machia­ velli schnell wechselnde günstige Gegebenheiten für das politische Handeln ver­ steht. Die Gelegenheit ist von der Fortuna abhängig, die sie dem politisch Han­ delnden darbieten kann. Hat dieser nicht genug

um sie rasch erkennen und 7 ergreifen zu können, dann ist sie wieder verschwunden. 6

virtu,

Kehren wir noch einmal zur Frage nach einem möglichen systematischen Zu­ sammenhang zwischen den prima facie höchst widerspruchsvoll erscheinenden Schriften Machiavellis, zwischen Wechselverhältnis zwischen

virtu

Principe und Discorsi zurück. Das geschilderte und fortuna, auf dem Machiavellis Verständnis

von Ordnung und sein Weltbild gründen, ist in beiden Schriften ähnlich ausge­ prägt77 Allerdings benutzt Machiavelli den Begriff virtu im Principe in einer anti­ traditionellen Bedeutung als physikalische und instrumentell-rationale Hand­ lungsmacht, die der Tradition politischen Denkens noch stärker zuwiderläuft als der Begriffsgebrauch in den

Discorsi.

Die

Discorsi

gründen auf einem dem

74

Ebenda.

75

Zu den heterogenen und antitraditionellen Bedeutungen des Tenninus

virtu bei Machiavelli Whitfield 1943; Wood 1967; Geerken 1970; Hannaford 1972; Pocock 1975, S. 206211; Skinner 1978, S. 128-138, 175 f; Berlin 1982; Münkler 1984, S. 313-328; ders. 1991. Skinner schlägt die scharfsinnige Interpretation vor, dass Machiavellis virtu-Begriff in partiell

siehe

affirmativer, partiell negierender Beziehung

zu

den römisch-republikanischen Kardinaltugen­

De officiis zu verstehen ist. Machiavelli übernehme als essentielle politische Tüchtigkeiten die Selbstbeschränkung (temperantia), die Tapferkeit (jortitudo) und die Klug­ heit (sapientia), wende sich jedoch radikal von Ciceros Verständnis der Gerechtigkeit (iustitia) als höchster Tugend ab; vgl. Cicero 1976, I. 18-151 und Skinner 2002. "According den aus Ciceros

to Machiavelli we stand in need of three qualities above all: courage to defend our liberty; ternperance and orderliness to rnaintain [ree government; and prudence to direct our civic and military undertakings to the best effect. [ . . . ] this is to speak of three of the four 'cardinal' vir­ tues invariably singled out by the Roman historians and moralists. [ . . . ] It is true that Machia­ velli's analysis differs [rom Cicero's in one irnrnensely irnportant respect. [ . . . ] He erases the quality of justice, the quality that Cicero in

De Officiis

had described as the crowning splen­

76

(Skinner 2002, S. 207). Machiavelli Principe 2003, III, VI, S. genheit in Hoeges 2006, S. 137 f

77

Eine aufschlussreiche Rekonstruktion von Machiavellis, auf Prämissen der vomeuzeitlichen

dour of virtue"

20 f, 42 f; Machiavellis

Lehrgedicht über die Gele­

Medizin und Astrologie beruhenden Auffassung der Welt und ihrer Ordnung bei P arel

1992.

24

Manuel Knoll/Stefano Saracino

Principe

entsprechenden anthropologischen und machttheoretischen Fundament.

Ferner nimmt in den halten des

Discorsi die Republik als Ganze einen dem Herrschaftsver­ principe nuovo entsprechenden pleonektischen Zug an und soll nach

Wachstum des Territoriums und der Bevölkerung streben 78 Alles, was uns Ma­

chiavelli an Gedanken zur Außendimension des Staates, zum zwischenstaatlichen Bereich mitteilt, deutet darauf hin, dass Krieg und Eroberung für ihn normale und notwendige Mittel der Politik darstellen.79 Damit nimmt er in leicht modifizierter Form die Clausewitzsche These, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit an­ deren Mitteln, vorweg. Machiavellis Betrachtungen zum Kriegswesen, seine For­ derung eines staatlichen Monopols auf die Kriegsführung und der Schaffung von Bürgermilizen, gründen in beiden Schriften auf denselben theoretischen Grundan­ nahmen, möchten sowohl für die Republik wie für das Fürstentum Geltung bean­ spruchen. Neben den offen ausgesprochenen positiven Folgen der Bewaffnung der Untertanen durch den neuen Fürsten mahle man sich ferner die vom Florentiner unausgesprochenen möglichen negativen Konsequenzen aus. Bewaffnete Völker bringen den Staat gemäß der inneren Logik machiavellischen Denkens dem re­ publikanischen Ordnungsideal unweigerlich näher.8 0 Dies hängt wiederum mit dem bei Machiavelli häufig anzutreffenden Gedanken des Übergangs zwischen Monokratie und Republik zusammen. Machiavellis Überlegungen zum Kriegswesen sind zudem mit der Schrift in Verbindung zu setzten, die bereits zu seinen Lebzeiten

L 'arte della Guerra.

1520

gedruckt wurde:

Titel und Inhalt der Schrift gründen auf der sprachlichen

Doppeldeutigkeit des Wortes "arte", das im Italienischen sowohl die Bedeutung der Kunstfertigkeit und Virtuosität, aber auch des Berufs und wirtschaftlichen Gewerbes besitzt. Die Virtuosität in der staatlichen Kriegsführung durch Bürger­ milizen ist nach Machiavelli eine zentrale Prämisse des Wohlergehens von Re­ publiken und Königreichen ("republiche e regni").

Die Kriegsführung durch

Söldnerheere, in der Söldner den Waffenkampf als Handwerk und Beruf betreiben ("arte dei soldo"; "soldato"), aus Gründen des Broterwerbs, oder erst recht des Profits und der Bereicherung, ist hingegen Indiz höchster corruzione und die größte politische Malaise des eigenen Zeitalters81 Die wirtschaftliche Existenz von der bürgerlichen Wehrpflicht des Kombattanten zu trennen, ist ein gleichsam wichtiges Prinzip von Machiavellis politischem und militärischem Denken. Machiavellis Reflexionen über die Alleinherrschaft verweisen auf seine Präferenz für die

relativ

beste Verfassungsordnung der Republik. Sein Republikanismus

stellt allerdings ebenso unmissverständlich heraus, dass die

78

virtu

-

im Sinne von

Vgl. hierzu die Untersuchung der Bedeutung imperialer Herrschaftstheorie und allgemein der

imperi bei Machiavelli Portinaro 2010 in diesem Band. 79

Virolis Behauptung, Machiavelli sei eigentlich ein Friedensdenker und reflektiere den Krieg

ultima ratio, erscheint ders. 2004, S. 28.

stets als 164; 80

uns als Verharmlosung;

Viroli

2008, S. 58 ff;

ders.

1992, S.

"Niemals hat ein neuer Herrscher seine Untertanen entwaffnet; vielmehr hat er sie, wenn er sie unbewaffnet vorfand, stets mit Waffen versorgt; indem du ihnen nämlich Waffen gibs� werden diese Waffen zu deinen eigenen" (Machiavelli Principe 2003,XX, S. 165).

81

Machiavelli 2006, I, S.

718; vgl. Pocock 1975, 199 ff.

25

Einleitung

Machiavellis antitraditioneller Begriffsauffassung - von einzelnen herausragenden Persönlichkeiten für die Republik unverzichtbar ist. Die Bedeutung der in einer Person konzentrierten

virtu

bei der Gründung einer Republik, bei der Überwin­

dung von Krisen und im Kriegsfall erlaubt wie auch Machiavellis Behandlung der Rolle "funktionaler" Monarchen (etwa von Feldherren, Konsuln, Diktatoren, Ge­ setzgebern und Verschwörern) in den Discorsi einen weiteren Brückenschlag zum

Principe.

82

Es liegen somit vielfaltige Gründe vor, die es erlauben, die theoreti­

sche Einheit von Machiavellis Oeuvre zu betonen. Diese Gründe erlauben es auch, den beiden entgegengesetzten und gleichermaßen verkürzt erscheinenden Stereotypen zu entgehen, die die Rezeptionsgeschichte des

Principe

und der

Grundintention Machiavellis hervorgebracht hat: Einerseits, die Deutung, es hand­ le sich um ein amoralisches Handbuch für Tyrannen (Pole, Gentillet, Friedrich

11.),

andererseits der entgegengesetzte Gemeinplatz, der

Principe

sei eine Schrift,

die den republikanischen Bürger und allgemein die in der Politik Benachteiligten und Unterdrückten über das tyrannische Wesen der Herrschenden aufklären wolle. So oder ähnlich wurde das letztere Stereotyp von republikanischen Denkern wie Traiano Boccalini, Jean-Jacques Rousseau und Baruch de Spinoza sowie bei Mar­ xisten wie Antonio Gramsci und kürzlich im neomarxistischen Ansatz von Mi­

chael Hardt und Antonio Negri ausgesprochen83

2.

Methodische Ausrichtung des Sammelbandes - Einführung in die Beiträge

Nach dieser kurzen Skizze zum Werk des Florentiners und der perspektivischen Vielfalt der Machiavellirezeption und Machiavelliforschung möchten wir im Fol­ genden einige methodische Überlegungen anstellen und eine Einordnung der Bei­ träge des Bandes versuchen.

In

den letzten Jahrzehnten ist im deutschsprachigen

Raum die Erforschung des politischen Denkens der Renaissance und des Huma­ nismus in den wissenschaftlichen Disziplinen der Philosophie, der Politikwissen­ schaft und der Geschichtswissenschaften in die Defensive geraten. Gleiches gilt für die Beschäftigung mit Machiavelli. So lassen sich nur wenige Forschungsbei­ träge zu Machiavelli nennen, die in den letzten Jahrzehnten aus dem deutschspra­ chigen Raum mit internationalem Rang hervorgetreten sind.84 Einen maßgebli-

82

Als Gegenstand des dritten Buches der

Discorsi

wählt Machiavelli die Beschäftigung mit

großen Einzelpersonen ("uomini particulari"), die an der Größe Roms maßgeblich Anteil hät­

Machiavelli 1977, III. 1, S. 278 f; zur Institution der Verfassungsdiktatur in Rom ebenda, I. 34, S. 94-97; zu den Verschwörungen das bei weitem längste Kapitel der Discorsi ebenda, III. 6, S. 285-309. Boccalini 1910, I. 89, S. 326-328; Spinoza 1994, V. 7, S. 67; Rousseau 1977, S. 78; Gramsci 1971, S 25 f; HardtiNegri 2004, S 49. Vor allem die Arbeiten von Münkler 1984, 1987 und Hoeges 2000, 2006 sind hier zu nennen. Es sei auch verwiesen auf die Sammelpublikation zu Machiavelli in Münkler/Voigt/Walken­ haus 2004. Machiavelli wird in gegenwärtigen Arbeiten erforscht, die sich mit dem weiteren ten, s.

83 84

Umfeld des politischen Denkens und der Philosophie der Renaissance und von Florenz ausei-

26

Manuel Knoll/Stefano Saracino

chen Anteil daran mag der im geisteswissenschaftlichen Bereich spürbare Trend zur Versozialwissenschaftlichung und zur empirischen Ausrichtung haben. hn Falle der Politikwissenschaft kommt ein Hang zur Enthistorisierung hinzu, die die Beschäftigung mit der vormodernen politischen Philosophie zur bloßen "Ideenge­ schichte", zum gelehrten Präludium in aktuellen und zeitbezogenen wissenschaft­ lichen Debatten deklassiert. Der vorliegende Band ist im Zusammenhang mit ei­ ner interdisziplinären Tagung entstanden, die im Dezember stattgefunden hat.

for Politische Bildung Tutzing

2009

in der Akademie

Philosophen, Politikwissen­

schaftler, Historiker und Literaturwissenschaftier waren hier zusammengekom­ men, um auch der Frage nach der zukünftigen Entwicklung der Machiavelli­ forschung kritisch nachzugehen. Der vorliegende, aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangene Band möchte das politische Denken Machiavellis vor allem aus seiner Zeit heraus begreifen. Um Machiavelli und allgemein dem politischen Denken

der

Renaissance

gerecht

werden

zu

können,

empfiehlt

sich

ein

kontextualistischer Ansatz, der die semantischen, die begriffs- und diskursge­ schichtlichen sowie die historischen Kontexte politischer Ideen und Begriffe be­ leuchtet.85 Auf dieser Grundlage untersucht die erste Sektion des Bandes Machia­ velli aus der Perspektive seines historischen Horizonts. Sie versucht Machiavelli aus den Wandlungen im moralphilosophischen und politischen Denken sowie den politischen Ordnungsvorstellungen seiner Zeit heraus zu fassen. Eckhard

Keßler

untersucht

in

seinem

Beitrag

das

humanistische

Umfeld

Machiavellis und genauer seine moralphilosophischen Vorläufer einer innovati­ ven, aus der Krise des späten Mittelalters hervortretenden Moralvorstellung. Ma­ chiavelli lässt sich mit einer auf

trial and error gegründeten,

von der rhetorischen

Argumentation "in utramque partem" geprägten experimentellen Moral- und Ord­ nungsvorstellung verbinden, wie sie von maßgeblichen Humanisten des Tre- und Quattrocento entwickelt und deren Grundstein von Petrarca gelegt wurde. Keßler legt dar, dass Machiavellis Moralvorstellung und Methode durchaus auf einer Li­ nie mit dieser humanistischen Tradition liegt. Thomas Maissen beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Machiavellis Staats­ begriff.

Er verbindet seine akkurate, begriffshistorisch und begriffstheoretisch

ausgerichtete Analyse des Terminus "stato" bei Machiavelli mit der Frage nach dem Verständnis politischer Ordnung im Denken des Florentiners. Maissen er-

nandersetzen oder im Kontext der Republikanisrnusforschung stehen, etwa in 1995,2002, 2004, 2005, 2007; 85

Der

in philosophischen

Reinhardt

Höchli 2005; Kessler 2008.

und politiktheoretischen Debatten prominent verhandelte begriffsge­

schichtliche Ansatz der , Cambridge Schoo!' fordert einen solchen Kontextualismus. Vgl. die maßgeblichen methodologischen Texte von Quentin Skinner und John Pocock nun in deut­ scher Übersetzung bei MuslowiMahler 2010 und die von Skinner betreute Schriftemeihe

Ideas in Context.

Das von Henning Ottmann vorgeschlagene methodische Konzept "politi­

sehen Denkens" fordert einen historischen und interdisziplinären Zugang. Neben der Ausei­ nandersetzung mit den Klassikern der politischen Philosophie regt es zur kontextuellen Erfor­ schung vielfältiger Textgattungen und Medien (z. B. Kunst, Literatur, Architektur, Pamphle­ tistik) an, in denen sich politisches Denken geschichtlich manifestiert, vgl. 1-6.

Ottmann

2001, S.

27

Einleitung

kennt in Machiavellis Begriffsprägung sowohl Elemente des N euen wie transitori­ sche Züge. Die Entwicklung des Begriffs befindet sich bei ihm noch im Fluss ebenso wie auch die realgeschichtliche Ausbildung des neuzeitlichen Staates. Machiavellis Gebrauch von "stato" ist zwar immer noch stark polysemisch und uneinheitlich, bewegt sich aber - etwa im Vergleich zum mittelalterlichen

status -

verstärkt in einem politisch-staatsbezogenen Bedeutungsfeld. Eine interessante und zu Unrecht immer noch vernachlässigte Frage in Bezug auf Machiavellis politisches Denken betrifft dessen literarische Form und wissen­ schaftliche Methode. Sie ist Gegenstand der zweiten Sektion des Bandes.

In

der

Wahrnehmung Machiavellis herrscht nach wie vor das hartnäckige Stereotyp vom pragmatischen und methodisch unprätentiösen Politikberater und Schriftsteller politischer Prosa vor86 Es verdeckt den literarisch-ästhetischen Charakter, die Formbeherrschung und Textvirtuosität Machiavellis. Diese Qualitäten schlagen sich sowohl in seinen politischen Hauptwerken nieder als auch in der Fülle litera­ rischer und poetischer Werke aus der Feder Machiavellis - man denke etwa an seine Lehrgedichte über den Ehrgeiz, die Gelegenheit, die Fortuna und die Un­ dankbarkeit

(Dell 'ambizione, Dell 'occasione, Di fortuna, Dell 'ingratitudine), an L 'asino oder an seine Komödien (Mandragola,

seine satirische Versdichtung

Clizia) 87

Machiavelli hat mit den humanistischen Gelehrtenkollegen seiner Zeit

gemeinsam, dass sein politisches Denken von seiner literarisch-rhetorischen Aus­ bildung und von einem Textverständnis geprägt ist, das von Ästhetik und Kunst­ sinn bestimmt wird88 Dirk Hoeges hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass der literarische Charakter, der Wille und die Fähigkeit zur Formbeherrschung eine einheitsstiftende Klammer in Machiavellis heterogenem und widerspruchsvollem Werk darstellt 89 In seinem Beitrag im vorliegenden Band liefert Hoeges neue Einsichten und Argumente, die die Wahrnehmung des

Principe

als Kunstwerk

nahelegen. Im Kompositionsprozess des Principe folgt Machiavelli als Autor me­ thodischen Imperativen und formalen Desideraten, die der Dichtung und Rhetorik, der Mnemonik und Architektur, aber auch der Mathematik und der Technik der Wolltuchproduktion

(arte della lana)

entstammen und allesamt dem humanisti­

schen Wissensfundus Machiavellis zur Verfügung standen.

86

So etwa bei Kersting 2006, S. 49-51.

87

Dies wurde von Hoeges 2000, 2006 herausgestellt. Die Lehrgedichte Machiavellis finden sich in neuer deutscher Übersetzung in Hoeges 2006.

