Die politische Theorie des Neoliberalismus [2. ed.] 9783518767337


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German Pages 345 [344] Year 2021

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Die politische Theorie des Neoliberalismus [2. ed.]
 9783518767337

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»Neoliberalismus« wird heute meist einfach mit ungebremstem Kapitalis­ mus gleichgesetzt. Thomas Biebricher weist dagegen auf der Grundlage ei­ ner historischen Rekonstruktion nach, dass neoliberales Denken sich nicht nur mit ökonomischen, sondern auch mit politischen Fragen auseinander­ setzt. Dieses Denken unterzieht er sodann einer kritischen Analyse und führt vor, welche Rolle die politischen Vorstellungen des Neoliberalismus im heutigen krisengeschüttelten Europa spielen. Thomas Biebricher ist Professor für die Geschichte ökonomischer Gover­ nance an der Copenhagen Business School.

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Thomas Biebricher Die politische Theorie des Neoliberalismus

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel The Political Theory of Neoliberalism bei Stanford University Press © 2018 by the Board of Trustees of the Leland Stanford Junior University.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021 Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage 2021 der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2326 © dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2021 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt eISBN 978-3-518-76733-7 www.suhrkamp.de

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Inhalt Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 1. Was ist Neoliberalismus?  . . . . . . . . . . . . . . . . .  21 Teil I: Die politische Theorie des Neoliberalismus  . . . .  49 2. Staat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  54 3. Demokratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   119 4. Wissenschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   161 5. Politik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   206 Teil II: Die Disziplinierung Europas  . . . . . . . . . . . . . . . .   231 6. Europäische Krisen: Ursachen und Konsequenzen  . . . . . . . . . . . . .   236 7. Ideen, Ungewissheit und die Ordoliberalisierung Europas  . . . . . . . . . .   280 8. Epilog  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   326 Danksagung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   343 Namenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   344

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Einleitung Gegen Ende von Bryan Singers Film Die üblichen Verdächtigen aus dem Jahr 1995 verrät der undurchsichtige Gangster Keyser Soze dem Publikum (s)ein Geheimnis: »Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war, die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.« Etwas Ähnliches ließe sich auch über den Neoliberalismus sagen, auch wenn es etwas übertrieben erschiene, ihm infernalische Implikationen zuzuschreiben. Der Begriff des Neoliberalismus ist gleichermaßen unklar wie umstritten. Während die einen ihn als Synonym für die entfesselten Kräfte des Turbokapitalismus betrachten,1 verstehen ihn andere als die moderatere Variante des altliberalen Imperativs des Laissez-faire. Und während manche einen jahrzehntelangen weltweiten Siegeszug neoliberaler Regime verzeichnen,2 tun andere den Neoliberalismus als fiktionalen Fiebertraum seiner Gegner ab, der überhaupt nicht existiere – geschweige denn die Welt regiere; entsprechend solle der Begriff schnellstens in Rente geschickt werden. Aus Sicht dieser letzten Position ist der Neoliberalismus begrifflich nicht nur weitgehend sinnentleert, sondern zudem mittlerweile dermaßen politisch aufgeladen, dass er eigentlich nur noch als polemisches Instrument in politischen Diffamierungskampagnen taugt. Und tatsächlich trifft dies insofern zu, als es heute schlicht keine bekennenden Neoliberalen mehr gibt.3 Seitdem er in den frühen 1990er Jahren (wieder) in den akademischen und politischen Diskurs eingeführt wurde, sind es fast ausnahmslos seine Kritiker, die den Begriff benutzen. 1 Siehe Pierre Bourdieu, »The Essence of Neoliberalism«, in: Le Monde Diplomatique, December 1998; Noam Chomsky, Profit over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung, München 2000. 2 Siehe David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, New York 2005. 3 Siehe Taylor Boas, Jordan Gans-Morse, »Neoliberalism: from new liberal philosophy to anti-liberal slogan«, in: Studies in Comparative International Development 44 (2009), S. 137-161. Eine der wenigen Ausnahmen in dieser Hinsicht ist das Adam Smith Institute in London, auf dessen Website es seit 2016 (wieder) heißt: »Independent, non-profit and non-partisan, we work to promote free market, neoliber­ al ideas through research, publishing, media outreach, and education.« 〈https:// www.adamsmith.org/about-the-asi〉

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Dies hat dazu geführt, dass man heute selbst im kritischen Lager zögert, von Neoliberalismus zu sprechen, da die Rede davon die Sprecherin automatisch als potentielle Ideologin mit antikapitalis­ tischer Schlagseite disqualifiziert. Bezeichnet man jemanden heu­ te als neoliberal, wird dies als Beleg für die fehlende Bereitschaft zur Diskussion auf der Grundlage von Argumenten gewertet, der gegenüber man lieber der polemischen Anklage den Vorzug gibt. Falls der Neoliberalismus also tatsächlich die Welt regierte, wäre es kurioserweise ein Neoliberalismus, der ganz ohne Neoliberale auskommt und den noch nicht einmal seine Gegner beim Namen zu nennen wagen – ein wahrhaft teuflischer Trick. Wie ich im Folgenden darlegen werde, ist der Neoliberalismus aber weit mehr als eine chimärische Ausgeburt der übersteigerten Phantasie seiner Kritiker. Das neoliberale Denken entwickelte sich in Reaktion auf die Krise des Liberalismus in den 1930er Jahren, und es gibt einen gemeinsamen neoliberalen Nenner, wenn auch einen sehr kleinen: Es handelt sich nicht um eine geteilte Doktrin, sondern vielmehr um das, was ich als die neoliberale Problematik bezeichne, die sich um die Bedingungen der Möglichkeit von funk­ tionierenden Märkten dreht. Diese Problematik kennzeichnet das Werk diverser Denker, die sich in diesem Sinne zu Recht als Neo­ liberale bezeichnen lassen. Dazu gehören die deutschen Ordoli­ beralen Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, aber auch Friedrich August Hayek, Milton Friedman und James Buchanan.4 Ihrem Denken entstammen die Ideen, Entwürfe und Argumente, die im ersten, zentralen Teil des Buchs untersucht wer­ den. Hier werden die wichtigsten Elemente der politischen Theorie des Neoliberalismus rekonstruiert, analysiert und problematisiert. Das neoliberale Denken verfügt über eine genuin politische Dimen­ sion, die einen integralen Bestandteil der neoliberalen Problematik darstellt und keineswegs nur ein zu vernachlässigendes Anhängsel des vielbeschworenen Glaubens an selbstregulierende Märkte. 4 Siehe zu den jeweiligen Biographien Hans Jörg Hennecke, Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005; Kathrin Meier-Rust, Alexander Rüstow. Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993; Milton Friedman, Rose Friedman, Two Lucky People: Memoirs, Chicago 1998; James Buchanan, Economics from the Outside in: ›Better than Plowing‹ and Beyond, College Station 2007; ­Bruce Caldwell, Hayeks Challenge: An Intellectual Biography of F.  A.  Hayek, Chicago 2003.

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Im Mittelpunkt dieses ersten Teils des Buches stehen vier zen­ trale Kategorien des neoliberalen politischen Denkens: Staat, De­ mokratie, Wissenschaft und Politik. Die neoliberalen Positionen bezüglich dieser Kategorien und der damit verbundenen Themen und Fragen variieren teilweise beträchtlich, bis hin zu expliziten Widersprüchen, und eines der zentralen Anliegen dieser Studie be­ steht darin, die daraus resultierenden Heterogenitäten und Span­ nungen zwischen den diversen Perspektiven herauszuarbeiten und abzubilden, die entsprechend in unterschiedliche Variationen neo­ liberalen Denkens gruppiert werden. Im zweiten Teil wenden wir uns der Welt des »real existierenden Neoliberalismus« zu,5 wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Europa der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit liegt. Für diese Schwerpunktsetzung lassen sich vor allem zwei Gründe anführen. Erstens geht es mir um eine Analyse des Neoliberalismus in seinem aktuellen Zustand: Welche Transformationen lassen sich im Zuge der großen Krisen der letzten fünfzehn Jahre beobach­ ten, und inwiefern unterscheidet sich der Neoliberalismus heute vom Neoliberalismus vor der Zeit der großen Wirtschaftskrisen? Zweitens konzentriert sich die Untersuchung auf Europa, weil die Europäische Union (EU) sowie die Wirtschafts- und Währungs­ union (WWU) gemeinsam das bei weitem avancierteste Labor zur Entwicklung neuer neoliberaler politischer Formen darstellen. Hier finden sich neoliberale Vorstellungen nicht nur in nationalstaatli­ che Strukturen und internationale (Handels-)Regime eingelagert, sondern auch in Form einer supranationalen Föderation (inklusive gemeinsamer Währung), eine Konfiguration, die Gegenstand aus­ führlicher Überlegungen von Seiten einiger Neoliberaler war, die darin, trotz aller damit verbunden Schwierigkeiten, eine potentielle institutionelle Patentlösung zur Umsetzung eines neoliberalen Pro­ jektes bzw. zur Bewältigung der neoliberalen Problematik sahen. Dementsprechend widmen sich Kapitel 6 und 7 Darstellung und Diskussion der zentralen Funktionsmechanismen von EU/WWU und der Frage, inwieweit sie neoliberalen Vorstellungen über Föde­ rationen im Allgemeinen und europäische Integration im Beson­ deren entsprechen. Auf der Basis einiger vorläufiger Überlegungen zur Bedeutung 5 Neil Brenner, Nik Theodore, »Cities and the Geographies of ›Actually Existing Neoliberalism‹«, in: Antipode 34 (2002), S. 349-379.

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von Ideen und Diskursen im Hinblick auf politische Praktiken und unter Bedingungen krisenbedingter Unsicherheit wird zuletzt die hier vertretene zeitdiagnostische These vorgestellt, dass die Euro­ zone in ihrer aktuellen institutionellen Ausgestaltung zunehmend den politischen Vorstellungen des Ordoliberalismus als einer spezi­ fischen Variante des Neoliberalismus entspricht. In diesem Sinne erleben wir im Moment die Ordoliberalisierung Europas. Denn nicht nur hat Wettbewerbsfähigkeit oberste Priorität als Ziel al­ ler Reformen, die Eurozone verfügt darüber hinaus heute über eine Wettbewerbsordnung, die all ihre Mitgliedsländer in eine bestimmte, als wünschenswert angesehene Form der Konkurrenz zwingt, die zumindest bis zum Anbruch des Coronazäns in einer allgemeinen Politik der Austerität resultierte. Des Weiteren imple­ mentiert diese Wirtschaftsverfassung in ihren Strukturmerkmalen viele ordoliberale Überzeugungen im Hinblick auf die Rolle, die Staat, Demokratie und Wissenschaft bei der Regierung des Mark­ tes spielen sollen – wobei es sich in diesem Fall natürlich um einen Markt der Jurisdiktionen handelt. Diese Form von Governance ist zutiefst skeptisch gegenüber pluralistischer Demokratie und verlegt sich stattdessen auf einen technokratischen Politikmodus mit auto­ ritären Anklängen. Wenn es zutrifft, dass das Signum unserer Zeit der Aufstieg des Autoritarismus ist, dann sollten wir nicht davon ausgehen, dass damit das Ende des Neoliberalismus besiegelt ist. Im Gegenteil be­ inhalteten bestimmte Variationen des neoliberalen Denkens von jeher eine autoritäre Dimension, die nun zunehmend in seiner real existierenden Form sichtbar wird, sei es in Europa oder anderswo. Versteht man den Neoliberalismus richtig, nämlich als kapitalisti­ sche Märkte, die in autoritäre politische Formen eingebettet sind, dann ist dieser Neoliberalismus keineswegs am Ende – womöglich hat er gerade erst begonnen. Dementsprechend widmet sich der abschließende Epilog der Frage des Verhältnisses von Neolibera­ lismus und Autoritarismus, aber auch den Auswirkungen, die die Corona-Krise auf die Ordoliberalisierung Europas hat – soweit sich dies heute schon beurteilen lässt. Unsere Untersuchung beginnt mit einem genaueren Blick auf die möglichen Gründe für und gegen die weitere Verwendung des Begriffs ›Neoliberalismus‹. Soweit ich sehen kann, gibt es zwei Ar­ gumentationslinien, auf die die Gegner des Begriffs zurückgreifen. 10

Das erste Argument lautet, Neoliberalismus sei auf einen bloßen politischen »Kampfbegriff« oder gar ein »Schimpfwort« 6 reduziert worden, und die Vertreter dieser Perspektive sprechen sich stattdes­ sen für die Verwendung eines weniger werturteilsgeladenen analyti­ schen Vokabulars aus, um politökonomische Ideen, Politiken oder Institutionen zu beschreiben. Das zweite Argument fokussiert auf das eng damit verbundene Problem, das der Neoliberalismus mit vielen anderen Begriffen teilt, die zumindest für eine gewisse Zeit zu intellektuellen Modewörtern aufsteigen: Gerade wegen ihrer Po­ pularität und der damit verbundenen Verbreitung über disziplinäre Grenzen und die entsprechenden Zugänge hinweg lösen sie sich in amorphe Allerweltsbegriffe oder leere Signifikanten auf.7 Dem »Diskurs« und der »Globalisierung« war ein ähnliches Schicksal beschieden. Dem Vorwurf, dass der Neoliberalismus nicht mehr ist als eine semantische Waffe in der Hand antikapitalistischer Kräfte und daher zugunsten von Konzepten und analytischen Kategorien verabschiedet werden sollte, die nicht als politisch suspekt gelten, liegt allerdings eine problematische Vorannahme zugrunde. Impli­ zit wird nämlich die Möglichkeit einer Sprache vorausgesetzt, die (noch nicht) durch politische Parteinahmen kontaminiert ist und einen unverzerrten Zugang zur politischen Wirklichkeit bietet. Schließlich ist der Vorwurf nur dann stichhaltig, wenn tatsächlich eine Alternative zu dem vermeintlichen polemischen Vokabular des Neoliberalismus existierte. Aber diese Annahme ist nicht sonder­ lich plausibel. Zwar mögen im 20. Jahrhundert sowohl der Posi­ tivismus als auch der Kritische Rationalismus, wie er sich etwa in den Werken Karl Poppers findet (der kurzzeitig Mitglied der Mont Pèlerin Society war, eines transnationalen Netzwerks von Neolibe­ ralen, auf das wir noch zurückkommen werden), von einer gänzlich transparenten Sprache geträumt haben, deren Eindeutigkeit nicht von einem Konnotationsüberschuss jenseits der ausdrücklichen Bedeutung beeinträchtigt wird, doch heute träumt kaum noch je­ mand diesen Traum. 6 Siehe Hans Willgerodt, »Der Neoliberalismus – Entstehung, Kampfbegriff, Mei­ nungsstreit«, in: ORDO 57 (2006), S. 47-89; Oliver Marc Hartwich, Neoliberalism: The Genesis of a Political Swearword, Zürich 2009. 7 Siehe Neil Brenner, Jamie Peck, Nik Theodore, »Variegated Neoliberalization: geographie, modalities, pathways«, in: Global Networks 10 (2010), S. 182-222.

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Die typische Entgegnung auf diesen Punkt besteht darin, ein­ zugestehen, dass zwar gewichtige philosophische Gründe gegen die Vorstellung einer gänzlich unverzerrten Sprache sprechen, es aber dennoch einen großen Unterschied macht, ob man mehr oder weniger verzerrte bzw. verzerrende Terminologien verwendet. An­ stelle von Neoliberalismus solle man daher eher von Marktwirt­ schaft oder einfach Kapitalismus sprechen. Abgesehen davon, dass auch einige der frühen Neoliberalen sich gegen die Verwendung der Bezeichnung ›Kapitalismus‹ aussprachen, »weil sie an ein Sys­ tem denken läßt, das vor allem den Kapitalisten nützt«,8 verweist dies auf ein grundsätzlicheres Problem: Die Reinigung sozialtheo­ retischer Sprache von allen vermeintlichen Verzerrungen ist, wenn überhaupt, dann nur um den Preis der Abstraktion möglich, was uns dann aber unter Umständen jeglichen Vokabulars beraubt, das auch über ein zeitdiagnostisches Potential verfügte. Worin besteht der intellektuelle Mehrwert, wenn wir Gesellschaften als schlicht kapitalistisch charakterisieren? Diese Beschreibung traf auch vor zweihundert Jahren und sogar schon davor zu. Sie trifft zudem ebenso auf Schweden zu wie auf die Vereinigten Staaten von Ame­ rika – und so gut wie jede andere heute existierende Gesellschaft. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine Aussage, die so wahr ist, dass sie zur Trivialität wird. Doch insofern die Sozialwissen­ schaft nicht auf die Generierung ewiger Gesetzmäßigkeiten abzielt, tut sie gut daran, zeiträumliche Kontexte ernst zu nehmen, und erfordert konsequenterweise terminologische Instrumente, die unterhalb der Abstraktionsebene von ›Kapitalismus‹ und ›Markt­ wirtschaft‹ operieren, um das Spezifische an jenen Kontexten zu erfassen. Solch diagnostisches Potential ist von beträchtlichem ana­ lytischen und kritischen Wert für jeden Versuch, das zu erfassen, »was unsere Gegenwart ausmacht«;9 wie sie sich von der Vergan­ genheit unterscheidet und wie sie anders sein könnte. Trotz aller Unannehmlichkeiten, die der Begriff verursacht, kann der Neo­ liberalismus dennoch als ein vielversprechender Kandidat bei der Suche nach einer solchen kritisch-diagnostischen Terminologie zur Untersuchung der gegenwärtigen Welt gelten – zumindest vielver­ 8 Friedrich August Hayek, Recht, Gesetzgebung Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, Tübingen 2003, S. 64. 9 Siehe Michel Foucault, »What Our Present Is«, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live, New York 1989, S. 407-415.

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sprechender als Alternativen wie z. B. Spätkapitalismus, Postfordis­ mus oder »fortgeschrittener Liberalismus«,10 die mit noch schwer­ wiegenderen definitorisch konzeptionellen Problemen zu kämpfen haben. Worin bestehen nun die definitorischen Schwierigkeiten im Hinblick auf den Neoliberalismus, und handelt es sich hier um eine Besonderheit dieses Begriffs oder um eine allgemeinere Un­ annehmlichkeit, die mit dem Versuch einhergeht, Traditionen und Strömungen des politischen Denkens zu etikettieren? Viele derje­ nigen, die sich gegen den Neoliberalismus aussprechen, weil der Begriff in Debatten häufig rein polemisch gebraucht wird, sehen den Grund dieses polemischen Potentials in dessen weitgehender Inhaltsleere. So ist es die vermeintliche Unbestimmtheit des Neo­ liberalismus, die ihn in eine perfekte diskursive Waffe verwandelt, die reich an antagonistischen Konnotationen, aber arm an greif­ barem Inhalt sei. Es gibt keinerlei Grund, diese Schwierigkeiten herunterzuspielen, die ja schon im Begriff des Liberalismus wur­ zeln. Der Liberalismus ist eine Denkströmung, die sich – positiv ausgedrückt – dadurch auszeichnet, dass sie von einer beneidens­ wert reichhaltigen Vielfalt gekennzeichnet ist und von einer über­ raschend heterogenen Gruppe von Denkern und Denkerinnen als intellektuelle Heimat angesehen wird. Weniger positiv ausge­ drückt ließe sich der Liberalismus als Denktradition beschreiben, die man, wenn überhaupt, dann nur mit allergrößter Mühe auf ein bestimmtes Kernmerkmal oder gar Wesen festlegen kann.11 Schließlich gibt es ernstzunehmende Argumente dafür, dass selbst der absolutistische und semi-autoritäre Denker Thomas Hobbes ein Vertreter der liberalen Tradition ist. Dies ist ein klarer Indikator für die ungemeine Bandbreite der Positionen, die sich als der libe­ ralen Tradition zugehörig charakterisieren lassen, und man würde vermuten, dass dies auch bei einem seiner genealogischen Erben, nämlich dem Neoliberalismus, entsprechende Auswirkungen hat. Abgesehen von diesen allgemeinen Schwierigkeiten, die mit dem Versuch der politisch-intellektuellen Etikettierung verbunden sind, ist der Neoliberalismus mit einem weiteren Problem behaf­ 10 Siehe zur Verwendung dieser Begrifflichkeit Andrew Barry u. a. (Hg.), Foucault and Political Reason: Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, London 1996. 11 Siehe Colin Crouch, The Strange Non-Death of Neoliberalism, Oxford 2011, S. 3.

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tet, das von der besonderen zeiträumlichen Dynamik herrührt, die den Begriff des Liberalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts erfasst hat. Es geht um die damals vor allem in der anglo-amerikanischen Welt langsam einsetzende Transformation des Begriffs ›Liberalis­ mus‹. Vor allem hier begannen liberale Denker, Elemente dieser Tradition mit einer eher sozialdemokratisch-progressiven Agenda zu verknüpfen. Der New Liberalism eines John Dewey oder eines T. H. Green führte vor allem in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien zu einer weitreichenden Bedeutungsverschiebung, die bis heute die Suche nach einer gemeinsamen politischen Spra­ che für die kontinentaleuropäische und die anglo-amerikanische Welt erschwert.12 Schließlich ist das Resultat dieser Bedeutungs­ verschiebung eine Konstellation, in der die kontinentaleuropäische Sozialdemokratin aus dem linken Spektrum auf der anderen Seite des Atlantiks als ›liberal‹ bezeichnet und ein Liberaler im konti­ nentalen Sinne vermutlich als Konservativer charakterisiert würde. Diese transatlantische Divergenz der Bedeutungen von Liberalis­ mus hat natürlich auch Auswirkungen auf die Verwendung der Begrifflichkeit des Neoliberalismus: Trotz all der erwähnten Vor­ behalte ist ›Neoliberalismus‹ ein etablierter Begriff im politischen Diskurs Europas. Aber angesichts der konträren Bedeutung von Liberalismus im nordamerikanisch-angelsächsischen Kontext über­ rascht es nicht, dass der Neoliberalismus kaum zum Repertoire des dortigen politischen Diskurses gehört. Das Publikum würde sich vermutlich fragen, wie es sein kann, dass Neoliberalismus in etwa das Gegenteil von dem bedeutet, was hier gewöhnlich als Libera­ lismus bezeichnet wird. Im anglo-amerikanischen Diskurs wieder­ um bezeichnet man gewöhnlich Positionen, die im europäischen Kontext als neoliberal gelten, als »libertarian«. Doch dieser ›Liber­ tarianismus‹ erfährt im europäischen Kontext das spiegelbildliche Schicksal des Neoliberalismus in den USA und in Großbritannien: 12 Die Neoliberalen waren sich durchaus im Klaren über diese Bedeutungsverschie­ bung, und sie war einer der Gründe, warum sie glaubten, eine andere Version eines ›neuen‹ Liberalismus entwickeln zu müssen. Nicht zuletzt auch wegen der terminologischen Ambivalenz, die diese Verschiebung zur Folge hatte, nahmen viele Neoliberale später stillschweigend Abstand von dieser (Selbst-)Bezeich­ nung. Im nächsten Kapitel wird detaillierter auf diese Fragen eingegangen. Die große Ausnahme ist Alexander Rüstow, der dieses Etikett bis in die 1960er Jahre offensiv für sich in Anspruch nahm.

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Trotz der Bedeutung, die der Begriff im akademischen Raum hat, spielt er im politischen Diskurs keinerlei Rolle. Sollten uns diese terminologischen Komplikationen letztlich doch dazu veranlassen, das Konzept des Neoliberalismus aufzuge­ ben? Meiner Ansicht nach sollten die begrifflichen Schwierigkei­ ten, die mit dem Neoliberalismus verbunden sind, nicht geleugnet werden; aber viel wichtiger ist doch die Frage, inwieweit wir es hier tatsächlich mit einem spezifischen Problem des Neoliberalismus zu tun haben und ob es sich überhaupt um ein Problem in dem Sinn handelt, dass es das Resultat vermeidbarer (Denk-)Fehler oder womöglich doch anderer Natur ist. Der entscheidende Punkt be­ steht meiner Ansicht nach darin, zu klären, was wir mit Begriffen zu erreichen hoffen, die eine politische Ideologie, einen intellek­ tuellen Diskurs oder eine Denktradition bezeichnen sollen. Man denke etwa an Begriffe wie Liberalismus, Konservatismus, Sozia­ lismus, Kritische Theorie, Poststrukturalismus oder den Neuen Materialismus. In jedem dieser Fälle ist es gänzlich unmöglich, Grenzlinien mit geometrischer Genauigkeit zu ziehen, die uns beispielsweise die eindeutige Unterscheidung zwischen Konserva­ tismus und seinen engsten intellektuellen Verwandten von Libera­ lismus bis Autoritarismus ermöglichen würden. Der Liberalismus wurde bereits als Paradebeispiel für die Definitionsschwierigkeiten von intellektuellen Traditionen angeführt, die sich auf komplexe Art und Weise über die Zeit und geokulturelle Kontexte hinweg entwickeln. Obwohl ein oberflächlicher Blick genügt, um sich über die Verschwommenheit dieser Konzepte klarzuwerden, wird doch selten die Forderung erhoben, aufgrund der entsprechenden termi­ nologisch konzeptionellen Defizite nicht mehr länger von Konser­ vatismus oder Liberalismus zu sprechen. Und wäre der Anspruch, der sich mit der Verwendung dieser Begriffe verbindet, tatsächlich, die Vermessung des intellektuell-politischen Geländes mit geome­ trischer Präzision durchzuführen, dann müssten wir schließlich nicht nur den Neoliberalismus, sondern auch so gut wie alle an­ deren Termini aus der kartographischen Werkzeugkiste entfernen, die ja alle Denkströmungen und mehr oder weniger kongruente politische Positionen erfassen und abbilden sollen, welche eben­ falls von einer untilgbaren Heterogenität gekennzeichnet sind. Die Tatsache, dass die Forderung nach einer Verabschiedung all jener Begrifflichkeiten bislang kaum nennenswerten Widerhall gefunden 15

hat, verweist auf die unausgesprochene Erwartung an diese Begrif­ fe, uns nicht unbedingt exakte Marker des intellektuell-politischen Terrains zu liefern, sondern eine mehr oder weniger vage Orientie­ rung zu bieten, die aber beständiger Revision und Hinterfragung bedarf. Je genauer wir untersuchen, was eine bestimmte Tradition vermeintlich repräsentiert, desto weniger eindeutig erscheint sie uns. Umgekehrt gilt: Je mehr wir über eine bestimmte Person der politischen Geistesgeschichte herausfinden, desto schwieriger wird es, sie eindeutig einer bestimmten Tradition zuzuordnen. Wir soll­ ten dies aber nicht als eine Art pathologischen Befund, sondern vielmehr als das alltägliche Geschäft der politischen Theorie be­ trachten. Und zuletzt sollten wir dieses Geschäft, dem sich so viele Studien in der politischen Ideengeschichte, aber auch in der zeitge­ nössischen politischen Theorie widmen, keinesfalls als staubtrocke­ ne Buchhaltungsaufgabe betrachten. Im Gegenteil handelt es sich um eine eminent politische Praxis. Schließlich ist es der politische Gehalt dieser Konstruktion politischer Traditionen, der neben den bereits erwähnten Gründen hauptverantwortlich dafür ist, dass die Kontroversen über eine bestimmte Definition von beispielsweise Konservatismus, der gemäß Denkerin X dazugehört, wohingegen Denker Y nicht Teil davon ist, schlichtweg unabschließbar sind. Die Debatte um eine bestimmte Definition von Konservatismus und der entsprechenden Repräsentanten mag nicht die wichtigste Aufgabe der politischen Theorie sein. Gleichwohl handelt es sich bei der Bestimmung politischer Traditionen und der politischintellektuellen Kartographie um alles andere als um triviale Ange­ legenheiten, denn in diesen Terminologien vollzieht sich letztlich die Praxis politischer Kontestation. Auch wenn also immer wieder die Verschwommenheit massiv umkämpfter politischer Genre­ bezeichnungen und Ideologien beklagt wird, sollte sich die politi­ sche Theorie zwar deren Grenzen und Gefahren bewusst sein, sie aber dennoch als ein wichtiges Medium politischer Kontestation begreifen und entsprechend benutzen – und dies gilt a fortiori auch für den Neoliberalismus. Nach dieser vorläufigen Verteidigung der Verwendung des Be­ griffs des Neoliberalismus sind im Folgenden noch die zwei zen­ tralen und möglicherweise kontroversen Grundannahmen sowie die damit korrespondierenden methodischen Entscheidungen zu erläutern, die dieser Studie zugrunde liegen. 16

Zunächst gehe ich davon aus, dass es möglich ist, eine analyti­ sche Unterscheidung zwischen Neoliberalismus als intellektuellem Projekt bzw. intellektueller Tradition und Neoliberalismus als einer Reihe von konkreten politischen Projekten in verschiedenen empi­ rischen Kontexten vorzunehmen. Ich bin zwar letztendlich sowohl an der Theorie als auch der Praxis des Neoliberalismus in diesem Sinn interessiert, aber der Ausgangs- und Schwerpunkt der Studie ist die Ebene der Theorie. Diese Herangehensweise kann mögli­ cherweise als ein »ideenbasiertes Verständnis des Neoliberalismus«13 angesehen werden und sieht sich als solches mit Kritik konfron­ tiert, die vor allem aus einer eher materialistischen Perspektive vorgebracht wird, aus deren Sicht die ideationale Dimension des Neoliberalismus in allererster Linie und womöglich ausschließlich von ideologischer Bedeutung ist.14 Diese Perspektive verweist auf die vermeintliche Kluft zwischen neoliberaler Theorie und Praxis und wirft nicht-materialistischen Ansätzen vor, die Einbettung von Ideen in interessenbasierten und institutionellen Machtstrukturen zu verkennen, die die Resilienz jener Ideen verbürgten.15 Zwar habe ich keinerlei grundsätzliche Einwände gegen die kritische Erfor­ schung des ›real existierenden Neoliberalismus‹, der ja Gegenstand des zweiten Teils dieses Buchs ist, aber ich sehe gewisse Probleme für den Fall, dass dies der ausschließliche Fokus ist, denn materialis­ tische Ansätze haben mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu kämp­ fen. Erstens definieren Materialisten gewöhnlich ein bestimmtes Politikregime, z. B. Privatisierung und Vermarktlichung, als neo­ liberal, aber wie könnte man zu einer solchen Definition gelan­ gen, ohne das neoliberale Schrifttum und die darin enthaltenen Ideen und Entwürfe in Betracht zu ziehen? Über Jahrzehnte gab es schlicht keinen Neoliberalismus außer in der Form eines intellek­ tuellen Diskurses; primär die politische Praxis als Ausgangspunkt einer Untersuchung zu wählen, erscheint vor diesem Hintergrund zumindest erklärungsbedürftig. Hinzu kommt, dass die vermeint­ 13 Damien Cahill, The End of Laissez-Faire? On the Durability of Embedded Neolib­ eralism, Cheltenham 2014, S. 32. 14 Siehe Harvey, A Brief History of Neoliberalism, S. 19; Philip Mirowski, Never Let a Serious Crisis go to Waste, S. 68. 15 Siehe Cahill, End of Laissez-Faire. Zur Frage der Resilienz des Neoliberalismus siehe auch Vivien A. Schmidt, Mark Thatcher (Hg.), Resilient Liberalism in Europe’s Political Economy, Cambridge 2014.

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liche Diskrepanz zwischen neoliberaler Theorie und Praxis oft stark überzeichnet ist, womöglich auch aus einem gewissen Desinteresse an neoliberaler Theorie heraus, die bisweilen als kaum mehr als die dogmatische Lehre von sich selbst regulierenden Märkten angese­ hen wird. Handelte es sich hier um eine zutreffende Interpretati­ on, dann wäre die Kluft zwischen diesen beiden Dimensionen des Neoliberalismus tatsächlich beträchtlich, aber die Charakterisie­ rung des Neoliberalismus als ökonomistischer Marktabsolutismus lässt auf ein zumindest problematisch verengtes, wenn nicht gar fal­ sches Verständnis schließen.16 Denn neoliberale Theorie ist zutiefst interessiert an der Verbindung und den Schnittstellen von Politik, Gesellschaft und Ökonomie. Nehmen wir sie als politische Ökonomie ernst, dann werden auch die Korrespondenzen zwischen diesen Entwürfen und dem Neoliberalismus der Praxis sichtbar. Natürlich wäre es falsch zu behaupten, dass es eine genaue Entsprechung von neoliberaler Theorie und Praxis im Verhältnis 1 : 1 gibt oder dass Akteure regelmäßig und bewusst versuchen, neoliberale Ideen um­ zusetzen, oder gar, dass jene sich ganz von selbst realisieren – ich hege keine hegelianischen Ambitionen. Daraus aber den Schluss zu ziehen, neoliberaler Theorie jegli­ che Wirkmächtigkeit abzusprechen, ließe auf eine äußerst verengte Vorstellung des politischen Lebens schließen, die seiner ideationa­ len Dimension keinerlei Bedeutung zumisst.17 Und nicht zuletzt wäre der Preis, den wir dafür entrichten, neoliberale Theorie nicht ernst zu nehmen, sondern auf ihre Funktion als ideologischer Schleier neoliberaler Praktiken zu reduzieren, auch ein politischer. Man stelle sich die Reaktion eines Anhängers des Neoliberalismus auf typische Kritikpunkte an diesem vor, wie z. B. die Zunahme sozialer Ungleichheit oder Ähnliches: Offensichtlich würde die Er­ widerung lauten, dass dies nicht dem Neoliberalismus an sich, son­ 16 »Dass es sich bei der ausschließlichen Gleichsetzung des Neoliberalismus mit ökonomischer Theorie um einen Fehlschluss handelt, wird offenbar, wenn wir zur Kenntnis nehmen, was uns die Geschichte zeigt, nämlich dass die Neolibera­ len selbst eine solch enge Exklusivität als Rezeptur für ein Desaster hielten.« Phi­ lip Mirowski, »Postface: Defining Neoliberalism«, in: Philip Mirowski, Dieter Plehwe (Hg.), The Road from Mont Pèlerin: The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge 2009, S. 417-455, hier S. 427. 17 Wie der Einfluss neoliberaler Ideen auf politische Praktiken zu konzeptionalisie­ ren ist, wird ausführlich in Teil 2 erörtert.

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dern seiner stümperhaften oder doch zumindest unvollständigen und selektiven Umsetzung anzulasten ist, die dafür verantwortlich ist, dass uns die Wohlstandsgewinne und andere vermeintliche Seg­ nungen, die mit Neoliberalisierungsprozessen einhergehen sollen, vorbehalten bleiben. Die Lösung für gesellschaftliche Probleme bleibt also mehr Neoliberalismus und nicht weniger. Dieser diskur­ siven Strategie kann nur effektiv der Riegel vorgeschoben werden, indem wir uns mit dem Neoliberalismus auf der Ebene von Theo­ rien und Ideen befassen, um zu zeigen, dass das Problem nicht in der lückenhaften Implementierung liegt, die nicht dem Geist der Ideen entspricht, sondern dass die Ideen selbst das Problem sind. Die zweite methodologische Grundannahme betrifft meine ­Herangehensweise an das neoliberale Denken. Das Ziel dieser Stu­ die besteht nicht nur in Rekonstruktion und Analyse, sondern auch in einer Kritik des neoliberalen Denkens. Im Unterschied zu den­ jenigen, die sich für eine (bestimmte Art von) Ideologiekritik im Hinblick auf neoliberale Theorie aussprechen,18 ist die Stoßrich­ tung meiner Kritik etwas anders gelagert und basiert auf zwei gleich wichtigen Komponenten. Zum einen destilliere ich aus der neo­ liberalen Theorie ihre genuin politischen Elemente und untersu­ che sie im Hinblick auf interne Inkonsistenzen sowie Spannungen innerhalb und zwischen diversen Variationen des Neoliberalismus, um darüber hinaus auch zu klären, inwieweit sie ihren eigenen An­ sprüchen und Maßstäben (nicht) genügen kann. In diesem Sinn lässt sich hier also von einem Verfahren der immanenten Kritik sprechen. Wie allerdings die altehrwürdige Debatte über diesen Kritikmodus zeigt, beruht die Stärke immanenter Kritik zwar ei­ nerseits darauf, dass sie die Auseinandersetzung auf dem Terrain ihres Objekts sucht und daher gewissermaßen nie fehlgehen kann – andererseits ergibt sich ihre größte Schwäche aber ebenfalls aus dieser Herangehensweise. Indem immanente Kritik sich auf jenes Terrain und die entsprechenden Bedingungen der Auseinanderset­ zung einlässt, verlegt sie diese de facto außerhalb des Radius einer eng interpretierten immanenten Kritik. Daher besteht die zweite Komponente meines kritischen Ansatzes in einem Fokus auf all das, was in neoliberaler Theorie unausgesprochen bleibt, also die Annahmen und Bedingungen, die stillschweigend vorausgesetzt 18 Siehe Mirowski, Untote leben länger.

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werden, die daraus resultierenden Limitierungen und blinden Fle­ cken sowie die Implikationen und potentiellen Auswirkungen be­ stimmter Vorstellungen, wenn sie denn realisiert würden. Worauf ich damit abziele, ist eine gehaltvolle und nuancierte Kritik neoli­ beralen Denkens, die dieses ernst nimmt und nicht von vornherein aburteilt. Eine Kritik, die es nicht nötig hat, sich zwingend von jedem einzelnen Element im neoliberalen Denken zu distanzie­ ren, nur um sicherzustellen, dass dieses dämonisch Andere streng getrennt bleibt von seinem nicht-neoliberalen Antipoden, dessen Reinheit um jeden Preis erhalten werden muss, so dass es keinerlei Korrespondenzen und teilweisen Übereinstimmungen geben darf, ganz abgesehen von der wahnwitzigen Vorstellung, es ließe sich et­ was von den Vertretern des Neoliberalismus lernen. Die Kritik, die ich hier entwickele, intendiert also weder eine Widerlegung noch eine Demaskierung neoliberalen Denkens im Sinne einer Ideolo­ giekritik; ihr Ziel besteht vielmehr in der Problematisierung der po­ litischen Theorie des Neoliberalismus in ihren diversen Aspekten.

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1. Was ist Neoliberalismus? Neoliberalismus ist ein unangenehmer, aber wichtiger Begriff, der als Ressource für kritische Untersuchungen sozioökonomischer und politischer Verhältnisse in der kapitalistischen Gegenwart die­ nen kann. Nichtsdestotrotz bleibt die potentielle Nützlichkeit des Begriffs bzw. des Konzeptes mit einem Fragezeichen versehen, da seine Bedeutung unklar ist, wenn er nicht gar völlig sinnentleert ist, wie manche Kritiker behaupten. Es ist daher keineswegs überra­ schend, dass die Neoliberalismus-Forschung sich gezwungen sieht, eine eindeutige und nachvollziehbare Definition ihres Gegenstan­ des zu liefern, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, im Zentrum ihrer Agenda flottiere ein gänzlich leerer Signifikant um­ her. Die Folge ist eine Vielzahl von Studien, die versuchen, den Neoliberalismus entweder über eine Reihe vermeintlich typisch neoliberaler Politiken wie etwa Deregulierung und Privatisierung1 oder mit Verweis auf einen konzeptionellen Kern zu definieren, der das Wesen des Neoliberalismus darstelle.2 Diese Bemühungen sind allerdings mit Schwierigkeiten behaftet. Die diversen Politik-Listen wirken unvermeidlicherweise immer etwas arbiträr, denn warum sind es etwa gerade Deregulierung und Privatisierung und nicht auch Vermarktlichung und Responsibilisierung, die das archetypi­ sche Politik-Regime des Neoliberalismus ausmachen? Angesichts der Spannbreite und internen Heterogenität dessen, was in der Li­ teratur als »variegierter«3 und »polymorphischer«4 Neoliberalismus charakterisiert wird, scheint sich dieser einerseits vehement gegen eine »generische und transhistorische Definition«5 zu sträuben  – 1 Siehe Chomsky, Profit over People; Wendy Larner, »Neo-liberalism: Policy, Ideolo­ gy, Governmentality«, in: Studies in Political Economy 63 (2000), S. 5-25; Manfred B. Steger, Ravi K. Roy, Neoliberalism: A Very Short Introduction, Oxford 2010. 2 Crouch, Strange Non-Death, S. vii; Stephanie Mudge, »What is neo-liberalism?«, in: Socio-Economic Review 6 (2008), S. 703-731, hier S. 706 f. 3 Bob Jessop, »Neoliberalismen, kritische politische Ökonomie und neoliberale Staaten«, in: Thomas Biebricher (Hg.), Der Staat des Neoliberalismus, BadenBaden 2016, S. 123-152, hier S. 123. 4 Jamie Peck, Constructions of Neoliberal Reason, New York 2010, S. 8. 5 Colin Hay, »The Genealogy of Neoliberalism«, in: Ravi K. Roy u. a. (Hg.), Neo­

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und dies gilt nicht nur für seine real existierenden Manifestationen, sondern auch für seinen Diskurs. Andererseits kann die Lösung kaum darin bestehen, dass man von einer »Reihe von distinkten, aber miteinander verbundenen Neoliberalismen« ausgeht,6 denn damit verschärfte sich das Problem nur noch weiter, müsste doch nun jeder einzelne Neoliberalismus definiert und darüber hinaus auch die Verbindung zwischen ihnen konzeptionell erfasst werden. Damit sind die Herausforderungen benannt, denen sich jede Untersuchung des Neoliberalismus zu stellen hat. Das Hauptziel dieses Kapitels besteht daher darin, eine Vorstellung von Neolibe­ ralismus zu entwickeln, die nicht den Fehler begeht, mit einfachen und eindeutigen Definitionen eine »transzendentale ›Feststellung‹ des Neoliberalismus«7 vorzunehmen, um ihn so konzeptionell mit Verweis auf ein wie auch immer geartetes Wesen oder einen Kern zu fassen. Stattdessen geht es um ein Verständnis, das hinreichend differenziert ist, um seine internen Heterogenitäten adäquat ab­ zubilden, ohne den Neoliberalismus in multiple Neoliberalismen aufzulösen, die keinerlei grundlegende Gemeinsamkeit aufweisen. Zu diesem Zweck schlage ich folgende konzeptionelle Strategie vor. Angesichts der Abwesenheit selbsterklärter Neoliberaler in der heutigen Zeit und dem bisweilen geäußerten Verdacht, dass der Neoliberalismus niemals existiert habe, sondern schlicht ein »Fie­ bertraum der Linken« sei,8 halte ich es für eine sinnvolle Herange­ hensweise, die Bedeutung zu klären, die der Neoliberalismus für diejenigen hatte, die sich selbst als Neoliberale bezeichneten. An­ ders formuliert, besteht der erste Schritt in der Erarbeitung eines Verständnisses des neoliberalen Projekts (bzw. der neoliberalen Pro­ jekte) in der Rekonstruktion seines historischen Entstehungskon­ textes, der pointiert als die Krise des Liberalismus zusammengefasst werden kann. Der Neoliberalismus muss in erster Linie als eine Reaktion auf diese Krise aufgefasst werden, wobei die zukünftigen Neoliberalen ausführlich die Faktoren erörterten, die ihrer Ansicht nach zum Niedergang des Liberalismus geführt hatten. Aus diesen liberalism: National and Regional Experiments with Global Ideas, London/New York: Routledge, S. 51-70, hier S. 53. 6 Ravi K. Roy, Arthur T. Denzau, Thomas D. Willett, »Introduction: Neoliberalism as a shared mental model«, in: Roy u. a. (Hg.), Neoliberalism, S. 3-13, hier. S. 5. 7 Peck, Constructions, S. 15. 8 Mirowski, »Postface«, S. 426.

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Diskussionen und den entsprechenden Positionierungen lässt sich das herausdestillieren, was ich als neoliberale Problematik bezeich­ ne und womit, konzeptionell gesprochen, die richtige Balance zwi­ schen Einheit und Heterogenität neoliberalen Denkens hergestellt werden kann. Der Neoliberalismus war nie ›eins‹ mit sich selbst, und die historische Herangehensweise wurde hier nicht in der Hoffnung gewählt, es ließe sich ein Ursprung des Neoliberalismus finden, an dem sein Wesen noch isoliert von allen kontingenten Zusätzen in seiner unberührten Reinheit anzutreffen wäre – denn diesen Ort gibt es nicht. Trotz der unbestreitbaren Spannungen in­ nerhalb des neoliberalen Diskurses, die ihn schon in seinen Anfän­ gen kennzeichneten, bestand das einende Band zwischen jenen, die sich damals als Neoliberale bezeichneten, in einer geteilten Problematik, die ihr Denken antrieb. Im Mittelpunkt dieser Problematik stand zwar der Markt, aber es handelte sich nichtsdestotrotz um eine inhärent politische Problematik, wie ich in Abgrenzung von konventionell ökonomistischen Lesarten des Neoliberalismus im Folgenden zeigen werde.

Die Geburt des Neoliberalismus: Das Walter-Lippmann-Kolloquium und die Krise des Liberalismus Vermutlich sah kaum einer der Teilnehmer des Walter-LippmannKolloquiums voraus, dass ihr Treffen retrospektiv als die Geburt einer ganzen Denkströmung angesehen werden würde, als sie in den letzten Augusttagen des Jahres 1938 am Institut International de Coopération Intellectuelle zusammenkamen. Der Zweck des fünftägigen Kolloquiums war die Diskussion des Buchs Die Gesellschaft freier Menschen,9 das der US-amerikanische Journalist Walter Lippmann im Jahr zuvor veröffentlicht hatte. Neben ihm nahmen fünfundzwanzig weitere Denker aus diversen vornehmlich europä­ ischen Ländern teil.10 In den Diskussionsprotokollen des Treffens   9 Walter Lippmann, Die Gesellschaft freier Menschen, Bern 1945. 10  Siehe zum Walter-Lippmann-Kolloquium Serge Audier, Jurgen Reinhoudt (Hg.), Neoliberalismus. Wie alles anfing: Das Walter Lippmann-Kolloquium, Ham-

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findet sich erstmals der Begriff Neoliberalismus als Bezeichnung für eine gemeinsame Agenda und ein geteiltes Projekt.11 Natür­ lich suggeriert die Rede von der Geburt des Neoliberalismus, den entsprechenden Diskussionsprotokollen und Lippmanns Buch zu­ nächst, dass es womöglich doch den einen, klar lokalisierbaren Ur­ sprung inklusive neoliberalen Gründungstexts gäbe, die dann doch als Kernelemente eine eindeutig elegante definitorische Erfassung des Neoliberalismus ermöglichen würden. Aber sowohl das Nar­ rativ als auch die Metaphorik der Geburt erweisen sich in ihrer vermeintlichen Einfachheit als trügerisch. Weder gibt es einen einzigen Ursprung des Neoliberalismus, noch gibt es einen entsprechenden Gründungstext, der von Lipp­ mann oder einem beliebigen anderen Neoliberalen verfasst wor­ den wäre.12 Die Dinge liegen wesentlich komplizierter, beginnend mit der Tatsache, dass der Veranstalter Louis Rougier den Begriff des Neoliberalismus nach Ende des Kolloquiums in die Protokolle hineinschrieb, es aber bis heute unklar ist, ob sich tatsächlich im Zuge der Diskussionen unter den Beteiligten ein Konsens über die burg 2019; Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004. 11 Genau genommen findet man den Begriff selbst auch schon davor, nämlich bei Hans Honegger, der in einem Buch von 1925 von einem »theoretischen Neolibe­ ralismus« spricht und – noch früher und wohl auch überraschender – in Hans Kelsens Habilitationsschrift von 1911, wo er allerdings keinerlei ökonomische Bedeutung hat. In beiden Fällen bezieht sich der Begriff aber offensichtlich nicht auf die theoretisch-politische Agenda jener, die sich tatsächlich selbst als Neo­ liberale bezeichneten. Siehe Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Aalen 1923; Hans Honegger, Volkswirtschaftliche Gedankenströmungen. Systeme und Theorien der Gegenwart besonders in Deutschland, Karlsruhe 1925, S. 13. 12 Zwar bezeichnet Burgin Lippmanns Buch als«grundlegenden Text des Neoli­ beralismus«, aber er lässt dabei außer Acht, dass Ordoliberale wie Eucken und Rüstow schon Jahre zuvor in vielerlei Hinsicht ähnliche Vorstellungen im Kon­ text der zerfallenden Weimarer Republik und damit Elemente einer Art Neoli­ beralismus avant la lettre entwickelt hatten. Angus Burgin, The Great Persuasion: Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge 2012, S. 67. So im Üb­ rigen auch Rüstow selbst in einem Vortrag aus den späten 1950er Jahren: »Da mein verstorbener Freund Walter Eucken und ich im Jahre 1932 die Richtung des Neoliberalismus begründet haben […].« Rüstow, Rede und Antwort, Lud­ wigsburg 1963, S. 132.

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offizielle Annahme dieses Labels herauskristallisierte.13 Und damit nicht genug der Komplikationen beim ersten Aufgalopp des Neoli­ beralismus, dessen schwerwiegendste der sich bereits am Horizont abzeichnende Zweite Weltkrieg war, der das neoliberale Projekt mit all seinen Plänen für ein Forschungszentrum, regelmäßige Treffen und einer intensivierten Netzwerkbildung zunächst abrupt zum Er­ liegen brachte. Nach dem Kolloquium würde es beinahe eine ganze Dekade dauern, bis eine ähnliche Zusammenkunft erstmals wieder stattfand – sozusagen die zweite Geburt des Neoliberalismus –, und zwar im Jahr 1947, als sechzig Teilnehmer in der Schweiz die bereits erwähnte Mont Pèlerin Society gründeten, die bis heute als eine Art Internationale des Neoliberalismus gilt,14 obwohl es das Wort Neoliberalismus nie in das offizielle Statement of Aims der Society schaffte, auf das sich die Gründungsmitglieder verständigt hatten. Nichtsdestotrotz bietet das Kolloquium einen guten Ausgangs­ punkt für eine Untersuchung des neoliberalen Projektes, denn die Agenda des Kolloquiums und die der Gründungskonferenz der Mont Pèlerin Society in Kombination mit den Werken der zentra­ len Teilnehmer kann uns tatsächlich bei der Rekonstruktion des Entstehungskontextes des Neoliberalismus als intellektuell-politi­ sches Projekt und den damit verbundenen Plänen und Zielen be­ hilflich sein. Lippmanns Gesellschaft freier Menschen war ein Buch, dem es nicht an internen Widersprüchen mangelte, doch seine Diagnose und Gesamteinschätzung der Zeit erschien den zukünftig führen­ den Neoliberalen durchaus plausibel. Lippmann beschrieb und analysierte einen Liberalismus, der sich im freien Fall befand, und forderte einen entschlossenen Kraftakt, um ihn in seiner volatilen Entwicklungsdynamik zu stabilisieren und zu konsolidieren. Wenn 13 Siehe Burgin, The Great Persuasion, S. 73; Walpen, Die offenen Feinde, S. 60. 14 Siehe Mirowski/Plehwe, The Road from Mont Pèlerin; Philip Mirowski, Dieter Plehwe, Quinn Slobodian (Hg.), Nine Lives of Neoliberalism, London 2020; Ola Innset, Reinventing Liberalism. The Politics, Philosophy and Economics of Early Neo­liberalism (1920-1947), Cham 2020, S. 89-180. In einem Brief an Rüstow äußert sich Röpke nach dem ersten Treffen der Gesellschaft noch skeptischsarkastisch: »[…] denn ich sehe nicht, wie organisatorisch bei einer so breiten Arbeitsweise mehr als eine Art von internationaler fünfter Kolonne des Liberalis­ mus, eine Art von liberaler Freimaurerei herauskommen kann.« Wilhelm Röpke, Briefe 1934-1966. Der innere Kompaß, Erlenbach-Zürich 1976, S. 97.

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dies nicht gelinge, so Lippmann, drohe der Liberalismus nur allzu bald in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Dies war der Anlass für Hayek in London und Röpke in Genf, die manche dieser Sor­ gen teilten, ein Treffen zu organisieren, auf dem nicht nur Lipp­ manns Thesen, sondern der bedenkliche Zustand des Liberalismus insgesamt diskutiert werden sollte. Dementsprechend lässt sich der neoliberale Entstehungskontext pointiert als Krise des Liberalismus zusammenfassen. Worin bestanden nun die wesentlichen Faktoren, die als Symp­ tome dieser womöglich lebensbedrohenden Krise des Liberalismus anzusehen sind? Am Ende der 1930er Jahre waren die Anhänger des Liberalismus – und nicht nur sie – zu der Überzeugung gelangt, dass dessen Niedergang mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs eingesetzt hatte.15 Der Krieg hatte natürlich in vielerlei Hinsicht katastrophale und traumatische Auswirkungen, insbesondere aber für eine im weitesten Sinne liberale Weltanschauung, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens erschütterten die Gräuel des Krieges, der nicht unmenschlicher hätte geführt werden können, das allge­ mein optimistische Geschichtsverständnis, das in vielen Varianten des Liberalismus verbreitet war; die Westfront etwa wurde zum »Schauplatz von Massakern […], wie es sie wahrscheinlich nie zu­ vor in der Kriegsgeschichte gegeben hatte«.16 Der Rückfall in vier Jahre Barbarei ließ die Rede vom Fortschritt (durch Handel) hohl oder einfach nur zynisch klingen. Eine Ära schien angebrochen zu sein, in der die Vorstellung von Fortschritt zunehmend flüchtig und durch »ein Gefühl von Katastrophe und Orientierungslosig­ keit« abgelöst wurde.17 Zweitens verkomplizierte der Krieg die li­ berale Position auch insofern, als bis dahin Ideen (sozialistischer) staatlicher Planung nicht mehr als genau das waren: Ideen, die leicht als unrealistisch und heillos utopisch abgetan werden konn­ ten. Der Erste Weltkrieg bewies aber, dass Ökonomien in recht weitreichendem Maße auf der Grundlage von zentralisierter Pla­ nung funktionieren konnten, ohne zu kollabieren – was im Übri­ 15 Siehe Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. (3. Auflage) 1995, S. 19. 16 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 42. 17 Ebd., S.  125.

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gen während des Zweiten Weltkriegs noch deutlicher werden sollte. Zumindest in manchen Varianten des Liberalismus war vor dem Krieg das Hauptargument gegen den Sozialismus gewesen, dass dieser nicht nur aus normativen Gründen abzulehnen, sondern auch schlicht unrealisierbar sei. Diese Position zu vertreten, war vor dem Hintergrund der Kriegsökonomie deutlich schwieriger gewor­ den. In gewisser Weise kann man die berühmte Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus, in der auch einige Vertreter der sogenannten Österreichischen Schule wie Ludwig von Mises und Hayek vertreten waren, als einen Versuch des Nachweises ver­ stehen, dass trotz aller erfolgversprechender Erfahrungen während des Krieges Planungsexperimente ohne Märkte und dort gebildete Preise weiterhin letztlich zum Scheitern verurteilt waren. Während der 1920er Jahre waren noch Anstrengungen unter­ nommen worden, die liberale Zivilisation des 19. Jahrhunderts wiederaufzubauen,18 doch am Ende jenes Jahrzehnts erwiesen sich all diese Bemühungen als fruchtlos, musste doch der Liberalismus einen weiteren herben Rückschlag in Form der Weltwirtschaftskri­ se hinnehmen. Hatten die Liberalen noch im Rahmen der Debatte über die Wirtschaftsrechnung theoretisch nachzuweisen versucht, dass der Sozialismus unweigerlich kollabieren musste, so kollabier­ te nun umgekehrt der globale Kapitalismus ganz praktisch. Ange­ sichts der enormen sozialen und wirtschaftlichen Verwüstungen, die die Krise mit sich brachte, überrascht es kaum, dass die typisch liberale Parteinahme zugunsten von kapitalistischen Märkten als unverzichtbaren Wohlstands- und Wachstumsgeneratoren einiges an Anziehungskraft einbüßte bzw. diese gänzlich verlor, und zwar vor allem bei denjenigen, die von Massenarbeitslosigkeit und Verar­ mung betroffen waren. Die Krise und ihre sozioökonomische Scha­ densbilanz führten so zu massiven Problemen für den Liberalismus, da der Druck auf gewählte Regierungen dermaßen wuchs, ein ak­ tives Krisenmanagement zu betreiben und zumindest die größten sozialen Verwerfungen zu lindern, dass er kaum noch zu ignorieren war. Es sind vor allem zwei Entwicklungen, anhand derer sich die­ se Zäsur illustrieren lässt und die von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den Entstehungskontext des Neoliberalismus sind. Zunächst handelt es sich um den New Deal, den Präsident 18 Siehe Polanyi, Great Transformation, S. 41-55.

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Franklin Roosevelt nebenbei gesagt als ›liberal‹ charakterisierte und den Lippmann in seinem Buch insbesondere ins Fadenkreuz genommen hatte, sah er in ihm doch eine Art ›schleichenden To­ talitarismus‹. Die Reformen, die unter dem Label des New Deal zusammengefasst sind, manifestierten durch den Aufbau eines Sozialversicherungssystems nicht nur einen signifikanten Ausbau des amerikanischen Sozialstaates auf der Bundesebene; sie doku­ mentierten auch einen tiefgehenden Wandel in der allgemeinen Philosophie des Staates. Dieser übernahm ausdrücklich eine neue Art von Verantwortung für seine Bevölkerung, die nicht länger ausschließlich im Schutzversprechen gegen äußere Feinde, der Rechtsdurchsetzung und der Bereitstellung eines Minimums an öffentlicher Infrastruktur bestand. Nun gehörte allgemein auch die sozioökonomische Wohlfahrt zu den Staatsaufgaben, und zwar insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit den schädlichen Auswirkungen einer kapitalistischen Wirtschaftsweise.19 Stoisch das Abflauen von Krisen abzuwarten und alle Verantwortung für die sozialen Kosten von sich zu weisen, war eine Haltung, die im Zuge der Krise zunehmend in Misskredit geraten war, und Regie­ rungen überall in der nordatlantischen Welt begannen, ihre Rolle im Hinblick auf Wirtschaft und Gesellschaft neu zu überdenken. Nicht zuletzt die Theorien John Maynard Keynes’ repräsentierten diesen Einstellungswandel, was uns zum nächsten Faktor der libe­ ralen Krise führt: dem Aufstieg des Keynesianismus. Bereits 1924 hatte Keynes in Oxford einen berühmten Vortrag gehalten, in dem er schon im Titel »Das Ende des Laissez-faire« verkündete.20 Zur damaligen Zeit mag dies noch etwas voreilig ge­ wesen sein, aber die 1930er Jahre bestätigten Keynes’ Sichtweise, obwohl der Keynesianismus erst in der Nachkriegszeit der 1940er und 1950er Jahre in voller hegemonialer Blüte erstrahlen würde. Keynes befürwortete grundsätzlich eine aktive staatliche Wirt­ schaftspolitik im weitesten Sinne. Gemäß der von Wohlfahrtsöko­ nomik und ökonomischem Liberalismus geteilten Sichtweise war davon auszugehen, dass sich kapitalistische Märkte mehr oder we­ niger automatisch von externen Schocks oder Krisen erholen und in Richtung markträumender Gleichgewichte tendieren, die Profit, 19 Siehe Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 126. 20 John Maynard Keynes, The End of Laissez-Faire, London 1927.

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Wachstum und Beschäftigung garantierten. Keynes argumentierte stattdessen, es sei sehr wohl möglich, dass Märkte in suboptimalen Gleichgewichten verharrten, wo Stagnation, Arbeitslosigkeit und Inflation drohten, wäre nicht der Staat zu einer stimulierenden Wirtschaftspolitik bereit. Diese konnte die Form einer expansiven Geldpolitik annehmen, indem etwa Zinssätze gesenkt würden, um den Preis von Geld zu reduzieren, aber vor allem sollte durch öf­ fentliche Investitionen die aggregierte Nachfrage erhöht werden, um dadurch die Privatwirtschaft zur Ausweitung der Produktion und zu zusätzlichen Investitionen zu bewegen. Je länger sich die Weltwirtschaftskrise hinzog, desto plausibler erschien Keynes’ Vor­ stellung dysfunktionaler Märkte ohne inhärente Selbstkorrektur­ mechanismen, die im Krisenmodus feststeckten. Darüber hinaus lieferte sein Werk, das in der Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes von 1936 gipfelte, Regierungen ein drin­ gend benötigtes Tableau von Politikinstrumenten, das einen pro­ aktiveren Umgang mit kränkelnden Ökonomien ermöglichte. Das Erstarken dieser aktivistischen Regierungsphilosophie, der gemäß es sogar erlaubt sein sollte, Staatsdefizite in Kauf zu nehmen, um Geld in eine kriselnde Wirtschaft zu pumpen, war ein gewichtiger Faktor, der zur Formierung des Neoliberalismus beitrug, obwohl das Verhältnis zwischen den diversen Neoliberalen und (dem) Keynes(ianismus) komplexer ist, als man annehmen könnte.21 Ins­ gesamt waren aber Keynes und noch viel mehr der Keynesianismus, wie er dann von Ökonominnen und Ökonomen wie Joan Robin­ 21 Während Buchanan ein unnachgiebiger Kritiker des Keynesianismus in all sei­ nen Aspekten war, lehnte Friedman zwar die Lösungsvorschläge Keynes’, aber nicht unbedingt seine Analysen und Diagnostiken ab. Und bevor er zu einem er­ bitterten Gegner Keynes’ wurde, setzte sich der junge Röpke noch im Falle einer »sekundären Krise« für eine »Politik der Reexpansion« ein, die sich allenfalls in Nuancen von der Stoßrichtung des Keynesschen Lösungsansatzes unterscheidet. Hayek und Keynes freundeten sich sogar während der gemeinsamen Evakuie­ rung während des Zweiten Weltkriegs an, aber wenn er seinen intellektuellen Gegner auch respektierte, blieb Hayek doch zeit seines Lebens überzeugt, dass Keynes eine völlig falsche Auffassung von Wirtschaftstheorie und -politik habe. Wilhelm Röpke, »Die sekundäre Krise und ihre Überwindung«, in: Economic Essays in Honour of Gustav Cassel, London 1933, S. 553-568; hier S. 568. Siehe zu dieser Frage auch Wilhelm Röpke, Krise und Konjunktur, Leipzig 1932, S. 95-137. Zum Verhältnis Hayek/Keynes siehe Friedrich August Hayek, Hayek on Hayek: An Autobiographical Dialogue, Indianapolis 1994, S. 89-97.

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son und Nicolas Kaldor entwickelt wurde, für den Liberalismus der 1930er Jahre und auch noch weit darüber hinaus ein rotes Tuch:22 Der Aufstieg des Keynesianismus signalisierte in aller Deutlichkeit den Niedergang des Liberalismus; beide Entwicklungen waren un­ trennbar miteinander verbunden. Die letzte Entwicklung, die eine zentrale Rolle in der Krise des Liberalismus spielte, war gleichzeitig auch vermutlich die besorg­ niserregendste für die Teilnehmer des Kolloquiums von 1938: das Erstarken zutiefst illiberaler Kräfte vom bolschewistischen Kom­ munismus am linken Ende des politischen Spektrums bis zum europäischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus am anderen Ende. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass die schiere Existenz der Sowjetunion eine massive Herausforderung für diejenigen Li­ beralen war, die immer argumentiert hatten, der Sozialismus kön­ ne schlichtweg nicht funktionieren. Obwohl es zu jener Zeit kein Geheimnis mehr war, dass sich die Sowjetunion zu einem zutiefst repressiven Regime gewandelt hatte, unter dem Bevölkerungsgrup­ pen und Individuen systematisch verfolgt wurden, verwiesen seine Apologeten darauf, wie viel besser als manch kapitalistische Ökono­ mie die sowjetische Wirtschaft die Weltwirtschaftskrise überstan­ den habe, wodurch wiederum auch in kapitalistischen Ländern das Interesse an planwirtschaftlichen Ideen zunahm. So repressiv und totalitär die Sowjetunion 1938 auch gewesen sein mag, es gab jeden­ falls keinerlei Grund anzunehmen, ihre kollektivistische Ökono­ mie stünde kurz vor dem Zusammenbruch. War die Erfahrung des Kriegssozialismus ein Stachel im Fleisch des Liberalismus, durch den bestätigt war, dass Planwirtschaft zumindest in überschaubaren Größenordnungen funktionieren konnte, so war die Sowjetunion ein veritabler Pfahl und der Beweis, dass ganze Gesellschaften auf der Grundlage zentraler Planung koordiniert werden konnten – al­ lerdings auf Kosten von basalen Rechten und hunderttausenden Menschenleben. Auch weite Teile Europas waren 1938 Schauplatz antiliberaler Triumphe – doch hier entstammten die entsprechenden Kräfte vor allem dem rechten Lager. In Deutschland war der Nationalsozialis­ 22 Siehe Friedrich August Hayek, »Der Feldzug gegen die keynesianische Inflation«, in: Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Aufsätze zur Wirtschaftspolitik, Tübingen 2001, S. 121-160.

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mus seit 1933 an der Macht, wodurch die Kolloquiums-Teilnehmer Röpke und Rüstow sich schon früh gezwungen sahen, ins Exil zu gehen. In Italien herrschte der Faschismus bereits seit den 1920er Jahren, im spanischen Bürgerkrieg hatte Francos Falange mit deut­ scher Hilfe die republikanischen Kräfte besiegt und in anderen Ländern wie etwa Ungarn und Finnland waren faschistoide Bewe­ gungen und Parteien zwar nicht an der Macht, gewannen aber be­ ständig an Boden. Wie im Fall der Sowjetunion machten auch die faschistischen und nationalsozialistischen Regime nicht den Ein­ druck, dass sie bald zusammenbrechen würden. Für einen liberal gesinnten Beobachter muss die politische Landschaft also geradezu apokalyptisch gewirkt haben. Schließlich waren sich Faschismus und Kommunismus in einem einzigen Punkt völlig einig, nämlich in ihrer entschiedenen Feindschaft gegenüber allem BürgerlichLiberalen:23 »Für eine ganze Generation erschien der Liberalismus in Europa dem Tode geweiht.«24 Dies sind die hervorstechendsten Symptome der Krise des Li­ beralismus, und das neoliberale Projekt muss als Reaktion auf das verstanden werden, was die Neoliberalen in spe als eine Krise wahr­ haft existenziellen Ausmaßes wahrnahmen, wie die Diskussions­ protokolle des Kolloquiums belegen, auf dem die Analyse dieser Krise und die dafür verantwortlichen Entwicklungen das zentrale Thema waren. Diese Lesart des neoliberalen Projekts als eine Reak­ tion auf eine Art antiliberales Syndrom liefert uns den ersten An­ haltspunkt beim Versuch der Klärung der inhaltlichen Ausrichtung dieses Projekts, indem wir nun im nächsten Schritt nachvollziehen, gegen wen und was es sich positionierte, und das analysieren, was in den Worten Michel Foucaults als das »Feld der Gegnerschaft«25 des Neoliberalismus bezeichnet werden kann.

23 Siehe François Furet, Das Ende der Illusion: Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996. 24 Eric Hobsbawm, The Age of Empire 1875-1914, London 1987, S. 333. 25 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979, Frankfurt/M. 2004, S. 155.

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Das Feld der Gegnerschaft Es gibt kaum Grund daran zu zweifeln, dass der zentrale intellek­ tuelle und politische Gegner für den Neoliberalismus das war, was seine frühen Repräsentanten zumeist pauschal als ›Kollektivismus‹ bezeichneten, wenn sie sich auch bisweilen eines nuancierteren Vo­ kabulars bedienten. Diese Wortwahl verdeutlicht bereits eine wich­ tige Position, die eine terminologische Strategie vorwegnimmt, die sich später in vielen Theorien des Totalitarismus findet. Aus dieser Perspektive verläuft die wirklich signifikante politische Konflikt­ linie nicht zwischen rechts und links oder Kommunismus und Faschismus, sondern vielmehr zwischen Liberalismus und Totali­ tarismus bzw. Individualismus und Kollektivismus. Mit anderen Worten, es mag zwar Unterschiede zwischen faschistischen und kommunistischen Regimen geben, aber aus Sicht des Neoliberalis­ mus besteht der entscheidende gemeinsame Nenner beider in ih­ rem kollektivistischen Wesen. Hayeks Der Weg zur Knechtschaft von 1944, gewidmet »den Sozialisten in allen Parteien«, exemplifiziert diese Position geradezu lehrbuchartig.26 Angetrieben von der Sorge, dass die Alliierten zwar den Krieg gewinnen, aber den Kampf um die Ideen verlieren könnten und so planwirtschaftliche Elemente auch nach dem absehbaren Kriegsende beibehalten würden, ver­ suchte Hayek nachzuweisen, dass die wohlmeinenden Fürsprecher moderater planerischer Elemente damit unwillentlich denjenigen in die Händen spielten, gegen die sie im Krieg gekämpft hatten bzw. noch immer kämpften. Was gegen den Kollektivismus in all seinen Variationen verteidigt werden müsse, so Hayek, ist »eine individualistische Kultur«, die durch Faschismus und Kommu­ nismus gleichermaßen gefährdet sei.27 Auch andere KolloquiumsTeilnehmer wie etwa Lippmann und Rüstow äußerten sich in ähn­ licher Weise. Darüber hinaus bestätigt etwa Euckens grundlegende Unterscheidung zwischen Zwangsverwaltungswirtschaft und Ver­ kehrswirtschaft, die sich in den Grundlagen der Nationalökonomie von 1940 findet, indirekt, dass Ziel und Zweck der zentralisierten Planung im Rahmen des ersten Typs von zu vernachlässigender Be­ 26 Siehe Friedrich August Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach-Zürich (3. Auflage) 1952. 27 Ebd., S.  32.

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deutung sind.28 So ist also zunächst im Hinblick auf das neolibe­ rale Feld der Gegnerschaft festzuhalten, dass die Neoliberalen der 1930er und 1940er Jahre eingeschworene Antikollektivisten waren, die sich in erster Linie gegen Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus definierten.29 In Teilen der jüngeren Literatur zu den Anfängen des Neoli­ beralismus wird argumentiert, dass diese Gegnerschaft durchaus erwähnungsbedürftig ist, da sich hier zeigen lässt, wie sich über die Jahre und Jahrzehnte die Hauptzielscheiben neoliberaler Kritik verschieben. Zwar verbindet man den zeitgenössischen Neolibera­ lismus aufs Engste mit der Kritik des Staates im Allgemeinen und der sozialstaatlichen Dimension im Besonderen, aber dies gilt nicht in gleicher Weise für seine Frühphase: »Zu jener Zeit konzentrier­ ten neoliberale Autoren ihre Energien auf den Widerstand gegen die sozialistischen und faschistischen Spielarten innerhalb des [Pla­ 28 Siehe Walter Eucken, Grundlagen der Nationalökonomie, Berlin (8. Auflage) 1965, S. 78-90. 29 Diese Einschätzung ist in zweierlei Hinsicht umstrittener, als es zunächst den An­ schein haben mag. Zum einen gibt es eine langanhaltende Debatte über die Rolle der Ordoliberalen zwischen 1933 und 1945, denn nicht bei allen war der Wider­ stand gegen den Nationalsozialismus so ausgeprägt und prinzipienfest, wie man es von Repräsentanten einer liberalen Tradition erwarten könnte. Röpke und Rüstow, die gezwungen waren, ins Exil zu gehen, sind aber hinsichtlich ihrer an­ tifaschistischen Überzeugungen über jeden Zweifel erhaben, und auch wenn die Dinge im Falle Euckens in gewisser Hinsicht etwas komplizierter liegen, gilt dies auch ausdrücklich für ihn. Siehe zu dieser Debatte beispielsweise Ralf Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Wiesbaden 2004; Nils Goldschmidt (Hg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit: Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, Tübingen 2005; Uwe Dathe, Walter Euckens Weg zum Liberalismus (1918-1934), Freiburg 2010; Dieter Haselbach, Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1991. Zum anderen wird von einer jüngeren Generation von Forschern in Frage gestellt, ob die Gegnerschaft zum Kollektivismus tatsächlich auch noch nach Ende des Zweiten Weltkriegs von derart großer Bedeutung bleibt oder ob nicht die Frage der Entkolonisierung im Kontext des Kalten Krieges ab Mitte der 1940er Jahre eine immer prägendere Rolle spielt, wohingegen der Antitotalitarismus im Hinblick auf Faschismus und Nationalsozialismus in den Hintergrund tritt. Siehe zu diesen neueren Deutun­ gen Quinn Slobodian, Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neo­ liberalismus, Berlin 2019; Jessica Whyte, The Morals of the Market: Human Rights and the Rise of Neoliberalism, London 2019; Lars Cornelissen, »Neoliberalism and the Racialized Critique of Democracy«, in: Constellations 27 (2020), S. 1-13.

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nungs-]Diskurses«, schreibt etwa Ben Jackson. »Der Hauptfeind der Neoliberalen war weder der in der Entstehung begriffene Sozi­ alstaat, noch war es die keynesianische Ökonomie.«30 Dies ist ein wichtiger Punkt, der uns an die Schwierigkeiten erinnert, die mit dem Versuch verbunden sind, geschichtliche Phänomene zu defi­ nieren, deren Konturen sich über die Zeit verschieben. Und natür­ lich hat Jackson durchaus Recht, schließlich befasste sich etwa eine Diskussionsrunde des Kolloquiums ausschließlich mit der Frage, ob und inwieweit der Liberalismus in der Lage sei, seinen sozialen Verpflichtungen gerecht zu werden.31 Liest man heute Hayeks als berüchtigt geltenden Weg zur Knechtschaft, so stellt man überrascht fest, dass das Buch zwar natürlich nicht mit polemischen Angrif­ fen gegen die Vorstellung gesellschaftlicher Planung geizt, aber daneben auch einräumt: »Die Beschränkung der Arbeitszeit oder die Forderung bestimmter sanitärer Vorschriften ist mit der Bei­ behaltung des Leistungswettbewerbs durchaus vereinbar. […] Die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs ist sehr wohl auch mit einem ausgedehnten System der Sozialfürsorge vereinbar – solange dieses so organisiert ist, daß es den Wettbewerb nicht lahmlegt.«32 Diese Passagen sind allerdings schwer mit der zentralen These des Buchs in Einklang zu bringen, dass noch die zurückhaltendsten Pla­ nungsversuche aller Wahrscheinlichkeit nach auf den abschüssigen Weg zur Knechtschaft führen. Diese Spannung im Zentrum von Hayeks gesamter Argumentation war Keynes’ einziger, aber eben auch verheerender Kritikpunkt, den er in einem Brief an Hayek so formulierte: »Sie geben hier und da zu, dass die Frage ist, wo man die Linie zieht. Sie stimmen zu, dass die Linie [zwischen Unterneh­ mensfreiheit und Planung] irgendwo gezogen werden muss und dass das logische Extrem keine Option darstellt. Aber Sie geben uns keinerlei Hinweise darauf, wo sie zu ziehen ist.«33 Anders formuliert könnte man sagen, die relative Bedeutung dieser beiden Gegnerschaften wandelt sich zwar über die Zeit, aber es ist unmöglich, die Kritik des Sozialstaats konzeptionell 30 Ben Jackson, »At the Origins of Neo-Liberalism: The Free Economy and the Strong State 1930-1947«, in: The Historical Journal 53 (2010), S. 70-85. 31 Siehe Reinhoudt/Audier, Neoliberalismus, S. 202-215. 32 Hayek, Weg zur Knechtschaft, S. 60. 33 John Maynard Keynes, »Letter to Hayek«, in: Collected Writings VOL. XXVII: Activities 1940-1946, Cambridge 1980, S. 385-388.

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von der Kritik des Totalitarismus zu trennen, und zwar selbst im frühen Neoliberalismus.34 Foucault mag dies etwas zu stark for­ muliert haben, als er von einer »antiliberalen Invariante«35 sprach, die die Gegner-Analysen des frühen Neoliberalismus kennzeichne und suggeriere, alle Wege des Planens führten letztendlich in den Abgrund des Totalitarismus. Aber Lippmanns Gleichsetzung des »gemäßigten Kollektivismus«,36 den er im New Deal erblickte, mit Faschismus und Kommunismus und auch Röpkes Kritik an den so­ zialpolitischen Expansionsplänen auf der Basis des Beveridge-Plans in Großbritannien zeichnen ein bedrohliches Bild des Sozialstaats­ ausbaus, das an die Metaphorik Hayeks erinnert: »Der Wohlfahrts­ staat ist also nicht nur der Prozeß, dem jede selbsttätige Bremse fehlt, und nicht nur ein solcher, der sich mit aller Kraft ständig auf seiner Bahn vorwärts bewegt. Er ist zugleich eine Einbahnstraße, auf der die Umkehr so gut wie unmöglich oder doch ungeheuer schwierig ist. […] Das bedeutet eine zunehmende Zentralisierung der Entscheidung und Verantwortung und eine wachsende Kollek­ tivierung der Bedingungen der Wohlfahrt und Lebensplanung des einzelnen.«37 Zusammenfassend lässt sich das neoliberale Feld der Gegner­ schaft also folgendermaßen beschreiben. Die Hauptantagonisten 34 Hayek selbst hat diese Verbindung in einem Interview Jahre später bestätigt: »Das Buch [Der Weg zur Knechtschaft] richtete sich gegen das, was ich als klassi­ schen Sozialismus bezeichnen würde, also vor allem gegen Verstaatlichung oder Sozialisierung der Produktionsmittel. Viele der sozialistischen Parteien von heute haben sich zumindest vorgeblich davon distanziert und sich der Idee von Um­ verteilung und einem fairen Steuersystem zugewandt – Wohlfahrt –, die keinen unmittelbaren Bezug auf den klassischen Sozialismus zu haben scheint. Ich glau­ be aber nicht, dass sich dadurch der grundsätzliche Einwand ändert, denn ich glaube, dass die indirekte Kontrolle der ökonomischen Welt letztlich zum glei­ chen Ergebnis führt, was ein sehr viel langsamerer Prozess […] der Zerstörung der Marktordnung ist, der es gegen den Willen der heutigen Sozialisten erfordern wird, Schritt für Schritt immer mehr zentrale Planung vorzunehmen.« Hayek, Hayek on Hayek, S. 108. 35 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 161. 36 Walter Lippmann, Die Gesellschaft freier Menschen, Bern 1945, S. 160. 37 Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich (3. Auf­ lage) 1961, S. 239; die Kritik Röpkes am Sozialstaat findet sich in ähnlicher Form auch schon wesentlich früher. Siehe etwa Wilhelm Röpke, Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach-Zürich (3. Auf­ lage) 1949, S. 250-267.

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des Neoliberalismus sind offensichtlich Kommunismus und Nati­ onalsozialismus/Faschismus, die aus neoliberaler Perspektive nicht mehr als unterschiedliche Manifestationen der gleichen Grundmi­ schung aus Kollektivismus und Totalitarismus darstellen. Wichtig an diesem Sektor des Feldes der Gegnerschaft sind aber auch die Verbindungen, die zwischen diesen extremsten Varianten illiberaler Politik und anderen Phänomenen hergestellt werden, die bisweilen als die Vorstufen des radikalen Illiberalismus begriffen werden, wie etwa der Sozialstaat sowie – in indirekterer Weise – der Keynesia­ nismus und dementsprechend auch seine Unterstützer, insbeson­ dere die Gewerkschaften. Der Sozialstaat und die in neoliberalen Diskursen omnipräsente, aber nur unzureichend definierte Vorstel­ lung von ›Planung‹, die mit jenem einhergehen soll, repräsentieren demnach Kollektivismus in nuce. Allerdings gibt es eine beträchtli­ che Bandbreite neoliberaler Positionen im Hinblick auf die Unver­ meidbarkeit und Irreversibilität der Dynamik in Richtung Kollek­ tivismus. Darüber hinaus wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Ausmaß der Gefahr, die vom Sozialstaat ausgeht, auch von seiner spezifischen Konfiguration abhängig ist.38 Gegen diese Gegner positioniert sich also der Neoliberalismus beim Versuch, eine allgemein liberale Agenda oder doch zumin­ dest bestimmte Einzelelemente gegen den illiberalen Zeitgeist der 1930er Jahre zu revitalisieren. Selbstverständlich ist es nicht son­ derlich überraschend, dass der Neoliberalismus auf eine Revitali­ sierung liberaler Ideen abzielt, wenn das Ansinnen seinerzeit auch eher aussichtslos erschienen sein mag. Die weit weniger selbstver­ ständliche Komponente dessen, was man als Formel des Neolibera­ lismus bezeichnen könnte, kann mit Hilfe eines zweiten, genaueren Blicks auf das Feld der Gegnerschaft identifiziert werden.

Narrative des liberalen Niedergangs Für die große Mehrheit der frühen Neoliberalen, die am WalterLippmann-Kolloquium und an der Gründungstagung der Mont Pèlerin Society teilnahmen, stand fest, dass der Niedergang des Li­ beralismus nicht nur das Resultat des Erstarkens externer Gegner, 38 Siehe etwa Hayek, Weg zur Knechtschaft, S. 158.

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sondern auch selbstverschuldet war. Diese internen Schwächen und Probleme des Liberalismus würde man adressieren und be­ heben müssen, sollte dieser wieder zu einem ernstzunehmenden Wettbewerber im damals vielbeschworenen Kampf der Ideen ge­ macht werden. Der Frage nach den internen Faktoren, die beim Niedergang des Liberalismus eine Rolle spielten, war eine beson­ dere Diskussion beim Lippmann-Kolloquium gewidmet,39 und auch bei den Treffen der Mont Pèlerin Society wurden die Vor­ aussetzungen einer liberalen Erneuerung ausführlich diskutiert. Es ist also kaum übertrieben, den Neoliberalismus als Ergebnis einer kollektiven liberalen Selbstbefragung und bisweilen eher nüchter­ nen Bilanzierung anzusehen, die als Voraussetzung für das Wieder­ erstarken von Ideen angesehen wurden, deren Dominanz hundert Jahre zuvor noch unangefochten schien. Aber auch wenn es dem Neoliberalismus um eine Revitalisierung einer im weitesten Sinne liberalen Agenda ging, so erschöpft sich sein Projekt doch nicht in einem bloßen Versuch der Wiederbelebung überkommener libera­ ler Vorstellungen. Um der Herausforderung begegnen zu können, die von den diversen Formen des (gemäßigten) Kollektivismus aus­ ging, würden das intellektuelle Recycling klassisch liberaler Ideen und eine simple Wiederentdeckung der großen Wahrheiten eines Adam Smith oder Adam Ferguson nicht ausreichen.40 Der Libera­ lismus würde sich einer tiefgreifenden Modernisierung unterziehen müssen, wenn er in der Auseinandersetzung mit keynesianischen und kollektivistischen Ideen eine Erfolgschance haben sollte, wie es Hayek in aller Klarheit in seinem Eröffnungsvortrag beim Grün­ dungstreffen der Mont Pèlerin Society formulierte: »Meiner Ansicht nach wird es zur Bewältigung unserer Aufgabe nicht ausreichen, dass unsere Mitglieder das vertreten, was man als ›vernünftige‹ Auf­ fassungen bezeichnet hat. Der Altliberale, der dem traditionellen Glauben nur aus Traditionalismus anhängt, mag zwar lobenswerte Vorstellungen haben, doch für unsere Zwecke ist er kaum von Nut­ zen. Was wir benötigen, sind Leute, die sich mit den Argumenten 39 Siehe Reinhoudt/Audier, Neoliberalismus, S. 157-173. 40 Wie Buchanan in einem anderen Zusammenhang feststellt: »Das Problem liegt aber tiefer, und wir würden kaum die Schwierigkeiten überwinden, wenn wir uns nur auf irgendeine wunderbare Wiederentdeckung der politischen Weisheit des 18. Jahrhunderts verließen.« James Buchanan, Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen 1984, S. 130.

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der anderen Seite auseinandergesetzt haben, die mit ihnen gerun­ gen haben und sich zu einer Position durchgekämpft haben, von der aus sie Entgegnungen auf die kritischen Einsprüche gegen sie haben und positive Begründungen und Rechtfertigungen für sie liefern können.«41 Der Liberalismus musste modernisiert werden, um in den ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhun­ derts bestehen bzw. überleben zu können; das neoliberale Projekt konnte also kein rein restauratives sein. Das ›neue‹ Element im Neoliberalismus geht offensichtlich auf diese Modernisierungskomponente der neoliberalen Formel zu­ rück. Entscheidend ist allerdings, dass eine kritische Durchsicht und Bilanzierung der altliberalen Agenda, ihrer Defizite und Irr­ wege, als unabdingbare Voraussetzung für diese dringend erforder­ liche Modernisierung angesehen wurde. Dies bedeutet, dass zum neoliberalen Feld der Gegnerschaft in seinem vollen Umfang auch Fehlentwicklungen innerhalb des Liberalismus gehören, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildeten. Gemäß dem neoliberalen Krisennarrativ waren hier die internen Faktoren zu verorten, die ihren Teil zum Abstieg des Liberalismus beigetra­ gen hatten. Blicken wir nun also etwas genauer auf dieses Narra­ tiv, das man in vier überlappenden Versionen bei Röpke, Rüstow, Friedman und Hayek findet, die zwar alle einige Jahre nach dem Kolloquium datieren, aber eine große Kongruenz mit den damali­ gen Diskussionslinien aufweisen. Am Anfang der Version Röpkes steht eine rhetorische Frage: »Steht es möglicherweise so, daß er [der Liberalismus], weit ent­ fernt, ein bloßes Opfer der Gesellschaftskrisis zu sein, durch sei­ ne Irrtümer zu ihrer Entstehung beigetragen hat? Und, wenn das der Fall sein sollte und wenn die Krisis der modernen Gesellschaft gleichzeitig die Krisis des Liberalismus ist, dürfen wir dann nicht auch hoffen, durch eine Reinigung und innere Verjüngung des Liberalismus entscheidend zu einer Überwindung der Krisis der Gesellschaft im ganzen beizutragen?«42 Seine Untersuchung des liberalen Niedergangs basiert auf der Unterscheidung zwischen ei­ nem »unvergänglichen« Kern des Liberalismus und diversen Abwei­ 41 Friedrich August Hayek, »Opening Address to a Conference at Mont Pèlerin«, in: The Fortunes of Liberalism, Indianapolis 1992, S. 237-248, hier S. 240. 42 Wilhem Röpke, Maß und Mitte, Erlenbach-Zürich 1950, S. 14-15.

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chungen, die den vergänglichen Aspekt des Liberalismus repräsen­ tieren. Drei Hauptprobleme werden in diesem Zusammenhang von Röpke identifiziert: Sie betreffen »erstens das Verhältnis des Libera­ lismus zu den Funktionen der Vernunft, zweitens sein Verhältnis zur Gemeinschaft und drittens dasjenige zum Wirtschaftsleben«. Die entsprechenden Fehlentwicklungen, die dem Liberalismus letztendlich eher geschadet haben, sind »Rationalismus, Individu­ alismus und Wirtschaftsliberalismus«.43 Folgerichtig warnt Röpke vor der Hybris des Intellektualismus und der Gefahr des Individu­ alismus, insofern sie zur Atomisierung der Gesellschaft führten. Im Hinblick auf die sozioökonomischen Zustände beklagt er zudem die Verengung der liberalen Agenda auf ökonomische Fragen, auf die später noch einmal ausführlich zurückzukommen sein wird.44 Unter den Neoliberalen ist Rüstow zweifellos der vehementes­ te Kritiker des Liberalismus. Seine Ursachensuche hinsichtlich des Niedergangs des Liberalismus, dieser »dominanten Philosophie des Lebens in der westlichen Welt des 19. Jahrhunderts«,45 über­ schneidet sich vor allem mit Röpkes letztgenanntem Punkt. »In der Praxis bedeutete Liberalismus im 19. Jahrhundert in erster Linie wirtschaftliche Freiheit, das heißt die Freiheit des Marktsystems.«46 Allerdings entwickelt Rüstow eine sehr viel tiefer ansetzende Ana­ lyse des Problems, das er vor allem in einer irrigen Vorstellung von Märkten wurzeln sieht, die auf bestimmte religiöse Anschau­ ungen zurückzuführen sein soll.47 Für Adam Smith wie auch für seine physiokratischen Vorläufer basierte das Wirtschaftsleben auf einem »günstigen Wirkmechanismus ökonomischer Gesetze«, der zu re­spektieren war, und dementsprechend galten »im Namen des Mottos ›Laissez-Faire! Laissez-Aller!‹ alle Versuche, die Wirtschaft (durch Interventionen) zu steuern, wie etwa im Rahmen des Mer­ kantilismus, als fehlgeleitet und waren gleichzeitig eine Ehrerwei­ sung gegenüber Gott wie auch eine Ermahnung, dafür zu sorgen, 43 Ebd., S.  25. 44 Ebd., S.  29. 45 Alexander Rüstow, »General sociological Causes of the economic Disintegration and Possibilities of Reconstruction«, in: Wilhelm Röpke, International Economic Disintegration, London 1942, S. 267-283, hier S. 268. 46 Ebd. 47 Siehe vor allem Alexander Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, Bad Godesberg 1950.

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dass kurzsichtige menschliche Ängste und Sorgen nicht mit der ewigen Weisheit des Naturrechts in Konflikt geraten«.48 Aus die­ ser irrigen Vorstellung bezüglich der Sphäre der Ökonomie und der damit einhergehenden Unfähigkeit, ihre Verbindungen mit anderen Gesellschaftssphären adäquat zu erfassen, resultierte »eine unübersehbare Deformierung der Marktwirtschaft«.49 Ein revitali­ sierter Liberalismus würde sich von diesen falschen Anschauungen verabschieden und auch die zugrundeliegenden Glaubensinhalte hinter sich lassen müssen. Was sich hier als ein weiterer intellek­ tueller Gegner des Neoliberalismus also herauskristallisiert, ist die (Nicht-)Politik des Laissez-faire. Dies ist ein wichtiger Punkt, der bis in die jüngeren Kontroversen über Neoliberalismus und Finanz­ krise hinein ignoriert wird, in denen der Neoliberalismus oftmals für den Glauben an selbstregulierende Märkte steht.50 Wenn wir auf die intellektuellen Ursprünge des neoliberalen Projekts blicken, ist jedoch kaum zu übersehen, wie deutlich sich frühe Neoliberale von den miteinander verknüpften Vorstellungen von Laissez-fairePolitik und selbstregulierenden Märkten distanzierten. Und es sind eben nicht nur die Ordoliberalen, auch der junge Milton Friedman vertritt seine eigene Version dieses Krisennarra­ tivs, dessen Kernelement die Vorstellung eines »Liberalismus alter Schule« ist,51 der im 19. Jahrhundert auf diverse Abwege gerät. In Der Neoliberalismus und seine Zukunftsaussichten bekennt sich Friedman zunächst ausdrücklich zur neoliberalen Agenda: »Wir vertreten einen neuen Glauben, und es ist unsere Pflicht, allen 48 Rüstow, »General Sociological Causes«, S. 269-270. 49 Ebd. S.  272. 50 Siehe Joseph Stiglitz, The End of Neo-Liberalism? 〈https://economistsview.type pad.com/economistsview/2008/07/stiglitz-the-en.html〉; siehe zu diesem Miss­ verständnis auch: »The current debates on the financial and economic crisis that focus on the danger of ›market fundamentalism‹ and the lack of morals in markets lead to the conclusion that market regulation and morals could save capitalism from its worst tendencies. Unknowingly, most participants in these discussions re-enact the debates of the 1930s that led to the invention of neoliberalism. Are those who ignore the lessons of economic history condemned to reinvent neo-liberalism?« Bruno Amable, »Morals and politics in the ideology of neo-liberalism«, in: Socioeconomic Review 9 (2010), S. 3-30, hier S. 27. 51 Milton Friedman, »Liberalism«, in: 1955 Collier’s Year Book, New York 1955, S. 360-363.

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Menschen klarzumachen, worin dieser Glaube besteht.«52 Ge­ nau wie bei Röpke und Rüstow erscheint die neoliberale Vorge­ schichte auch in dieser Version als die des liberalen Niedergangs: »Der kollektivistische Glaube an die Fähigkeit des Staates, durch direkte Eingriffe alle Übel zu beheben, ist jedoch eine verständ­ liche Reaktion auf den grundsätzlichen Fehler der individualisti­ schen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Diese Philosophie sprach dem Staat, abgesehen von der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Durchsetzung von Verträgen, jegliche Aufgabe ab. Es war eine negative Philosophie. Der Staat konnte nur Schaden anrichten, Laissez-faire war die Regel.«53 In diesem Fall wird der Politik des Laissez-faire also sogar vorgeworfen, indirekt dem Aufstieg des Kol­ lektivismus den Weg geebnet zu haben; demnach kann kein Zwei­ fel daran bestehen, dass der »neue Glaube« des Neoliberalismus auf dieses Politikmodell verzichten muss. Auch wenn es für diejenigen, denen er als Säulenheiliger der quasi-libertären Österreichischen Schule gilt, kaum zu glauben ist, war Hayek – so österreichisch er auch sein mag – doch genauso fest wie Rüstow und Röpke davon überzeugt, dass eine Modernisierung des Liberalismus eine kritische Bilanzierung seiner eigenen Fehler und Irrwege voraussetzte, wozu ausdrücklich die Vorstellung des Laissez-faire gehöre: »Nichts dürfte der Sache des Liberalismus so sehr geschadet haben wie das starre Festhalten einiger seiner An­ hänger an gewissen groben Faustregeln, vor allem an dem Prinzip des Laissez-faire«, schreibt er in Der Weg zur Knechtschaft. In einem Lexikoneintrag zum Begriff »Liberalismus« führt Hayek zudem die grundlegende Differenzierung zwischen »zwei verschiedenen Quellen« ein,54 die zur Etablierung zweier verschiedener Traditi­ onsstränge innerhalb des Liberalismus führten. Im Gegensatz zur konzeptionellen Rahmung Röpkes, der zwischen einem wahrhaft unvergänglich liberalen Kern und diversen Exzessen, Vereinseiti­ 52 Milton Friedman, »Neo-Liberalism and its Prospects«, in: Farmand, 17. 02. 1951, S. 89-93. In späteren Jahren zeichnete Friedman allerdings ein weitaus rosigeres Bild des 19. Jahrhundert. Siehe Milton Friedman, »Wirtschaftliche Mythen und öffentliche Meinung«, in: Fünf Aufsätze, Zürich 1985, S. 58-72. 53 Friedman, »Neo-Liberalism and its Prospects«, S. 91. 54 Friedrich August Hayek, »Liberalismus«, in: Viktor Vanberg (Hg.), Grundsätze einer liberalen Wirtschaftsordnung. Aufsätze zur Politischen Philosophie und Theorie, Tübingen 2002, S. 88-119, hier S. 88.

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gungen und Irrwegen unterscheidet, die letztlich negative Rück­ wirkungen auf den liberalen Kernbereich haben, ist der Liberalis­ mus in Hayeks Vorstellungswelt von Beginn an zweigeteilt. Die erste Strömung ist eine eher konventionalistische Tradition, die von den Repräsentanten der Schottischen Aufklärung von Smith bis Hume personifiziert wird. Bei der zweiten handelt es sich um einen »›kontinentalen‹ oder ›konstruktivistischen‹« Liberalismus,55 der seine archetypische Ausprägung im Rationalismus Descartes’ sowie dem radikalen Antiklerikalismus und Antitraditionalismus Voltaires findet und der aus Hayeks Perspektive besonders gefähr­ det ist, seine liberale Orientierung zu verlieren. Die Geschichte des liberalen Niedergangs im Gefolge seiner Blütezeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird nicht viel anders als in den übrigen drei Narrativen erzählt, aber in Hayeks Version ist es nicht nur der Laissez-faire-Radikalismus eines Herbert Spencer, der als schädli­ che Fehlentwicklung des Liberalismus gilt. Wie bereits angedeutet, zeichnet sich etwa in den Arbeiten des späten Mill und insbeson­ dere dem Werk T. H. Greens auf intellektueller Ebene schon eine Konvergenz des Liberalismus mit bestimmten sozialistischen/so­ zialdemokratischen oder progressiven Strömungen ab, die in das münden, was Hayek als »gemäßigten Sozialismus« bezeichnet.56 In Hayeks Interpretation ist der Niedergang des Liberalismus also das Resultat einer Spaltung der Denktradition in eine Fraktion der Laissez-faire-Anhänger einerseits und eine der Vertreter des quasisozialdemokratischen ›New Liberalism‹ andererseits; sei es Greens Variante in Großbritannien oder Deweys liberaler Progressivismus in den Vereinigten Staaten. Was lässt sich also aus der Rekonstruktion der diversen neo­ liberalen Abgrenzungsbewegungen lernen? Die Liste der externen Gegner wird von den verschiedenen Kollektivismen angeführt, beinhaltet aber auch den Keynesianismus, einen vermeintlich aus­ ufernden Sozialstaat und die entsprechenden Anhängerschaften. Um für die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Manifes­ tationen dieses illiberalen Syndroms ausreichend gestärkt zu sein, bedarf es eines revitalisierten Liberalismus, was aber nicht allein durch eine Restau­rierung des alten Liberalismus aus dem 19. Jahr­ 55 Ebd., S.  90. 56 Ebd., S.  98.

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hundert gelingen kann. Die Erneuerung des Liberalismus musste unweigerlich seine tatsächliche Modernisierung bedeuten und da­ mit in das münden, was daher völlig zu Recht als ein neuartiger Neoliberalismus bezeichnet wird, wobei man sicherlich nicht den Fehler begehen darf, diese Konstruktion der liberalen Tradition und die damit verbundene Selbstpositionierung für bare Münze zu nehmen, als seien die Liberalen des 19. Jahrhunderts durchweg Laissez-faire-Naivlinge gewesen, denen es allein um ein (nicht-mar­ xistisches) Absterben des Staates gegangen sei. Hier, wie auch im Fall der Charakterisierung der übrigen Gegnerschaften, handelt es sich natürlich um strategische Konstruktionen, die keineswegs der kritischen Überprüfung standhalten müssen, aber nichtsdestotrotz wichtige Hinweise zum neoliberalen Selbstverständnis liefern: Und gemäß diesem Selbstverständnis galt eine kritische Revision der li­ beralen Agenda als zwingend notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Erneuerung. Das Feld der Gegnerschaft bezieht sich also nicht nur auf externe Gegenspieler, sondern beinhaltet auch eine interne Dimension in Form der komplementären Fehlent­ wicklungen – Laissez-faire-Liberalismus und ›New Liberalism‹  –, von denen sich der Neoliberalismus gleichermaßen abzugrenzen versucht.

Die neoliberale Problematik Zwar liefert diese erste Skizze des neoliberalen Projektes schon ei­ nige nützliche Einsichten, aber wir können seine inhaltliche Aus­ richtung noch schärfer konturieren, indem wir das thematisieren, was ich als neoliberale Problematik bezeichne. Trifft es zu, dass der Hauptgegner des Neoliberalismus der Kollektivismus ist und dass dieser sich wiederum ausdrücklich gegen die kapitalistische Markt­ wirtschaft wendet, dann lässt sich daraus wenig überraschend ablei­ ten, dass die Verteidigung kapitalistischer Märkte im weitesten Sin­ ne im Mittelpunkt des neoliberalen Denkens steht. Das ist keine sonderlich kontroverse Einsicht und führt uns scheinbar zurück auf das vertraute Terrain des Neoliberalismus, verstanden als Markt­ fundamentalismus oder Turbokapitalismus. Doch der Eindruck täuscht. Denn die Vorstellung selbstregulierender Märkte bedarf des Laissez-faire als komplementärer Maxime in der nicht-ökono­ 43

mischen Sphäre, um insgesamt konsistent zu sein. Wenn wir aber die mehr oder weniger energische Distanzierung der neoliberalen Gründungsväter von einer Politik des Laissez-faire ernst nehmen, dann ist es geradezu unmöglich, den Neoliberalismus als Doktrin sich selbst regulierender Märkte zu charakterisieren. Die Neolibe­ ralen sind keine Marktfundamentalisten; im Gegenteil, in gewis­ ser Weise ist es gerade der Markt, der zum Problem für sie wird, denn angesichts von Niedergang und Krise des Liberalismus ist es schlichtweg keine haltbare Position mehr, den ehernen Gesetzen des Ökonomischen einfach dabei zuzusehen, wie sie die Dinge au­ tomatisch und ganz von selbst regeln. Dementsprechend bezieht sich die neoliberale Problematik also auf die politischen und sozi­ alen Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte, wel­ che charakterisiert sind durch die Integrität des Preismechanismus, der möglichst unverzerrt seine Wirkungsweise entfalten können muss. Der gemeinsame Nenner des Neoliberalismus lässt sich daher nicht positiv in Form bestimmter Doktrinen oder Thesen benen­ nen. Was die Neoliberalen teilen, ist vielmehr das Problem der Identifizierung der notwendigen Bedingungen für die Aufrechter­ haltung funktionierender Märkte, da die Option, sie schlicht ihrer Selbstregulierung zu überlassen, vor dem Hintergrund der Kritik des Laissez-faire nicht länger gegeben ist. Dies lässt offensichtlich noch beträchtlichen Raum für unterschiedliche Lösungsansätze und Her­angehensweisen im Umgang mit der neoliberalen Proble­ matik, die sich zudem über die Zeit hinweg wandeln können. Was genau das Funktionieren der Märkte sicherstellt, war und bleibt Gegenstand langwieriger Dispute zwischen einzelnen Neolibe­ ralen und diversen Variationen des neoliberalen Denkens. Dem­ entsprechend ist dies ein Vorschlag zur Konzeptionalisierung des Neoliberalismus, der einerseits breit genug angelegt ist, um dessen interne Heterogenitäten, Variationen und Transformationen erfas­ sen zu können. Andererseits gibt es aber zumindest einen kleinsten gemeinsamen Nenner in Form der geteilten Problematik. Meines Erachtens kann es so gelingen, sowohl der Skylla übertrieben spar­ samer Definitionen des Neoliberalismus als Doktrin von x, y oder z auszuweichen wie auch der Charybdis der Auflösung des Neoliberalismus in eine Vielzahl proteanischer Neoliberalismen zu ent­ gehen. 44

Das bis hier entwickelte Argument lautet, dass der Markt zu einem Problem für die Neoliberalen wird, und dies ist insofern zutreffend, als er ausdrücklich nicht mehr als ein Mechanismus betrachtet wird, dessen Funktionsweise gänzlich unabhängig von seiner Umgebung ist. Daraus folgt aber genau genommen, dass das eigentliche Problem und damit auch das Zentrum der analytischen Aufmerksamkeit sich in Richtung dieser Umgebungsfaktoren ver­ schiebt, die so unweigerlich in den Fokus des neoliberalen Denkens rücken. Daher spricht viel dafür, einen stärker ›dezentrierten‹ An­ satz in der Untersuchung des Neoliberalismus zu verfolgen, denn in dessen Mittelpunkt mag der Markt stehen, aber der Bereich, der für eine kritische Analyse von neuralgischer Bedeutung ist, ist ge­ rade die infrastrukturelle Peripherie der Märkte. Der Neoliberalis­ mus ist also kein ökonomistisches Denken, das die Vorstellung ver­ tritt, Märkte existierten in einer Art Vakuum. Vielmehr muss der Neoliberalismus als ein Diskurs der politischen Ökonomie begriffen werden, der ausdrücklich die nicht-ökonomischen Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte sowie die interaktiven Effekte zwischen Märkten und ihrer Umgebung im Allgemeinen thematisiert. Dem Neoliberalismus wird oftmals eine Fixierung auf Märkte oder gar ihre Fetischisierung vorgeworfen, und natürlich wäre es absurd zu behaupten, dies sei völlig unzutreffend, dem­ entsprechend wird auch hier die Zentralität der Märkte für das neoliberale Denken nicht abgestritten. Aber sobald man sich et­ was eingehender mit den Schriften jener Neoliberalen befasst, die sich ja nicht unbedingt als konventionelle Ökonomen verstanden, zeigt sich, dass die Analyse nicht-ökonomischer Phänomene und wie sie sich auf die Funktionsweise von Märkten auswirken, min­ destens ebenso viel Raum, wenn nicht gar mehr in ihrem Denken einnimmt. Es sind genau diese Fragen bezüglich der Infrastruktur der Märkte, die die Neoliberalen zu immer neuen Analysen und Kritiken antreiben. Während sich ihre Sichtweise auf die Märkte für sich genommen über die Zeit hinweg kaum wandelt, entpuppt sich die nicht-ökonomische Dimension ihres Werkes als der eigent­ lich dynamische Unruheherd in ihrem Denken, denn hier findet die Auseinandersetzung mit der neoliberalen Problematik in immer neuen Anläufen aus unterschiedlichen Perspektiven statt. James Buchanan fasst dies treffend für sich selbst zusammen: »Ich entwi­ ckelte mich zu einem politischen Philosophen, zwar nicht was die 45

disziplinäre Zugehörigkeit, aber doch was die Ausrichtung meiner Untersuchungsperspektive anging.«57 Tatsächlich führt die Bearbeitung dieser Fragen direkt in genuin politisches Gelände, woraus ich die These ableite, dass die neolibe­ rale Problematik eine inhärent politische ist. Wie muss beispiels­ weise das soziale Umfeld von Märkten strukturiert sein, welche Art von staatlicher Politik ist erforderlich, und welche Auswirkun­ gen hat Demokratie auf die Politik der Marktsicherung? Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die Literatur zum Neoliberalismus dessen politische Dimension bis dato völlig ignoriert hat, doch von wenigen Ausnahmen abgesehen untersucht die entsprechende Forschung in erster Linie die Politik des real existierenden Neoli­ beralismus. Wir mögen zwar viel über die ökonomische Dimen­ sion neoliberaler Theorie wissen und was an der Vorstellung von ›Marktgerechtigkeit‹ problematisch ist, aber man weiß eben noch überraschend wenig über die politische Dimension der neolibera­ len Theorie. Das sich daraus ergebende intellektuelle Desideratum einer Rekonstruktion und Analyse dieses aktuell noch wenig er­ forschten Bereichs ist aber nicht das einzige Motiv der vorliegen­ den Untersuchung der politischen Theorie des Neoliberalismus. Es könnte nämlich gerade diese politische Dimension sein – und nicht die ökonomische –, die sich als fruchtbarer Ansatzpunkt für eine Kritik erweist, welche sich nicht in altbekannten Ankla­ gen erschöpft, der Neoliberalismus sei marktfixiert und kultiviere Gier und Egoismus. Die Verschiebung des Kritikfokus könnte wo­ möglich zeigen, dass die im neoliberalen Denken erörterten poli­ tischen Vorbedingungen und Implikationen des Neoliberalismus schlicht einen zu hohen Preis darstellen – selbst wenn seine strikt ökonomischen Vorstellungen analytisch plausibel und normativ akzeptabel wären. Ein letzter Grund, warum sich die Kritiker des Neoliberalismus seiner politischen Dimension zuwenden sollten, besteht in der Tatsache, dass Neoliberale und manche Kritiker des Neoliberalismus sich bisweilen in irritierender Nähe zueinander befinden. Neoliberale geben sich kritisch gegenüber verschiede­ nen Aspekten von Staat, Demokratie und Wissenschaft. Doch das Gleiche ließe sich auch von vielen seiner Kritiker (aus dem linken 57 James Buchanan, Richard Musgrave, Public Finance and Public Choice: Two Contrasting Visions of the State, Cambridge 1999, S. 22.

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Spektrum) sagen. Daher erscheint es dringend geboten, die diver­ sen Positionen und Kritikpunkte genauer zu betrachten, und zwar nicht nur, um zu klären, in welcher Hinsicht sich die jeweiligen Kritiken und Alternativvorschläge letztlich unterscheiden, sondern auch, um herauszufinden, ob sich womöglich gar etwas von den neoliberalen Kritiken lernen lässt und es nicht sogar möglich wäre, sich bestimmte ihrer Elemente anzueignen, um sie für die eigenen kritischen Zwecke einzusetzen.

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Teil I: Die politische Theorie des Neoliberalismus

Der erste Teil dieser Studie widmet sich der Rekonstruktion, Ana­ lyse und Kritik zentraler Elemente der politischen Theorie des Neoliberalismus, das heißt der politischen Dimension im neolibe­ ralen Denken. Diese politische Dimension ist kein bloßes Anhäng­ sel einer ansonsten ausschließlich auf ökonomische Phänomene fokussierten Lehre, sondern ein integraler Bestandteil einer kollek­ tiven Anstrengung, die neoliberale Problematik zu bewältigen, die sich auf die Identifizierung und Sicherstellung der vielfältigen Be­ dingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte bezieht. Der folgende Überblick über das politische Denken des Neoliberalis­ mus konzentriert sich auf vier Elemente, die aufs Engste mit dieser Problematik verknüpft sind: Staat, Demokratie, Wissenschaft und Politik. Die Relevanz der ersten beiden liegt auf der Hand: Kann der Staat etwas zu den Bedingungen beitragen, die funktionierende Märkte ermöglichen, und, falls ja, was genau kann er auf welche Weise leisten? Wie und warum droht der Staat umgekehrt zu ei­ ner Kraft zu werden, die ebenjene Bedingungen unterminiert, und wie kann dies verhindert werden? Es zeigt sich, dass hier vier Va­ rianten des theoretischen Neoliberalismus zu unterscheiden sind, die jeweils auf die Ermöglichung bzw. Begrenzung staatlicher Ein­ flussnahme abzielen, und zwar indem sie beim staatlichen PolicyOutput bzw. der Rezentrierung/Dezentrierung der Staatsstruktur ansetzen. Letzteres führt dann entweder zu einer tendenziellen Dif­ fusion staatlicher Macht in Mehrebenen-Systemen oder der For­ mierung eines semi-autoritären ›starken‹ Staates, was bereits zeigt, wie stark die Spannungen zwischen den Variationen neoliberalen Denkens bisweilen ausfallen können. Die Frage der Demokratie ist offensichtlich eng mit der des Staates verknüpft, denn die diesbezügliche neoliberale Leitfrage lautet: Auf welche Weise könnte Demokratie das Gefüge von Auf­ gabenstellungen und Handlungsbegrenzungen des Staates verkom­ plizieren, die das neoliberale Denken herauszuarbeiten versucht? Für die Neoliberalen erweist sich die Demokratie in ihrer zeitge­ nössischen Form als eines der schwerwiegendsten Hindernisse bei der Bewältigung der neoliberalen Problematik, und ihre Werke 51

enthalten eine beachtliche Bandbreite von spezifischen Kritiken, denen unterschiedliche Diagnosen zugrunde liegen (vom rentseeking und ausschließlich eigeninteressierten politischen Akteuren bis zu den uniformierten und irrationalen Massen), die wiederum unterschiedliche Lösungsansätze nahelegen. Diese reichen vom bereits erwähnten ›starken Staat‹, der die Forderungen der demo­ kratischen Öffentlichkeit und der pluralistischen Parteien gegebe­ nenfalls resolut zurückweist, bis zu bestimmten Verfassungsregeln bezüglich Defiziten und Staatsschulden oder gar einer legislativen Kammer, die einem den Zudringlichkeiten parlamentarischer Ein­ flussnahme enthobenen Verfassungsgericht ähnelt. Nicht zuletzt wird in manchen neoliberalen Schriften sogar die Einführung bzw. Ausweitung direktdemokratischer Elemente in Betracht gezogen, um die politischen Eliten stärker kontrollieren zu können. Das dritte Element, Wissenschaft, erscheint womöglich zunächst nicht als offensichtlicher Bestandteil einer politischen Theorie des Neoliberalismus. Aber es ist unmittelbar von Bedeutung für die neoliberale Problematik und zudem direkt verbunden mit den neo­ liberalen Perspektiven auf Staat und Demokratie. Die entsprechen­ den Leitfragen hier ähneln den bereits bekannten: Wie und was genau kann die Sozialwissenschaft zur Sicherung der Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte beitragen? Wie kann ein falsches (Rollen-)Verständnis der Wissenschaft im Verhältnis zu Staat und (demokratischer) Gesellschaft den gegenteiligen Effekt haben? Im neoliberalen Denken lässt sich im Hinblick auf diese Fragen zwischen zwei grundsätzlichen Perspektiven differenzieren, die einander mitunter diametral gegenüberstehen. Die eine betont Möglichkeiten und Leistungsfähigkeit der (ökonomischen) Wis­ senschaft, so sie denn auf die richtige Art und Weise mit Hilfe der richtigen Methoden praktiziert wird, und kontrastiert die wissen­ schaftlich generierte Wahrheit mit (kollektivistischen) Vorurteilen und Ideologie. Die andere sorgt sich vor allem über die Gefahren des ›Szientismus‹ und warnt davor, dass eine der Naturwissenschaft nacheifernde Wirtschafts- und/oder Sozialwissenschaft jedwedem neoliberalen Projekt größten Schaden zufügen würde, sei es durch die falschen methodischen Grundentscheidungen oder ein grund­ sätzlich überzogenes Vertrauen in die Fähigkeiten menschlicher Vernunft und die Gestaltbarkeit der politökonomischen Verhält­ nisse. Die beiden Variationen unterscheiden sich auch hinsichtlich 52

der Rolle, die Wissenschaft im Verhältnis zu Politik spielen soll: Vertritt die erste (die am besten von Eucken exemplifiziert wird) die Vorstellung wissenschaftlicher Politikberatung und weist damit letztlich in die Richtung einer technokratischen Politik, so ist die Idee, dass Wissenschaftler ihre Expertise Politikern zur Verfügung stellen sollen, die sich ohnehin vor allem für ihre Wiederwahlchan­ ce interessieren, aus Sicht der zweiten (die am besten von Buchanan exemplifiziert wird) mindestens naiv, wenn nicht sogar gefährlich. Das Politikverständnis ist das letzte und womöglich entschei­ dende Element der politischen Theorie des Neoliberalismus. Die entsprechende Leitfrage lautet: Wie genau sieht dieses Politikver­ ständnis der Neoliberalen aus, und zwar vor allem dahingehend, wie sie sich eine neoliberale Reformpolitik vorstellen? In den Ka­ piteln zu Staat, Demokratie und Wissenschaft werden wir auf eine Kombination von kritischer Analyse und daraus abgeleiteten Re­ formvorschlägen treffen. In dem Kapitel zum Politikverständnis wird untersucht, wie diese Reformen umgesetzt werden sollen, was sich als eine alles andere als triviale und gar eine der größten Her­ ausforderungen des Neoliberalismus erweist. Konkret besteht diese Herausforderung in der bemerkenswerten Unfähigkeit des neolibe­ ralen Denkens, einen theoretischen Entwurf neoliberaler Reform­ politik zu entwickeln – jedenfalls nicht, ohne genau die Annahmen zu negieren, die der neoliberalen Kritik an den Unzulänglichkeiten real existierender Demokratie zugrunde liegen. Insgesamt handelt es sich hier also womöglich um das schwächste Glied in der Kette neoliberaler Theorie.

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2. Staat In einem jüngeren Debattenbeitrag wird die rhetorische Frage ge­ stellt, ob der Staat ein »rotes Tuch für den Neoliberalismus oder doch eher seine größte Eroberung« sei.1 Die Frage ist rhetorisch, in­ sofern sich die Autorinnen durchaus darüber im Klaren sind, dass der Staat für die Neoliberalen zweifellos beides darstellt. Die stra­ tegische Zentralität des Staates für neoliberale Theorie und Praxis ergibt sich gerade aus dieser Ambivalenz, denn er ist das wichtigs­ te Instrument beim Versuch, die Bedingungen funktionierender Märkte zu schaffen und zu sichern, aber gleichzeitig geht von ihm auch die größte Bedrohung für jene aus. Dementsprechend nimmt die Frage nach der angemessenen Rolle des Staates im neoliberalen Denken überaus breiten Raum ein. Trotz der signifikanten Über­ schneidungen, die keinesfalls übersehen werden dürfen, lassen sich jedoch in den diversen Erwägungen und Entwürfen durchaus un­ terschiedliche und bisweilen sogar gegenläufige Schwerpunkte und Logiken erkennen, so dass es möglich und sinnvoll ist, im Hinblick auf das Staatsverständnis zwischen mehreren Variationen des neo­ liberalen Denkens zu differenzieren. Mein Ziel ist es im Folgen­ den, die zentralen Konzeptionalisierungsstrategien bezüglich des Staates und seiner Rolle vis-à-vis der Wirtschaft und der Gesell­ schaft herauszuarbeiten, um diese dann gemäß ihrer Ausrichtung zusammenzugruppieren und so einen Überblick sowie eine kriti­ sche Einschätzung der Variationen neoliberaler Staatsverständnisse zu entwickeln. Zu Beginn der Diskussion ist allerdings eine grundsätzliche Übereinstimmung unter den Neoliberalen zu verzeichnen: Der Staat hat positive Funktionen zu erfüllen, und diese erschöpfen sich weder in der Sicherung der Vertragsfreiheit oder allgemeiner der Rechtsdurchsetzung, noch wird es als hilfreich angesehen, in quantitativen Kategorien wie »mehr« oder »weniger« über die Rol­ le des Staates nachzudenken. Die Herausforderung besteht darin, ein qualitatives Verständnis des Staates und seiner Aktivitäten zu 1 Vivien A. Schmidt, Cornelia Woll, »The state: the bete noire of neo-liberalism or its greatest conquest?«, in: Schmidt/Thatcher (Hg.), Resilient Liberalism, S. 112-141, hier S. 112.

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entwickeln, und zwar nicht nur im Sinn einer Beschreibung des Status quo existierender Staaten, sondern auch im präskriptiven Sinn einer Skizze des idealen neoliberalen Staates.2 Die zweite Ge­ meinsamkeit, die über alle Variationen des neoliberalen Staatsdis­ kurses hinweg geteilt wird, ist eine Metapher, die immer wieder zum Einsatz kommt, um dieser Herausforderung auf möglichst intuitiv plausible Weise zu begegnen. Zwar wird sich zeigen, dass diese Metapher unzureichend ist, um die Nuancierungen des neoli­ beralen Staatsdiskurses angemessen zu erfassen, aber sie ist dennoch ein Referenzpunkt, auf den wir zu gegebener Zeit immer wieder zurückkommen können. Gemäß dieser zentralen Metapher des neoliberalen Staatsdiskur­ ses lässt sich der Staat im übertragenen Sinn als »robuster Schieds­ richter« begreifen.3 Das heißt, die Hauptaufgabe des Staates besteht in der autoritativen und unparteilichen Durchsetzung der Spiel­ regeln. Diese Beschreibung impliziert die bereits erwähnten zwei Seiten der Medaille staatlicher Macht: Einerseits muss es dem Staat ermöglicht werden, seine Aufgaben zu erfüllen, andererseits muss er in seinen Handlungsmöglichkeiten begrenzt werden. Ohne eine Instanz, die in einem Spiel, bei dem es ums Gewinnen und nicht ums Spielen als Selbstzweck geht, die Regeln durchsetzt, steht zu befürchten, dass das Spiel letztlich im Chaos endet, was eigentlich keiner der Spieler wollen kann. Aber um sicherzustellen, dass das Spiel nicht kollabiert, ist es ebenso wichtig, dass der Schiedsrichter sich auf genau diese Aufgabe beschränkt und sich nicht plötzlich selbst den Ball schnappt, um ein Tor zu erzielen, und so unmit­ telbar in das Spielgeschehen eingreift. Dieser Metaphorik geht es also darum, eine klare Linie zu ziehen zwischen der indirekten Strukturierung des Spiels auf der Grundlage eines durchzuset­ zenden ­Regelrahmens, der den Spielern die Wahl ihrer jeweiligen Strategien innerhalb dieses Rahmens überlässt, und einem direkten Eingriff in das Spiel, mit dem Ziel, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. 2 Siehe Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 365; Hayek, Weg zur Knechtschaft, S. 111; Fried­ man, »Neo-Liberalism«. 3 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 310; siehe auch Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart 1971, S. 48-49; Buchanan, Grenzen, S. 98, 135; Walter Eucken, »Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung«, in: ORDO 3 (1949), S. 1-99, hier S. 29; Rüstow, Rede und Antwort, S. 143.

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Forscher, die sich mit dem real existierenden Neoliberalismus beschäftigen, würden an dieser Stelle vermutlich direkt mit dem Hinweis einhaken, dass dies zwar wie eine elegante kategorische Unterscheidung zwischen staatlicher Agenda und Non-Agenda er­ scheint, die aber eben herzlich wenig mit der tatsächlichen Realität neoliberaler Staatlichkeit zu tun hat. Aber auch im neoliberalen Theoriediskurs weist die Beschreibung der Aufgaben des Staates oftmals über die stoischen Entscheidungen eines Schiedsrichters hinaus – auch wenn dies nicht immer offen eingeräumt wird. Es lohnt sich, dies im Hinterkopf zu behalten, wenn wir uns nun den Variationen des neoliberalen Staatsdiskurses zuwenden, der von zwei analytischen Unterscheidungen strukturiert wird. Die erste dieser Unterscheidungen ist die zwischen staatlichem Output und Staatsstruktur oder, genau genommen, zwischen argumentati­ ven Strategien, die sich auf die eine oder die andere Ebene bezie­ hen. Die zweite betrifft einerseits Strategien der Begrenzung des Staates und seiner Aktivitäten und andererseits der Betonung der positiven Aufgaben des Staates sowie der diversen Voraussetzungen, die es ihm ermöglichen, jene Aufgaben auch tatsächlich zu erfüllen. Aus der Kombination dieser beiden analytischen Entscheidungen ergibt sich eine Matrix mit vier Quadranten, in denen sich die ent­ sprechenden Variationen des neoliberalen Staatsdiskurses finden.

Eine positive Staats-Agenda: Politikprinzipien und Ziele Den Anfang machen Strategien neoliberaler Staatstheorie, die sich auf den Politik-Output des Staates konzentrieren und bestimm­ te Ziele hervorheben, die der Staat auf der Grundlage bestimm­ ter policies verfolgen sollte. In den meisten Fällen laufen die ent­ sprechenden Argumentationen auf die Identifizierung bestimmter Politikprinzipien hinaus, wobei diese Prinzipien allerdings oftmals nicht so prinzipiell ausfallen, wie es die Verwendung des Begriffs vermuten ließe. Die Arbeiten Milton Friedmans enthalten das erste Beispiel einer solchen Herangehensweise und können uns als gute Illustration derartiger Prinzipien dienen, denen gerade das Prinzi­ pielle fehlt. Friedman äußerte sich in späteren Jahren kaum noch so enthusiastisch zu den positiven Funktionen des Staates im Un­ terschied zur Politik des Laissez-faire, wie er dies in diversen Schrif­ 56

ten in den 1950er Jahren getan hatte.4 Nichtsdestotrotz hielt er an seinem Bekenntnis zur Notwendigkeit staatlichen Handelns fest, nicht zuletzt da die Regierung die Aufgabe habe, »eine Funktion zu übernehmen, die der Markt selbst nicht regeln kann, nämlich die Spielregeln festzulegen, durchzusetzen und die Rolle des Schieds­ richters zu übernehmen«.5 Doch Friedman ist sich im Klaren dar­ über, dass allein auf Grundlage der Metapher des Schiedsrichters die staatliche Agenda unterdeterminiert bleiben muss, und so un­ ternimmt er konsequenterweise den Versuch, staatliches Handeln auf der Grundlage von vier Prinzipien zu begründen. Der Staat, oder vielmehr die Regierung, von der insbesondere Friedman und Hayek bedeutend lieber sprechen,6 steht zunächst einmal in der Pflicht, die innere und äußere Sicherheit seiner Bevölkerung und deren Schutz vor jeglicher »Gewalt« zu gewährleisten.7 Die Regie­ rung schafft so die Voraussetzung für eine bestimmte Art indivi­ dueller Freiheit, definiert als die Abwesenheit von Zwang. Diese beiden ersten Prinzipien erscheinen Friedman unproblematisch. Das vierte Prinzip enthält eine Rechtfertigung paternalistischen Staatshandelns im Hinblick auf »Mitglieder der Gemeinschaft, die man nicht als ›verantwortliche‹ Individuen bezeichnen kann. […] Freiheit ist nur für selbstverantwortliche Individuen ein gangba­ rer Weg. Nach unserer Meinung soll es für Irre und Kinder kei­ ne Freiheit geben.«8 So kontrovers dies auch – gerade aus liberaler Perspektive – sein mag, es ist das dritte Prinzip, das Friedman am meisten beschäftigt, und zwar nicht zuletzt, weil es am engsten mit 4 Siehe Friedman, »Neo-Liberalism«; Friedman, Liberalism. 5 Friedman, Kapitalismus, S. 51; Milton Friedman, Rose Friedman, Die Tyrannei des Status quo, München 1985, S. 31. 6 »Das, was handelt oder eine Politik verfolgt, ist aber immer die Organisation ›government‹; und es ist der Klarheit nicht förderlich, den Ausdruck ›state‹ herein­ zuziehen, wo ›government‹ völlig ausreichend wäre.« Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 50. 7 Milton Friedman, Rose Friedman, Chancen, die ich meine. Ein persönliches Bekenntnis, Berlin/Frankfurt/M. u. a. 1980, S. 41. Hier ist darauf hinzuweisen, dass im englischen Original von ›Coercion‹, also Zwang, die Rede ist, was gemäß der Systematik des (neo-)liberalen Denkens die passendere Begrifflichkeit wäre. Siehe zur Bedeutung von Zwang, Macht und Gewalt im neoliberalen Denken Thomas Biebricher, »Power in Neoliberal Thought«, in: Journal of Political Power 7 (2014), S. 192-210. 8 Ebd., S.  45.

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der ökonomischen Sphäre und deren Funktionsweise verknüpft ist: Laut diesem Prinzip ist der Staat im Zusammenhang mit »Folgewir­ kungen (neighborhood effects)« beziehungsweise dem, was gemein­ hin als Externalitäten bezeichnet wird, zum Handeln aufgefordert.9 Dies ist eine altbekannte Problematik, die sich in Friedmans Lesart auf eine Vielzahl von Bereichen von uneingepreisten natürlichen Ressourcen wie sauberes Wasser oder saubere Luft bis zu den ne­ gativen Effekten erstreckt, die bestimmte Geschäftspraktiken oder Organisationsformen (zum Beispiel Monopole) auf Konkurrenten oder die Gesellschaft im Allgemeinen haben können. Der Staat ist hier aufgerufen, korrigierend einzugreifen, aber Friedman sind durchaus die Gefahren bewusst, die dieses Prinzip birgt. Das Pro­ blem, das in der politischen Theorie keineswegs unbekannt ist, weist einige Analogien zu John Stuart Mills bekanntem Schadens­ prinzip auf. Eine wichtige Frage, die sich aus Mills Argumentation ergibt, lautet, ob sich eine klare Linie zwischen dem Bereich ziehen lässt, in dem das Handeln des Einzelnen nur Auswirkungen auf ihn hat, und einem Bereich, in dem sich Handlungen auch auf andere auswirken. Im Fall von Friedmans Folgewirkungen lautet die entsprechende Frage dann, ob es irgendein Verhalten gibt, und zwar vor allem Marktverhalten, das nicht positive oder – noch öf­ ter – negative Externalitäten zeitigt. Eine weite Interpretation von Nachbarschaftseffekten kann so sehr leicht zur Rechtfertigung ei­ ner umfangreichen Agenda staatlicher Politik werden, in der dann sogar sozialpolitische Maßnahmen und eine besser ausgebaute so­ zialstaatliche Infrastruktur im Allgemeinen als Kompensation für negative Externalitäten, denen sich Individuen insbesondere in der ökonomischen Sphäre ausgesetzt sehen, gefordert werden könnten. Zunächst ist festzuhalten, dass wir an diesem Punkt die genüg­ same Metapher des Schiedsrichters bereits weit hinter uns gelassen haben. Schließlich ist hier die Rede von einem Staat, der sich po­ tentiell um die Vermeidung oder Kompensation von Externalitäten und die Vermittlung zwischen konfligierenden (Rechts-)Ansprü­ chen kümmern muss und der so unweigerlich seine eigenen posi­ tiven und negativen Externalitäten erzeugt, von denen wiederum Privatpersonen in unterschiedlicher Weise betroffen sind. Bemer­ kenswert ist zudem die Wandlung, die Friedmans Prinzipien im 9 Friedman, Kapitalismus, S. 54.

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Lauf der Argumentation durchmachen – insbesondere im Hinblick auf die Frage der Externalitäten. Friedman will nicht von der allge­ meinen Geltung des Prinzips abrücken, also schlägt er als vermeint­ lich pragmatische Lösung vor, dass in jedem gegebenen Fall Kosten und Nutzen eines staatlichen Eingriffs abgeschätzt werden müssten und dieser nur gerechtfertigt sei, wenn diese Bilanzierung positiv ausfalle.10 Damit verwandelt sich die Angelegenheit aber von einer an Prinzipien orientierten Frage in eine utilitaristische Abwägung, was von Friedman bestätigt wird, wenn er schreibt: »Unsere Prin­ zipien bieten keine festgelegte und bindende Richtlinie dafür, in­ wieweit es zweckmäßig ist, in Zusammenarbeit mit der Regierung Probleme als Gemeinschaftsaufgabe in Angriff zu nehmen, die man im freiwilligen Einsatz ohne den Staat nur schwer oder gar nicht lösen könnte.«11 Sie bieten auch keine klaren Kriterien, die es erlau­ ben würden, bestimmte Politiken dahingehend zu beurteilen, ob sie als Teil legitimen Regierungshandelns gedeckt sind.12 Die Re­ gierungspflichten und -prinzipien, in die Friedman beim Versuch der Vermessung des angemessenen staatlichen Handlungsrahmens so große Hoffnungen gesetzt hatte, erweisen sich also als äußerst elastisch. Dies mag aus mancher Perspektive als eine willkommene Dosis Pragmatismus in der Konzeptionalisierung des Staates und seiner Aufgaben erscheinen, aber dies ist offensichtlich ein schwa­ cher Trost für einen Neoliberalen, dem es mit seinen Bemühungen vor allem um eine klar abgesteckte staatliche Agenda ging. Das nächste Beispiel einer positiven Agenda des Staates auf der Grundlage von Prinzipien und bestimmten Zielen lässt sich als die Politik der Wettbewerbsordnung charakterisieren, die dem Staat die Rolle als Schöpfer und Hüter dieser Wettbewerbsordnung so­ wie der darauf basierenden Märkte zuweist. Vor allem in den Nach­ kriegsjahren, aber auch darüber hinaus findet sich diese Vorstellung beinahe im gesamten Spektrum neoliberalen Denkens. In seinem eigenen Vortrag im Rahmen des Gründungstreffens der Mont Pè­ lerin Society wies etwa auch Hayek darauf hin, »daß der Wettbe­ werb durch bestimmte staatliche Maßnahmen wirksamer und er­ folgreicher gemacht werden kann, als er ohne sie wäre«, und fügte hinzu: »der Zweck der Wettbewerbsordnung ist, den Wettbewerb 10 Siehe Friedman/Friedman, Chancen die ich meine, S. 44. 11 Friedman, Kapitalismus, S. 57. 12 Friedman/Friedman, Chancen die ich meine, S. 45.

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wirksam zu machen«, und nicht seine Einschränkung.13 Der junge Friedman sah ebenfalls »das Ziel der Wettbewerbsordnung« als eine angemessene Beschreibung der ökonomischen Agenda des Staa­ tes.14 Ursprünglich entstammt das Konzept der Wettbewerbsord­ nung jedoch der ordoliberalen Tradition, und zwar vor allem dem Werk Walter Euckens. Für Eucken zeichnen sich funktionierende Märkte in erster Linie durch effektive Konkurrenz aus, daher muss sich Wirtschaftspolitik den Voraussetzungen des Wettbewerbs und ihrer Sicherung widmen. Die Lösung, die Eucken vorschlägt, ist ebenjene Wettbewerbsordnung, die der Staat zu schaffen und zu er­ halten habe. Diese basiert auf sechs konstituierenden Prinzipien: ein funktionierendes Preissystem, eine stabile Währung, offene Märk­ te, Privateigentum, Vertragsfreiheit und uneingeschränkte persön­ liche Haftung, auf die wir im weiteren Verlauf noch ausführlicher zu sprechen kommen. Der Staat muss also ein politisch-rechtliches Rahmenwerk in Übereinstimmung mit diesen Prinzipien errichten und durchsetzen, was uns zurückverweist auf die Vorstellung des unparteilichen Schiedsrichters. Der Ordoliberalismus hat vor allem in seiner Euckenschen Prägung seit den 1920er Jahren immer wieder mit großem Nachdruck eine streng regelbasierte Wirtschaftspolitik eingeklagt, die sich ausdrücklich abgrenzt von den vermeintlichen wirtschaftspolitischen Experimenten jener Zeit.15 Eucken apostro­ phiert eine Perspektive auf Politik, die auf der Vorstellung inter­ dependenter politischer, sozialer, rechtlicher und wirtschaftlicher Ordnungen basiert, was wiederum dem politischen Prozess höchs­ te Kohärenz abverlangt, wollen er und der resultierende PolitikOutput den Komplexitäten jener Interdependenz von Ordnungen tatsächlich gerecht werden. Er folgert, dass in dermaßen prekären Konstellationen die negativen Effekte von ad-hoc-Eingriffen des Staates noch verschärft würden, wodurch noch einmal bestätigt wird, dass der Staat sich auf seine Rolle als Hüter der Wirtschafts­ verfassung beschränken sollte. Im Vergleich zu Friedman erscheint 13 Friedrich August Hayek, »›Freie Wirtschaft‹ und Wettbewerbsordnung«, in: Manfred E. Streit (Hg.), Rechtsordnung und Handelsordnung. Aufsätze zur Ordnungsökonomik, Tübingen 2003, S. 121-131, hier S. 124. 14 Friedman, »Neo-Liberalism«; siehe auch Buchanan/Musgrave, Public Finance, S. 84. 15 Siehe Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen (3. Auflage) 1960, S. 55-58.

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daher der Ansatz Euckens eher als von grundsätzlichen Prinzipien geleitet – immerhin trägt sein posthum veröffentlichtes wirtschafts­ politisches Hauptwerk den Titel Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Doch die konstituierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung sind keineswegs die einzig relevanten Prinzipien, und die Einbe­ ziehung weiterer Prinzipien hat eine beträchtliche Ausweitung der staatlichen Agenda zur Folge. Der Staat kann sich nämlich nicht auf seiner Schöpfung der Wettbewerbsordnung ausruhen, benötigt diese doch beständige Pflege (und auch regelmäßige Anpassung), um Märkte vor ihrem Verfall bewahren zu können. Vier weitere regulierende Prinzipien sollen staatliches Handeln diesbezüglich anleiten. Gemäß dem ordoliberalen Verständnis der Marktordnung ist diese keineswegs selbsterhaltend, sondern von beständiger Unterhöhlung bedroht. Aufgrund dessen wandelt sich das Bild des Staates von einem un­ beteiligt-unparteiischen Richter zu einem geradezu aktivistischen Marktpolizisten in höchster Bereitschaft, der unablässig den In­ tensitätsgrad der Marktkonkurrenz überwacht und gegebenenfalls auch Handlungsoptionen zu dessen Sicherung oder Wiederher­ stellung in Betracht ziehen muss.16 Die beständige Bedrohung der Wettbewerbsordnung speist sich aus dem vitalen Interesse eines je­ den Marktakteurs, sich dem Druck des Wettbewerbs zu entziehen, nicht zuletzt durch Kartelle, Oligopole und Monopole.17 Dem­ entsprechend beinhaltet das erste regulative Prinzip eine proaktive Anti­monopolpolitik. 16 »Die Regierung muß die Marktwirtschaft von vorne bis hinten begleiten.« Fou­ cault, Geburt der Biopolitik, S. 174. 17 Die kompromisslose Position im Hinblick auf die Bekämpfung jeglicher Form von Marktmacht, allen voran das Monopol, unterscheidet die Ordoliberalen von anderen Varianten des neoliberalen Denkens, wie es sich etwa in den Werken Friedmans und Hayeks findet. Dies lässt sich mit Verweis auf die nur oberfläch­ lich kaschierte Kritik des späten Hayek an den Ordoliberalen und Friedmans These, dass ein privates einem öffentlichen Monopol gegenüber zu bevorzugen sei, belegen, die sich ebenfalls klar gegen den namentlich erwähnten Eucken richtet. Siehe Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 388 f.; Friedman, Kapitalismus, S. 51. Das folgende lakonische Zitat Hayeks bringt seine und Friedmans Sichtweise auf den Punkt: »Monopole sind sicherlich unerwünscht, aber nur in dem Sinn, in dem Knappheit unerwünscht ist; in beiden Fällen heißt das nicht, daß wir sie vermeiden können.« Friedrich August Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen (4. Auflage) 2005, S. 360.