88

Machiavellis Selbstverständnis bei der Komposition politischer Werke wird nicht weit ent­ fernt liegen von demjenigen Castigliones, der sein Buch über den Hofmann mit einern Ge­ mälde aus der Kunstwerkstatt Raffaels oder Michelangelos vergleicht: "Ich sende Euch dieses Buch als wäre es ein Gemälde, auf dem der Hof von Urbino abgebildet ist, nicht aus der Hand Raffaels oder Michelangelos, sondern eines gemeinen Künstlers, der nur die Grundlinien

89

zu

r ("mandovi questo libro come un ritratto di pittura della corte d'Urbino, non di mano di Rafaello 0 Michel Angelo, ma di pittor ignobile e che solamente sappia tirare le linee principali, senza adomar la verita de vaghi colori 0 far parer per arte di prospettiva quello ehe non ,n (Castiglione 1987, S. 50; Ü bersetzung M.K. und S.S.). Vgl. Hoeges 2006, S. 113. zeichnen vermag [ . . .

28

Manuel Knoll/Stefano Saracino

Das besagte Stereotyp ist zusammen mit dem Usus, Machiavelli an der Mess­ latte des hobbesschen Verständnisses einer Politikwissenschaft

more geometrico

zu messen, ursächlich dafür, dass die Wissenschaftlichkeit von Machiavellis Werk oft unterschätzt wird. Wichtige Äußerungen über sein methodisch-theoretisches Selbstverständnis, die in seinen Werken, aber auch in seinen Briefen enthalten sind, werden dabei gerne übersehen. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit von Manuel Knolls Beitrag zur Wissenschaft und Methode Machiavellis. Knoll unterscheidet drei Sichtweisen in der Forschung, wonach war,

(2)

(1)

Machiavelli kein Wissenschaftler

sein Werk von einer vormodernen Wissenschaftlichkeit geprägt ist,

(3)

Machiavelli die moderne (Politik-)Wissenschaft begründet. Knoll schlägt eine zwischen diesen Sichtweisen vermittelnde Position vor und betont bei Machiavelli bedeutende Kohärenzen zu dem in der Renaissance immer noch vorherrschenden aristotelischen Lehrgebäude und Wissenschaftsbegriff. Knolls zentrale These ist, dass Machiavellis Lehre von der Politik an die praktische Wissenschaft anknüpft, die Aristoteles in der Buchgruppe IV-VI der Politik entwickelt. Die dritte und größte Sektion des Sammelbandes vollzieht einen zeitlichen Sprung zum Pluriversum der Machiavellideutungen der zweiten Hälfte des

Jahrhunderts9 0

In

20.

dieser Sektion wird eine äußerst heterogene Reihe von Autoren

und Diskursen untersucht, die zeitlich größtenteils nach dem Epochendatum

1945

liegen. Die Gliederung des Bandes besitzt, was den Umfang der ersten beiden Sektionen und der dritten anbelangt, eine symmetrische Ordnung.

Die Erfor­

schung von Machiavellis Denken einerseits aus dem Horizont und dem Kontext seiner Zeit und andererseits anhand der Rezeptionsmuster in den staatstheoreti­ schen und philosophischen Diskursen der Gegenwart stehen sich im Band gegen­ über. Eine Spiegelbildlichkeit von heuristischer Relevanz kommt hier in Betracht: Dem Wandel von Ordnung in Richtung des neuzeitlichen Staates, der das Cinque­ cento kennzeichnet, steht der Wandel von Staatlichkeit und Regieren zu einer po­ litischen Ordnung jenseits des Staates gegenüber, die wir heute in den Phänome­ nen der Entstaatlichung und Entgrenzung von Herrschaft erleben. So wie die Renaissance das Prinzip der Perspektive in der Kunst entdeckt und zur Entfaltung bringt, so zeigt sich auch das Werk des Renaissancemenschen Ma­ chiavelli als multiperspektivisch91 Wie sich das Gesehene nach diesem Prinzip mit der Veränderung des Standortes des Betrachters verändert, so scheint sich der Blick auf Machiavelli zu verschieben, je nachdem welchen Aspekt man aus sei­ nem facettenreichen Werk in den Vordergrund stellt: Den Amoralisten, den Herr­ schaftstechniker, den Machttheoretiker, den Realisten, den Staatsräsondenker oder

90

Dieser Sammelband erhebt selbstverständlich nicht den Anspruch, alle wichtigen Autoren in den staatstheoretischen und philosophischen Diskursen dieses Zeitabschnitts

zu

erfassen. Er

mächte allerdings die Aufmerksamkeit auf dieses bisher wenig erforschte Thema lenken und eigene Akzente setzen. Es sei auf die ähnlichen Anstrengungen in den jeweils letzten Sektio­ 91

nen der Sammelpublikationen vonArienzoil3orrelli 2009; Zwierleil1lMeyer 2010 verwiesen. Auch hier sind Äußerungen Castigliones interessant, in denen er seinen Hofrnannstraktat in Analogie

zum

Prinzip der Perspektive setzt ("far parer per arte di prospettiva quello che non

e"), siehe oben Anm. 88. 1987, I. 51, S 110.

Castiglione erläutert das Prinzip der Perspektive in

Castiglione,

29

Einleitung

aber den Republikaner, den Patrioten, den Neuheiden, den Dichter. Lichtbrechen­ den Punkten gleich finden sich diese Kategorien auch im Kaleidoskop der Machiavellirezeption des 20. Jahrhunderts wieder. Mit Max Horkheimers wirkungsmächtiger Deutung Machiavellis als Begrün­ der einer "bürgerlichen Geschichtsphilosophie", die bereits Anfang der 1930er vorgelegt wurde, befasst sich der Beitrag von Günther Auth. Sich über die anti­ kommerziellen Züge und die Kritik am florentinischen Unternehmertum in sei­ nem Werk hinwegsetzend, wird Machiavelli bei Horkheimer aus der Perspektive marxistischer Klassentheorie zum Sprachrohr des frühkapitalistischen Bürgertums der Renaissance. Machiavellis Menschenbild, seine Philosophie von der Politik und der Geschichte gründeten auf einer ideologischen Verallgemeinerung des Besonderen: Nämlich der Verhältnisse und Wahrnehmungsmuster des Florentiner Bürgertums und der Legitimierung einer neuen sozioökonomischen Basis des Staates, die von Machiavelli zu universalen Konstanten erhoben würden. Der Beitrag von Dirk Lüddecke widmet seine Aufmerksamkeit der Rezeption Machiavellis, wie sie für deutschsprachige und deutschstämmige Exegeten prä­ gend ist, die, gezeichnet von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Totalitarismus, eine Krisenanalyse der Moderne betreiben. Die drängenden exis­ tenziell-politischen Fragen der Rezipienten prägen diese interessante Episode in der Wirkungsgeschichte Machiavellis.

Unter dem Einfluss der Machiavelli­

Deutung Friedrich Meineckes, aber vor allem durch Gerhard Ritters, auf konser­ vativen und lutherischen Prämissen beruhenden Studie

Die Dämonie der Macht

verbreitet sich das Bild Machiavellis als Denker, der das dämonische Wesen der Macht reflektiert habe. Machiavelli wird im dämonologischen Rezeptionsstrang, dem Lüddecke von Gerhard Ritter über Hans Freyer bis Dolf Sternberger nach­ geht, mit der modernen (dämonischen) Machtpolitik und dem tiefgründig ambiva­ lent verstandenen Charakter der Moderne in Verbindung gesetzt. Der weitaus positiveren Perspektive auf Machiavelli als republikanischer und freistaatlicher Denker, aber auch auf den modernen Staat in den zeitgenössischen philosophischen Strömungen des Republikanismus und Liberalismus widmet sich der Beitrag von Stefano Saracino. Machiavelli steht in den

Discorsi

dem Stände­

kampf zwischen Volk und aristokratisch-großbürgerlicher Oberschicht, der die republikanische Ordnungsdialektik im alten Rom charakterisiert und belebt hatte, befürwortend gegenüber. Dies hat Exegeten des Neorepublikanismus (am promi­ nentesten die Adepten der ,Cambridge School') sowie des Liberalismus (am pro­ minentesten Isaiah Berlin) dazu verleitet, Machiavelli als Vorreiter des förderli­ chen institutionalisierten Streits, des Parteien- und Wertepluralismus zu verstehen. Saracino geht diesen Interpretationen mithilfe einer Analyse der deutlich kriti­ scheren Töne zum politischen Streit und Parteienzwist in den

Istorie Fiorentine

nach. Machiavelli folgt dem typisch republikanischen Paradoxon in der Auffas­ sung politischer Ordnung, aus dem sich ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis des Gesetzes

(lex)

und der Tugend des Bürgers

(virtus, cives) ableitet

("Ohne Ge­

setz keine Tugend, ohne Tugend kein Gesetz"). Die neorepublikanischen und libe­ ralistischen Deutungen laufen Gefahr, Machiavelli nicht gerecht zu werden, weil

30

Manuel Knoll/Stefano Saraeino

sie die Bedeutung der Bürgertugend in seinem Ordnungsverständnis unterschät­ zen. Republikanismus und Liberalismus betonen affirmativ die wegweisende Rolle Machiavellis für den modernen Staat und das demokratisch-liberale Politikver­ ständnis. hn Gegensatz dazu sieht Michel Foucault den Florentiner als antiquier­ ten Denker, wobei Foucault aus methodischen Gründen und als Folgewirkung seines diskursanalytischen Ansatzes nur den steht den

Principe

Principe

in Betracht zieht. Er ver­

als Dokument "mittelalterlichen Souveränitätsdenkens". Pravu

Mazumdar geht in seinem Beitrag der Wahrnehmung Machiavellis bei Foucault nach, oder besser Foucaults Schweigen über Machiavelli und dem Akt des

Lesens

Nicht­

in dessen philosophischer Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen

Staatstheorie als Ausgangspunkt der genealogischen Entwicklung der modernen Regierungskunst. Machiavelli landet laut Mazumdar als Demarkationslinie, als Abstoßungspunkt auf dem "genealogischen Seziertisch" Foucaults: Die Abgren­ zung vom

Principe und

die Problematisierung Machiavellis führen im antimachi­

avellistischen Diskurs der frühen Neuzeit zur Problematisierung von Macht und Regierung, die am Anfang der Genese moderner politischer Rationalität steht. Schließlich setzt sich Pier Paolo Portinaro in seinem Beitrag mit der Bedeu­ tung von

imperi

im politischen Denken Machiavellis auseinander und befasst sich

mit der Rezeption des Florentiners in der aktuellen sozialwissenschaftlichen und philosophischen hnperiendebatte. Aus postmoderner und postnationalstaatlicher Perspektive und auf der Grundlage der Annahme, dass nicht mehr Staaten, son­ dern hnperien zu den bestimmenden politischen Akteuren werden, besitzt Ma­ chiavelli eine ganz eigene Attraktivität. Dies trifft etwa für das viel beachtete neomarxistische

Empire

von Michael Hardt und Antonio Negri zu, das immer

wieder auf Machiavelli rekurriert. Den einschlägigen Einfluss von Thukydides auf Machiavelli betonend, geht Portinaro Machiavellis scharfsichtiger Analyse des römischen Reiches und des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen nach. Portinaro sieht Machiavelli jedoch nicht als Theoretiker der hnperien im engeren Sinne. Unter anderem belegt er dies durch den Nachweis, dass Machia­ velli den Begriff

imperio

-

ähnlich wie im Falle des Terminus

lich verwendet. Die Theorie des politischen Verfalls

stato uneinheit­ (corruzione) und die Frage -

nach der Möglichkeit republikanischer Hegemonialherrschaft rangieren in der Auseinandersetzung des Florentiners mit den historischen Reichsgebilden weit vor dem Interesse an den Eigendynamiken von Imperien.

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l . TEIL :

WANDLUNGEN IM DENKEN ÜBER MORAL, ORDNUNG UND HERRSCHAFT ZU BEGINN DER NEUZEIT

NICCOLO MACHIAVELLIS EXPERIMENTELLE MORAL IN SEINEM AUFRUF AN LORENZO DE' MEDICI, ITALIEN ZU BEFREIEN

Eckhard Keßler

l . Machiavelli als Humanisten lesen Über das Verhältnis Machiavellis in seinem Principe zur Moral hat man sich seit beinahe vier Jahrhunderten ausgebreitet, man hat sich empört oder verständnis­ voll, verurteilend oder verteidigend über seine Ratschläge geäußert - und konnte stets sicher sein, nicht auf kompetente Mitstreiter verzichten zu müssen. 1 Ob man ihn der Amoralität oder der Immoralität zeiht oder ihm eine neue, alternative Mo­ ral zuschreibt, ob man ihn als Vorbild oder als Zerrbild verantwortungsvollen po­ litischen Handeins darstellt, die Ursache der Vieldeutigkeit der Urteile ist nicht der proteische Charakter des Beurteilten, sondern die perspektivische Vielfalt der Urteilenden, sind die unterschiedlichen Vorstellungen von Ethik und Moral, nach denen Machiavelli bemessen und verurteilt oder gegebenenfalls gerettet wird. So ist es auch bei der jüngsten mir bekannten Analyse, die Machiavelli an Max We­ bers

"Verantwortungsethik" gerechtfertig sieht. 2

mißt

und,

wie

mir

scheint

nicht

zu Unrecht,

Wenn ich trotzdem beabsichtige, noch einmal über Machiavellis Anweisun­ gen für die richtige Weise monarchischen Herrschens - die

Ars regnandi

- unter

moralischer Perspektive zu sprechen, dann geht es mir nicht darum, ihn im Lichte neuerer moralischer Konzepte zu analysieren und zu bewerten, sondern zu versu­ chen, mich umgekehrt auf ein Paradigma zu beziehen, das im geistigen Umfeld Machiavellis die moralphilosophische Diskussion beherrschte und für den Autor des

Principe

wie für seine Adressaten sowohl seiner Methode als auch seinen In­

halten nach weniger befremdlich als allenfalls avantgardistisch war. Dieses Paradigma nennen wir gewöhnlich das humanistische. Wir kennen den ,Humanismus' aus der Machiavelli-Literatur einerseits als den Träger der - im Brief an Vettori vom

10.

Dezember

1 5 13

mit unnachahmlicher Emotionalität ge­

schilderten - Antike-Verehrung, und wir haben gelernt, ihn andererseits als den geistigen Kontext jener Fürsten-Spiegel zu betrachten, gegen die Machiavelli gleichzeitig nicht müde wird, mit spürbarem Vergnügen in maliziöser Provokation zu argumentieren - vertreten sie doch ausnahmslos die von ihm bekämpfte tradi­ tionelle These, daß nur, wer die vier Kardinaltugenden und die drei theologischen Eine Übersicht bieten u.a.

2

Kno1l 2003.

De Mattei 1969; Skinner 1978,

S.

125-138; Münkler 1984.

38

Eekhard Keßler

e Tugenden vollständig besitz , ein tugendhafter Mensch ist und folglich auch ein guter Fürst sein kann.4 Das Verständnis des Renaissance-Humanimus, das sich in dieser geistigen Lokalisierung ausdrückt, stellt Machiavelli in das schlechte Licht des Vatermör­ ders, der nicht nur seine Herkunft verleugnet, sondern sie auch zu vernichten sucht. Es ist das Verständnis des

19.

Jahrhunderts, das in diesem Humanismus die

Legitimation seines ,Humanistischen Gymnasiums' und des ihm aufgetragenen moralischen Bildungsauftrags fand. Erst das

20.

Jahrhundert mußte erfahren, daß

"humanistische" Beschäftigung mit der Antike und ihren Tugendlehren nicht notwendig "moralische" Bildung einschließt und vermochte daher zu erkennen, daß der Renaissance-Humanismus mindestens in seinen geistigen Leitfiguren nicht nur von dem Vertrauen in die überragenden Fähigkeiten des Menschen zur Gestaltung seiner eigenen Welt beherrscht wurde, sondern häufig auch vom Zwei­ fel in seine Tugendhaftigkeit und Tauglichkeit begleitet war: daß die sogenannte Emanzipation des Menschen keine freiwillige, sondern eine erzwungene war5 , und der Humanismus neben der Sonnen- auch eine Nachtseite hatte6 , die das mo­ ralphilosophische Denken des Quattrocento, vor allem in Florenz, beständig über­ schattete.

Im Kontext dieser lange verschwiegenen "Nachtseite" scheint auch

Machiavellis "Fürst" seine argumentative und seine inhaltliche Legitimität zu er­ halten.

2.

Die Krise des späten Mittelalters als Ursprung des philosophischen Humanismus

Um dieses zeigen zu können, muß ich zunächst für einen Augenblick an die spät­ mittelalterliche Krise der Philosophie erinnern, die dem Zwang zur Emanzipation und damit auch dieser Nachtseite zugrunde liegt. Zu Beginn des hatte der Franziskaner Johannes Duns Scotus

( 1 265-1308)

14.

Jahrhunderts

nachgewiesen, daß,

wenn man davon ausgeht, daß nicht die gesamte Schöpfung schlechthin notwen­ dig ist, sondern zumindest einiges in ihr auch - wie z. B. menschliches Handeln kontingent ist, zugeben werden muß, daß auch die erste Ursache, also Gott, eine kontingent und frei verursachende Ursache ist. Damit erweist sich aber alles, was von Gott verursacht und geschaffen wurde, als kontingent und verliert folglich diese

kontingente Struktur des geschaffenen Seins die Übereinstimmung mit der notwendigen Struktur des Denkens.7 Etwa zwanzig Jahre später hatte dann sein jüngerer Ordensbruder Wilhelm von Ockham (1285-1347/49) darüber hinaus nachgewiesen, daß den universalen Begriffen keine universalen Entitäten entspre­ chen können, da alles, was ist, notwendig ein Einzelnes sein muß, und daß folg­ lich die Wissenschaft, die auf universalen Begriffen beruht, kein Abbild der Reali3 4 5 6 7

Thomas von Aquin, Summa Theo10giea IIII, 61-62. Gilbert, Al/an H. 1938; Gilbert, Felix 1939; Skinner 1978, S. Blumenberg 1966. Delumeau 1967; Buck 1981. DunsScotus 1968,dis!. 39,qu. V, fol. 1299-1300.

126.