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Abgesehen von den unerwünschten Auswirkungen ökonomi­ scher Macht auf die Wettbewerbsordnung verzeichnet Eucken auch andere Problemquellen, auf die sich die übrigen drei Prinzipi­ en beziehen. Das erste ist wenig überraschend, thematisiert es doch das Problem der Externalitäten, die allerdings Eucken weniger gefährlich erscheinen als Friedman. Weitaus überraschender sind aber die verbleibenden zwei Prinzipien. Gemäß dem dritten kann eine fiskalische Umverteilungspolitik erforderlich sein, um eine übermäßige Fokussierung auf die Produktion von Luxusgütern zu vermeiden, und das vierte beschäftigt sich mit den Problemen, die auf ein »anormales Verhalten des Angebotes«18 des Faktors Arbeit in ökonomischen Krisenzeiten zurückzuführen sind. Damit ist die Möglichkeit gemeint, dass ein fallender Preis von Arbeitskraft auf­ grund einer Rezession nicht zu weniger Bereitschaft führt, dieses Gut zu einem solch niedrigen Preis anzubieten (was letztlich zu einer Erhöhung des Preises führen würde), sondern im Gegenteil zu einer Ausweitung des Angebots – schließlich müssen Arbeiter und Angestellte weiterhin ihren Lebensunterhalt bestreiten und sehen sich so möglicherweise gezwungen, angesichts der niedrigen Löhne noch mehr zu arbeiten. Eucken erwähnt zwar einige Fakto­ ren, die den resultierenden Problemdruck mindern können, doch er stellt klar, dass durchaus ein Punkt erreicht werden kann, an dem der Staat einen Mindestlohn einführen sollte. Zwei Punkte sind im Zusammenhang mit diesen Prinzipien festzuhalten. Ers­ tens erscheinen sie weniger als Prinzipien im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr als spezifische Politiken oder Maßnahmen, mit denen auf bestimmte (ungünstige) Bedingungen reagiert werden soll. Zweitens scheint es so, als ob sich Mindestlöhne, fiskalische Umverteilung und der Kampf gegen alles und jeden, der den Wett­ bewerb zu beeinträchtigen versucht, zu einer staatlichen Agenda aufaddieren, die sich mitnichten auf die Durchsetzung von Spielre­ geln beschränkt, sondern in bestimmten Fällen zu direkten Eingrif­ fen in den Markt führt – der Mindestlohn ist das offensichtlichste Beispiel. Man mag das als eine Art Ausreißer im Gesamtkontext des Euckenschen Ansatzes abtun, aber die Politik-Agenda jenseits einer eng verstandenen Politik der Wettbewerbsordnung weitet die Zone legitimen und erforderlichen staatlichen Handelns auch im Bereich 18 Eucken, Grundsätze, S. 303.

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der Sozialpolitik aus. Diese Passagen werfen insofern einige Fragen auf, als das entsprechende Kapitel in den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik nach dem Tod Euckens von einem der Herausgeber ediert wurde. Fraglich ist aber weniger, ob sich Eucken bestimm­ ten sozialpolitischen Instrumenten wie etwa Sozialversicherungen gegenüber offen zeigt.19 Umstritten ist vielmehr die Interpretation dieser sozialpolitischen Elemente. Eine mögliche Lesart von Eu­ ckens Formulierungen, laut derer Sozialpolitik als Komplement der Wettbewerbsordnung zu verstehen ist und selbst in einer ansonsten perfekt geordneten sozioökonomischen Sphäre erforderlich bleibt, würde nahelegen, Sozialpolitik als eine Art Gegengewicht zur Aus­ tarierung der Politik der Wettbewerbsordnung zu begreifen. Aber auch eine alternative Interpretation kann hier eine gewisse Plau­ sibilität für sich in Anspruch nehmen, die vor allem auf Euckens Bemerkung abstellt, dass Sozialpolitik als integraler Bestandteil der »Wirtschaftsordnungspolitik«20 im Ganzen zu verstehen sei, was suggeriert, dass Sozialpolitik wohl bestimmte soziale Härten abfe­ dern kann und auch die extremsten Formen der Ausbeutung von Arbeit von Seiten des Kapitals einzuschränken vermag. Was sie aber vor allem zu einem festen Bestandteil der Wirtschaftsordnungspo­ litik macht, ist ihr Gesamteffekt als Maßnahme zur Förderung und Sicherung von Wettbewerb. Eucken weist darauf hin, dass ein be­ stimmtes Maß an persönlicher materieller Unabhängigkeit die Vor­ aussetzung für eine hinreichende »Dekommodifizierung« (EspingAndersen) von Arbeitskraft darstellt,21 damit diese nicht zu jedem Preis verkauft werden muss und ein tatsächlicher Wettbewerb um ›Humankapital‹ stattfindet; und wenn »Gewerkschaften dazu bei­ tragen, die nachfragemonopolistische Situation auszugleichen, und Löhne durchsetzen, die den Wettbewerbslöhnen entsprechen […], 19 Siehe ebd., S. 312-324. 20 Ebd., S.  313. 21 »Die Erfahrung hat gezeigt, was der Besitz eines eigenen Hauses und Gartens besonders in Notzeiten bedeutet; sowohl als Ausgleich für die einseitig bean­ spruchende Berufstätigkeit wie auch als wirtschaftlicher Rückhalt.« Ebd., S. 319. Siehe auch: »Bei absoluter oder wenigstens minimaler wirtschaftlicher Autarkie des Einzelnen bzw. der Familie liegt mein wirtschaftliches Schicksal in meiner ei­ genen Hand, und ich bin für meine Existenz und die der Meinigen von niemand anderem abhängig.« Alexander Rüstow, »Zwischen Kapitalismus und Kommu­ nismus«, in: ORDO 2 (1948), S. 100-169, hier S. 118.

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so tragen sie zur Realisierung der Wettbewerbsordnung bei«.22 Ein solches Lob der Gewerkschaften findet sich eher selten unter Neo­ liberalen, aber es ist ja auch nicht in erster Linie Euckens soziales Gewissen, das ihn dazu veranlasst – er kritisiert an anderer Stelle die Gewerkschaften vehement, die ihre Macht missbrauchten, um dafür zu sorgen, dass Löhne und Gehälter nicht unter ein bestimm­ tes Niveau gedrückt werden –,23 sondern ihr positiver Beitrag zur Steigerung des Wettbewerbs. Ob Euckens Annahmen bezüglich Marktkorrekturen, Mindest­ lohn und fiskalischer Redistributionen zutreffend sind und ob sie tatsächlich den Gesamteffekt einer Verschärfung von Konkurrenz haben, kann mit gutem Recht bezweifelt werden, wichtiger im vor­ liegenden Kontext ist aber die Schlussfolgerung, die sich aus dieser Aufgabenbeschreibung des Staates ergibt: Möglicherweise lässt sich Euckens Agenda des ordoliberalen Staats als prinzipiengeleitet cha­ rakterisieren, aber nur wenn wir die Aufrechterhaltung der Wettbe­ werbsordnung als das zugrundeliegende Prinzip verstehen. Es wäre daher treffender, von einem teleologischen oder zielorientierten Ansatz zu sprechen, wobei der Erhalt der Wettbewerbsordnung das entsprechende Telos oder Ziel wäre, gegenüber dem alle anderen ebenso von zweitrangiger Bedeutung sind wie die Frage, inwieweit eine Politik, die allein auf dieses Telos ausgerichtet ist, auch ansons­ ten angemessen und akzeptabel erscheint.24 Zugespitzt formuliert beinhaltet die Agenda des Staates also was auch immer erforderlich ist, um die Wettbewerbsordnung zu verteidigen. Von einer scharfen 22 Eucken, Grundsätze, S. 323. 23 Walter Eucken, Unser Zeitalter der Mißerfolge. Fünf Vorträge zur Wirtschaftspolitik, Tübingen 1951, S. 36. Siehe zur Rolle der Gewerkschaften aus Eucken Per­ spektive auch: »Hier haben die Gewerkschaften die Funktion, die Ungleichheit der Arbeiter und Unternehmer auszugleichen. Das ist eine wichtige Funktion. Zugleich ist damit die Grenze ihrer Tätigkeit bezeichnet; das Gewerkschaftsrecht darf eine monopolistische Vermachtung des Arbeitsmarktes nicht erlauben. […] Die Elastizität der Preis- und Lohnbildung vermindert die Gefahr der Arbeitslo­ sigkeit auf das mögliche Minimum.« Walter Eucken, Ordnungspolitik, Münster 1999, S. 21. 24 An dieser Stelle ist aber darauf hinzuweisen, dass Eucken die Wettbewerbsord­ nung nicht als Zweck an sich betrachtet. Vielmehr handelt es sich um ein lohnen­ des Ziel staatlichen Handelns, weil diese Ordnung »dem Wesen des Menschen und der Sache entspricht; das heißt Ordnung, in der Maß und Gleichgewicht bestehen«. Eucken, Grundsätze, S. 372.

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und klaren Demarkation kann hier also beim besten Willen nicht die Rede sein. Ein weiteres Beispiel dieser Variante des neoliberalen Staatsdis­ kurses findet sich bei Euckens ordoliberalen Gefährten Röpke und Rüstow. Beide sind entschiedene Anhänger der Vorstellung einer unbedingt zu erhaltenden Wettbewerbsordnung, die nicht zuletzt auch beispielsweise eine aggressive Antimonopolpolitik sowie die Bekämpfung aller Formen von ökonomischer Macht notwendig mache.25 Aber sie identifizieren in diesem Zusammenhang eine weitere Staatsaufgabe, die Rüstow als »›liberalen Interventionis­ mus‹« bezeichnet,26 der laut Röpke aus »Anpassungsinterventio­ nen« im Gegensatz zu »Erhaltungsinterventionen« besteht.27 Was Röpke und Rüstow vorschwebt, ist eine Politik, die strukturelle Anpassungsprozesse flankiert und erleichtert, anstatt den Status quo zu erhalten. Dies ist eine in mehrfacher Hinsicht bemerkens­ werte Forderung. So machen sich die beiden Ordoliberalen hier zunächst einmal nonchalant den Begriff des ›Interventionismus‹ und die entsprechenden Formen staatlichen Handelns zu eigen, die dem neoliberalen Denken ja eigentlich ein Gräuel sind. Röp­ ke und Rüstow buchstabieren die verschiedenen Formen, die ein solcher Interventionismus annehmen kann, mit Verweis auf eine Vielzahl von Maßnahmen aus, von denen sich manche kaum von konventioneller Sozialpolitik unterscheiden, die diejenigen un­ terstützen soll, die mit den negativen Folgen des Strukturwandels zu kämpfen haben, wohingegen andere vor allem darauf abzielen, Humankapital so schnell wie möglich wieder in den Arbeitsmarkt einzuspeisen, sei es durch bestimmte Qualifizierungsmaßnahmen oder andere arbeitsmarktpolitische Instrumente.28 Die Ideen von Rüstow und Röpke erinnern mithin in gewisser Weise an ein Ar­ beitsmarktregime, das heute unter dem Begriff Flexicurity bekannt 25 Siehe Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 365. 26 Rüstow, »Zwischen Kapitalismus und Kommunismus«, S. 132. 27 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 302. 28 »Öffentliche gemeinnützige Arbeitsvermittlung, verbunden mit einer vor der Berufswahl einsetzenden Berufsberatung, und Schulungs-, Umschulungs- und Umsiedlungshilfen, um die innere und äußere Anpassungsfähigkeit des Arbeiters an den Arbeitsmarkt auf die für das Funktionieren der Marktgesetze erforderli­ che Höhe zu bringen.« Rüstow, »Zwischen Kapitalismus und Kommunismus«, S. 137.

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ist und vor allem in Skandinavien verbreitet ist. Was die ordolibe­ ralen Vorstellungen mit dem Flexicurity-Regime gemeinsam haben, ist eine gewisse Ambivalenz zwischen der Zielsetzung angemessener sozialer Sicherheit einerseits und einem wahrhaft akzelerationisti­ schen Paradigma des Kapitalismus andererseits. Schließlich mö­ gen diese Interventionen auf der individuellen Ebene die Härten längerer Arbeitslosigkeit mildern, aber sie setzen die Bereitschaft und Fähigkeit jener Individuen voraus, sich ihre gesamte Arbeits­ biographie hindurch immer wieder neu- und umzuqualifizieren, um entwertetes Humankapital durch einen profitableren Kapital­ stock zu ersetzen.29 Darüber hinaus dürften diese Interventionen zu immer rapiderem Strukturwandel führen, da sie gerade so viele Hindernisse wie möglich beseitigen sollen. In Frage steht hier aber nicht die substanzielle normative Wünschbarkeit eines ›liberalen Interventionismus‹, sondern seine Implikationen für die staatliche Aufgabenbeschreibung. Erstens legt die Festlegung auf einen wie auch immer gearteten Interventionismus nahe, dass sich der Staat keineswegs auf die Rolle des Schiedsrichters beschränken kann bzw. soll, denn es gehört nun zu seinen Aufgaben, offen in das sozioökonomische Spielgeschehen einzugreifen. Zudem stellt sich die Frage, woher der Staat eigentlich weiß, in welche Richtung der Strukturwandel verläuft, den er dann aktiv fördern und flankieren soll. Die diesbezüglichen Einschätzungen und Prognosen sind of­ fensichtlich voraussetzungsreich, und andere Neoliberale wie ins­ besondere Hayek würden wohl mit allem Nachdruck darauf hin­ weisen, dass es nur eine Instanz geben kann, die über belastbares Wissen über die Richtung strukturellen Wandels verfügt, nämlich den Markt – was ja gerade einer der wichtigsten Gründe ist, warum Staaten wirtschaftspolitische Zurückhaltung üben sollten.30 Wird dem Staat umgekehrt diese Fähigkeit zur Voraussage zuerkannt und ist er entsprechend aufgefordert, »das Ergebnis umfassender 29 Es gehe darum, »die innere und äußere Anpassungsfähigkeit des Arbeiters an den Arbeitsmarkt auf die für das Funktionieren der Marktgesetze erforderliche Höhe zu bringen.« Rüstow, »Zwischen Kapitalismus und Kommunismus«, S. 137. 30 Siehe vor allem Friedrich August Hayek, »Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft«, in: Viktor Vanberg (Hg.), Wirtschaftstheorie und Wissen. Aufsätze zur Erkenntnis- und Wissenschaftslehre, Tübingen 2007, S. 57-70; Friedrich August Hayek, »Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren«, in: Streit (Hg.), Rechtsordnung und Handelnsordnung, S. 132-149.

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struktureller Wandlungsprozesse zu antizipieren«,31 dann könnte man sich fragen, warum er eigentlich nicht allgemein stärker in ökonomische Fragen und unternehmerische Entscheidungen in­ volviert sein sollte. Wir müssen also abschließend schlussfolgern, dass der Versuch, den staatlichen Policy-Output mit Verweis auf eine bestimmte prinzipien- oder zielbasierte Agenda festzuschreiben, dem Staat letztlich eine weitaus größere Bandbreite von politischen Hand­ lungs- und Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, als man es ange­ sichts des ursprünglichen Ziels einer engen und strengen Begren­ zung staatlicher Politik mit Verweis auf jene Ziele oder Prinzipien erwartet hätte. Friedmans Folgewirkungen, Euckens regulative Prinzipien und Sozialpolitik sowie der liberale Interventionismus Röpkes und Rüstows eröffnen beträchtliche Schlupflöcher, aus de­ nen eine signifikante Ausweitung staatlicher Aktivitäten resultiert, die langfristig nur schwer einzugrenzen sein könnte – mit fatalen Folgen für das ursprüngliche Ansinnen der vier Denker. Das letzte Beispiel einer positiven staatlichen Handlungsagen­ da mag auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheinen, aber es bestätigt noch einmal, wie breit das Spektrum der Antworten und Lösungsvorschläge bezüglich der neoliberalen Problematik ist. Für Röpke und Rüstow ist die Steigerung der Dynamik kapitalistischer Reproduktion durch einen liberalen Interventionismus nicht die einzige und womöglich auch nicht die vordringlichste Aufgabe des Staates. Darüber hinaus sprechen sie sich für eine Politik der »›Ent­ massung‹« aus.32 Positiv ausgedrückt geht es hier um die Verfolgung einer sogenannten Vitalpolitik. Nur wenn Märkte in eine gesunde, nicht vermasste Gesellschaft eingebettet sind, können ihre korrosi­ ven Auswirkungen eingedämmt und damit auch ihr eigener Erhalt sichergestellt werden. Blicken wir also zunächst auf die ordoliberale Analyse der Ursprünge und Probleme der Massengesellschaft, be­ vor wir uns den Details einer Vitalpolitik zuwenden. Die Vermassung ist ein Langzeit-Effekt ihres dialektischen Pen­ dants, der Individualisierung oder Atomisierung, welche nämlich erst die Voraussetzungen für die Bildung von Massen schafft. Die­ 31 Rüstow, »General Sociological Causes«, S. 281. 32 Wilhelm Röpke, »Die Massengesellschaft und ihre Probleme«, in: Louis Baudin, Albert Hunold (Hg.), Masse und Demokratie, Erlenbach-Zürich 1959, S. 13-38, hier S. 37.

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ser Prozess geht einher mit der Industrialisierung, die zur Erosion eingewöhnter ländlicher Lebensweisen und in der Folge zu mas­ siver Urbanisierung führt. Entwurzelte Individuen finden sich so ohne Netzwerke oder soziales Kapital, wie man es heute nennen würde, in Städten wieder und bilden dort das Rohmaterial für Vermassungsprozesse. »Diese Sandkörner der Individuen werden nun zufällig und mechanisch zu Haufen zusammengewirbelt, eben den ›Massen‹ der Großstädte […] ohne wahre innere Bindung, ohne tiefere Verwurzelung.« »Die sich daraus ergebende einfache Aggregation der nunmehr auf sich selbst gestellten Individuen ist das, was wir Vermassung nennen. Es ist die Einebnung der Gesell­ schaftspyramide, ihre Atomisierung und die damit einhergehende Verklumpung der Individuen.«33 Laut der ordoliberalen Diagnose leiden diese atomisierten Stadtbewohner an »Unterintegration«,34 und obwohl in erster Linie die anonymen Prozesse kapitalistischer Industrialisierung für diese Entwicklung verantwortlich gemacht werden, tragen auch die alten »Paläoliberalen«, wie Rüstow spöt­ tisch die Befürworter des Laissez-faire im 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet,35 insofern Schuld daran, als sie der fehlenden Integra­ tion im Namen eines uneingeschränkten Individualismus schlicht keine Beachtung schenkten. Ihre Sichtweise kapitalistischer Ent­ wicklung war blind gegenüber deren schädlichen Auswirkungen auf den Einzelnen und den höchst problematischen Nebenfolgen der Unterintegration. Auf sich selbst zurückgeworfen und ohne jegliches Zugehörigkeitsgefühl, sind Individuen anfällig für Reinte­ grationsangebote von Seiten kollektivistischer Bewegungen, die den Einzelnen im Fall von Faschismus und Nationalsozialismus als Angehörigen einer nationalen Gemeinschaft und im Fall des Kom­ munismus als Teil der werktätigen Massen adressieren. Aufgrund der Soziologieblindheit des frühen Liberalismus konnten kollekti­ vistische Bewegungen erstarken, indem sie diese Massen mit Hilfe des Angebots einer bloßen »Pseudointegration«36 mobilisierten, die nicht mit einem authentischen Gefühl der Zusammengehörigkeit verwechselt werden dürfe, wie Röpke mahnt. Aber die Labilität jener Entwurzelten erstreckt sich nicht bloß auf die spirituelle Di­ 33 Röpke, Civitas Humana, S. 243, 245. 34 Rüstow, Rede und Antwort, S. 178. 35 Ebd., S.  12. 36 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 24.

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mension und das, was Rüstow bisweilen mit Heideggers Begriff der »Geworfenheit« bezeichnet,37 sondern auch auf die sozioöko­ nomische in Form dessen, was die Ordoliberalen als Proletarisie­ rung bezeichnen und damit geradezu marxistische Konnotationen ausstreuen. Die Massen haben keine Alternative zum Verkauf ihrer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt, denn sie verfügen über keine (familiären) Netzwerke, die sie unterstützen könnten, oder ande­ re Einkommensquellen. Daher sind sie entweder abhängig von ihrem Beschäftigungsverhältnis, welcher Art es auch sein möge, oder von staatlicher Unterstützung. Es versteht sich von selbst, dass es aus ordoliberaler Perspektive weitaus wünschenswerter ist, wenn Menschen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit bestreiten, anstatt von Transferzahlungen zu leben, aber dennoch ist festzu­ halten, dass auch die Auswirkungen extremer Kommodifizierung von Arbeitskraft problematisiert werden, wenn Werktätige etwa unter schlechten Bedingungen arbeiten müssen oder ihre Arbeit als langweilig und sinnlos empfinden. »Die den Tag ausfüllende Arbeit vollzieht sich an getrennten Arbeitsplätzen, nach fremder Anweisung, unter fremdem Kommando, mit einem Minimum eigener Initiative, in einer Teilhaftigkeit, deren Gesamtsinn nicht immer klar vor Augen steht.«38 Wir müssen keineswegs den vor­ schnellen Schluss ziehen, dass es sich hier um eine Art krypto-mar­ xistischer Kritik kapitalistischer Produktionsverhältnisse handelt, aber die ordoliberale Kritik von Vermassung und Proletarisierung enthält durchaus eine entfremdungskritische Komponente (die ja nicht zwingend marxistischer Natur sein muss). Doch wie ernst sie auch die Abhängigkeit von Arbeit und damit verbundene Entfrem­ dungserscheinungen nehmen, das weitaus gewichtigere Problem ist aus ordoliberaler Perspektive mit der Alternative zur Lohnarbeit in Form eines Sozialstaats verknüpft, der seine Klienten Zwangsver­ sicherungssystemen unterwirft und sie in einem Zustand ökono­ mischer Unmündigkeit oder gar Abhängigkeit gefangen hält.39 In beiden Szenarien ist es die fehlende (ökonomische) Unabhängig­ keit, die die Ordoliberalen als entscheidenden Faktor im Prozess 37 Alexander Rüstow, »Sozialpolitik oder Vitalpolitik«, in: Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Dortmund 11 (1951), S. 453-459, hier S. 456. 38 Ebd., S.  454. 39 Siehe Wilhelm Röpke, Two Essays by Wilhelm Röpke: The Problem of Economic Order/Welfare, Freedom and Inflation, Lanham 1987, S. 71.

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der Proletarisierung ansehen. Die wenig überraschende Skepsis beziehungsweise scharfe Kritik am Sozialstaat weist bereits darauf hin, dass Vermassung und Proletarisierung ein unbestreitbarer öko­ nomischer Aspekt zu eigen ist, aber diese schwere »Erkrankung der Sozialstruktur«40 kann weder durch die konventionelle sozialpo­ litische Kombination aus Versicherungen und Transferzahlungen noch durch simple Lohnerhöhungen geheilt werden. Man würde diese ›Krankheit‹ als rein materielles Problem missverstehen und damit den Aspekten unzureichende Aufmerksamkeit schenken, die jenseits ökonomischer Verhältnisse im engeren Sinne angesiedelt sind: die spirituellen Aspekte der Vermassung. Worin soll dann also die Lösung bestehen? Röpke liefert eine täuschend simple Antwort: »Vermassend wirkt alles, was die Konzentration fördert, entmas­ send alles, was die Dezentralisation begünstigt.«41 Röpke ist ein entschlossener Verfechter politischer Dezentralisierung – jedenfalls in abstracto  –, aber was er hier fordert, ist eine weit darüber hi­ nausgehende soziale Dezentralisierung, die die Wohnungspolitik, Wirtschaftspolitik, Kulturpolitik und bestimmte Aspekte der Sozi­ alpolitik betrifft. Die gewaltigen Prozesse der Urbanisierung müss­ ten rückgängig gemacht werden, indem Bedingungen geschaffen werden, unter denen es für den Einzelnen möglich und auch at­ traktiv erscheint, in überschaubare Lebensumstände in kleinerem Maßstab zurückzukehren, um dort ein vermeintlich glücklicheres Leben zu führen. Hier könnte »der Mensch im kleinen und daher mit menschlicher Wärme erfüllten Lebenskreise (Familie, Gemein­ de, Kirchengemeinschaften, Nachbarschaft, Klein- und Mittelbe­ trieb, wissenschaftliche, literarische und künstlerische Zirkel usw.) das verlorengegangene Gleichgewicht zwischen Individualität und Kollektivität zurückgewinnen«.42 Röpke spricht nicht von Glück, sondern von »innerer Stabilität« und »Verantwortung«, die durch eine Politik der Entmassung wiederhergestellt werden könnten, aber für Rüstow handelt es sich tatsächlich um nicht weniger als das Glück der Menschen. Für ihn ist die Politik der Entmassung Teil einer noch grund­ sätzlicheren Vitalpolitik, die die umfassend verstandene Wohlfahrt der Menschen erhöhen soll, und zwar sowohl materiell wie spiri­ 40 Röpke, »Massengesellschaft«, S. 34. 41 Ebd. 42 Ebd., S.  35.

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tuell: Es stellt sich die Frage, »was denn nun positiv als Ergänzung notwendig ist, welche möglichen und zu fordernden Maßnahmen in Betracht kommen, um der üblichen Sozialpolitik diejenigen Ergänzungen zu geben, die zu einer wirklich befriedigenden Vi­ talsituation führen, einer Vitalsituation, bei der der Einzelne sich zufrieden und glücklich fühlen kann. Das ist eben das, was ich Vitalpolitik nenne.«43 Natürlich beinhaltet eine solche Vitalpolitik auch das Element der Dezentralisierung, und Rüstow illustriert die entsprechenden Forderungen mit einem stark idealisierten Bild des Landlebens: »Die Leute haben ihr Häuschen, ihren Garten, ihren Acker, sie selbst in ihrer Freizeit und ihre Familienmitglieder kön­ nen sich auf eine sinnvolle Weise mit einer Arbeit beschäftigen, die ihnen Freude macht.«44 Doch die Vitalsituation, um die es Rüstow geht, hat offensichtlich eine ganze Reihe von Dimensionen. Vi­ talpolitik sollte Familien und bestimmte Formen der elterlichen Erziehung unterstützen, schlägt sich im Schulbetrieb nieder und betrifft auch die Geschlechterverhältnisse. So erhebt Rüstow die unverhüllt reaktionäre Forderung, die Erziehung junger Frauen sollte sie in erster Linie auf ihre traditionellen Rollen als Hausfrau und Mutter vorbereiten.45 Vitalpolitik betrifft also den Menschen in einem umfassenden Sinn, und angesichts dieser enormen Aufgabe überrascht es nicht, dass Rüstow eine Wissenschaft vom Menschen vorschwebte, die nicht weniger als die Conditio humana zu ihrem Gegenstand machen sollte, um so eine auf unterschiedlichsten Ebe­ nen ansetzende Vitalpolitik auf der Grundlage wissenschaftlicher Einsichten anleiten zu können, worauf wir noch einmal im vierten Kapitel zurückkommen werden. Wie ist diese Agenda der Dezentralisierung/Entmassung, die sich in Rüstows Version zu einer umfassenden Vitalpolitik aus­ weitet, zu beurteilen? Es kann kaum überraschen, dass die beiden Ordoliberalen sich angesichts dieser eher rückwärtsgewandten Agenda des Staates mit scharfer Kritik an ihrer vermeintlichen »So­ zialromantik« konfrontiert sahen.46 Allzu leicht erscheint ihre Visi­ 43 Rüstow, »Sozialpolitik oder Vitalpolitik«, S. 455. 44 Ebd. 45 Ebd., S.  457. 46 Siehe etwa Roland Hahn, Sozialromantik und Marktwirtschaft: Die programmatische Erneuerung des Liberalismus in Deutschland unter dem Einfluss der Ideen Wilhelm Röpkes und Alexander Rüstows, Frankfurt/M. 1993.

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on einer optimal integrierten Gesellschaft mit einer wünschenswer­ ten Vitalsituation als höchst idealisiertes Bild des Frühkapitalismus, als Handwerker und Kleinbauern noch ein sinnerfülltes Leben führten, unabhängig von Riesenkonzernen und bürokratischen So­ zialstaaten. Aber wenn sich auch zweifellos eine beträchtliche Pri­ se Nostalgie in beide Entwürfe mischt, die besonders deutlich aus Röpkes Variante herauszuschmecken ist, dessen Kulturpessimis­ mus im Vergleich zu Rüstow weitaus stärker ausgeprägt ist, ist doch darauf hinzuweisen, dass viele Strömungen ökologischen Denkens und viele, die nach Wegen in die Postwachstumsgesellschaft fahn­ den, ebenfalls die Wichtigkeit einer dezentralisierten Lebensweise für Produzenten und Konsumenten hervorheben würden. Eine solche Lebensweise zu propagieren, mag nostalgisch wirken, vor al­ lem angesichts der Tatsache, dass 2008 erstmalig in der Geschichte mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten lebte. Doch wenn die aktuellen Trends sich weiter fortschreiben, dann werden es im Jahr 2050 bereits siebzig Prozent sein, und dann könnte das Leben in immer weiter wachsenden Mega-Cities, das bereits jetzt für die Mehrheit ihrer Bewohner kein einfaches ist, genauso entvitalisie­ rende Wirkungen entfalten, wie es Rüstow befürchtet. Vor allem ist an dieser Stelle aber die bemerkenswerte Differenz zwischen der ökonomischen Sphäre und ihrer sozialen Umgebung hervorzuheben. Während der liberale Interventionismus die kapita­ listische Dynamik noch weiter beschleunigt und so Flexibilität und Mobilität zu unverzichtbaren Attributen des Einzelnen macht, zielt Vitalpolitik im Hinblick auf die nicht-ökonomische Sphäre auf das genaue Gegenteil ab. Ihr Ziel sind schließlich gerade Entschleuni­ gung, Stabilität und Integration – wenn nicht gar das Zurückdre­ hen der Zeit. Die wohlwollende Interpretation dieser Konstella­ tion deutet sie als einen bewussten Versuch der Ausbalancierung gegenläufiger Tendenzen, worin eben genau die Vorbedingung für die nachhaltige Reproduktion von Märkten bestünde. Die weni­ ger wohlwollende Interpretation verzeichnet eine widersprüchliche Konstellation, in der die beiden Ordoliberalen nicht einmal in Be­ tracht ziehen, dass die beiden gegenläufigen Logiken ineinander diffundieren könnten, und einfach voraussetzen, dass sie getrennt voneinander im Gleichgewicht gehalten werden können. Bestand das Ziel dieser Variante neoliberaler Theoretisierung des Staates zunächst in der Identifizierung von Aufgaben und Prinzi­ 72

pien, aus denen sich klare Demarkationslinien für staatliches Han­ deln ableiten lassen, dann ist die vitalpolitische Agenda allerdings das vollständige Gegenteil davon, da sie kaum weniger ausgreifend und schlechter definiert sein könnte.

Die Begrenzung staatlichen Handelns: Marktkonforme Eingriffe, Rechtsstaatsprinzip und Haushaltsregeln In der Diskussion des liberalen Interventionismus war kein Kri­ terium erkennbar, das zu einer Begrenzung des entsprechenden Eingriffs herangezogen werden könnte; entscheidend war nur, ob es sich tatsächlich um eine Anpassungsintervention handelt. Doch dies gilt nur für Rüstows Version des Arguments;47 Röpke schlägt ein solches Kriterium, das die Möglichkeit einer klaren und nach­ vollziehbaren Begrenzung staatlicher Handlungsmöglichkeiten bieten soll, vor. Er führt die Unterscheidung zwischen »konformer und nichtkonformer Wirtschaftspolitik« auf der Grundlage zweier Kriterien ein, die eine eindeutige Beurteilung der in Frage stehenden policy ermöglichen soll.48 Erstens darf ein konformer Eingriff die interne Funktionsweise des Marktes, also insbesondere den Preismechanis­ mus, nicht beeinträchtigen.49 Eine Intervention sollte also auf einer möglichst indirekten Einflussnahme basieren. Eine nicht-konforme Intervention ist wiederum daran erkennbar, »daß sie durch Lahm­ legung der Preismechanik eine Situation herbeiführt, die sofort nach einem neuen und tieferen Eingriff ruft […]. Beschreitet man also die Bahn der nicht-konformen Intervention, so ergibt sich eine nicht endende Dynamik, und alle Dinge kommen ins Rutschen.«50 Damit scheint zunächst ein verlässlicher Lackmus-Test entwickelt, 47 Später machte sich auch Rüstow die folgende Unterscheidung zu eigen; siehe etwa »Das christliche Gewissen und die neoliberale Marktwirtschaft«, in: Die junge Wirtschaft 8 (1960), S. 46-52, hier S. 50. 48 Röpke, Gesellschaftskrisis, 258. 49 Die diesem Kriterium zugrundeliegende Intuition, dass die Systemkonformität bestimmter Maßnahmen entscheidend ist, teilen auch andere Neoliberale, ins­ besondere im Hinblick auf soziapolitische Fragen. Siehe dazu etwa Friedman, Kapitalismus, S. 246; Hayek, Weg zur Knechtschaft, S. 158. 50 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 260 f.

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mit dem sich die Akzeptabilität jeglicher Politik bestimmen lässt. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass Röpkes Unter­ scheidung weniger eindeutig ist, als es zunächst den Anschein hat. Denn es mag zwar sein, dass bestimmte Eingriffe unweigerlich und notwendigerweise eine Interventionsspirale auslösen, aber man muss doch davon ausgehen, dass es eine Vielzahl von Fällen gibt, in denen es politische Akteure und Instanzen sind, die darüber entscheiden, ob in einer bestimmten Situation weitere Interventio­ nen erforderlich sind – man muss zumindest bezweifeln, dass hier schlicht die Tatsachen für sich selbst sprechen, was sie ohnehin eher selten tun. Darüber hinaus zeigt sich, dass Röpkes erstes Kriterium genau genommen keine kategoriale Unterscheidung ermöglicht, denn es besagt, dass ein Eingriff das Preissystem möglichst wenig beeinflussen sollte. Es handelt sich also vor allem um ein Argument des ›kleineren Übels‹. Aber gibt es abgesehen davon auch tatsächlich einen »Rubicon«,51 jenseits dessen Interventionen eindeutig abzu­ lehnen sind? Man kann Röpke jedenfalls nicht absprechen, sich um eine Veranschaulichung auf der Grundlage diverser Beispiele zu be­ mühen. So soll etwa der Abwertung einer Währung gegenüber Ausund Einfuhrkontrollen der Vorzug gegeben werden, und ein Mie­ tendeckel wird als nicht-konformer Eingriff eingeschätzt, weil seine Einführung zwangsläufig weitere Interventionen nach sich ziehen würde. Die Liste der Beispiele erweckt allerdings den Eindruck, dass eigentlich die meisten Eingriffe als konform gelten, wenn der Staat nicht gerade Preise festsetzt oder konkrete wirtschaftliche Ak­ tivitäten bzw. Tauschhandlungen schlicht verbietet. Dies ist offen­ sichtlich eine eher heterodoxe Interpretation dieses Konzepts des (nicht-)konformen Eingriffs, das im Übrigen auch immer wieder Eucken zugeordnet wird und oftmals als ordnungspolitisches Pa­ tentrezept zur Beurteilung politischen Handelns präsentiert wird.52 Aber bei Eucken findet sich die Unterscheidung keineswegs, und wie wir bereits wissen, lassen seine staatspolitischen Vorstellungen Raum für eine Vielzahl von Politiken, solange sie nur den Zweck erfüllen, die Wettbewerbsordnung zu sichern.53 Eine der wenigen Interventionen, die laut Röpke wirklich eindeutig als nicht-konfor­ 51 Ebd., S.  258. 52 Siehe etwa Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 196. 53 Siehe Stefan Kolev, Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich, Stuttgart 2013, S. 62.

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mer Eingriff abzulehnen sind, ist der Mindestlohn, dessen Einfüh­ rung Eucken wiederum unter bestimmten Umständen gerade für erforderlich hält. Also sind zumindest einige Politiken, die sich aus Euckens regulativen Prinzipien ergeben, nicht-konforme Eingriffe, wobei nichtsdestotrotz die Bandbreite konformer Eingriffe bemer­ kenswert groß ist, was meiner heterodoxen Interpretation weitere Plausibilität verleiht. Dies zeigt sich etwa an zwei Beispielen, mit deren Hilfe Röpke zu illustrieren versucht, was (noch) als konformer Eingriff zu gelten hat. Erstens hält er fest, »daß es in keiner Weise der Marktwirt­ schaft widerspricht, wenn der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Zwangsmitteln (insbesondere mit Hilfe der Besteu­ erung) zum Zwecke der gleichmäßigeren Distribution eine Um­ schichtung der Eigentumsverhältnisse vornimmt […]«. Zweitens ist es sogar marktkonform, »wenn der Staat einzelne Betriebe oder ganze Produktionszweige in eigener Regie betreibt und nun selbst als Produzent oder Händler auf dem Markte auftritt«.54 An dieser Stelle erübrigt es sich, näher darauf einzugehen, ob fiskalische Um­ verteilungspolitik und eine mixed economy wirklich das Kriterium erfüllen, das Preissystem der Märkte unbeeinflusst zu lassen, was zumindest fragwürdig erscheint. Wichtiger ist es erstens, die Kom­ plikationen festzuhalten, die sich beim Versuch der Anwendung von Röpkes Kriterien in den meisten Fällen einzustellen scheinen, was zumindest Zweifel an deren analytischem Nutzen aufkommen lässt.55 Aber selbst wenn dieser gegeben wäre, muss man zweitens den Eindruck gewinnen, dass das Kriterium der konformen In­ tervention eine überraschend große Bandbreite staatlicher Hand­ lungsmöglichkeiten abdeckt und legitimiert, solange der Staat nicht gerade in einer Art Kommandowirtschaft die Preise festsetzt. Damit können wir uns dem zweiten Beispiel einer Strategie der Begrenzung staatlichen Handelns zuwenden, die das gesamte poli­ tische Denken Hayeks durchzieht. Hayek war Doktor der Rechte, von daher mag es kaum überraschen, dass sein Versuch der staatli­ chen Eingrenzung auf einer bestimmten Interpretation des Rechts­ staatsprinzips beruht. Hier handelt es sich zweifellos um einen komplexen topos, und nicht alle dazugehörigen Aspekte lassen sich 54 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 306. 55 Siehe Kolev, Neoliberale Staatsverständnisse, S. 153.

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hier ausführlich diskutieren. Im Folgenden wird der Schwerpunkt zunächst auf Hayeks Vorstellung der Natur des Rechts liegen, um später seine eher staatsstrukturellen Überlegungen zu analysieren, in denen es um institutionelle Konstellationen und Gewaltentei­ lung geht. Das ambivalente Verhältnis von Rechtsstaat und Demo­ kratie wird in Kapitel 3 behandelt. Es ist kaum übertrieben zu behaupten, dass der Niedergang des Liberalismus für Hayek gleichbedeutend mit dem Niedergang des Rechtsstaatsprinzips ist, denn: »Liberalismus ist also gleichbe­ deutend mit der Forderung der ›rule of law‹ im klassischen Sinn […].«56 Der Verweis auf den »klassischen Sinn« impliziert, dass sich ein Niedergang der Tradition des Rechtsstaats vollzogen hat, und viele der zeitgenössischen Entwürfe einer neoliberalen Ordnung lassen sich als Versuch der Wiederherstellung des Rechtsstaats in seiner eigentlichen Form verstehen. Aus Hayeks Perspektive geht das Rechtsstaatsprinzip aber nicht im Konstitutionalismus auf.57 Abgesehen von seinen gewaltentei­ ligen Komponenten ist das Rechtsstaatsprinzip nämlich in erster Linie eine »meta-juristische Lehre«, die besagt, »was Recht sein soll, welche allgemeinen Eigenschaften die einzelnen Gesetze besitzen sollen«.58 Die Qualität des Rechts bemisst sich also gewissermaßen nach formalen Anforderungen, die es zu dem machen, was in der deutschen Rechtstradition seinerzeit als Recht im materiellen Sin­ ne bezeichnet wurde – im Unterschied nicht zu seinen formalen, sondern prozeduralen Eigenschaften. Was bedeutet dies? Hayek wendet sich mit dieser Argumentation vor allem gegen Vertreter des Rechtspositivismus, nach denen, was auch immer der Souverän beschließt – sei es nun ein Monarch oder ein Parlament –, per se als Recht anzusehen sei, solange es bestimmten prozeduralen Anforde­ rungen gerecht wird, die selbstredend in parlamentarischen Kon­ texten voraussetzungsreicher sind als in absolutistischen Regimen. In dem Maße, in dem sich diese Interpretation durchsetzt, geht dem Rechtsstaat das Recht im eigentlichen Sinne verloren, denn 56 Friedrich August Hayek, »Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung«, in: Vanberg (Hg.), Grundsätze, S. 69-87, hier S. 74; siehe auch Friedrich August Hayek, »Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideales«, in: Vanberg (Hg.), Grundsätze, S. 39-62. 57 Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 282. 58 Ebd. S.  284.

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laut Hayek gibt es in diesem Fall kaum noch Restriktionen, denen der Souverän unterworfen ist. Gegen diese Vorstellung mobilisiert Hayek nun gegenläufige Rechtstraditionen, die auf bestimmten formalen Kriterien insistieren, die erst sicherstellen, dass Gesetze tatsächlich auch den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips ge­ nügen. So muss ein Gesetz etwa allgemein bekannt und sein Inhalt klar und verständlich sein, es darf nicht rückwendend angewandt werden, muss abstrakt sein (das heißt, es muss sich auf eine nicht spezifizierte Mehrzahl von Menschen beziehen), und es muss in gleicher Weise für alle Rechtsunterworfenen gelten und auf diese Anwendung finden.59 Bevor wir uns diese Kennzeichen und die damit verbundenen Probleme genauer ansehen, erscheint es angebracht, eine Reihe von Differenzierungen festzuhalten, die von Hayek eingeführt werden. Den Begriff des Gesetzes hält er für zu unspezifisch, weil zu viele unterschiedliche rechtliche Normen als Gesetze (bzw. Recht) be­ zeichnet würden, aber nur Gesetze mit den soeben erwähnten Cha­ rakteristika Recht im eigentlichen Sinne seien, wofür er den Begriff des Nomos einführt, der sich auf die »Regeln gerechten Verhaltens« bezieht.60 Diesem »Recht« steht auf der anderen Seite das gegen­ über, was Hayek als Thesis bezeichnet und als Organisationsrecht charakterisiert, das nicht die formalen Kennzeichen des Nomos auf­ weist. Laut Hayeks rechtshistorischem Narrativ kommt es zu einer Vermischung von Nomos und Thesis, nachdem parlamentarische Gesetzgebungskammern vermehrt mit der Aufgabe betraut wer­ den, sowohl diese »Regeln gerechten Verhaltens« wie auch staats­ organisatorische Normen zu definieren, was eine wichtige Ursache des Niedergangs des Rechtsstaatsprinzips darstellt. Nicht zuletzt aufgrund der demokratischen Vorzeichen, unter denen parlamen­ tarische Gesetzgeber agieren, kommt es zu einer Überlagerung von Nomos und Thesis: Das Recht der Thesis expandiert sogar auf Kosten des Nomos, was sich aus Hayeks Perspektive an der Ver­ drängung von Privatrecht durch öffentliches Recht ablesen lässt. »Die fortschreitende Verdrängung der Verhaltensregeln des Privatund Strafrechts durch Vorstellungen, die sich aus dem öffentlichen Recht herleiten, kennzeichnet den Prozeß, in dessen Verlauf die 59 Siehe ebd., S. 289. 60 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 181.

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bestehenden liberalen Gesellschaften nach und nach in totalitäre Gesellschaften umgewandelt werden.«61 Die Versuchung, sich ein­ gehender mit den Details dieses Narratives auseinanderzusetzen, ist zwar groß, aber wir müssen uns stattdessen einer weiteren Differen­ zierung Hayeks zuwenden, die uns einen klareren Eindruck davon vermittelt, welche Grenzen er staatlichem Handeln aufzuerlegen versucht. Es geht um die Unterscheidung zwischen zwangsbewehr­ ten Staatsfunktionen und reinen Dienstleistungsfunktionen, zu denen beispielsweise die weiter oben erwähnten sozialpolitischen Maßnahmen gezählt würden. Die Schranken des Rechtsstaatsprinzips betreffen nur den Be­ reich zwangsbewehrten Staatshandelns, das »strikt auf die Erzwin­ gung von Verhaltensregeln beschränkt ist und keinen Raum für Ermessensentscheidungen läßt«, wohingegen der Staat als Dienst­ leister »weder Durchsetzungsgewalt noch Monopol hat, jedoch über einen breiten Ermessensspielraum bei der Verwendung der materiellen Mittel verfügt«.62 Dies wirft eine Reihe von Fragen auf, deren Beantwortung zunächst an der Feststellung ansetzen kann, dass Hayeks Versuch der Wiederherstellung des Rechts nicht vorhat, staatliches Handeln im Ganzen rechtsstaatlich (im Hayek­ schen Sinne) einzugrenzen. Anders formuliert bedeutet dies, dass es durchaus Raum für das Recht der Thesis gibt, da der Leistungs­ staat als eine Organisation verstanden werden muss, die bestimm­ te Ziele verfolgt, nämlich die effiziente Bereitstellung bestimmter Güter und Dienstleistungen. Doch dann ist die in der Sekundärli­ teratur bisweilen vertretene These, Hayeks Ziel sei die Errichtung einer Nomokratie anstelle einer Teleokratie – Begrifflichkeiten, die Hayek tatsächlich stellenweise von Michael Oake­shott über­ nimmt –, nicht gänzlich zutreffend.63 Natürlich lässt Hayek keinen Zweifel daran, dass eine Nomokratie bei weitem zu bevorzugen ist, und zwar nicht nur aus normativen, sondern auch aus funktiona­ len Gründen. Doch in Hayeks Werk werden an diversen Stellen leistungsstaatliche Aspekte erwähnt, und dementsprechend wird offensichtlich auch teleologischem, zielorientiertem Staatshandeln 61 Hayek, »Grundsätze«, S. 78. 62 Ebd., S.  75. 63 Siehe Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 165 sowie Raymond Plant, »Friedrich August von Hayek: Der (neo-)liberale Staat und das Ideal des Rechts­ staats«, in: Biebricher (Hg.), Staat des Neoliberalismus, S. 75-98.

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Raum gewährt. Was aber zuletzt doch unklar oder doch zumin­ dest untertheoretisiert bleibt, ist das Verhältnis zwischen nomo­ kratischem und teleokratischem Staatshandeln und was dies für das Verhältnis von Legislative und Exekutive bedeutet, was umso überraschender ist, als es sich um einen derart zentralen Aspekt in Hayeks Gesamtentwurf handelt. Dem Leistungsstaat wird bei der Erbringung seiner Dienst­ leistungen diskretionärer Handlungsspielraum eingeräumt, aber bedeutet dies, dass das Rechtsstaatsprinzip überhaupt keine An­ wendung auf die Bereitstellung staatlicher Leistungen findet? In diesem Fall unterläge der Staat keinerlei Restriktionen, was ange­ sichts von Hayeks energischen Bemühungen um eine stabile Be­ grenzung staatlicher Handlungsoptionen ein, vorsichtig formu­ liert, unerwartetes Ergebnis wäre. Und tatsächlich stellt er klar, dass dem Leistungsstaat die diskriminierende Behandlung seiner Klienten verwehrt sein muss, aber wie strikt dieses Verbot tatsäch­ lich ausfällt, hängt entscheidend davon ab, was Gleichbehandlung bzw. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet. Je nachdem, wie dieser Aspekt des Rechtsstaatsprinzips beurteilt wird, könnte es immer noch sein, dass bestimmte Leistungen nur selektiv angeboten und Bürgerinnen und Bürger diesbezüglich nur bedingte Rechtsan­ sprüche haben – der Staat könnte also als Quasi-Privatperson han­ deln.64 Schließlich beziehen sich die Restriktionen, die Hayek ab­ gesehen vom Verbot von Zwang und einer Monopolstellung dem Leistungsstaat auferlegen will, nur auf dessen Finanzierung durch Steuern. Letztere fallen wiederum in den Bereich zwangsbewehrten Staatshandelns, und dementsprechend gelten hier die Schranken des Rechtsstaatsprinzips, doch was folgt letztendlich daraus? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen genaueren Blick auf die Charakteristika des Nomos werfen. Am umstrittens­ ten sind zweifellos die Anforderungen, die sich aus den Geboten der Gleichheit bzw. Gleichbehandlung und dem der Allgemeinheit ergeben. Ihr grundsätzlicher Zweck besteht offensichtlich in der Verhinderung der Möglichkeit einer legalisierten Form der Diskri­ minierung, die sich in Form von Gesetzen vollzieht, welche nur auf bestimmte Gruppen und Individuen Anwendung finden. Aber es ist um einiges komplizierter auszubuchstabieren, welche Art von 64 Siehe Hayek, Grundsätze, S. 84 f.

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staatlicher Behandlung auf der Grundlage von Gesetzen tatsächlich verboten wäre. Hayek selbst räumt ein: »Ein Gesetz kann vollkom­ men allgemein sein, indem es nur formale Eigenschaften der dar­ in vorkommenden Personen erwähnt, und doch für verschiedene Klassen von Menschen verschiedene Vorkehrungen treffen. Eine gewisse Klassifikation ist selbst innerhalb der Gruppe voll verant­ wortlicher Staatsbürger klarerweise unvermeidbar.«65 Dies ist ein einigermaßen weitreichendes Eingeständnis, denn es legt nahe, dass gewisse Ungleichbehandlungen akzeptabel und womöglich auch unvermeidlich sind. Natürlich würde beispielsweise ein »Gesetz«, mit dem einzig der Bevölkerung einer bestimmten Region eine Steuer auferlegt würde, Hayeks Test der Rechtsstaatlichkeit nicht bestehen, aber diesseits eindeutig diskriminierender Maßnahmen scheint doch eine beträchtliche Grauzone zu existieren. Hayek ver­ weist darauf, dass der Grad der Vorhersehbarkeit der Effekte eines bestimmten Gesetzes auf bestimmte Gruppen oder Individuen ein guter Indikator für seine Abstraktheit sei, und zieht auch in Er­ wägung, ob die Zustimmung einer bestimmten Gruppe zu einer diskriminierenden Behandlung als Legitimationsgrundlage dienen könnte. Aber letztendlich muss er doch bemerkenswerterweise ein­ räumen, dass »trotz vielen geistreichen Versuchen, das Problem zu lösen, kein völlig befriedigendes Kriterium gefunden worden ist, das uns immer sagen würde, welche Klassifikation mit der Gleichheit vor dem Gesetz vereinbar ist«.66 Hayeks freimütiges Eingeständnis verdient durchaus Anerkennung, und angesichts der anhaltenden Debatten, die in Moral- und Rechtsphilosophie über diese Fra­ gen geführt werden, kann man seiner Einschätzung durchaus zu­ stimmen. Damit steht aber auch fest, dass an einem neuralgischen Punkt in Hayeks Versuch, mit Hilfe des Rechtsstaatsprinzips staat­ liche Macht effektiv zu begrenzen, ein gähnendes argumentatives Loch klafft, und man fragt sich, was genau vor diesem Hintergrund eigentlich die Rechtfertigung seiner Haltung zur staatlichen Macht, Steuern zu erheben, ist, die der Ausgangspunkt unserer Überlegun­ gen war. In den bereits mehrfach zitierten Grundsätzen einer liberalen Gesellschaftsordnung heißt es diesbezüglich, dass »die Mittel […] aufgrund einer Regel aufgebracht werden [sollten], die für 65 Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 291. 66 Ebenda.

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alle einheitlich gilt. (Das schließt meines Erachtens eine allgemeine Progression der steuerlichen Belastung der einzelnen aus) […].«67 Hayek kann natürlich die Meinung vertreten, dass ein einheitlicher Steuersatz wünschenswert wäre, doch es scheint, als fehlten ihm die Argumente, um anderslautende Positionen entkräften zu können. In der Tat hat auch James Buchanan auf diese Schwächen der Argumentation Hayeks hingewiesen und liefert uns seinerseits wie­ derum das letzte Beispiel einer versuchten Begrenzung staatlichen Handelns durch Prinzipien oder formale/prozedurale Regeln, die sich gerade auf die Finanzierung staatlicher Politik durch Besteu­ erung konzentriert. Bevor wir uns Buchanans Vorschlag genauer ansehen, ist es sinnvoll, diesen im Gesamtkontext seines konsti­ tutionenökonomischen Ansatzes zu situieren. Von fundamentaler Bedeutung für diese Perspektive ist die »Unterscheidung der Wahl von Regeln und der Wahl im Rahmen von Regeln«.68 Buchanans Denken fokussiert fast ausschließlich auf die erste Ebene von Ent­ scheidungen, die er als konstitutionelle Entscheidungen charakte­ risiert, welche sich auf die grundlegenden politisch-ökonomischen Spielregeln beziehen, die in erster Linie in individuellen (Eigen­ tums-)Rechten enthalten sind und durch den Schiedsrichter-Staat gewährleistet und durchgesetzt werden sollen. Dieses Arrangement ist das Ergebnis eines hypothetischen Verfassungsvertrages, der die Zustimmung aller Betroffenen finden könnte, womit sich Buchanan in die Tradition des Kontraktualismus von Thomas Hobbes bis John Rawls einordnet, auf die er sich in seinen Überlegungen auch ausdrücklich bezieht. Aber obwohl Buchanan das Schreckgespenst Hobbesscher Anarchie durchaus ernst nimmt, unterscheidet sich sein eigener Ansatz in zumindest zwei Punkten von dessen Vor­ stellungen. Dies sind erstens Buchanans im weitesten Sinne demo­ kratische Überzeugungen – soweit sie nicht mit der normativen 67 Hayek, Grundsätze, S. 85; siehe auch Friedrich August Hayek, »Die Ungerech­ tigkeit der Steuerprogression«, in: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur 72, Sonderheft ›In Memoriam Friedrich August von Hayek‹ (1992), S. 6170. Siehe hierzu auch Rüstow, der in scharfem Gegensatz zu Hayek feststellt: »Daraus ergab sich höchst begreiflicher und moralisch berechtigter Weise der Grundsatz der Progression der Einkommenssteuer.« Rüstow, Rede und Antwort, S. 139. 68 James Buchanan, »The balanced budget amendment: Clarifying the arguments«, in: Public Choice 90 (1997), S. 117-138, hier S. 118.

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Grundlage seines Ansatzes, dem normativen Individualismus, in Konflikt geraten – und zweitens die feste Überzeugung, dass es möglich ist, das staatliche Handlungsfeld effektiv zu begrenzen. »Wir lehnen die Hobbessche Unterstellung, der Herrscher könne nicht durch konstitutionelle Beschränkungen kontrolliert werden, ab.«69 Um die Frage, wie solch eine effektive Begrenzung beschaffen sein müsste, kreist ein Großteil von Buchanans Gesamtwerk.70 Sei­ ne Antwort basiert auf einer analytischen Unterscheidung, die wir schon im Zusammenhang mit Hayeks Entwürfen kennengelernt haben. Buchanan differenziert zwischen einem konstitutionellen Vertrag, der vom sogenannten »Schutzstaat« (protective state) ent­ sprechend dem Schiedsrichter-Modell gewährleistet werden soll,71 und einem »Produktivstaat« (productive state), der wiederum aus ei­ nem post-konstitutionellen Vertrag resultiert. Dieser kümmert sich nicht um die Durchsetzung von Regeln, sondern um die staatliche Bereitstellung von öffentlichen Gütern, die prinzipiell alles um­ fassen können, was nicht effizient auf Märkten produziert werden kann. Und selbst darüber hinaus ist es aus Buchanans Perspektive legitim, dass eine politische Gemeinschaft entscheidet, welche Gü­ ter der Staat in welchem Umfang bereitstellen sollte, wozu auch sozialpolitische ›Güter‹ gehören können.72 Diese Differenzierung ähnelt offensichtlich der zwischen Hayeks nomokratischem Staat, der durch das Rechtsstaatsprinzip eingegrenzt ist, und dem Leis­ tungsstaat, der diverse Güter für seine Bürger produziert, wobei er möglicherweise mit privaten Anbietern konkurriert. Wie wir wissen, ist dieser Aspekt staatlichen Handelns bei Hayek nur ei­ ner recht vagen Beschränkung unterworfen, und auch Buchanan gibt sich eher skeptisch, was die Möglichkeit substanzieller Einhe­ gungen produktivstaatlichen Handelns angeht. Dementsprechend rückt auch bei ihm die finanzielle Grundlage des Leistungsstaates 69 Geoffrey Brennan, James Buchanan, Besteuerung und Staatsgewalt. Analytische Grundlagen einer Finanzverfassung, Hamburg 1988, S. 12. 70 »Wie kann man Leviathan anketten?« Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 18. 71 »Im konstitutionellen Stadium taucht der Staat als Durchsetzungsinstanz oder -institution auf. Von der Konzeption her steht er außerhalb der Vertragsparteien und ist einzig dafür verantwortlich, daß die vereinbarten Rechte und Forderun­ gen aus den Verträgen, auf die man sich freiwillig geeinigt hat, eingehalten wer­ den.« Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 97. 72 Siehe Buchanan, Musgrave, Public Finance, S. 83, 284.

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bzw. Produktivstaates in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, welche wiederum selbst Teil der schutzstaatlichen Sphäre ist, da die staatliche Macht der Besteuerung zwangsbewehrt ist. Bekanntlich erwähnt auch Hayek das Thema der Besteuerung, allerdings nur am Rande, und darüber hinaus basiert seine Forderung eines nichtproportionalen Steuersatzes auf dem schwankenden Fundament des Allgemeinheits-/Gleichheitsgebots des Rechtsstaatsprinzips. Buchanan äußert sich diesbezüglich überaus deutlich: »Hayeks Ar­ gumentation zur Begründung der These, daß ein proportionaler Steuertarif die Erfordernisse der Allgemeinheit erfüllt, während ein progressiver Tarif dies nicht tut, erscheint in gefährlicher Wei­ se willkürlich.«73 Zudem sei eine solche Strategie auch letztlich nicht effektiv, was die Begrenzung staatlicher Besteuerungsmacht betrifft. Stattdessen unternimmt Buchanan den Versuch, eine al­ ternative Ordnung prozeduraler Regeln zu entwickeln, die den Produktivstaat indirekt in seinem Handeln einschränkt, indem die Möglichkeiten seiner Finanzierung restringiert werden. Die vielversprechendste Regelordnung in dieser Hinsicht be­ steht aus Buchanans Sicht in einem Verfassungszusatz, der einen ausgeglichenen Haushalt zwingend vorschreibt (Balanced Budget Amendment), bzw. dem, was im europäischen Kontext unter dem Begriff der Schuldenbremse firmiert.74 Bekanntlich hat die große Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten mittlerweile in Reaktion auf die diversen Krisen der letzten Dekade eine solche Schuldenbremse als Teil einer mehr oder weniger selbstgewählten Austeritätspolitik ver­ abschiedet. Und obwohl es in den USA auf der bundesstaatlichen Ebene zumindest keine effektive Schuldenbremse gibt, werden die Zwänge der Austeritätspolitik dort gewissermaßen an die substaat­ lichen Ebenen von Einzelstaaten und Gemeinden weitergereicht, wobei jenen Haushaltsdefizite gesetzlich verboten sind.75 Das Balanced Budget Amendment wird im weiteren Verlauf noch einmal eingehender diskutiert. An dieser Stelle sollen zu­ nächst nur einige grundsätzliche Überlegungen zu seiner Funkti­ onsweise und den Implikationen für Buchanans Ansatz vorgestellt 73 Brennan, Buchanan, Besteuerung und Staatsgewalt, S. 198. 74 Siehe Buchanan, »Balanced Budget Amendment«. 75 Siehe Jamie Peck, »Pushing Austerity: Staatsversagen, bankrotte Kommunen und die Krisen des fiskalischen Föderalismus in den Vereinigten Staaten«, in: Biebri­ cher (Hg.), Staat des Neoliberalismus, S. 237-262.

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werden. Dabei geht es auch um eine fundamentale Ambiguität, die nicht nur die Regel des ausgeglichenen Haushalts betrifft, sondern auch eine regelbasierte Politik unter neoliberalen Vorzeichen im Allgemeinen, wie wir sie bereits am Beispiel von Eucken, Röpke und Hayek kennengelernt haben. Wie würde ein solcher Verfassungszusatz funktionieren? Bu­ chan­an legt Wert darauf, dass sein Vorschlag sich auf eine kon­ stitutionelle Regel bezieht, die »eher prozedural als substanziell« wäre,76 was er aus systematischen, aber auch strategischen Gründen für wichtig hält. Eine substanzielle Regel, die vorschriebe, welche Kürzungen vorzunehmen und welche Steuern zu ändern wären, würde einen übermäßigen Eingriff in die Entscheidungsautonomie demokratisch gewählter Repräsentanten darstellen. Zudem wäre es unter strategischen Gesichtspunkten angesichts der Transparenz der Gewinner und Verlierer einer solchen Regel äußerst schwierig, eine Unterstützerkoalition zu schmieden – wobei uns dieses Pro­ blem auch im Fall einer prozeduralen Regel im weiteren Verlauf der Diskussion noch beschäftigen wird.77 Buchanan schlägt stattdessen eine Regel vor, die im Kern vorschreibt, dass staatliche Ausgaben ohne Schulden und Defizite finanziert werden müssen. Wie viel der Staat für welche Aufgaben ausgibt, wird durch die Regel nicht vor­ gegeben, und Buchanan versucht damit dem Vorwurf zu entgehen, mit dem Zusatz werde auf unangemessene Weise eine bestimmte Wirtschaftspolitik in der Verfassung festgeschrieben: »Der Zusatz verlangt einzig, dass Kongressmehrheiten im Rahmen der übrigen Begrenzungen ihrer Handlungsmöglichkeiten für das, was sie ausge­ ben, auch bezahlen, wobei ›bezahlen‹ die Bereitschaft bedeutet, ent­ sprechende Steuern unter den aktuellen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft zu erheben.«78 Besteht umgekehrt diese Bereitschaft zur Steuerfinanzierung nicht, dann müssen die Ausgaben entspre­ chend nach unten angepasst werden. Im Folgenden konfrontiere ich diese Vorstellungen mit einigen vorläufigen Überlegungen zum Nutzen und Nachteil von Regeln in der Politik, bevor ich die The­ matik weiter unten in Kapitel 3 und 5 noch einmal aufgreife, um dort eine etwas robustere Problematisierung vorzunehmen. 76 Buchanan, »Balanced Budget Amendment«, S. 126. 77 Dies ist einer der Gründe, warum Buchanan Friedmans »quantitative« Version der Haushaltsregel kritisch betrachtet. Siehe ebd., S. 132. 78 Ebd., S.  126.

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Buchanans Rechtfertigung von Regeln, die den politischen Sou­ verän binden, nimmt Anleihen bei einer Figur, die in der Ökono­ mie wohlbekannt ist, nämlich Robinson Crusoe. Crusoe muss auf seiner Insel das Tageslicht bestmöglich ausnutzen, um erforderli­ che Arbeiten zu erledigen, aber er hat die schlechte Angewohn­heit, morgens lange zu schlafen. Also bastelt er einen Wecker, der ihn früh am Morgen wecken soll.79 In Buchanans Sichtweise han­ delt es sich hier um eine rationale Reaktion, insofern Crusoe sei­ ne begrenzte Selbstdisziplin in Rechnung stellt und anstelle eines Appells an seine Willenskraft mit Hilfe eines externen Durchset­ zungsmechanismus das erreicht, was er ja auch selbst am Abend zuvor und auch am folgenden Nachmittag als in seinem besten Interesse liegend ansieht – aber eben nicht morgens, wenn es dar­ auf ankommt. Die Strategie der Regelbindung inklusive eines ver­ lässlichen Durchsetzungsmechanismus erscheint dementsprechend überlegen gegenüber dem, was in der Literatur als Strategie einer fallweisen Nutzenmaximierung bezeichnet wird. Das typische Ar­ gument zugunsten dieser Position nutzt zur Illustration ein Bei­ spiel aus dem Bereich des Verkehrs. Zwar reduziert das geduldige Warten an einer roten Ampel mitten in der Nacht, ohne dass weit und breit ein anderes Auto zu sehen wäre, den aktuellen Nutzen. Doch mittel- und langfristig ist die entsprechende Regel dennoch zu bevorzugen. Ein Autofahrer muss zwar nicht jedes Mal mit ei­ nem Unfall rechnen, wenn er eine rote Ampel missachtet, doch eine einzige diskretionäre Fehleinschätzung kann ihn im schlimms­ ten Fall das Leben kosten.80 Dies klingt nach einem vernünftigen Argument, doch seine Plausibilität beruht möglicherweise auf dem äußerst suggestiven Beispiel, das Buchanan konstruiert. Kommen wir also noch einmal auf Crusoe zurück, eine Person, die offen­ sichtlich dazu neigt, Versuchungen nachzugeben (und in diesem Zusammenhang ist dar­an zu erinnern, dass dieses schwache und wankelmütige Subjekt in Buchanans Allegorie demokratisch ge­ wählte Entscheidungsträger repräsentiert) und daher strenge Auf­ stehregeln benötigt, um dafür zu sorgen, dass das Verschlafen nicht zur Regel wird. Aber was wäre, wenn Crusoe erkrankt und eigent­ lich dringend Ruhe und Schlaf benötigt, aber dennoch morgens in aller Frühe aufsteht, weil er seinen eigenen (unbewussten) Motiven 79 Siehe Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 132 f. 80 Vgl. Friedman, Kapitalismus, S. 77-79.

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misstraut und allein darauf fixiert ist, die selbstgegebenen Regeln einzuhalten, sich darüber aber sein Gesundheitszustand zusehends verschlechtert? In diesem Beispiel ist die strikte Regelbefolgung gerade längerfristig alles andere als rational. Erforderlich wäre of­ fensichtlich eine kluge Art der Regelbefolgung in Verbindung mit einem gewissen Grad an Flexibilität in ihrer Anwendung oder das, was in der aristotelischen Tradition als phronesis bezeichnet wird. Nicht die Regeln an sich sind hilfreich und gut, sondern vielmehr Regeln in Kombination mit Akteuren, die diese aufstellen und in angemessener Weise umsetzen. Und dies gilt sowohl für den kränk­ lichen Crusoe als auch für Krisenländer, die die bittere Medizin der Austerität schlucken (müssen). Sowohl analytische Plausibilität als auch normative Wünschbarkeit von Schuldenbremsen und ei­ ner regelbasierten Politik im Allgemeinen lassen sich also erst unter Einbeziehung der Akteure abschätzen, die diese Regeln befolgen und anwenden sollen, worauf wir in Kapitel 5 ausführlich zurück­ kommen.

Staatsstrukturelle Begrenzungen: Horizontale und vertikale Gewaltenteilung Der Output staatlicher Politik ist ein möglicher Ansatzpunkt für Begrenzungsversuche; der andere ist die Struktur und Form des Staates. Der klassisch liberale Ansatz in dieser Hinsicht ist natürlich die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikati­ ve. Die gegenseitige Begrenzung der drei Staatsgewalten konstitu­ iert die institutionelle Dimension des Rechtsstaatsprinzips. Ange­ sichts der Tatsache, dass die Gewaltenteilung ein Standardelement des liberalen Repertoires an Techniken zur Einschränkung staat­ licher Macht durch interne Differenzierungen und wohlüberlegte Kompetenzverteilungen darstellt, wird das Prinzip überraschend selten in der Mehrheit der hier untersuchten Ansätze diskutiert. Dies mag schlicht darauf hindeuten, dass das Prinzip und seine Effekte als selbstverständlich gelten und seine Wünschbarkeit vor­ ausgesetzt wird. Aber die argumentative Stoßrichtung in manchen Variationen des Neoliberalismus legt nahe, dass ihr Verhältnis zu diesem Prinzip weniger eindeutig ist, als man es von Vertretern der liberalen Tradition erwarten würde. 86

Eine umfassendere Auseinandersetzung mit dem Thema fin­ det sich aber zumindest bei Buchanan und Hayek. Bedenkt man, welch zentrale Stellung es in Hayeks politischer Theorie einnimmt, dann ist es keineswegs überraschend, dass er es ist, der die ausführ­ lichsten Überlegungen zur verfassungsrechtlichen und -politischen Umsetzung des Prinzips bietet. Die Verfassung der Freiheit enthält allein drei Kapitel, die sich mit dieser Thematik befassen, in denen Hayek die Ursprünge der entsprechenden Ideen in diversen geo­ graphischen und politischen Kontexten vom US-amerikanischen Konstitutionalismus bis zur spezifisch deutschen Tradition des Rechtsstaates herausarbeitet und darüber hinaus auch die Tenden­ zen beleuchtet, die zu seinem Niedergang beitrugen. Wie wir be­ reits wissen, ist aus Hayeks Perspektive vor allem die Überlagerung von exekutivem und legislativem Handeln – Gesetzgebung und Rechtsanwendung/-durchsetzung – verantwortlich für den Ver­ fall des Rechtsstaatsprinzips. Dementsprechend ist eine möglichst strikte Trennung dieser Handlungskompetenzen und ihre klare Zu­ weisung an die jeweiligen Staatsgewalten erforderlich. Aus Hayeks Rekonstruktion der institutionellen Dimension des Rechtsstaats­ prinzips ergibt sich ein Arrangement, das in vielen Aspekten an die Vorschläge anderer Vertreter der liberalen Tradition erinnert. Legislativen verabschieden Gesetze im spezifisch hayekianischen Sinn, und eine davon strikt unterschiedene Exekutive ist für deren Anwendung zuständig, wobei sie selbst durch diese Gesetze gebun­ den ist (zumindest dann, wenn es um die Anwendung hoheitlichen Zwangs geht). Hayek räumt ein, dass es bei der Anwendung von Gesetzen gewisse diskretionäre Interpretations- bzw. Handlungs­ spielräume gibt oder zumindest geben kann, deren Rechtmäßig­ keit durch die Überprüfung von Seiten unabhängiger Gerichte festzustellen ist. Der entscheidende Zweck einer solchen Teilung der Gewalten besteht offensichtlich darin, ihrer Vermischung und Fehl­aneignung von welcher Seite auch immer vorzubeugen, wozu es laut Hayek, aber auch Buchanan bedauerlicherweise jedoch ge­ kommen ist, wobei Letzterer seine Vorstellung einer tatsächlichen Gewaltenteilung auf der Grundlage seiner Unterscheidung von Schutz- und Produktivstaat ausbuchstabiert. Der Leistungsstaat ist mit der legislativen Gewalt verbunden, deren Aufgabe in der Produktion von öffentlichen Gütern und Recht im Allgemeinen besteht. Der schützende Schiedsrichter87

Staat ist dagegen in den exekutiven und judikativen Gewalten ver­körpert. Deren Operationsweise ist eine gänzlich andere, da die Durchsetzung/Anwendung von Regeln in Buchanans Lesart eine Art von Wahrheitsanspruch analog zur wissenschaftlichen Praxis enthält. Demgegenüber geht es in der legislativen Praxis in erster Linie um Interessen und (kollektive) Entscheidungen bzw. Aushandlungsprozesse.81 Wird dieser fundamentale Unterschied missachtet, dann ist das Gleichgewicht zwischen den Regierungs­ gewalten gefährdet. Aber worin genau besteht nun aus Hayeks und Buchanans Perspektive das Problem im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Ausformungen der Gewaltenteilung? Buchanan ist in erster Linie besorgt über die exekutive und judikative Aneignung genuin legislativer Funktionen der Gesetz­ gebung. Der vermeintlich leidenschaftslose Schiedsrichter nimmt immer öfter Regeländerungen vor, überschreitet derart die in­ ternen Grenzen zwischen den Staatsgewalten und droht so, die selbstgesteckten Grenzen des Staates zu unterminieren. »Nur we­ nige Beobachter der ausgedehnten Operation der Administration der US-Regierung und der Allgegenwart der Bundesgerichte legen die Tätigkeit dieser beiden Institutionen dahingehend aus, daß sie die ihnen gesetzten Grenzen beachten. Idealtypisch gesehen sind diese Institutionen Schiedsrichter im gesellschaftlichen Spiel, in Wirklichkeit aber modifizieren und verändern sie fortwährend die rechtliche Grundstruktur ohne Zustimmung der Bürger.«82 Der exekutiv-judikative Imperialismus betrifft nicht nur die Aneignung von immer mehr quasi-gesetzgeberischen Kompetenzen gegenüber einer Legislative, deren ureigenste Aufgabe die Verabschiedung von Gesetzen ist. Das Problem besteht aus Buchanans Perspektive auch im Modus, in dem das Recht beispielsweise durch ein Gerichts­ urteil ›umgeschrieben‹ wird. Entweder versucht das Gericht, den Handlungsmodus der Legislative nachzuahmen, trifft Entschei­ dungen unter Einbeziehung bestimmter Interessenlagen und hört damit in funktionaler Hinsicht auf, als Gericht zu agieren, oder es entscheidet im Modus der Judikative auf der Basis von quasiwissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen und verfehlt damit auf grundlegende Weise das, was die Politik der Gesetzgebung aus­ 81 Siehe Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 69. 82 Ebd., S.  232.

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macht, die nämlich nichts mit Wahrheit, sondern mit Interessen und Wahlhandlungen zu tun habe. Aus Hayeks Perspektive stellt sich die imperiale Stoßrichtung zwischen den Gewalten genau umgekehrt dar. Hier ist es die Ge­ setzgebungskammer, die immer mehr Kompetenzen an sich zieht, die eigentlich der Regierung zustehen, also der Exekutive des Staa­ tes, zu deren Aufgaben die Rechtsdurchsetzung, aber auch alle leis­ tungsstaatlichen Funktionen gehören.83 Hayeks Erklärung dieser Dynamik ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, aber ein wich­ tiger Faktor ist zweifellos die Aushöhlung des Allgemeinheitsge­ bots des Rechts, was dazu führte, dass Legislativen in eine Position gelangten, »alles befehlen zu können, was ihnen gefiel, indem sie einfach ihre Befehle als ›Gesetze‹ bezeichneten«.84 Dies mag eine legislative Entropie begünstigen, aber dennoch stellt sich die Fra­ ge nach dem Motiv, das parlamentarische Akteure dazu bewegen könnte, immer mehr Regierungskompetenzen an sich zu reißen. Hayek deutet an, dass er von einer Dynamik ausgeht, die sich selbst verstärkt, sobald sie einmal ausgelöst ist. Das Parlament glaubt zu­ sehends, es könne ein Land genauso leiten, »wie man eine Fabrik oder sonstige Organisation führt«,85 was bedeutet, dass seine Auto­ rität, aber auch seine Verantwortung unbegrenzt ist und sich damit auch sein Handlungsrahmen beständig ausweitet. Für sich genom­ men ist dies ein eher schwaches Argument, aber es gewinnt eine gewisse Plausibilität im Zusammenhang mit Hayeks Sichtweise auf die Demokratie. Und da sein Lösungsansatz zur Entflechtung von ­exekutiven und legislativen Kompetenzen bzw. der notwendigen Unterscheidung von Maßnahmen und Gesetzen im eigentlichen Sinn ebenfalls weitreichende Implikationen für demokratische Pro­ zesse und I­ nstitutionen hat, kommen wir in Kapitel 3 darauf zurück. 83 Siehe Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 132-134. 84 Ebd., S.  133. 85 Ebd., S. 146. Dies würde nahelegen, dass Hayek einem Verständnis des Staates als Quasi-Unternehmen eher kritisch gegenübersteht. Doch in weiten Teilen der Literatur über den real existierenden Neoliberalismus wird dargelegt, wie der Staat von einer öffentlichen Institution in ein privates Unternehmen transfor­ miert wird. Siehe exemplarisch Pierre Dardot, Christian Laval, The New Way of the World: On Neoliberal Society, London 2017. Dies mag empirisch in mancherlei Hinsicht zutreffend sein, aber die Forderung, den Staat wie ein Unternehmen zu führen, findet sich weder in Hayeks Werk noch in dem eines anderen hier behandelten Neoliberalen.

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Ein konkreter Vorschlag zur Lösung des Problems horizontaler Gewaltenteilung, abgesehen von der allgemeinen Forderung der Wiederherstellung einer Verfassungsordnung, die »in Unordnung geraten« sei, findet sich bei Buchanan nicht. Und die »konstitutio­ nelle Revolution«, die hierfür erforderlich wäre, verweist uns aber­ mals auf die Rolle der Akteure, die das potentielle revolutionäre Subjekt dieser Transformation der Regelordnung wären.86 Bietet Buchanan also wenig konkrete Hilfestellung bei der Bewältigung des Problems der horizontalen Gewaltenteilung, so gilt dies wie­ derum keineswegs für ihr vertikales Pendant, für dessen richtige Austarierung er eine Fülle von detaillierten Ideen entwickelt. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als ob die Neoliberalen Vertreter dessen sind, was Ulrich Beck einst als »methodologischen Nationalismus« bezeichnet hat, dem gemäß der implizite Bezugs­ punkt aller politischen Erwägungen der Nationalstaat ist. Bis zu einem gewissen Punkt trifft dies zwar zu und ist auch insofern nachvollziehbar, als die Nachkriegszeit vermutlich die Blütezeit je­ ner politischen Form darstellte, womit der Nationalstaat nicht nur für neoliberale Denker in den Mittelpunkt rückte. Aber eine der wichtigsten Strategien zur Begrenzung der staatlichen Handlungs­ optionen, die sich im neoliberalen Denken finden, ist die vertikale Dezentrierung des Nationalstaates, und zwar sowohl ›aufwärts‹ in Richtung einer supranationalen Föderation als auch ›abwärts‹ im Sinne einer Dezentralisierung, die Nationalstaaten in zutiefst fö­ derale Gebilde verwandeln sollte. Beides simultan zu versuchen, könnte dabei die Erfolgschancen erhöhen: »Es ist sogar zu hoffen, daß in einer Föderation, wo nicht mehr die gleichen Gründe da­ für bestehen, die einzelnen Staaten möglichst stark zu machen, der frühere Prozeß der Zentralisierung in gewissem Umfang rückgän­ gig gemacht wird und daß bestimmte Machtbefugnisse vom Staat auf die untergeordneten Behörden übertragen werden können.«87 Während also in vielen Versionen der neoliberalen Überlegungen zur Strategie der Föderalisierung beide Logiken der Dezentrierung des Staates im Zusammenhang miteinander diskutiert werden, werde ich aus Klarheitsgründen im Folgenden eine analytische Un­ terscheidung vornehmen und mich auf die Argumente im Hinblick auf die nationale und auf die supranationale Ebene konzentrieren. 86 Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 235. 87 Hayek, Weg zur Knechtschaft, S. 288 f.

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Zu Beginn ist es hilfreich, sich den Kontext zu vergegenwär­ tigen, in dem die frühesten Versionen dieser Argumentation in den Werken Röpkes und Hayeks sowie, weniger prominent, bei Rüstow entwickelt werden. Es ist der Zweite Weltkrieg, der diese Überlegungen prägt, entweder als eine drohende Möglichkeit, in seiner Tatsächlichkeit oder in seinen Auswirkungen, je nachdem, wann genau die entsprechenden Schriften entstehen. Jedenfalls be­ steht ein Motiv für die Parteinahme für supranationale Strukturen in jener Zeit auch in der Hoffnung, mit ihrer Etablierung die zwi­ schenstaatlichen Beziehungen befrieden zu können. Dies kommt am deutlichsten in Rüstows Essay »Politik und Moral« zum Ausdruck, der auch die einzig genuin kosmopoliti­ sche Argumentation mit kantischen Anleihen enthält: Um die beständige Gefahr bewaffneter Konflikte zu überwinden, die ein charakteristisches Kennzeichen des internationalen Naturzustands darstellen und damit sogar Kollektivakteure mit hehren morali­ schen Ansprüchen in Verteidigungskriege stürzen, gibt es letztlich nur eine Lösung, die in der Etablierung einer »Weltregierung« be­ steht, die sich aus einer supranationalen »Legislative, Judikative und Exekutive« zusammensetzt.88 Ob diese Forderung sich wirk­ lich mit Verweis auf Kant begründen lässt, muss uns hier nicht weiter beschäftigen, aber genau wie Kant argumentiert hatte, dass es nicht nur die Vernunft, sondern auch die (empirische) Natur ist, die die Menschheit zur Bildung immer umfassenderer politischer Gemeinschaften antreibt, so ist sich auch Rüstow sicher, dass es bestimmte empirische Phänomene und entsprechende Kräfte gibt, die die aus seiner Sicht unmittelbar bevorstehende Formierung einer Weltregierung begünstigen: »Die Gewissheit dieser Voraus­ sage beruht auf der Atombombe.«89 Die einzig offene Frage für Rüstow ist nur, ob die Weltregierung unter amerikanischer oder sowjetischer Hegemonie stehen wird, sollte die Sowjetunion einst ebenfalls über Nuklearwaffen verfügen. Dies verweist uns auf einen weiteren kontextuellen Faktor, der besonders deutlich in Rüstows Werk zutage tritt, aber auch in Röpkes Überlegungen eine Rolle spielt. Dieser ist zwar hin- und hergerissen in seiner Bewertung der 88 Alexander Rüstow, »Politik und Moral«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 105 (1949), S. 575-590, hier S. 587 f. 89 Ebd., S.  589.

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europäischen Integration, befürwortet aber die Gründung einer eu­ ropäischen Föderation, die im Verbund mit den Vereinigten Staa­ ten der Abwehr des »Imperialismus des von Rußland organisierten und geführten Weltkommunismus« dienen soll.90 Krieg und Frie­ den spielen in den neoliberalen Erwägungen hinsichtlich födera­ listischer Arrangements also durchaus eine Rolle, aber mindestens ebenso wichtig wie die Begrenzung der staatlichen Möglichkeiten der Kriegsführung ist die Einhegung staatlicher Macht über die ei­ gene Wirtschaft und Gesellschaft. Folgt man Röpke, dann wurden einstmals beide Ziele auf die effizienteste und friedlichste Art und Weise mit Hilfe des Gold­ standards erreicht. In seinen frühesten diesen Fragen gewidmeten Werken aus den 1920er Jahren lotet er immer noch die Möglich­ keit einer Wiederherstellung des internationalen Freihandels auf Grundlage der garantierten Konvertibilität von Gold aus, die ein Schlüsselfaktor für die Entwicklung eines hochintegrierten Welt­ marktes im Vorfeld des Ersten Weltkrieges war. Doch Röpke wird sich im Laufe der 1930er Jahre darüber klar, dass der Goldstandard und die übrigen Voraussetzungen für das, was Karl Polanyi den »hundertjährigen Frieden« nannte, aufgrund von Prozessen, die er in International Economic Disintegration91 von 1942 ausführlich analysieren wird, unrettbar verloren sind – wobei ihn dies nicht davon abhält, bis zu seinem Tod die Vorzüge des Goldstandards immer wieder hervorzuheben. Es scheint daher beinahe so, als ob eine Föderation für Röpke nur die zweitbeste Lösung des Pro­blems staatlicher Macht darstellt, aber die stärkere Fokussierung auf föde­ rale Entwürfe lässt sich auch als ein Element im Modernisierungs­ prozess des Liberalismus verstehen, der konstitutiv für den Neo­ liberalismus ist. Vor dem Hintergrund der Welt der 1930er Jahre erscheint der Versuch der Restauration einer Weltwirtschaft auf 90 Wilhelm Röpke, Internationale Ordnung – heute, Erlenbach-Zürich (2. Auflage) 1954, S. 76. 91 Wilhelm Röpke, International Economic Disintegration, London 1942. Röpke hebt hier insbesondere die gegenseitige Überlagerung von Imperium und Dominium als einen entscheidenden Faktor hervor, der zu einer höchst problematischen Po­ litisierung der ökonomischen Sphäre beigetragen habe. Siehe auch Röpke, Gegen die Brandung, S. 75. Siehe zu dieser Unterscheidung und der ausdrücklich globa­ listischen Ausrichtung der sogenannten Genfer Schule des neoliberalen Denkens, zu der auch Röpke in gewisser Weise zählt, Slobodian, Globalisten.

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der Grundlage altliberaler Prinzipien, Techniken und Institutionen aussichtslos, daher bedarf es der Entwicklung neuer Ansätze, die als funktionale Äquivalente des Goldstandards fungieren können, wenn der Versuch der »Neuordnung der Weltwirtschaft«92 über­ haupt irgendeine Aussicht auf Erfolg haben will. Doch auch wenn Röpke im Allgemeinen ein leidenschaftlicher Verfechter des Föderalismus sein mag, lässt die analytische Qualität seines Denkens in dieser Hinsicht doch zu wünschen übrig, was zumindest teilweise auf den Einfluss einer seiner föderalen Inspira­ tionsquellen zurückzuführen ist, nämlich der Schweiz. Röpke ge­ lang es, aus seinem ursprünglichen Exil in Istanbul 1936 nach Genf zu ziehen, und obwohl er nach Kriegsende nach Deutschland hätte zurückkehren können, zog er es vor, als Professor am Institut Universitaire des Hautes Études Internationales in Genf zu bleiben. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass Röpkes föderalistisches Denken – auch im Hinblick auf die supranationale Ebene – in vielerlei Hin­ sicht eine Extrapolation der Schweizer Verhältnisse ist. Dies bringt den Vorteil mit sich, dass er in seinen Argumenten und Einschät­ zungen auf eine bereits existierende und auch einigermaßen funk­ tionstüchtige Form des Föderalismus verweisen kann, aber biswei­ len wirkt diese hochidealisierte Vorstellung des Schweizer Modells, in der durchaus existierende Probleme nicht vorkommen, auch als Hemmschuh der supranationalen Vorstellungskraft Röpkes. Nichtsdestotrotz ist zunächst einmal gegen die Kernüberzeugung, die seine föderalistischen Erwägungen der Nachkriegszeit anleitet, wenig einzuwenden. Der Nationalstaat ist in zweierlei Hinsicht un­ zulänglich: Einerseits ist er zu groß und amorph, um seinen Mitglie­ dern eine wirklich politische Gemeinschaftserfahrung gewähren zu können. Andererseits ist er zu klein, um manche der drängendsten derzeitigen Probleme lösen zu können, da diese nur auf trans- oder supranationaler Ebene bewältigbar sind. Wir wissen bereits, dass Röpke das erste dieser Probleme durch eine konsequente Politik der Dezentralisierung und Subsidiarität adressiert sehen möchte, kon­ zentrieren wir uns also auf das zweite. Insbesondere im europäischen Kontext kann für eine politische Form jenseits und oberhalb des Nationalstaats nur gelten, dass sie jedenfalls föderal aufgebaut sein muss. »Geist und Erbe« Europas bestünden in »der Einheit in der 92 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 384.

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Verschiedenheit, der Freiheit in der Verbundenheit«.93 Nun gibt es vermutlich kaum jemanden, der dieser (normativen) Charakterisie­ rung widersprechen würde, aber dennoch stellt sich die Frage, wie dies in einem supra- bzw. transnationalen Setting erreicht werden soll. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass der Verweis auf ein notwendiges »Gleichgewicht der sondernden und der vereinenden Kräfte«94 in solch einer Föderation eher formelhaft bleibt. Doch das bedeutet nicht, dass Röpke ausschließlich im erbaulich Vagen verbliebe, wenn er sich zu einer europäischen Föderation äußert. Aber wann immer er konkreter wird, erweist sich die Stoßrichtung seiner Argumentation zumeist als eher skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit, eine solche Föderation zu realisieren. So gibt er etwa seiner Leserschaft zu bedenken, dass der Föderalismus nicht nur eine administrative Technik sei, sondern in einer ganzen Philoso­ phie wurzele.95 Aber könnten die entsprechenden subjektiven Vor­ aussetzungen in den Haltungen und Orientierungen der Menschen tatsächlich in ganz Europa Verbreitung finden? Röpke ist sich nur sicher, dass dies keinesfalls durch die Art von Integration geschehen wird, deren Muster in der EU-Forschung mit der Tradition des Neofunktionalismus verknüpft ist und die als charakteristisch für die europäische Integration in der frühen Nachkriegszeit gilt. Vereinfacht gesagt lautet die Annahme dieser Integrationstheorie, dass die Integration bzw. Harmonisierung bestimmter ökonomischer Sektoren sogenannte ›Spillover-Effek­ te‹ auslöst, die eine Integration immer weiterer Sektoren aus rein ›funktionalen‹ Gründen erforderlich machen und damit letztlich auch zu einer politischen Integration führen würden. Röpke lässt aber keine Zweifel daran, dass eine solche ökonomische Integra­ tion eigentlich die »geistig-politische Integration«96 voraussetzt. Damit ist allerdings immer noch nicht geklärt, wie Letzteres ge­ lingen soll, nicht zuletzt weil Röpke größte Vorbehalte gegen einen Machttransfer von der nationalen auf die supranationale Ebene 93 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 365. 94 Röpke, Internationale Ordnung, S. 68. 95 Siehe Wilhelm Röpke, »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft«, in: Aufbau eines neuen Europa. Fünf Aufsätze über wirtschaftliche Zusammenarbeit, Berlin 1953, S. 7-33, hier S. 12. 96 Ebd., S.  10.

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hegt97 – was aber wiederum in einem gewissen Maße doch gerade einen wichtigen Aspekt einer wirklichen politischen Integration darstellt. Des Rätsels Lösung findet sich in einem weiteren Verweis auf das Vorbild der Schweiz, allerdings kann hier kaum von einer kurzfristigen Lösung die Rede sein, denn den Schweizer Födera­ lismus zeichne aus, dass er »langsam und organisch gewachsen ist und auch nur auf einem bestimmten und geduldig angereicherten Humus geschichtlicher Überlieferungen und menschlicher Bezie­ hungen wachsen konnte«.98 Letztendlich bedeutet dies aber, dass Röpke zutiefst unentschieden zu sein scheint, was die Wünschbar­ keit und Notwendigkeit einer Föderation betrifft. Er ist sich zwar im Klaren über die funktionalen Vorteile einer supranationalen Föderation, was die Einhegung nationalstaatlicher Macht, aber auch die Ausweitung politischer Problemlösungskapazitäten an­ geht. Doch die spezifischen Charakteristika einer solchen Födera­ tion bleiben weitgehend nebulös, und darüber hinaus kann Röpke keinerlei Hinweise geben, welcher Weg denn beschritten werden könnte, um eine »geistig-politische Integration« zu erreichen, weil seine Konzeption einer Föderation dermaßen stark dem Schweizer Modell in seinem vermeintlich organischen Gewachsensein verhaf­ tet bleibt. Damit soll in keiner Weise bestritten werden, dass es gute Gründe gibt, der Möglichkeit einer normativ wünschbaren Form europäischer Integration skeptisch gegenüberzustehen, aber wenn Röpke Recht hat und »die Menschheit endgültig an dem Punkte angelangt ist, wo die weitere Entwicklung über die Nati­ on als die bisher letzte und höchste Form fester gesellschaftlicher Organisation hinausführen muß, bei Strafe des Untergangs unserer Zivilisation«,99 dann kann das geduldige Warten auf die Heraus­ bildung europäischer Haltungen und Bekenntnisse kaum als eine überzeugende politische Reaktion gelten. All dies scheint auf eher pessimistische Schlussfolgerungen be­ züglich der zukünftigen Existenz einer Föderation hinauszulaufen, die irgendwie das Kunststück vollbringen muss, sich gleichzeitig ökonomisch und politisch zu integrieren, und dabei noch die po­ litischen Mentalitäten kultivieren muss, die diesen Prozess flankie­ 97 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 262-264. 98 Röpke, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, S. 12. 99 Röpke, Internationale Ordnung, S. 66.

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ren müssten. Aber auch wenn überaus unklar bleibt, wie sich dies vollziehen soll, so hegt Röpke doch zumindest keinerlei Sorge, dass der europäische Supranationalismus sich zu einem sozialistischen Superstaat auswachsen könnte. Damit kommen wir zu Hayeks Er­ wägungen zum Thema Föderalismus, die zunächst ebenso darauf abzielen, die Unmöglichkeit eines Sozialismus jenseits des Natio­ nalstaats nachzuweisen, aber auch darüber hinausgehen. In Der Weg zur Knechtschaft geht Hayek auf eine mögliche sozi­ alistische Erwiderung auf den liberalen Versuch ein, nachzuweisen, dass der Sozialismus auf nationalstaatlicher Ebene an unüberwind­ lichen funktionalen Hürden scheitern müsste: Der Sozialismus sei schließlich internationalistisch, und von daher möge es zwar unmöglich sein, ihn in einem einzigen Land zu realisieren, aber dies gelte eben nicht in gleicher Weise für die supranationale Ebe­ ne. Hayeks Widerlegung entspricht der allgemeinen Logik seiner Argumentation, wonach die Vielfalt individueller Präferenzen und Bedürfnisse zentrale Planung unmöglich mache, soll diese nicht auf den systematischen Einsatz von Zwangsmaßnahmen angewiesen bleiben – und zwar insbesondere auf trans- und supranationaler Ebene. »Man braucht sich nur die Probleme vorzustellen, die die Planwirtschaft auch nur in einem Gebiet wie Westeuropa aufwer­ fen würde, um sich darüber klarzuwerden, daß die moralischen Grundlagen für ein solches Unternehmen völlig fehlen.«100 Aber dies ist weder die einzige noch die originellste Einsicht Hayeks. In einem Artikel zur Möglichkeit einer föderalistischen Neuord­ nung Europas aus dem Jahr 1939 entwirft er ein Mehrebenensys­ tem zur Begrenzung nationalstaatlicher Macht, dessen Logik bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Hayeks Ausgangspunkt ist die Umkehrung von Röpkes Position hinsichtlich des Primats ökonomischer gegenüber politischer Integration. Es mag sein, dass ökonomische politische Integration voraussetzt, zweifellos ist Letztere aber gänzlich unvorstellbar ohne Erstere. Protektionismus innerhalb einer politischen Einheit muss zu Konflikten zwischen geographisch (regional oder lokal) verankerten Gruppen führen, und Hayek geht davon aus, dass dies zu einer desintegrativen Dy­ namik führen wird, die die Zentralregierung langfristig nicht ab­ sorbieren kann. Dies führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass eine 100 Hayek, Weg zur Knechtschaft, S. 274.

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stabile Föderation einen gemeinsamen Markt ohne Beschränkung ökonomischer Interaktionen und grenzüberschreitender Mobilität erfordert. Welche Auswirkungen würde dies auf die Macht der National­ staaten haben, aus denen sich eine solche Föderation zusammen­ setzt, die in Hayeks Entwurf sogar über eine gemeinsame Währung verfügt? Ihre wirtschaftspolitischen Optionen würden radikal zu­ sammenschrumpfen, da sie sich in einer Konstellation wiederfin­ den, in der sie miteinander um Ressourcen, aber vor allem auch um verschiedene Arten von mehr oder weniger mobilem Finanz-, Industrie- und Humankapital konkurrieren müssen. Konkret be­ deutet dies: »Nicht nur würde es die größere Beweglichkeit zwi­ schen den Staaten notwendig machen, alle Arten von Steuern zu vermeiden, die das Kapital oder die Arbeit anderswohin treiben würden; sondern es gäbe auch beträchtliche Schwierigkeiten mit vielen indirekten Steuern.«101 Von entscheidender Bedeutung da­ bei ist die Tatsache, dass nicht nur alle nationalen Organisationen, sondern auch die Nationalstaaten ihre (quasi-)monopolistischen Positionen einbüßen würden.102 Folgt man der Logik dieser Sichtweise, dann ergibt sich die Macht des Staates, die ihn zu einem potentiell unkontrollierbaren Leviathan werden lässt, aus seiner ›Marktposition‹. Staaten kön­ nen die Bedingungen von Politik und deren Kosten (in Form von Steuern und Abgaben) ihren Bürgerinnen und Bürgern diktieren, die den staatlichen Stellen in dieser Hinsicht de facto ausgeliefert sind. Natürlich besteht das Heilmittel gegen diese besondere Art von Marktversagen für den Neoliberalen Hayek darin, dem einzel­ nen Staat Konkurrenz zu schaffen und ihn so zumindest in Teilen seiner Monopolmacht zu berauben: Ein Markt der Jurisdiktionen muss geschaffen werden. Die Logik von Märkten und Wettbewerb ist damit sowohl in die substaatliche als auch in die supranationale Dezentrierung des Nationalstaates eingeschrieben, da es grundsätz­ 101 Friedrich August Hayek, »Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse«, in: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Salzburg (2. Auflage) 1976, S. 324-344, hier S. 330. 102 Diese Ausführungen finden sich im englischen Original, aber seltsamerweise nicht in der deutschen Übersetzung des Textes. Siehe Friedrich August Hayek, »The Economic Conditions of Interstate Federalism«, in: Individualism and the Economic Order, Chicago 1980, S. 255-272, hier S. 261.

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lich ja möglich ist, im Sinne von dem, was heute »Wettbewerbs­ föderalismus« genannt wird, einen Markt von Jurisdiktionen auf der nationalstaatlichen, regionalen (Einzelstaaten, Provinzen) und sogar kommunalen Ebene aufzubauen. Der entscheidende Faktor in diesem Zusammenhang ist natürlich die Mobilität von Kapital im weitesten Sinne, woraus folgt, dass, ceteris paribus, der Wettbe­ werb umso effektiver sein wird, je kleiner die politischen Einheiten und damit die ›Abwanderungskosten‹ ausfallen. Dementsprechend bestünde das Hauptziel einer solchen Strategie der Staatsbegren­ zung in der Dezentralisierung staatlicher Kompetenzen und ihrer Delegation an substaatliche politische Einheiten. Hayek erwähnt eine solche Dezentralisierung zwar am Rande,103 aber das Modell der »föderativen Zusammenschlüsse«104 im su­ pra­nationalen Rahmen erscheint aus zweierlei Gründen als noch aussichtsreichere Option. Wettbewerb erfordert ein Maximum an Mobilität, was bedeutet, dass substaatliche Einheiten in eine um­ fassendere Struktur eingebettet sein müssen, nämlich den Nati­ onalstaat, der diese Mobilität in zureichendem Maße garantiert. Die Geschichte des substaatlichen Föderalismus ist aber über weite Strecken eine, in der der Nationalstaat über die Zeit hinweg im­ mer mehr Kompetenzen an sich zieht, was zu einer Rezentralisie­ rung staatlicher Macht und der Wiederherstellung eines Monopols führt. Dass sich diese Dynamik im Verhältnis zwischen national­ staatlicher und supranationaler Ebene nicht repliziert und womög­ lich auch nicht replizieren lässt, macht die Verschränkung dieser beiden Ebenen so aussichtsreich im Sinne von Hayeks Zielsetzung. Nationalstaatliche Regierungen seien im Allgemeinen legitimiert, eine Politik zu betreiben, die Belastungen und Begünstigungen zwischen verschiedenen Gruppen und Territorien verteilt und um­ verteilt, wobei die Grundlage irgendeine Art nationaler Identität sei, die als das einende Band der Bevölkerung fungiere. Doch ein solch umfassendes Mandat, das tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben kann, würde eine supranationale Re­ gierung nie erhalten: »Schließlich entspricht es nur dem gesunden Menschenverstand, die Zentralregierung in einem Bundesstaat, der aus vielen verschiedenen Völkern zusammengesetzt ist, in ih­ rem Tätigkeitsbereich einzuschränken, wenn sie es vermeiden soll, 103 Siehe Hayek, Weg zur Knechtschaft, S. 288. 104 Siehe Hayek, Die wirtschaftlichen Voraussetzungen, S. 324.

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wachsenden Widerstand von Seiten der verschiedenen zu ihm ge­ hörigen Gruppen zu begegnen.«105 Folglich »werden viele Eingriffe in das Wirtschaftsleben, an die wir gewöhnt sind, in einer föderati­ ven Organisation völlig undurchführbar sein«.106 Es ist verlockend, die geradezu unheimlichen Analogien zwischen Hayeks Entwurf aus dem Jahr 1939 und der heutigen Eurozone weiterzuverfolgen, erscheint doch Hayek Föderation geradezu als Bauplan für die Wirtschafts- und Währungsunion,107 mit der wir uns in Kapitel 6 eingehender befassen. Aber für den Moment wenden wir uns den Argumenten und Positionen desjenigen Neoliberalen zu, der die systematischsten Überlegungen zur Frage des Föderalismus vorge­ legt hat. Der Verfassungszusatz, der ausgeglichene Haushalte garantiert, ist sicherlich die bekannteste konkrete Politik-Forderung, die sich mit dem Namen James Buchanan verbindet. Aber seit Mitte der 1970er Jahre gilt sein Interesse auch föderalistischen Entwürfen, die er als ein alternatives institutionell strukturelles Mittel in Betracht zieht, um die Ziele des Amendments zu erreichen – und zwar wo­ möglich auf weitaus effektivere Art und Weise. In einem Artikel, den er bezeichnenderweise während eines Forschungsaufenthaltes in der Schweiz verfasst, lobt Buchanan das Land für seinen »ef­ fektiven Föderalismus«,108 wie es schon Röpke fünfzig Jahre zuvor getan hatte, aber dies ist nicht der einzige Grund für Buchanans Lob. Wie bereits erwähnt, besteht der Hauptwert des Föderalismus für Buchanan in den Restriktionen, die dadurch dem öffentlichen Sektor und dem Haushalt auferlegt werden; eine Einschätzung, die bis zu einem gewissen Punkt durch das Beispiel der Schweiz bestä­ tigt wird. Buchanan weiß, dass ein empirischer Fall nichts beweist, und er ist Theoretiker genug, um es für erforderlich zu halten, dass die Eigenheiten föderalistischer Arrangements auf rein analytischer Ebene untersucht werden müssen. Zunächst ergibt sich die At­ traktivität des Föderalismus, an der sich Buchanans ursprüngliches Interesse entzündet, aus seiner potentiellen Instrumentalisierbar­ 105 Ebd., S.  335. 106 Ebd., S.  336. 107 Siehe Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013. 108 James Buchanan, »Direct Democracy, Classical Liberalism, and Constitutional Strategy«, in: Kyklos 54 (2001), S. 235-242, hier S. 241.

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keit als ein »indirektes Mittel zur Beschränkung der potentiellen finanzwirtschaftlichen Ausbeutung durch den Leviathan […]. Es erscheint möglich, daß eine explizite konstitutionelle Entscheidung zur Dezentralisierung, d. h. zur Teilung der politischen Autorität, ein wirksamer Ersatz für offene finanzwirtschaftliche Begrenzun­ gen sein kann.«109 Später wird Buchanan sogar so weit gehen, den Föderalismus als ­potentiell »ideale politische Ordnung« in Betracht zu ziehen.110 Im Vergleich zu Hayek sind Buchanans Schriften zum The­ ma Föderalismus wesentlich detaillierter und umfangreicher, aber zu Hayeks Gunsten ist festzuhalten, dass viele der Einsichten in Buchanans Untersuchungen bereits in Hayeks Artikel von 1939 impliziert sind. Im Gegensatz zu Hayek ist Buchanan aber nicht gewillt, sich allein darauf zu verlassen, dass die transnationale Solidarität immer zu brüchig bleiben wird, um ein umfassendes Politik-Portfolio auf der supranationalen Ebene zu legitimieren, welches die geschwundene Gestaltungsmacht der Nationalstaa­ ten in Föderationen kompensieren würde und damit den von den Neoliberalen angestrebten Effekt letztlich null und nichtig machen würde. Stattdessen setzt er seine Hoffnungen in einige zusätzliche Vorkehrungen, vor allem das garantierte Recht von Nationalstaa­ ten und substaatlichen Einheiten auf Sezession sowie eine be­ stimmte Verteilung der Besteuerungsmacht zwischen den verschie­ denen Ebenen des Leviathans. Die erste dieser Vorkehrungen ist nur die logische Fortführung der grundsätzlichen Mechanik des Wettbewerbs, der tatsächliche Exit-Optionen voraussetzt, um sei­ ne Wirkung entfalten zu können, daher konzentrieren wir uns im Folgenden auf die zweite. Aus Buchanans Perspektive ist die Zen­ tralisierungsdynamik in föderalen Settings keineswegs kontingent, sondern ergibt sich notwendig aus Strategien rationaler (Kollektiv-) Akteure, die davon profitieren.111 Wie lässt es sich also verhindern, 109 Brennan, Buchanan, Besteuerung und Staatsgewalt, S. 219. 110 Siehe James Buchanan, »Federalism as an Ideal Political Order and an Objec­ tive for Constitutional Reform«, in: Publius 25 (1995), S. 19-27; Lars Feld, James Buchanan’s Theory of Fiscal Federalism: From Fiscal Equity to the Ideal Political Order, Freiburg 2014. 111 Siehe James Buchanan, Dwight R. Lee, »On a Fiscal Constitution for the Eu­ ropean Union«, in: Journal des Économistes et des Études Humaines 5 (1994), S. 219-232, hier S. 222.

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dass diese Dynamik die erwünschten Effekte einer Begrenzung des Besteuerungsvolumens und der Aufrechterhaltung steuerlichen Wettbewerbs neutralisieren, etwa indem eine von der zentralstaat­ lichen Instanz erhobene Steuer an die substaatlichen Jurisdiktionen umverteilt wird, um sie für den im Zuge jenes Wettbewerbs ent­ standenen Steuerausfall zu kompensieren? Natürlich hält Buchanan diese Art von Auf- und Umverteilung von Steuergeldern, sei es direkt zwischen den konkurrierenden Jurisdiktionen oder vermit­ telt über eine übergeordnete Instanz, nicht für wünschenswert, da sie den Wettbewerbsanreiz vermindert und dementsprechend durch konstitutionelle Regeln verboten werden sollte.112 Allerdings schlägt Buchanan im Gegenzug eine Art umgekehrte Steuer(ver)teilung (reverse revenue sharing)113 vor und glaubt, dass mit Hilfe dieses Mechanismus der Wettbewerbsföderalismus auch jenseits des Nationalstaats gesichert und gegen die vielfältigen Dynamiken, die ihn unterminieren, immunisiert werden kann. Die Namensge­ bung des Modells ist durchaus passend, denn die umgekehrte Steu­ erverteilung erhält die Strukturen, die sich bereits in den meisten föderal organisierten Nationalstaaten finden, würde aber eben die Richtung umkehren, in der die Steuereinnahmen fließen und um­ verteilt würden. Während aktuell in vielen Fällen die substaatlichen politischen Einheiten auf Steuergelder angewiesen sind, die auf der nationalen Ebene erhoben und von dort umverteilt werden, möch­ te Buchanan die Abhängigkeit umkehren: Die nationalstaatlichen Steuereinnahmen sollen von den substaatlichen Einheiten abhän­ gen, und dementsprechend soll auch die supranationale staatliche Ebene finanziell von der nationalstaatlichen abhängig bleiben. Selbst wenn sich also doch wider Erwarten Hayeks eine robuste­ re transnationale Solidarität entwickeln sollte, die ein umfassen­ des Politik-Portfolio inklusive einer ausdrücklich umverteilenden Ausgabendimension legitimieren würde, könnten nur die Mittel auf der supranationalen Ebene ausgegeben werden, die von den nationalstaatlichen Instanzen genehmigt werden. Und solange der supranationalen Ebene ein eigenständiges Besteuerungsrecht ver­ 112 An einer Stelle konzediert Buchanan allerdings mit Blick auf Europa, dass sich auch Ausgleichszahlungen argumentativ begründen ließen. Siehe Buchanan, Musgrave, Public Finance, S. 178. 113 Buchanan, Lee, »On a Fiscal Constitution«, S. 224. Siehe auch Brennan, Bu­ chanan, Besteuerung und Staatsgewalt, S. 219-234.

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wehrt bleibt, geht von ihr auch keine nennenswerte Gefahr aus in Bezug auf das, was Buchanan als die Ausbeutung der Bevölkerung durch Besteuerung ansieht. Umgekehrt ist es den kleinsten poli­ tischen Einheiten in diesem Arrangement freigestellt, ihre Bürger nach Belieben zu besteuern, denn die disziplinierende Kraft der Mobilität der diversen Kapitale wird dafür sorgen, dass diese klei­ nen Leviathane niemals ihr fiskalisches Blatt überreizen werden. Bevor wir uns weiter unten den Parallelen zu den EU-Strukturen zuwenden, sollen hier zunächst einige Gedanken zur Problemati­ sierung dieser Modelle des fiskalischen Föderalismus auf der nati­ onalen und supranationalen Ebene formuliert werden, wobei aber mein Hauptkritikpunkt weiter unten darauf verweisen wird, dass diese Arrangements der staatlichen Dezentrierung nur schwer ver­ einbar sind mit Forderungen nach staatlichen Restrukturierungen, die in die entgegengesetzte Richtung weisen und die im nächsten Unterabschnitt erörtert werden. Die vorwiegend empirische Literatur zu den Effekten und der Umsetzbarkeit wettbewerbsföderalistischer Arrangements auf der nationalen und supranationalen Ebene ist in ihrem Umfang kaum noch zu überblicken. Während die Befürworter skeptisch sind, was die Möglichkeit der mittel- und langfristigen Aufrechterhaltung einer solchen vermeintlich segensreichen Dezentrierung des Steu­ erstaates angeht, wird von den Kritikern immer wieder die Gefahr eines potentiell ruinösen Wettbewerbs zwischen den Jurisdiktionen thematisiert, der mutmaßlich alle Beteiligten letztlich schlechter stellt. Man lehnt sich allerdings nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man feststellt, dass in beiden Fällen die empirische Evidenz alles andere als eindeutig ist, und zwar nicht zuletzt weil vieles von der spezifischen Ausgestaltung des in Frage stehenden Arrange­ ments abhängt. Verbleiben wir hier also weitgehend auf der theo­ retischen Ebene und verfolgen weiter die Strategie einer immanen­ ten Kritik, die in diesem Fall auf einen bestimmten Punkt abhebt: Der Wettbewerb der Jurisdiktionen setzt einen Markt voraus, und wie im Falle jedes anderen Marktes, so gilt auch hier gemäß der neoliberalen Problematik, dass das möglichst reibungslose Funktio­ nieren von bestimmten Voraussetzungen abhängt. Eine fundamen­ tale Voraussetzung für effektiven Wettbewerb ist die Möglichkeit des Bankrotts bzw. das erzwungene Verlassen des Marktes. Es war Michel Foucault, der den Unterschied zwischen einem liberalen 102

Marktverständnis als Schauplatz harmonischer Tauschhandlungen einerseits und dem ordo-/neoliberalen Verständnis andererseits herausgearbeitet hat, nach dem das entscheidende Kennzeichen funktionierender Märkte der Wettbewerb sei, wodurch diese zum Austragungsort einer bestimmten Art von Konflikt werden, der notwendigerweise Gewinner und Verlierer produziert.114 Die Frage lautet also, ob und inwieweit diese Bedingung auch im Fall des Wettbewerbs der Jurisdiktionen gegeben ist. Man stelle sich ein Territorium vor, das in Untereinheiten auf­ geteilt ist, die ausreichend klein sind, um niedrige Exit-Kosten zu gewährleisten, was eine weitere immens wichtige Voraussetzung für effektiven Wettbewerb darstellt. Nun kommt es über die Zeit hinweg zur Herausbildung divergierender Politikpakete, die zu va­ riierenden Preisen in Form von Steuern und Abgaben angeboten werden, um diverse Kapitale anzulocken. Unter ›idealen‹ Bedin­ gungen wird Kapital – inklusive Humankapital – nun reibungslos in die Jurisdiktionen fließen, deren Kombinationen aus Politikan­ gebot und entsprechenden Preisen am ehesten den entsprechenden Präferenzen entspricht, wobei diese durchaus variieren können; es ist nicht davon auszugehen, dass niedrige Steuern in jedem Fall der einzig ausschlaggebende Faktor sind. Für den nächsten Schritt in diesem dynamischen Modell erscheinen nun eine Reihe von Sze­ narien vorstellbar. Das unproblematischste aus Sicht der Befürworter des Wettbe­ werbsföderalismus wird von Buchanan zwar in Betracht gezogen, stände aber wiederum in einem starken Widerspruch zu den An­ nahmen Hayeks: Zwar ist der Markt zunächst durch eine gewisse Volatilität gekennzeichnet, aber mittelfristig etabliert sich über alle Jurisdiktionen hinweg ein dominantes Modell, da es sich heraus­ stellt, dass individuelle Präferenzen letztendlich doch nicht beson­ ders individuell sind und die meisten Akteure eine im weitesten 114 Siehe etwa Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 172 oder auch: »Die Gesellschaft, […] die die Neoliberalen vor Auge haben, ist eine Gesellschaft, in der das re­ gulative Prinzip nicht so sehr im Austausch von Waren bestehen soll, sondern in Mechanismen des Wettbewerbs.« Ebd., S. 208. Siehe hierzu auch: »In jedem Spiel gibt es Verlierer und Gewinner, und das Spiel der Marktwirtschaft ist da keine Ausnahme.« Rüstow, Religion der Marktwirtschaft, S. 25. »[…] eine Konkurrenz, die niemanden ruiniert, ist keine Konkurrenz.« Rüstow, Rede und Antwort, S. 49.

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Sinn zentristische Politik bevorzugen, die zu einem halbwegs an­ gemessenen Preis angeboten wird. Aus Sicht Hayeks müsste es sich hier aber um ein äußerst unwahrscheinliches Ergebnis handeln, basiert doch sein normatives Hauptargument gegen zentralisierte Planung auf der Diversität von Werten und Präferenzen einer Be­ völkerung. Aber nehmen wir einmal an, dass die Präferenzen von Menschen (und auch anderer Kapitale) nicht stark und divergent genug sind, um sogenannte »ortsbezogene Renten«, die sich aus dem Nutzen ergeben, am angestammten Ort zu bleiben, zu über­ trumpfen. In diesem Fall wäre der Wettbewerb weitgehend suspen­ diert und existierte nur in virtueller Form, bis eine Regierung die Geduld seiner Bürger-Konsumenten auf die Probe stellt, indem sie ihnen ein inferiores Politikpaket anbietet (bzw. die Steuern erhöht) oder die Akteurspräferenzen sich ändern und/oder intensivieren. Das Resultat dieses Szenarios wäre also ein halbwegs stabiles Ar­ rangement, aber es basiert auf eher unwahrscheinlichen Annahmen bezüglich der Konformität individueller Präferenzen, und in ihm wäre tatsächlicher Wettbewerb eher die Ausnahme und seine vir­ tuelle Form die Norm. Nichtsdestotrotz handelt es sich hier unter bestimmten Voraussetzungen um ein funktionierendes Arrange­ ment zur Begrenzung staatlicher Handlungspotentiale durch die Dezentrierung von Staatlichkeit. Das aus meiner Sicht wahrscheinlichere Szenario hinsichtlich der Entwicklung der Dynamik in diesem Modell würde aber zu einem anderen Ergebnis führen, das seine Praktikabilität a priori in gewisser Hinsicht in Frage stellt. Nehmen wir an, dass Präfe­ renzen auf signifikante Weise divergieren und manche Jurisdik­ tionen aufgrund dessen in beträchtlichem Ausmaß (Human-)Ka­ pital an andere Jurisdiktionen verlieren. Selbst wenn nicht sofort alles Kapital aus den weniger attraktiven Jurisdiktionen abgezogen wird, sorgen diese Verluste für noch größere Schwierigkeiten beim Versuch, in der Zukunft ›gute Politik zu vernünftigen Preisen‹ an­ zubieten. Dies bedeutet, dass diese Verlagerungsdynamik selbst­ verstärkend wirkt und es nur eine Frage der Zeit ist, bis Jurisdik­ tionen Insolvenz anmelden müssen, was vermutlich dazu führt, dass alles noch verbliebene (Human-)Kapital abwandert, soweit es ihm möglich ist, fallen doch die ortsgebundenen Renten in ei­ nem solchen Fall kaum noch ins Gewicht. Was passiert nun mit einer Jurisdiktion, nachdem ihr gesamter (Human-)Kapitalbestand 104

abgewandert ist? Das plausibelste Szenario ist ihre Eingliederung in eine andere Jurisdiktion. Mittelfristig wird diese Dynamik aber unweigerlich zur Formierung von größeren Jurisdiktionen führen, wodurch der Wettbewerb zurückgehen wird, und zwar nicht nur aufgrund erhöhter Exit-Kosten, sondern auch wegen der negati­ ven systemischen Auswirkungen größerer Jurisdiktionen und weil es für diese leichter ist, sich miteinander auf Kosten der diversen Bevölkerungen abzusprechen: »Aus den gleichen Gründen wie in der Oligopoltheorie besteht eine inverse Beziehung zwischen den Kollusionsmöglichkeiten der einzelnen Einheiten und der Anzahl der Einheiten.«115 Kurz, der Wettbewerb in einem solchen Setting untergräbt sich selbst. Ändert sich dies, wenn die konkurrierenden Einheiten in einen nationalstaatlichen oder supranationalen Rah­ men eingebettet wären? Entweder ändert sich kaum etwas, weil ho­ rizontale oder vertikale Rettungsmaßnahmen verboten oder doch zumindest schwierig sind, etwa wenn aufgrund des Mechanismus der umgekehrten Steuerteilung die übergeordneten staatlichen Instanzen vollständig von den Mitteln abhängig sind, die ihnen von den untergeordneten Stellen zur Verfügung gestellt werden. Oder es besteht die Möglichkeit horizontaler und/oder vertikaler Steuer(umver)teilungen, die aller Wahrscheinlichkeit nach selbst beinahe bankrotte »Staatsunternehmen« weiterhin im Markt hal­ ten und in gewisser Weise sogar den Bestand dieser Jurisdiktionen garantieren. Die nationalstaatliche oder auch supranationale Ebene kann natürlich dennoch versuchen, Anreize für eine stärker wettbe­ werbliche Ausrichtung der einzelnen Akteure zu schaffen, aber so­ lange nicht die rechtlichen Voraussetzungen gegeben sind und die tatsächliche Möglichkeit besteht, dass eine Jurisdiktion Insolvenz anmeldet und damit vom Markt verschwindet, wird der Wettbe­ werbsdruck zwischen den diversen Einheiten erheblich gemindert. Natürlich wird auf diese Fragen noch einmal im Zusammen­ hang mit der Europäischen Union und der Eurozonenkrise zurück­ zukommen sein, aber nun wenden wir uns zunächst dem letzten Quadranten in der Matrix des neoliberalen Staatsdenkens zu, in der die strukturellen Veränderungen im Mittelpunkt stehen, die den Staat in die Lage versetzen sollen, seine positiven Funktionen im Sinn der neoliberalen Problematik auszuüben. 115 Brennan, Buchanan, Besteuerung und Staatsgewalt, S. 227 f.

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Die Rezentrierung des Staates: Autoritärer Liberalismus Dem Klischee nach besteht die Doktrin des Neoliberalismus aus der Kombination von selbstregulierenden Märkten und dem Mi­ nimalstaat. Aber eine etwas eingehendere Beschäftigung mit dem neoliberalen Schrifttum zeigt, dass es sich hierbei zumindest um ein stark verengtes Verständnis des neoliberalen Denkens handelt, denn was sich in zumindest einer seiner Varianten findet, ist nicht weniger als der Ruf nach dem starken Staat. Natürlich ist diese Aus­ sage in vielerlei Hinsicht erläuterungsbedürftig, beginnen wir also mit den Ansätzen, in denen tatsächlich die Wiederherstellung und Stärkung staatlicher Macht – mithin der starke Staat – angemahnt wird, und versuchen nachzuvollziehen, wie sie zu dieser Einschät­ zung gelangen. Es sind die Ordoliberalen, die am dezidiertesten das Postulat des starken Staates formulieren, was wohl am überraschendsten im Falle Rüstows ist, dessen Opus magnum Ortsbestimmung der Gegenwart eine scharfe Herrschaftskritik enthält, von der man denken würde, dass sie auch den Staat als Herrschaftsinstanz mit einschließt.116 Nichtsdestotrotz gehört es aus seiner Perspektive zu den schwer­ wiegendsten Fehlern des Liberalismus, dass dieser glaubte, auch ein schwacher Staat könne seine Unabhängigkeit wahren: »Niemand […] nahm die offensichtliche soziologische Wahrheit zur Kennt­ nis, daß Stärke und Unabhängigkeit des Staates interdependente Variablen sind und daß nur ein starker Staat mächtig genug ist, um seine eigene Unabhängigkeit zu wahren.«117 Damit liefert uns Rüstow bereits eine kompakte Zusammenfassung der ordolibera­ len Vorstellung bezüglich eines veränderten Verhältnisses zwischen Staat und Ökonomie, so dass jener seinen Aufgaben nachkommen und damit eine zentrale Voraussetzung für das Funktionieren von Märkten erfüllen kann. Wogegen sich die Ordoliberalen und auch eine Vielzahl anderer Neoliberaler nämlich in erster Linie wenden, 116 »Auch hier [in der Naturbeherrschung], sogar hier, wo es sich gar nicht um Herrschaft über Menschen handelt, zeigt sich die anthropologische Sollenswid­ rigkeit des Herrschens, zeigt sich die Sündhaftigkeit der Herrschsucht.« Alexan­ der Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik. Band 3: Herrschaft oder Freiheit, Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1957, S. 50. 117 Rüstow, »General Sociological Causes«, S. 276.

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ist die vermeintliche Vermischung und gegenseitige Überlagerung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, die in der Formierung des­ sen mündet, was Eucken als »Wirtschaftsstaat« bezeichnet;118 ein Staat, der zugunsten von bestimmten Produzentengruppen und in gewisser Weise auch auf deren Geheiß tief in ökonomische Prozesse eingreift. Die Ordoliberalen befürchten, dass diese Verstrickungen des Staates letztlich zu seiner Auflösung und Zerstörung führen werden, so dass »eine verantwortungsbewußte Staatsleitung alle Wege prüfen wird, um sich gegen die pluralistische Zersetzung des Staates zur Wehr zu setzen«.119 Bevor wir uns eingehender mit der Frage beschäftigen, wodurch eigentlich ein starker Staat im Einzelnen gekennzeichnet ist, ist hier ein Verweis auf den historischen Kontext angebracht, in dem die Forderung nach einem unabhängigen und starken Staat von den Ordoliberalen vorgebracht wird. Es handelt sich natürlich um die Weimarer Republik am Vorabend ihres Kollapses und der Macht­ ergreifung der Nationalsozialisten. Nicht dass dieser Kontext al­ lein schon die Forderung rechtfertigen würde, aber zumindest ihre schrille Tonlage und die damit korrespondierende Radikalität der Perspektive erklärt sich hierdurch. Anders gesagt lässt sich die Klage über ein dysfunktionales demokratisches System und einen Plura­ lismus/Korporatismus, der den Staat buchstäblich überfordert, im Kontext der Weimarer Republik von 1932, als Rüstow und Eucken jeweils ihre prononciertesten Forderungen nach einem starken, un­ abhängigen Staat erheben, nicht einfach als unbegründeter Alar­ mismus abtun. Dennoch ist zu klären, ob es nicht auch systematische Grün­ de gibt, die die Ordoliberalen zu dieser Schlussfolgerung führten, denn wir sollten nicht unbesehen das Narrativ akzeptieren, das bis heute von den Verteidigern des Ordoliberalismus reproduziert wird und dem gemäß jener in seiner Frühzeit durchaus durch pro­ blematische Positionen gekennzeichnet war (z. B. die Forderung nach dem starken Staat), aber durch die Erfahrung von Krieg und Totalitarismus geläutert wurde und seitdem fest auf dem Boden der pluralistischen Demokratie steht, was die Nachkriegsschriften der diversen Protagonisten belegen sollen. Tatsächlich ist der Ton 118 Walter Eucken, »Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalis­ mus«, in: Weltwirtschaftliches Archiv 36 (1932), S. 297-321, hier S. 302. 119 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 207.

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vieler ordoliberaler Beiträge in der Nachkriegszeit deutlich zu­ rückgenommener, und der ausdrückliche Ruf nach dem starken Staat verschwindet. Aber die soeben zitierte Warnung Röpkes vor einer Auflösung des Staates stammt aus den späten 1950er Jahren, und an der basalen Logik der Argumentation, die dem Postulat robuster Staatlichkeit zugrunde liegt, hat sich auch im Kontext der jungen Bundesrepublik nichts geändert; jedenfalls lässt sich dies nicht aus den Schriften herauslesen. Eine andere Strategie, um die Forderung nach dem starken Staat zu relativieren, nimmt folgende Form an: Tatsächlich hätten die Ordoliberalen diese Forderung er­ hoben, aber trotz der für die heutige Leserschaft problematischen Konnotationen der Begrifflichkeit bedeute der starke Staat für Eu­ cken, Röpke und Rüstow schlicht einen Staat, der sich nicht selbst durch Überdehnung schwächt. Gestärkt wird dieser Staat wieder­ um durch die Weigerung, für alle gesellschaftlichen Probleme Zu­ ständigkeit und Verantwortlichkeit zu reklamieren, und indem er sich auch aus reinen Klugheitserwägungen selbst beschränkt, etwa indem er sich an den hier auch schon diskutierten Prinzipien und Zielen orientiert. Wenn er sich allerdings wiederum für alle mögli­ chen sozioökonomischen Fragen für zuständig erklärt, dann kann der »Wirtschaftsstaat« kaum die gesellschaftliche Forderung nach staatlichen Eingriffen zurückweisen. Unweigerlich wird er bei der Bewältigung mancher Probleme scheitern, was wiederum zu einer kontinuierlichen Erosion staatlicher Autorität führt, denn nichts ist schädlicher für diese als die Unfähigkeit, Probleme zu lösen, für die man sich einmal selbst für zuständig erklärt hat. Sicherlich gehört diese Argumentation zum neoliberalen Repertoire,120 aber ist damit schon der Bedeutungsgehalt der Vorstellung vom starken Staat im ordoliberalen Denken ausgeschöpft? Wie wir bereits wissen, soll der starke Staat die Verbindungen zu gesellschaftlichen Gruppen und ihrer Interessenpolitik kappen. Er muss die Kraft finden, »sich von dem Einfluß der Massen frei zu machen und sich wieder in irgendeiner Form von der Wirtschaft 120 »Im Gegenteil, nicht die Vielgeschäftigkeit, sondern die Unabhängigkeit von den Interessengruppen und die unbeugsame Geltendmachung seiner Autori­ tät und seiner Würde als Vertreter der Allgemeinheit kennzeichnen den wirk­ lich starken Staat, während der vielgeschäftige schließlich zum jämmerlichen Schwächling wird, der den Interessenten zur Beute fällt.« Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 310. Siehe auch Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 166 f.

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zu distanzieren«.121 Vorausgesetzt, dieser Versuch der Entflechtung ist erfolgreich, wie genau soll der Staat operieren, nachdem er nun nicht mehr gesellschaftlichem Druck ausgesetzt ist? Eucken for­ dert, dass der Staat nicht nach dem Willen anderer handeln sollte, sondern gemäß »dem eigenen Willen«,122 was auf ein organizisti­ sches Staatsverständnis schließen lässt, das den Staat als eine Art Makro-Subjekt begreift, das über einen eigenen Willen verfügt. Das wirft die Frage auf, wie sich der Wille dieses Staates unabhän­ gig von gesellschaftlichen Einflüssen bilden soll, und Eucken lässt keinen Zweifel daran, dass der wichtigste Aspekt dieses Willensbil­ dungsprozesses seine Einheitlichkeit ist. In ähnlicher Weise spricht Röpke sogar stellenweise von einem »monistischen Staat«,123 was sich durchaus deckt mit der antipluralistischen Stoßrichtung der Forderung nach dem starken Staat. Der starke Staat ist also gekenn­ zeichnet durch einen unabhängigen und monistisch/einheitlichen Willensbildungsprozess und sollte darüber hinaus über eine Regie­ rung verfügen, die auch wirklich über den Willen zum Regieren verfügt. »Wenn wir diesem Interventionismus und der rücksichts­ losen Ausbeutung des Staates durch die Interessentenhaufen absa­ gen, so schaffen wir damit überhaupt erst die Voraussetzungen für einen vertrauenswürdigen Staat und ein sauberes öffentliches Le­ ben. Anderseits aber setzt diese selbe Absage einen wirklich starken Staat voraus, eine Regierung, die den Mut hat zu regieren«,124 oder sogar einen »Führer«, der bereit ist, politische Verantwortung zu übernehmen.125 Wir müssen sogleich festhalten, dass Röpke und Rüstow davon ausgehen, dass ein solcher Staat mit einem demokratischen System kompatibel ist, auch wenn man die Plausibilität dieser Annahme sicherlich in Frage stellen kann. Was sich aus den diversen Cha­ rakterisierungen der Ordoliberalen aber jedenfalls herauskristalli­ siert, ist eine Konzeption von Staatlichkeit, die man ohne größere 121 Eucken, »Staatliche Strukturwandlungen«, S. 318. 122 Ebd., S.  307. 123 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 206. 124 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 310. 125 Alexander Rüstow, »Diktatur innerhalb der Grenzen der Demokratie. Doku­ mentation des Vortrags und der Diskussion von 1929 an der Deutschen Hoch­ schule für Politik«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 85-111, hier S. 101.

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Übertreibung als autoritär bezeichnen kann. Der Grund dafür liegt aber nicht in der häufigen Beschwörung staatlicher Autorität, was auch eine geläufige konservative Position wäre, sondern im Postulat eines einheitlichen staatlichen Willens und der damit einhergehen­ den Ablehnung und Verurteilung von allem und jedem, was diesen monistischen Willen gefährden könnte, insbesondere partikularis­ tischen Akteuren, und – wie es scheint – auch eine Gewaltentei­ lung, die gerade auf eine Diffusion dieses Willensbildungsprozesses abzielt.126 Wie bereits erwähnt wird der Vorwurf des Autoritarismus von den zeitgenössischen Vertretern des Ordoliberalismus im Allgemei­ nen routiniert zurückgewiesen. Dennoch gibt es meiner Ansicht nach einen systematischen Grund, der dieser autoritären Position zugrunde liegt, die sich eben nicht einfach als Produkt der Weima­ rer Krise wegkontextualisieren lässt. Schließlich ist es die zentrale Aufgabe des Staates, die Wettbewerbsordnung zu errichten und in der Folge zu überwachen, wozu auch eine entschlossene Bekämp­ fung ökonomischer Machtkonzentration gehört. Was für ein Staat ist erforderlich, um diese Aufgaben zu erledigen? Erstens ist die Politik der Wettbewerbsordnung ein höchst sensibles Feld, denn wie Eucken betont, sind politische, ökonomische und rechtliche Ordnung interdependent und jegliches Staatshandeln hat Auswir­ kungen auf dieses Gebilde aus miteinander verknüpften Systemen, dessen Balance äußerst fragil ist. Idealerweise würden all jene Aus­ wirkungen, inklusive all der nicht-intendierten Folgen, im Vorfeld erwogen, um sicherzustellen, dass es nicht zu abträglichen Störun­ gen jener Balance kommt. Aber wie sollte es einem Staat, der be­ ständig den volatilen gesellschaftlichen Einflussnahmen ausgesetzt ist, gelingen, die Entscheidungen zu treffen und durchzuführen, die die erforderliche Weitsicht und Kohärenz aufweisen? Dies ist genau die Frage, die Eucken seiner Leserschaft in den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik stellt, die erstmals 1952 erschienen und sich in der Gesamtdiagnose kaum von seinen Schriften von 1932 unterscheiden: »Überall handelt es sich um die Unterhöhlung der Staatsautorität durch partikulare Gewalten, die partikulare Inter­ essen vertreten […]. Doch anders als im Mittelalter ist ein Staat mit einheitlicher und konsequenter Willensbildung und klar be­ 126 Siehe hierzu auch etwa Grégoire Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, Berlin 2019, S. 345 f.

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zeichnetem Tätigkeitsbereich heute unentbehrlich […]. Alle Wirt­ schaftspolitik scheint in Frage gestellt, weil der Staat als ordnende Potenz versagt.«127 Der erste Grund für die Forderung nach einem Staat mit einer geradezu monolithischen Struktur liegt also in der Komplexität der Wirtschaftspolitik, deren Herausforderungen selbst dann beträchtlich sind, wenn der Staat nicht direkt in öko­ nomische Prozesse eingreift. In Kombination mit der Inkohärenz einer staatlichen Politik, deren widersprüchlicher Output nicht zu­ letzt auf die unbeschränkte Einflussnahme gesellschaftlicher Akteu­ re zurückgeht, muss diese Komplexität letztlich zu Chaos führen – man nehme nur das Beispiel der Weimarer Republik.128 Der zweite Grund liegt in der staatlichen Aufgabenstellung ei­ ner aggressiven Vorgehensweise gegen ökonomische Macht und Akteure, die versuchen, diese ökonomische Macht in politischen Einfluss umzumünzen, sei es durch die offiziellen demokratischen Kanäle oder Hinterzimmer-Lobbyismus. Das erfordert aber einen autonomen Staat, der in seiner Entscheidungsfindung unabhängig ist und der über Kapazitäten und Ressourcen verfügt, um diese Entscheidungen umzusetzen, selbst wenn dies bedeutet, dass bei­ spielsweise ein Unternehmen, das über ein Übermaß an Markt­ macht verfügt, zerschlagen werden muss. Konkret handelt es sich um einen Staat, der sogar gigantische Konzerne wie Google oder Microsoft, aber auch Finanzinstitute, die als ›too big to fail‹ gelten, zerschlagen können muss – und natürlich gilt dies auch für Ge­ werkschaften, insofern sie über Marktmacht verfügen. Man würde zunächst denken, dass es eine riskante Strategie des Neoliberalismus ist, einen semi-autoritären Staat im soeben dar­ gelegten Sinn zu befürworten, wo doch der zentrale Gegner der Neoliberalen immer noch kollektivistisch-totalitäre Regime sind. Aber eine Analyse diverser Schriften Hayeks und Röpkes zeigt, wie sie systematisch versuchen, eine kategorische Unterscheidung zwi­ 127 Eucken, Grundsätze, S. 329 f. Siehe zum Folgenden auch ausführlicher Thomas Biebricher, »Ordoliberalism, Authoritarianism and Democracy«, in: Jürgen Mackert (Hg.), The Condition of Democracy and the Fate of Citizenship, New York (im Erscheinen). 128 Siehe hierzu eine Passage aus einem für die Alliierten erstellten Gutachten aus der Nachkriegszeit: »Alle einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahmen müs­ sen, um sinnvoll und erfolgreich zu sein, koordiniert werden; sonst ist die Wirt­ schaftspolitik in sich widerspruchsvoll und führt oft zu schädlichen, unheilvol­ len Ergebnissen.« Eucken, Ordnungspolitik, S. 1; siehe auch ebd., S. 3 f.