39

Niccolo Machiavellis experimentelle Moral

tät, sondern allenfalls ein vom Menschen entworfenes Modell aus Begriffen oder Zeichen ist, mit dem wir auf die Dinge verweisen, sie aber nicht in ihrem wahren Wesen erkennen8 Schließlich besiegelte der noch einmal 1 5 Jahre jüngere Rektor der Pariser Universität Johannes Buridan ( 1 300 - nach 1 3 5 8) das Schicksal der scholastischen Philosophie und Wissenschaft mit dem Schluß, daß die Realitäts­ ferne der Universalbegriffe nicht dadurch unterlaufen werden kann, daß man sich auf die in der Erfahrung gegebenen Einzeldinge stützt, weil notwendige Uni ver­ salbegriffe nicht auf der Grundlage kontingenter Einzeldinge gewonnen werden

können9

Die scholastische Philosophie und Wissenschaft des späten Mittelalters hatte sich damit selbst destruiert. Entweder hielt sie an der notwendigen Struktur der Wissenschaft fest, dann mußte sie auf den Realitätsbezug verzichten und sich als rein begriffliches Konstrukt verstehen, oder sie verteidigte den Anspruch der Ver­ nunft, die Beziehung des Menschen zur Realität zu reflektieren, dann konnte sie nicht länger wissenschaftliche Notwendigkeit für ihre Erkenntnisse reklamieren. Die Schulphilosophie, in der Tradition subtiler Distinktionen und formaler Kon­ sistenzen befangen, verschrieb sich der Wissenschaftlichkeit. Der aus dem bürger­ lichen Laienturn erwachsende Humanismus, mit den konkreten Problemen des tätigen Lebens konfrontiert, entschied sich für die Verteidigung von Realitätsnähe und Praxisrelevanz. Machiavelli als Humanisten zu lesen bedeutet darum, ihn aus der Isolation des Politik-Theoretikers herauszulocken und in die Gemeinschaft humanistischer Moralphilosophen zurückzuholen.

3. Petrarcas humanistisches Modell einer experimentellen Moral Den

Grundstein

für

den

neuen,

zur

Scholastik

alternativen

Ansatz

einer

,humanistischen' Philosophie legt noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, lO wie sein jüngerer Zeitgenosse Salutati ( 1 33 1-1406) bezeugt , Francesco Petrarca (1304-1 374), der sich wegen der Lebensferne der traditionellen scholastischen

8 9

Ockham: Prolog zum Physikkommentar, in: Ockham 1984, S. 205 f. Buridan 1 964, 11, q. 1 , fol. Bbir: "Die Erfahrungen (experientie) bieten keine Möglichkeiten zum Schluß auf das universale Prinzip (universale principium), es sei denn mittels der Induk­ tion aus Vielem, und niemals folgt aus der Induktion ein allgemeiner Satz (propositio), es sei denn, die Induktion beruhe auf allen Einzelfällen, die unter dieses Allgemeine

zu

subsumie­

ren sind, was unmöglich ist. So kann man argumentieren, daß wir über die Dinge, die außer­ halb des Intellektes sind, keine sichere Kenntnis oder Wissenschaft haben können, da sie ein­ zelne und veränderliche sind und von solchen keine Wissenschaft möglich ist".

10

Salutati:

Ep. III, 15, in:

Salutati 1 891-1905,

Bd. I , S.

1 78-79:

"Aber in der Philosophie, mein

Gott, welche Höhe hatte Petrarca dort erreicht [ ... ] Ich meine nicht die Philosophie, die die modernen Sophisten in den Schulen mit großer Eitelkeit bewundern,aufgeblasen und in sinn­ loser Geschwätzigkeit, sondern vielmehr die Philosophie, die den Geist erbaut, die Tugend wachsen läßt, den Umat des Lasters hinwegspült und die Wahrheit der Dinge erleuchte� ohne sich in endlosen Disputen zu erschöpfen. Mögen jene sich an der früheren Philosophie ergöt­ zen, wir verehren die neue Philosophie und geben uns ihr mit der ganzen Kraft unseres Geis­ tes hin".

40

Eckhard Keßler

Ethik nachdrücklich von dieser distanziert.

ll

In einem wegweisenden Brief, in

dem er sein eigenes ethisches Konzept in Anwendung auf ein konkretes moralphi­ losophisches Problem - die Lebenswahl seines Adressaten - entwickelt, läßt er an zwei markanten Stellen erkennen, daß er auf die spätmittelalterliche Krise der Philosophie antwortet: Gleich am Anfang, zu Beginn der Erörterung, folgt er dem nominalistischen Universalienverständnis, wenn er die Irrealität des aristoteli­ schen, aus der allgemeinen Natur des Menschen abgeleiteten, verbindlichen letz­ ten Zieles der

vita contemplativa

mit dem Argument vertritt, daß es weder von

allen Menschen verfolgt wird noch verfolgt werden darf, soll nicht die ganze Menschheit und menschliche Kultur zugrunde gehen1 2, und gegen Ende des Brie­ fes, unmittelbar vor der abschließenden Handlungsanweisung, bekennt er sich zum voluntaristischen Gottesverständnis, wenn er ausführlich in der Bibel berich­ tete Fälle göttlicher Durchbrechung Seiner eigenen Ordnung zitiert. 13 In dieser Situation prinzipieller Verunsicherung verweist Petrarca den einzel­ nen Menschen auf sich selbst, auf seine eigene Natur 14 sowie auf die von ihm selbst zu verantwortende

intentio

15

und auf die Beständigkeit -

constantia

- ihrer

Verfolgung, welche der persönlichen Zielsetzung des Individuums Sicherheit und Verbindlichkeit verleiht. 16 Als Voraussetzung solcher Sicherheit läßt Petrarca in einem langen Exkurs am geistigen Auge des Adressaten, der zum Studium der Jurisprudenz neigt, deren Wandel in der Geschichte vorüberziehen. 17 Er fordert den Adressaten anschließend auf, erst nach Abwägung aller sachlichen, sozialen und persönlichen Umstände das ihm entsprechende Ziel zu wählen und dieses dann in seinem Leben beharrlich zu verfolgen, um schließlich am Grad von Erfolg oder Mißerfolg ablesen zu können, in welchem Maße die Wahl des Zieles und der Mittel, es zu erreichen, richtig bzw. angemessen gewesen ist. 18 An die Stelle eines allgemein verbindlichen moralischen Prinzips oder höchs­ ten Gutes, das metaphysisch, natürlich oder religiös abgesichert ist, ist also die Verbindlichkeit eines vom Menschen selbst gesetzten Zieles getreten. Seine kon­ krete Formulierung gründet auf der unmittelbaren oder auf der mittelbaren, in der Geschichte tradierten Erfahrung; das darauf ausgerichtete moralische Handeln vollzieht sich als Experiment auf die Angemessenheit der in dem Ziel aufgestell­ ten Hypothese über die Realität, und in Gelingen und Verfehlen, in

ror,

trial and er­

dieses Handeins findet die Zielsetzung schließlich ihre Bestätigung oder Wi­

derlegung. Was "gut" ist, läßt sich nicht

a priori

bestimmen, sondern zeigt sich erst im

erfolgreichen Vollzug des Handeins; gut ist, was dazu beigetragen hat, gute Ziele

1 1 Petrarca 1993, S. 104-108. 1 2 Petrarca: Ep. farn. XX,4, § 4-6, in : Petrarca 1933-1 942, Bd. lt./d!. Ausgabe in: Ebbersmeyer 2007, S. 56-71, hier: S. 56-59. 1 3 Petrarca, ebenda § 30-3 1 ; S. 66-69. 1 4 Petrarca, ebenda § 4 ; S. 56-57. 1 5 Petrarca, ebenda § 29-30; S. 66-67. 1 6 Petrarca, ebenda § 36; S. 68-69. 1 7 Petrarca, ebenda § 7-29; S. 58-ti9. 1 8 Petrarca, ebenda § 32-39; S. 68-7 1 .

IV, S.

1 3-22;

zitiert nach der

Nicco1o Machiavellis experimentelle Moral

41

zu erreichen; gute Ziele aber sind solche, die sich haben verwirklichen lassen und dadurch ihre Angemessenheit an die Wirklichkeit erwiesen haben. Die Moralphilosophie des Humanisten ist daher in der Tat gegenüber der scholastischen neu, aber sie ist keine Revolution, sie impliziert keine generelle "Umwertung aller Werte", keine generelle Aufhebung der tradierten Tugenden durch andere oder gar die Ersetzung durch ihr Gegenteil. Sie ist neu, insofern sie die tradierten Werte, die ihrer theologischen oder philosophischen Legitimation verlustig gegangen waren, einer neuen Evaluierung im Lichte neuer Kriterien un­ terziehen mußte. Um der Kontingenz ihres Gegenstandsbereiches Rechnung zu tragen, mußte sie auf die Universalität und Notwendigkeit von Wissenschaft verzichten. Überlie­ ferte Regeln und Normen einschließlich der philosophischen Tugenden und reli­ giösen Gebote wurden zwar rezipiert, sie mußten sich aber als Handlungshypothe­ sen darstellen lassen, die sich im Kontext der in der Erfahrung gegebenen Welt des Handeins zu bewähren versprachen. Da sich jedoch die Handlungsintentionen und -situationen in ständigem Wandel befanden, mußte auch die humanistische Moralphilosophie selbst in ihrer konkreten Gestalt dem ständigen Wandel unter­ liegen.

4.

Ausdifferenzierungen humanistischer Moralphilosophie im Trecento

4. 1. Francesco Petrarca Petrarca selbst hatte, noch im

14.

Jahrhundert, mit der Ausdifferenzierung seines

Modells einer humanistischen Moralphilosophie den Anfang gemacht, indem er der eigenen unmittelbaren Lebenserfahrung die in der exemplarischen Geschichte tradierte mittelbare Erfahrung als moralische Orientierungshilfe zur Seite stellte. 19

In

seinen Biographien ausgezeichneter Männer geht es ihm vor allem darum, die

kausale Beziehung zwischen moralischer Haltung und erfolgreichem Handeln an hervorragenden Beispielen darzustellen. 2 0 Seine Sammlung "Merkwürdiger Ta­ ten"

-

Rerum memorandarum libri

-

gliedert er nach dem System der Tugenden

und dokumentiert deren Leistungsfahigkeit in unterschiedlichen Situationen durch eine Vielzahl unterschiedlicher historischer Beispiele. 21 In den beiden Büchern über die "Heilmittel

Fortunae

-

gegen Glück und Unglück"

-

De remediis utriusque

endlich führt er eine Vielzahl unterschiedlicher, manchmal sogar ei­

nander widersprechender Möglichkeiten an, sich gegenüber den Eingriffen Fortu­ nas, gleichgültig, ob sie zunächst als positiv oder negativ, als Glücks- oder Un­ glücksfälle erfahren werden, zu behaupten, und überläßt es dem Leser, die ihm

1 9 Petrarca: Ep. farn. VI, 4, § 3-4, in: Petrarca 1 933-1 942, Bd. 11, S . 77-80; zitiert nach der 1t./d!. Ausgabe in: Ebbersmeyer 2007, S. 48-55, hier 48-49. 20 Petrarca: De viris illustribus, Prohemium § 6-7, in: Petrarca 1 964, S. 4. 21 Petrarca 1945.

Eckhard Keßler

42

und seinem besonderen Fall, seinen Intentionen und individuellen Umständen entsprechende Möglichkeit selbstverantwortlich zu wählen. 22

4.2. Coluccio Salutati Petrarcas moralischer Horizont ist ganz aus der Selbsterfahrung des Individuums entworfen. Er schreibt einmal:

,puto lectorem eo animo esse quo sum ego' :

"Ich

glaube, daß der Leser ähnlichen Geistes ist wie ich" 23 , und daher dient seine Le­

benskunst auch vor allem der Orientierung des Individuums in seiner persönlichen Lebensgestaltung. Coluccio Salutati (133 1-1 406), der sich - Petrarcas Philoso­ 2 - entschieden in dessen Nachfolge stellt, ist von 1375 bis zu sei­ phie preisend 4 nem Tod Kanzler von Florenz: ein ruhender Pol in bewegter Zeit. Sein morali­ scher Horizont überschreitet die engen Grenzen der Individualethik. Zwar vertritt auch er die Legitimität und Realität individueller moralischer

Lebensgestaltung 25 und verteidigt mit Nachdruck die Freiheit und Überlegenheit des Willens gegenüber dem Intellekt 26 Aber im Blick auf das Handeln im Rah­ men und Interesse einer menschlichen Gemeinschaft kann Petrarcas uneinge­ schränktes Experimentieren des Individuums mit der Realisierbarkeit seiner letzt­ lich willkürlichen Zielsetzung nicht unbedingt befriedigen. Salutati sucht daher nach Möglichkeiten, trotz genereller voluntaristischer Kontingenz und nominalis­ tischer Partikularität, politisches Handeln im weitesten Sinne allgemeineren und verbindlicheren Kriterien zu unterwerfen. Er findet sie diesseits der prinzipiellen Indeterminiertheit des Willens und unabhängig von einer aposteriorischen Bestä­ tigung in der traditionellen christlichen Tugend der Nächstenliebe und dem der Gerechtigkeit zugrunde liegenden Prinzip der Gleichheit, die dem Menschen in der innerpsychischen Wahrnehmung als natürliche Neigung wenn nicht gar als Verpflichtung zu sozialem Verhalten gegeben sind. So appelliert Salutati an die Emotionalität des Menschen, in der sich, untrenn­ bar, die Neigung zu Mitleiden und -sorgen mit den Mitmenschen erfahren läßt: wer sie nicht kennt, der ist kein Mensch, sondern ein "Klotz und unnütz Holz, eine steinerne Klippe und härtester Fels, aller Menschen gemeinsames, eingeborenes "höchstes Prinzip der Gleichheit", das

22 Petrarca 1988. 23 Petrarca: Ep. farn. VI, 4, § 3, in: Petrarca 1 933-1942, Bd. 11, S. 77-80; zitiert nach der It./dl. Ausgabe in: Ebbersmeyer 2007, S. 48-55, hier 48-49. 24 Vgl. oben, Amn. 10. 25 Salutati: Ep. X, 9, in: Salutati 1 891-1905, Bd. III, S. 246, 24 ff. : "Die moralischen Ausrich­ tungen unserer Leben können verschieden sein, ja, sie sind, wie wir sehen, verschieden". 26 Salutati 1 990, S 1 84, 30-186, 4. 27 Salutati: Ep. X, 16, in: Salutati 1 891-1905, Bd. III, S. 306-307, hier S. 306, 29-307, 3 : "Wä­ re er (der Betrachtende) so in Betrachtung versunken, daß ihn das Unglück seines Nächsten nicht bewegte, der Tod seiner Verwandten nicht schmerzte und er über den Untergang seines Vaterlandes nicht stöhnte? Wer solch ein Mensch wäre und sich in der menschlichen Ge­ meinschaft so verhielte, wäre nicht als Mensch zu betrachten, sondern als Klotz und unnütz Holz, als steinerne Klippe und härtester Fels"; vgl. auch Ep. XII, 4, ebenda Bd. III, S. 468.

43

Niccola Machiavellis experimentelle Moral

jedennann in sich fühle - sentit -, dem niemand, der seine Sinne beisammen habe, widersprechen könne 28 und das als Grundlage aller legitimen Gesetzgebung und Garant des Gemeinwohls - des

bonum commune

vatio - der Städte und Länder diene. 29

- und der Erhaltung -

conser­

Salutati hat so versucht, das Werte-Vakuum von Petrarcas Individual-Ethik durch eine Sozial-Ethik auszufüllen, nach der der Mensch dank seiner natürlichen Neigung zu Bannherzigkeit und Gerechtigkeit dem

bonum commune

in Gestalt

der Bewahrung der staatlichen Ordnung erfolgreich zu dienen vennag. Aber diese optimistische Position war nicht von langer Dauer. Schon im Jahr 1400, ein Jahr nach dem Abschluß seines Paragone von Jurisprudenz und Medizin, in dem er diesen Versuch unternommen hatte, wird er in eine Diskussion darüber verwi­ ckelt, ob Dante die Caesar-Mörder zurecht in die tiefste Hölle verbannte. Seine Analyse der politischen Situation Roms im l . Jahrhundert vor Christus zwingt ihn zu der Einsicht, daß während der Usurpator Caesar für Ruhe und Ordnung zu sor­ gen vennochte, seine legitim herrschenden Mörder Rom in den Bürgerkrieg stürz­ ten. Diese Beobachtung bestimmt ihn zwar nicht dazu, die Erhaltung des politi­ schen

status,

der staatlichen Ordnung, als grundlegendes Ziel politischen Han­

delns zu leugnen - er bekennt sich weiterhin zu dem Ausspruch des Augustus: "Wer den gegenwärtigen Zustand der Bürgerschaft nicht zu ändern wünscht, der ist ein guter Bürger und ein guter Mann, die Herstellung und der Erhalt solcher Ordnung nicht nach den Prinzipien des Rechts, sondern allein nach den Gegebenheiten der jeweiligen Situation erfolgen kann.3 1 Wenn die Hand Gottes leitend in der Geschichte tätig ist, dann nicht - wie Salutati noch zu Gunsten der Jurisprudenz annehmen zu können meinte - nach den Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit, sondern nach seinem unerklärlichen Ratschluß, der - wie bei Petrarcas "Experiment" - erst post festum, in Erfolg oder Mißerfolg, erkennbar wird.3 2 Salutatis Beitrag zur weiteren Entwicklung der humanistischen Moralphiloso­ phie ist so ein zweifacher: einmal die Bestätigung des auf der historischen Erfah­ rung beruhenden Gedankenexperimentes zur Sicherung moralischer Hypothesen und zum anderen die Fokussierung der moralischen Reflexion auf die soziale bzw. politische Ebene. Beides wird im 1 5 . Jahrhundert weiter ausgebreitet werden: die Konzentration auf die Geschichte als unverzichtbare Lehnneisterin des Lebens -

historia magistra vitae - durch ihre 28

Verankerung im Lehrplan der humanistischen

Salutati: De nobilitate legum et medicinae, Kap. III, in: Salutati 1 990, S. 16, 24-18, 2: "Das göttliche Gesetz prägt dem Geist der Menschen das natürliche Gesetz ein [ . . . ], das uns geneigt macht [ . . . ] welcher Geist ist so verwildert, daß er sich dem höchsten Prinzip der Gleichheit widersetzen könnte? Wer fühlte nicht, daß seinem Geist von Natur aus jene höchste und gött­ liche Gleichheit innewohnt?". 29 Ebenda, S. 1 44, 1 8-2 1 : "Die Gesetze aber [ . . . ] beachten und zielen prinzipiell auf das Ge­ meinwohl und beurteilen das Einzelne nach Gerechtigkeit und Gleichheit, was das höchste Gut ist und der Erhaltung der Stadte und Länder dient". 30 Salutati: Tractatus de Tyranno, Kap. IV, § 8, in: Salutati 1914, S. 46 f.: "Qui presentem sta­ turn civitatis mutari non optat et civis et vir bonus est". Vgl. dazu Keßler 1983. 31 Ebenda § 6-9, S 45-47; vgl. auch § 19, S 53. 32 Ebenda, Kap. 5, § 6-7, S 58-59.

44

Eckhard Keßler

Schule33 und die Fokussierung auf die politisch-soziale Komponente in der mora­ lischen Theoriebildung durch die aktuellen politischen Auseinandersetzungen zwischen Kommune und Signoria, und dies besonders im umkämpften Florenz.34

5.

Ausdifferenzierungen humanistischer Moralphilosophie im Quattrocento

5. 1. Leonardo Bruni Von seinem Ausgangspunkt her ganz nahe an Petrarcas Individual-Ethik ist zu Beginn des

15.

Jahrhunderts Leonardo Bruni

( 1 369-1444),

Übersetzer von Aristo­

teles und Platon und wie sein "Lehrer" Salutati Kanzler von Florenz, wenn er in seiner Einführung in die Moralphilosophie den Leser durch das Versprechen indi­ viduellen Glückes und Nutzens lockt. In seiner Darstellung lehnt er sich an die von ihm selbst übersetzte

Nikomachische Ethik an und

gliedert sie in die drei As­

pekte der Setzung eines letzten Zieles allen Tuns, der inhaltlichen Bestimmung dieses Zieles und der Tugenden als Mittel, dieses Ziel zu erreichen. So könnte er auf den ersten Blick auch als traditioneller Aristoteliker durchgehen, wären da nicht einige schwerwiegende Abweichungen. Zur inhaltlichen Zielbestimmung zieht er neben Aristoteles auch die Stoa und Epikur hinzu3 5 , statt aber eine rational begründete Entscheidung zwischen den drei Kandidaten herbeizuführen, versucht er, sie miteinander mit der Begründung zu versöhnen, daß die drei Zieldefinitio­ nen dem unvoreingenommenen Leser gleichermaßen akzeptabel erscheinen, daß alle drei sich durch die Jahrhunderte bewährt und erhalten haben3 6 , und daß sich die Unterschiede, angesichts der konkreten Realität, in Nominalismen auflösen 37 Die mit universalem Geltungsanspruch ausgerüsteten Zieldefinitionen der tradi­ tionellen Ethiken werden damit den Erkenntnisbedingungen der kontingenten Welt angepaßt - der Subjektivität der Wahrnehmung, der damit verbundenen His­ torizität ihrer Inhalte, die, wie schon bei Salutati, die Geschichte zur Mutter der Wahrheit - veritas [zlia temporis - macht38, und der Unverzichtbarkeit ihrer im­ mer erneuten Realitätsprüfung.

Die studia humanitatis umfaßten bekanntlich die Fächer Grammatik, Rhetorik, Poetik, sowie Historia und Moralphilosophie. Der große Guarino Veronese erklärt - vgl. Guarino 1 896, s. 293 - daß die Geschichte als Lehrerin der Moral die Philosophie bei weitem übertreffe. Vgl. auch Keßler 1968, S. 21 1-12, Anm . 27-29. 34 Vgl. Tenenti 1968. 35 Bruni: Isagogicon moralis discip1inae [1421-1424], in: Ebbersmeyer 2007, S. 1 1 6/17-1 22/23. 36 Ebenda, S 1 22/23. 37 Ebenda, S 1 24/25. 38 Ebenda, S. 1 22/23: "Den Abschaum der Philosophen, die Unsinniges (absurda) gelehrt ha­ ben, haben schon längst die Hörer und die Philosophenschulen selbst ausgesondert. Es sind die Lehren übrig geblieben, die etwas Richtiges zu sagen scheinen"; vgl. Salutati: Tractatus de Tyranno, Kap. V, § 8, in: Salutati 1 9 1 4, S. 60: "Die Wahrheit nämlich wird sich, glaube ich, aufgrund dessen, was ich gelesen habe, nicht vollständig ergründen lassen, vor allem an­ gesichts eines Gerüchtes, das sich, wenn es falsch wäre, erfahrungsgemäß nicht 25 Jahrhun­ derte lang erhalten hätte". Zu "veritasjilia temporis" vgl. Garin 1 969. 33

45

Niccola Machiavellis experimentelle Moral

Diese Realitätsprüfung selbst ist zunächst eine eng an Aristoteles angelehnte zusammenfassende Tugendlehre; beim Übergang von den ethischen zu den dia­ noetischen Tugenden aber gerät sie dem Übersetzer der

Nikomachischen Ethik

dann in eine bemerkenswerte Schieflage, die eine gegenüber der "Vorlage" wich­ tige Akzentverschiebung signalisiert. Zwar gesteht er, wie Aristoteles, von den fünf

dianoetischen

(scientia)

Tugenden,

und der Einsicht

der

Weisheit

(intelligentia)

(sapientia),

der

Wissenschaft

größere Seltenheit und Göttlichkeit zu,

und der Klugheit (prudentia) nur die weitere Verbreitung und den größeren all­ gemeinen Nutzen39 , aber auch zwischen diesen Qualitäten findet wiederum eine Verschiebung statt. Denn die theoretischen Vermögen, die sich mit dem Unwan­ delbaren beschäftigen, verabschiedet Bruni in die Wertneutralität: ihre Erkenntnis­ leistung stehe auch dem Unmoralischen offen und trage als solche nicht zur Ori­ entierung im menschlichen Leben bei4 0, während die Klugheit, deren Objekt das Wandelbare und Kontingente und damit die Welt des menschlichen Handeins ist, nicht nur die ethischen Tugenden begründet, sondern auch ihren Besitz voraus­ setzt41 Sie wird daher im privaten wie im öffentlichen Bereich zum autonomen Prinzip des menschlichen Planens und Handeins. Damit ist unversehens die Klug­ heit, die bei Aristoteles das Prinzip der zweitbesten Lebensweise war4 2, zum Prin­ zip der besten Lebensweise aufgestiegen, die dem Menschen in der als Ganzes kontingent gewordenen Welt möglich ist. Damit ist Bruni zu einem der ersten Vertreter der Transformation des höchsten Vermögens des Menschen von der sapientia zur prudentia geworden43

5.2. Poggio Bracciolini Mit der Transformation der

sapientia zur prudentia bezieht Bruni die auf das in­ dividuelle Glück des "animal rationale" hin entwickelten ethischen Tugenden der Nikomachischen Ethik44 auf die Autarkie des "animal sociale" in der aristoteli­ schen Polis45 und evaluiert damit die Ethik als Ganze in Hinblick auf den Beitrag,

den sie zur Regulierung des politischen Handeins zu liefern vermag. Dies wird sein jüngerer Kollege als apostolischer Sekretär und Florentiner Kanzler Poggio Bracciolini

(1380-1459) wenig später

ralphilosophie weiterführen.

für einzelne Aspekte der traditionellen Mo­

Dabei zeugen die von ihm gewählte dialogische

Form und der kritische Zeitbezug für das Bemühen, sich der Multivalenz der kon-

39 40 41 42 43 44 45

Bruni: Isagogicon moralis disciplinae [1421-1424], in: Ebbersmeyer 2007, S. 1 42/43. Ebenda, S 1 42/43-1 44/45. Ebenda, S 1 40/41-1 42/43. Vgl. Arisloleles: Nikomachische Ethik X, 8; 1 1 78 a 9-b 7. Vgl. Rice 1958; für Salulati vgl. Keßler 1968, S. 145. Vgl. Arisloleles: Nikomachische Ethik X, 7; 1 177 b 2-25. Vgl. Arisloleles: Politik I, 2; 1252 b 27-1253 a 38.

46

Eckhard Keßler

tingenten Realität anzupassen und ihr mit der Erörterung des Pro und Contra, dem rhetorischen "in utramque partem disputare", gerecht zu werden46 hn November

1428

läßt Poggio, als Reaktion auf eine Bußpredigt des Bernar­

dino von Siena, in einem Dialog über die Habgier diese zunächst als das Gemein­ wohl störendes Laster verurteilen, dann, von einem zweiten Redner, als das Ge­ meinwohl fördernde Motivation loben und schließlich, von einem dritten, vermit­ telnden Diskussionsteilnehmer, als das Zuviel einer an sich positiven Einstellung ablehnen. Wichtiger als, welcher Meinung der Autor selbst ist, dürfte die Tatsache sein, daß das Laster der Habsucht nicht einfach nur gegeißelt, sondern einer Erör­ terung des "Pro" und "Contra" gewürdigt wird. Wichtig ist, daß damit die tradier­ te Moral fragwürdig gemacht wird und Argumente gegen die herrschende Lehre erwogen werden. Und noch wichtiger sind die Argumente selbst, die nicht religiö­ ser und metaphysischer, sondern politisch-sozialer Art sind: Unbestrittener Be­ zugspunkt ist die dem

"animal sociale"

von der Natur aufgegebene Sorge für das

Gemeinwohl. Was aber dem Gemeinwohl dient, das wird einerseits an dem abge­ lesen, was erfahrungsgemäß alle Menschen tun - und daher ihrer Natur entspricht -, und das ist das "Mehr-Haben-Wollen", und andererseits an dem, was erfah­ rungsgemäß daraus für das Gemeinwohl erwächst, und das ist, im Falle der Hab­ gier, die Möglichkeit zu Wohltätigkeit und tätiger Nächstenliebe und generell zu allem, worin über die Existenzsicherheit hinaus das "gute Leben" besteht 47 Ein anderer Dialog mit dem langen Titel "Auseinandersetzung darüber, wel­ che von den beiden Künsten, die Medizin oder das Bürgerliche Recht, hervorra­ gender ist",

1450 verfaßt,

antwortet auf Salutatis Traktat "Vom Vorrang der Juris­

prudenz oder der Medizin" und kreist, wenn er auch nicht ausdrücklich die Über­ legenheit der Medizin vertritt, so doch unübersehbar um die Argumente gegen die Jurisprudenz, um das "Contra", das in dem entschiedenen "Pro" Salutatis eher zu kurz gekommen war. Auch hier gilt als wichtigstes Prinzip, daß alles, was die Menschen erfah­ rungsgemäß spontan tun, - wie z. B. alles, was der Selbsterhaltung dient - ihrer

46 Wenn Bruni (Ebbersmeyer 2007, S. 1 40/41) den Objektbereich der prudentia mit den glei­ chen Worten definiert wie AristoteIes (Rhetorik 1, 2; 1356 b 37-1357 a 7) den Objektbereich der Rhetorik, dann bestätigt dies erneut die bewußte Übernahme der aristotelischen Rhetorik durch die Humanisten als der der Kontingenz angepaßten Methode. 47 Poggio Bracciolini: De avaritia, in: Ebbersmeyer 2007, S. 1 46/47-168/69, hier S. 1 56/57: "Was nämlich alle erstreben, von dem kann man ausgehen, daß es von Natur aus geschieht und sie dazu drängt. Du findest aber niemanden, der nicht mehr begehrt, als ausreichend ist, keinen, der nicht wollte, daß ihm viel übrig bleibe. Also ist die Habsucht etwas Natürliches" [ . . . ] S. 158/59: "Sieh also, welches Chaos in allen Dingen entsteht, wenn wir nichts haben wollen außer dem, was uns ausreicht: Aufgehoben würde die Ausübung der dem Volke will­ kommensten Tugenden, des Mitleids und der Nächstenliebe, niemand wäre mehr wohltätig und freigebig, denn was soll einern anderen geben, wer nur so viel besitzt, wie für ihn selbst ausreicht? Alle Großartigkeiten der städtischen Gemeinschaften würden aufgehoben, jede Kultur und jeder Schmuck gingen verloren, keine Tempel würden gebaut, keine Säulenhallen, alle Künste würden aufhören. Es folgte eine völlige Verwirrung unseres Lebens und der Ge­ meinschaft, wenn jeder sich mit dem, was für ihn ausreicht, zur Rübe setzte". Vgl. auch Bracciolini 1 994.

47

Niccolo Machiavellis experimentelle Moral

Natur entspricht und daß umgekehrt auch alles, was erfahrungsgemäß niemand spontan erstrebt, unnatürlich ist. Zu diesem aber gehörten die Gesetze, die darum weder nützlich, noch notwendig seien noch den Interessen der Menschen entge­ genkämen48 Tatsächlich nützten die Gesetze nur den Schwachen - dem Pöbel und den niederen Ständen, während die Starken und Tatkräftigen sich nicht durch Ge­ setze hindern ließen, sondern sie überträten und dadurch, wie die Geschichte zei­ ge, in die Lage versetzt würden, große Reiche und Kulturen zu schaffen: "Denn alles Große und Erinnerungswürdige ist aus Unrecht und Ungerechtigkeit und Verachtung der Gesetze entstanden".49 Die Argumente sind nicht neu - sie wurden schon einmal, im Platonischen

Gorgias,

von einem Sophisten gebraucht, und man kann davon ausgehen, daß sie

Poggio auch durch Brunis waren.

1409

entstandene Übersetzung des

Gorgias

bekannt

Das bedeutet aber nicht, daß Poggio sich diese Argumente uneinge­

schränkt zu eigen gemacht hätte, er hat sie jedoch ernst genommen und in die Diskussion geworfen und damit im Quattrocento eine neue Perspektive eröffnet, die die moralphilosophische und politische Diskussion zu verunsichern und die Erfahrungsbasis zu erweitern vermochte: die Geschichte lehrt, daß die Großartig­ keit und Bedeutung einer Tat der Maßstab der Ruchlosigkeit und Gesetzlosigkeit ist, die dem Täter zuzubilligen ist 5 0

5.3. Matteo Palmieri Nicht nur einen neuen Aspekt zur Entwicklung der humanistischen Moralphiloso­ phie, sondern eine - wenn nicht die erste - umfassende Darstellung der humanis­ tischen Ethik für den Bürger hat wenige Jahre vorher der eine Generation jüngere Matteo Palmieri

(1 406-1475)

ebenfalls in dialogischer Form beigetragen. Sie ist

im Volgare geschrieben, die Unterredner sind Florentiner Bürger: ein belehrender Greis und eine Anzahl lernbegieriger Neffen und Enkel. Sie beginnt mit der Er­ ziehung der Söhne, von der Geburt bis zum Mannesalter im

1.

Buch, es folgen

zwei Bücher bürgerlicher Tugendlehre, von Cicero und Aristoteles abwechselnd inspiriert, dann ein viertes Buch mit ergänzenden "nützlichen" Gütern, das mit einer

Apotheose

des

guten

Staatsbürgers

nach

dem

Vorbild

von

Ciceros

"Somnium Scipionis " endet 51 48 Bracciolini 1 947, S. 28. 49 Bracciolini 1 947, S. 29-30: "Bewundernswürdige Taten, Geister, Gebäude würden vom Erd­ boden verschwinden, wenn jeder euren Gesetzen gehorchte und zufrieden sein Leben in Mu­ ße verbrächte. Denn alles Große und Erinnerungswürdige ist aus Umecht und Ungerechtig­ keit und Verachtung der Gesetze entstanden [ . . . ] Gewichtige, kluge und maßvolle Menschen brauchen keine Gesetze. Sie haben sich das Gesetz des guten Lebens selbst gegeben, von der Natur und durch ihr eigenes Streben für die Tugend und die guten Sitten disponiert. Die Mächtigen verachten sie und treten sie mit Füßen. Den Schwachen, den Tagelöhnern, Hand­ werkern, Wucherern, den feigen und unbedeutenden Menschen sind sie angemessen, die aber auch ihrerseits mehr durch Angst und Furcht vor Strafe als durch die Gesetze regiert werden". 50 Walser 1 9 1 4, S. 258, spricht Poggio in diesem Dialog "Machiavellismus vor Machiavelli" zu. 5 1 Vgl. Ciceros "Somniuru Scipionis" in: De re publica VI, 9-29.