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schen Autoritarismus und Diktatur einerseits und dem von ihnen kritisierten Totalitarismus andererseits vorzunehmen. Beginnen wir mit Hayek: »Der Unterschied zwischen diesen beiden Standpunkten zeigt sich am deutlichsten, wenn wir ihre Gegenteile nennen: Das Gegenteil der Demokratie ist eine auto­ ritäre Regierung; das Gegenteil eines liberalen Systems ist ein to­ talitäres System. Keines der beiden Systeme schließt das Gegenteil des anderen aus: Eine Demokratie kann totalitäre Gewalt ausüben, und es ist vorstellbar, daß eine autoritäre Regierung nach libera­ len Prinzipien handelt.«129 Auf der Grundlage dieser beiden Ge­ gensätze versucht Hayek nun, politische Formen und Ideologien neu zu gruppieren. Im Ergebnis wird eine schiefe Ebene suggeriert, die nicht vom Autoritarismus, sondern von der Demokratie zum Totalitarismus führt. Noch deutlicher tritt dies in den Schriften aus den 1970er Jahren hervor, in denen es heißt: »Das vorherr­ schende Modell liberaler demokratischer Institutionen […] führt notwendigerweise zur allmählichen Umwandlung der spontanen Ordnung einer freien Gesellschaft in ein totalitäres System, das im Dienst irgendeiner Koalition von Interessen steht.«130 Es fällt auf, dass Hayek hier ausdrücklich von dem »vorherrschenden Modell« der Demokratie und nicht der Demokratie an sich spricht. Wei­ ter unten werden wir uns dementsprechend mit seinen Vorschlä­ gen zur Reform des demokratischen Prozesses beschäftigen, aber an dieser Stelle entscheidend ist, dass Hayek nur wenig Zweifel an seinen Präferenzen lässt, wäre er mit der Wahl zwischen einer unbegrenzten Demokratie und einer liberalen Diktatur konfron­ tiert: »Es ist, wenn auch unwahrscheinlich, zumindest vorstellbar, daß ein autokratischer Staat Selbstbeschränkung übt; doch ein all­ mächtiger demokratischer Staat kann das ganz einfach nicht.«131 Daher »würde ich persönlich einen liberalen Diktator einer demo­ kratischen Regierung vorziehen, der es an Liberalität mangelt«.132 Die letzte Äußerung stammt nicht aus Hayeks Schriften, sondern aus einem Interview, das er während eines Besuchs in Chile 1981, 129 Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 132. 130 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 4. Siehe auch Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft, S. 289. 131 Ebd., S.  405. 132 El Mercurio, »Friedrich von Hayek: Lider y Maestro de Liberalismo Econo­ mico«, in: El Mercurio, 12. 4. 1981, S. D 8-9, hier S. D9.

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als das Land unter der Herrschaft der Militärdiktatur Augusto Pinochets stand, der chilenischen Zeitung El Mercurio gab. Zwar versuchen Hayeks Verteidiger seine beiden Chile-Besuche, die Tref­ fen mit Pinochet sowie die Verteidigung der Diktatur in dem Zei­ tungsinterview als fehlgeleitetes Urteil in der Hitze des politischen Handgemenges herunterzuspielen, das ein weiteres Mal belege, dass Theoretiker in ihren Bewertungen realer politischer Entwick­ lungen oftmals falschliegen, doch wie die übrigen Zitate belegen, stimmt Hayeks Haltung zu Chiles Regime durchaus mit dem über­ ein, was sich in der Verfassung der Freiheit und anderswo zu diesem Thema nachlesen lässt. Unter den Neoliberalen ist es aber nicht nur Hayek, der ver­ sucht, eine politisch-semantische Demarkationslinie zwischen Totalitarismus auf der einen Seite und Diktatur oder autoritärer Herrschaft auf der anderen zu ziehen. Die Gegensätze, die Röpke apostrophiert, ähneln denen Hayeks, wenn auch die Begrifflichkeit eine etwas andere ist: »Die antiken und modernen Tyranneien un­ terscheiden sich von der Diktatur; sie dürfen auch nicht mit der Vorstellung einer hierarchischen, aristokratischen oder autoritären Regierung gleichgesetzt und auch nicht als Gegensatz zur Demo­ kratie verstanden werden.«133 Denn schließlich »beinhaltet jeder wohlaufgebaute Staat mehr oder weniger starke Elemente hierar­ chischer und autoritärer Natur, und es wäre nicht sinnvoll, eine bestimmte Form autoritärer Herrschaft wie etwa die Diktatur als besonderes Kennzeichen der modernen ›ochlokratischen‹ Tyran­ neien anzusehen«.134 Der Unterschied besteht laut Röpke darin, dass die »modernen Usurpatoren« ausnahmslos aus den »Massen« und ihrer Demokratie »hervorgegangen« sind, was ihn zur gleichen Schlussfolgerung wie Hayek führt: »Der Gegensatz der Tyrannei ist nicht die Demokratie […], sondern das liberale Prinzip.«135 Röpke gibt dieser Argumentation aber noch eine weitere Wen­ dung, die uns an einen bestimmten Aspekt des liberalen Krisensyn­ 133 Röpke, International Economic Disintegration, S. 247. Siehe auch: »Aber jeder, der behauptet, dass die autoritäre Führung von Staat und Wirtschaft […] eine Annäherung an das kollektivistische Gesellschaftsprinzip darstellt, bestätigt dadurch nur, dass er nicht in der Lage ist, zwischen Diktatur und kollektivisti­ schem Staat zu unterscheiden.« Ebd., S. 256. 134 Ebd., S.  246. 135 Ebd., S.  248.

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droms erinnert – die Kriegswirtschaft, die in mancherlei Hinsicht einem planwirtschaftlichen Regime ähnelt. Röpke gibt zu beden­ ken, dass »die Errichtung eines autoritären Regimes, wie es nun un­ ter dem Druck des Krieges in den meisten unmittelbar betroffenen Ländern vollzogen worden ist«,136 die Kommentatoren nicht dazu verleiten sollte, zu glauben, dass man sich damit auf dem Weg in den Sozialismus befinde – was bekanntlich die Befürchtung war, die Hayeks Der Weg zur Knechtschaft zugrunde lag. »Würde dies zu Friedenszeiten passieren, dann würden sie sich damit tatsächlich auf die schiefe Ebene des kollektivistischen autoritären Totalitarismus begeben.«137 Röpke behauptet aber, dass im Fall eines Kriegs-Auto­ ritarismus kein Grund für die Annahme eines solchen irreversiblen Automatismus besteht, der scheinbar wieder umkehrbar ist, sobald der Krieg vorbei ist. Aber mit dieser letzten Wendung verwischt Röpke natürlich genau die Demarkationslinien, die er zuvor zie­ hen wollte, was sich am deutlichsten im Verweis auf einen zutiefst undifferenzierten »kollektivistischen autoritären Totalitarismus« zeigt, jedoch auch in seiner Version des Schiefe-Ebene-Arguments impliziert ist, dem gemäß es ja durchaus eine Verbindung zwischen Totalitarismus und Autoritarismus gibt – aber eben nur zu Frie­ denszeiten. Aber selbst wenn Röpke nicht letztendlich seine eigene diskursi­ ve Strategie unterminieren würde, bestünde deren eigentliches Pro­ blem nicht unbedingt in der Unterscheidung an sich, die durchaus hilfreich sein könnte, um bestimmte Regime zu unterscheiden, wie es etwa von Juan Linz versucht wird.138 Vielmehr ist es die impli­ zite Normalisierung des Autoritarismus, der scheinbar überhaupt nichts mit Totalitarismus zu tun hat. Diese Normalisierung be­ inhaltet im Fall von Röpke und Hayek nicht nur das Argument, dass nicht jedes autoritäre Regime mit faschistischem oder kom­ munistischem Totalitarismus gleichgesetzt werden kann, was trotz der Schwierigkeiten einer klaren Unterscheidung zwischen idealty­ pischem Totalitarismus und Autoritarismus eine grundsätzlich ver­ tretbare Position ist. Darüber hinaus spielen sie aber die totalitären Potentiale autoritärer Herrschaft herunter und betonen stattdessen 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Siehe Juan Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000.

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immer wieder die entsprechenden Gefahren, die angeblich der De­ mokratie inhärent sind, womit suggeriert wird, dass jemand, der im weitesten Sinne liberale Ansichten vertritt, sich unter autoritärer Herrschaft sicherer und wohl auch allgemein besser fühlen könnte. Wir müssen daher schlussfolgern, dass zumindest eine Variation des Neoliberalismus eine seltsame Form des Liberalismus vertritt, der autoritäre Tendenzen aufweist und dementsprechend als ›auto­ ritärer Liberalismus‹ bezeichnet werden kann. Interessanterweise handelt es sich hierbei um den Titel eines Es­ says Hermann Hellers, der 1933 veröffentlicht wurde und mit dem sich Heller auf einen anderen deutschen Staatsrechtslehrer bezog, nämlich Carl Schmitt.139 1932 hielt Schmitt einen Vortrag, in dem er die folgende Erklärung für die kontinuierliche Krise des Weima­ rer Regimes gab: »Der heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit, aus der Unfähigkeit heraus, dem An­ sturm der Parteien und der organisierten Interessen standzuhalten. Er muß jedem nachgeben, jeden zufriedenstellen und den wider­ sprechendsten Interessen gleichzeitig zu Gefallen sein.«140 Schmitt empfiehlt dem Staat, alles daranzusetzen, seine Verbindungen zur Sphäre der Ökonomie zu kappen, um diese so zu entpolitisieren und gleichzeitig den Staat zu ent-ökonomisieren; aber ein Staat, »der eine solche Neuordnung bewirken könnte, müßte, wie gesagt, außerordentlich stark sein«.141 Es würde wohl zu weit gehen, das Werk Schmitts insgesamt als autoritären Liberalismus zu bezeich­ nen, aber Hellers Formel erfasst durchaus den Kern dieses Vortrags, der den konzeptionellen Entwurf einer wechselseitigen Ermögli­ chung von autoritären politischen Formen und Marktwirtschaften enthält. Dieser Entwurf wird auf einer argumentativen Grundlage entwickelt, die derjenigen Röpkes, Euckens und Hayeks im Hin­ blick auf den starken Staat und Autoritarismus in augenfälliger Weise ähnelt – wobei es aber letztlich Rüstow ist, bei dem diese Ähnlichkeit am stärksten ausgeprägt ist. Schmitts Vortrag vom 23. November 1932 trug den passenden Titel »Starker Staat und ge­ sunde Wirtschaft«. Rüstows Forderung nach einem starken Staat 139 Siehe Hermann Heller, »Autoritärer Liberalismus«, in: Neue Rundschau 44 (1932), S. 289-298. 140 Carl Schmitt, »Starker Staat und gesunde Wirtschaft«, in: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, S. 71-91, hier S. 75. 141 Ebd., S.  81.

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findet sich erstmals in einem Vortrag, den er genau 55 Tage zuvor hielt und dessen Titel Freie Wirtschaft, starker Staat lautete.142 Es versteht sich von selbst, dass der Autoritarismus eine ernst­ hafte Bedrohung für die pluralistische Demokratie darstellt, und auf die entsprechenden Fragen gehe ich im folgenden Kapitel ein. An dieser Stelle möchte ich aber nur auf die massive Spannung hin­ weisen, die zwischen den zuletzt besprochenen zwei Strategien neo­ liberaler Staatstheorie besteht. Während sich die eine als Versuch zusammenfassen lässt, den (National-)Staat in seiner Machtfülle zu beschränken und seinem Handlungsspielraum Grenzen zu setzen, indem man seine Struktur mit Hilfe föderaler Arrangements de­ zentriert, läuft die andere auf eine Rezentrierung des Staates unter Betonung seiner geradezu monolithischen Einheitlichkeit hinaus: die Idee des starken Staates. Während sich die eine als Kritik natio­ nalstaatlicher Souveränität verstehen lässt, speist sich die andere aus dem Erfordernis einer Wiederherstellung staatlicher Souveränität und Autorität. Wie lässt sich diese Spannung interpretieren? Zu­ nächst könnte man denken, dass beide Strategien einfach nebenei­ nander existieren können und sich womöglich gar gegenseitig er­ gänzen. Der Staat muss in die Lage versetzt werden, seine positiven Funktionen zu erfüllen, und gleichzeitig durch Dezentralisierungs­ maßnahmen in seinem Handlungsrahmen auf genau diese Funk­ tionserfüllung begrenzt werden. Allerdings ist dies ja kaum mehr als die Reformulierung der grundsätzlichen Herausforderung, mit der die liberale Staatstheorie ohnehin konfrontiert ist. Darüber hinaus wird schnell klar, dass ein friedliches Neben­ einander dieser beiden Strategien kein wirklich plausibles Szenario darstellt. Einer der Hauptgründe, die für den starken Staat ins Feld geführt werden, ist die Notwendigkeit einer unparteiischen Durch­ setzungsinstanz, die nicht durch die Akteure, die sie regulieren soll, manipuliert werden kann. Aber selbst wenn wir unterstellen, dass der Staat seine Verbindungen etwa zu ökonomischen Interessen­ gruppen gekappt hat, kann er in einem föderalen Kontext immer noch von ihnen diszipliniert werden, etwa durch Abwanderungs­ drohungen. In einem Setting, das durch den Wettbewerb um 142 »Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, dort, wo er hingehört.« Rüstow, Rede und Antwort, S. 258.

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verschiedene Kapitale unter Bedingungen erheblicher Mobilität gekennzeichnet ist, handelt es sich hierbei um eine überaus wirk­ mächtige Drohung, und es ist schwer vorstellbar, wie eine einzelne Jurisdiktion so die Kontrolle über ihre jeweilige Wettbewerbsord­ nung behalten soll. Schließlich dürfte die Möglichkeit des regime shopping in etwa das Gegenteil von starken Staaten hervorbringen, die ihre Märkte nach ordoliberalen Vorstellungen regulieren oder die öffentlichen Güter produzieren können, auf die sich die Bür­ gerinnen und Bürger in einem postkonstitutionellen Vertrag im Sinne Buchanans geeinigt haben. Der Semi-Monopolist, dessen ökonomische Macht durch den Staat als Hüter der Wettbewerbs­ ordnung beschränkt werden soll, könnte einfach in eine andere Jurisdiktion abwandern und nach wie vor seine Produkte in der ur­ sprünglichen Jurisdiktion verkaufen. Jegliches Unternehmen, das mit dem Steuer- und Regulierungsregime unzufrieden ist, könnte sich also einfach anderswo niederlassen. Die einzige Möglichkeit, diese Unterminierung eines starken Staates durch föderale Arran­ gements zu verhindern, wäre die Verlagerung der Kompetenzen zur Regulierung der Märkte auf die supranationale Ebene. Nur so ließe sich ein Wettbewerb verhindern, der sich letztlich für alle Seiten als zumindest hochproblematisch erweist, doch zu diesem Thema fin­ den sich in den neoliberalen Schriften nur wenige Hinweise. Hayek erwähnt zwar zumindest die Möglichkeit eines supranationalen Rahmens für den gemeinsamen Markt, aber der Schwerpunkt sei­ ner Ausführungen liegt eindeutig auf der Aufgabe der supranatio­ nalen Ebene, wirtschaftliche Freiheit und Freizügigkeit durchzuset­ zen, womit der Wettbewerbsdruck auf die einzelnen Jurisdiktionen nur noch erhöht wird. Röpke lehnt jeglichen Souveränitätstrans­ fer auf die supranationale Ebene mit allem Nachdruck ab. So ge­ langt man zu dem Schluss, dass die Forderung nach einem starken Staat, der sowohl über Autonomie als auch Durchsetzungsfähigkeit verfügt,143 und der Dezentrierung des Staates durch föderalistische Arrangements eine Antinomie des neoliberalen Staatsdiskurses dar­ stellt, die letztlich unauflösbar ist. Dies ist eine Thematik, auf die wir ausführlicher im Kontext der Europäischen Union in Kapitel 7 143 Siehe zu den Kategorien state capacity und state autonomy Theda Skocpol, »Bring­ing the State Back in: Strategies and Analysis in Current Research«, in: Peter B. Evans, Friedrich Rueschemeyer, Theda Skocpol (Hg.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, S. 3-37.

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zu sprechen kommen, wo wir sehen werden, dass es tatsächlich eine ganz bestimmte Möglichkeit gibt, beide Varianten – wenn auch auf höchst spannungsreiche Art – miteinander zu verbinden.

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3. Demokratie Die verschiedenen neoliberalen Positionierungen in der Betrach­ tung des Staates und wie er einerseits in seinem Handlungsspiel­ raum begrenzt, andererseits aber auch in die Lage versetzt wer­ den kann, seine diversen Aufgaben tatsächlich zu erfüllen, haben offensichtlich vielfältige Implikationen für die entsprechenden Sichtweisen auf Demokratie, die Gegenstand dieses Kapitels sind. Demokratie ist ein Element der politischen Theorie des Neolibe­ ralismus, das eine eigenständige Diskussion verlangt. Demokratie ist nicht nur von fundamentaler Bedeutung für die zeitgenössi­ sche politische Theorie insgesamt, interessanterweise gibt es auch bestimmte neoliberale Kritikpunkte an ihr, die nicht einfach als neoliberale Ideologie abgetan werden können, sondern (kritische) Fragen aufwerfen, die mit Bedenken korrespondieren, wie sie in einem breiten politisch-intellektuellen Spektrum hinsichtlich der zeitgenössischen Form und Ausprägung von Demokratie ebenfalls artikuliert werden. Zuletzt standen in der Diskussion neolibera­ ler Staatstheorie Regeln, Prinzipien und strukturelle Faktoren im Vordergrund. In der Betrachtung neoliberaler Demokratietheorie verschiebt sich der Fokus von diesen eher statischen Elementen auf die Dynamik (demokratischen) politischen Lebens und damit auch auf dessen Hauptakteure. Der Ausgangspunkt unserer Untersuchung ist der kleinste ge­ meinsame Nenner neoliberaler Demokratietheorien, der schlicht in der Annahme besteht, dass die Demokratie ein Problem für funk­ tionierende Märkte darstellt. In der Folge werde ich herausarbeiten, was ich für die beiden Kernüberzeugungen halte, die uns helfen können, das Spektrum der diversen spezifischen Demokratiekriti­ ken zu strukturieren. Die erste dieser Überzeugungen bezieht sich vor allem auf den pluralistischen Aspekt von Demokratie, die ande­ re auf die vermeintlich übermäßige Machtfülle der Demokratie in ihrer zeitgenössischen Form. Beide Überzeugungen schließen sich keineswegs gegenseitig aus, aber manche neoliberalen Positionen neigen eher der ersten oder der zweiten zu, wohingegen andere bei­ de Annahmen als zwei Seiten der gleichen Medaille begreifen und entsprechend kombinatorische Positionen vertreten. Im Anschluss 119

an diesen Überblick über die kritische Diagnostik der Demokratie werden die diversen Reformvorschläge diskutiert, die die jeweils hervorgehobenen Defizite oder gar Pathologien von Demokratie beheben sollen. Hier treten die diversen Variationen neoliberalen Denkens am deutlichsten zutage, denn die Empfehlungen reichen von einer Ausweitung der Marktzone und einer entsprechenden Zurückdrängung demokratischer Prozeduren bis zur Forderung nach mehr direktdemokratischen Elementen, die die existierenden institutionellen Arrangements ergänzen sollen.

Die Demokratie und ihre Probleme: Mehrheiten und Grenzenlosigkeit Vereinfacht gesagt, besteht der gemeinsame Nenner aller neolibera­ ler Demokratietheorien in der Überzeugung, dass sie ein mehr oder weniger schwerwiegendes Problem darstellt. Ein Problem stellt sie zunächst insofern dar, als ihre Funktionsweise für weitere Kompli­ kationen sorgt, was die ohnehin schwierige Konzeptionalisierung der angemessenen Rolle des Staates in seinem Verhältnis zu Märk­ ten und Gesellschaft insgesamt angeht. Noch grundsätzlicher hat Demokratie aus neoliberaler Sicht das Potential, Gesellschaften ins Chaos zu stürzen oder in gewaltige Ausbeutungsmaschinerien zu verwandeln, die im Endeffekt kaum noch etwas von dem Kollekti­ vismus unterscheidet, den die Neoliberalen so vehement ablehnen. Das bedeutet nicht, dass die hier versammelten Sichtweisen alle auf die Forderung nach einer Abschaffung der Demokratie hin­ auslaufen, wobei es durchaus manche Empfehlungen gibt, die in diese Richtung zu weisen scheinen. Umgekehrt sind aber selbst die Ansätze, die noch am meisten Wohlwollen für die Demokratie auf­ bringen, insgesamt dennoch äußerst kritisch eingestellt und raten dringend zu notwendigen Reformen, um die dramatischen Kon­ sequenzen zu vermeiden, die sich mutmaßlich aus den vielfältigen Pathologien zeitgenössischer Demokratie ergeben. Zunächst ist aber zu klären, was Demokratie im neoliberalen Diskurs bezeichnet. Der Gegenstand neoliberaler Kritik ist durch­ gehend die Demokratie in ihrer repräsentativen Form – woraus man natürlich nicht den Rückschluss ziehen kann, dass die Neo­ liberalen die direkte Demokratie bevorzugen würden; aus Sicht 120

der meisten Vertreter würden sich dadurch die Probleme noch verschärfen. Der Punkt ist, dass die neoliberale Kritik sich auf die Demokratie in ihrer real existierenden oder dominanten Form be­ zieht, wobei dies bei den einzelnen Denkern leicht unterschiedlich ausbuchstabiert wird. Es gibt bestimmte Bereiche des neoliberalen Denkens, die durchaus abstrakt und entkontextualisiert sind, seien es Buchanans Modelle und Formeln oder Euckens Idealtypen po­ litökonomischer Ordnungen, aber der Diskurs über Demokratie ist fast ausnahmslos kontextbezogen. Hier geht es nicht in erster Li­ nie um eine Auseinandersetzung mit Demokratietheorie, die Dia­ gnostik zielt vielmehr auf konkrete Demokratien, ihre tatsächliche Funktionsweise und die entsprechenden Defizite ab. Aus meiner Sicht ist der neoliberale Demokratie-Diskurs um zwei Pole herum strukturiert, zwischen denen ein ganzes Spek­trum von Positionen liegt.1 Der erste dieser Pole lässt sich am besten mit Verweis auf die Positionen Hayeks, Friedmans und Buchanans zusammenfassen und besteht wiederum selbst aus zwei mitein­ ander verknüpften Punkten. Hayek liefert uns hier die bündigste Zusammenfassung, indem er ein weiteres Gegensatzpaar ins Spiel bringt, um seine Kritik zeitgenössischer Demokratie zu verdeutli­ chen. Auf der einen Seite steht aus seiner Perspektive das Prinzip des Konstitutionalismus; auf der anderen das, was er als das vor­ herrschende zeitgenössische Verständnis von Demokratie bezeich­ net: eine »Herrschaftsform […], in der in jeder beliebigen Frage uneingeschränkt der Wille der Mehrheit gilt«.2 Genau genommen sind hier aber zwei eigenständige Punkte von Belang, nämlich die unbegrenzte Handlungsmacht demokratischer Regierungen und die Herrschaft der Mehrheit. Doch bevor wir uns diese Punkte genauer ansehen, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf Hayeks Argumenta­ tionsstrategie zu werfen. Zwar trifft es zu, dass die neoliberale Demokratiekritik sich in den allermeisten Fällen auf konkrete Fälle bezieht, doch eine wichtige Ressource dieser Kritik ist eine wie auch immer geartete Alternativvorstellung. Diese kann auch in einem abstrakten Ideal 1 An anderer Stelle habe ich eine etwas andere Typologie entwickelt, die zwischen Strategien der Ersetzung, Begrenzung und Ergänzung von Demokratie im neo­ liberalen Denken unterscheidet. Siehe Thomas Biebricher, »Neoliberalism and Democracy«, in: Constellations 22 (2015), S. 255-266. 2 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 3.

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bestehen, von dem aber behauptet wird, dass es zumindest annä­ hernd in der Vergangenheit verwirklicht wurde, wie es etwa bei Hayek der Fall ist. Seine Rahmung der Problematik besteht in ei­ nem Narrativ des Niedergangs, das gewissermaßen analog zu den Niedergangs-Erzählungen von Liberalismus und Rechtsstaat funk­ tioniert, mit denen wir bereits vertraut sind. Hayek gibt sich also durchaus Mühe, nicht als Feind der Demokratie an sich stigmati­ siert werden zu können, schließlich glaube er wie viele andere »zu Recht an das Grundideal der Demokratie«,3 welches aber eben in seinen zeitgenössischen Manifestationen auf schwerwiegende Wei­ se verzerrt sei. Die schädlichste Verzerrung habe zu dem Glauben geführt, dass demokratischer Herrschaft keinerlei Grenzen gesetzt sind beziehungsweise gesetzt werden können, was nicht sonderlich überraschend ist, wenn man sich Hayeks Verständnis des Rechts­ staatsprinzips und seines Verfalls in Erinnerung ruft. Aber nun erhalten wir ein klareres Bild der historischen Ent­ wicklungen und falschen Annahmen, die er für den Verfall demo­ kratischer Praxis bis in die Gegenwart verantwortlich macht. Beide sind gebündelt in der Vorstellung parlamentarischer Souveränität. Für Hayek repräsentiert dieses Prinzip die diversen Facetten des Niedergangs der Demokratie. Mit dem Übergang zu demokrati­ schen Regierungsformen entfiel vermeintlich die Notwendigkeit der Gewaltenteilung oder anderer Formen der Begrenzung des Regierungshandelns, behauptet Hayek und reproduziert damit einen weithin bekannten Topos aus dem Diskurs liberaler De­ mokratiekritik, der sich bei Mill und anderen findet: den naiven Glauben, dass es keiner Schutzmechanismen gegen den Macht­ missbrauch der Regierung bedarf, da ja letztlich ›das Volk‹ herr­ sche. Wenn der Demos aber falsche oder zumindest schlecht be­ ratene Entscheidungen trifft, könnte die demokratische Doktrin wenig zur Einhegung des Volkswillens mobilisieren, der sich in den Entscheidungen des Parlaments manifestiert, denn sie basiert, laut Hayek, auf einer falschen Vorstellung von Souveränität. Wir wer­ den diese überaus interessante Frage, mit der ich mich an anderer Stelle eingehender auseinandergesetzt habe,4 hier nicht viel weiter vertiefen können, aber müssen doch zumindest festhalten, dass 3 Ebd., S.  307. 4 Siehe Thomas Biebricher, »Sovereignty, Norms, and Exception in Neoliberalism«, in: Qui Parle? 23 (2014), S. 77-108.

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eine der vielen Dimensionen Hayekscher Demokratiekritik auch die Kritik einer bestimmten Auffassung von Souveränität beinhal­ tet. Die Vorstellung, »daß es immer eine letzte ›souveräne‹ Macht geben muß, aus der sich alles Recht herleitet«, ist für ihn nicht mehr als ein »Sophismus«,5 welcher als Grundlage demokratischer Selbstverherrlichung dient, der gemäß die parlamentarische Sou­ veränität definitionsgemäß nicht begrenzbar ist, da ansonsten das Parlament nicht wirklich souverän wäre. Aus der Sicht Hayeks ist das aber eine fehlgeleitete Darstellung der Dinge, denn in einem wirklich konstitutionalistischen Kontext ist Souveränität nicht an einem bestimmten Ort lokalisierbar, genau genommen verschwin­ det sie hier nämlich sogar gewissermaßen: »Fragt man, wo bei einer solchen Anordnung die ›Souveränität‹ liegt, so lautet die Antwort: nirgends – sofern sie nicht zeitweilig in den Händen des verfas­ sungsgebenden oder verfassungsändernden Organs liegt. Da der konstitutionelle Staat ein eingeschränkter Staat ist, kann in ihm kein Raum sein für ein souveränes Organ, wenn unter Souverä­ nität unbeschränkte Macht verstanden wird.«6 Für Hayek ist die Souveränität in ihrem herkömmlichen Verständnis ein zutiefst metaphysisches Konzept, was durchaus zutreffend sein kann, aber die Frage aufwirft, ob man es tatsächlich einfach so verschwinden lassen kann, wie es seine Ausführungen nahelegen.7 Zusammengefasst führt also die Kombination aus dem Ver­ trauen auf die Unmöglichkeit, dass die Demokratie den ihr Un­ terworfenen jemals Schaden zufügen könnte, und einem falschen Verständnis von Souveränität sowie der zunehmenden Regierungs­ anmaßung von eigentlich mit der Gesetzgebung betrauten Parla­ menten zu der Überzeugung, dass »die Abgeordnetenversammlung nicht nur die höchste, sondern auch unumschränkte Autorität ist«,8 die in ihren Handlungsoptionen nicht eingeschränkt werden darf und nicht eingeschränkt werden kann. Darüber hinaus hat sie sich 5 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 30. 6 Ebd., S.  429. 7 Siehe zu anderen Analysen von Hayeks Souveränitätsverständnis, die die Schmitt­ schen Komponenten betonen, Renato Christi, Carl Schmitt and Authoritarian Liberalism: Strong State, Free Economy, Cardiff 1998; William Scheuermann, »The Unholy Alliance of Carl Schmitt and Friedrich A. Hayek«, in: Constellations 4 (1997), S. 172-188. 8 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 309.

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gegen jeden Versuch der Begrenzung auf bestimmte Handlungsfor­ men – die nämlich mit der Hayekschen Interpretation des Rechts­ staatsprinzips konform sind – immunisiert, indem sie von der durchaus demokratischen angemessenen Sichtweise, »es solle nur das für alle verbindlich sein, was die Mehrheit billigt, zu der Auffas­ sung, es solle alles, was die Mehrheit billigt, solche Verbindlichkeit besitzen«, fortgeschritten ist.9 Mit diesen Verschiebungen sind die Räder in Bewegung gesetzt, die zu einer langsamen, aber stetigen Transformation zeitgenössischer Demokratien in totalitäre Gesell­ schaften führen, so dass Hayek in gewohnter Offenheit klarstellt, »daß, wenn Demokratie Regierung durch den uneingeschränkten Willen der Mehrheit heißen soll, ich kein Demokrat bin und eine solche Regierung sogar für höchst gefährlich und langfristig un­ durchführbar halte«.10 Und für jemand, der schon immer ein gutes Gespür für die Macht von Sprache und Terminologien hatte, liegt es nahe, dass er vorschlägt, wahre Demokratie als »Demarchie« zu bezeichnen, worin sich »das Ideal eines für alle gleichen Rechtes« ausdrücke,11 um damit einen Beitrag gegen die Konfusionen der politischen Sprache zu leisten, die er in diesem, aber auch in ande­ ren Zusammenhängen beklagt. Buchanan teilt diese Bedenken Hayeks weitgehend, aber mit etwas anderen Nuancen und Schwerpunkten. Buchanans Befürch­ tung, dass sich demokratische Staaten/Regierungen zusehends allen Mechanismen und Vorkehrungen entziehen, durch die sie kontrolliert und zur Rechenschaft gezogen werden könnten, inten­ siviert sich über den Verlauf seines Werkes hinweg. Sein Ausgangs­ punkt war die Perspektive des public choice, die konsequent das Postulat des methodologischen Individualismus auf Regierung und Staatsapparat zur Anwendung brachte, und entsprechend konzep­ tionalisierte Buchanan all diese Phänomene als ausschließlich in­ terpersonale Beziehungen, wodurch Regierung und Staat geradezu in diese aufgelöst wurden: »›Den Staat‹ als solchen gibt es nicht, und ›staatliche Ergebnisse‹ können verhältnismäßig geringe innere Konsistenz oder Stabilität aufweisen.«12 Daraus erwachsen vielfäl­ tige Dysfunktionalitäten, wie etwa die massive Inkohärenz der Re­  9 Ebd., S. 312. 10 Ebd., S.  346. 11 Ebd., S.  347. 12 Brennan, Buchanan, Staatsgewalt und Besteuerung, S. 36.

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gierungspolitik, aber der archipelartige Staat, dessen Bild aus den Analysen der Public-Choice-Literatur hervorgeht, lässt die Vorstel­ lung eines totalitären Staates, der in der Lage wäre, die Gesellschaft seinem Willen zu unterwerfen, eher unplausibel erscheinen. Doch dies ändert sich mit Buchanans theoretischer Umstellung auf das Konzept des Leviathans in den frühen 1980er Jahren. Bis dahin war sich Buchanan mit dem Public-Choice-Mainstream weitgehend einig, dass das Motiv der Wiederwahlsicherung auf Seiten von Politikern ihrem Handeln erhebliche Restriktionen auf­ erlegte. Das bedeutet nicht, dass die Ergebnisse notwendigerweise »Effizienz« verbürgten, aber jedenfalls konnte der Staat kaum als despotisch betrachtet werden, wenn er auch umgekehrt nicht als wohlwollender Hüter des Gemeinwohls angesehen werden sollte. Nur die letztere Annahme gilt auch noch im konzeptionellen Rah­ men des Leviathans. Diesen will Buchanan nämlich analysieren, als handele es sich um eine monolithische Herrschaftsinstanz. Daraus ergeben sich selbstredend Schwierigkeiten für den bekennenden methodologischen Individualisten Buchanan, der sogar selbst ein­ räumt, dass die Umstellung auf das Leviathan-Modell einen »he­ roischen Sprung von der individuellen Nutzenmaximierung zur Unterstellung eines einzelnen Maximanden für ›den Staat‹«13 be­ inhaltet, von dem er aber glaubt, dass er vertretbar und angemessen ist. Die Individuen, aus denen sich das gewählte und ungewählte Staatspersonal zusammensetzt, hätten zwar keinerlei Intention, im Interesse des Leviathans (oder des Allgemeinwohls) zu handeln, aber die Resultante aller individuellen Handlungen zeige immer in die gleiche Richtung: den Versuch der Maximierung von Steu­ ereinnahmen. Der Leviathan ist damit durch inhärent expansive Tendenzen gekennzeichnet, und Buchanan folgert, dass diese Dy­ namik nicht mehr länger effektiv durch elektorale Kontrollmecha­ nismen einhegbar ist; eine zunehmend unkontrollierbare Demo­ kratie, die über unbegrenzte Macht verfügt, verwandelt sich so in den Leviathan.14 Buchanan teilt aber auch Hayeks Vorbehalte gegenüber dem Mehrheitsprinzip, und das Gleiche gilt für Friedman. In gewisser 13 Ebd. 14 »Die Demokratie kann zu ihrem eigenen Leviathan werden, wenn nicht konsti­ tutionelle Schranken aufgestellt und durchgesetzt werden.« Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 230.

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Weise handelt es sich bei allen vorgebrachten Argumenten um Va­ riationen des Themas einer drohenden ›Tyrannei der Mehrheit‹, wohlbekannt aus dem Diskurs liberaler und konservativer Demo­ kratiekritik. Hayek besteht darauf, dass sich der Wille der Mehr­ heit nur in abstrakten Regeln ausdrücken darf, aber er betont auch: »Das Argument für die Demokratie setzt voraus, daß eine Minder­ heitenansicht die Ansicht der Mehrheit werden kann«,15 und wen­ det sich entschieden gegen die Vorstellung, dass allein die Unter­ stützung von 51 Prozent des Elektorats für eine bestimmte Position diese in irgendeiner Weise als bessere oder überlegenere auszeich­ net. Vermutlich, so Hayek, handelt es sich sogar um minderwertige Entscheidungen: »Sie werden weniger weise sein als die Entschei­ dungen, die die gescheitesten Mitglieder der Gruppe treffen wür­ den«, nicht zuletzt weil Mehrheitsentscheidungen typischerweise Kompromisse beinhalten, die erst die Formierung dieser Mehrheit ermöglichen.16 Aber falls es irgendetwas gibt, das zugunsten der Demokratie vorgebracht werden kann, dann ist es die Tatsache, dass sie eine Art institutionalisierter Wettbewerb der Meinungen ist, in dessen Verlauf es auch grundsätzlich möglich erscheint, dass die Minderheit die Mehrheit überzeugt. Hayek glaubt, dass es solch kleine, dissentierende Eliten sind, die als Transmitter neuer Ide­ en für die Gesellschaft als ganze fungieren, und dass durch diese auch gesellschaftlicher Fortschritt ermöglicht wird. Doch diese Funktion werde natürlich durch eine Vorstellung von Demokratie eingeschränkt, die das Mehrheitsprinzip fetischisiere. Und zuletzt proble­matisieren alle drei Denker die grundsätzliche Erfahrung, sich bei Mehrheitsentscheidungen in der Minderheit wiederzufin­ den, die nichtsdestotrotz die Entscheidung der Mehrheit in einer bestimmten Angelegenheit akzeptieren und daraus resultierenden Gesetzen Folge zu leisten hat. Hayeks diesbezügliche Bedenken speisen sich aus dem WertSubjektivismus, der zum Erbe des österreichischen Grenznutzen­ theoretikers Carl Menger gehört, und er schließt daraus, dass demokratische Entscheidungen sich auf Materien beschränken sollten, bei denen eine substanzielle Übereinstimmung in der Be­ völkerung vorhanden ist. Buchanans Vorbehalte basieren wiederum 15 Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 141. 16 Ebd., S.  143.

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auf der These Knut Wicksells, dass die Einstimmigkeitsregel ein Pareto-Optimum in politischen Angelegenheiten verbürgt, da sie Gesetze und Maßnahmen verunmögliche, die nicht manche oder sogar alle Betroffenen besser stellen und zumindest niemandem schaden würden.17 Aus normativer Perspektive wäre dies die ideale Politik-Regel, und nur aus Erwägungen der Praktikabilität heraus ist Buchanan letztlich bereit, das Mehrheitsprinzip zu akzeptie­ ren, wenn er widerstrebend anerkennt, dass »das Mehrheitsprinzip in der öffentlichen Einstellung eine normative Kraft entfaltet«.18 Friedmans Argumentation gegen die Mehrheitsentscheidung, die die Minderheit zur »Konformität« zwingt, kontrastiert diesen Ent­ scheidungs- und Koordinationsmechanismus mit dem Markt, auf dem man nie überstimmen muss. »Deshalb ist es wünschenswert, daß man die Wahlurne nur für Entscheidungen benutzt, bei denen Konformität notwendig ist.«19 Hiermit wird impliziert, dass sich die Defizite demokratischer Entscheidungsprozesse zumindest in einem gewissen Maß durch den Markt überwinden lassen, worauf wir später noch einmal zurückkommen. Ich beschließe die Vorstellung dieses Pols neoliberaler Demo­ kratiekritik mit dem Hinweis auf einige Parallelen zwischen den hier vorgebrachten Punkten und Kritiken der Demokratie, die am anderen Ende des politischen Spektrums vertreten werden und vor allem die Legitimität des Mehrheitsprinzips betreffen. So haben Offe und Guggenberger gezeigt, dass dem Mehrheitsprinzip eine Reihe von Problemen inhärent und seine normative Akzeptabilität zudem an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist.20 Eine dieser inhärenten Schwierigkeiten ergibt sich aus quantitativen Entschei­ dungsprozeduren, die allenfalls unzureichend in der Lage sind, die Qualität der Voten in Betracht zu ziehen, also die Intensität der Präferenzen, die sich in jenen ausdrücken. Sollte eine Mehrheit von 52 Prozent, die sich kaum für eine bestimmte Angelegenheit interes­ 17 Ein Pareto-Optimum wird als der Punkt in einem iterativen Tauschprozess be­ zeichnet, an dem keiner der Beteiligten durch weiteres Tauschhandeln besser gestellt werden kann, ohne zumindest einen anderen Beteiligten schlechter zu stellen. 18 Buchanan, Musgrave, Public Finance, S. 118. 19 Friedman, Friedman, Chancen, die ich meine, S. 80. 20 Siehe Bernd Guggenberger, Claus Offe (Hg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, Opladen 1984.

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siert, tatsächlich in der Lage sein, einer achtundvierzigprozentigen Minderheit ihren Willen aufzuzwingen, die mit Leidenschaft eine andere Position vertritt? Eine der fundamentalen Voraussetzungen für die Legitimität des Mehrheitsprinzips ähnelt darüber hinaus ei­ nem Punkt, der sich auch bei Hayek findet: Eine Minderheit, die keine Chance hat, jemals zur Mehrheit zu werden (beispielsweise »strukturelle Minderheiten«), kann legitimerweise das Mehrheits­ prinzip in Frage stellen, wenn die entsprechenden Entscheidun­ gen ihre Rechte betreffen. Ähnliches gilt für Entscheidungen, die irreversibel oder nur zu prohibitiv hohen Kosten reversibel sind, denn selbst wenn die aktuelle Minderheitsmeinung irgendwann zur Mehrheitsmeinung werden würde, ist die ursprüngliche Ent­ scheidung kaum noch umzukehren, geschweige denn ungeschehen zu machen. Worum es mir hier geht, ist der Nachweis, dass die Kritik des Mehrheitsprinzips keineswegs eine exklusiv neoliberale Angelegenheit ist und es sogar eine, wenn auch sehr überschaubare Überschneidung gibt zwischen den Argumenten, die beispielswei­ se von Buchanan einerseits und Offe andererseits angeführt wer­ den, um diese Kritik zu begründen. Aber auch wenn es gewisse Übereinstimmungen dahingehend gibt, dass das Mehrheitsprinzip oder seine Voraussetzungen bestimmte Schwierigkeiten beinhal­ ten, könnten sich die daraus gezogenen Schlussfolgerungen und die entsprechenden Reformvorschläge kaum weiter voneinander unterscheiden. Wenden wir uns nun der zweiten Kernüberzeugung zu, die der neoliberalen Demokratiekritik zugrunde liegt und die wir andeu­ tungsweise schon aus der Diskussion des starken Staates kennen. Nun wird klar, dass es die Demokratie ist, die der Formierung ei­ nes solchen Staates im Wege steht, oder zumindest eine bestimmte Form der Demokratie. Das Problem, an dem sich diese Variation des neoliberalen Denkens abarbeitet, ist der Pluralismus zeitgenös­ sischer Demokratie, mithin der unverhältnismäßige Einfluss von Akteuren, die partikularistische Ziele in der Politik verfolgen, und die Verzerrungen, die aus diesen Einflussnahmen resultieren. Die anschaulichste Beschreibung dieses Zusammenhangs findet sich – wie so oft – in den ordoliberalen Ansätzen. So ist etwa bei Rüstow die Rede von der »pathologischen Regierungsform […], dem Plura­ lismus« sowie dem »Zerfall der Demokratie«, da »der Staat, der da­ mit beginnt, die wilden Tiere der organisierten Geschäftsinter­essen 128

zu füttern, letztlich von ihnen verschlungen wird«.21 Auch Röpke glaubt, dass der »Staat zum Spielball und zur Beute der Interessen­ ten« wird, und sagt voraus, dass »der Kampf der Interessengruppen […] zur Zersetzung des Staates führt«.22 Nicht nur die Interessen­ gruppen, auch die parlamentarischen Parteien tragen hier Schuld, da Letztere in »parlamentarische Flügel ökonomischer Interes­ sengruppen, die auch für ihre Finanzierung sorgen«, verwandelt wurden und damit vor allem als Relais für die Forderungen jener Interessengruppen fungierten.23 Eucken schließt sich ebenso dieser allgemeinen Diagnose an, die er insofern für besonders bedenklich hält, als die Verquickung von ökonomischer und politischer Macht zur Unterminierung der Wettbewerbsordnung führen dürfte, wenn sich ökonomische Macht in politischen Einfluss ummünzen lässt und damit sogar letztlich zu einer politischen Abhängigkeit von ökonomischer Macht führt: »Staatliche Wirtschaftspolitik und Vertretung von Unternehmerinteressen verschmelzen hier zu fest­ gefügter Einheit.«24 Eucken ist ein interessanter Fall, denn den zeitgenössischen Verteidigern des Ordoliberalismus ist es besonders wichtig, ihn vom Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit freizusprechen. Im vo­ rigen Kapitel wurden bereits zwei der entsprechenden Strategien skizziert, die sich auf den starken Staat bezogen. Mit Blick auf die Demokratie finden sich die jüngsten Argumente zu Euckens Ver­ teidigung bei Viktor Vanberg sowie Daniel Nientiedt und Ekke­ hard Köhler. Vanberg wiederholt weitgehend noch einmal die be­ kannten Argumente, die den Ruf nach dem starken Staat in einem anderen Licht erscheinen lassen sollen, aber selbst der ehemalige Direktor des Walter-Eucken-Instituts bringt eine gewisse Skepsis zum Ausdruck, was Euckens Bekenntnis zur Demokratie angeht; zumindest gebe es eine nicht zu übersehende Leerstelle im tradi­ 21 Rüstow, »General Sociological Causes«, S. 277. Siehe auch: »Der Staat wird von den gierigen Interessenten auseinandergerissen.« Mit Blick auf die Weimarer Republik heißt es hier auch: »Dieser schamlose Pluralismus machte […] im Endergebnis jede Regierungsbildung zur Eroberung des Staates durch eine ad hoc gebildete räuberbandenähnliche GmbH, die nach gemeinsam errungenem Wahlsieg die Beute unter sich aufteilte.« Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, S. 179 f. 22 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 210 f. 23 Rüstow, »General Sociological Causes«, S. 276. 24 Eucken, »Staatliche Strukturwandlungen«, S. 304.

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tionellen ordoliberalen Denken hinsichtlich der Frage, wie denn die gewollte staatliche Ordnung (demokratisch) zu legitimieren sei.25 Nientiedt und Köhler wählen einen anderen Weg, dem ent­ sprechend sich Eucken vor allem gegen eine bestimmte Form der Demokratie wandte, und zwar einer identitären nach dem Vorbild Rousseaus und Schmitts, die er im Wirtschaftsstaat und in seiner Verschmelzung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft verkörpert gesehen habe.26 Gänzlich zu überzeugen vermag diese Argumen­ tation aber nicht, denn was Eucken kritisiert, ist die Artikulation und Verfolgung partikularer sozioökonomischer Interessen durch private und staatliche Akteure, die typischerweise als Pluralismus bezeichnet wird. Zudem kommt man an dieser Stelle nicht um den Hinweis herum, dass Schmitt in dem oben zitierten Vortrag, aber auch in Der Begriff des Politischen exakt die gleichen Prozes­ se beschreibt und beklagt, die bei Eucken unter den Begriff des Wirtschaftsstaates subsumiert werden, was also wiederum kaum die Kennzeichen einer identitären Demokratie sein können, wie sie Schmitt konzipierte und befürwortete.27 Eucken scheint auch insofern den Vorstellungen Hegels und Rousseaus zu Staat und Demokratie näher zu stehen, als er ganz eindeutig den Staat als potentiellen Hüter des Gemeinwohls an­ sieht; als Verkörperung der volonté générale, die sich gegenüber den Partikularwillen durchsetzen muss, um es in der Terminologie Rousseaus auszudrücken. Muss sich der Staat nicht genau deswe­ gen dem Zugriff der verschiedenen sozioökonomischen Akteure und Parlamentsparteien entziehen, die kaum mehr als Marionetten zu sein scheinen bei der Verfolgung der notwendigerweise partiku­ laren Interessen ersterer? Schließlich kann er nur so seiner zutiefst hegelianischen Staatsaufgabe, das Allgemeininteresse gegenüber den Antinomien des zivilgesellschaftlichen Lebens zur Geltung zu bringen, plausiblerweise gerecht werden.28 Offensichtlich ist das 25 Siehe Viktor Vanberg, Liberalismus und Demokratie, Hamburg 2014, S. 18. 26 Siehe Daniel Nientiedt, Ekkehard H. Köhler, »Liberalism and democracy – a comparative reading of Eucken and Hayek«, in: Cambridge Journal of Economics 40 (2016), S. 1743-1760. Siehe zu dieser mindestens diskussionswürdigen Inter­ pretation auch Uwe Dathe, Walter Euckens Weg zum Liberalismus (1918-1934), Freiburg 2010. 27 Siehe hierzu ausführlicher Biebricher, »Ordoliberalism«. 28 »Damit soll ausgedrückt werden, daß die Massenorganisationen der Interessen-

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Gemeinwohl im Falle Euckens weitaus weniger substanziell, als es zumindest laut manchen Interpretationen bei Hegel oder Rousseau der Fall ist, es bezieht sich ausschließlich auf die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsordnung, die im Interesse jedes Einzelnen liegt – nur eben nicht verstanden als Rousseaus citoyen, sondern als Kon­ sument. Hat sich Euckens Sichtweise nach dem Krieg gewandelt, wie es ja von einem der Verteidigungs-Narrative im Hinblick auf den starken Staat behauptet wird? Dies ist insofern schwer einzu­ schätzen, als die Demokratie – wie im Übrigen auch Nientiedt und Köhler festhalten – in den Nachkriegsschriften einfach nicht mehr auftaucht, was wiederum meiner Ansicht nach durchaus bezeich­ nend ist.29 Damit soll nicht suggeriert werden, dass Euckens Hal­ tung schlicht antidemokratisch ist, doch sicherlich hegte er eine tiefe Skepsis gegenüber einem pluralistischen Demokratieverständ­ nis. Gemäß dieser Vorstellung von Demokratie ist es schließlich gerade nicht erforderlich, dass private Akteure oder politische Par­ teien den Nachweis erbringen müssen, im Allgemeininteresse zu handeln – worin dies auch immer bestehen mag –, sondern es gilt ten das an sich schon beunruhigend starke Gewicht der Partikularinteressen auf Kosten des Gesamtinteresses bedenklich steigern.« Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 209. Röpke stellt auch klar, dass die ordoliberale Kritik des Staates keine grundsätzliche Ablehnung impliziert: »Aber diese Kampfstellung gegenüber dem Staate kann niemals eine staatsfeindliche sein, weil ja der Staat die Verkörperung des über den Gruppeninteressen stehenden Gemeinwohls ist, zum mindesten sein soll.« Röpke, Gegen die Brandung, S. 45. Auch in den Nach­ kriegsschriften Rüstows findet sich eine ähnliche Konzeption des Gemeinwohls: »Über dieses bonum commune, dieses gemeinsame Interesse, Gesamtinteresse, Gemeinwohl, wie wir trotz des Missbrauchs dieses Wortes durch die Nazis ru­ hig sagen wollen, kann man natürlich in gutem Glauben verschiedener Mei­ nung sein. Diese Meinungsverschiedenheiten über das gemeinsame Problem des Staatsinteresses, des Gesamtinteresses, das ist das Wesen der Politik, nicht die Vertretung von Einzelinteressen und der Kompromiss zwischen diesen Einzelin­ teressen.« Rüstow, Rede und Antwort, S. 63. 29 Zwar werden in einem Text von 1948 Fragen der Demokratie kurz angespro­ chen, aber sie geben wenig Anlass zur Vermutung, dass sich Euckens Sichtweise grundlegend gewandelt hat, denn noch immer besteht das Problem: »Sehr viele Menschen geraten in den Zustand der Vermassung: aber die Masse denkt in Kollektivbegriffen und ohne Selbsttätigkeit; sie liebt den Mythos, aber nicht die Ratio. Das Denken in Ordnungen liegt ihr völlig fern. […] Die Wirtschaftsord­ nung bleibt dem Menschen in wesentlichen Zügen unbekannt.« Walter Eucken, »Das ordnungspolitische Problem«, in: ORDO 1 (1948), S. 56-90, hier S. 79.

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selbst das ausschließlich eigeninteressierte Handeln im Sinne par­ tikularer Interessen prima facie als legitim, was eine zutiefst libera­ le, aber anscheinend nicht sonderlich ordoliberale Vorstellung von Demokratie impliziert.30 In der ordoliberalen und vor allem in Euckens Version des Argu­ ments gegen den Pluralismus kommt noch ein weiterer und letzter Faktor ins Spiel, der nicht zuletzt deshalb erwähnenswert ist, weil er von großer Bedeutung für die diversen Vorschläge zur Behebung der Nachteile der Demokratie ist. Die moderne Demokratie ist nicht nur pluralistisch, sondern sie ist auch eine Massendemokratie. Gruppen verfolgen partikulare Interessen, die im Gegensatz zum Allgemeininteresse stehen, aber auch die Massen spielen bei diesem Unterfangen eine gewisse Rolle.31 Das Problem besteht darin, dass es den Massen an den Voraussetzungen mangelt, um die Feinheiten einer politischen Ordnung im Allgemeinen oder der Wirtschafts­ politik im Besonderen verstehen zu können. Zudem glaubt Eu­ cken, der die elitärsten Ansichten unter den Ordoliberalen vertritt: »infolge ihrer nur zerstörerischen Macht wirken sie [die Massen] gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung geschwächter Kör­ per oder Leichen beschleunigen«. Und zwar könnten gerade die Massen nur im Rahmen bestimmter Ordnungen überhaupt leben, doch »tendieren sie als Masse dazu, gerade die funktionsfähigen Ordnungen zu zerstören«.32 Auch für Röpke und Rüstow ist die »Vermassung« ein Schlüsselkonzept, aber während sie eine Reihe von sozialen Pathologien mit den Massen verbinden, sind sie weit­ aus weniger bereit zu behaupten, die Massen seien kognitiv nicht in der Lage, einen kohärenten oder zumindest halbwegs vernünftigen Willen auszubilden.33 Aber auch wenn Röpke eine solche »intel­ 30 Diese Einschätzung bestätigt sich auch im Denken Röpkes, der beklagt, dass »der monistische Staat der demokratischen Doktrin mehr und mehr zum plu­ ralistischen Staat der demokratischen Wirklichkeit wird«. Zwar führt er in der Folge eine Unterscheidung zwischen »zwei Arten des Pluralismus« ein, doch der »gesunde Pluralismus« beinhaltet kaum mehr als die Affirmation von Minderhei­ tenrechten gegenüber bestimmten Mehrheitsentscheidungen, wohingegen der »kranke Pluralismus« das bezeichnet, was ich hier als pluralistische Demokratie charakterisiert habe. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 206, 208. 31 Siehe etwa Eucken, »Strukturwandlungen«, S. 304. 32 Eucken, Grundsätze, S. 16, 14. 33 Siehe allerdings auch Alexander Rüstow, Die Religion der Marktwirtschaft, Müns­ ter 2009, S. 34.

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lektuelle Niveausenkung« nur der »Masse als akute[m] Zustand« attestiert, gehen von der Masse im »chronischen Zustand«, die er mit Verweis auf Ortega y Gassets Der Aufstand der Massen erörtert, dennoch gewisse Gefahren aus.34 Der entwurzelte und entfremdete ›Massenmensch‹ ist leichte Beute für Demagogie, Propaganda und Werbung und kann daher durchaus für gefährliche sozioökonomi­ sche Zwecke instrumentalisiert werden, insbesondere falls die Ver­ massung zum Dauerzustand wird. Zusammengefasst besteht unter demokratischen Bedingungen also eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu dysfunktionalem und sogar irrationalem politischen output kommt mit den entsprechenden Auswirkungen auf die out­ comes; im schlimmsten Fall wird die Demokratie so zum Katalysa­ tor für kollektivistische Transformationen. Ist aus ordoliberaler Perspektive die Irrationalität der Massen Teil des pluralistischen Problems, weil diese sich sogar dazu auf­ peitschen lassen, gegen ihre mutmaßlichen Eigeninteressen (bei­ spielsweise eine wohlgeordnete ökonomische Sphäre) zu agieren, bereitet der eher zeitgenössischen Version des Arguments gerade die Rationalität der Akteure Sorge, da sie letztlich zum Verfall plu­ ralistischer Demokratie führe. Gemeint ist das Theorem des rentseeking, das sich in seiner basalen Logik kaum von der ordoliberalen Argumentation unterscheidet, wobei allerdings der Staat hier nicht als Hüter des Allgemeinwohls erscheint und zudem die Gesamtan­ lage methodologisch strikter am Modell des Homo oeconomicus ausgerichtet ist. Das mittlerweile berühmt-berüchtigte Verhaltens­ modell des Homo oeconomicus wird uns im weiteren Verlauf noch beschäftigen, an dieser Stelle sollen nur kurz die Grundannahmen des rent-seeking-Theorems erläutert werden. Das theoretische Fundament von Buchanans Ansatz besteht nicht zuletzt im Homo oeconomicus, verstanden als rationaler Nutzenmaximierer, und der konsequenten Übertragung dieses Ver­ haltensmodells auf die Ebene von Politik und Verwaltung.35 Dar­ aus ergibt sich eine Konstellation, in der private Individuen und organisierte Interessen einen starken Anreiz haben, irgendeine Art 34 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 84 f. 35 Siehe zur Architektonik von Buchanans Ansatz auch seine Rede anlässlich der Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaft: James Buchanan, »The Constitution of Economic Policy«, in: American Economic Review 77 (1987), S. 243-250.

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von Sonderbehandlung oder Ausnahmeregelung für sich zu rekla­ mieren, da der individuelle Nutzen in vielen Fällen dann maximiert wird, wenn andere sich an Regeln halten müssen, die für uns selbst nicht gelten, und dementsprechend wendet man sich mit solchen Forderungen nach ›Renten‹ an das politische System. Auf der An­ gebotsseite dieses Rentenmarktes befinden sich unter demokrati­ schen Bedingungen Politiker, denen ein starkes Interesse an ihrer Wiederwahl unterstellt werden kann und die dementsprechend erhebliche Anreize haben, solche Renten im Tausch für Wahlun­ terstützung der entsprechenden Akteure anzubieten. Worin besteht nun das Problem dieses Marktes, an dem doch scheinbar Nachfrage und Angebot in einem allseits befriedigenden Gleichgewicht zuein­ anderfinden? Buchanan bringt zwei Kritikpunkte gegen die »Gesellschaft des rent-seeking« vor,36 die beide gleichermaßen wichtig sind für seine Sichtweise der Demokratie. Erstens ist das rent-seeking ein klassi­ scher Fall des Gegensatzes zwischen individueller und kollektiver Rationalität. Folgt man der grundsätzlichen Logik des Gefange­ nendilemmas, dann muss in einer Demokratie ein jeder (Kollek­ tiv-)Akteur davon ausgehen, dass andere Akteure Lobbying für ihre jeweiligen partikularen Interessen betreiben, was negative Aus­ wirkungen auf die anderen Akteure hat, wenn auch nur indirekt, nämlich dadurch, dass sie relativ gesehen schlechter gestellt wer­ den, wenn andere eine Vorzugsbehandlung erhalten. Handelt also jeder Akteur individuell rational, dann wird das Resultat in genau dem bestehen, was die Ordoliberalen so bitter beklagen, nämlich in einem politischen System, das von organisierten Interessen ge­ radezu belagert wird, die auf eine Verbesserung ihrer Position po­ chen. Offensichtlich ist diese Beschreibung immens anschlussfähig an den Diskurs über »Unregierbarkeit«, der sich zu einem äußerst wichtigen Topos in den neokonservativen Diskussionen der 1970er und frühen 1980er Jahre sowohl in Nordamerika als auch in Teilen Europas entwickelte.37 Eine unfügsame und renitente Bevölkerung, geprägt von den Ereignissen von 1968, der es an der Disziplin und 36 Siehe James Buchanan, Robert Tollison, Gordon Tullock, Toward a Theory of the Rent-Seeking Society, College Station 1980. 37 Siehe Michael Crozier, Samuel Huntington, Jofi Watanuki, The Crisis of De­ mocracy: Report of the Ungovernability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975; Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft, S. 267-279.

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Ich-Stärke mangelt, die frühere Generationen in der heroischen Ära des Kapitalismus noch für sich beanspruchen konnten, ver­ langt vom Staat immer mehr Zugeständnisse und ist immer we­ niger bereit, sich an die gesellschaftlichen Spielregeln zu halten.38 Aber einmal abgesehen von diesen dezidiert neokonservativen Interpretationen besteht das Problem für Buchanan darin, dass individuell rationales Verhalten zu Ergebnissen führt, die fast alle Beteiligten schlechter stellt als zuvor, denn selbst wenn bestimmte Akteure das erhalten, was sie gefordert haben, sind sie dennoch gegenüber allen anderen Akteuren benachteiligt, die ebenfalls er­ folgreich Lobbying für irgendeine Art von Rente betrieben haben. Gemäß einer strengen Anwendung der Logik rationaler Wahl stellt sich also heraus, dass sich alle Beteiligten beim Versuch, ihre eige­ nen Interessen bestmöglich zu verfolgen, letztlich doch nur selbst geschadet haben. Es ist wichtig herauszustreichen, dass sich die Argumentation in ihrer zentralen Stoßrichtung nicht gegen ein womöglich moralisch zu verurteilendes Eigeninteresse im Namen eines Allgemeininteresses richtet. Vielmehr verlangt die Logik der Situation, in der ja jeder annehmen muss, dass andere zugunsten ihrer Interessen Lobbying betreiben, auch selbst entsprechend tätig zu werden und den politischen Prozess zu beeinflussen, will man nicht durch die Besserstellung jener anderen selbst relativ schlech­ ter gestellt werden. Obwohl es allen Beteiligten eigentlich mehr Nutzen bringen würde, überhaupt kein Lobbying zu betreiben, verlangt die Rationalität danach, und sei es auch nur aus prophy­ laktischen Erwägungen. Das Ergebnis dieser Argumentation lautet also, dass eine De­ mokratie des generalisierten rent-seeking gewissermaßen ineffizient ist – obwohl dies streng genommen mit Bezug auf Ergebnisse für Buchanan keine wirklich aussagekräftige Kategorie ist39 –, und dies 38 Auch bei Buchanan finden sich stellenweise Einschätzungen der Entwicklungen der späten 1960er Jahre, die den Vorwürfen des Neokonservatismus durchaus ähneln: »Methoden, Manieren, Moral und Standards wurden leichtfertig auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. […] Die Demokratie schien nicht in der Lage zu sein, ihrer eigenen Exzesse Herr zu werden.« Buchanan, Musgrave, Public Finance, S. 22. 39 »[…] doch sollte sich das Effizienzkriterium auf die Bewertung des Prozesses selbst und nicht auf die Struktur der Endzustände und Ergebnisse beziehen.« James Buchanan, »Die Aufgabenstellung des Ökonomen«. 〈http://geb.uni-gies sen.de/geb/volltexte/2013/9534/pdf/GU_16_1983_2_S35_42.pdf〉.

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gilt umso mehr in dem Maß, indem sie sich dem uns bereits be­ kannten Modell des Leviathans annähert: einer Regierung, die ent­ schlossen und in der Lage ist, die Staatseinnahmen kontinuierlich auszuweiten, um den Überschuss zu erhöhen, der nach Abzug der Kosten für alle staatlich bereitgestellten öffentlichen Güter ver­ bleibt, um mit diesen diskretionär verfügbaren finanziellen Res­ sourcen jene Renten zu finanzieren, was unweigerlich eine exzessive Besteuerung der Bevölkerung nach sich ziehen wird. Enthält das erste Problem der rent-seeking-Demokratie eine ge­ radezu tragische Komponente, so gilt das nicht für dieses zweite: Buchanan geht es hier um Ausbeutung durch Externalisierung, die nichts mit Tragik zu tun hat. Aber wer genau beutet hier eigentlich wen aus? Zunächst sind es die individuellen und kollektiven politi­ schen Akteure, die die Steuerzahler ausbeuten. Buchanan stellt die staatliche Monopolmacht der Besteuerung radikal in Frage und ar­ gumentiert: Solange es keinen klar festgelegten Verwendungszweck gibt und die Bürgerinnen und Bürger nicht sicher sein können, dass das Geld auch zur Finanzierung von öffentlichen Gütern genutzt wird, unterscheidet sich Besteuerung nicht wesentlich von Enteig­ nung. Aber wie verhält sich dies zur Logik der Externalisierung? Eine Möglichkeit, die rent-seeking-Konstellation zu beschreiben, besteht in ihrer Interpretation als eine Abmachung zwischen wahl­ relevanten sozialen Kategorien und Organisationen sowie politi­ schen Parteien, in der Erstere bestimmten Renten im Gegenzug für Unterstützung und Wahlstimmen erhalten, die aber eigentlich immer mit bestimmten Kosten verbunden sind. Und es handelt sich um einen beiderseits profitablen Handel, insofern jene Kosten externalisiert werden können, indem sie der steuerzahlenden Be­ völkerung auferlegt werden. Angesichts dieser Ausführungen wird klar, dass die Rede von einer Tyrannei der Mehrheit als zentrales Problem von Demokratie zumindest mehrdeutig, wenn nicht sogar irreführend ist. Denn schließlich handelt es sich etwa laut Fried­ man bei einer parlamentarischen Mehrheit um »eine Mehrheit, die sich aus einer Koalition von Minderheiten zusammensetzt, die be­ sondere Interessen vertreten«,40 bis hin zu einzelnen Politikern, die sich gegenseitig nach dem Muster des do ut des die Generierung von Renten ermöglichen. 40 Friedman/Friedman, Tyrannei des Status quo, S. 81.

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Und welche nicht-parlamentarischen Gruppen profitieren am meisten vom rent-seeking? Auch hier ist es Friedman, der die Ant­ wort mit Verweis auf Mancur Olsens Argument in Die Logik kollektiven Handelns liefert. Kleingruppen und Minderheiten mögen grundsätzlich schwach erscheinen, aber im Zusammenhang mit Lobbying-Aktivitäten könnten sie sogar im Vorteil sein. Sie ver­ fügen über eine erheblich höhere Organisationsfähigkeit, weil sie tendenziell homogener sind, und zudem ist die Überwachung in­ dividuellen Verhaltens von Seiten der Gruppe wesentlich einfacher als in großen heterogenen Gruppen. Darüber hinaus gilt, dass der Gewinn, der sich aus erfolgreichem Lobbying ergibt, individuell umso höher ausfällt, je kleiner die Gruppe ist. Das Gleiche gilt umgekehrt für den Fall von politischen Reformen, die auf die Ab­ schaffung bestimmter ›Privilegien‹ abzielen: »[A]ber die betroffe­ nen Minderheiten hätten dann ein großes Interesse daran gehabt zu verhindern, daß die Mehrheit gut informiert wurde, und sie hätten es damit leichter gehabt als ihre Gegner.«41 Demokratie be­ deutet die Ausbeutung der vielen durch die wenigen, lautet die irri­ tierend marxistisch klingende erste Schlussfolgerung dieser Kritik. Bei Marx basierte Ausbeutung unter anderem auf einer Täuschung der Arbeiter, deren Lohn vermeintlich das Äquivalent ihrer Arbeits­ kraft darstellen sollte. Auch bei Buchanan geht Ausbeutung mit einer bestimmten Form der Täuschung einher, nämlich allgemei­ ner Besteuerung, und sie funktioniert umso besser, je größer die Bevölkerung ist, auf die die Kosten verteilt werden können, denn in diesem Fall werden schon kleinste Steueranhebungen, die für den Einzelnen zunächst kaum wahrnehmbar sein dürften, zu mas­ siven Einnahmeüberschüssen führen (was einen weiteren Grund für Buchanan darstellt, sich gegen jegliche Möglichkeit der supra­ nationalen Steuererhebung auszusprechen). Die Externalisierung der Kosten für Renten ist aber noch immer nicht das schwerwiegendste Problem zeitgenössischer Demokrati­ en, denn auch wenn minimal kleine Steuererhöhungen zunächst von den meisten nicht wahrgenommen werden, ist doch davon auszugehen, dass sich dies mit immer weiter wachsendem Steuer­ umfang irgendwann ändern wird und die Menschen sich nach dem Grund dafür fragen oder einfach den Regierungsparteien bei der 41 Ebd., S.  16.