48

Eckhard Keßler

Anlaß für sein Werk ist Palmieri die Einsicht in die prinzipielle Unbeständig­ keit und Unzuverlässigkeit der menschlichen Welt52 , in der der Mensch sowohl der Natur wie der Fortuna unterworfen ist53 , sich aber mit Hilfe der weniger wechselhaften Natur gelegentlich gegen die Fortuna behaupten kann 54 Um diese Natur bei seinen des Lateinischen nicht mächtigen Mitbürgern ausbilden zu hel­ fen, beabsichtigt Palmieri, ihnen die überaus nützlichen Lehren der Griechischen 55 und Lateinischen Autoren zu vermitteln , allerdin�s nicht in ihrer utopischen 5 Idealität, sondern in der Gestalt erfahrbarer Realität , d. h. nicht als rein konzep­ tuelIes Modell, sondern bereits modifiziert nach der Erfahrung der Adressaten und ausgerichtet auf die kontingente Welt des konkreten Handeins. Die Ausbildung des jungen Bürgers zielt daher nicht auf besondere theoreti­ sche Fähigkeiten, sondern folgt dem enzyklopädischen Modell Quintilians für den Redner: so, wie der vollkommene Redner in der Lage sein soll, jeder Situation angemessen zu reden, so soll der Bürger lernen, j eder Situation angemessen zu 57 handeln Und so wird bei Palmieri auch, wie bei Bruni, der Obj ektbereich der Klugheit prudentia ebenso definiert wie der Objektbereich der Rhetorik bei Aristoteles, d. h. als der der Beratung offene Bereich, der Bereich dessen, was auch anders zu sein vermag als es ist, der Bereich der Kontingenz und des Han­ delns 58 Da der Anlaß zu Palmieris Dialog die prinzipielle Unbeständigkeit und Unzu­ verlässigkeit der menschlichen Welt ist, kann nicht überraschen, daß das letzte Ziel seiner Lebenslehre Beständigkeit ist. Er leitet dieses Ziel ab von dem bei al­ len Lebewesen zu beobachtendem Streben nach Selbsterhaltung und Arterhaltung und erkennt, mit Cicero und Aristoteles, daß der Mensch wegen seiner Begabung mit dem Logos, das heißt mit ratio und oratio, mit Vernunft und Sprache, in be­ sonderer Weise zur Sozialität fahig ist und folglich in der politischen Gemein­ schaft das optimale Instrument zur Erhaltung seiner Art besitzt. 59 Wenn aber so -

-

Palmieri : Vita civile, Proömium § 1 , in: Palmieri 1982, S. 4. Ebenda I, § 165; 168, S 48; 11, § 70, S 73. Ebenda I, § 1 77, S 50. Ebenda Proömium § 4-5, S. 4 f Ebenda § 12, S. 7: "Ich habe mich also entschlossen, diese Bücher über das bürgerliche Le­ ben zu schreiben, um den guten und richtigen Vorsätzen meiner gut veranlagten Mitbürger zu helfen. Und damit daraus um so größere Frucht erwachsen könnte, habe ich mir überlegt, nicht die eingebildete Gutheit (immaginata bonta) von Bürgern zu erfinden (fignere), die man noch nie auf Erden gesehen hat, wie sie, von Platon und vielen anderen edlen Geistern be­ trachtet und erfunden wurden, an Tugend und Weisheit vollkommen und eher in ihrer Gestalt und Art gemalt als in Fleisch und Blut gesehen. Ich bin also entschlossen, das anerkannte Le­ ben (approvata vita) der tugendhaften Bürger (civili virtuosi) vorzustellen (mostrare), mit de­ nen man auf dieser Erde oft zusammen gelebt hat und wieder zusammen leben können wird". 57 Quintilian: Institutio oratoria I, 10; Palmieri I, § 123, in: Palmieri 1982, S. 38: "bereit zu jeder guten und tapferen Tat"; § 130, S. 40: "jene ,Rundheit' der Fähigkeiten, wie sie von den Griechen genannt wurde, durch die man vollkommen wird und durch und durch fähig". 58 Palmieri: Vita civile 11, § 41-44, in: Palmieri 1982, S. 68; für Bruni und AristoteIes vgl. oben, Anm. 46. 59 Palmieri: Vita Civile, 11, § 13-18, in: Palmieri 1982, S. 61 f; Cicero: De officiis 1, 4, 1 1-12; Aristoteles: Politik 1, 2; 1253 a 1-39. 52 53 54 55 56

Niccolo Machiavellis experimentelle Moral

49

der Mensch sich gegen die in der Fortuna symbolisierte Unbeständigkeit und Ver­ gänglichkeit als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft, als Bürger, am besten und dauerhaftesten zu behaupten vermag, liegt des Menschen letztes Ziel nicht in irgend einem optimalen individuellen Zustand, sondern im Erhalt und in der Ver­ teidigung eben dieser - politischen - Gemeinschaft. Bis hierher scheint Palmieri Cicero weitgehend gefolgt zu sein. Die entschei­ dende Differenz zu Cicero aber zeigt sich bei der Frage nach den Mitteln, dieses Ziel zu erreichen. Der Stoiker Panaitios, dem Cicero in De officiis folgt, nennt als primäres Kriterium des richtigen Handels das stoische "kaI6n", das sogenannte "Sittlichschöne", bei dessen Beachtung der Mensch sich mit seinem Handeln in die schöne Ordnung des Kosmos einfügt, und als zweites, untergeordnetes Krite­ rium die darauf ausgerichtete Nützlichkeit. Cicero übernimmt beide Kriterien, fügt aber, bemüht, seinen römischen Zeit­ genossen das "kaI6n" zu vermitteln, diesem die Umschreibung des "epaineton" hinzu, d. h. das, was "an sich" lobenswert ist, und er läßt sich von diesem dazu inspirieren, das "kaI6n" mit "honestum " zu übersetzen, d. h. als das "Ehrenhafte" oder "Ehrbare" bzw. als das, was "an sich" verdient, mit Ehre bedacht und von der Gemeinschaft anerkannt und gelobt zu werden. 60 Palmieri nun geht in der "Sozialisierung" des moralischen Kriteriums noch einen Schritt weiter: er verzichtet auf den metaphysischen Zusatz des "an sich" und beschränkt sich auf die tatsächliche Billigung und soziale Anerkennung derer, die sich um das Gemeinwohl, die "utilita commune", verdient gemacht haben. In zirkulärer Argumentation ist "ehrbar", wer das "Ehrbare" tut, und das "Ehrbare" 61 das, was dem Handelnden Ehre und soziale Anerkennung einbringt. Allgemeine Billigung - approvatione - das, was "man" allgemein für gut, richtig, erfolgreich hält, ist das Zauberwort in der Welt des Bürgertums, der die Sicherheit einer verläßlichen Ordnung abhanden gekommen und in der angesichts der unbeschränkten Kontingenz nichts unmöglich ist 62 60 Cicero: De officiis 1, 3, 8-9; 4, 13-15. 61 Palmieri 11, § 1 9-20, in: Palmieri 1982, S. 63: "Zwei Dinge werden nun vor allem von uns gesucht: zuerst die Ehrbarkeit (onesta), und, gleichsam aus dem gleichen Grunde, das Nützli­ che (utile), das nicht weit von jenem entfernt ist. Nun ist uns durchaus riicht unbekannt, daß nach einer subtileren Wissenschaft, das Ehrenhafte (onesto) und das Nützliche miteinander verbunden sind und in keiner Weise getrennt werden können, aber wir, die wir der allgemei­ nen Nützlichkeit folgen, wollen riicht von eingebildeten Gütern (finte bonta) sprechen, son­ dern von denen, die sich in der Erfahrung des Lebens (uso della vita) gefunden haben und bei den tugendhaften Menschen (uomini virtuosi) finden. Wir gehen daher nach einer gröberen Wissenschaft vor, indem wir als Gute jene betrachten, deren Beständigkeit, Zuverlässigkeit, Ausgeglichenheit und Urteil in höchstem Maße gebilligt werden. Diese müssen prinzipiell immer die ehrbaren Dinge wählen und ihnen die nützlichen nach Maßgabe dessen, was die Art der Materie, mit der sie sich beschäftigen, erlaubt, vermählen". 62 Um die daraus erwachsende Vielfalt noch konkreter darzustellen, erörtert Palmieri am Ende des 2. Buches ausführlich die Verschiedenheit der Gewohnheiten und ihren Einfluß und ihre Macht auf die Sitten (ebenda 11, § 155-183; S. 92-97) und die verschiedenen Pflichten, die man von den Menschen verschiedener Alterstufen und verschiedenen Standes erwarten kann (ebenda 11, § 1 84-203; S 97-102).

50

Eckhard Keßler

Hinter diesem Wort verbirgt sich der Versuch, der Willkür und Beliebigkeit der unbegrenzten Möglichkeiten zu steuern und mit Hilfe der Methode rhetori­ scher Argumentation eine politische Ordnung zu schaffen. Denn mag die Rheto­ rik, die qua definitione außerhalb des Bereiches der Notwendigkeit steht, auch nicht in der Lage sein, die Wahrheit oder Gültigkeit einer Aussage zu beweisen, so vermag sie doch einen Konsens über ihre Gültigkeit herzustellen, die von der Zustimmung der Betroffenen getragen ist. Auch wenn uns manche Forderung Palmieris - wie etwa, daß sich auch die hochqualifiziertesten Geistesarbeiter an den "gemeinen Tätigkeiten der Menschen" beteiligen sollten63 - etwas populis­ tisch erscheinen, so können doch andere, - wie daß jedermann zum gemeinen Wohl des Staates beizutragen hat64, daß Reichtum zu Wohltätigkeit verpflichtet65 und daß "Gerechtigkeit [ . . . ] darin besteht, den gemeinen Nutzen zu bewahren und jedem Einzelnen seinen Verdienst zuzuweisen,,66 - uns einen Eindruck von dem maßvollen und anpassungsfähigen67 Geist dieser letztlich auf trial and error ge­ gründeten experimentellen Moral und der von ihr getragenen politischen Ordnung geben.

5.4. Francesco Patrizi da Siena und Gi ovanni Pontano Obwohl Florenz als Ursprung und Nährboden der Entwicklung der humanisti­ schen Moral betrachtet werden kann, bedeutet dies nicht, daß sie auf Florenz be­ schränkt blieb. Spätestens in der zweiten Hälfte des 1 5. Jahrhunderts breitete sie sich auch auf das übrige Italien aus. Ich möchte nur auf drei Autoren hinweisen, die besonders in Hinblick auf Machiavelli interessant sind. Zwei von ihnen, Fran­ cesco Patrizi aus Siena (14 13-1494) und Giovanni Pontano aus der Nähe von Spoleto ( 1426-1503), erhielten ihre Ausbildung im Umkreis von Florenz, in Siena und Perugia, und haben ihre entsprechenden Werke vor Machiavellis Principe, in der zweiten Hälfte des 15 . Jahrhunderts, abgeschlossen und veröffentlicht. Es handelt sich bei beiden um Handlungs- und Verhaltensanweisungen für den Fürs­ ten, die in den Kontext einer ausführlichen allgemeinen Tugendlehre gestellt und den in Neapel herrschenden Aragonesen gewidmet sind: beim älteren, Patrizi, eingefügt in eine außerordentlich kenntnisreiche systematische Synopse antiker Definitionen und Beispiele aller Tugenden, beim jüngeren, Pontano, im Rahmen einer insgesamt elf Traktate umfassenden Reihe von Abhandlungen über ausge­ wählte Tugenden. Beide argumentieren ausdrücklich vor dem Hintergrund der 63

64 65 66 67

Palmieri: Vita Civile, 11, § 50-52, in: Palmieri 1982, S. 69-70; III, § 29-30, S. 109-10; eine positivere Bewertung geistiger Tätigkeit mit Zuerkennung einer gewissen onesta ebenda IV, § 16, S 152. Ebenda IV, § 178, S 1 86. Ebenda 11, § 65, S 72. Ebenda III, § 38, S. 1 1 1 : "Iustitia essere habito d'animo disposto aHa conservazione dell'utilita cornrnune ehe distribuisce a ciascuno il rnerito suo". Ebenda IV, 191 ff., S. 1 89-194, wo Palmieri ausdrücklich auf die Notwendigkeit, Privatrecht wie Zivilrecht den wechselnden Situationen anzupassen, hinweist.

Niccola Machiavellis experimentelle Moral

51

drohenden Fortuna, dem "plötzlichen und unvorhergesehenen Ausgang von Er­ eignissen" - subitus et inopinatus eventus eorum quae accidunt - mit dem sich vor allem der Fürst auseinanderzusetzen hat68 , und dessen er dank seiner Klugheit - prudentia - Herr zu werden vermag 69 Beide unterscheiden auch zwischen den Tugenden der Bürger und j enen der Fürsten: für die Bürger gelten, im Schutze des 7o "behütenden Staates", die traditionellen Tugenden, während die Fürsten , die die 71 Verantwortung für die Gemeinschaft tragen , und deren Aufgabe darin besteht, 72 die staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten , nach Maßgabe ihres Erfolges be­ wertet werden. Um des Gemeinwohles willen darf, ja muß der Fürst sogar tun, was beim Bürger als schändlich gilt, wie z. B. lügen und täuschen73 , und von je­ nen Vorzügen, die der Bürger wirklich besitzen muß, braucht der Fürst nur den Schein zu besitzen, 74 auf dem sein Ansehen bei den Untertanen beruht. 75

5.5. Agostino Nifo Patrizi und Pontano gelten beide in der Literatur als Wegbereiter Machiavellis, der durch sie in einer breiteren Tradition verwurzelt zu sein scheint, während der drit­ te mit Neapel verbundene Autor - Agostino Nifo ( 1469/70-1538) - in Padua aus­ gebildet und einer der führenden Aristoteliker der Jahrhundertwende, mit Machia­ velli eher nicht in Verbindung gebracht wurde, obwohl er, zu jener Zeit zum Ge­ folge des Medici-Papstes Leo X. gehörend, zehn Jahre nach der Fertigstellung und neun Jahre vor der Drucklegung von Machiavellis Principe, unter dem Titel De 76 regnandi peritia, 1 522 in Neapel ein "Remake" des Fürsten verfaßte , das durch­ aus die modernen Kriterien eines Plagiats zu erfüllen vermöchte. Für uns mag es als weiterer Beleg dafür dienen, daß Machiavellis Schrift zu Beginn des 16. Jahr­ hunderts durchaus nicht j ener Skandal war, den sie um die Mitte des 16. Jahrhun­ derts laut ihrer Indizierung offenbar darstellte, und wenn man bedenkt, daß Wi­ derspruch gegen Machiavelli bis dahin lediglich in Hinblick auf die Interpretation der historischen Beispiele laut wurde77, könnte man wohl mit Recht sagen, daß er

68 69 70 71 72 73 74 75

76 77

Patrizi: De regno et regis institutione I, 12; 11, 3, in: Patrizi 1594, S. 49-5 1 ; S. 85. Pontano : De principe, in: Pontano 1952, S. 1028-1033. Patrizi, VI, 8, ebenda S. 368. Patrizi, III, 1, ebenda S. 148. Patrizi, 11, 3, ebenda S. 85. Patrizi, IV, 3, ebenda S. 228. Patrizi, IV, 1, ebenda S. 217-19, IV, 7, S. 3 1 1 ; Pontano: De oboedientia IV, in: De Mattei 1 969, S 23, Anm . 1 . Pontano: De principe, in: Pontano 1952, S. 1 040-1047. Vgl. dort die Verben "haberi"; "se praebere"; "se rnostrare"; "videri" ete. Pontano, ebenda S. 1 046/47: "Maxime autern opinionern turn subiectorurn turn ceterorurn horninurn conciliabit". Das "conciliare" ist der Tenninus technicus für den Akt, durch den der Redner sich das Wohlwollen der Zuhörer erwirbt. Vgl. Nifo 1523: De regnandi peritia ad Carolum V; vgl. auch Nifo 2008, sowie Valletta 1 95 1 . Vgl. De Mattei 1 969, S 123-154.

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Eckhard Keßler

mit dem seinem Aufruf an Lorenzo de' Medici zugrunde liegenden methodischen Ansatz durchaus auf Zustimmung gestoßen war.

6. Die humanistische Moral und Machiavelli Wenn wir uns abschließend den theoretischen Kontext der humanistischen Moral­ philosophie in ihrer Entwicklung seit Petrarca noch einmal vergegenwärtigen, dann erweist sich als die gemeinsame Ausgangslage jener spätmittelalterliche Verlust der mit wissenschaftlicher Sicherheit und Zuverlässigkeit erkennbaren Ordnung der Schöpfung in ihrem Sein und Werden, der in der mythologischen Gestalt der Fortuna über dem Jahrhundert lastet, und der damit verbundene Ver­ lust einer apriori gültigen und verbindlichen realistischen Ethik. Handlungsorientierung war nur hypothetisch möglich. Das selbst gesetzte Ziel galt es, im Lichte unmittelbarer und mittelbarer Erfahrung auf seine Realisierbar­ keit hin zu erproben und in Gelingen und Mißlingen die gewählten Mittel auf ihre Angemessenheit und situationsbedingte Gültigkeit und Verbindlichkeit zu testen. Allgemeinere Verbindlichkeit und Gültigkeit, die der sozialen Bedürftigkeit des Menschen entspricht und ein geordnetes Zusammenleben ermöglichte, schien nur durch konsensische Setzung eines gemeinsamen Zieles und der zu dessen Er­ reichung nötigen Mittel zu erreichen - d. h. mit der Methode der rhetorischen Ar­ gumentation, deren Gegenstand das Kontingente und folglich auch die der Fortu­ na unterworfene Realität ist. Wenn die Schaffung und Erhaltung eines solchen geordneten Gemeinwesens Aufgabe und Ziel des politischen Handeins ist, dann ist alles, was zur Erreichung dieses Zieles beiträgt und damit auch dazu beiträgt, die Fortuna zu kontrollieren und zu bändigen, moralisch, und die Tugend der "prudentia", die "Fortuna den Zutritt verweigert" und den Gang der Dinge zu beherrschen lehrt, wird folglich zur zentralen Fähigkeit des Politikers. 78 Wendet man dieses humanistische Modell einer "experimentellen" Moral auf Machiavelli an, dann wird deutlich, daß es in dem Maße moralisch vertretbar ist, in dem das von ihm angestrebte konkrete politische Ziel vom Konsens der betrof­ fenen Menschen getragen wird, und das Bemühen, den Weg zu diesem Ziel zu bahnen, Erfolg verheißt. Kein geringerer als Aristoteles hatte in seiner Methodik des Umgangs mit der Welt der Kontingenz gelehrt, daß "das Ziel des politischen Redners das Nützliche oder Schädliche in Hinblick auf eine geplante Aktion ist, denn der Empfehlende empfiehlt etwas als das Bessere, und der Abratende rät von

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Patrizi: De regno VI, 8, in: Patrizi 1594, S. 368: "Die Klugheit (prudentia) leitet alle mensch­ lichen Handlungen. Große und ungewisse Dinge wägt und bedenkt sie in tiefen Überlegun­ gen. Das Vergangene vergleicht sie mit dem Gegenwärtigen und urteilt so über das Zukünfti­ ge, so daß sie den Ausgang der Dinge gleichsam vorherzusehen und vorauszusagen scheint. Nur sie vermag Fortuna den Zutritt zu verwehren (occupatfortunae aditus)".