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nächsten Wahl ihre Stimme vorenthalten. Die Regierung muss sich daher auf eine elegantere Form der Vertuschung von Renten-Kos­ ten verlegen, die ebenfalls eine Externalisierung beinhaltet, von der in diesem Fall vor allem die zukünftigen Generationen betroffen sind, die hier zum Opfer von Ausbeutung zu werden drohen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der reibungsloseste Weg der Ren­ ten-Finanzierung nicht die Besteuerung ist, sondern Haushaltsde­ fizite und öffentliche Schulden, womöglich in Kombination mit einer moderaten Inflation, die den realen Wert der Schulden, aber auch den realen finanziellen Wert der Renten diverser Gruppen reduziert. Die fehlende Repräsentation zukünftiger Generationen in ak­ tuellen demokratischen Entscheidungsprozessen stellt von jeher ein nicht zu unterschätzendes Problem für Demokratien dar. Der Grund dafür ist das Prinzip demokratischer Autonomie, das besagt, dass alle von einer Entscheidung Betroffenen auch in die entspre­ chenden Willensbildungsprozesse eingebunden sein müssen, und das unweigerlich durch Schuldenaufnahme, aber auch jede andere Entscheidung, die die Nachwelt betrifft, wie etwa die Nutzung von Atomenergie, verletzt wird. Buchanan würde aber vermutlich argu­ mentieren, dass es sich im Fall von Staatsschulden eben nicht um eine gelegentlich auftretende Ausnahme vom Autonomie-Prinzip handelt, sondern um eine systematische und kontinuierliche Praxis der Verschiebung von finanziellen Lasten auf zukünftige Genera­ tionen. Dies verweist auf eine letzte, fundamentale Schwäche von Demokratie, die im kurzen Zeithorizont ihrer Entscheidungen be­ steht. Trifft es tatsächlich zu, dass es für Politiker rational ist, in ers­ ter Linie die nächste anstehende Wahl im Blick zu haben und alle über diesen zeitlichen Horizont hinausgehenden Auswirkungen ihrer Entscheidungen radikal zu diskontieren, dann krankt die De­ mokratie notwendigerweise an einer Art Kurzfristigkeitssyndrom, das es ihr unmöglich macht, langfristig orientierte Politik zu ent­ wickeln und umzusetzen. Wir müssen hier gar nicht unbedingt auf die Staatsfinanzen verweisen, um die Bedeutung dieses Problems zu veranschaulichen, genauso gut ließe sich auch auf den Klimawan­ del und den Verlust von Biodiversität hinweisen, die beinahe unlös­ bare Probleme im Rahmen demokratischer Entscheidungsprozesse darstellen, so wie sie Buchanan beschreibt und analysiert – und für den Moment wird man festhalten müssen, dass die Empirie ihm 138

leider Recht zu geben scheint. Ob wir dies nun als eine bewusste Ausbeutung der Natur bzw. zukünftiger Generationen auffassen, denen mit unseren vergleichbare Lebensverhältnisse vorenthalten werden, oder als eine nur noch als tragisch zu bezeichnende Kurz­ sichtigkeit, die das aggregierte Resultat vermeintlich rationalen in­ dividuellen Verhaltens ist (denn schließlich ist die Diskontierung möglicher zukünftiger Ereignisse nicht gänzlich irrational, wenn man bedenkt, dass morgen ein Asteroid auf der Erde einschlagen könnte); fest steht, dass die Demokratie des rent-seeking in der Ten­ denz sowohl normativ als auch funktional bedenkliche Ergebnisse hervorbringt, zumindest solange ihrer leviathanischen Macht kei­ ne effektiven Grenzen gesetzt werden, worin die Verbindung zwi­ schen den beiden Polen dieser Diskussion besteht: Pluralismus und rent-seeking gibt es auch in ›begrenzten Demokratien‹, wie Hayek sie nennt. Umgekehrt kann eine Regierung zwar über prinzipiell unbegrenzte Macht verfügen, sie muss diese aber nicht einsetzen – zumindest ist dies ja die Hoffnung Hayeks. Aber die Kombination aus rent-seeking und unbegrenzter Regierungsmacht in einer De­ mokratie führt in eine Spirale von wachsenden Forderungen und dementsprechend wachsendem politischen Output. Man könnte dies zwar auch als Kennzeichen eines responsiven demokratischen Systems begreifen, aber die Neoliberalen sind überzeugt, dass es die diversen drastischen Folgen haben wird, die soeben skizziert wur­ den, und zwar nicht nur für Märkte und ihre Funktionsfähigkeit – auch wenn dies nach wie vor der Fokus der Kritik im Sinne der neoliberalen Problematik bleibt –, sondern auch für die Zukunft der Gesellschaft im globalen Maßstab. Wer sind die Schuldigen in den jeweiligen Ansätzen? Eucken und wohl auch in gewisser Weise Röpke würden argumentieren, dass es die Massen sind, die Demokratien in derart gefährliche und dysfunktionale Regierungssysteme verwandeln. Damit reihen sie sich ein in eine lange Tradition der konservativen Sorge über eine Art von Pöbelherrschaft oder, um es gewählter auszudrücken, Och­ lokratie. Dies ist aber nicht die zentrale Stoßrichtung der Kritik an demokratischen politischen Akteuren, denn der mehr oder weni­ ger stark ausgeprägte Elitismus von Eucken und Röpke suggeriert, dass die Massen in den meisten Fällen vor allem passive Objekte und nicht (revolutionäre) Subjekte politischer Projekte sind, wo­ mit sie sich in Übereinstimmung mit Elite-Theoretikern wie ihren 139

Zeitgenossen Vilfredo Pareto oder Gaetano Mosca befinden.42 Das eigentliche Problem sind die Interessengruppen aller Art, die den politischen Prozess zu ihren Gunsten zu beeinflussen versuchen. Gleichermaßen sind es die politischen Parteien, die entweder als parlamentarischer Arm von Lobby-Gruppen charakterisiert wer­ den oder als Kartell, das den Zugang zur politischen Willensbil­ dung monopolisiert hat und sich damit bis hinunter zum einzelnen Politiker in einer bestmöglichen Position befindet, um von der Pra­ xis des rent-seeking zu profitieren. Alle hier diskutierten Neolibera­ len sind sich in diesem Sinne einig, dass es vergleichsweise kleine Gruppen sind, die so profitieren, und zwar zuungunsten der gro­ ßen Mehrheit oder gar des Allgemeinwohls, um es im Vokabular der Ordoliberalen auszudrücken. Dies scheint mir ein durchaus nennenswerter Punkt zu sein, und zwar nicht nur, weil sich diese allgemeine Diagnose sehr leicht mit einem populistischen Anti-Establishment-Projekt vermitteln lässt, sondern auch, weil es in manchen Aspekten der Kritik an real exis­ tierender Demokratie aus dem linken Spektrum ähnelt. Natürlich liegt es nahe zu vermuten, dass die Neoliberalen ganz bestimmte Gruppen im Blick haben, wie etwa Bezieher von sozialpolitischen Transfers oder Minderheiten, denen eine Politik der bevorzugten Behandlung (affirmative action) Zugang und Inklusion ermögli­ chen soll, wenn sie davon sprechen, dass die Mehrheit zugunsten von Minderheiten übervorteilt wird. Eine generisch linke Kritik an politischen Parteien, die als Erfüllungsgehilfen der Industrie oder des Finanzsektors agieren, Unterregulierung für politische Unter­ stützung eintauschen und damit relativ kleinen, aber mächtigen Organisationen übermäßigen Einfluss auf den politischen Prozess gewähren, könnte aber meines Erachtens ohne größere Schwierig­ keiten auch im Idiom der neoliberalen Kritik am rent-seeking Aus­ druck finden. Allgemeiner gesprochen, es gibt ja kaum jemanden, dem der politische Einfluss von Lobby-Organisationen nicht pro­ blematisch erschiene, sei es nun auf der K-Street in Washington oder im Brüsseler EU-Regierungsviertel. Dies soll nicht bedeu­ ten, dass ich mich dieser kritischen Argumentationslinie in jeder 42 Siehe etwa: »Jede Gesellschaft wird von einer Führungsschicht geleitet. Sie zer­ fällt – um Paretos Darstellung zu benutzen – in eine führende Schicht A, die relativ klein ist, und eine viel breitere, geführte Schicht B.« Eucken, Grundsätze, S. 16 f.

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Hinsicht anschließe und sie normativ überzeugend finde, aber es erscheint mir doch zumindest schwierig, die zugrundeliegenden Bedenken als gänzlich haltlos beiseitezuschieben. Anders formu­ liert: Allein die Tatsache, dass die Kritik von Neoliberalen kommt, bedeutet nicht, dass sie falsch ist. Was allerdings selbst diejenigen nachdenklich stimmen müsste, die die Theorie(n) des Neoliberalis­ mus nicht dogmatisch ablehnen oder sogar mit ihnen sympathisie­ ren, sind die Vorschläge, die die Neoliberalen in Reaktion auf die normativen und funktionalen Defizite der Demokratie entwickeln, denen wir uns im Folgenden zuwenden.

Die Reform der Demokratie: Zwischen Einschränkung und Anreicherung Die erste von vier mehr oder weniger stilisierten Optionen, um mit den Problemen der Demokratie umzugehen, ist uns bereits vertraut, denn sie läuft auf den Versuch der Begrenzung staatli­ cher Politik und der Einhegung staatlicher Strukturen hinaus, die weiter oben diskutiert wurden: An allererster Stelle ist hier Hayeks Rechtsstaatsprinzip und Buchanans Verfassungszusatz zum Verbot von Haushaltsdefiziten zu nennen. Hayeks Vorstellungen wurden bereits im Hinblick auf bestimmte Aspekte problematisiert; aus einer demokratietheoretischen Perspektive besteht das Problem vor allem darin, dass er das Verhältnis von Volkssouveränität und Rechtsstaat als Nullsummenspiel konzipiert. In dem Maß, in dem sich Volkssouveränität zur Geltung bringt, tritt das Rechtsstaats­ prinzip in den Hintergrund, das Gleiche gilt umgekehrt. Diese Grundannahme macht es Hayek unmöglich, zumindest in Erwä­ gung zu ziehen, dass zwischen beiden Prinzipien womöglich kein Konflikt, sondern vielmehr ein Verhältnis gegenseitiger Ermög­ lichung besteht, wie beispielsweise Jürgen Habermas, aber auch andere argumentieren:43 Nur ein durch das Rechtsstaatsprinzip strukturierter Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbil­ dung kann tatsächlich als demokratisch bezeichnet werden, und nur diejenigen Regeln, die sich eine Bevölkerung selbst auferlegt 43 Jürgen Habermas, »Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie«, in: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996, S. 293-305.

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oder an deren Entstehung sie zumindest beteiligt war, können in dieser Lesart den Anforderungen der Volkssouveränität genügen. Es steht außer Frage, dass diese vermittelnde Neukonzeption auch ihre eigenen Probleme mit sich bringt, aber wie eingangs betont wurde, ist eine strikt immanente Kritik neoliberaler Vorstellungen, die den entsprechenden Referenzrahmen nicht hinterfragt, nicht ausreichend. Zumindest stellenweise müssen jene Positionen auch mit Alternativen konfrontiert werden, um in dieser Gegenüberstel­ lung die stillschweigenden Grundannahmen und daraus resultie­ renden blinden Flecken klarer herausarbeiten zu können. Problematisch an Hayeks Position ist aber nicht nur die gera­ dezu dichotomische Konzeptionalisierung des Verhältnisses von Rechtsstaatsprinzip und Volkssouveränität an sich, sondern vor al­ lem der Eindruck, dass er versucht, das eine zugunsten des anderen zu marginalisieren. Wie wir bereits wissen, behauptet Hayek von sich selbst, ein Verfechter des ›grundsätzlichen Ideals‹ der Demo­ kratie zu sein, aber es ist nicht ganz klar, was dieses Ideal eigentlich be­inhaltet angesichts seiner Bemühungen, eine Art Prokrustesbett für demokratisch legitimiertes Staatshandeln zu konstruieren. Zudem scheint seine Charakterisierung von »Demarchie«, also der normativ wünschbaren Form der Demokratie, verstanden als Gleichheit vor dem Gesetz, kaum etwas hinzuzufügen, das über die Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips hinausgeht. Im Gegensatz zu dem, was etwa für Habermas von entscheidender Bedeutung ist, um eine paternalistische Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips zu verhindern, spielen in diesem Ideal die Prozesse, aus denen die Isonomia hervorgeht, und das Maß, in dem Bürgerinnen und Bürger darin involviert sind, kaum eine Rolle. Blicken wir nun auf Buchanans Ideen zur Begrenzung von Schulden und Defiziten, welche zur Finanzierung von Renten ge­ nutzt werden, die natürlich um die verfassungstechnischen Vorkeh­ rungen zur Sicherstellung ausgeglichener Haushalte kreisen. Die potentielle Rigidität einer solchen Regel wurde bereits problema­ tisiert, aber aus demokratietheoretischer Perspektive bedürfen zwei weitere Punkte der Thematisierung. Öffentliche Schulden lassen sich als eine Verlagerung finanzieller Obligationen auf zukünftige Generationen interpretieren, die aber keinerlei Mitspracherecht bei dieser Entscheidung hatten, was auf ein Problem demokratischer Repräsentation verweist. Auf den ersten Blick erscheint dies auch 142

durchaus plausibel und kann nur allzu leicht Gegenstand einer Moralisierungsstrategie werden, wie der öffentliche Diskurs belegt, in dem unweigerlich immer wieder beklagt wird, dass wir durch Staatsschulden unseren ›Kindern und Kindeskindern‹ eine riesige Schuldenlast aufbürden – und wer könnte ein solch unmoralisches Verhalten gutheißen? Es geht hier keineswegs darum, die Bedeu­ tung öffentlicher Schulden zu trivialisieren; vielmehr ist es wich­ tig, eine Reihe von Relativierungen einzufügen, die daran zweifeln lassen, dass wir es tatsächlich mit einem normativ/moralisch ein­ deutigen Fall fehlender intergenerationaler Repräsentation zu tun haben. Zunächst gilt es, einen sehr grundlegenden Punkt festzuhal­ ten: Wo es Schulden gibt, da gibt es Gläubiger, die diese Schuldtitel besitzen. Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass ›un­ sere Kinder und Kindeskinder‹ nicht nur die öffentlichen Schulden erben; wir vererben ihnen auch mehr oder weniger vermittelt die Titel, die diesen Schulden entsprechen. Dadurch werden die Dinge erheblich komplizierter, denn nun geht es weniger um einen Generationen- als um einen Klassenge­ gensatz; aber damit nicht genug. Das Argument der Fehlrepräsen­ tation basiert auf dem folgenden Gedankengang: Nichtanwesende Personen in demokratischen Prozessen benötigen Fürsprecher, die deren Bedürfnisse und Interessen repräsentieren, doch im Fall von noch nicht existierenden Personen ist es schwierig, diese Interessen­ lage akkurat einzuschätzen. Was wir aber mit einiger Sicherheit ceteris paribus annehmen können, ist, dass sie es bevorzugen würden, nicht in irgendeine Art von Schuldknechtschaft hineingeboren zu werden. Aber wie so oft sind die ceteris eben auch nicht paribus, wenn es um die Frage von Schulden und zukünftigen Generatio­ nen geht, denn wenn jene es auch sicher grundsätzlich vorziehen würden, nicht mit Schulden belastet zu werden, ist doch fraglich, ob sich diese Haltung nicht ändern würde, wenn die Begrenzung staatlicher Schuldenaufnahme beispielsweise eine drastische Re­ duzierung der Investitionen in die öffentliche Infrastruktur impli­ zierte. Natürlich könnte Buchanan darauf erwidern, dass es keine Garantie gibt, dass das aufgenommene Geld auch tatsächlich in Infrastruktur investiert und nicht mächtigen Interessengruppen in Form von Renten zugeschanzt oder gar zum Zwecke einer ver­ schleierten keynesianischen Nachfragepolitik durch öffentliche In­ vestitionen eingesetzt wird. Es ist nicht gerade einfach, hier klare 143

Unterscheidungen zu treffen, denn Investitionen in die öffentliche Infrastruktur könnten all dies gleichzeitig sein, was auch der Grund dafür ist, dass es überaus schwierig ist, eine Ausnahmeregelung für öffentliche Investitionen so zu formulieren, dass die Schulden­ bremse dadurch nicht ausgehebelt werden kann.44 Zumindest lässt sich hier aber als Zwischenfazit festhalten, dass die vermuteten In­ teressen zukünftiger Generationen weniger eindeutig gelagert sind, als es zunächst den Anschein haben mag, denn das Interesse an Schuldenfreiheit muss mit einem ebenso plausiblen Interesse an einer funktionierenden Infrastruktur zum Ausgleich gebracht wer­ den – auf das selbst diejenigen, die sich die private Bereitstellung bestimmter infrastruktureller Leistungen und Güter leisten kön­ nen, in einem gewissen Maß angewiesen bleiben. Das zweite Argument, das zugunsten ausgeglichener Haushalte ins Feld geführt werden kann, bezieht sich auf die Implikationen für eine wirkliche Volkssouveränität. Was bedeutet schon demo­ kratische Autonomie, könnte Buchanan fragen, wenn die Möglich­ keit, eine Politik zu verfolgen, die die (Mehrheit der) Bevölkerung ausdrücklich wünscht, durch fehlende finanzielle Ressourcen be­ schnitten, wenn nicht gar unmöglich gemacht wird? Was wird aus dem vielbeschworenen demokratischen Selbstbestimmungsrecht, wenn es sogar noch schlimmer kommt und der drohende Staats­ bankrott Demokratien dazu zwingt, um die Hilfe des Weltwäh­ rungsfonds, der Weltbank oder der europäischen ›Troika‹ zu bitten, die an bestimmte Bedingungen gekoppelt ist, welche kaum ver­ handelbar sind und im Zweifelsfall sogar dann eingehalten werden müssen, wenn sich die betroffene Bevölkerung dagegen wendet? Dieser Punkt lässt sich offensichtlich nicht einfach beiseiteschie­ ben, schon allein deshalb, weil die jüngere Geschichte eine Vielzahl von Ländern aufweist, die mit mehr oder weniger schwerwiegen­ den Staatsschuldenkrisen zu kämpfen hatten beziehungsweise ha­ ben. Aber auch wenn ein exzessiver Schuldenstand mit einer ge­ wissen Wahrscheinlichkeit zu derartigen Krisen führt, so gilt dies doch keineswegs für Defizite und Schulden im Allgemeinen, die ja eher die Norm als die Ausnahme sind, wenn wir uns in der Welt umsehen, und so auch nicht per se demokratische Souveränität ein­ schränken. Abermals ist hier zu betonen, dass öffentliche Schulden 44 Siehe Buchanan, »Balanced Budget Amendment«, S. 132 f.

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nicht trivialisiert, wohl aber entdramatisiert werden sollen, damit sie nicht als vermeintliches Totschlagargument für die zwingende Notwendigkeit ausgeglichener Haushalte instrumentalisiert wer­ den können; wobei diese schuldenfreien Haushalte ja selbst aller Wahrscheinlichkeit nach demokratische Souveränität insofern kompromittieren würden, als dadurch dem Staat die notwendi­ gen finanziellen Ressourcen zur Verfolgung bestimmter politischer Projekte vorenthalten würden und stattdessen eher eine auf Dauer angelegte Politik der Austerität verfolgt werden müsste. Buchanan würde diese Schlussfolgerung vermutlich als vorschnell ablehnen, da seine Version der Schuldenbremse einzig festlegt, dass alle Aus­ gaben des Staates durch Einnahmen finanziert werden müssen und die offenkundige Alternative zu einer Sparpolitik in der Erhöhung von Steuern besteht. Dieser Hinweis ist allerdings wenig überzeu­ gend, stammt er doch von einem Public-Choice-Theoretiker, des­ sen zentraler Punkt ja darin besteht, dass es politischem Selbstmord gleichkommt, unter demokratischen Bedingungen offen Steuern zu erhöhen, was doch gerade zur Folge hat, dass Staatsausgaben vor allem durch Defizite und Inflation finanziert würden, da diese Formen der Finanzierung aufgrund ihrer weitaus diffuseren Kosten weniger leicht wahrnehmbar und damit aus politischer Perspektive auch weitaus attraktiver sind. Legt man Buchanans eigene Annah­ men zugrunde, dann läuft das Balanced Budget Amendment also de facto auf eine Politik der Austerität hinaus, die wiederum die demokratische Autonomie in ihrer finanzpolitischen Dimension empfindlich einschränkt. Der letzte hier zu entwickelnde Punkt baut auf dieser Schluss­ folgerung über die wahrscheinlichen Folgen des Amendments auf und betrifft die Frage, ob diese Materie tatsächlich auf Verfassungs­ ebene kodifiziert werden sollte. Welche Intention steht hinter der Forderung, eine bestimmte Norm in der Verfassung festzuschrei­ ben? Vor allem bezeichnet die Konstitutionalisierung einer Norm sicherlich einen Versuch der Entpolitisierung einer bestimmten Thematik, indem die entsprechende Regel auf der höchsten und dauerhaftesten Ebene juristischer Normen kodifiziert wird. Auch Verfassungsregeln sind natürlich Gegenstand von Kontroversen und unterschiedlichen Interpretationen – und dies gilt auch für eine Regel der ausgeglichenen Haushalte. Doch trotz aller Diskus­ sionen ist das Regelwerk für den Moment schlicht gegeben und 145

kann auch in den allermeisten Fällen nicht durch eine einfache parlamentarische Mehrheit oder gar eine Regierungsanordnung entfernt werden. In diesem Sinn ist seine Existenz zunächst einmal nicht mehr unmittelbarer Gegenstand demokratischer Kontestati­ on, und dementsprechend ließe sich argumentieren, dass Konsti­ tutionalisierung De-Kontestation bedeutet. Dies ist offensichtlich auch das Kalkül Buchanans und anderer, die die Forderung von entsprechenden Regeln aufstellen, die die öffentlichen Finanzen dem Zugriff demokratischer Politik zumindest in gewissem Maße entziehen wollen, damit sie nicht zu Zwecken des rent-seeking miss­ braucht werden. Der Erfolg einer solchen De-Kontestation hängt auch davon ab, ob eine bestimmte Thematik beziehungsweise die entsprechende Norm hinreichend unkontrovers und auf einer hin­ reichend hohen Allgemeinheitsebene formuliert ist. Hat das Bal­ anced Budget Amendment also das Potential zu einer erfolgreichen Entpolitisierung, die an diese Bedingungen geknüpft ist?45 Wie wir bereits wissen, argumentiert Buchanan, der rein forma­ le Charakter des Verfassungszusatzes würde sicherstellen, dass nicht etwa substanzielle Wirtschafts- und Finanzpolitik in die Verfassung geschrieben werden könne. Doch angesichts der durchaus plausi­ blen Vermutung, dass die Folge de facto Austeritätseffekte sein dürf­ ten, erscheint dies zweifelhaft. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Art von politischen Materien legitimerweise der demokra­ tischen Kontestation entzogen werden dürfen, weil die Alternative ein suboptimaler policy-Output wären. Eine der einflussreichsten diesbezüglichen Argumentationen stammt von Giandomenico Majone, der grundsätzlich zwischen regulativer und redistributiver Politik unterscheidet.46 Während Letztere offensichtlich Gewinner und Verlierer produziert, glaubt Majone, dass Erstere dadurch ge­ kennzeichnet ist, dass sie pareto-effiziente Lösungen produziert, etwa durch die Einführung gemeinsamer Produktstandards in ei­ nem Markt oder auch einer gemeinsamen Geld- und Währungspo­ litik, von der alle Beteiligten profitieren oder durch die zumindest niemand schlechter gestellt wird. Die entsprechenden Materien 45 Siehe zu diesen Fragen auch Thomas Biebricher, »Neoliberalism and Law: The Case of the Constitutional Balanced-Budget Amendment«, in: German Law Journal 17 (2016), S. 835-856. 46 Siehe Giandomenico Majone, »The Rise of the Regulatory State in Europe«, in: West European Politics 17 (1994), S. 77-101.

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können und sollten dem Zugriff majoritärer Institutionen entzogen werden, denn sie sind in diesem Sinn eben tatsächlich hinreichend unkontrovers. Das Problem des Balanced Budget Amendment be­ steht darin, dass es unmöglich ist, dieses Instrument als eine Art von regulatorischer Politik zu charakterisieren, da es eine Vielzahl von redistributiven Effekten nach sich zieht, und sogar jemand wie Majone, der einer sinnvollen Entpolitisierung ja durchaus offen gegenübersteht, würde zweifellos darauf hinweisen, dass es sich um eine Politik handelt, die dringend dauerhafter demokratischer Le­ gitimation bedarf und daher nicht aus dem Feld der Kontestation ausgegliedert werden darf. Im Kontext des europäischen Austeri­ tätsregimes als Folge der Eurozonenkrise werden wir noch einmal auf diese Thematik zurückkommen, nun wenden wir uns aber den übrigen neoliberalen Optionen zur Behebung der Unzulänglich­ keiten der Demokratie zu. Das Klischee des Neoliberalismus lautet, dass seine monotone Antwort auf die Probleme der Demokratie in der Forderung be­ steht, ihre Institutionen und Prozesse durch Marktkoordinierung zu ersetzen. Wir wissen bereits, dass dies mitnichten die einzige Antwort neoliberaler Denker ist, aber wie viele andere Klischees enthält auch dieses ein Körnchen Wahrheit. Tatsächlich lässt sich nämlich die These der Überlegenheit des Marktes gelegentlich durchaus im neoliberalen Denken finden, wenn sie auch sehr viel nuancierter ausbuchstabiert wird, als man es erwarten würde. Wir haben bereits die stärkste Positionierung hinsichtlich der Über­ legenheit der Märkte gegenüber der Demokratie kennengelernt, die von Friedman stammt und sich darauf gründet, dass Märkte vermeintlich Einstimmigkeit ohne Konformitätserfordernisse ver­ bürgten, wohingegen gerade das Gegenteil für die Demokratie gel­ te. Werfen wir nun einen genaueren Blick auf die entsprechenden Argumente. Eine Möglichkeit, die Vorzüge des Marktes herauszustreichen, besteht in dem Verweis auf seine Überlegenheit als Transmissi­ onsmechanismus von Präferenzen. Auf politischen Märkten wäh­ le man »fast immer ein Paket anstelle von bestimmten einzelnen Dingen«.47 Zudem sei es nicht möglich, gleichzeitig für eine Partei oder Person und eine andere zu stimmen, wohingegen man in ei­ 47 Friedman/Friedman, Chancen, die ich meine, S. 79.

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nem Markt seine finanziellen Ressourcen zum Kauf unterschiedli­ cher Produkte aufteilen könne. Vor allem aber besteht die Gefahr, dass man für die unterlegene Partei oder einen entsprechenden Kandidaten stimmt und damit in einer noch fundamentaleren Art und Weise nicht das erhält, was man eigentlich will, da man nun Teil einer Minderheit ist, wohingegen auf Märkten »ein Dollar nie überstimmt wird«.48 Abgesehen von diesen Punkten kann Demo­ kratie auch zu Entscheidungen führen, die aufgrund der Eigenhei­ ten des Entscheidungs- bzw. Wahlprozesses aus individueller Pers­ pektive als weniger rational gelten können. Diese Argumentation lässt sich mindestens bis zu Schumpeters realistischer Demokratie­ theorie zurückverfolgen und verweist auf die relative Bedeutung der einzelnen Stimme und die daraus resultierenden Anreize, eine wirklich gut informierte Entscheidung zu treffen. Schließlich ist der Wert einer einzelnen Stimme in einer Massendemokratie minimal, da es extrem unwahrscheinlich ist, dass es sich um die entscheiden­ de Stimme handelt. Angesichts dieser niedrigen Wertigkeit ist nicht davon auszugehen, dass jemand die ›Kosten‹ auf sich nimmt, sich hinreichend zu informieren, wird doch der Wert der Stimme da­ durch in keiner Weise erhöht – und warum sollten Leute angesichts dieser Anreizstruktur überhaupt wählen? Im Gegensatz dazu erfor­ dern Märkte Entscheidungen, und die entsprechende Verantwor­ tung fällt ganz allein dem Einzelnen zu; eine gut informierte Ent­ scheidung kommt also in vollem Umfang dem Individuum zugute, und die darin investierte Zeit »lohnt sich«.49 Zuletzt verweist etwa Buchanan auch auf die Defizite demokratischer Märkte im Hin­ blick auf die Kontrollierbarkeit der ›Produzenten‹ und die Möglich­ keit der Bürgerinnen und Bürger, diese zur Rechenschaft zu ziehen, da »politischer Wettbewerb diskontinuierlich« sei, wohingegen der Markt ein ununterbrochenes Tribunal darstelle.50 Es scheint also, als ob die Befürwortung des Marktes als die bessere Demokratie unmittelbar aus der Kontrastierung zweier Koordinationsmechanismen folge. Doch obwohl Friedman Markt­ koordination gegenüber minderheitsproduzierender Demokra­ tie bevorzugt, ist er der Meinung, dass es Fragen gibt, bei denen 48 James Buchanan, »Individual Choice in Voting and the Market«, in: Journal of Political Economy 62 (1954), S. 334-343. 49 Ebd., S.  337. 50 James Buchanan, Constitutional Economics, Blackwell 1991, S. 97.

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›Konformität‹ von essentieller Bedeutung sei; und »deshalb ist es wünschenswert, daß man die Wahlurne nur für Entscheidun­ gen benutzt, bei denen Konformität notwendig ist«.51 Im Falle Buchanans, der den systematischsten Vergleich beider Entschei­ dungskontexte vornimmt, schlagen all die oben erwähnten Punk­ te ebenfalls zugunsten des Marktes zu Buche, aber seine Analyse enthält auch einige Warnungen im Hinblick auf Marktentschei­ dungen, von denen man nämlich nicht erwarten dürfe, dass sich in ihnen eine »größere soziale Rationalität« realisiere.52 Und auch eine umfassende Verschiebung von Entscheidungen in den Bereich des Marktes wird von Buchanan nicht befürwortet.53 Stattdessen erwägt er eine Reihe von Gründen, warum bestimmte Materien im einen statt dem anderen Kontext entschieden werden sollten, wobei er mit Blick auf Demokratie festhält, dass »die Entscheidung über die Stimmabgabe dem Einzelnen ein stärkeres Gefühl der Partizipation in sozialen Entscheidungsprozessen vermittelt und so möglicherweise das ›Beste‹ im Menschen hervorbringt und in der Tendenz dazu führt, dass Individuen das öffentliche Interesse stär­ ker mit in Betracht ziehen«.54 Dies ist eine überraschend positive Einschätzung der ›republikanischen‹ Aspekte demokratischen Ent­ scheidens, aber wie wir noch sehen werden, wäre es zu einfach, dies allein darauf zurückzuführen, dass hier der junge Buchanan aus dem Jahr 1954 spricht, dessen Urteil noch nicht durch den radika­ len Realismus der Public-Choice-Theorie ernüchtert ist. Jedenfalls ist für den Moment festzuhalten, dass die neoliberale Bewertung der jeweiligen Vorzüge von Markt und Demokratie nuancierter als erwartet ausfällt. Fast nirgends in den Schriften der hier disku­ tierten Theoretiker findet sich die unumwundene Forderung nach einer weitestgehenden Ersetzung demokratischen Entscheidens durch Marktprozesse, obwohl die entsprechenden Gegenüberstel­ lungen dies stellenweise doch nahezulegen scheinen. 51 Friedman/Friedman, Chancen, die ich meine, S. 80. 52 Buchanan, »Individual Choice«, S. 341. 53 Allerdings findet sich die Forderung implizit an anderer Stelle etwa dreißig Jahre später: »Der Grad der Freiheit wird ausgedehnt, wenn die Tauschbeziehungen so erweitert werden können, daß sie die Gebiete der Interaktion, die vorher durch Zwangsbeziehungen geregelt waren, mit einbeziehen […].« Buchanan, Aufgabenstellung des Ökonomen, S. 40 54 Ebd.

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Sehen wir uns nun das Argument etwas genauer an, um her­ auszufinden, was es uns über die impliziten Annahmen bezüglich Wesen und Bedeutung von Demokatie verrät. Der offensichtliche Punkt, der hier als Erstes im Hinblick auf den Markt als vermeint­ lich perfektere Demokratie zu vermerken ist, lautet, dass er trotz aller von den Neoliberalen verzeichneten Vorzüge einer Grund­ anforderung der Demokratie nicht genügt, nämlich politischer Gleichheit. Neoliberale befürworten typischerweise nur bestimmte Formen von Gleichheit, beispielsweise die vor dem Gesetz; aber die Vorstellung (formaler) demokratischer Gleichheit – eine Person, eine Stimme – wird nur sehr selten grundsätzlich in Frage gestellt.55 Deshalb ist es umso überraschender, dass jemand wie Friedman, der ganz offensichtlich versucht, zugunsten des Marktes zu argu­ mentieren (mit allen Relativierungen, die wir bereits festgehalten haben), es noch nicht einmal für nötig hält, das Problem zu erwäh­ nen, dass Kaufkraft als ökonomisches Äquivalent des Stimmrechts überaus ungleich verteilt ist. Es versteht sich zwar von selbst, dass politische Gleichheit schon immer und auch noch heute (womög­ lich wieder mehr als vor einigen Jahrzehnten) eine Fiktion darstellt, die systematisch Lobbying, Parteispenden und viele andere Phä­ nomene in zeitgenössischen Demokratien ausblenden muss. Aber immerhin gibt es ein grundsätzliches Bekenntnis zur Vorstellung, dass jede Stimme in einer Wahl den gleichen Wert haben sollte, und auf ökonomischen Märkten gibt es in dieser Hinsicht nichts Vergleichbares. Im Gegensatz zu Friedman gibt es aber andere Neoliberale, die diesen fundamentalen Unterschied durchaus zur Kenntnis nehmen, wie etwa Röpke, der zwar zunächst mit allem Nachdruck das »›plébiscite de tous le jour‹, in dem jeder vom Kon­ sumenten ausgegebene Schilling einen Stimmzettel repräsentiert«, befürwortet, aber unmittelbar darauf auch auf den »Nachteil […] der sehr ungleichen Verteilung der Stimmzettel« hinweist.56 Und in Ansätzen wird sogar auf die Möglichkeit eingegangen, dieses Pro­ blem durch die Umverteilung der Stimmzettel anzugehen oder, wie es Buchanan formuliert, durch eine Veränderung in der »Macht­ struktur« von Märkten.57 Weder Röpke noch Buchanan verfolgen 55 Die einzige diesbezügliche Ausnahme ist Hayeks »Modellverfassung«, auf die wir weiter unten zurückkommen. 56 Röpke, International Economic Disintegration, S. 253. 57 Buchanan, »Individual Choice«, S. 341.

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diese Thematik aber systematisch weiter, was auch nicht sonderlich überraschend ist, würde es sie doch unweigerlich in die Richtung eines Programms massiver ökonomischer Umverteilung weisen. Offenbart die Option des Marktes als ein Lösungsansatz für die Probleme der Demokratie also bereits gemäß den Standards der Neoliberalen selbst einige Mängel, so müssen hier noch zwei weitere Punkte hinzugefügt werden. Erstens gibt es im Vergleich von Demokratie und Markt eine gewisse Schieflage zugunsten des Letzteren, weil von einer bestimmten Form der Demokratie auf die Demokratie im Allgemeinen extrapoliert wird. Man nehme etwa das Beispiel der Unteilbarkeit der Stimme, die Bürgerinnen und Bürger dazu zwinge, ihr gesamtes politisches Kapital für eine einzi­ ge Option einzusetzen. Es gibt heutzutage nicht nur im deutschen Kontext beispielsweise eine Vielzahl von kommunalen Wahlsyste­ men, die eine Stimmenteilung und auch den Ausdruck von Inten­ sitäten ermöglichen (das berühmte Kumulieren und Panaschieren). Darüber hinaus sind die Stimmen für den Unterlegenen in einer Wahl natürlich nur in einem reinen Mehrheitswahlsystem verlo­ ren beziehungsweise dann, wenn der Stimmenanteil einer Partei in einem Verhältniswahlsystem unterhalb einer etwaigen Sperrklausel verbleibt. Abgesehen von diesen beiden Fällen können Elemente eines Verhältniswahlsystems durchaus die variierenden Präferenzen innerhalb des Elektorats zumindest in einem bestimmten Rahmen abbilden.58 Und selbst Koalitionsregierungen mögen auf der einen Seite problematisch erscheinen, da sie womöglich den Prozess der Präferenz-Transmission verzerren, auf der anderen Seite können sie für manche Wählerinnen und Wähler den positiven Effekt haben, dass diese sozusagen zwei Güter (in diesem Fall Parteien) zum Preis von einem kriegen, um es in der Sprache des Handels auszudrü­ cken. Kurz, die Charakterisierung demokratischer Märkte, wie sie sich im neoliberalen Schrifttum findet, mag den empirischen 58 Doch eine zu starke Betonung des Verhältniswahlrechts könnte wiederum zu einer Zersplitterung der politischen Kräfte und damit pluralistischer Fragmen­ tierung führen: »Freilich muß dafür gesorgt sein, daß sich die in der Regierung gipfelnde politische Willensbildung des Staatsvolkes einheitlich und in klar erkennbarer Verantwortlichkeit vollzieht. Jedenfalls ist nur so auf dem Boden moderner freiheitlicher Demokratie eine Überwindung des Pluralismus möglich. […] Das hierfür geeignetste Wahlrecht ist das einfache Mehrheitswahlrecht eng­ lischen Musters.« Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, S. 182 f.

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Merkmalen des britischen Parlamentarismus und des amerikani­ schen Präsidentialismus angemessen sein, aber sie ist keineswegs repräsentativ für alle demokratischen Märkte, die ja beispielsweise auch durch institutionalisierte Machtteilung gekennzeichnet sein können, für die sich in der englischen Fachsprache der Begriff des consociationalism etabliert hat. Der letzte Punkt betrifft zwei weitere Annahmen bezüglich des­ sen, was Demokratie grundsätzlich bedeutet, die in der dem Markt zugeneigten Gegenüberstellung zwischen ihm und demokratischen Verfahren verborgen sind. Die erste lautet, dass die Qualität der Demokratie in dem Maß zunimmt, in dem Präferenzen akkurater übermittelt werden, und so die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass die einzelne Bürgerin auch tatsächlich das erhält, was ihren Präferenzen entspricht. Das Schlimmste, was aus neoliberaler Per­ spektive in einer Demokratie passieren kann, ist, dass Bürger über­ stimmt werden und so nicht das kriegen, was sie wollen. Nur unter der Voraussetzung, dass man dies als die alles entscheidende Frage der Demokratie darstellt, kann der Markt in derart hellem Licht erstrahlen, denn dort kriegen wir immer genau das, was wir wol­ len – gesetzt den durchaus voraussetzungsreichen Fall, dass unsere Präferenzen auch wirklich durch unsere Kaufkraft gedeckt sind. Sich in einer unterlegenen Minderheit wiederzufinden, ist beileibe keine Kleinigkeit, denn innerhalb bestimmter Grenzen kann eine von einer Mehrheit gestützte Regierung schließlich sogar Zwang anwenden, um den Rechtsgehorsam der Minderheit sicherzustel­ len. Meines Erachtens liegt aber der neoliberalen Minorisierungs­ angst die Vorstellung demokratischer »Politik als Raubtierhaltung« zugrunde, wie es Benjamin Barber einst bezeichnete: eine Vorstel­ lung, die dominiert wird von der beständigen Sorge, die Bürge­ rinnen und Bürger auf Abstand voneinander zu halten, anstatt sie auf fruchtbare Weise zusammenzubringen.59 Die Demokratie gilt daher immer in erster Linie als Gefahrenquelle und nur selten als ein Kontext der Kooperation, in der es auch um die Förderung gegenseitigen Verstehens geht sowie darum, etwas über uns selbst und andere zu lernen, indem sich bisweilen auch unsere Vorstellun­ gen im Laufe eines demokratischen Prozesses wandeln. Es könnte 59 Benjamin Barber, Starke Demokratie. Über Teilhabe am Politischen, Berlin 1994, S. 67.

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dann sogar sein, dass sich die Realisierung unserer ursprünglichen Präferenzen gar nicht als einzig wichtige Frage in einer Demokratie erweist; stattdessen könnte es sich herausstellen, dass Demokratie mindestens genauso wichtig ist als ein Kontext der Entdeckung und Neuinterpretation jener Präferenzen im Austausch mit ande­ ren.60 Hier handelt es sich um ein umfassenderes Demokratiever­ ständnis, das republikanischer und/oder deliberativer ausgerichtet ist, und trotz der unbestreitbaren Probleme und Schwierigkeiten, die sich mit diesen demokratietheoretischen Traditionen ihrerseits verbinden, ermöglicht es uns doch immerhin, die Limitierungen der neoliberalen Demokratievorstellungen ans Licht zu bringen, die in ihren grundlegenden Annahmen wurzeln. Wenden wir uns nun der dritten Lösungsvariante zu, die man als die semi-autoritäre zusammenfassen könnte. Dieser Ansatz kon­ zentriert sich offensichtlich auf die Dysfunktionalitäten, die sich aus dem mutmaßlich die moderne Demokratie prägenden Pluralismus ergeben, und verbindet sich vor allem, aber nicht ausschließlich mit den Ordoliberalen, deren Vorstellungen eines starken Staates wir bereits kennen. Die wiederkehrenden Motive sind hier die Un­ abhängigkeit und Einheitlichkeit des staatlichen Willensbildungs­ prozesses, und selbst wenn man hier nicht sofort auf eindeutig anti­ demokratische Implikationen schließen sollte, liegt doch recht klar auf der Hand, dass es um eine Entpluralisierung der Demokratie geht. Abgesehen von dieser allgemeinen Vorstellung findet sich bei Eucken und Röpke allerdings nicht viel Spezifisches zur Frage, wie genau eine weniger pluralistische Demokratie, die besser gegenüber gesellschaftlichen Interessen abgeschirmt wäre, aussehen würde be­ ziehungsweise aussehen sollte. Eine etwas genauer ausgearbeitete Möglichkeit findet sich jedoch bei Hayek, dessen Denken bekannt­ lich auch bisweilen semi-autoritäre Tendenzen enthält. Vor allem in den Schriften der 1970er und frühen 1980er Jahre präsentiert sich ein immer desillusionierter wirkender Hayek, des­ sen zunehmende Frustration mit Blick auf real existierende »›Scha­ cher-Demokratien‹«, die er für »das Scheitern des demokratischen 60 Tatsächlich erwähnt auch Hayek die möglichen Lerneffekte, die sich aus demo­ kratischen Arrangements ergeben können, doch wie Gamble zu Recht festhält, verfolgt Hayek diesen Punkt nicht weiter. Siehe Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 141 f.; Andrew Gamble, Hayek: The Iron Cage of Liberty, Cambridge 1996, S. 95.

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Ideals« verantwortlich macht, kaum zu übersehen ist.61 Im dritten Band von Recht, Gesetzgebung und Freiheit entwickelt er nun eine »Modellverfassung«, die die von ihm monierten Pathologien real existierender Demokratien überwinden soll. Hayeks Vorschlag ba­ siert im Kern auf einer strengen institutionellen Gewaltenteilung und bleibt damit seinen seit langer Zeit vertretenen Vorstellungen zum Rechtsstaatsprinzip treu. Wir wissen bereits, dass für Hayek ein beträchtlicher Teil des Problems in der Konfusion der Aufga­ benverteilung besteht, die sich an Parlamenten ablesen lässt, die sowohl exekutive als auch legislative Funktionen wahrnehmen. In seiner Modellverfassung wird daher zunächst eine strenge Tren­ nung zwischen einer Regierungskammer und einer genuin legis­ lativen Kammer festgeschrieben. Die Mitglieder Ersterer werden nach den bestehenden Regeln der Wahlsysteme und den Konventi­ onen der Parteiendemokratie gewählt, wobei es hier allerdings be­ reits eine gewichtige Einschränkung gibt, die weiter unten erläutert wird. Es ist jedoch die Gesetzgebungskammer, die in erster Linie das transformative Potential von Hayeks Vorschlag beinhaltet: Sie soll zusammengesetzt sein aus lebenserfahrenen Bürgerinnen und Bürgern, die für eine relativ lange Zeit (fünfzehn Jahre) und ohne Möglichkeit der Wiederwahl gewählt werden, wobei ihnen aber nach Ablauf ihrer Amtszeit eine lebenslange Beschäftigung in einer nicht-politischen staatlichen Stelle garantiert wird. Hayek fordert des Weiteren spezielle Wahlregeln für diese Kammer, deren Auf­ gabe darin besteht, nomoi zu verabschieden, also abstrakte Regeln gerechten Verhaltens, die auch für die Regierungskammer bindend sind. Sein Vorschlag lautet, dass die Wahlen auf der Basis von Al­ terskohorten stattfinden sollen, was bedeutet, dass alle Fünfund­ vierzigjährigen fünfzehn Bürgerinnen und Bürger aus ihrer Mitte wählen, die dann die fünfzehn Sechzigjährigen ersetzen, die jedes Jahr aus der Kammer ausscheiden. Im folgenden Jahr findet das gleiche Prozedere unter denen statt, die dann das Alter von fünf­ undvierzig Jahren erreicht haben werden. Versuchen wir zunächst, das Kalkül Hayeks zu verstehen, bevor wir die sich daran anschließenden Bedenken thematisieren. Besteht das Problem parlamentarischer Demokratie aus der Kombination von Interessengruppen, die legislative Sonderbehandlungen verlan­ 61 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 405, 404.

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gen, und Politikern, die sich bei der Sicherung ihrer Wiederwahl­ chancen insbesondere auch darauf verlegen, diesen Forderungen zu entsprechen, dann muss diese toxische Interessengemeinschaft in irgendeiner Art und Weise aufgebrochen werden. Wir wissen be­ reits einiges darüber, wie Hayek die Lage der Dinge in unbegrenz­ ten Demokratien interpretiert, und bis jetzt konzentrierte sich sein Lösungsansatz auf die Durchsetzung eines bestimmten Gesetzesbe­ griffs, dessen Allgemeinheit es unmöglich machen würde, Grup­ pen oder Individuen durch eine Ungleichbehandlung Vorteile zu verschaffen (oder sie nachteilig zu diskriminieren). Aber nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeiten bei der Operationalisierung und Anwendung dieses Kriteriums der Allgemeinheit, die Hayek ja sehr wohl bewusst waren, führt er nun eine zusätzliche Sicherheits­ vorkehrung ein, die auf der Grundlage einer veränderten Anreiz­ struktur funktionieren soll: Da eine Wiederwahl unmöglich und die zukünftige Beschäftigung garantiert ist, gibt es wenig Anreize, Gesetze zu verabschieden, die parteiisch zugunsten einer bestimm­ ten Lobby-Gruppe sind. Jene Gruppen mögen zwar weiterhin ver­ suchen, die Mitglieder der Legislative zu beeinflussen, aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird ihnen dies nun weitaus schwerer fallen, zumindest scheint dies die Hoffnung zu sein, die Hayek mit seinem Vorschlag verbindet. Wahlen auf der Grundlage von Alterskohorten sorgen nicht nur dafür, dass es keine Abgeordneten der Legislative unter fünfund­ vierzig gibt, sie haben in Hayeks Entwurf auch eine entpluralisie­ rende Funktion. Schließlich sind die Hauptübeltäter des Pluralis­ mus die Vertreter von Interessengruppen, Politiker und Parteien, die als der parlamentarische Arm ersterer agieren, folgt man etwa der ordoliberalen Diagnostik. Hayek stellt sich vor, dass jede Al­ terskohorte Clubs mit lokalen Dependancen haben wird, in denen sich beispielsweise der ›Jahrgang von 1984‹ regelmäßig treffen kann, bis dann jemand aus seiner Mitte gewählt wird. In diesen Clubs sollen soziale Konfliktlinien so weit wie möglich neutralisiert und die Gründung von politischen Parteien verhindert werden: »Soll­ ten sie [die Clubs] gelegentlich auch Schauplatz von Parteidiskus­ sionen werden, so hätten sie den Vorteil, daß Leute, die verschie­ denen Parteien zuneigen, zu gemeinsamer Diskussion der Fragen bewogen würden – wobei ihnen bewußt würde, daß sie gemeinsam die Aufgabe hätten, die Ansichten ihrer Generation zu vertreten und 155

sich für einen möglichen späteren Dienst an der Öffentlichkeit zu qualifizieren.«62 Idealerweise würden die Mitglieder der Legislative sich dann nicht als Repräsentanten sozialer Konfliktlinien verste­ hen, wie es für Parteipolitiker typisch ist, sondern einzig als Ver­ treter ihrer Alterskohorte, was eine tiefgehende Entpolitisierung der Kammer im Sinn pluralistisch-demokratischer Politik zur Fol­ ge hätte oder, in Hayeks eigenen Worten, eine »Entthronung der Politik«.63 Wie ist dieses Modell zu bewerten? Es sind vor allem zwei Punk­ te, die zu diskutieren sind. Wie groß sind erstens die Erfolgschan­ cen einer Entthronung der Politik beziehungsweise dessen, was ich als Entpluralisierung von Demokratie bezeichnen würde? Hier gibt es eine Reihe von offenen Fragen, die vor allem das Verhält­ nis beider Kammern sowie die vermuteten Effekte einer strikten Gewaltenteilung betreffen. Während sich manche Kommenta­ toren besorgt zeigen, dass die nomoi zu einem Prokrustesbett für die Regierungskammer werden, indem sie die Steuerungsfähigkeit des Staates radikal einschränken, halten andere den umgekehrten Effekt für wahrscheinlicher: einen nomos, der zu abstrakt und for­ mal ist, um tatsächlich als effektive Schranke diskretionären Regie­ rungshandelns zu fungieren, da der Regierungskammer notwendi­ gerweise viel zu viel Interpretations- und Anwendungsspielraum im Umgang mit diesen Normen eingeräumt werden muss. Darüber hinaus ist unklar, ob die Zuweisung bestimmter Materien zu der einen oder der anderen Kammer tatsächlich so eindeutig gelingt, selbst wenn man, wie Hayek, die Existenz eines obersten Gerichts­ hofs voraussetzt, der diesbezüglich im Zweifelsfall entscheiden soll.64 Die meisten dieser Punkte sind letztlich auf eine Inkonsis­ tenz im Kern von Hayeks Argumentation zurückzuführen. Er ver­ sucht, die Legislative gegen jegliche partikularistische Einflussnah­ me abzuschirmen, damit ihre Mitglieder Gesetze formulieren und verabschieden können, die tatsächlich allgemein sind, was Richard Bellamy mit Verweis auf John Grays einflussreiche Hayek-Lektüre als Erfordernis einer kantianischen Überprüfung der Verallgemein­ erbarkeit einer bestimmten Norm etc. interpretiert. Damit aber der 62 Ebd., S. 423 f., meine Hervorhebung. 63 Ebd., S. 434. Siehe hierzu auch Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft, S. 307324. 64 Siehe dazu Raymond Plant, The Neo-Liberal State, Oxford 2009.

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»kantianische Test auf Universalisierbarkeit allgemein akzeptable und auch hinreichend bestimmte Ergebnisse hervorbringt, muss notwendigerweise eine Vorstellung des Gemeinwohls unterstellt werden, das die Mitglieder der Gemeinschaft teilen«.65 Einerseits ist dies eine Schlussfolgerung, die kaum überraschender sein könnte, denn die Vorstellung eines wie auch immer gearteten Allgemein­ wohls ist den Neoliberalen im Allgemeinen ein Gräuel und Hayek im Besonderen, der ja schließlich die Diversität individueller Prä­ ferenzen zur empirisch normativen Trumpfkarte seiner Kritik des Sozialismus gemacht hatte. Und doch ist es auch nicht ganz so überraschend angesichts von Hayeks Bemühungen, ›verzerrende‹ Einflussnahmen von der Legislative fernzuhalten, die von seiner »Verbannung der Fraktionen im Geiste Rousseaus«66 aus der Le­ gislativkammer bis hin zum Entzug des Wahlrechts all jener zur Wahl der Regierungskammer reicht, die staatliche Leistungen oder Transferzahlungen erhalten – was ein großer Teil der Wahlbevölke­ rung sein könnte und auch Hayek selbst betroffen hätte, während er als Professor einer öffentlich finanzierten Universität tätig war.67 Dieser Wahlrechtsentzug in Verbindung mit der Schrumpfung des aktiven Rechts zu Wahl der Legislative auf eine einzige Stimme, die im Alter von fünfundvierzig Jahren abzugeben ist, zieht typi­ scherweise die schärfste Kritik der Kommentatoren auf sich, wobei aber festzuhalten ist, dass beides durchaus stimmig im Hinblick auf Hayeks Vorstellung einer Demarchie ist, also der Gleichbehand­ lung durch das Gesetz (innerhalb der gleichen juristischen Kate­ gorie), und natürlich darf auch nicht vergessen werden, dass Rest­ riktionen, was aktives und passives Wahlrecht angeht, nicht per se antidemokratisch sind. Aber selbst wenn man zugunsten mancher Aspekte von Hayeks Vorschlag anführen wollte, dass sie derselben Logik wie bestehende Einschränkungen (wie etwa Volljährigkeits­ anforderungen) folgen und diese nur radikalisieren, wird doch mit anderen Aspekten ein Ziel verfolgt, das kaum in größerer Span­ nung zu seiner eigenen normativen Epistemologie stehen könnte, 65 Richard Bellamy, »›Dethroning Politics‹: Liberalism, Constitutionalism and De­ mocracy in the Thought of F. A. Hayek«, in: British Journal of Political Science 24 (1994), S. 419-441, hier S. 432. Siehe auch John Gray, Freiheit im Denken Hayeks, Tübingen 1995. 66 Bellamy, »›Dethroning Politics‹«, S. 432 f. 67 Siehe Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 425 f.

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und zwar durch den Versuch, ein gewisses Maß an Homogenität innerhalb der Legislative zu gewährleisten. Hayek mag nicht aus Prinzip autoritär gewesen sein, und trotz des Verweises auf die Ho­ mogenität des Gesetzgebers sollten die Parallelen zu Schmitt auch nicht überbewertet werden, aber seine Vorstellung einer ModellDemokratie ist mindestens zutiefst antipluralistisch, und die damit verbundenen Annahmen und Implikationen stehen im Gegensatz zu seinen eigenen Grundüberzeugungen. Die letzte Variante im Umgang mit den Defiziten der Demo­ kratie ist vermutlich die überraschendste, vor allem angesichts der insgesamt äußerst kritischen Position, die das neoliberale Denken über fast all seine Variationen hinweg gegenüber der Demokratie vertritt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und mit mehr oder weniger starkem Nachdruck. Konkret lautet der Vorschlag, mehr direktdemokratische Elemente, insbesondere Referenden, einzuführen. Allgemeiner gesprochen ließe sich formulieren: Wenn die soeben erläuterte Option die semi-autoritäre war, dann ist die vorliegende die populistische Option, um die Pathologien repräsen­ tativer Demokratie zu überwinden oder doch zumindest in ihren Auswirkungen zu mildern. Sogar Hayek spricht sich, wenn auch sehr am Rande, zugunsten von Referenden aus, die als »Ergänzung«« zur richterlichen Überprüfung von Gesetzen in seiner Idealvorstel­ lung eines politischen System in Die Verfassung der Freiheit fungie­ ren könnten, nämlich mit einem »Anruf an das ganze Volk, über die Frage des allgemeinen Prinzips zu entscheiden«.68 Bei weitem am positivsten äußert sich aber Buchanan zu Referenden, und zwar nicht zuletzt in einem Papier, das er während eines Forschungsauf­ enthalts verfasste, den er bezeichnenderweise in der Schweiz hatte. Konkret heißt es hier: »Direkte Demokratie führt zu einer Redu­ zierung der Gesetzgebung zugunsten von Sonderinteressen, die zunehmend zum Kennzeichen moderner indirekter Demokratien wird.« In ihr »kann nie die Furcht vor einer quasi-permanenten Ge­ setzgebungs- oder Politikerklasse entstehen, die sich aus Amtsinha­ bern zusammensetzt, die sehr geschickt darin sind, die Interessen jener Gruppen zu manipulieren, welche eine Sonderbehandlung von der Regierung fordern, welche wiederum die Quelle massiver Renten für die Mitglieder dieser Klasse sind«.69 Man muss sich in 68 Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 262. 69 Buchanan, »Direct Democracy«, S. 238.

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Erinnerung rufen, dass es in erster Linie partikularistische Organi­ sationen wie politische Parteien oder Lobby-Gruppen sind, die in den Augen der Neoliberalen die Verantwortung für die Dysfunk­ tionalitäten der Demokratie tragen. Dementsprechend erscheint der Versuch, diese Organisationen zu umgehen und eine direkte Verbindung zwischen Wahlbevölkerung und Regierung herzustel­ len, eine durchaus plausible Strategie (und diese Stoßrichtung der Argumentation verbindet sie mit den antipluralistischen Strategien, die weiter oben diskutiert wurden) – wenn auch sicher nicht für Eucken und Röpke, die die größte Angst vor den Massen hegen. Selbst Rüstow deutet an, dass er die Option einer Umgehung orga­ nisierter Interessen für bedenkenswert hält, wenn er schreibt: »Eine Regierung, die den Mut hätte, in überzeugender und glaubwürdi­ ger Weise über die Köpfe aller Interessentenvertretungen hinweg unmittelbar an das Verantwortungsbewußtsein des Wählers zu ap­ pellieren, würde einen rauschenden Erfolg haben.«70 Die stärksten populistischen Neigungen unter den hier be­ sprochenen Neoliberalen, die im Übrigen mit seinem ausgepräg­ ten Antielitismus korrespondieren, finden sich aber zweifellos bei Buchanan.71 Allerdings ist die Ausrichtung dieses Populismus un­ terdeterminiert. Es heißt von Buchanan, er habe auf der Rückkehr von einer Reise nach Großbritannien gesagt, wäre er dort gebo­ ren worden, wäre er angesichts der festgefügten Klassenstruktur der britischen Gesellschaft wohl zum Sozialisten geworden. Aber auch wenn man ihm von linker Seite wohl diese Aussage zugu­ tehalten würde, ist seine bisweilen ätzende Kritik des »normalen ›parlamentarischen‹ Prozesses« und des Staates, der »nahezu voll­ ständig außerhalb der Kontrolle durch die Wähler« sei72 und sich einzig auf die Ausbeutung der Bevölkerung konzentriere, nicht nur 70 Rüstow, Rede und Antwort, S. 69. Siehe auch: »Eine demokratische Regierung zeichnet sich dadurch aus, […] daß sie notfalls über die Köpfe der Interessenten, über die Köpfe von Parteien und Gruppen hinweg unmittelbar an das Volk […] appelliert.« Ebd., S. 99. 71 Siehe Geoffrey Brennan, Michael Munger, »The Soul of James Buchanan?«, in: Independent Review 18 (2014), S. 331-342, hier S. 337. 72 Brennan/Buchanan, Besteuerung und Staatsgewalt, S. 32, 31. Siehe auch: »Der ungeheure Erfolg von Proposition 13 in Kalifornien muß angesichts der Gleich­ gültigkeit und sogar Opposition seitens der Mehrheit des politischen Establish­ ments sicherlich einige Zweifel daran wecken, in welchem Maß die normalen politischen Prozesse den Volkswillen zum Ausdruck bringen.« Ebd.

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kompatibel mit bestimmten Kritiken an den Plutokratisierungs­ tendenzen existierender Demokratien aus dem linken Spektrum, sondern auch mit dem Rechtspopulismus der AfD und anderer, die die Regierungen in Berlin, Paris oder London verdächtigen, sich gegen ihre eigene Bevölkerung verschworen zu haben, die sie nur dem Namen nach repräsentieren. Die Vorstellung, dass es ein Kartell von Parteien gibt, die gemeinsam mit diversen LobbyGruppen den Zugriff auf den politischen Willensbildungsprozess weitgehend monopolisiert haben, eignet sich als analytische und polemische Munition für eine beträchtliche Bandbreite politischer Positionen und Projekte, die kaum etwas gemeinsam haben außer dem diffusen Misstrauen in politische Eliten und Prozesse. Ähnli­ ches gilt für Referenden, die als mehr oder weniger geeignete Mit­ tel zur Verfolgung unterschiedlichster Agenden fungieren können, und wie wir weiter unten sehen werden, interessiert sich Buchanan für sie nicht nur als prophylaktische Instrumente, die dafür sor­ gen, dass »Gesetzgeber, Exekutiven, Bürokraten und Richter ihrer eigenen Willkür engere Grenzen setzen werden, wenn sie damit rechnen müssen, dass ihre Entscheidungen durch Volksreferenden gekippt werden«,73 sondern auch als prozedurale Möglichkeit, das Balanced Budget Amendment einzuführen. Doch wie dem auch sei, was wir am Ende dieses Kapitels fest­ halten können, ist eine neoliberale Sichtweise auf die Demokratie, die insgesamt skeptisch ist, was real existierende demokratische Strukturen angeht, wenn auch aus unterschiedlichen, stellenwei­ se aber auch sich überlappenden Gründen – von denen manche vermutlich ebenfalls von Vertretern anderer politischer Positionen geteilt würden. In vielen Fällen sind es daher auch nicht so sehr die Befunde an sich im Hinblick auf demokratische Pathologien, sondern eher ihre Interpretation und vor allem die entsprechenden Lösungsvorschläge, die zumindest bedenklich erscheinen – sogar im Fall der direktdemokratisch-populistischen Option. Und wie wir im Kapitel zu neoliberalen Politikvorstellungen sehen werden, ergeben sich aus den hier erläuterten Perspektiven auf die Demo­ kratie tiefgreifende Widersprüche und Dilemmata innerhalb der diversen Variationen neoliberalen Denkens, die noch weit über die bereits diskutierten Inkonsistenzen hinausgehen. 73 Buchanan, »Direct Democracy«, S. 240.

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4. Wissenschaft Die Einschätzung der angemessenen Rolle sowie der Macht und Grenzen der Wissenschaft – vor allem einer Wissenschaft der Öko­ nomie oder politischen Ökonomie – ist von entscheidender sub­ stanzieller, aber auch strategischer Bedeutung im Umgang mit der neoliberalen Problematik. Die Frage lautet einerseits, inwieweit eine richtig verstandene Wissenschaft der Ökonomie einen positi­ ven Beitrag zur Bewältigung dieser Problematik zu leisten vermag und so als intellektuelle Ressource zur Unterstützung eines neoli­ beralen Projektes Verwendung finden kann. Andererseits sind die Neoliberalen besorgt über die Gefahren, die von einer falsch ver­ standenen Wissenschaft der Ökonomie und allgemeiner noch von einer bestimmten Art von Rationalismus für ein neoliberales Pro­ jekt ausgehen. Aus strategischer Perspektive lautet die Frage wie­ derum, ob die Vorteile, die sich aus einer Mobilisierung der Wis­ senschaft als Rechtfertigungs- und Legitimationsquelle neoliberaler Politik ergeben, die Risiken auf- beziehungsweise überwiegen, die mit der Bekräftigung der Macht und Autorität von Wissenschaft einhergehen – gerade dann, wenn der intellektuelle und politische Hauptgegner des Neoliberalismus ein Kollektivismus ist, der sich selbst als wissenschaftlicher Sozialismus bezeichnet. Diese Ambivalenz innerhalb des neoliberalen Denkens verleiht der folgenden Diskussion ihre Grundstruktur. Wir beginnen mit einer Analyse jener Variante des neoliberalen Denkens, die die Möglichkeit einer wirklichen Wissenschaft der Ökonomie prin­ zipiell bejaht und bisweilen beträchtliches Zutrauen in ihre Leis­ tungsfähigkeit im Allgemeinen und im Hinblick auf die neoliberale Problematik im Besonderen artikuliert. Friedmans, Rüstows und vor allem Euckens Sichtweise können in diese Strömung innerhalb des Neoliberalismus eingeordnet werden. Die andere neoliberale Variante leugnet zwar keineswegs kategorisch die Möglichkeit ei­ ner Wissenschaft der Ökonomie, aber ihre Vertreter haben eine be­ sondere Vorstellung davon, womit sich diese Wissenschaft befasst, nämlich mit spontanen Ordnungen und/oder den Wahlhandlun­ gen, die diese konstituieren. Darüber hinaus betont diese Variante vor allem die Grenzen einer solchen Wissenschaft und warnt aus­ 161

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giebig vor dem Schaden, den ›Szientismus‹ und eine falsch verstan­ dene Rationalität einer liberalen Marktgesellschaft zufügen kön­ nen. Die Protagonisten dieser Strömung sind Buchanan, Röpke und insbesondere Hayek. Im weiteren Verlauf des Kapitels wenden wir uns dann auf der Grundlage dieser Diskussion den diversen Po­ sitionen hinsichtlich der politischen Bedeutung von Wissenschaft zu, das heißt der Rolle, die sie diesbezüglich spielen sollte, und wer ihre Adressaten sein sollten. Hier lässt sich zwischen denen unter­ scheiden, die entweder theoretisch oder performativ die Position vertreten, dass Wissenschaftler auch als politische Berater fungieren sollten, die ihre Expertise direkt den politischen Entscheidungsträ­ gern zur Verfügung stellen, und denen, die eher die Wahlbevölke­ rung oder die allgemeine Öffentlichkeit als das angemessene Pu­ blikum von Wissenschaftlern ansehen, welche so in gewisser Weise als öffentliche Intellektuelle fungieren sollten. Die Bandbreite der Positionen erstreckt sich hier zwischen zwei beinahe diametral ent­ gegengesetzten Polen, die von Eucken auf der einen und Buchanan auf der anderen Seite besetzt werden, welche im Mittelpunkt dieses abschließenden Abschnitts stehen werden.

Die Macht der Wissenschaft vs. die Angst vor Szientismus Wir beginnen unsere Diskussion mit einer Betrachtung jener Neo­ liberalen, die Macht und Leistungsfähigkeit von Wissenschaft be­ tonen, wenn auch aus teils sehr unterschiedlich gearteten Gründen. Während Friedman die prädiktiven Fähigkeiten der Ökonomie im Sinne eines instrumentalistischen Wissenschaftsverständnisses her­ vorhebt, betonen Rüstow und Eucken den Wahrheitswert ökono­ mischer Erkenntnisse, die auf der Grundlage der korrekten Metho­ dologie gewonnen werden könnten. Obgleich alle drei also großes Zutrauen in die Macht der Wissenschaft hegen, vertreten sie auf einer anderen Ebene geradezu gegensätzliche Positionen. Friedmans Bedeutung für die Debatte über die Wissenschaftlich­ keit der Ökonomie als Disziplin steht in einem geradezu inversen Verhältnis zu seinem quantitativen Beitrag dazu: Friedman schrieb einen einzigen Essay zur Methode der Ökonomie, der aus dem Jahr 1953 datiert. Über die Jahrzehnte sind allerdings mindestens dreißig 162

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Zeitschriftenartikel und unzählige Buchkapitel erschienen, die sich mit diesem Text beschäftigen. »Die Methodologie der positiven Ökonomie« beginnt mit der Unterscheidung zwischen einer positi­ ven und einer normativen oder regulativen Wissenschaft der Öko­ nomie. Während sich die eine mit dem beschäftigt, was der Fall ist, widmet sich die andere normativen Fragen des Sein-Sollens. Wie der Titel bereits verrät, liegt der Schwerpunkt des Essays eindeutig auf ersterer Form der Wissenschaft, und dies nicht von ungefähr. Normative Ökonomie basiert auf die eine oder andere Weise auf positiver Ökonomie, und aus Friedmans Perspektive wurzeln die meisten Kontroversen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eben nicht in Differenzen bezüglich der normativen Dimension der ökonomischen Wissenschaft, in der unterschiedliche ethische Ori­ entierungen ihren Ausdruck finden, sondern in Meinungsverschie­ denheiten bezüglich der Auswirkungen bestimmter zur Auswahl stehender Politiken, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, dessen normativer Wert selbst aber nicht kontrovers ist. Skeptiker mögen zwar an der Verlässlichkeit des Wissens zwei­ feln, das in der Ökonomie, aber auch in jeder anderen Sozialwis­ senschaft generiert wird, beschäftigen sie sich doch mit einem höchst unhandlichen Objektbereich – Menschen, deren Verhalten sich nur in den allerseltensten Fällen unter Bedingungen eines kon­ trollierten Experiments beobachten lässt. Friedman gibt sich aber unbeeindruckt von diesen Bedenken und reduziert die Unterschei­ dung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften auf unterschiedli­ che Grade an Präzision und Genauigkeit des Wissens, das in den jeweiligen Disziplinen generiert werde. Insbesondere warnt er da­ vor, aus den vergleichsweise großen Schwierigkeiten, substanzielle Hypothesen in den Sozialwissenschaften experimentell zu über­ prüfen, den falschen Schluss zu ziehen, dass diese insgesamt for­ maler werden sollten. »Die ökonomische Theorie muss mehr sein als eine Struktur von Tautologien, wenn sie in der Lage sein soll, die Auswirkung von Handlungen nicht nur zu beschreiben, son­ dern auch zu analysieren, wenn sie also mithin etwas anderes sein soll als verkappte Mathematik.«1 Dieser Hinweis behält bereits in komprimierter Form die Vorstellung, die Friedman von einer Wis­ 1 Milton Friedman, »The Methodology of Positive Economics«, in: Essays in Positive Economics, Chicago 1953, S. 3-43, hier S. 11 f.