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etwas als von dem Schlechteren ab. Alles andere aber ist dabei nebensächlich: das Gerechte und das Ungerechte, das Anständige und das Unanständige".79 Die politische Moral kann ebenso wenig wie die individuelle Moral unabhän­ gig von dem konkreten Ziel und der konkreten Situation, in der es realisiert wer­ den soll, beurteilt werden. Machiavellis Principe endet mit dem Aufruf, die Frei­ heit und Einheit Italiens herzustellen. Allein auf dieses Ziel hin wäre - im Rah­ men der humanistischen Moral - die "Moralität" der von Machiavelli vorgeschla­ genen Verhaltensweisen zu bestimmen und nach Maßgabe ihrer Nützlichkeit und Schädlichkeit für die Realisierung dieses Zieles zu bemessen. Literatur Aristoteles, 2002: Rhetorik, übers. und erl. v. Christof Rapp. Berlin. Blumenberg, Hans, 1966: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. Bracciolini, Poggio 1947: Secilllda convivalis disceptatio, utra artiurn rnedicinae an iuris civilis, praestet. In: La disputa delle arti ne1 Quattrocento, hrsg. v. Eugenio Garin, Florenz, S. 1 5-33. Bracciolini, Poggio, 1994: De avaritia, 1at.!it. hrsg. v. Giuseppe Germano/Adriano Nardi, Livorno. Buck, August, 1 98 1 : Zur Lage der Forschung. Überlegungen zuru gegenwärtigen Ständ der Renais­ sanceforschung. In: ders., Studia Huruanitatis, Wiesbaden, S. 68-93. Buridan, Johannes, 1964: In Metäphysicen Aristotelis Questiones Argutissimae. Paris 1 5 1 8 . Repf. Frankfurt a. M. (Minerva). De Mattei, Rodolfo, 1969: Da1 'Premachiavellismo' all' 'Antimachiavellismo'. Florenz. Delumeau, Jean, 1967: La civilisation de la Renaissance. Paris. Duns Scotus, Ioannes, 1968: Quaestiones in Lib. I Sententiaruru. In: Opera, vol. V, 2, hrsg. v. L. Wadding. Lyon 1639. Repf. Hildesheim (Olms). Ebbersmeyer, SabrinalKeßler, Eckhard/Schmeisser, Marlin (Hrsg.), 2007: Ethik des Nützlichen. Texte zur Moralphilosophie im itälienischen Huruanismus. München (�Huruanistische Bib­ liothek 11, 36). Garin, Eugenio, 1969: Der Begriff der Geschichte in der Philosophie der Renaissance. In: Buck, August (Hrsg.), 1969: Zu Begriff und Problem der Renaissance, Darmstadt, S. 245-262. Gilbert, Allan, 1938: Machiavelli's Prince and His Forerurmers. Durharn, N. Carolina. Gilbert, Felix, 1939: The Huruanist Concept of the Prince and The Prince of Machiavelli. In: The Journal of Modern History, 1 1 , S. 449-83. Guarino Veronese, 1 896: Prohemiun in principio 1ecturae Va1erii, in: K. Müllner, Acht Inaugura1reden des Veronesers Guarino und seines Sohne Battista. In: Wiener Studien 1 8, S. 293 (Repf. Vaduz 1 962). Keßler, Eckhanl, 1968: Das Problem des frühen Huruanismus. Seine philosophische Bedeutung bei Co1uccio Salutati. München (� Huruanistische Bibliothek I, 1). Keßler, Eckhard, 1983: Huruanistische Denkelemente in der Politik der Renaissance. In: Wo1fen­ bütte1er Renaissance Mitteilungen 7, S. 34-43; 85-92. Kno/4 Manuel, 2003: Die konservative Verantwortungsethik des Huruanisten Nicco1o Machiavelli. In: Jahrbuch für Politisches Denken, S. 94-1 1 6.

79 Aristoteles: Rhetorik I, 3; 1358 b 22-25. Vgl. zustimmend Cicero: Partitiones oratoriae 23, 83: "Beim Erwägen (in deliberando) ist das Ziel die Nützlichkeit, auf die alles so beim Bera­ ten und Urteilen bezogen wird, daß der Zuratende oder Abratende zuerst betrachten muß, was geschehen oder nicht geschehen kann und was notwendig oder nicht notwendig ist"; kritisch: Cicero: De inventione 11, 5 1 , 156; De oratore 11, 82, 334-337; Quintilian: Institutio oratoria III, 4, 16. Vgl. auchAristoteles 2002, 2. Halbband, S. 259.

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DER STAATSBEGRIFF IN MACHIAVELLIS THEORIE DES WANDEL S l

Thomas Maissen

Das Phänomen des Staates ist ebenso wenig zeitlos, ebenso wandelbar und histo­ risch bedingt wie der Begriff "Staat" selbst. Der Antike und dem Mittelalter bis ins 14. Jahrhundert waren Wort und Vorstellung des Staates unbekannt, und in der Frühen Neuzeit haben sich diese nur allmählich entwickelt: Dem Bürger und der Gesellschaft tritt eine unpersönlich gedachte, von ihren Repräsentanten und Amts­ trägern gelöste juristische Person gegenüber, die souverän ist, also keine selbstän­ digen Partikulargewalten unter sich oder Universalgewalten über sich anerkennt und die Gesetzgebung als Kern ihrer Herrschaftsgewalt und Kompetenzen ansieht und wahrnimmt. Ein einheitliches Recht gilt damit für den Staat, der, in Präzisie­ rung von Jellineks bekannter Definition, durch ein geschlossenes Territorium, eine zentralisierte Staatsgewalt und die Nation als Staatsvolk charakterisiert wird. Von diesem modernen Flächenstaat unterscheidet sich der mittelalterliche, soge­ nannte "Personenverbandsstaat" unter anderem in folgenden Punkten: Konstituie­ rendes Element ist dort die Herrschaft und ihre vornehmste und wichtigste Aus­ prägung die Rechtsprechung. Die Herrschaftsrechte und -titel unterscheiden sich von Fall zu Fall und Partikular- wie Universalgewalten beanspruchen wesentliche Anteile davon. So herrscht etwa der Staufer Friedrich Ir. im 13. Jahrhundert als Erbkönig in Sizilien und als Wahlkaiser im Reich; in Deutschland herrscht er indi­ rekt durch seinen Sohn, den deutschen König; im schwäbisch-elsässischen Haus­ besitz besitzt er die wesentlichen Regalien (Gericht, Zoll, Steuern, Münze, Markt, Mannschaftsrecht), aber mit zahlreichen lokalen Unterschieden und Ausnahmen; Reichsritter, Reichsstädte, Klöster und andere privilegierte Familien oder Kollek­ tive haben auf diesem Gebiet ihre eigenen (Herrschafts-)Rechte. Im übrigen Reich ist dagegen die effektive Macht längst an die Fürsten übergegangen, selbst die Heerfolge ist bei diesen, die nominell persönliche Lehnsleute des Königs sind, schwer durchzusetzen. Herrschaftliche Institution gibt es kaum: Reichshofkanzlei wie Reichshofgericht verfügen über keinerlei exekutive Gewalt und unterstehen dem König auch nicht uneingeschränkt. Solche schwerwiegenden Unterschiede legen nahe, dass man den Begriff "Staat" für die Vorrnoderne nur mit erläuternden Einschränkungen gebrauchen sollte, etwa "Personenverbands-" oder "Ständestaat" beziehungsweise mit dem Adjektiv "mittelalterlich", "antik" oder ähnlich. Dies gilt umso mehr, als die nati­ onalsprachlichen Tennini "stato", "estado", "etat", "state" und eben "Staat" sich erst im Laufe eines längeren Prozesses vom 14. bis 17. Jahrhundert mit der geläuDie Forschungen für diesen Aufsatz erfolgten im Rahmen eines Forschungsprojekts der Ger­ man Israeli Foundation (GIF) über "Liberalism and Republicanism in Early Modem Europe".

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figen Denotation entwickelt haben, und zwar als Lehnwörter nach dem lateini­ schen "status". Im klassischen Latein umschreibt "status" aber nie den politischen Verband als solchen, sondern allenfalls seinen Zustand, seine Verfassung. Syntak­ tisch drückt sich das aus, indem "status" nicht absolut gebraucht wird, sondern in der Regel mit einem Genetiv-Attribut 2 Noch Machiavellis Zeitgenosse Thomas Morus nennt seine 1 5 1 6 erschienene Utopia im Untertitel "De optimo reipublicae statu" - "Vom bestmöglichen Zustand des Gemeinwesens". Die "respublica" im antiken Sinn ist der Zusammenschluss und die Selbstorganisation von Einzelnen unter gleichem Recht und zur allgemeinen Wohlfahrt - nicht aber eine lenkende und verwaltende, durch Beamte gegenwärtige Institution. Es gibt keine homogene Gruppe von "Staatsdienern": Viele öffentliche Aufgaben werden von Sklaven wahrgenommen, die nicht einem "Staat" verpflichtet sind, sondern ihrem persön­ lichen Herren. Ein Konsul, Prätor oder Aedil ist ein Privatmann, kein Staatsange­ stellter; die "respublica" ist der Ort, wo er private Tugenden zum allgemeinen Wohl verwirklicht. Das "ius publicum" ist wohl öffentlich im Unterschied zum Privatrecht, aber nicht Recht des Staates im modernen Sinn und schon gar kein Verwaltungsrecht: So umfasst es religiöse Aufgaben, die von "personae publicae" erledigt werden. Wenn Ulpian definiert: "Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat" (Öffentliches Recht ist das, was sich auf den Zustand des römi­ schen Gemeinwesen bezieht), so meint "status" nicht die politische Struktur, son­ dern den (guten) Zustand und das Gemeinwohl 3 Der Vorstellung stadtstaatlicher Autonomie liegt wie dem griechischen "polites", der in der "polis" agiert, auch dem lateinischen "civis" in der "civitas" (Stadt als "Bürgerschaft") zugrunde. Insofern behalten "civitas" und "respublica" im Mittelalter eine "republikanische" oder eher stadtbürgerliche Konnotation, werden aber auch für das Gemeinwesen an sich, die politische Ordnung oder eben den "Staat" - gleich mit welcher Verfassung - gesetzt. Daneben betonen die im Mittelalter ebenfalls weiterverwendeten Begriffe "imperium" und "regnum" das herrschaftliche Moment, wie es dem Römer besonders in dem für das Mittelalter prägenden Phänomen des Prinzipats, des Kaisertums begegnet ist. "Status" dage­ gen findet sich erst in der Spätantike, etwa bei Orosius, als Synonym für "civitas" oder "respublica", also schon nahe beim modernen Staatsbegriff - allerdings nur 4 selten Interessant sind solche Belege gleichwohl, da die abstrakte Verwendung möglicherweise in diesen zusehends unruhigeren Zeiten auf die Institutionalisie­ rung und Stabilität von herrschaftlichen Funktionen seit den diokletianisch­ konstantinischen Reformen verweist: eine rationale Reichseinteilung und Reichs­ verwaltung, ein Verlust an Autonomie der einzelnen Städte, ein vereinheitlichter Untertanenverband gegenüber einem absolutistischen Kaiser mit einer hierar-

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Zu "status rei publicae" als Verfassungsforrnen im Sinn von "politeia" etwa bei Cicero, Rep., 1 , 42, 68; 2, 57, 60-62, vgl. Suerbaum 1977, S. 1 1 7-22. Dig. 1 . 1 . 1 . 2; dazu Mager 1968, S. 1 8-22/408-412; Weinacht 1968, S. 58f. Orosius, Historiae adversus paganos, 2, 5, 9: "Romani status lumina", übersetzt mit "Zierden des römischen Staates" von Svennung 1922, S. 1 27ff., mit weiteren Belegstellen aus Orosius, Tertullian, Aurelius Victor und Ammian.

Der Staatsbegriff in Machiavellis Theorie des Wandels

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chisch geordneten Zivilbeamtenschaft, eine straffe obrigkeitliche Finanz- und Wirtschaftspolitik. Allerdings ist dieser spätantike Wortgebrauch nicht traditions­ bildend. Im feudalen Mittelalter geht dieser Gebrauch von "status" wieder verlo­ ren, das erneut, wie im klassischen Latein, nur "Stand, Zustand" heißt. In einem absoluten, politischen Sinn ist "status" also im Mittelalter nicht belegt. Um die weitere Entwicklung des Begriffs "status" in der Renaissance zu ver­ stehen, ist ein Blick auf die reale politische Entwicklung Italiens im Spätmittelal­ ter notwendig. Nicht zufallig ist oben am Beispiel Friedrichs Ir. gezeigt worden, inwiefern gerade das Kaiserreich deutscher Nation kein modernes Staats gebilde darstellt. Derselbe Friedrich hat allerdings in seinem Erbreich Sizilien auf eine Art geherrscht, die diesem die Bezeichnung "Modellstaat"S und ihm selber den - nur bedingt bewundernden - Titel "der erste moderne Mensch auf dem Thron,, 6 einge­ tragen hat. Auch wenn solche Qualifikationen ihrerseits zeitbedingt übertrieben sind, beginnt Jacob Burckhardt seine Überlegungen über den Renaissance-Staat als Kunstwerk nicht grundlos mit dem Staufer, der allerdings in seiner Zeit eine Ausnahme bleibt. Durch die Systematisierung alten und die Schaffung neuen Rechts, vor allem des Prozess-, Verwaltungs- und Strafrechts, schränkt Friedrich in Süditalien die konkurrierende Kommunal-, Adels- oder Kirchenrechtsprechung stark ein und schafft in wesentlichen Bereichen einen einheitlichen, territorial klar umschriebenen Rechtsraum. Irrationales Recht (wie Zweikämpfe, Gottesurteile) und Eigenjustiz wie Faustrecht werden verboten. Die Rechtspflege geht an eine universitär-laikal gebildete, zentral organisierte und kontrollierte Beamtenschaft über. Diese kümmert sich auch um eine relativ effiziente Steuereintreibung und betreibt eine aktive Wirtschaftspolitik (Monopole, Kontrolle) im Interesse der Staatsfinanzen. Der König selbst ist als potentiell omnipräsent, "ubiquitär" ver­ standen - die Vorstellung der Herrschaft, der Staatsgewalt wird von der leiblichen Gestalt und Präsenz ihres Trägers und ihrer Repräsentanten gedanklich getrennt. In diesem etwas teleologisch und modernistisch zugespitzten Bild steht schließ­ lich einem übermächtigen König eine in ihrer Abhängigkeit wenig differenzierte Schar von Untertanen gegenüber.7 Zur gleichen Zeit steht in der Toskana und in der Lombardei die kommunale Bewegung in voller Blüte. Seit dem 12. Jahrhundert haben sich im Gefolge des Ringens zwischen Kaiser und Papst viele Städte aus der Abhängigkeit vom Bi­ schof, dem umliegenden Adel und zuletzt vom Kaiser gelöst und begonnen, sich selbst zu verwalten und das umliegende Gebiet, den contado, zu unterwerfen. Der politischen Praxis und Theorie liegt also, anders als in monarchischen Strukturen, die Erfahrung zugrunde, dass Stadt und Land getrennte Rechtsräume sind. Diese Republiken, Zusammenschlüsse von Stadt-Bürgern, deren Einfluss auf gewerbli­ cher Produktion und nicht auf feudalem Landbesitz beruht, sind zwar faktisch keiner äußeren Macht mehr unterworfen, leiden aber umso mehr an inneren, so5 6 7

Marongiu 1 966, S. 75G-773. Burckhardt 1930, S. 2; zu ihm auch Skalweit 1975, S. 19-2 1 . Vgl. zu Friedrich 11. die Aufsätze in Wolf 1982 und als neuere Monographie, mit weiterfüh­ render Literatur, Hauben 2008 (auch zum Nachleben).

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zialen wie politischen Zwisten und Kämpfen. Dem entgegenzuwirken, entsteht 8 seit ungefahr 1200 - also im Zeitalter Friedrichs Ir. - die Institution des Podesta Bei diesem handelt es sich um einen stadtfremden, sporadisch wechselnden und mit vertraglich festgelegten Pflichten und Lohn angestellten Stadtherren, der eine über den Parteien stehende Verwaltung gewährleisten soll. Mit sich bringt dieser Mietherrscher auf Reisen einen Apparat von Justiz- und Exekutivbeamten, die er selbst organisiert und besoldet. Die Verhaltensmaßregeln, die ihre Neutralität ga­ rantieren sollen, erinnern an Friedrichs Ir. Vorschriften für seine Justizbeamten: Keine geschäftlichen oder persönlichen Beziehungen dürfen zu Stadtbürgern be­ stehen. Im Podesta und seinen Helfern fassen wir einen Vorläufer der modernen Bürokratie, welche Verwaltung und Justiz als eine sachliche, prinzipiell unpoliti­ sche und von den Parteien unabhängige Aufgabe ansieht, die nach vorgegebenen, juristischen Regeln zu erfolgen hat. Wenn auch der Übergang zur Signorie den meisten italienischen Republiken ein Ende setzt, so bedeutet er doch keineswegs ein Ende der Beamtentätigkeit. Im Gegenteil: Das Amt des Podesta ist oft eine Vorstufe der unbeschränkten Einzel­ herrschaft eines Signore, und seine Beamten entwickeln sich zu einem Herr­ schaftsapparat, vergleichbar mit der besprochenen sizilianischen Entwicklung oder derjenigen in Frankreich, den iberischen Staaten oder auch England: Eine zusehends rationalisierte Verwaltung steht dem Untertanen gegenüber, dessen korporative Einbindungen an Gewicht verlieren. Diese politischen Veränderungen hinterlassen allmählich ihre Spuren auch in der Terminologie und insbesondere beim Wort "status" bzw. "stato" - ohne dass es seine bisherigen Bedeutungen verliert, wie bereits oben am Beispiel von Morus 9 angedeutet worden ist Legisten wie Cino da Pistoia und Baldus interpretieren "status" im zitierten Ulpiansatz konsequent als "bonum commune" oder "utilitas", also als guten Zustand, gemeinen Nutzen oder "Gemeinwohl" der politischen Gemeinschaft, die damit eben ihren eigentlichen Zweck erfüllt. Mit der Definition "Status, id est magistratus" meinen sie nicht Beamte und die politische Struktur als Anstalt, sondern die aus der Gemeinschaft abgeordneten Bürger, welche die Rechtsordnung gewährleisten. 1 0 Thomas von Aquin übersetzt in seinem Kommen­ tar der Politik des Aristoteles die Begriffe "aristokratia, oligarchia, demokratia" u.a. mit "status optimatum", bzw. "paucorum", "multorum". "Status" hat hier also die Bedeutung von "species politiae" - eine Verfassungsform, was der antiken ll Vorstellung von "Zustand" des Gemeinwesens noch recht nahe ist.

Klar auf Friedrich 11. ausgerichtet ist das Lehrgedicht über den Padestd von Orfina da Ladi, 1998, v. a. S. 68-8 1 ; über diese Institution - die es selbstverständlich auch in der gue1fischen Variante gibt - findet sich dort auch weiterführende Literatur. 9 Zum Folgenden Mager 1968, S. 26-36/41 6-426; Hauser 1 967, S. 23ff. 1 0 Vgl. hierzuMager 1968, S . 1 3-25/403-415, gegen Past 1 964. 1 1 Mager 1968, 41 9f!429f. 8

Der Staatsbegriff in Machiavellis Theorie des Wandels

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Wichtiger als die juristischen und philosophischen Traktate ist in dieser Hin­ sicht die historiographische und alltagspolitische Produktion. 12 Beim Florentiner Chronisten Giovanni Villani (ca. 1275-1348) finden sich nicht nur die bisher er­ wähnten Bedeutungen und die auch sonst belegte im Sinn des deutschen Fremd­ wortes "Status", also Ansehen, Einfluss eines Menschen gerade im politischen Bereich. Villani verwendet auch Wortverbindungen wie "stato e signoria" - Herr­ 13 schaft und Machtstellung Wegweisend wird der absolute Gebrauch von "stato", wenn etwa in den Florentiner Ratsprotokollen (Consulte e pratiche) um 1400 Wendungen wie "necessitil di stato", "pericolo di stato" oder "sicurezza di stato" auftauchen. 14 In der Chronistik kommt auch "turbazioni di stato" - politische Un­ ruhen - wiederholt vor 1 5 Noch ist die Vorstellung einer Verfassung gegenwärtig, die aber anders als bei Thomas nicht konkretisiert wird: "stato" bezeichnet nicht mehr einen bestimmten (Verfassungs-)Zustand des Gemeinwesens, sondern dieses selbst schlechthin unter seinem durativen Aspekt, d.h. unter einem mächtigen Herrschaftsapparat, der mehr umfasst als nur gerade einen zufalligen Herrscher. "Stato", auch das seltenere lateinische "status" kann hier also je nach Situation "Regiment, Herrschaftsbehauptung, Machtbesitz, Machtausübung, Macht über­ haupt" bedeuten 1 6 Das bildet die erlebte Herrschaftsgewalt eines Podesta oder Signore ab, aber auch diejenige der republikanischen Regierung etwa des Dogen, den der Venezianer Gesandte Pietro Cornaro 1380 anspricht und dabei "rem vestram publicam et statum ducalis dominationis vestrae" parallel setzt. 17 Der "stato que reggia", die herrschende Partei, abstrahiert dabei zusehends als "Staats­ gewalt" von der oft rasch wechselnden Person des Herrschers. 18 Der Luccheser Chronist Giovanni Sercambi erzählt um 1400 von der Angst, dass Florenz seinen Staat verlieren werde ("perdesse suo stato"), und den Gegenmaßnahmen der Herr­ schenden ("quelli ehe Firenza regievano"), um ihren Staat zu bewahren: "loro stato mantenere", was bereits Machiavellis berühmte Wendung vorweg nimmt 19 So wird "stato" immer stärker mit den städtischen Ämtern und Amtsträgern kon­ notiert, für die auch das allerdings eher seltene "statuali" geprägt wird. In Leon Battista Albertis Libri della famiglia wird es wie das abschätzige "staterecci" po­ lemisch verwendet, um die machthungrigen "Staatsmänner" mit den wahren Bür-

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Vgl. die zahlreichen Belege für den allmählichen semantischen Wandel und die häufigere Verwendung von "status" bzw. "stato" in Mittelalter und Renaissance bei Tenenti 1987, S. 1 5-97. Villani 1 823, Bd. 3 , S . 24: "il popo1o in suo stato e signoria"; zahlreiche Beispiele bei Mager 1968, S 34f!424f Belege bei Tenenti 1987, S . 7 l f Tenenti 1987, S . 69 für "turbazioni" am Ende des 1 4 . Jahrhunderts, so bei Sie/ani 1903, S. 357. Mager 1968, S 65-78/455-468. Cornaro 1939, S . 88 (Nr. 77, 1 8 . Juli 1380), vgl. Tenenti 1987, S . 58. Condorelli, 1923, S. 94; Weinacht 1 968, S. 58; Hauser 1 967, S. 23ff Sercambi 1 892, Bd. 3, S. 3 1 ; auch Bd. 2, S. 228 und 3 , S . 74; vgl. Tenenti 1987, S . 62-64.

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gern, Vaterland und Gemeinwesen ("cittadini", "patria", "repubblica") zu kon­ frontieren 20 Gleichzeitig wird das Wort auch territorial auf das beherrschte Gebiet ausge­ dehnt: Sercambi spricht vom "stato di santa Chiesa". 21 Es ist wohl kein Zufall, wenn hier schon früh und konkret vom Kirchenstaat die Rede ist - es handelt sich um einen ganz bestimmten, fest eingerichteten Herrschaftsapparat, dessen institu­ tioneller und nicht an die Person des j eweiligen Papstes gebundener Charakter seit seinen Anfangen vergleichsweise "staatliche" Züge aufweist, die allerdings erst im 15. Jahrhundert, mit der Konsolidierung eines direkt durch den Papst oder des­ sen Nepoten beherrschten und verwalteten Territoriums, eben des Kirchenstaates, virulent werden. Gleichzeitig verbreitet sich auch sonst in Italien der Gebrauch von "status" für ein Gebiet im Sinn eines Bündels von Herrschaftsrechten ("do­ minium") über Güter und Menschen. 22 Den absoluten Gebrauch von "stato" als Staatswesen schlechthin, losgelöst von einem konkreten Territorium und von einer bestimmten Herrschafts- bzw. 23 Verfassungsform und mit vielfaltigen Konnotationen finden wir bei Machiavelli. Man hat deshalb früher geglaubt, er sei nicht nur der Begründer der Politikwissen­ schaft auf säkularer und empirischer Basis gewesen, sondern habe dem Objekt seiner Wissenschaft auch gleich den Namen "stato" gegeben 24 Der Begriff ist aber zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch in seiner absoluten Verwendung bereits allgemein gebräuchlich: So finden wir ihn beim Venezianer Historiker Marino Sanudo ( 1466-1 533) und bei Francesco Guicciardini mit denselben Bedeutungen wie bei Machiavelli 25 Zudem ist der Wortgebrauch von "stato" bei Machiavelli uneinheitlich und terminologisch offensichtlich nicht klar durchdacht, so dass er vor allem in den Discorsi "cittit" oder "republica" weitgehend synonym mit "stato" verwendet. Die Entwicklung des Begriffs ist noch ebenso im Fluss wie die Ausbildung des Phänomens "Staat" selbst 26 Bei diesen notwendigen Relativierungen ist es dennoch sinnvoll, im folgen­ den Machiavellis Sprachgebrauch näher zu untersuchen, und sei es nur wegen seiner Nachwirkung. Während Guicciardini und Sanudo primär als Historiker auf 20 Tenenti 1987, S. 62, 73-80; Virali 1 992, S. 96-105. 21 Sercambi 1 892, Bd. 1, S. 214; vgl. Tenenti 1987, S. 56. 22 Beispiele bei Mager 1968, S. 92-95/482-485. 23 Die umfangreiche Literatur allein zu diesem Thema kann hier nicht zusammengefasst wer­ den, ist aber in der Bibliographie möglichst vollständig aufgelistet; zumindest in Ansätzen geben etwa GiTbert, 1965, S. 328-330, Mager 1968, S. 6f./396f., Fasana Guarini 1 990, S. 30f., Skinner in Machiavelli 1988, S. ix ff. oder Faurnel 2008 Überblicke über diese national­ sprachlich zersplitterten Debatten. 24 Etwa Jellinek 1900 oder Ercale 1 926, vgl. Hauser 1 967, S. 83; außerdem Kern 1 949, S. 24f. 25 Vgl. Mager 1968, S. 36-39/426-429; Hauser 1 967, S. 78ff. ; Tenenti 1987, S. 93f. 26 Vgl. Hauser 1 967, S. 89; Virali 1 992, S. 1 29f. Faurne1 2008, S. 5, listet 1 8 Wörter auf, die für Übersetzungen von "stato" in das Französische Verwendung fanden; Fournel hat es be­ vorzugt, in seiner eigenen Übersetzung, trotz der unvermeidlichen Polysemie, generell "etat" zu schreiben statt interpretierend einzugreifen. Dagegen hat Russel Price in seiner englischen Übersetzung verschiedene Formulierungen gewählt, die er im Appendix zu Machiavelli 1988, S 1 02f., darlegt.

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uns gekommen sind, ist Machiavellis Hauptsorge die theoretische Lösung des Problems, wie der staatlichen Organisation Bestand gewährt werden könne - das "mantenere 10 stato" wird nicht nur beschrieben, sondern erörtert. Die Wichtigkeit des Begriffs für das Denken des Florentiners zeigt sich auch in seiner häufigen Verwendung: Unter den ca. 1 5 .000 Wörtern des Principe zählt man 1 1 4mal das Substantiv "stato", und fast immer in politischem Sinn. Machiavelli gebraucht das Wort durchaus auch in antiker beziehungsweise in­ zwischen gut etablierter erweiterter Form, nicht nur im Sinn von "Zustand", son­ dern auch für eine konkrete "Verfassung(sform)" oder "Herrschaft" und "Macht (-ausübung)". Doch der berühmte Anfangssatz des Principe ist neuartig: "Alle Staaten, alle Reiche, die über die Menschen Macht hatten und haben, waren und sind Republiken oder Fürstenherrschaften". 27 Nicht nur verwendet Machiavelli "stato" hier absolut, ohne präzisierendes Attribut. Es liefert auch die allgemeine, umfassende Kategorie für die Herrschaftsordnung, unter die er die spezifischen Verfassungsformen subsumiert: Republiken und Fürstentümer, worauf unmittel­ bar anschließend auch die formale Unterscheidung in ererbte ("stato ereditario") und neuerworbene Staaten folgt, in den Discorsi außerdem auch die normative zwischen Freistaat ("stato libero") und Tyrannei ("stato tirannico,,). 28 Der Staat wird so in zweierlei Hinsicht vorgestellt: einerseits als Subjekt und Objekt der realen politischen Herrschaft, andererseits als Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse. Wenden wir uns zunächst dem ersten Aspekt zu. Über die erwähnten her­ kömmlichen Bedeutungen von "stato" im Sinn von "Verfassung" oder "Macht" hinaus führt Machiavellis Gleichsetzung von "stato" mit dem Herrschaftsapparat der Partei oder der Person, welche die Regierung bildet. "Stato" wird zugleich 29 subjektiviert und - klar häufiger - objektiviert : Es bezeichnet den Ausgangs­ punkt einer von der Herrscherfigur abstrahierenden herrschaftlichen Gewalt, sy­ nonym mit Regierung ("ordine dei governo, 0 vero dello stato" für "Verfassungs­ ordnung"), wie auch das von ihr betroffene Gebiet und dessen Bevölkerung. 30 Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk sind in der erwähnten Definition von Jellinek die konstituierenden Elemente des Staats, dessen moderner Begriff sich dadurch auszeichnet, dass alle diese so unterschiedlichen Elemente automatisch in 31 ihm mitverstanden werden. Tatsächlich kann in einem einzigen Absatz des

27 Machiavelli Principe 2003, S. 8f.: "Tutti gli stati, tutti e' dominii che hanno avuto e hanno irnperio sopra gli uornini, sono stati e sono 0 republiehe 0 principati". In den Discorsi, Ma­ chiavelli 1 966, S. 1 2 (1, 2) � 1 997, S. 203 (1, 2) erwähnt Machiavelli auch die von ihm abge­ lehnte Einteilung der Verfassungslehre in "tre stati": "principato, ottimati e popo1are". 28 Machiavelli Discorsi 1 966, S 57 (1, 16) � 1 997, S 240 (1, 16). 29 Für zahlreiche Beispiele von Objektivierung Hexter 1957, 1 1 9-1 27, der allerdings - auch wegen der Beschränkung auf den Principe - allzu exklusiv die ausnutzbare Passivität des "stato" betont; vgl. dazu auch GiTbert, 1 966, S. 329f. 30 Machiavelli Discorsi 1 966, S 64 (1, 1 8) � 1 997, S 246 (1, 18). 31 Mager 1968, S. 55/445, 91f./48 1 f. Vivanti 2008, S. 199-201, übergeht die Bevölkerung, wenn er ebenfalls drei Elemente in Machiavellis Staatsbegriff herausarbeitet: Institution, Territori­ um und Regime, Herrschaftsform.

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Principe ,,10 stato" - also die Bevölkerung - als Subjekt rebellieren, sich durch einen Fürsten regieren lassen und als - territoriales - Objekt erworben, besessen und bewahrt werden. 32 Ebenso kann man den Staat angreifen und besiedeln, aus ihm - also dem Land - Erträge erzielen und ihn - also die Bevölkerung - durch Einquartierungen schädigen. 33 Der Fürst schafft ("creare") den Staat und damit auch dessen V erfassung und einen Herrschaftsapparat, zum Beispiel eine Aristo­ kratie ("stato di pochi"). Wenn der Anführer des Ciompi-Aufstands, Micheie di Lando, den Staat in drei Teile aufteilt, dann meint Machiavelli die öffentlichen Ämter, die er der kleinen, der großen und der neuen Zunft übergibt. 34 Auch in einem Freistaat ("stato libero") sind die Bürger mit dieser Staatsgewalt nicht iden­ tisch, sondern stehen ihr respektvoll, ja furchtsam gegenüber ("contro allo stato,,). 35 Ein solcher Staat hat aus sich selbst heraus eine Majestät ("maestit dello stato"), die nicht mit der Würde des Herrschers zusammenfallt, sondern diej enige 36 einer Institution ist. Diese Differenz wird in der Wendung "perseguitare nello stato e nella persona" explizit: seinen Feind verfolgen sowohl als Staat als auch in 37 Person. Ähnlich geschieden und zugleich komplementär heißt es von den Bür­ gern, dass sie sowohl den Fürsten brauchen als auch den Staat, der seinerseits, als abstrakter "stato", auch auf sie angewiesen ist 38 Ebenso meint die berühmte Wendung ,,(man)tenere 10 stato" (den Staat erhalten, bewahren), aber auch das entgegengesetzte "togliere 10 stato" (den Staat wegnehmen) mehr als den Status des Fürsten - er will seinen herrschaftlichen Zustand erhalten, aber er bewahrt so unbesehen davon auch die staatliche Ordnung 39 Dass diese mehr bezeichnet als die reine Herrscherrnacht, zeigt sich beim römischen Diktator, der mit allen au­ ßerordentlichen Vollmachten ausgestattet gewesen ist; gleichwohl konnte er "nichts tun, was dem Staat hätte schaden können; er konnte [ . . . ] die alten Einrich-

32 Machiavelli Principe 2003, S. 31 (Kap. 4); ähnlich vielfältig auf kleinem Raum Machiavelli Istorie Fiorentine 1 962a, S. 474f. (7, 14) und die von Virali 1 992, S. 129 angeführten Beispie­ le. 33 Machiavelli Principe 2003, S. 1 6-20 (Kap. 3). 34 Machiavelli Istorie Fiorentine 1986, S. 191 � 1962a, S. 246 (3, 16). 35 Machiavelli 1 966, S. 29 (I, 7) � 1 997, S. 217 (I, 7): "i cittadini, per paura di non essere accusati, non tentano cose contro aHo stato" ("Die Bürger wagen aus Furcht vor einer Ankla­ ge nichts gegen den Staat zu unternehmen, Übersetzung M.K. und S.S.). 36 Machiavelli Principe 2003, S. 138 (Kap. 18); vgl. Vivanti 2008, S. 21 8f. Dagegen die Position von Mansfield 1983, S. 849-857, wonach "stato" nicht den "impersonal stale" bezeichne, sondern sich bei Machiavelli stets auf einen Herrscher beziehe. 37 Machiavelli 1 964, Bd. 3, S. 1246: Schreiben aus Blois vom 2 1 . Juli 1 5 1 0, zitiert bei Tenenti 1987, S 95. 38 Machiavelli Principe 2003, S. 82 (Kap. IX): ,,10 stato ha bisogno de' cittadini [ . . . ] li sua citta­ dini [ . . . ] abbino bisogno dello stato e di lui". 39 Für ,,(man-)tenere" vgl. Machiavelli Principe 2003, S. 10 (Kap. 2), 14 (Kap. 3), 30 (Kap. 4), 36 (Kap. 5); 138 (Kap. 1 8); außerdem und auch für "acquistare", "togliere" und "perdere" Hexter 1957, 1 1 9-121.