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senschaft der Ökonomie hat. Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, Hypothesen oder Theorien zu formulieren, aus denen sich nichttriviale Voraussagen über zukünftige Phänomene ableiten lassen. Dies ist erstens von größter Wichtigkeit für eine Wissenschaft, die auch über politischen Einfluss verfügen will, und zweitens ist es die Grundlage für eine falsifikationistische Methodologie, in de­ ren Rahmen nachweisbar falsche Voraussagen zwingend auf Feh­ ler in der Theoriebildung schließen lassen, die dementsprechend zu beheben sind. Bis zu diesem Punkt ist die Beschreibung von Friedmans Perspektive weitgehend unumstritten, darüber hinaus gibt es aber wiederum kaum einen Aspekt, der nicht umstritten ist. Ich konzentriere mich im Folgenden auf zwei kontroverse, mitein­ ander verknüpfte Punkte: Die Betonung der Voraussagekraft einer Friedmanschen Ökonomie sowie die Rolle, die Annahmen für die Bestimmung der Qualität einer Theorie oder Hypothese spielen. Hier geht es um den mutmaßlichen Instrumentalismus und Antirealismus von Friedmans Wissenschaftstheorie. Eingangs ist fest­ zuhalten, dass in seinem Ansatz allem Anschein nach Wissenschaft allein auf die Aufgabe akkurater Vorhersagen reduziert wird.2 Dies ist offensichtlich schwierig genug, aber das Problem besteht mögli­ cherweise nicht nur darin, dass damit die Leistungsfähigkeit einer ökonomischen Wissenschaft womöglich stark überschätzt wird, wie auch andere Neoliberale zu bedenken geben, sondern dass Wis­ senschaft damit zusammenschrumpft auf einen organisierten Ver­ such pragmatischen Problemlösens, womit implizit verneint wird, dass die wissenschaftliche Praxis auch etwas mit der Suche nach Wahrheit zu tun haben könnte. Es versteht sich von selbst, dass die Suche nach Wahrheit eine Vorstellung ist, mit der man unter den Vorzeichen eines ›nachmeta­ phyischen Zeitalters‹, wie es Jürgen Habermas bezeichnet, nur un­ ter größter Vorsicht operieren sollte; worin genau bestehen also die diesbezüglichen Limitierungen von Friedmans Ansatz? Mit dem exklusiven Fokus auf Voraussagen scheint sich Friedman auf eine Wissenschaftstheorie festzulegen, der zufolge Wissenschaft in erster Linie versuchen muss, Regelmäßigkeiten zu identifizieren (wenn x, dann y), die Voraussagen und dementsprechend erfolgreiche Ein­ griffe in die Welt ermöglichen. Eine derartige Wissenschaftsphi­ 2 Siehe ebd., S. 7.

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losophie lässt sich als Konventionalismus oder Instrumentalismus charakterisieren; die entsprechenden Vorstellungen können bis zu Nietzsche und Hume zurückverfolgt werden. Das Problem an die­ ser Sichtweise besteht darin, dass von Wissenschaft nur Aussagen darüber verlangt werden, was passieren wird, und nicht, warum dies der Fall ist. Friedmans Perspektive lässt sich mit Hilfe eines berühmten Beispiels verdeutlichen: Für ihn ist das Ziel der Wissen­ schaft erreicht, wenn wir verlässlich vorhersagen können, dass zwei oder drei Tage nach dem Auftauchen von kleinen roten Punkten auf dem Körper eines Patienten bei diesem Masern festgestellt wer­ den. Die roten Punkte sind aber offensichtlich nicht die Ursache der Masern, und ebenso wenig liefern sie eine Erklärung für ihr Auftreten, obwohl sie uns in die Lage versetzen, eine zutreffende Vorhersage zu leisten. Erwartet man dementsprechend von Wis­ senschaft, dass sie nicht nur Voraussagen, sondern auch Erklärun­ gen liefert, die ja durchaus als der erhellendere Aspekt wissenschaft­ licher Praxis gelten können, dann zeigen sich die entsprechenden Defizite eines rein instrumentalistischen Ansatzes.3 Der andere umstrittene Aspekt von Friedmans Ansatz kann ent­ weder als Ausdruck seines Instrumentalismus oder als eigenständi­ ges Problem gefasst werden, das unter anderem die Frage aufwirft, welche Art von falsifikationistischer Methodologie er eigentlich für sich in Anspruch nimmt. Es geht hier um den ausgeprägten Antirealismus, den Friedman vertritt, wenn er sich um die Ver­ teidigung ›unrealistischer‹ Theorien, die aber dennoch erfolgreiche Vorhersagen ermöglichen, bemüht. Hier ist zunächst festzuhalten, dass diese Argumentation bis zu einem bestimmten Punkt absolut plausibel ist, denn Theorien und Hypothesen müssen schließlich 3 Siehe zur Debatte um die Defizite des Instrumentalismus Bruce Caldwell, »Crit­ ique of Friedman’s Methodological Instrumentalism«, in: John Wood, Ronald Woods (Hg.), Milton Friedman: Critical Assessments. Volume III, London 1990, S. 142-153; Andrew Sayer, Realism and Social Science, Thousand Oaks 2008, S. 94. Ob Friedman wirklich ein eindeutig instrumentalistisches Wissenschaftsverständ­ nis vertritt, ist allerdings nicht unumstritten, da er zumindest an einer Stelle auch andeutet, dass die Wissenschaft explanatorische Aufgaben hat: »Eine Hypothese ist wichtig, wenn sie vieles aufgrund von wenigen Annahmen ›erklärt‹.« Ebd., S. 14. Doch aus meiner Perspektive, die sich mit einem Großteil der Forschung deckt, handelt es sich hier eher um den Fall einer unpräzisen Verwendung der Terminologie; ganz abgesehen davon, dass der entscheidende Begriff in Anfüh­ rungsstrichen steht.

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von den ›Störgeräuschen‹, die mit der Datenflut der Realität ein­ hergehen, abstrahieren und bestimmten Faktoren explanatorische und kausale Bedeutung zuweisen und wiederum anderen Fakto­ ren diese absprechen. Sie müssen darüber hinaus womöglich auch Idealtypen konstruieren, deren Pointe gerade darin besteht, dass sie nicht mit der Realität übereinstimmen. Eine Theorie, die nicht entsprechende Abstraktionen vornimmt, ist ebenso deskriptiv ak­ kurat wie eine Landkarte im Verhältnis 1 : 1 – und genauso wertlos. Mit diesem Punkt gibt sich Friedman aber noch nicht zufrieden und treibt die Argumentation noch weiter. Dementsprechend sol­ len unrealistische Grundannahmen bei der Theoriebildung nicht nur unproblematisch sein, ihr fehlender Realismus soll nun gerade zum Ausweis der theoretischen Leistungsfähigkeit erhoben werden: »allgemein gilt, je unrealistischer die Annahmen (in diesem Sinne) sind, desto signifikanter die Theorie«.4 Ein solch radikaler Antirea­ lismus lässt sich nur schwer vereinbaren mit sehr grundlegenden Intuitionen über Wissenschaft und die Kriterien zur Beurteilung der Qualität einer Theorie, denn zugespitzt formuliert behauptet Friedman, dass eine prädiktiv akkurate Theorie, die auf deskrip­ tiv komplett inakkuraten Annahmen beruht, gegenüber einer an­ deren Theorie vorzuziehen ist, die in beiderlei Hinsicht akkurat ist.5 Meines Erachtens will Friedman hier eigentlich zugunsten von Genügsamkeit/Sparsamkeit (in den theoretischen Annahmen) als wichtigstem wissenschaftlichen Wert, abgesehen von der Voraus­ sagekraft, argumentieren, aber genügsame Annahmen sind nicht gleichbedeutend mit unrealistischen. Darüber hinaus müsste eine Meta-Theorie, die sich allein auf die Maximierung von Genügsam­ keit konzentriert, damit rechnen, wegen ihres zu engen Fokus auf einen einzigen wissenschaftlichen Wert zuungunsten anderer, wie etwa deskriptiver Genauigkeit, kritisiert zu werden. Das Rezept 4 Ebd., S.  14. 5 Hier ist auch darauf hinzuweisen, dass die Ersetzung des Keynesianismus als einst dominanten ›wissenschaftlichen‹ Paradigmas der Wirtschaftspolitik durch Friedmans Monetarismus kaum dadurch erklärbar ist, dass die Annahmen des Letzteren unrealistischer oder sparsamer wären, sondern dadurch, dass der Mo­ netarismus das Auftreten bestimmter empirischer Phänomene besser analytisch erfassen konnte als das rivalisierende Paradigma, wie im Übrigen auch Friedman selbst in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises 1977 klarstellte. Siehe Milton Friedman, »Nobel Lecture: Inflation and Employment«, in: Journal of Political Economy 85 (1977), S. 451-472.

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für eine elegante Theorie bestünde doch schließlich eher in der Optimierung diverser Werte und nicht in der Maximierung eines einzigen. Denn wenn dies auch von Friedman nicht thematisiert wird, gibt es doch gute Gründe anzunehmen, dass ein Trade-Off zwischen deskriptiver Genügsamkeit beziehungsweise Ungenau­ igkeit und prädiktiver Genauigkeit existiert, woraus folgen wür­ de, dass es sich bei Theoriebildung nicht zuletzt auch um einen Balanceakt handelt. Friedman ist aber nicht bereit, sich auf diese Vorstellung einzulassen, was nicht zuletzt deshalb wichtig ist, weil es auch indirekt eines der berüchtigtsten Konzepte des neoliberalen Denkens betrifft, nämlich den Homo oeconomicus. Zwar erwähnt Friedman dieses Modell in seinem Essay nicht, aber sein Beispiel der Maximierung der Rendite auf Investitionen als einer Annah­ me über das Verhalten von Unternehmen kommt ihm nahe genug, und die Argumente dagegen sind in etwa dieselben. Friedman ver­ teidigt vehement diese ›unrealistische‹ Annahme, und dies lässt den Rückschluss zu, dass er ebenso das Modell des Homo oeconomicus gegen diejenigen verteidigen würde, die seine empirische Ungenau­ igkeit monieren würden. Ein letzter Punkt belegt die interne Inkonsistenz von Friedmans Wissenschaft der positiven Ökonomie, die sich nicht in den di­ versen Einseitigkeiten seines Ansatzes erschöpft. Friedman stimmt mit Popper dahingehend überein, dass der Falsifikationismus die beste Möglichkeit darstellt, das Induktionsproblem zu umgehen: Eine empirisch überprüfbare Hypothese wird formuliert, und wenn ihre Aussagen nicht der Wirklichkeit entsprechen, muss die Theorie als falsifiziert gelten; zumindest bedürfen ihre Parameter der Modifikation. Die grundsätzlichste Frage in diesem Zusam­ menhang lautet, wie dieses Bekenntnis zum Falsifikationismus, der sich ja noch immer als der Versuch einer asymptotischen Annähe­ rung an die Wahrheit versteht, auch wenn sie letztlich unerreichbar bleibt, eigentlich mit der instrumentalistischen Marginalisierung jeglichen Wahrheitswertes von Theorien, die Popper im Übrigen ablehnte, in Einklang gebracht werden kann. Die Klärung dieser Frage würde einige langwierige Umwege erforderlich machen, des­ wegen müssen wir sie hier auf sich beruhen lassen. Doch was in Friedmans Essay völlig unklar bleibt, ist, in welchem Maß Theori­ en und Annahmen eigentlich modifiziert werden müssen für den Fall, dass sich auf ihrer Grundlage bestimmte Phänomene nicht 167

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erklären bzw. vorhersagen lassen. Ziehen wir ein Beispiel aus dem Bereich Finanzökonomie heran, die Theorie rationaler Erwartun­ gen: Die Regierung gibt Geld für öffentliche Investitionen aus, um die Wirtschaft anzukurbeln. Homo oeconomicus ist sich aber im Klaren darüber, dass die entsprechenden Ausgaben irgendwie fi­ nanziert werden müssen und dies letztendlich auf eine Erhöhung der Steuern hinauslaufen wird, wenn auch womöglich erst in fer­ ner Zukunft. In Antizipation dieser Steuererhöhungen wird Homo oeconomicus seine eigenen Ausgaben reduzieren, da sie bereits die zukünftigen steuerbedingten Einkommenseinbußen mit einkalku­ liert, und als Folge bleibt der Versuch, die Wirtschaft anzukurbeln, ineffektiv. Was aber, wenn sich herausstellt, dass sich ein solcher Ef­ fekt nicht beobachten lässt? Offensichtlich gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die diesen Nicht-Effekt verursachen können, aber früher oder später wird auch in Erwägung zu ziehen sein, ob die der Theorie zugrundeliegenden Annahmen unzutreffend sind, wie etwa die, dass Akteure über einen derart langen Zeithorizont für ihr Handeln verfügen, dass sie sogar mögliche Ereignisse, die in ferner Zukunft liegen, in ihr aktuelles Handlungskalkül einfaktorieren. Wäre Friedman bereit, diese Annahmen einzuschränken, um sie so deskriptiv akkurater zu machen, nachdem er sich so stark gemacht hat gegen die Forderung nach derartigen Modifizierungen? Oder wären solche Annahmen, im Gegensatz zu wirklichen Theorien, nicht Gegenstand möglicher Revisionen? Dann aber wäre der Fal­ sifikationismus Friedmans ein überaus eng begrenzter, der gerade an seinen eigenen Annahmen dogmatisch festhielte.6 Walter Eucken und Alexander Rüstow teilen ein starkes Zu­ trauen in die Möglichkeiten der Wissenschaft, verstehen diese aber in vielerlei Hinsicht völlig anders als Friedman. Während Eucken seinerzeit in der Wissenschaft tätig war und Rüstow in der For­ schungsabteilung einer Industrievereinigung, waren beide geeint in ihrem Versuch, die Disziplin der Nationalökonomie in Deutsch­ land zu erneuern, die in der Weimarer Zeit noch immer zwischen zwei gegensätzlichen Polen dessen zerrissen war, was Eucken als die »große Antinomie« bezeichnete.7 Schon über mehrere Dekaden 6 Auch hier wird die Beurteilung von Friedmans Position dadurch erschwert, dass stellenweise die Möglichkeit der Revision von Annahmen ins Auge gefasst wird, er sich an anderen Stellen wiederum dagegen auszusprechen scheint. 7 Eucken, Grundlagen, S. 21.

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hatte sich die Debatte hingezogen, in der die ›Historische Schule‹ einer stärker theoretisch orientierten Strömung gegenüberstand, die eher auf deduktive Abstraktion als auf historische Ex-postAnalysen vertraute, welche bei allem Detailreichtum insgesamt me­ thodische Strenge vermissen ließen. Eucken und Rüstow neigten eindeutig der theoretischen Schule zu, die weitaus ambitioniertere Hoffnungen im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit einer metho­ disch rigiden Wissenschaft hegte; die weitverbreitete Vorstellung einer Äquidistanz des Ordoliberalismus zu beiden Schulen trifft daher so nicht zu. Zutreffend ist allerdings, dass Eucken mit der Ausrichtung der theoretischen Ökonomie nicht gänzlich einverstanden war, denn er vermutete, dass ihre Agenda zu formalistisch und ihre Modelle zu weit entfernt von der ökonomischen Wirklichkeit seien. Dagegen machte er deutlich, dass die Nationalökonomie zwar methodolo­ gischer Strenge und Abstraktion bedürfe, der Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Bestrebungen aber die konkrete Erfahrung sein müsse, wie er es in Anlehnung an die Husserlsche Phänomenologie formulierte, die neben Webers Idee der Sozialwissenschaften als Er­ fahrungswissenschaften Euckens Wissenschaftsverständnis in die­ ser Hinsicht prägte. Eucken gab aber dem Konzept der Erfahrungs­ wissenschaft eine neue Wendung und positionierte sich damit in einer beträchtlichen theoretischen Distanz zu Webers Version. Seine beiden wichtigsten methodologischen Werke (die er nicht als solche verstanden wissen wollte, weil das eine zu weite Entfer­ nung von konkreten ökonomischen Problemen suggeriert hätte, die er am theoretischen Paradigma kritisierte) sind Was leistet die nationalökonomische Theorie? und Die Grundlagen der National­ ökonomie. Der Schlüssel zur Überwindung der Kluft zwischen Ab­ straktion und Erfahrungswirklichkeit, den Eucken in den Grundlagen einführt, ist die Konstruktion von Idealtypen ökonomischer Ordnungen. Der Ausgangspunkt dafür ist tatsächlich das konkrete ökonomische Problem, aus dem Eucken durch das, was er als Me­ thode der »pointierend-hervorhebenden Abstraktion« bezeichnet,8 zwei grundlegende Idealtypen herausdestilliert, und zwar die Ver­ kehrswirtschaft und die Zentralverwaltungswirtschaft sowie circa einhundert Untertypen. Mit diesen, so Eucken, lasse sich jeglicher 8 Ebd., S.  77.

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Aspekt der ökonomischen Realität erfassen, und so zeigt sich ein geradezu dialektisch anmutendes Verständnis von Theorie als ei­ ner Abstraktion von der konkreten Wirklichkeit, die aber in der Folge wiederum analytische Anwendung auf diese Wirklichkeit finden muss, um gegebenenfalls auf Grundlage der Konfrontati­ on mit dem Konkreten und Besonderen revidiert zu werden.9 In welcher Hinsicht unterscheidet sich dieser Entwurf nun von Fried­ mans Vorstellungen? Natürlich ist sich Eucken mit Friedman da­ hingehend einig, dass Wissenschaft in einem gewissen Maß immer problemorientiert sein muss, damit sie nicht im Elfenbeinturm des »allgemein-theoretischen«10 Ansatzes verkümmert. Was Eu­ cken hingegen rundheraus ablehnt, sind die instrumentalistischen Schlussfolgerungen, die Friedman hieraus ableitet. Denn aus sei­ ner Perspektive geht es der wissenschaftlichen Praxis durchaus und insbesondere um die Suche nach einer emphatisch verstandenen Wahrheit: »Indem die Nationalökonomie durch die geschilderte Methode zu notwendigen, allgemeinen und zugleich wirklichkeits­ nahen Wahrheiten gelangt, die sie in Theorien ausspricht, ist der archimedische Punkt gefunden, von dem aus die objektive und exakte Erkenntnis bestimmter Zusammenhänge der individuellen, konkreten Wirklichkeit gelingt.« Diese Art von Theorie enthalte »eine objektive, allgemein gültige Wahrheit, die von jeder Willkür und Subjektivität unabhängig ist«.11 Dieser emphatische Wahr­ heitsanspruch hat auch eine politische Funktion, auf die wir später zu sprechen kommen. Für den Moment sei nur festgehalten, dass Eucken überaus hohe Standards für wahrhaft wissenschaftliche Er­ kenntnisse in Stellung bringt, die vor dem Hintergrund zeitgenös­ sischer (positivistischer und post-positivistischer) Wissenschafts­ verständnisse mindestens ambitioniert, wenn nicht gar gänzlich   9 »Vom individuell-historisch Gegebenen, von den Phänomenen in ihrer lebendi­ gen Konkretheit geht die Forschung aus und kehrt, bewaffnet mit der Erkenntnis gewisser allgemeiner, notwendiger Bedingungszusammenhänge zu ihnen zurück, um die faktischen Verknüpfungen der Wirklichkeit zu verstehen.« Walter Eu­ cken, Kapitaltheoretische Untersuchungen, Tübingen (2. Auflage) 1954, S. 33. 10 Eucken, Grundlagen, S. 18. 11 Eucken, Kapitaltheoretische Untersuchungen, S. 29. Siehe dazu auch Euckens ve­ hemente Ablehnung jeglicher Bestrebungen zur Relativierung des Wahrheitsbe­ griffs ebd., S. 271. Zu Rüstows ebenso optimistischer Einschätzungen der Mög­ lichkeiten einer richtig betriebenen Nationalökonomie als Wissenschaft siehe Rüstow, Rede und Antwort, S. 20.

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unerreichbar erscheinen, wenn man sich die geradezu metaphy­ sischen Konnotationen seines Wahrheitsbegriffs vor Augen führt. Eucken und Rüstow rangieren mit ihrem Wissenschaftsver­ ständnis am anderen Ende des Spektrums gegenüber Friedman; schließlich geht es ihnen um die Generierung validen und dem­ entsprechend nützlichen Wissens wie auch um einen privilegier­ ten Zugang zum Reich der Wahrheit, der nur wenigen und aus­ schließlich auf Grundlage der korrekten Methodologie gewährt wird. Diese fundamentale Differenz erstreckt sich auch auf die Frage der Grundannahmen und den entsprechenden Antirealis­ mus. Aus Euckens Perspektive müssen Idealtypen und die ihnen zugrundeliegenden Annahmen regelmäßig auf der Grundlage von empirischen Studien überprüft werden, in denen diese Typen ja wiederum zur Anwendung kommen sollen. So soll es zu einer be­ ständigen Verfeinerung des analytischen Instrumentariums kom­ men, und mit diesem Postulat befindet er sich abermals in einem diametralen Gegensatz zu Friedman. Der Fehler der Vorstellung des Homo oeconomicus bestehe nicht darin, »daß sie hypotheti­ schen Charakter trägt, sondern darin, daß sie viel zu weit von der konkreten Wirklichkeit entfernt ist und deshalb eine willkürliche Konstruktion darstellt«. Dementsprechend gilt: »Den Homo oeco­ nomicus braucht die theoretische Forschung nicht.«12 Kritiker des umstrittenen Modells des Homo oeconomicus mögen Eucken für seine Distanzierung von einem Wissenschaftsansatz, der an der ökonomischen Realität vorbeigeht, Applaus spenden, aber auch seine spezifische Herangehensweise an die Konstruktion von Ideal­ typen und die darin enthaltenen Annahmen haben Kritik auf sich gezogen. Eucken kritisierte Weber nicht nur wegen dessen Subjektivis­ mus, sondern auch deshalb, weil er das Verhältnis von Ideal- und Realtypen falsch konzipiert habe. Ironischerweise war es Rüstow, der ansonsten ein leidenschaftlicher Unterstützer von Euckens Vorstellungen von Wissenschaft, Theorie und Methode war, der als Erster darauf hinwies, dass Euckens Unterscheidung zwischen den beiden Typen mindestens so verwirrend wie die von Weber sei, was insofern nicht überraschend ist, als Euckens Vorstellung einer 12 Eucken, Kapitaltheoretische Untersuchungen, S. 22 f. Siehe auch: »Ein solcher ›Homo Oeconomicus‹ existiert aber als Durchschnittstypus so wenig wie die Helden und Heiligen.« Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 182.

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schrittweisen empirisch realistischen Verfeinerung seiner Konzep­ te unweigerlich zu einer Vermischung beider Typen führen muss. Rüstow merkte aber auch kritisch an, dass Euckens Typen ökono­ mischer Ordnung nicht über die Multidimensionalität der Weber­ schen Typen verfügten und stattdessen allein auf das Kriterium, wie viele planende Akteure es in einer Ökonomie gebe, fokussiert seien, so dass eher mit »Partialbegriffen« als wirklichen Idealtypen operiert werde.13 Darüber hinaus ist Eucken auch nicht sonderlich sorgfältig bei der Konstruktion seiner Idealtypen auf der Grundla­ ge dieses Kriteriums (dessen Relevanz im Übrigen nie diskutiert, sondern einfach als gegeben angenommen wird). Obwohl er zur Kenntnis nimmt, dass es Untertypen von Zentralverwaltungs­ wirtschaften etwa mit (teils) freier Konsumwahl gibt, verweigert er sich der Schlussfolgerung, dass es in einer solchen Wirtschaft offensichtlich mehr als ein planendes Subjekt gibt, was das einzige Kriterium für eine Zentralverwaltungswirtschaft darstellt, so dass diese Wirtschaftsform konsequenterweise unter den Typus der Ver­ kehrswirtschaft subsumiert werden müsste.14 In der Literatur wird bisweilen vermutet, dass die eher laxe Art und Weise, wie Eucken Typen konstruiert und subsumiert, mit einer letzten konzeptionellen Differenz mit Friedman zu tun hat, die mindestens genauso wichtig wie die übrigen ist. Auch wenn es innerhalb des (zeitgenössischen) Ordoliberalismus eine Debat­ te darüber gibt, ob es sich hier um ein unabdingbares Merkmal Euckenscher Ordnungspolitik handelt oder diese auch auf anderer Grundlage konzipiert werden könnte, steht doch außer Frage, dass Eucken selbst nicht gewillt gewesen wäre, Friedmans Unterschei­ dung zwischen positiver und normativer Ökonomie zu akzeptieren. Aus seiner Perspektive beschränkt sich Wissenschaft keineswegs auf Beschreibung und Analyse empirischer Ordnungen. Ihre oberste Aufgabe besteht in ihrem Beitrag zur Identifizierung einer norma­ 13 Alexander Rüstow, »Zu den Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft«, in: Revue de la Faculté des Sciences Economiques de l’Université d’Istanbul 2 (1940), S. 105-154 und zu seinem eigenen Verständnis von Idealtypen Alexander Rüstow »Der Ide­ altypus, oder die Gestalt als Norm«, in: Studium Generale 6 (1953), S. 54-59. Siehe dazu auch Nils Goldschmidt, Entstehung und Vermächtnis ordoliberalen Denkens: Walter Eucken und die Notwendigkeit einer kulturellen Ökonomik, Münster 2001, S. 41. 14 Siehe Dieter Haselbach, Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1991, S. 103-105.

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tiv wünschenswerten Ordnung, die er als eine Ordnung bezeich­ net, »die dem Wesen des Menschen und der Sache entspricht«.15 Und während die Wissenschaft damit betraut ist, eine solche Ord­ nung zu finden, ist es die Aufgabe von Ordnungspolitik, die »freie, natürliche und gottgewollte« Ordnung zu implementieren.16 Die Vorstellung einer natürlichen Ordnung trägt einiges an metaphy­ sischem und/oder religiösem Ballast mit sich, und Euckens ordoli­ berale Mitstreiter vertreten in vielen Fällen ähnliche Sichtweisen.17 Diese Thematik kann hier nicht genauer untersucht werden, aber der normative Naturalismus, der sich durch das ordoliberale Den­ ken zieht, steht in einer recht deutlichen Spannung mit Michel Foucaults einflussreicher Interpretation des Ordoliberalismus, der in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität ar­ gumentiert, es sei die Künstlichkeit der Wettbewerbsordnung und die damit einhergehende Ablehnung des deistischen Naturalismus eines Adam Smith, die die grundsätzliche Trennlinie zwischen dem Neoliberalismus und seinen liberalen Vorläufern konstitu­ iere.18 Tatsächlich trifft es zu, dass sich die gewünschte Ordnung nicht selbst verwirklicht, aber das bedeutet nicht, dass sie auf ei­ nem künstlichen Entwurf beruht. Dies ist vielmehr eine Sorge, die unter Neoliberalen wie etwa Röpke gehegt wird, die skeptisch ge­ genüber einem vermeintlichen exzessiven Rationalismus in- und außerhalb der Wissenschaft sind.19 Aber selbst jene, die diese Sorge nicht teilen, wie eben auch Eucken, beschreiben die »natürliche Ordnung« als eine hybride Ordnung, die sowohl ge- als auch er­ funden werde und gewissermaßen ein der Natur inhärentes Telos verkörpere, welches nichtsdestotrotz durch menschliches Handeln erst zum Vorschein gebracht werden müsse.20 Kurz, mit Blick auf 15 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 372. 16 Ebd., S. 175 f. 17 Am deutlichsten tritt dies bei Röpke zutage. Siehe Wilhelm Röpke, »Die natürli­ che Ordnung. Die neue Phase der wirtschaftspolitischen Diskussion«, in: Kyklos 2 (1948), S. 211-232. 18 Siehe Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 172 f. 19 Ausdrücklich wird dieser Vorwurf gegen Keynes erhoben: »Aber wir erkennen in der Lehre Keynes’ zugleich die Sozialphilosophie des sich stolz modern nennen­ den Menschen, der glaubt, die Gesellschaft und Wirtschaft ›machen‹ zu können […].« Röpke, »Die natürliche Ordnung«, S. 232. 20 »Die Wettbewerbsordnung verwirklicht sich nicht von selbst. Sie ist in diesem Sinne keine natürliche Ordnung, kein ordre naturel. […] Aber in einem anderen

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die einflussreiche Lesart Foucaults ist seinen Anhängern zu raten, sich die Quellen, die er unter Hinzuziehung diverser Sekundärlite­ ratur interpretierte, etwas genauer anzusehen, bevor sie sich seine Unterscheidung der diversen Liberalismen unbesehen zu eigen ma­ chen. In unserem Zusammenhang ist aber vor allem wichtig, dass dieser ordoliberale Naturalismus in das Wissenschaftsverständnis importiert wird, wenn auch nur von den Wissenschaftsenthusias­ ten wie Eucken und Rüstow, wohingegen Röpke, der als stärkster Verfechter des Konzepts einer normativ gehaltvollen natürlichen Ordnung gelten kann, diese charakteristischerweise religiös auf­ lädt.21 Für Rüstow ist dies keine Option, denn trotz seiner Prägung durch den religiösen Sozialismus wird seine Kritik der Religion in der jüdisch-christlichen Tradition über die Jahre immer pronon­ cierter, was insbesondere auf ihre individualistischen Implikatio­ nen zurückzuführen ist, die er für bedenklich hält.22 Aber selbst Eucken, dessen Religiosität außer Frage steht,23 lässt keinen Zweifel Sinne ist sie eine natürliche Ordnung oder Ordo. Sie bringt nämlich die starken Tendenzen zur Wirkung, die auch in der industriellen Wirtschaft zur vollstän­ digen Konkurrenz drängen. […] Wir erfinden die Wettbewerbsordnung nicht; sondern wir finden ihre Elemente in der konkreten Wirklichkeit vor. Wir erzwin­ gen nichts, sondern wir bringen zur Entfaltung, was – neben anderen Formen – in der Wirklichkeit da ist. Die ungemein starken Tendenzen zur vollständigen Konkurrenz, die wir in den Dingen selbst vorfinden, suchen wir zu entfalten.« Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 373 f. Siehe auch Hayeks Ablehnung der »falschen Dichotomie von ›natürlich‹ und ›künstlich‹«, die kongruent mit Euckens Position ist. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 22. 21 Siehe Röpke, »Natürliche Ordnung«. 22 Bestimmte Züge aller Erlösungsreligionen seien »geradezu auf die Abwertung und Auflösung der natürlichen sozialen Bindung und Einbettung des Menschen, auf Vereinzelung also, auf soziale Atomisierung gerichtet«. Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, S. 105. Siehe zu Rüstows überaus ambivalentem Verhältnis zur Religion auch: »Röpke bat Rüstow dringend, seine Angriffe gegen Christentum, Theologie, Unsterblichkeit usw. zu mildern, da sie eine schwere Belastung für die Wirkung des Buches [die Ortsbestimmung der Gegenwart] darstellten.« Kath­ rin Meier-Rust, Alexander Rüstow. Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993, S. 79. 23 Euckens Briefe an Rüstow belegen dies in aller Eindeutigkeit. In einem schreibt er: »Nicht dadurch verfiel m. E. der Liberalismus, daß er religiös-metaphysisch fundiert war. Im Gegenteil. Sobald er seinen religiös-metaphysischen Gehalt verlor, verfiel er – was sich nun ganz genau historisch und systematisch erwei­ sen läßt.« In einem anderen heißt es: »Ich aber könnte weder existieren, noch arbeiten, wenn ich nicht wüßte, daß Gott existiert.« Zitiert in Hans Otto Lenel,

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daran, dass sich die natürliche Ordnung nicht mehr durch eine Art »unmittelbarer Erfahrung« enthüllt,24 wie es noch in manchen Spielarten der Naturrechtslehre vorgestellt wird; sie kann nur durch den wissenschaftlich gestützten Intellekt erfasst werden. Schließlich kann nur die Wissenschaft eine analytische Perspektive auf die sozi­ alen Beziehungen auf der Ebene der diversen Einzelordnungen und ihrer Interdependenz gewinnen – was nicht weniger bedeutet als eine Analytik der Totalität des Sozialen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Euckens Nationalökonomie mit einer Herku­ les-Aufgabe konfrontiert ist, muss sie sich doch in eine geradezu transdisziplinäre Wissenschaft verwandeln, die nicht nur die Spezi­ alisierungstendenzen innerhalb der Einzeldisziplinen überwindet, die von den Ordoliberalen, aber auch von Hayek beklagt werden, sondern sie muss auch über die disziplinären Grenzen hinausgrei­ fen und alle übrigen Sozialwissenschaften integrieren.25 In Rüstows Werk nimmt die Verbindung zwischen dem nor­ mativ aufgeladenen Natürlichen und der Wissenschaft eine etwas andere Form an. Er malt sich eine neuartige »Wissenschaft des Menschen in der ganzen Fülle seines Wesens, vom Biologischen, Körperlichen angefangen bis zum Geistigen und Seelischen hin, zum Moralischen, zum Religiösen« aus, eine »neue Anthropologie, [die] das erarbeiten wird und erarbeiten muß, was wir bisher so sehr entbehrten, nämlich eine wissenschaftliche Fundierung un­ »Walter Euckens Briefe an Alexander Rüstow«, in: ORDO 42 (1991), S. 11-14, hier S. 13, 12. 24 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 347. 25 »Obwohl man das Problem einer zweckdienlichen Gesellschaftsordnung heute unter den verschiedenen Gesichtswinkeln der Ökonomie, der Jurisprudenz, der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Ethik untersucht, läßt sich ein der­ artiges Problem mit Erfolg nur als Ganzes behandeln. Das bedeutet: Wer immer heute an eine solche Aufgabe geht, kann weder behaupten, auf allen Gebieten, mit denen er sich befassen muß, Fachmann zu sein, noch kann er die verfüg­ bare Spezialliteratur zu allen auftauchenden Fragen kennen. Nirgends tritt der verderbliche Einfluß der Teilung in Spezialgebiete deutlicher zutage als in den zwei ältesten dieser Disziplinen, der Ökonomie und dem Recht.« Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 6. Auch Röpke warnt vor »besorgniserregenden Tendenzen: eine immer weiter getriebene Spezialisierung der Forschung, die den Zerbröckelungsprozeß des sozialwissenschaftlichen Wissens fördert«. Wilhelm Röpke, »Der wissenschaftliche Ort der Nationalökonomie« in: Studium Generale 5 (1953), S. 374-382, hier S. 379.

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serer Idee, unserer Anschauung, unserer Willensrichtung«.26 Aus der wissenschaftlichen Untersuchung der Conditio humana sollen sich die Konturen einer angemessenen Sozialordnung ablesen las­ sen, die in diesem Sinne auch die natürliche Ordnung wäre. Man muss das Postulat der Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Praxis nicht zum Fetisch reiner Objektivität erheben, um dennoch ge­ wisse Vorbehalte gegen Euckens und Rüstows Strategie zu hegen, der Wissenschaft eine solch weitreichende und explizit normative Agenda aufzubürden, die nicht zuletzt politisch höchst problema­ tische Implikationen hat. Nun ist es aber an der Zeit, sich von den Wissenschaftsenthusi­ asten ab- und denjenigen Neoliberalen zuzuwenden, die unermüd­ lich vor den Gefahren des Szientismus oder gar, allgemeiner, des deplatzierten Glaubens an die Fähigkeiten des menschlichen Intel­ lekts warnen. Der positive Konvergenzpunkt zwischen Hayek, Röpke und Buchanan, die sich in dieser Rubrik finden, besteht zunächst in der Vorstellung von Ökonomie/Politischer Ökonomie als einer be­ sonders gearteten Wissenschaft, deren Objekte spontane Ordnun­ gen sind, die durch individuelle Wahlhandlungen entstehen: »Ich denke, die Ökonomie ist oder kann zumindest potentiell auf eine einzigartige Art und Weise wissenschaftlich sein. Das Prinzip spon­ taner Ordnung ist insofern ein wissenschaftliches Prinzip, als es ohne weiteres von normativen Inhalten getrennt werden kann.«27 Spontane Ordnungen entwickeln sich durch Entscheidungshand­ lungen zwischen Alternativen und – was ebenso wichtig ist – durch Tauschhandlungen mit anderen. Dementsprechend kann die Poli­ tische Ökonomie zumindest in Buchanans und Röpkes Version des Arguments als ›Wissenschaft‹ von Wahl- und Tauschhandlungen verstanden werden, allerdings nicht als quantitative Wissenschaft der Maximierung.28 Es ist diese Vorstellung, die bei Röpke und vor 26 Rüstow, Rede und Antwort, S. 166 f. Es geht um eine »basale Anthropologie«, die sich entwickeln lasse, da »unsere menschliche Natur […] sich immer wieder als von erstaunlicher Konstanz« erweist«. Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, S. 509. 27 James Buchanan, What Should Economists Do?, Indianapolis 1979, S. 84; siehe auch James Buchanan, »Is Economics the Science of Choice?«, in: Erich Streissler (Hg.), Roads to Freedom: Essays in Honor of F. A.Hayek, London 1970, S. 47-64. 28 Siehe ebd., S. 39 sowie: »Wirtschaften ist nichts anderes als die fortgesetzte Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten und die Nationalökonomie im Grunde nichts

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allem Buchanan zur Grundlage einer veritablen Vendetta gegen die konventionelle Ökonomie wird, die für Röpke »jenes quantitativmathematisch-naturwissenschaftliche Denken«29 verkörpert, das es ihr unmöglich mache, Qualitäten, Strukturen und Formen in Be­ tracht zu ziehen, und über deren sinnlose Modellmanie Buchanan mit einer Prise Sarkasmus spottet: »Ich fordere Sie heraus, irgend­ eine Ausgabe einer wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschrift zu nehmen und Sie selbst wie auch mich davon zu überzeugen, dass ein zufällig ausgewählter Artikel eine soziale Produktivität aufweist, die größer als null ist.«30 Röpke und Buchanan neigen einem deflationierten Wis­ senschaftsverständnis zu, auch wenn Buchanan stellenweise die Möglichkeit einer »reinen Theorie der Politik oder genuin wissen­ schaftliche[r] Politik« andeutet.31 Der Grund dafür liegt in einer Vorstellung von Politischer Ökonomie als einer Sozialwissenschaft, die nicht soziale Nutzenfunktionen, sondern komplexe Interakti­ onsmuster untersucht, und – nicht zuletzt – in Buchanans tief­ gründiger Auseinandersetzung mit dem Modell des Homo oeco­ nomicus.32 Zwar ist das Modell ein Grundpfeiler von Buchanans Forschungsarchitektonik, aber das hat ihn nicht davon abgehalten, es in einer Art und Weise kritisch zu hinterfragen, die unter den Neoliberalen seinesgleichen sucht und ihn, wie wir noch sehen werden, in eine theoretisch höchst prekäre Situation bringt. Im Kern geht es hier um die Annahmen bezüglich der Nut­ zenfunktion eines Individuums: Wird der Akteur mehr kaufen, wenn die Preise fallen? Steigen sie wiederum, ist davon auszuge­ hen, dass der Akteur gemäß den Annahmen über die Preiselastizität der Nachfrage seinen Konsum einschränkt? Fraglich ist also, wie anderes als die Lehre von den Alternativen.« Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, Erlenbach-Zürich (4. Auflage) 1946, S. 32. 29 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 84. 30 Buchanan, What Should Economists Do?, S. 90. Diese kritische Haltung Bu­ chanans gegenüber seiner eigenen Zunft zieht sich durch sein gesamtes Werk bis hin zur Finanzkrise 2008, die die Mehrzahl der Ökonomen nicht einmal in Ansätzen vorhergesehen hatte; stattdessen hätten sie ›wissenschaftliches‹ Wissen produziert, das sich angesichts der Krise als »irrelevant und im Grunde genom­ men völlig nutzlos« erwies. James Buchanan, Economists have no Clothes. 〈https:// pdfs.semanticscholar.org/b516/38e2b80fd665c60562d47253148cdc7b3813.pdf〉 31 Buchanan, What Should Economists Do?, S. 159. 32 Siehe ebd., S. 207.

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substanziell die Annahmen sind, auf denen ökonomische Theorien beruhen. Werden keine substanziellen Annahmen über Präferen­ zen und ihre Ordnung postuliert, kann das Modell jede mögliche Wahlhandlung ›erklären‹, aber aus dem gleichen Grund kann es weder Hypothesen noch Voraussagen formulieren.33 Buchanan for­ muliert diesen Punkt in etwas kryptischer Weise, wenn er schreibt, diese »logische Theorie ist tatsächlich allgemein, aber inhaltsleer; die wissenschaftliche Theorie ist nicht-allgemein, mit ihr kann aber gearbeitet werden«.34 Wie lauten also die Annahmen bezüglich der Nutzenfunktion eines Akteurs, und wie weitreichend sind sie? Ge­ rade diese Frage treibt Buchanan um, denn Akteure sind sich ihrer eigenen Nutzenfunktion nicht vollständig bewusst, sondern ver­ fügen diesbezüglich allenfalls über ein implizites Wissen. Und was noch schwerer wiegt, Nutzenfunktionen ändern sich beständig und eignen sich daher nicht als stabiles Fundament einer »Wissenschaft der Wahlhandlungen«.35 Zunächst müssen wir aber einen genaueren Blick auf Buchanans Verteidigung des Konzepts vom »ökonomischen Menschen« wer­ fen. Buchanans Argumentation ähnelt zunächst der Friedmans: »Insofern ist das ›Homo oeconomicus‹-Modell im Blick auf die Bewertung verschiedener Institutionen eine äußerst nützliche Ar­ beitshypothese, nicht weil es empirische Gültigkeit besäße, son­ dern weil es analytisch brauchbar ist.«36 Fraglich ist jedoch, wie substanziell gehaltvoll die Rationalitätsannahmen sind, die dem Modell zugrunde liegen. An dieser Stelle beginnt Buchanan nun, sich in eine theoretische Position hineinzumanövrieren, die sich als Schwachstelle seines gesamten Ansatzes entpuppen wird. Rationales Verhalten ist nicht auf eng verstandene eigeninter­ essierte Handlungen beschränkt. Nutzen kann auch dadurch ent­ stehen, dass man anderen hilft, doch das bedeutet im Umkehr­ schluss nicht, dass man auf das Wohlwollen anderer Akteure im Allgemeinen vertrauen könnte. Es scheint also, als ob das Konzept wenig prädiktive Kraft für sich beanspruchen kann, da jegliche Art 33 Siehe Donald Green, Ian Shapiro, Rational Choice: Eine Kritik am Beispiel von Anwendungen in der Politischen Wissenschaft, Oldenburg 1999. 34 Buchanan, What Should Economists Do?, S. 46. 35 Siehe ebd., S. 87. 36 Geoffrey Brennan, James Buchanan, Die Begründung von Regeln. Konstitutionelle Politische Ökonomie, Tübingen 1993, S. 72.

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von Verhalten als rational gelten muss, denn ansonsten hätte der in Frage stehende Akteur schlicht anders gehandelt. Diese sparsa­ men Rationalitätsannahmen bezüglich der Bedeutung rationalen Verhaltens resultieren in Buchanans weiter oben zitierten Worten dementsprechend in einer allgemeinen, aber inhaltsleeren Theorie. Die Nutzenfunktion des ökonomischen Menschen ist aber nicht nur unterdeterminiert, in seinen philosophischsten Momenten geht Buchanan sogar noch weiter: »Zumindest in Teilen sind wir gegenwärtig und auch zukünftig das, wozu wir uns selbst machen. Wir konstruieren unser eigenes Sein.« In diesem Sinne seien Men­ schen »artefaktische Tiere« (artifactual animals).37 Die Konsequenz dieser Vorstellung von Subjekten, die sich innerhalb bestimmter Grenzen selbst erschaffen, ist eine Problematisierung der KostenNutzen-Analyse als Grammatik einer Nutzenfunktion, denn der ökonomische Mensch »kann gar nicht anders, als sich beständig zu verändern. Und im Zuge dieser Veränderungen wird er eine andere Nutzenfunktion verkörpern.«38 Buchanan greift auf dieses Argument in seiner Kritik an Gary Beckers Ansatz zurück und gibt zu bedenken, dass die potentielle Dividende auf ›Investitionen‹ in Humankapital nicht präzise durch Homo oeconomicus kalkuliert werden kann, denn zumindest teilweise handelt es sich um eine Investition in die Wandlung des eigenen Selbst oder »eine Ausgabe um des Werdens willen«.39 Es ist überaus verlockend, diese philo­ sophischen Überlegungen weiterzuverfolgen, aber wir müssen uns hier auf die methodologischen Implikationen des ökonomischen Menschen, verstanden als artefaktischer Mensch, konzentrieren. Einerseits enthält diese Konzeptionalisierung des Verhaltensmo­ dells eine Raffinesse, die es schwierig macht, sie als bloße theore­ tische Rechtfertigung des Egoismus abzutun. Andererseits scheint es, als ob Buchanan einen Preis für diese Komplexitätssteigerung des Modells entrichten muss, und zwar dergestalt, dass das Mo­ dell weniger in der Lage ist, hinreichend bestimmte Hypothesen bezüglich des Verhaltens von Akteuren in spezifischen Situationen zu generieren. Aber obwohl die Rede von Politischer Ökonomie als Wissenschaft spontaner Ordnungen, die nicht vorgeben sollte zu wissen, wie sich die Wirtschaft auf der Ebene makroökonomischer 37 Buchanan, What Should Economists Do?, S. 94. 38 Ebd., S.  97. 39 Ebd., S.  96.

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Aggregate manipulieren lässt,40 stimmig mit seinen Vorbehalten ge­ genüber einer Wissenschaft ist, die sich mit ihrer Expertise als Bera­ tungsagentur dem politischen System andient, ist er letztlich eben doch nicht bereit, die vollen Konsequenzen aus dem Konzept des artefaktischen Menschen zu ziehen und den angesprochenen Preis zu entrichten. Wie wir weiter unten sehen werden, erweist sich dies als eine Position, die nicht nur theoretisch inkonsistent ist, sondern auch Buchanans politischem Projekt schadet. Damit sind wir bei Hayek angelangt, der unter den Neolibera­ len als prononciertester Skeptiker gelten kann, was das Möglich­ keitspotential der Wissenschaft angeht, und der diese Skepsis aus einer Sichtweise auf spontane Ordnungen ableitet, die gerade die Grenzen individueller Vernunft betont. Hayek zufolge entstehen spontane Ordnungen als Folge von menschlichem Verhalten, aber nicht menschlichem Entwurf – eine Phrase, die Hayek vom schot­ tischen Aufklärer Adam Ferguson übernimmt.41 Kein einzelner Akteur und auch keine einzelne Institution könnten aufgrund der erwähnten Grenzen menschlicher Vernunft beziehungsweise dem, was Hayek provokativ als »unsere konstitutionelle Unwissenheit« bezeichnet,42 je das leisten, was der Markt als spontane Ordnung vermag. Während niemand Marktergebnisse prognostizieren kann, da hierfür Wissen über viel zu viele relevante Einzelheiten fehlt, ist das Resultat dennoch kein Chaos, sondern »geordnete Anarchie« oder das, was Hayek mit seiner Neigung zu begrifflichen Neubeset­ zungen als »Katallaxie« bezeichnet. Über Hayeks epistemologische Annahmen im Hinblick auf Märkte und spontane Ordnungen im Allgemeinen ist viel geschrieben worden, im aktuellen Zusammen­ hang interessiert mich aber vor allem seine Kennzeichnung von Ka­ tallaxie als komplexes Phänomen, worin nämlich der entscheiden­ de Grund für seine Vorbehalte gegenüber den Wissensansprüchen der Ökonomik liegt. Aus Hayeks Perspektive sind die Prozesse, die sich auf Märkten, aber etwa auch in Ökosystemen oder bei der Entstehung von Spra­ chen vollziehen, zu komplex, um die Art von Wissen zuzulassen, die 40 Dies ist einer seiner Kritikpunkte am Keynesianismus; siehe Buchanan, Economists have no Clothes. 41 Siehe Friedrich August Hayek, Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübin­ gen (2. Auflage) 1994, S. 97-107. 42 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 15.

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Wissenschaft in ihrer Analyse anderer Gegenstandsbereiche gene­ rieren kann. Diese Komplexität erlaubt uns nur die Produktion von sehr spezifischem Wissen über allgemeine Muster, und wie so oft im neoliberalen Denken wird auch in diesem Fall die Metapher des Spiels zur Veranschaulichung herangezogen. In Hayeks Rede an­ lässlich der Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaft Die Anmaßung von Wissen legt er dar, dass es zwar auf der Grund­ lage der Kenntnis der Spielregeln unmöglich sei, einzelne Spielzüge vorauszusagen, doch dies bedeute keineswegs, dass überhaupt keine Aussage über das Spiel getroffen werden kann. »Aber die Möglich­ keit der Voraussage wird auf solche allgemeinen Merkmale des zu erwartenden Geschehens beschränkt sein, und die Möglichkeit, be­ stimmte besondere Abläufe vorauszusagen, nicht einschließen.«43 Dementsprechend ist die ›Wissenschaft‹ spontaner Ordnungen, als die sich die Ökonomie verstehen sollte, in ihren Erkenntnisansprü­ chen weitaus bescheidener als die Naturwissenschaften – nicht auf­ grund der Minderwertigkeit ihres Analyserahmens, sondern auf­ grund der Schwierigkeiten, die ihrem Gegenstandsbereich inhärent sind. Szientismus resultiert wiederum aus dem Unvermögen, diese profunden Unterschiede zwischen Wirtschaftswissenschaften und beispielsweise Physik anzuerkennen, und dieses Missverständnis erzeugt schwerwiegende Gefahren für die Gesellschaft.44 Ohne hier zu lange zu verweilen, müssen wir hier zumindest kurz die Am­ biguität von Hayeks Kritik vermerken. Es besteht natürlich kein Mangel an Interpreten, die Hayek als aufklärungsfeindlichen Den­ ker darstellen, dem es vor allem darum gehe, die Autorität der Ver­ nunft zu untergraben. Aber das Projekt ließe sich womöglich auch anders charakterisieren: »Wir vertreten hier nicht die Abdankung 43 Friedrich August Hayek, »Die Anmaßung von Wissen«, in: Die Anmaßung von Wissen. Neue Freiburger Studien, Tübingen 1996, S. 3-15, hier S. 13. Siehe darüber hinaus Friedrich August Hayek, »Die Theorie komplexer Phänomene«, in: Die Anmaßung von Wissen, S. 281-306; Friedrich August Hayek, »Zur Bewältigung von Unwissenheit«, in: Die Anmaßung von Wissen, S. 307-316. 44 Siehe hierzu eine typische Passage aus Hayeks Nobelpreis-Rede: »Aber der Glau­ be an die unbegrenzte Macht der Wissenschaft beruht nur zu oft auf einem falschen Glauben, daß wir die wissenschaftliche Methode in der Anwendung einer gebrauchsfertigen Technik oder in der Nachahmung der Form anstatt des Wesens des wissenschaftlichen Verfahrens besteht, so als brauchte man nur ein paar Kochrezepte anzuwenden, um alle sozialen Probleme zu lösen.« Hayek, »Anmaßung von Wissen«, S. 11.

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der Vernunft, sondern eine rationale Überprüfung des Bereichs, in dem es angemessen ist, die Vernunft einzusetzen.«45 Und Hayek wäre nicht der Einzige, der die Kritik an einem solchen Projekt als »›Erpressung‹ zur Aufklärung« zurückweisen würde.46 Der Punkt hier lautet, dass die Kritik der Vernunft alles andere als ein per se re­ aktionäres Unterfangen darstellt. Schließlich könnte es doch auch als ein Versuch verstanden werden, die Vernunft über ihre eigenen Grenzen aufzuklären, was schließlich die Intention hinter Kants Kritiken der Vernunft war. Es mag etwas provokativ wirken, Hayek hier in die intellektuelle Nähe von Kant und Foucault zu rücken, aber ich habe keineswegs vor, aus Hayek einen Kantianer oder Foucaultianer zu machen – und im Übrigen auch nicht umgekehrt Foucault zum Hayekianer umzudeuten, wie es in den letzten Jahren in bestimmten intellektuellen Milieus zur Mode geworden zu sein scheint.47 Mir geht es vor allem darum, die Ambivalenz eines Ansat­ zes herauszuarbeiten, der als seinen Ausgangspunkt die Begrenztheit der menschlichen Vernunft wählt und eine kritische Untersuchung ihrer Eigenschaften unternimmt. Gleichzeitig steht aber außer Fra­ ge, dass Hayeks Attacken gegen den Szientismus letztlich auf die Hybris sozialistischer Planungsphantasien abzielen, welche vom unerschütterlichen Glauben an ihre wissenschaftliche Basis getra­ gen seien. Dabei darf aber wiederum auch nicht übersehen werden, dass viele intellektuelle Vertreter einer im weitesten Sinne kritischen Agenda vermutlich der allgemeinen Kritik am Szientismus als irrige Anwendung von naturwissenschaftlich bewährten Methoden auf den Objektbereich der Sozialwissenschaften zustimmen könnten. Die Naturwissenschaften, so kann man abschließend mit Hayek bilanzieren, sind ein schlechtes Vorbild für die Sozialwissenschaf­ ten, da sie die grundsätzliche Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von Wissen und daraus resultierender Kontrolle über soziale Prozesse suggerieren, die schlicht jenseits der Möglichkeiten der Sozialwis­ senschaften liegen. Diese Beschränkung der Wissenschaft auf kaum mehr als die Prognose allgemeiner Muster treibt einen massiven Keil zwischen 45 Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 91. 46 Michel Foucault, »Was ist Aufklärung?«, in: Schriften in vier Bänden. Band IV 1980-1988, Frankfurt/M. 2005, S. 687-707, hier S. 699. 47 Siehe Daniel Zamora, Michael Behrent (Hg.), Foucault and Neoliberalism, Lon­ don 2015.

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Hayeks und Friedmans Sichtweise, was sich nicht zuletzt in Hayeks Einschätzung dokumentiert, Friedmans Essay sei »in gewisser Weise recht gefährlich«.48 Friedman macht sich doch schließlich der glei­ chen Hybris schuldig, die Hayek, aber auch Röpke und Buchanan nicht nur den sozialistischen Möchtegernplanern vorwerfen, son­ dern auch den Keynesianern, die von einer Feinjustierung der Öko­ nomie träumen. Die skeptische Formation um Hayek dürfte auch einige Bedenken gegenüber dem emphatischen Wahrheitsverständ­ nis haben, das der Wissenschaftstheorie von Eucken und Rüstow zugrunde liegt, aber vor allem die politischen Implikationen sind hier besorgniserregend. Eucken mag zwar glauben, dass eine unbe­ stechliche Wissenschaft tatsächlich abschließend die Überlegenheit einer Verkehrswirtschaft im ordoliberalen Sinn gegenüber einer Zentralverwaltungswirtschaft nachweisen kann, aber was, wenn die Sozialisten schlicht das Gegenteil behaupten und dabei ebenso eine aus ihrer Sicht unbestechliche Wissenschaft als Gewährsinstanz an­ führen? Aber dennoch sind selbst die Skeptiker nicht gewillt, voll­ ständig auf die Mobilisierung der Wissenschaft als Ressource zur Stärkung ihrer politischen Aussagen zu verzichten, wenn sie sich auch davor hüten, den geradezu metaphysischen Wahrheitsbegriff des Ordoliberalismus für sich in Anspruch zu nehmen. Das skeptische Lager ist sich mit Eucken und Rüstow zumin­ dest bis zu einem gewissen Punkt einig, was die Frage der Wertur­ teilsfreiheit in der Wissenschaft angeht. Buchanan spricht sich am deutlichsten für eine Wissenschaft aus, die durch Werte unterlegt und in gewisser Weise auch durch sie angetrieben ist. Er behauptet sogar, dass »wir in unseren Bemühungen normativer werden müs­ sen […]. Wir müssen den ›Ist-Zustand‹ nutzen, um den ›Soll-Zu­ stand‹ zu implementieren, den uns der ›Ist-Zustand‹ nahelegt, egal wie methodologisch ungehörig dieses Verhältnis erscheinen mag.«49 Es ist nicht ganz klar, wie sich diese weitreichende Forderung mit Buchanans eher deflationierter Vorstellung der Möglichkeiten der Politischen Ökonomie verträgt, aber dies ist ein weiterer Hinweis, der auf eine allgemeine Unstimmigkeit schließen lässt, deren Ein­ 48 Hayek, Hayek on Hayek, S. 271. Friedman hat sich dafür mit dem vergifteten Lob revanchiert, er sei ein »großer Bewunderer Hayeks«, aber »nicht aufgrund seiner ökonomischen Vorstellungen«. Zitiert in Alan Ebenstein, Friedrich Hayek: A Biography, New York 2001, S. 81. 49 Buchanan, What Should Economists Do?, S. 179.

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zelaspekte wir auch im Folgenden immer wieder herausarbeiten werden. Hayek hatte schon in Der Weg zur Knechtschaft in der ihm eigenen Freimütigkeit bekannt, dass das gesamte Buch durchzogen sei von bestimmten letzten Werten,50 wobei allerdings strittig sein dürfte, ob er dieses spezielle Buch als wissenschaftliches Werk im Sinne seiner Vorstellung von Wissenschaft angesehen hätte. Ähn­ liches ließe sich über Röpke sagen, dessen Werk einerseits natür­ lich aus wissenschaftlichen Studien besteht, dessen bekannteste Bücher aber nicht unbedingt seiner Vorstellung von Wissenschaft entsprechen. Er setzt sich direkt mit dem Thema Werturteile aus­ einander und legt sich auf eine wohlbekannte Position Webers fest, der gemäß Werturteile unweigerlich jeglichem wissenschaftlichen Unterfangen zugrunde liegen. Darüber hinaus warnt er vor einer politisierten Wissenschaft, die in das Reich der Interessen gesogen werde, will sich aber dennoch das Recht vorbehalten, auch über »höchste Werte« zu sprechen,51 wie er es selbst gewissermaßen auch getan hatte, bevor er ins Istanbuler Exil gehen musste. In der Fol­ ge geht Röpke aber noch einen Schritt weiter und behauptet in einer für ihn charakteristischen Wendung, dass diese fundamenta­ len Werturteile, die unweigerlich in jegliche wissenschaftliche Un­ tersuchung einflössen, nicht Gegenstand von Diskussionen seien, da sie als unkontrovers angesehen würden, was natürlich die Frage aufwirft, wie diese Einschätzung vorzunehmen ist. Je subjektiver sie seien, so Röpke, desto umstrittener seien sie, und die offensichtli­ che Nachfrage, die dies nach sich zieht, führt ihn zurück ins poten­ tiell konservative Reich einer ›natürlichen Normalität‹,52 denn aus seiner Perspektive sind Gesellschaften durch bestimmte Normen geprägt, die letztlich aus »anthropologischen Tatsachen« abgeleitet sind, die höchste Werte wie etwa »Wahrheit, Gerechtigkeit, Frie­ den, Gemeinschaft« rechtfertigten.53 Eine mit diesem Punkt verknüpfte Ambiguität findet sich be­ 50 »Aber wie ich es auch benennen mag, der wesentliche Punkt bleibt bestehen, daß alles, was ich hier zu sagen habe, aus bestimmten letzten Werten abgeleitet ist.« Hayek, Weg zur Knechtschaft, S. 15. 51 Röpke, Civitas Humana, S. 154. 52 Ähnliche Motive einer ›normativen Natürlichkeit‹ finden sich auch bei Rüstow, wenn er beispielsweise von »wesensgemäßer Einbettung« des Menschen als »das Normale, Gesunde, Natürliche und deshalb Gesollte und Aufgegebene« spricht. Rüstow, Rede und Antwort, S. 267. 53 Ebd., S. 158, 156.

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sonders deutlich bei den Wissenschaftsskeptikern und betrifft die Frage, ob der neoliberale Diskurs selbst als wissenschaftlicher Dis­ kurs anzusehen ist. Bei den Wissenschaftsenthusiasten, vor allem Eucken und Rüstow, kann es kaum Zweifel am wissenschaftlichen Selbstverständnis geben, aber bereits im Falle Friedmans könnte man argumentieren, dass Kapitalismus und Freiheit in ein ganz an­ deres Genre fällt als etwa A Monetary History of the United States, obwohl Friedman selbst vermutlich für sich in Anspruch genom­ men hätte, dass auch seine populären und für die breite Masse ge­ schriebenen Bücher in starkem Maße auf der ökonomischen Wis­ senschaft und ihrer Voraussagekraft beruhten. Buchanan wiederum oszilliert immer wieder zwischen der Sprecherposition als Ökonom in seinem Sinne und der des leidenschaftlichen Verfechters be­ stimmter politischer Reformen, und im weiteren Verlauf werden wir noch sehen, wie beide frontal aufeinanderprallen. Hayek und Röpke verfassten Schriften, die sie vermutlich als wissenschaftlich in ihrem besonderen Sinn angesehen hätten, aber das meiste, was sie als Neoliberale produzierten, passt besser in den Bereich der Sozialphilosophie als in den einer Wissenschaft von Muster-Pro­ gnosen. Nichtsdestotrotz existiert diese Philosophie ja nicht isoliert von ihrem wissenschaftlichen Werk, und zwischen beiden besteht ein komplexes Gewebe von Querverbindungen. Diese können hier nicht entwirrt werden, aber wir können hier zumindest den unklaren Status des wissenschaftsskeptischen Diskurses innerhalb des neoliberalen Denkens vermerken, was aber wiederum in ge­ wisser Weise stimmig ist mit ihrer Position insgesamt: Wenn eine Wissenschaft, die beständig in den Szientismus abzugleiten droht, eher gefährlich als nützlich im Hinblick auf die Bewältigung der neoliberalen Problematik ist, weil die neoliberalen Gegenspieler ihrerseits die Autorität der Wissenschaft offensiv für sich reklamie­ ren, dann legt die allgemeine Strategie, Leistungsfähigkeit und po­ litische Bedeutung von Wissenschaft herunterzuspielen, nahe, dass aus Sicht dieser Variante des neoliberalen Denkens schlicht nichts oder allenfalls wenig damit gewonnen ist, sich selbst ausdrücklich als Wissenschaft zu präsentieren und auf diesem herausgehobenen Status zu bestehen. Beschließen wir diese Diskussion, indem wir die beständige Sor­ ge der Neoliberalen über szientistische Tendenzen in eine umfas­ sende Diagnose der Moderne einordnen, die der neoliberalen Per­ 185

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spektive zugrunde liegt – und bis zu einem gewissen Punkt sogar über die Kluft zwischen Skeptikern und Enthusiasten hinweg ge­ teilt wird. Wie erläutert, beruhen sowohl der Fehlschluss des Szien­ tismus als auch seine fatalen Folgen auf einer Verwechslung bezie­ hungsweise Vermischung von sozial- und naturwissenschaftlichen Objektbereichen. Der Import naturwissenschaftlicher Methoden und Wissenschaftstheorien resultiert in dem, was man als Mach­ barkeitswahn bezeichnen könnte: Sozialwissenschaftler glauben, dass sie ihre exakten und prädiktiven Quasi-Naturwissenschaften mit einem Arsenal von Instrumenten versorgen können, die Sozial­ engineering zu unterschiedlichsten Zwecken ermöglichen sollen, zerstören dadurch aber Sozialgewebe, die eben nicht im gleichen Maße form- und kontrollierbar sind wie relativ geschlossene Syste­ me in der physikalischen Welt, wo Eingriffe eine weitaus größere Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Für Denker wie Hayek und Röpke ist der zeitgenössische Szien­ tismus nur das Symptom eines sehr viel weiter reichenden Prozesses in der Moderne, den sie als »Rationalismus« bezeichnen und einer scharfen Kritik unterziehen. So prangert Röpke eine »streng wis­ senschaftliche Rationalität« an, und Hayek spricht sogar von einem »Aufbegehren gegen die Vernunft« durch »konstruktivistischen Rationalismus«.54 Die Kritik des Szientismus ist hier integriert in eine Interpretation der Ideengeschichte, die zwischen einem evo­ lutionären und einem konstruktivistischen Rationalismus (Hayek) beziehungsweise einem begrenzten und einem exzessiven (Röpke) unterscheidet. Beide stimmen aber in ihrer Schuldzuweisung an die Adresse der französischen Aufklärung überein, die die Fehlentwick­ lung im Gebrauch der Vernunft zu verantworten habe. Bei Hayek kann wiederum erwartungsgemäß die Schottische Aufklärung mit ihren Repräsentanten Adam Ferguson oder David Hume die posi­ tiven Seiten der Tradition des Rationalismus für sich reklamieren, da jene ein Bewusstsein der Grenzen menschlicher Vernunft im Allgemeinen und auch ihrer Anwendung auf die Sphäre des Sozia­ len im Besonderen zeigten. In Röpkes Narrativ repräsentiert der Rationalismus die Gewalt­ samkeit der Abstraktion, die sich nicht um die konkreten Wirk­ lichkeiten des Lebens kümmert, welche in Röpkes Ansatz immer 54 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 255; Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 33.

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wieder zu grundlegenden anthropologischen Konstanten hyposta­siert werden, die die Reformer auf eigene Gefahr hin ignorieren. In scheinbarem Gegensatz zu Röpke charakterisiert Hayek die rationalistische Revolte als »gegen die Abstraktheit des Denkens« gerichtet,55 aber dies muss im Zusammenhang mit Hayeks Verteidi­ gung von abstrakten Regeln und dem Rechtsstaatsprinzip interpre­ tiert werden. Allgemein gesprochen ist übermäßige konzeptionelle Abstraktion für Hayek ebenso wie für Röpke als schwerwiegender Fehler des Rationalismus zu betrachten, was unter anderem durch Hayeks Kritik am Homo oeconomicus belegt wird: Diese »berühm­ te Fiktion« entstamme eigentlich der »rationalistischen und nicht der evolutionären Überlieferung«, und dementsprechend hält sie Hayek für ein eher bedenkliches Konzept.56 Der Vorwurf der Ab­ straktion kann aber auch auf die andere Seite der Kluft zwischen den neoliberalen Wissenschaftsverständnissen verfolgt werden, wo er etwa in Euckens Kritik am Formalismus des allgemein-theoreti­ schen Ansatzes anklingt und sehr viel hörbarer bei Rüstow thema­ tisiert wird, wenn dieser ein welthistorisches Narrativ entwickelt, in dem von einer schicksalhaften Spaltung zwischen Vernunft und Emotion die Rede ist, die zum kontinuierlichen Kampf zwischen den Kräften von Rationalismus und Irrationalismus führe.57 Rati­ onalismus manifestiert sich laut Rüstow in den Abstraktionen und Blindstellen der Laissez-faire-Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, wobei dieser Rationalismus gleichzeitig eine »subtheologische« Qualität habe,58 was sich offensichtlich auf den Deismus Smith’ und anderer bezieht, wodurch aber ein durchaus eigentümlicher Rationalismus konstruiert wird. Obwohl Rüstow dem Rationalis­ mus äußerst kritisch gegenübersteht, der auf einer Linie mit dem bedenklichen Glauben an den Fortschritt in Naturwissenschaft und 55 Ebd., S.  34. 56 Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 81. 57 »Statt von beiden Seiten her synthetisch nach der gemeinsamen und fruchtba­ ren Mitte zu streben, wurden Rationalismus wie Irrationalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts immer exzentrischer, entfernten sich immer mehr voneinander und gerieten in einen immer schrofferen wechselseitigen Gegensatz und Wider­ spruch.« Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, S. 12. 58 Ebd., S. 160. Die Rede ist auch vom »theologischen Optimismus, der den Libe­ ralismus und die liberale Wirtschaft anfangs inspiriert hatte«. Rüstow, Religion der Marktwirtschaft, S. 25.