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4o tungen des Staats nicht abschaffen und neue einführen,, Den Bestand des Staa­ tes garantieren also nicht seine Repräsentanten allein, sondern seine (gute) Ein­ richtung, die Institutionen: insbesondere "gute Gesetze und ein gutes Heer,, 41 Damit kommen wir zum zweiten Aspekt: dem Staat nicht als stabilem Teil der göttlichen Ordnung oder als Produkt einer natürlichen Neigung des zoon politik6n (Aristoteles), sondern als menschengemachtem "Kunstwerk" (Jacob Burckhardt). Damit wird der Staat selbst (und nicht die Verfassung oder die Amtsträger) zu einem möglichen Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse. Diese ist zum ei­ nen historisch, weil Staaten das Resultat geschichtlicher Veränderungen sein kön­ nen, so etwa des Kampfes zwischen Papst und Kaiser, nach dessen Schwächung Italien in vielerlei Staaten zerfallen sei 42 Andererseits lässt sich der Staat aber auch als "Naturphänomen" erfassen, mit Naturgesetzen ("gli stati . . . come tutte le altre cose della natura") und Regeln ("regola generale", "termini,,) 43 Nur wer sich hierin auskennt, also klug ist ("savio", "prudente", "prudenza") und dazu prakti­ sche Tüchtigkeit ("virtu") besitzt, wird jeweils schnell das Richtige tun. Staats­ kunst ist also durch Wissen und politische Intuition geleitetes, situations gemäßes Handeln im Wissen darum, dass sich dieser historische Rahmen in seiner als For­ tuna konzipierten Dynamik letztlich stets nur unvollständig durchschauen und beherrschen lässt. Das meint Machiavelli mit "intendere dello stato", sich auf den Staat verstehen. Die Italiener seien den Franzosen darin überlegen. Er selbst, so der ehemalige Florentiner Kanzler in seinem berühmten Brief an Francesco Vettori vom 10. Dezember 1 5 13, widme sich nun seit 1 5 Jahren dem Studium der Staatskunst ("studio all 'arte dello stato,,) 44 Dafür benutzt Machiavelli zwei Arten von Quellen, wie er programmatisch verkündet: die lange Erfahrung mit den ge­ 45 genwärtigen Zuständen und das beständige Studium der antiken Verhältnisse Diese Beschäftigung mit Gegenwart und Vergangenheit ermöglicht es Machiavel­ li, eine empirisch begründete, "pessimistische" oder eher (was die menschliche Soziabilität anbetrifft) skeptische Anthropologie zu entwerfen und vor diesem Hintergrund die "cose di stato" zu analysieren. Mit diesen Staatsangelegenheiten geht der kluge Fürst so um wie ein Arzt mit seinen Patienten - stets darauf be­ dacht, keine verhängnisvollen Mittelwege zu gehen und die Medizin rechtzeitig zu verabreichen, bevor die Krankheit ausbricht 46 40 Machiavelli Diseorsi 1 997, S. 272 (1, 34) � 1 966, S. 95 (1, 34): "non poteva fare eosa ehe fussi in dirninuzione dello stato, cürne sarebbe stato torre autoriffi al senato 0 al Popo1o, disfare gli ordini veeehi della eiM e farne de' nuovi" (,,Doch er konnte nichts tun, was dem Staat hätte schaden können; er konnte zum Beispiel nicht dem Senat oder dem Volk seine Machtbefugnisse nehmen, er konnte die alten Einrichtungen des Staats nicht abschaffen und neue einführen"). 41 Machiavelli Prineipe 2003, S. 92/94 (Kap. 12); "E' prineipali fondamenti ehe abbino tutti gli stati [ . . . ] sono 1e buone 1egge e 1e buone arme" (,,Die hauptsächlichen Grundlagen, die alle Staaten brauchen [. .. ) sind gute Gesetze und ein gutes Heer"). 42 Ebenda, S 100 (Kap. 12). 43 Ebenda, S 28 (Kap. 3), 48 (Kap. 7). 44 Machiavelli 1 962b, S. 305 (10. Dezember 1 5 1 3). 45 Machiavelli Prineipe 2003, S 5 (Widmung), 29 (Kap. 3). 46 Ebenda, S 21 (Kap. 3); Machiavelli Diseorsi 1 966, S 394 (3, 40) und S. 237-241 (2, 23).

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Das Wissen um die "cose di stato" ist es also, das den Herrschern erlaubt, die "necessitil" zu erkennen, die vom Geschichtslauf gegebenen Zwänge und - kom­ plementär dazu - die Freiräume für das politische Handeln, wenn es darum geht, eine politische Ordnung zu schaffen und zu bewahren. Machiavellis "stato" weckt insofern keineswegs zufallig Assoziationen zum ursprünglichen Wortsinn von "status" - Zustand, Bestand, feste Stellung. Damit erfasst der Florentiner nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ das, was im unvermeidlichen Wandel der Zei­ ten und der Machtträger stabil bleibt und bleiben soll: die Institutionen, welche die politische Ordnung im Inneren und gegen außen gewährleisten 47 "Stato" beschreibt damit genau das, was in der italienischen Selbstwahrneh­ mung mit dem Franzoseneinfall von 1494 unwiederbringlich zerstört ist: das Gleichgewicht der Pentarchie, das im "goldenen Zeitalter" Lorenzos de' Medici geherrscht habe 48 "Ebenso rasch besetzt wie verloren" - was Ludwig XII. von Frankreich mit Mailand erlebt - ist in diesen Jahrzehnten allgemeines Pro­ 49 gramm Diese Wirren haben gerade Florenz erschüttert, außen- wie innenpoli­ tisch. 1 5 12 ist Machiavelli als Kanzler von Soderinis republikanischer Regierung das Opfer eines Umsturzes geworden, der die Medici an die Macht, aber Italien nicht zur Ruhe gebracht hat. Politischer Einfluss, Gestaltungsräume und Ruhm, dann Gefangnis, Folter und innere Verbannung - Machiavelli hat am eigenen Leib erfahren, wie Fortuna die staatlichen Verhältnisse verwandelt ("Ia mutazione degli stati"). Das Gegenprogramm dazu ist das so oder ähnlich häufig belegte ,,(man)tenere 10 stato", der Staatserhalt, und gleichzeitig auch das "mantenersi nel suo stato", den Status erhalt und die Selbstbehauptung im Staat.5 0 Letzteres falle, so Machia­ velli, dank dynastischer Kontinuität in einem ererbten Fürstentum leicht. Deshalb und dagegen gilt sein klarer Fokus der neu erworbenen und entsprechend fragilen

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Wendungen wie "rnutare 10 stato" kommen durchaus vor, bezeichnen aber einen Verfas­ sungswandel, nicht die Diskontinuität, also das Ende des Staates, vgl. Machiavelli Discorsi 1 997, S. 300 (1, 49): "Ma dipoi, mutandosi per 1a mutazione degli stati questo ordine" � Ma­ chiavelli 1 966, S. 130 (1, 49): "A1s sich später mit der Änderung der Verfassungen auch diese Einrichtung änderte"; Machiavelli 1 997, S. 401 (2, 27): "intenzione di quello esercito era mutare 10 stato in Firenze" � Machiavelli 1 966, S. 255 (2, 27): "Denn die Absicht des spani­ schen Heeres ging dahin, die Regierung in Florenz zu wechseln"; Machiavelli 1 997, S. 445 (3, 7): "nella mutazione che fe' Roma dai Re a' Consoli [ . . . ]. 11 che depende da questo, perche quello stato che si muta, nacque con vio1enza, 0 no [ . . . ]" � Machiavelli 1 966, S. (3, 7): "wie beim Übergang Roms von den Königen zu den Konsuln [ . . . ]. Dies hängt davon ab, ob die gestürzte Regierung mit Gewalt ans Ruder gekommen ist oder nicht". Vgl. auch die Bele­ ge für "mutare 10 stato di Firenze" in den Istorie fiorentine, so Machiavelli 1962a, S. 257 (3, 22), 5 1 2 (8, 3), 529 (8, 1 1); ähnlich S. 271 (4, 1): "Le cilta [ . . . ] variano spesso i govemi e sta­ ti 10ro." [Die städtischen Gemeinwesen [. .. } verändern häufig ihre Regierung und Verfas­ sung, Übers. d. Hrsg.]. 48 Vgl. das bekannte Einleitungskapitel von Guicciardini 1971, S. 5-9 (1, 1); auch GiTbert 1958. 49 Machiavelli Principe 2003, S. 1 1 (Kap. 3): "Luigi XII re di Francia occupo subito Mi1ano e subito 10 perde" ("Ludwig XII., König von Frankreich, [hat) Mailand ebenso rasch besetzt wie verloren"). 50 Für das "mantenersi" ebenda, S. 1 0 (Kap. 2); für "mantenere" oben, Anm . 39.

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Herrschaft, dem "principe nuovo" in seinem "stato nuovo,, 51 Was kann der Fürst dazu tun, dass dieser neue Staat dauerhaft, "durabile" wird? 52 Wie kann er den langfristig unaufhaltbaren Wandel, das Auf und Ab des Verfassungskreislaufs, vorübergehend und sogar auf Dauer aufhalten? Die Antwort hierauf ist Machiavellis großes Thema, das hier nicht genauer dargelegt werden muss: Die "virtu" (Tugend) des Einzelnen erfasst die Gelegenheit ("occasione"), welche die unberechenbare Fortuna und die in ihrer historischen und anthropologischen Zwangsläufigkeit berechenbare Notwendigkeit ("necessita") darbieten, errichtet einen Staat und kann ihn letztlich dadurch erhalten, dass er ihn auf eine breitere Basis stellt, also ihn durch eine Gesetzesordnung ("leggi ed ordini") in eine - re­ publikanische - Verfassung überführt, in der die politische Tugend nicht nur bei einem, sondern bei vielen Menschen vorhanden ist. 53 Denn es "sind Reiche, die einzig und allein auf der persönlichen Tüchtigkeit eines Mannes beruhen, nur von kurzer Dauer, denn j ene ausgezeichneten Eigenschaften gehen mit dem Leben 54 desselben dahin". Doch auch abgesehen davon sind Republiken wie Fürsten dem Wandel und letztlich dem Untergang ausgeliefert; "denn die Zeiten ändern 55 sich, er [der Mensch] aber ändert seine Methoden nicht,, Übermenschliche Fle­ xibilität und virtu wären nötig, um jederzeit zu erkennen, was die gewandelten Umstände erfordern. Politik, die "cose di stato", besteht also zuerst einmal darin, Strukturen zu schaffen, wodurch ein neuer, usurpierter Staat die Qualität eines alten Erbreichs erlangt, also leicht beherrscht und bewahrt werden kann. Das ist das Anliegen des Principe, und es ist dies auch das erste Werk Machiavellis, in dem "stato" absolut 56 verstanden wird und klar die institutionelle Konnotation erhält. "Stato" erfasst den Übergang vom gesicherten Status des individuellen Herrschers zur institutio­ nalisierten Staatlichkeit in einer stabilen Mischverfassung. Der Staat ist also nicht das Produkt der Gemeinschaft, sondern entsteht als Gründer- oder Reformleistung eines Einzelnen, der gemäß Discorsi 1 , 9 wie Romulus allein sein und einsam 5 1 Ebenda, S 1 2 (Kap. 3), 40 (Kap. 6). 52 Vgl. Machiavelli Istorie Fiorentine 1 962a, S. 194 (2, 34): "A che noi vi confortiamo, ricor­ dandovi che quello dominio e solo durabile che e vo1untario" (,jiierzu laden wir Euch ein, indem wir Euch mahnen, dass bloß jene Herrschaft von Bestand ist, die freiwillig zugestan­ den wird', Übersetzung M.K. und S.S.). Dazu auch Vivanti 2008, S. 2 1 1 . 53 Zu "leggi ed ordini" Vivanti 2008, S. 21 9-224. 54 Machiavelli Discorsi 1 966, 1, 1 1 . 55 Machiavelli Discorsi 1 997, S. 450 (3, 9): "donde ne nasce che in uno uomo 1a fortuna varia, perche ella varia i tempi ed elli non varia i modi. Nascene ancora le rovine delle cittadi per non si variare gli ordini delle republiche co' tempi [ . . . ]" � Machiavelli 1 966, S. 3 1 5 (3, 9): "Daher kommt es, daß das Glück eines Menschen wechselt; denn die Zeiten ändern sich, er aber ändert seine Methode nicht. Auch der Untergang der Staaten kommt daher, wenn sich ih­ re Einrichtungen nicht mit den Zeitnotwendigkeiten ändern [ . . . ]". Teilweise fast wörtlich gleich Machiavelli Principe 2003, S. 1 92-197. 56 Vivanti 2008, S. 203. Im Jahr 1506, in La cagione dell 'ordinanza, schreibt Machiavelli, 1 997, 26: "Ognuno sa ehe chi dice irnperio, regno, principato, repubblica, chi dice uornini ehe co­ mandono [ . . . ] dice iustitia e armi". Er führt also "stato" in dieser Aufzählung von herrschaft­ lichen Synonymen noch nicht an; vgl. auch Zanardi 1989, S. 889.

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57 handeln muss. "Fare/farsi uno stato" ist, um es so zu sagen, primär ein Anliegen 58 Diese "monarchische" Sichtweise ent­ des Principe und nicht der Discorsi spricht durchaus der Tradition des 1 5 . Jahrhunderts, als etwa bei Cavalcanti und 59 Alberti "respublica" sogar als Gegenbegriff zu "stato" verstanden worden ist. Dies ist gegen Quentin Skinner festzuhalten, der behauptet hat, dass die re­ publikanische oder gar "revolutionäre" Tradition eine entscheidende Rolle bei der 60 Entwicklung des Staatsbegriffs gespielt habe. Autoren wie Marsilius von Padua hätten bei ihrer Argumentation, dass die Bürgerschaft autonom sei und wie sie ihre Freiheit institutionell am besten bewahre, das staatliche Gewaltmonopol ent­ wickelt und eine Trennung von "Staat" und Amtsträgern eingeleitet. Der Machia­ velli der Discorsi spielt in Skinners Argumentation eine wichtige Rolle. 61 Seine Belege sind allerdings wenig überzeugend: Für das "republikanische" Gewaltmo­ nopol fehlen sie, und die Trennung von Staat und Amtsträgern wird ausgerechnet mit Guicciardinis keineswegs republikanischem Ratschlag an die Medici belegt, 62 sie sollten sich Berater besorgen Wenn Machiavelli von Lykurg meint, er habe einen Staat geschaffen ("fece uno stato"), so handelt es sich um eine Gründerfigur im skizzierten Sinn des Principe und nicht um den Exponenten einer republikani­ schen Verfassung 63 Wo Machiavelli in Discorsi I , 1 8 untersucht, ob man in einer verderbten Stadt ("citta") "uno stato libero" erhalten könne, dann unterscheidet er nicht zwischen Amtsträgern und abstrakter Institution Staat, sondern zwischen Amtsträgern ("magistrati") und Gesetzen ("Ieggi", was etwas anderes ist als Skinners Paraphrase "set of institutions and practices,,). 64 Ganz abgesehen von der Frage, ob man den Autor des Principe überhaupt exklusiv für die republikanische Tradition beanspruchen kann, stützen Skinners Belege nicht die These, dass es

57 Machiavelli Discorsi 1 966, S. 36-38 (I, 9) � 1 997, S. 223-225 (I, 9). Bezeichnenderweise lässt Machiavelli selbst in den Discorsi die immer wieder notwendige Rückführung einer Re­ publik zu ihren Anfängen, gleichsam ihre Neugründung, durch "uomini particolari" durchfüh­ ren, vgL Machiavelli 1 966, S 274-279 (3, 1), 3 1 5 (3, 9) � 1 997, S 41 6-420 (3, 1), 450 (3, 9). 58 Für "Far(si) uno stato" Machiavelli 1971, Bd. I, S. 393f. (3. September 1 500), zitiert bei Tenenti 1987, S. 94. 59 Tenenti 1987, S. 78-84. 60 Skinner 1989, S. 121f., spricht von "counter-revolutionary", wo er die Vertreter eines tenden­ ziell monarchisch-absolutistischen Souveränitätsdiskurses meint, denen er implizit und ana­ chronistisch offenbar einen "revolutionären" Diskurs der Volkssouveränität entgegenstellt. Der Aufsatz führt Überlegungen zur Wortgeschichte aus, die ursprünglich im Schlusskapitel von Skinner 1978, Bd. 2, S. 352-358 dargelegt wurden. 61 Skinner 1989, S. 104-1 1 6, 1 10 für Machiavelli. Auf S. 1 1 6 kehrt Skinner ausdrücklich wieder zu absolutistischen Autoren wie Bodin und Hobbes zurück. Da schlecht belegt, ergänzt sein "republikanischer" Exkurs nur unwesentlich die "fürstliche" Interpretation, wie der Staatsbe­ griff sich ausgebildet hat. Wendungen wie "unequivocally" oder "no doubt" weisen wie oft darauf hin, dass die Argumentation und vor allem ihre Belege eher zweifelhaft sind. 62 Skinner 1989, S. 107-109. 63 Skinner 1989, S. 1 1 0; vgL Machiavelli Discorsi 1 966, S. 15 (I, 2). 64 Skinner 1989, S. 1 1 0; vgL Machiavelli Discorsi 1 966, S. 63f. (I, 1 8).

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eine Machiavelli einschließende Reihe von republikanischen Begründern des Staatsgedankens gebe. 65 Vielmehr ist die von Skinner selbst angeführte Tatsache aufschlussreich, dass "republikanische" Autoren der Frühen Neuzeit - wie Hotman, Milton, Harrington und Locke - gerade nicht von "state" sprechen, sondern (ganz ähnlich wie bereits die erwähnten Cavalcanti und Alberti) von "civitas", "respublica" oder "com­ monwealth", wenn sie ihr Ideal benennen wollen, wonach zwischen Herrscher und p olitischer Gemeinschaft eine enge gegenseitige Rückbindung bestehen so1l 6 "Stato" in seinen nationalsprachlichen Varianten weckt also bei den Zeit­ genossen durchaus herrschaftliche, auf die Machtausübung fokussierte Vorstel­ lungen und nicht "freiheitliche" Assoziationen. Je nach Standpunkt wird dieser "stato" dann als parteiisches Instrument der herrschenden Fraktion verstanden, so in der erwähnten älteren humanistischen Tradition Albertis 67 ; oder aber, wie in Machiavellis modernerer Sichtweise, gerade entgegengesetzt als das überparteili­ che Mittel, um die Egoismen der Bürger zu zähmen und die geforderten Anpas­ 68 sungen an den historischen Wandel ohne Dauerkrise zu bewältigen. Insofern hat nicht Skinner, sondern Wolfgang Mager recht, wonach "die Linie mit den ihr anhangenden Eigentümlichkeiten [ . . . ] den bestimmenden Einfluß auf die Ausforrnung des modernen Staatsbegriffs genommon [sic] hat, während das kommunale status [ . . . ] mehr im Hintergrund geblieben ist. MACH IA VELLIS Ein­ fluss auf die Bedeutungsentwicklung von Staat rührt bezeichnenderweise vor­ nehmlich von seinem aus der Krise des regimen politicum entstanden