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Technologie liege, hält ihn dies nicht davon ab, hochambitionierte Wissenschaftsprojekte zu unterstützen, die nicht nur die politische Ökonomie, sondern nicht weniger als die menschliche Natur selbst zu ihrem Gegenstand machen sollen, womit er letztlich doch dem Lager der Wissenschaftsenthusiasten zuzurechnen ist. Die einzigen beiden hier diskutierten Neoliberalen, die sich gänzlich immun gegenüber dem Topos des Antirationalismus er­ weisen, sind auf der Seite der Enthusiasten Friedman und unter den Skeptikern Buchanan, wobei dies in letzterem Fall zumindest ein wenig überraschend und auch nicht ganz so eindeutig ist. Trotz Buchanans scharfer Kritik am Szientismus extrapoliert er von die­ ser nie das, was sich bei Röpke zu einer tragischen oder gar ne­ gativen Geschichtsphilosophie auswächst, in der der ungebändigte Rationalismus droht die Zivilisation insgesamt zu zerstören. Für dermaßen gefährlich halten Röpke und Rüstow den Rationalismus, und das Gleiche gilt für Hayek, wobei er für weniger geschichtsphi­ losophischen Ballast optiert. Hayek zieht eine direkte Verbindung zwischen der Hybris der Vernunft und dem Aufstieg des moder­ nen Totalitarismus,59 und auch Rüstow wertet Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus letztlich als irrationalistische Revolten gegen einen vereinseitigten und verabsolutierten Ratio­ nalismus.60

Neoliberale Wissenschaft und Politik: Technokratie versus »Verwissenschaftlichte Politik« Im Kontext der abschließenden Thematik dieses Kapitels tritt die Bandbreite neoliberaler Positionen besonders deutlich hervor. In Frage steht die Rolle, die eine wie auch immer verstandene Wis­ senschaft im Verhältnis zu Politik spielen sollte, ob sie sich mit ihren Bemühungen an ein außeruniversitäres Publikum richten sollte und wer ganz grundsätzlich ihr Ansprechpartner sein soll­ te. In dieser Frage vertreten Eucken und Buchanan gegensätzliche Positionen und repräsentieren damit die Pole des Spektrums der 59 Siehe Friedrich August Hayek, Mißbrauch und Verfall der Vernunft, Tübingen 2004. 60 Siehe Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, S. 334-393.

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diversen neoliberalen Perspektiven. Natürlich ist ihre Bewertung der Rolle, die Wissenschaft in der Politik spielen sollte, geprägt von den jeweiligen (Sozial-)Wissenschaftsverständnissen, wobei sich aber die entsprechenden Positionen nicht gänzlich auseinander ableiten lassen. Es ist daher nicht sonderlich überraschend, dass etwa Buchanan als Repräsentant der skeptischen Fraktion gewis­ se Vorbehalte hegt, was die politische Rolle von Wissenschaft angeht. Unter den Neoliberalen ist er zweifellos derjenige, der sich am entschiedensten dazu äußert, welche Rolle die Wissenschaft im Verhältnis zu Politik gerade nicht spielen sollte, nämlich poli­ tischen Entscheidungsträgern ihre Dienste in Form einer wissen­ schaftlichen Politikberatung anzubieten. Viele der übrigen hier diskutierten Denker mögen mehr oder weniger schwere Beden­ ken haben, aber sie sind nicht grundsätzlich gegen eine derartige Beratungsrolle, selbst wenn sie sie nicht aktiv für sich einfordern wie Eucken, auf den wir später ausführlich zurückkommen. Nur Buchanan wendet sich kategorisch gegen die Vorstellung des Wis­ senschaftlers als Politikberater und vertritt damit ein Ende des neoliberalen Spektrums in dieser Frage. Seine Position stützt sich auf zwei Gründe. Der erste hat weniger mit seinem Wissenschafts­ verständnis zu tun und ist eine Konsequenz aus seinen PublicChoice-Grundannahmen. Falls Buchanans Analyse des Verhaltens von Politikern und Parteien zutrifft und beide alles tun würden, um an mehr Macht zu gelangen beziehungsweise an der Macht zu bleiben, dann ist ein Politökonom, der sich mit Plänen für eine Verfassungsreform an sie wendet, die die Zustimmung der Bür­ ger finden könnte, bestenfalls naiv. Warum sollten sich Politiker eine solche Reformagenda zu eigen machen, wenn die Intention dieser Reformen nicht zuletzt darin besteht, es politischen Ak­ teuren zu erschweren, die Praxis des rent-seeking zu betreiben? Im schlimmsten Fall könnte eine Wissenschaftlerin, die Politiker mit Erkenntnissen und Argumenten versorgt, diesen Informationen bieten, die sie für ihre eigenen Zwecke nutzen können, und würde damit ungewollt aktuellen Amtsinhabern in die Hände spielen, die versuchen, ihre Macht auf Kosten der Bevölkerung insgesamt zu konsolidieren. »Die Rolle der ›ökonomischen Wissenschaft‹ darf nicht so verstanden werden, dass sie bestimmten Akteuren Hilfe anbietet, die wissenschaftliches Wissen zur Kontrolle anderer nut­ 189

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zen wollen.«61 Der Grund hierfür ist zweifellos, dass »die konstitu­ tionelle Sichtweise in einem unversöhnlichen Gegensatz zu dem Modell des wohlwollenden Alleinherrschers« steht.62 Tatsächlich ist nämlich dem Keynesianismus, dem Sozialismus und der Wohl­ fahrtsökonomik mit ihrer Vorstellung von einer ›gesellschaftlichen Nutzenfunktion‹, die es zu maximieren gilt, ihre jeweils irrige strikt ökonomische Sichtweise mindestens ebenso vorzuwerfen wie ihr fehlgeleiteter Glaube, dass ihre wissenschaftliche Expertise von politischen Entscheidungsträgern begrüßt und diese sich in ihrem Handeln danach richten würden. Selbst wenn Keynes mit seiner Theorie über die politische Ökonomie von Wirtschaftskrisen und den Möglichkeiten des Staates, die Ökonomie durch Konjunktur­ zyklen zu steuern, Recht gehabt hätte, lässt seine Missachtung der Bedeutung von elektoralen Zyklen aus Buchanans Perspektive auf ein Politikverständnis schließen, das entweder unrealistisch oder technokratisch-elitär ist – oder gar beides. Der Keynesianismus ist ein wirtschaftspolitisches Programm, das darauf vertraut, dass Re­ gierungen strikt gemäß wissenschaftlichen Empfehlungen agieren, aber ihm fehlt jegliches Verständnis der »institutionellen Welt, in der Entscheidungen getroffen werden«.63 Buchanan entwickelt hier also ein Argument, das sich ohne Umschweife gegen die grundsätz­ liche Möglichkeit wissenschaftlicher Politikberatung unter demo­ kratischen Bedingungen wendet. Aber was, wenn es rein hypothetisch doch wohlwollende Des­ poten gäbe? Diese Frage weist uns in die Richtung der zweiten Quelle, aus der sich Buchanans Vorbehalte gegen eine wissenschaft­ liche Politikberatung speist. Die kompakteste Formulierung der entsprechenden Argumente findet sich in einem Artikel, der den Titel »Das tyrannische Potential von Politik als Wissenschaft« trägt. Buchanans Prämisse lautet hier, dass es einen kategorischen Unter­ schied zwischen Politik und Wissenschaft als institutionalisierten Praktiken gibt, was bereits darauf schließen lässt, dass ihre Vermi­ schung aus seiner Perspektive für Probleme sorgen muss. Prinzipiell kann es auf zweierlei Weise dazu kommen: Zum einen kann es 61 James Buchanan, Liberty, Market and State: Political Economy in the 1980s, Brigh­ ton 1986, S. 38. 62 Brennan/Buchanan, Besteuerung und Staatsgewalt, S. 5 f. 63 James Buchanan, Richard Wagner, Democracy in Deficit: The Political Legacy of Lord Keynes, London 1977, S. 35.

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sich um eine gänzlich politisierte Wissenschaft handeln, aber was Buchanan weitaus mehr beschäftigt, ist die andere Möglichkeit ei­ ner »verwissenschaftlichten Politik«64 oder das, was wir als Politik auf der Grundlage von Wissenschaft oder gar als Technokratie be­ zeichnen könnten. In der Politik geht es um Werte und Interessen, wohingegen es laut Buchanans stilisierter Gegenüberstellung in der Wissenschaft um bestimmte Sichtweisen geht: »Politik hat funkti­ onal gesehen die Aufgabe, Konflikte zwischen individuell vertrete­ nen Werten und Interessen zu regeln.«65 Das eigentümliche Wesen der Politik verdeutlicht sich in einem ihrer bevorzugten Instrumen­ te, um das Aufbrechen offener Konflikte zu verhindern, dem Kom­ promiss. Divergierende Interessen und Einschätzungen lassen sich im Rahmen eines Kompromisses bis zu einem gewissen Grad so verarbeiten, dass keine der beteiligten Parteien ins Unrecht gesetzt wird; der Kompromiss erfordert nur, dass sie bestimmte Abstriche machen. Dieser Kontext unterscheidet sich zutiefst von der insti­ tutionalisierten Praxis der Wissenschaft, wo es um die ›Wahrheit‹ (Buchanan setzt den Begriff konsequent in Anführungszeichen) unserer Ansichten geht. Lange vor dem vermeintlichen Anbruch des ›postfaktischen Zeitalters‹ beschreibt Buchanan die Wissen­ schaft als eine Praxis, die alternative Wahrheiten nicht akzeptieren kann, da die Regeln, die der Praxis zugrunde liegen, besagen, dass eine akzeptierte Wahrheit gemäß der Logik eines Nullsummen­ spiels notwendigerweise alle alternativen Sichtweisen falsizifiziert. Dementsprechend gibt es hier keinerlei Raum für Kompromisse und Verhandlungen: »Wissenschaft als Praxis steht in einer grö­ ßeren Analogie zu Religion als zu Handel«66 – nicht zuletzt im Hinblick auf die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden: Jemand, der glaubt, dass die Erde rund ist, kann nicht einfach akzeptieren, dass andere behaupten, sie sei flach, und es dabei belassen – was tatsächlich wahr ist, muss festgestellt werden, um die Kontroverse zu beenden. »Die soziale Funktion von ›Wissenschaft‹, die Praxis der Spezialisten, besteht darin, Dialog und Diskurs ein Ende zu setzen. […] Einvernehmen unter den Spezialisten einer bestimm­ ten Thematik in Verbindung mit der nachfolgenden Akzeptanz der Nicht-Spezialisten signalisiert das Ende eines wissenschaftli­ 64 Buchanan, Liberty, Market and State, S. 40. 65 Ebd., S.  49. 66 Ebd., S.  43.

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chen Konflikts.«67 Diese Formulierung klingt etwas drastisch, aber ­worum es Buchanan geht, ist die ›dekontestatorische‹ Funktion von Wissenschaft,68 die Konflikte nicht managt und moderiert, sondern beendet. Diese binäre Struktur unterscheidet die Wissen­ schaft radikal von der Gradualität von Interessen und Werten. Diese Gegenüberstellung wirft offensichtlich einige Frage auf, und Buchanan selbst räumt ein, dass es einerseits absolute Werte geben mag, die aus subjektiver Perspektive gerade nicht kompro­ missfähig sind, und andererseits gelten wissenschaftliche Einsich­ ten heutzutage nicht mehr als absolut wahr oder falsch. Aber akzep­ tieren wir vorläufig diesen stilisierten Kontrast und konzentrieren uns auf die Schlussfolgerungen, die er in Bezug auf die Rolle der Wissenschaft in der Politik zieht. Die Politik ist das Reich des Rela­ tiven, des Verhandelns, des Vorläufigen und des Teilweisen. Wenn wissenschaftliche Geltungsansprüche in dieses Reich hineingetra­ gen werden, verändert es sich auf grundlegende Weise. Sobald eine bestimmte Wahrheit festgestellt worden ist, enden alle Konflikte und Verhandlungen, und in diesem Sinn ist wissenschaftliche Po­ litik keine Politik, wie Buchanan sie definiert. Wahrheiten in Frage zu stellen, gilt nicht mehr als legitim, und während Interessenkon­ flikte tolerierbar waren, können epistemische Konflikte nur so lan­ ge andauern, bis die entsprechende Wahrheit festgestellt worden ist. Danach andauernde Uneinigkeit lässt auf die mehr oder weniger schwerwiegende Verblendung des Dissentierenden schließen. Die autoritären Implikationen liegen auf der Hand: »Denjenigen, die es nicht ›sehen‹, muss das ›Licht gezeigt werden‹, womöglich bevor­ zugt durch Überredung, aber falls notwendig, durch Zwang.«69 Die wissenschaftlich verbürgte Politikagenda verdrängt alle alternativen Erwägungen, vor allem im Hinblick auf die Maximierung etwa ei­ ner gesellschaftlichen Nutzenfunktion. Daher ist eine solch tech­ nokratische Herrschaft als inhärent tyrannisch abzulehnen, lautet Buchanans Schlussfolgerung. Zwei Punkte bedürfen der weiteren Erläuterung, und beide be­ treffen die Implikationen für Buchanans eigene wissenschaftliche Praxis. Es scheint, als habe er keinerlei Intention, seine Expertise 67 Ebd., S. 42 f. 68 Siehe zum Begriff der Dekontestation (im Hinblick auf Ideologien) Michael Freeden, Ideologies and Political Theory: A Conceptual Approach, Oxford 1996. 69 Buchanan, Liberty, Market and State, S. 52.

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politischen Entscheidungsträgern anzubieten,70 doch andererseits richtet er sich mit seinen Büchern auch nicht ausschließlich an ein rein akademisches Publikum. Erinnern wir uns daran, dass Buchanan zumindest ein gewisses Maß an Hoffnung auf eine kon­ stitutionelle Revolution in das Instrument von Referenden setzt, und dementsprechend ist es durchaus stimmig, dass seine anvisier­ te Leserschaft außerhalb des Elfenbeinturms die Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen sind: »Unser letztliches normatives Interesse gilt den Steuerzahlern oder Bürgern«,71 die darüber informiert wer­ den sollen, wie sie mutmaßlich von ihren Regierungen ausgebeutet werden und welche alternativen Regelordnungen denkbar wären. Dies ist eine vertretbare Position, aber sie zieht die Frage nach sich, wie genau sich die Beratung von Bürgern in politischen Angelegen­ heiten von der Beratung von Politikern unterscheidet, wenn das Problem doch wissenschaftliche Wahrheitsansprüche an sich sind, die in zu engen Kontakt mit der Sphäre der Politik kommen. Aus meiner Sicht gibt es für Buchanan bei der Beantwortung dieser Frage zwei Optionen. Entweder beansprucht er für das, was er tut, nicht das Etikett der Wissenschaft, oder er reklamiert es für sich und liefert seinem Publikum dann aber eine Art von Wissen, das sich von den Nullsummenspiel-Konstellationen unterscheidet, die er als typisch für die wissenschaftliche Praxis charakterisiert hatte. Für letztere Option sprechen etwa die Schlusspassagen von Besteuerung und Staatsgewalt, dessen Autoren (Brennan und Buchanan) hoffen, dass es ihnen gelingt, »die Grundlagen für Debatten über Steuerreformen zu verschieben«, dabei aber »nicht dem Fehler ver­ fallen, zu behaupten, daß selbst aus dem im höchstmöglichen Maß idealisierten Modell der konstitutionellen Entscheidung mit Not­ wendigkeit eine eindeutige konstitutionelle Lösung hervorgeht«.72 Dies legt nahe, dass es immer noch die Sache der Bevölkerung ist, über die Art und Weise der Begrenzung des Regierungshandelns zu entscheiden; die Wissenschaft bietet ihnen in diesem Fall gerade nicht die unumstrittene Gewissheit, die ihren Einsichten ansonsten vermeintlich zu eigen ist. Dieses Wissen über alternative Optionen erscheint aber weitaus weniger tyrannisch und könnte womöglich auch wohlwollenden Despoten zur Verfügung gestellt werden, die 70 Siehe Brennan/Munger, »The Soul of James Buchanan?«. 71 Brennan/Buchanan, Besteuerung und Staatsgewalt, S. 1. 72 Ebd., S. 257, 258.

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dann nach bestem Wissen (und womöglich auch Gewissen) ihre Entscheidungen treffen könnten. Anders formuliert, macht es den Eindruck, als ob in dem Moment, in dem man die Ebene der all­ gemeinen Reflexion über Wissenschaft und Politik verlässt und sich konkreten Plänen konstitutioneller Reform zuwendet, weniger problematische Vermittlungsmöglichkeiten zwischen Wissenschaft und Politik erkennbar würden als der gefürchtete Sozialingenieur keynesianischer oder sozialistischer Provenienz. Als zweiter Punkt ist festzuhalten, dass Buchanan in vielen ­Aspekten seines Werkes deutlich macht, dass er nicht nur allgemein darauf hofft, dass Bürgerinnen und Bürger für irgendeine Art von staatlicher Begrenzungsmaßnahme votieren. Denn das ­Balanced Budget Amendment wird schließlich nicht als eine von vielen möglichen Optionen diskutiert; wenn überhaupt, dann ist nur sei­ ne spezifische Ausgestaltung Verhandlungssache. Noch wichtiger aber ist die Frage, inwieweit es stimmig ist, die dekontestatorische Funktion zu problematisieren, sobald sie in den Raum des Politi­ schen importiert wird, und gleichzeitig die Verabschiedung eines Verfassungszusatzes zu ausgeglichenen Haushalten zu fordern, der ebenjenen dekontestatorischen Effekt hätte. Genau wie die Wis­ senschaft in Buchanans oben zitierter Charakterisierung würde das Amendment Dialog und Diskurs über dieses Thema ein Ende set­ zen und im Idealfall (aus Buchanans Perspektive) in seine langwäh­ rende Entpolitisierung münden. Die Virulenz all dieser Punkte tritt noch deutlicher hervor, sobald wir Buchanans eigene Aktivitäten in unsere Betrachtung integrieren. Man würde diesbezüglich zunächst davon ausgehen, dass für ihn die Beratung von Politikern kein Thema ist, da sie eben keine wohlmeinenden Diktatoren sind.73 Nichtsdestotrotz berieten Buchanan und seine Kollegen am Cen­ ter of Public Choice Politiker und Geschäftsleute in ökonomischen Angelegenheiten; und während sich diese Aktivitäten auf die politökonomischen Eliten Virginias beschränkten, vergrößerte sich die Reichweite von Buchanans Wirken durch Seminare und Vorlesun­ gen beträchtlich. Man könnte sich die Frage stellen, inwiefern sich eigentlich die Beratung äußerst reicher Bürger von der Beratung von Politikern unterscheidet, wenn es die äußerst reichen Bürger sind, 73 »Im Gegensatz dazu führt unsere Verwendung des Leviathan-Modells der Politik nicht zu einem Beratungsangebot an den Staat.« Ebd., S. 237.

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die mit ihren Spenden die zunehmend kostspieligen Wahlkampa­ gnen dieser Politiker finanzieren. Und zuletzt ist da noch die Tatsa­ che, dass Buchanan – ebenso wie Friedman und Hayek – zweimal Chile besuchte; wobei nach wie vor umstritten ist, welche Rolle ge­ nau er im Hinblick auf die Militärdiktatur Augusto Pinochets spiel­ te. Schenkt man Nancy MacLeans durchaus kontrovers diskutierter Studie Glauben, dann lieferte »Buchanan detaillierte Ratschläge, wie sich die Demokratie in Fesseln legen ließe, und zwar im Zuge von fünf normalen Vorträgen vor führenden Vertretern der Regierungs­ elite, in der Wirtschafts- und Militärwelt verschmolzen, ganz abge­ sehen von den Beratungsgesprächen, die privat und undokumen­ tiert stattfanden.«74 Mittlerweile gilt MacLeans Narrativ zu Recht als in vielerlei Hinsicht problematisch, da sie konsequent die Maxime des hermeneutischen Wohlwollens in ihr Gegenteil verkehrt. Die in­ vestigative Forschung von Andrew Farrant und anderen hat dagegen gezeigt, dass Buchanans Haltung zu Chile allermindestens von einer tiefen Ambivalenz geprägt war. So fand die zweite Reise anlässlich eines Treffens der Mont Pèlerin Society in Santiago de Chile statt, an der Buchanan ursprünglich weder teilnehmen noch einen Vor­ trag halten wollte und sich offensichtlich wenig angetan vom Mili­ tärregime Pinochets gab: »Tatsächlich berichtete El Mercurio [eine der Regierung nahestehende chilenische Tageszeitung, TB], dass Buchanan im Rahmen einer nicht genauer benannten Paneldiskus­ sion während der Konferenz eine leidenschaftliche Verteidigung der Demokratie vorgetragen habe (eine ›spontane Intervention‹) und eine Reihe von MPS-Kollegen rügte, die die Diktatur verteidigten.«75 Allerdings gibt einem dennoch zu denken, dass Buchanan Details der ersten Reise im Mai 1980, auf die sich MacLean im obigen Zitat bezieht, vollständig für sich behielt, jedenfalls ist sie in seinem riesi­ gen Werk, soweit ich sehen kann, kein einziges Mal erwähnt. Nicht nur muss er sich im Klaren über den öffentlichen Gegenwind ge­ wesen sein, auf den etwa Friedman mit seinen dortigen Beratungs­ aktivitäten traf; sollte er tatsächlich das Militärregime in welcher Form auch immer beraten haben – was aber eben keineswegs belegt 74 Nancy MacLean, Democracy in Chains: The Deep History of the Radical Right’s Stealth Plan for America, New York 2017, S. 158. 75 Andrew Farrant, Vlad Tarko, »James Buchanan’s 1981 visit to Chile: Knightian democrat or defender of the ›Devil’s fix‹?«, in: Review of Austrian Economics 32 (2019), S. 1-20, hier S. 4.

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ist76  –, dann hätte er genau das getan, weswegen er Wohlfahrts­ ökonomen und Keynesianer immer aufs Härteste kritisiert hatte: Expertenberatung für eine herrschende Elite, die nur ein, und in diesem Fall wirklich nur ein Ziel hat, nämlich an der Macht zu bleiben und die Bevölkerung auszubeuten. Bewegen wir uns in Richtung des anderen Endes des neolibera­ len Spektrums in dieser Thematik, treffen wir auf Neoliberale, die ganz offen weitaus stärker in die Politik involviert sind. Hayek traf beispielsweise Pinochet in Chile und schrieb auch regelmäßig Brie­ fe an Margaret Thatcher, als sie Premierministerin war. Und auch Friedman beriet Pinochet nachweislich und war zudem Mitglied des Economic Policy Advisory Board der Reagan-Regierung.77 In beiden Fällen finden sich nur wenige Reflexionen über das ange­ messene Verhältnis von Wissenschaft und Politik oder die spezi­ fische Frage, ob Wissenschaft mit ihrer Expertise Politikberatung betreiben könnte und sollte.78 Mit Blick auf Friedman erscheint die Annahme plausibel, dass seine prädiktive Wissenschaft nicht 76 Es gibt zumindest eine Vielzahl von Indizien, die nahelegen, dass auch Buchanans erster Besuch nur schwerlich zu einer Art platonischer Tyrannenberatung hoch­ stilisiert werden kann. Siehe dazu Andrew Farrant, »What Should Knightian Economists Do? James Buchanan’s 1980 Visit to Chile«, in: Southern Economic Journal 85 (2019), S. 691-714. 77 Seine Beratung des umstrittenen Pinochet-Regimes rechtfertigte Friedman auf bemerkenswerte Weise: »Trotz meiner tiefgehenden Differenzen mit dem auto­ ritären politischen System in Chile betrachte ich es ebenso wenig als bösartig, wenn man als Ökonom der chilenischen Regierung technisch-ökonomische Ratschläge gibt, damit die Seuche der Inflation beendet wird, als ich es als bös­ artig ansehen würde, wenn ein Arzt der chilenischen Regierung technisch-medi­ zinische Ratschläge erteilen würde, um eine medizinische Seuche zu beenden.« Milton Friedman, »Reply to letter from the Citizens’ Committee on Human Rights and Foreign Policy«, in: Newsweek June 14, S. 5, S. 8, hier S. 8. Siehe zu Friedmans Rolle im Verhältnis zum Pinochet-Regime die differenzierte Einschät­ zung in John Meadowcroft, William Ruger, »Hayek, Friedman, and Buchanan: On Public Life, Chile, and the Relationship between Liberty and Democracy«, in: Review of Political Economy 26 (2014), S. 358-367. 78 Siehe zu Friedmans Selbstverständnis als öffentlicher Intellektueller wiederum die kritische Einschätzung Buchanans, der in einem Brief schreibt: »Sieh Dir zum Beispiel Friedman an, […] er denkt und redet, als ob er den Leuten sagen wollte, was sie wollen sollten, und zwar im Hinblick auf grundlegende Werte, was überhaupt nicht seiner Rolle angemessen ist, oder jedenfalls ist das mein Eindruck […].« Brief an Vining vom 8. März 1974, zitiert in Farrant, »What Should Knightian Economists Do?«, S. 711.

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nur bei der Dekontestation bestimmter Materien der normativen Ökonomie in der öffentlichen Debatte Hilfestellung leisten sollte, wie es auch im Methode-Essay erwähnt wird, sondern auch Poli­ tiker über die zu erwartenden Effekte einer bestimmten Reform informieren sollte. Noch wichtiger sogar dürfte die wissenschaftli­ che Beratung bezüglich der Zwecklosigkeit mancher Reformen sein, wie etwa des keynesianischen Nachfragemanagements, das gemäß Friedmans berühmtem Argument kein dauerhaftes Wachstum, sondern nur Inflation zur Folge habe. Negative Politikberatung in diesem Sinne ist also mindestens ebenso wichtig wie ihr positives Gegenstück. In diesem Zusammenhang ist aber auch darauf hin­ zuweisen, dass Politiker vermutlich gut daran tun mitzubedenken, dass sowohl positive als auch negative Ratschläge auf Modellannah­ men beruhen, die ausdrücklich unrealistisch sind. Scheitert eine politische Reform und die Öffentlichkeit verlangt nach einer Er­ klärung, dann bietet der Verweis auf eine Wissenschaft, die sich mit ihrem Antirealismus brüstet, womöglich nicht die Art von ›wissen­ schaftlicher Legitimation‹, die tatsächlich dekontestatorische Wir­ kungen bei den Bürgerinnen und Bürgern erzielen würde. Wie wir bereits wissen, hat Hayek viel zur Wirkkraft von Ideen auf politische Makroprozesse zu sagen, zur Frage wissenschaftlicher Politikberatungen finden sich allerdings nur wenige Überlegun­ gen. Dies erklärt sich aus seiner zunehmend evolutionstheoreti­ schen Konzeptionalisierung der Kulturgeschichte, aber auch aus seinen Vorbehalten gegenüber einer verwissenschaftlichten Politik. Schließlich muss etwa die Friedmansche Verbindung von Wissen­ schaft und Politik aus Hayeks Perspektive äußerst bedenklich er­ scheinen. Doch was hätte eine Wissenschaft spontaner Ordnungen politischen Entscheidungsträgern überhaupt politisch zu bieten? Haben Muster-Voraussagen (pattern predictions) einen unmittelba­ ren handlungsrelevanten Nutzen? Vermutlich nicht für den Inge­ nieur, aber möglicherweise für den Gärtner. Hayek insistiert: »Was die Wissenschaft als Anleitung für die Politik sinnvoll leisten kann, ist Aufklärung über das Wesen der spontanen Ordnung allgemein und nicht Vermittlung irgendwelcher Kenntnisse der Einzelheiten einer konkreten Situation – Kenntnisse, über die sie nicht verfügt und auch nicht verfügen kann.«79 Aber wenn auch dieses Wissen 79 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 66.

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von keinerlei Nutzen zur Kontrolle von konkreten Einzelheiten ist, bekräftigt Hayek doch seinen politischen Wert: »Er [der Mensch] wird daher, was immer er an Wissen erwerben kann, nicht dazu verwenden dürfen, um die Ergebnisse zu formen, wie der Hand­ werker sein Werk formt, sondern ein Wachsen zu kultivieren, in­ dem er die geeignete Umgebung schafft, wie es der Gärtner für seine Pflanzen schafft.«80 Die Wissenschaft hat hier also einen eher moderaten und indirekten Einfluss auf die Politik, doch Hayek lässt keinen Zweifel an der grundsätzlichen politischen Nützlich­ keit der (ökonomischen) Wissenschaft und des spezifischen Wis­ sens, das sie produziert. Bei weitem die systematischste Reflexion der Rolle von Wis­ senschaft in der Politik in Verbindung mit den weitreichendsten Ansprüchen auf direkten politischen Einfluss findet sich allerdings in den Schriften der Ordoliberalen, wobei man hier zumindest auf der programmatischen Ebene Röpke etwas herausnehmen muss, der sich aufgrund seiner Bedenken gegenüber dem Szientismus für eine gewisse Distanz zwischen Wissenschaft und Politik aus­ spricht. Zwar ist sein Wissenschaftsverständnis durchaus elitär, und Wissenschaftler zählen aus seiner Perspektive zur »Nobilitas naturalis«,81 die in vielerlei Hinsicht an Platons Wächterstand er­ innert, aber dennoch sorgt er sich um die politische Appropriation wissenschaftlicher Erkenntnisse und liegt daher letztlich nicht voll­ ständig auf einer Linie mit Eucken und Rüstow. Allerdings hielt ihn dies nicht davon ab, beispielsweise in der Brauns-Kommission mitzuarbeiten, die die Weimarer Regierung im Management der Weltwirtschaftskrise beriet.82 Rüstow und vor allem Eucken stehen für ein Verständnis des Verhältnisses von Politik und Wissenschaft, das kaum anders als technokratisch charakterisiert werden kann. Dementsprechend 80 Hayek, Anmaßung von Wissen, S. 14. 81 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 191. 82 Siehe Hennecke, Wilhelm Röpke. Vgl. darüber hinaus auch die nuancierte Beur­ teilung der politischen Rolle des Wissenschaftlers in Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 197 f. Offensiver heißt es an anderer Stelle mit Blick auf die Aufgabe der Ökonomie: »Wir wollen uns nicht bei der trivialen Feststellung auf­ halten, daß sie die Regierungen, die organisierten Gruppen und die öffentliche Meinung in allen wirtschaftspolitischen Entscheidungen orientieren und beraten und die Kräfte schulen soll, die sich auf diese Aufgabe spezialisieren.« Röpke, »Der wissenschaftliche Ort«, S. 381.

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geht es ihnen darum, Zugang zu politischen Entscheidungsträ­ gern zu erlangen, und dies wird nirgendwo deutlicher ausgespro­ chen als im Editorial einer neuen Schriftenreihe (»Ordnung der Wirtschaft«), das gemeinsam vom Ökonomen Eucken und den Juristen Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth im Jahr 1936 verfasst wird: »Aus tiefer Überzeugung heraus, die sich auf die ge­ schichtliche Erfahrung stützt, wollen wir die wissenschaftliche Ver­ nunft, wie sie in der Jurisprudenz und in der Nationalökonomie zur Entfaltung kommt, zum Aufbau und zur Neugestaltung der Wirtschaftsverfassung zur Wirkung bringen.«83 Rufen wir uns in Erinnerung, dass der wissenschaftliche Ansatz im weitesten ordo­ liberalen Sinne strikt interdisziplinär sein muss und die inter- und intradisziplinäre Spezialisierung überwinden muss, um verwertba­ res Wissen über die Totalität der sozialen Verhältnisse bereitstellen zu können und damit eine kohärente Politik der Wettbewerbsord­ nung anzuleiten: »Die Behandlung aller konkreten rechts- und wirtschaftspolitischen Fragen muss an der Idee der Wirtschafts­ verfassung ausgerichtet sein.«84 Die Wirtschaftsverfassung ist der Referenzpunkt aller wirtschaftspolitischen Einzelentscheidungen, und so erlangt die Wissenschaft einen Status der Unabdingbarkeit, ist doch nur sie in der Lage, das dementsprechend erforderliche umfassende Wissen zu generieren.85 Die Erfassung der Komplexi­ täten interdependenter sozioökonomischer Ordnungen, so scheint es, liegt schlicht jenseits der kognitiven Fähigkeiten der Laien.86 Und so unternahmen Eucken und Rüstow zwar einige Anstren­ gungen, durch eine geplante Zeitschrift und Gastbeiträge in Zei­ tungen Einfluss auf die allgemeine öffentliche Diskussion auszu­ üben, doch die Hauptstrategie bestand eindeutig darin, sich direkt an Entscheidungsträger zu wenden und ihnen wissenschaftlich verbürgte Politikberatung anzubieten. Denn an der Spitze jeder 83 Franz Böhm, Walter Eucken, Hans Großmann-Doerth, »Unsere Aufgabe« (Vor­ wort der Herausgeber), in: Franz Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung. Ordnung der Wirtschaft 1, Stuttgart/ Berlin 1937, S. vii-xxi, hier S. xviii. 84 Ebd. 85 »Dieses Ganze in seinen Zusammenhängen zu erkennen, ist aber der unmittelbaren Anschauung der heutigen Wirklichkeit nicht möglich.« Eucken, Grundlagen, S. 18. Siehe auch Rüstow, Rede und Antwort, S. 15 f. 86 Siehe Rüstow, Religion der Marktwirtschaft, S. 34.

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Gesellschaft stehen die »führenden Schichten«,87 schreibt Eucken, und befindet sich damit nach wie vor in der Nähe der italienischen Elitetheoretiker. Diese Eliten müssen von der korrekten Politik der Wettbewerbsordnung überzeugt werden: »Die Prinzipien braucht im einzelnen und in ihrem Zusammenhang nur die verantwortliche Führungsschicht zu verstehen.«88 Auch hier zeigt sich noch einmal deutlich die Furcht vor der vermeintlichen Irrationalität der Mas­ sen, die allen Ordoliberalen große Sorgen bereitet, was zwar vor dem Hintergrund der disruptiven politischen Erfahrungen der Endpha­ se der Weimarer Republik in gewisser Weise nachvollziehbar ist, doch entgegen dem bereits weiter oben erwähnten apologetischen Narrativ ist zumindest bei jemandem wie Eucken nicht erkennbar, dass sich diese Haltung im Kontext der jungen Bundesrepublik ändert; das soeben angeführte Zitat stammt aus den 1952 posthum veröffentlichten Grundsätzen der Wirtschaftspolitik.89 Es kann also kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Ordoliberalen von der Wirtschaftspolitik als exklusiver Domäne weiser Männer träumten, die ihre Entscheidungen allein auf der Grundlage der Wissenschaft und der von ihr identifizierten Wahrheit treffen würden.90 Es gibt theoretische Gründe, die diese Bewertung stützen, aber auch kon­ krete empirische Belege für solch ein Projekt wie den Briefwech­ sel zwischen Eucken und Rüstow in den späten 1920er und frü­ hen 1930er Jahren, der dokumentiert, dass Eucken mit Hilfe von Rüstows Verbindungen Zugang zu bestimmten politischen Zirkeln erlangen wollte. Rüstow wiederum versuchte bei seinen eigenen Be­ mühungen um politische Einflussnahme Anfang der 1930er Jahre von Euckens wissenschaftlicher Reputation zu profitieren. Wir werden ganz zu Ende des Kapitels noch einmal auf diese beiderseits hilfreiche, wenn auch letztendlich erfolglose Koope­ ration zurückkommen. Zunächst ist aber zu klären, warum die 87 Eucken, Grundsätze, S. 17. 88 Ebd., S. 308. Und selbst innerhalb dieser Führungsschicht scheinen nur wenige über die erforderliche Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge zu verfügen. Siehe Eucken, »Das ordnungspolitische Problem«, S. 79. 89 Siehe dazu Thomas Biebricher, »Ordoliberalism, Authoritarianism and Democ­ racy«. 90 Siehe Gebhard Kirchgässner, »Wirtschaftspolitik und Politiksystem: Zur Kritik der traditionellen Ordnungstheorie aus der Sicht der Neuen Politischen Ökono­ mie«, in: Dieter Cassel, Bernd-Thomas Ramb, Jörg Thieme (Hg.), Ordnungspolitik, München 1988, S. 53-75.

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Wissenschaft von solch entscheidender Bedeutung für die Politik der Wettbewerbsordnung und für ein ordoliberales Projekt im All­ gemeinen ist. Es ist nicht nur die umfassende Reichweite wissen­ schaftlicher Analyse, die sie zu einer notwendigen Ressource für ein solches Projekt macht, sondern auch, dass sie die einzige Kraft ist, die den Einfluss von Interessengruppen und ihren Ideologien in pluralistischen Demokratien kognitiv zu neutralisieren vermag. Euckens dichotomische Konzeptionalisierungen lassen in dieser Hinsicht kaum Interpretationsspielraum. Wissenschaftler generie­ ren Wahrheit – im Singular –, doch wenn sie in politischen Ent­ scheidungszusammenhängen marginalisiert werden, dann nehmen die Gruppen der Interessenten und deren Ideologien ihren Platz ein. Die Verbindung von Interessen und Ideologien ist insofern wichtig, als es nicht nur der richtige wissenschaftliche Ansatz ist, der der politischen Ökonomie die Identifizierung objektiver Wahr­ heiten ermöglicht, sondern auch die Tatsache, dass Wissenschaftler scheinbar über alle eigennützigen Motive erhaben sind: »Männer der Wissenschaft sind durch ihren Beruf und ihre Position außer­ halb der wirtschaftlichen Interessen die einzigen objektiven, unab­ hängigen Ratgeber, die der staatlichen Wirtschaftspolitik und der öffentlichen Meinung einen zutreffenden Einblick in die schwie­ rigen Zusammenhänge des Wirtschaftslebens geben und damit die Grundlage für die wirtschaftspolitische Urteilsbildung liefern können.«91 Umgekehrt vertreten gesellschaftliche Gruppen, die ja per definitionem Partikularinteressen verfolgen, notwendigerweise ideologische Positionen; zumindest legen die Ausführungen Eu­ ckens, Rüstows und auch Röpkes dies nahe. Ist die Wissenschaft als interessenfreie Suche nach objektiver Wahrheit so inhärent mit dem Allgemeinwohl verknüpft, besteht ein ebenso notwendiger Zusammenhang zwischen dem pluralistischen Kampf partikularer Gruppen und den verzerrenden Ideologien, die zur Rechtfertigung eines jeglichen politischen Projekts instrumentalisiert und »als planmäßig geschaffene Waffen für den wirtschaftlichen Kampf« genutzt werden können.92 An dieser Stelle tritt nun die dekontestatorische Funktion der Wissenschaft am deutlichsten in Erscheinung. Die Ordoliberalen träumen von einer Politik, die vollständig entpolitisiert ist: Sowohl 91 Böhm/Eucken/Großmann-Doerth, »Unsere Aufgabe«, S. vii. 92 Eucken, Grundlagen, S. 12. Siehe auch Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 215 f.

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Eucken als auch Rüstow vertreten die Auffassung, dass eine richtig verstandene Theoriebildung zu einer und nur einer zutreffenden Lösung eines jedweden politischen Problems führt. Gibt es zwei ge­ genteilige Vorstellungen in einer bestimmten Sachfrage, so bedeu­ tet dies, dass wir es mit schlechter Wissenschaft oder Ideologie zu tun haben. Eine richtig verstandene und betriebene Wissenschaft muss diese Konfusionen und Konflikte mit einer autoritativen Aus­ zeichnung des Wahren und der daraus folgenden richtigen Politik überwinden.93 An dieser Stelle trennen sich nun allerdings die theoretischen Wege von Röpke und seinen ordoliberalen Mitstreitern, denn trotz des gelegentlichen Lobs der »Männer der Wissenschaft« und der pathosgeladenen Rede davon, dass die »Würde der Wissenschaft« in der »Wahrheit liege«,94 überwiegt seine Skepsis angesichts der politischen Gefahren, die von der Wissenschaft ausgehen, wenn er etwa gegen die »›Ökonomokratie‹«95 und die Art von ökonomi­ scher Expertenherrschaft polemisiert, die Eucken und Rüstow vor­ schwebt. Und auch wenn Röpke jene nie offen kritisiert,96 ist seine Ablehnung der autoritativen, wenn nicht gar absoluten Erkennt­ nisansprüche, die sie als ›Wissenschaftler‹ formulieren, doch recht eindeutig: »Der Gelehrte wäre töricht, wenn er sich im Besitze der objektiven Wahrheit wähnen würde.«97 Doch trotz dieser letztendlichen und wichtigen Divergenz gilt für alle drei hier diskutierten Ordoliberalen, dass für sie die Wis­ senschaft die einzige Instanz von Stabilität und unverbrüchlicher Parteilichkeit allein zugunsten des Allgemeinwohls inmitten einer politischen Welt darstellt, die von den fundamentalen Antagonis­ men zwischen partikularen Akteuren zerrissen zu werden droht. Es erschiene beinahe überflüssig, ein derart heroisches und höchst anachronistisches Wissenschaftsverständnis als interessenfreie Pra­ xis zu kritisieren, läge nicht eine ähnliche Vorstellung der entpoli­ 93 Siehe Roberto Sala, Methodologische Positionen und soziale Praktiken in der Volkswirtschaftslehre: Der Ökonom Walter Eucken in der Weimarer Republik, Berlin 2011, S. 40. 94 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 215. 95 Ebd., S.  214. 96 Schließlich sind die keynesianisch-sozialistischen Experten die Hauptzielscheibe Röpkes. 97 Ebd., S.  199.

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tisierten Technokratie zugrunde, deren Tendenzen gerade im eu­ ropäischen Kontext im Gefolge der Eurozonenkrise noch einmal deutlicher zutage getreten sind, und wäre es nicht ein Bild der Wis­ senschaft, das – wenn auch weitaus weniger offensiv – in gewisser Weise auch nach wie vor vom mathematisierten Formalismus des ökonomischen Mainstreams heutzutage vertreten wird. Halten wir also zunächst fest, dass die Vorstellung, Wissenschaftler konstitu­ ierten eine Art freischwebende Intelligenz, um einen Begriff Karl Mannheims zu verwenden, nicht sonderlich selbstreflexiv im Hin­ blick auf die eigene Position ist und sich stattdessen einfach als frei von verzerrenden Leidenschaften und Interessen erklärt. Es ist zwar nicht zwingend notwendig, um die blinden Flecken der ordoliberalen Theorie zu identifizieren, doch die Kontrastie­ rung mit dem Selbstverständnis Kritischer Theorie kann jene Are­ ale noch einmal deutlicher hervortreten lassen. Interessanterweise spricht Foucault in seinen Vorlesungen über den Ordoliberalismus von einer »eigenartigen Nachbarschaft bzw. dem Parallelismus zwischen der Freiburger Schule oder den Ordoliberalen und ihren Nachbarn von der Frankfurter Schule«.98 Und tatsächlich gibt es eine recht allgemeine Parallele, die im Versuch besteht, die Gesell­ schaft in ihrer Totalität zu erfassen in Verbindung mit dem damit korrespondierenden Bekenntnis zu Interdisziplinarität, wenn dies auch im Frankfurter Fall in späteren Jahren einer zunehmend rein philosophischen Disziplinarität wich. Doch abgesehen von allen übrigen Unterschieden könnten beide Traditionen nicht weiter voneinander entfernt sein, was ihr Selbstverständnis und die An­ forderungen an eine selbstreflexive Wissenschaft angeht. Während Eucken die Vorstellung einer interessenfreien Wissenschaft vertritt, deren Blick auf ihren Gegenstand aus einer Sphäre erfolgt, die ge­ sellschaftlichem Druck und politischen Einflussnahmen enthoben ist und die gegen derartige Zudringlichkeiten ebenso abgeschirmt werden muss wie der Staat gegenüber pluralistischen Übergrif­ figkeiten, mahnt Kritische Theorie die beständige Reflexion über Stellung und Rolle von Wissenschaft in der gesellschaftlichen Ar­ beitsteilung einer sozialen Formation an. Während also beide Tra­ ditionen nachdrücklich fordern, der Tendenz in Richtung einer zunehmenden disziplinären Spezialisierung und dem damit ein­ 98 Foucault, Geburt der Biopolitik, S. 153.

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hergehenden Trend zunehmend mikrologisch orientierter Befor­ schung von Kleinstzusammenhängen ohne angemessene Berück­ sichtigung des Gesamtkontextes entgegenzuwirken, wendet nur Kritische Theorie (zumindest auf der programmatischen Ebene) die entsprechenden wissenschaftlichen Maximen auch konsequent auf sich selbst an. Die ordoliberale Theorie mag noch so lautstark auf die Bedeutung einer integrierten Theorie pochen und vor den Problemen warnen, die drohen, wenn aus dem Blick gerät, dass jedes Einzelmoment mit der Totalität der sozialen Verhältnisse vermittelt ist und dadurch seine Bedeutung erhält, um es im he­ gelmarxistischen Vokabular der Frankfurter Schule zu formulieren. Ihre eigene Wissenschaft und die damit verbundene Sprecherposi­ tion scheint dennoch außerhalb der vielbeschworenen Interdepen­ denz der Ordnungen zu stehen und kann so scheinbar auch in völ­ liger Unabhängigkeit von dieser Interdependenz agieren. Natürlich könnten hier auch noch diverse andere Kritikpunkte an der ordoli­ beralen Wissenschaft sowie der entpolitisierten Politik vorgebracht werden, die jene anleiten soll, aber nicht zuletzt und insbesondere steht das ordoliberale Wissenschafts(selbst)verständnis im Wider­ spruch zur ordoliberalen Konzeptionalisierung von Gesellschaft als einer Totalität von interdependenten Ordnungen. Wie im Falle Buchanans soll auch hier abschließend ein rein anekdotischer Beleg dafür angeführt werden, dass die Vorstellung einer wissenschaftlich neutralen Politikberatung, die als Gegen­ gewicht zu Interessengruppen und Ideologien wirkt, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch-performativ inkonsistent ist. 1928 waren Eucken und Rüstow bereits seit etwa einer Dekade be­ freundet. Eucken war Professor in Tübingen, Rüstow bekleidete eine Position in der Forschungsabteilung des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), einer Lobby-Organisation der deutschen Industrie. Ende 1927 hatte Eucken bereits begonnen, öffentliche Kritik an der Politik der Zentralbank zu üben, und ei­ nen Kurswechsel angemahnt, und zwar mutmaßlich in der Rolle des objektiven Wissenschaftlers, der Entscheidungsträgern recht harsche Ratschläge erteilt, die die falschen ökonomischen Rezepte verfolgen oder sich gar im ideologischen Klammergriff einer be­ stimmten Interessengruppe befinden. Am 10. Januar schreibt er an Rüstow: »Beim Durchdenken der Sache ist mir klar geworden, dass wirklich seitens der Maschinenindustrie sofort etwas geschehen 204

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muss. Warum machen Sie nicht einen entschiedenen Vorstoß beim Reichsverband [der Deutschen Industrie]? Dass Sch.[acht, der damalige Präsident der Reichsbank] die Interesen der Maschinen­ industrie auf schwerste schädigt ist klar. Sie haben außerdem die Chance, die Position des VDMA zu verbessern, denn es ist immer gut, eine falsche Politik, die doch später einmal zusammenbrechen muss, rechtzeitig zu bekämpfen.«99 Eucken wollte offensichtlich Rüstows Position beim VDMA nutzen, um mit seinen eigenen ökonomischen Vorstellungen an Einfluss zu gewinnen. Anstatt also mit den Waffen der unparteiischen Wissenschaft gegen den ver­ zerrenden Einfluss der Lobby-Gruppen anzukämpfen, versuchten Eucken und Rüstow vielmehr Macht und Einfluss einer solchen Gruppe zugunsten ihrer eigenen Interessen an politischer Einfluss­ nahme zu mobilisieren. Diese Anekdote mag zwar nicht von gro­ ßer theoretischer Bedeutung sein, aber sie zeichnet doch ein höchst ironisches Bild und nährt gewisse Zweifel an der Vorstellung von Wissenschaft als dem Reich der interessenlosen Wahrheitssuche, die den regellosen Partikularismus pluralistischer Demokratie und ihrer Gruppenideologien zu kompensieren vermag. Wenn nötig, so scheint es, dann müssen sich auch Wissenschaft und Wissen­ schaftler für eine Seite entscheiden; doch dann sind auch sie nicht mehr als eine weitere Konfliktpartei in der »Gruppenanarchie«100 des Pluralismus.

  99 Eucken an Rüstow, 10. 1. 1928; zitiert in Sala, Methodologische Positionen, S. 25. 100 Eucken, Grundsätze, S. 171.

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5. Politik Die zentrale These dieses Buches lautet, dass das neoliberale Den­ ken eine genuin politische Theorie enthält oder doch zumindest bestimmte Elemente einer solchen Theorie. Aber verfügt es auch über eine Theorie der Politik? Dies ist die Frage, der sich dieses letzte Kapitel im Rahmen des ersten Teils des Buches widmet. Was im Folgenden untersucht wird, ist allerdings nicht unbedingt das Politikverständnis des Neoliberalismus in seiner Allgemeinheit, nicht zuletzt weil es uns schon in vielen seiner Aspekte aus den verschiedenen Krisendiagnosen bezüglich Staat, Demokratie und Wissenschaft bekannt ist. Im Mittelpunkt steht vielmehr die spe­ zifischere Frage, wie sich diese allgemeine Sichtweise auf das poli­ tische Leben mit einer potentiellen neoliberalen Reformpolitik in Einklang bringen lässt. Es ist also zu klären, ob und wie es den Neoliberalen gelingt, einen theoretischen Entwurf einer Politik zu formulieren, die in der Lage wäre, die diversen Lösungsvorschläge mit Blick auf den Leviathan-Staat, die unbegrenzte Demokratie und den Szientismus in die Tat umzusetzen. Meine diesbezügli­ che These lautet, dass das Politikverständnis des Neoliberalismus das wahrscheinlich schwächste Glied seines politischen Denkens ist und die Neoliberalen mit einem Dilemma konfrontiert, das, soweit ich sehen kann, im Rahmen dieses politischen Denkens unaufgelöst bleibt. Das Grundmuster dieses Dilemmas stellt sich folgendermaßen dar: Die Neoliberalen entwerfen in ihren Gegen­ wartsdiagnosen zumeist überaus düstere Bilder des Status quo, der geprägt ist von vielfältigen Pathologien im Zusammenhang mit Staat, Demokratie und Wissenschaft. Aber was noch schlimmer ist und die Diagnosen noch zwingender wie auch die neoliberalen Warnungen noch drängender erscheinen lässt, ist der Eindruck, es gäbe zur normal-alltäglichen Politik, die politische Gemeinschaften mutmaßlich reihenweise an den Rand der Katastrophe geführt hat, aufgrund von umfassenden Sperrklinkeneffekten keinerlei Alterna­ tiven. In gewisser Weise bezieht die Kritik zwar aus dieser Suggestion zusätzliche Überwältigungskraft, doch gleichzeitig ist es genau die Trostlosigkeit jener Diagnostik, die zur Schwäche des Gesamtan­ satzes wird, sobald dieser Aufschluss geben soll über eine neolibera­ 206

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le Reformpolitik, das heißt die theoretische Skizze einer Strategie, die es ermöglichen würde, vom gegenwärtigen Punkt A am Rande des Abgrunds zu Punkt B zu gelangen, der für eine im Geist der diversen neoliberalen Entwürfe reformierten Gesellschaft steht. Zwar besteht im Lager des Neoliberalismus weitgehende Einigkeit bezüglich der ›Macht der Ideen‹ im Sinne der langfristigen Bedeu­ tung einer kontinuierlichen Produktion und Zirkulation von Ideen und Entwürfen, um Alternativen zum Status quo präsentieren zu können, die als unverzichtbare Voraussetzung gelten, um sich im »gegenwärtigen großen Streit der Ideen« durchsetzen zu können.1 Doch die Umsetzung dieser Entwürfe und Ideen entpuppt sich als massive Herausforderung für die Neoliberalen. Dieses allge­ meine Dilemma nimmt eine Reihe unterschiedlicher, wenn auch teils überlappender Formen an. Sie reichen von einem auffälligen Schweigen zu den diversen Voraussetzungen einer Reformpolitik und entsprechend offensichtlichen theoretischen Leerstellen bis hin zu massiven Inkonsistenzen, die sich zwischen dem neolibera­ len Kritiker der monotonen Politik des stahlharten Gehäuses des Status quo einerseits und dem neoliberalen Reformer andererseits auftun, der letztlich gezwungen ist, theoretische Zuflucht in ex­ zeptionalistischen Strategien und/oder einer geradezu eschatologi­ schen Politik des Außeralltäglichen zu suchen, um überhaupt noch die Hoffnung auf eine wirkliche Veränderung zum neoliberalen Besseren am Leben erhalten zu können.

Die Ohnmacht des ordoliberalen Sollens Die Formulierung dieser Überschrift spielt auf Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie an, deren Gebote aus seiner Sicht eine derart schwache Bindungskraft haben, dass sie kaum mehr als mahnende Ermunterungen sind. Rationale Wesen sollten den Ma­ ximen folgen, die sich aus dem kategorischen Imperativ ableiten 1 Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 2. Siehe auch: »Die Macht abstrakter Gedanken beruht weitgehend auf eben der Tatsache, daß sie nicht bewußt als Theorien ver­ treten, sondern von den meisten Menschen als selbstverständliche Wahrheiten be­ handelt werden, die man stillschweigend voraussetzt.« Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 72.; Friedman/Friedman, Chancen, die ich meine, S. 303; Eucken 1949, S. 38; Röpke, Gesellschafskrisis, S. 69.

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lassen, aber ohne eine Sittlichkeit, wie es Hegel bezeichnete, die Kants abstrakte praktische Vernunft motivational flankiert, blei­ ben die Effekte jener Vernunft zumindest aus Hegels Perspektive äußerst überschaubar. Die Reformagenda von Eucken und Röp­ ke steht aus meiner Sicht vor einem ähnlichen Problem. Erinnern wir uns an die weitreichenden Transformationen, die vor allem sie für erforderlich hielten, um den Gefahren und Pathologien eines überlasteten Staates im Würgegriff der Interessengruppen Einhalt zu gebieten. Aber wie sollen nun diese Transformationen in Rich­ tung einer entpluralisierten Demokratie und eines monolithischen Staates gelingen? Konsultiert man die Passagen, in denen es um die Restrukturierung des Staates im Sinne Euckens geht, der dessen Wiederherstellung als »ordnende Potenz« forderte,2 dann ist hier nüchtern das Fehlen einer jeglichen Strategie zu verzeichnen, wie es dem Staat gelingen könnte, sich dem Zugriff der Interessengrup­ pen zu entziehen. An manchen Stellen scheint Eucken sogar zu konzedieren, dass das mit dem Versuch einer Überwindung des Pluralismus und der Etablierung einer Wettbewerbsordnung ver­ bundene Paradox zumindest im Rahmen seines Ansatzes unauf­ lösbar ist: »Ohne eine Wettbewerbsordnung kann kein aktionsfä­ higer Staat entstehen und ohne einen aktionsfähigen Staat keine Wettbewerbsordnung.«3 Es handelt sich um ein Paradox, da die Möglichkeit staatlicher Transformationen bereits genau diese Re­ strukturierungen vorauszusetzen scheint. Und in diesem Sinne ist der Ruf nach einem starken Staat ebenso ohnmächtig wie für Hegel das kantische Sollen. Genauso wie Kants rationalen Wesen starke motivationale Ressourcen fehlen, um den Vorgaben der Moral Fol­ ge zu leisten, ist es auch unwahrscheinlich, dass Massen, Interessen­ gruppen und politische Parteien, die in Euckens Krisendiagnosen die zentralen Rollen spielen, Interessen oder Motive entwickeln, die den vermeintlichen Auflösungstendenzen des pluralistischen Staates entgegenwirken könnten. Bleiben noch die bereits erwähn­ ten ›Männer der Wissenschaft‹, die sich ja genau genommen über ihre völlige Interessenlosigkeit geradezu definieren und von daher prädestiniert erscheinen, um die objektive Überlegenheit der Wett­ bewerbsordnung darzulegen und so einen Beitrag zu ihrem Auf­ bau zu leisten. Von daher überrascht es nicht, dass Eucken neben 2 Eucken, Grundsätze, S. 330. 3 Ebd., S.  338.

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Kirchen und Staat auch die Wissenschaft als eine potentielle »ord­ nende Potenz« ansieht. Doch obgleich wir bereits wissen, dass die Wissenschaft sich mit ihrer Expertise als Politikberatungsinstanz zur Geltung bringen sollte, bleibt dies ein Desideratum, das ebenso zahnlos daherkommt wie der Ruf nach einer robusten Staatlich­ keit: »Die Aufgabe, welche die nationalökonomische Wissenschaft – über die Erkenntnis der Realität hinaus – besitzt, wurde nicht gesehen: Nämlich das ordnungspolitische Problem aufzuwerfen und unter Überwindung der Vorurteile eine ordnende Potenz zu werden.«4 Es bleibt jedoch völlig unklar, wie dies gelingen soll, wenn Eucken selbst gerade das bisherige Scheitern einräumt. Man könnte allerdings Euckens Überlegungen auch so inter­ pretieren, dass sie sich an eine andere, nicht ausdrücklich erwähn­ te Zuhörerschaft wenden, die im Übrigen auch in Hegels staats­ philosophischem Denken eine gewichtige Rolle spielt. Wer wäre besser geeignet, im Sinne des Allgemeininteresses zu handeln und sich dabei auf die Ratschläge von Wissenschaftlern zu stützen, die sich einzig der vorbehaltlosen Wahrheitssuche widmen, als die Angehörigen der Staatsbürokratie, die von Hegel immerhin als ›universale Klasse‹ ausgezeichnet wurde. Eucken mag im Hinblick auf die Realisierung der Wettbewerbsordnung zwar eher an einen entscheidungsstarken Einzelakteur gedacht haben, der sich dem Gemeinwohl verschrieben hat, als an eine Armee von Bürokraten, denn schließlich handelt es sich hier aus seiner Sicht auch um eine Frage von Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit,5 aber im End­effekt sind die Orientierung am Gemeinwohl und die Fähig­ keit, das Partikulare zu transzendieren, die entscheidenden Cha­ rakteristika der Akteure, die benötigt werden, um Euckens Agenda umzusetzen. Vonnöten ist also nicht weniger als ein aufgeklärter Wächterstand, der konsequent die Vorgaben einer technokrati­ schen Politik der Wettbewerbsordnung umsetzt. Röpke ist weniger zurückhaltend, wenn es um die Frage geht, welche Art von Akteuren seine politischen Reformpläne umsetzen kann und soll. Stellenweise folgt auch er gewissermaßen Hegels Ar­ 4 Ebd., S.  346. 5  Die Wahl eines Wirtschaftssystems wird von Eucken als Entscheidung mit Schmittschen Untertönen begriffen. Es handele sich um »die Gesamtentschei­ dung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines Gemeinwesens.« Eucken, Grundlagen, S. 52.

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gumentation und führt aus, »daß, wenn es das Eigengewicht des Staates zu verstärken gilt, die Notwendigkeit eines qualifizierten, mit höchstem Berufsethos und ausgesprochenem Korpsgeist erfüll­ ten Beamtentums an die Spitze zu stellen ist«.6 Die ausführlichsten Überlegungen finden sich aber im Zusammenhang mit seiner Cha­ rakterisierung der Nobilitas naturalis – einer natürlichen Elite –, de­ ren Angehörige er auch als »Aristokraten des Gemeinsinns« bezeich­ net.7 Doch auch wenn man Röpke gegenüber Eucken zugutehalten muss, dass er ausdrücklich bestimmte Akteure identifiziert, die eine transformative Wirkung im Sinne einer neoliberalen Reformpoli­ tik haben könnten, bleibt doch die eklatante Schwäche, dass er in der unmittelbaren Folge ausführlich darlegt, wie unwahrscheinlich das Auftauchen solcher Akteure im aktuellen Kontext ist und wie wahrscheinlich selbst in diesem Fall ihr baldiges Verschwinden wäre. Röpke verlangt nach Führung »von echten ›clerks‹«, die nicht weniger als »säkularisierte Heilige« sein sollen.8 Aber woher sollte diese seltene Spezies kommen, wenn die Welt sich bereits im Sink­ flug in Richtung kollektivistischer Tyrannei befindet? »Es versteht sich von selbst, daß viele und großenteils schwierige Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich eine solche natürliche Aristokratie entfalten und erhalten und damit sie ihre Aufgabe erfüllen kann. Sie muß wachsen und reifen, und so langsam wie sie entsteht, so rasch kann sie vernichtet werden.«9 Man kann also zusammenfassen, dass die Wunschbesetzung zur Umsetzung der Reformanstrengungen in Röpkes Ansatz kurz nach ihrer Vorstellung auch schon wieder ver­ schwindet. Man gewinnt geradezu den Eindruck, es bräuchte Ak­ teure, die nicht von dieser Welt sind, um eine Politik neoliberaler Reformen zu realisieren. Zumindest liegt die normative Messlatte dermaßen hoch, dass alle denkbaren empirischen Akteure den am­ bitionierten Ansprüchen an eine Nobilitas naturalis kaum genügen können. Diese erlangt somit den Status dessen, was herkömmlich als deus ex machina bezeichnet wird, und wie wir im weiteren Ver­ lauf sehen werden, sind die religiösen Konnotationen dieser Figur dem Kontext neoliberaler Politik durchaus angemessen. 6 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 311. 7 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 193. 8 Ebd., S. 192. Auch sich selbst zählte Röpke zum Kreis dieser clerks. Siehe Röpke (Hg.), Wilhelm Röpke. Briefe 1934-1966, S. 40. 9 Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 193.

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Übergangsdiktatur Die Vorstellung wohlwollender Hüter des Gemeinwohls ist nicht die einzige Lösung des Rätsels konsistenter Reformstrategien, die unter den Neoliberalen kursiert. Rüstow, dessen Denken in vie­ lerlei Hinsicht die größte Ambiguität unter den hier diskutierten Vertretern des Neoliberalismus aufweist, stellt bereits früh entspre­ chende Überlegungen an, deren Stoßrichtung die teils enge Verbin­ dung seines Denkens mit bestimmten Motiven bestätigt, die sich im Werk Carl Schmitts finden. 1929 hielt Rüstow einen Vortrag an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, den auch der bereits erwähnte Hermann Heller und der spätere Bundespräsident Theodor Heuss besuchten. Die Frage, die im Zentrum des Vortrags stand, lautete, wie die Defizite des Weimarer politischen Systems überwunden werden könnten, das schon vor dem Chaos der frü­ hen 1930er Jahre als eine einzigartige Kombination von Instabilität und Paralyse galt. Der Titel des Vortrags zeigt bereits recht deutlich an, wie sich Rüstow die Lösung des Problems ausmalt: Diktatur innerhalb der Grenzen der Demokratie. Bemerkenswert an dem Vor­ trag ist nicht nur der substanzielle Vorschlag, den Rüstow seinem Publikum unterbreitet, sondern auch das Ausmaß, in dem er sich auf Schmitts Analyse des Weimarer Systems und seiner Schwächen stützt. Das Hauptproblem, so Rüstow, bestehe in einer beständigen »Politik der Schuldvermeidung«, um einen von Kent Weaver in an­ deren Kontexten geprägten Begriff zu verwenden,10 der aber ziem­ lich genau das trifft, was Rüstow beschäftigt. Demokratisch ge­ wählte politische Akteure, seien es einzelne Politiker oder Parteien, scheuen die Verantwortung politisch kontroverser Entscheidungen und verlegen sich stattdessen entweder darauf, die entsprechenden Fragen an die Justiz zu delegieren, was zu dem führe, was Schmitt bereits in seinen Schriften jener Zeit als eine Verrechtlichung der Politik kritisiert hatte, oder sie beauftragen Expertenkommissionen mit der Suche nach einer Lösung, deren Berichte zwar die letztli­ che Entscheidung der Politik überlassen, diese aber doch erheblich vorstrukturierten. Nach allem, was wir bereits über Rüstow wis­ sen, überrascht es nicht, dass aus seiner Sicht diese systematische und kollektive Verantwortungslosigkeit »eine ständig fortschrei­ 10 Kent Weaver, »The Politics of Blame Avoidance«, in: Journal of Public Policy 6 (1986), S. 371-398

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tende politische Desintegrierung« zur Folge hat,11 und zieht man den Zeitkontext mit in Betracht, dann handelt es sich in diesem Fall zugegebenermaßen nicht nur um unbegründeten Alarmismus, wenn auch die Tonlage von Rüstows Mahnungen charakteristisch schrill ist. Was genau ließe sich also unternehmen, um der Implosion der Demokratie entgegenzuwirken? Auch hier stützt sich Rüstow in sei­ nen Erwägungen auf Schmitts Anatomie der Weimarer Verfassung, die aus vier Elementen (Präsident, Kabinett, Parlament und Kanz­ ler) bestehe, die der Verfassungsgeber in eine bestimmte Balance gebracht hat. Rüstow geht nun die verschiedenen Ansatzpunkte durch, um den politischen Prozess wieder in Gang zu bringen, und gelangt zu einer eindeutigen Schlussfolgerung. Während etwa Schmitt das präsidentielle Element gestärkt sehen wollte, um den politischen Stillstand zu überwinden, und andere politische Kräfte für mehr Macht und weniger Einzelverantwortung der Kabinetts­ mitglieder votierten, glaubt er, dass die aussichtsreichste Option in auf Zeit verliehenen diktatorischen Kompetenzen für den Kanzler bestünde. »Es heißt das also eine Aufrechterhaltung der Demo­ kratie, denn es ist nur eine befristete Diktatur, nicht im strengen Sinne, sondern sozusagen eine Diktatur mit Bewährungsfrist.«12 Schließlich folgt aus Rüstows Analyse des Weimarer Systems, dass es beinahe unmöglich ist, irgendeine Art von stringenter Politik zu verfolgen, da es viel zu einfach für die negativ Betroffenen ist, VetoAllianzen zu formen und so einzelne Kabinettsmitglieder oder gar die gesamte Regierung zum Rücktritt zu zwingen. Wenn also auch nur die entfernteste Möglichkeit bestehen soll, dass eine Politik im Geist des Neoliberalismus verfolgt wird, muss die Macht der Re­ gierung und die des Kanzlers im Besonderen ausgeweitet werden, wenn auch nur vorübergehend. Konkret bedeutet dies, dass der Re­ gierungschef Maßnahmen und Gesetze vorlegen könnte, die selbst dann umgesetzt würden, wenn sie nicht von der Parlamentsmehr­ heit, sondern nur von einer qualifizierten Minderheit unterstützt werden. Diese exzeptionellen Kompetenzen erlöschen nach einer bestimmten Zeit, die aber lang genug sein soll, um der Regierung das Regieren zu erlauben und eine Bewertung der entsprechenden Reformen zu ermöglichen. 11 Rüstow, »Diktatur«, S. 92. 12 Ebd., S.  99.

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Dieser letzte Aspekt spielt für Rüstow aufgrund der ordolibe­ ralen Reformvorstellungen und ihrer mutmaßlich ambivalenten Auswirkungen eine wichtige Rolle. Dies lässt sich am Beispiel der Wettbewerbsordnung illustrieren, deren Einführung auch aus Rüstows Perspektive ein angemessenes Ziel neoliberaler Politik dar­ stellt. Kurzfristig wird diese Regelordnung eine Vielzahl von parti­ kularen Akteuren und ihren Interessen schaden, aber mittel- und langfristig wirkt sie mutmaßlich zugunsten von Allgemeinwohl und -interesse. Rüstow geht also davon aus, dass es einige Zeit braucht, bis sich die wünschenswerten Effekte bestimmter Refor­ men manifestieren, woraufhin die Regierung vermutlich bestätigt werde. Aber warum sollten all jene Vertreter partikularer Interessen wie politische Parteien und Interessengruppen plötzlich eine Poli­ tik unterstützen, die ihnen zumindest kurzfristig eindeutig schadet? An diesem Punkt wird deutlich, dass Rüstow eine alternative Ba­ sis für ein solch exzeptionalistisches Demokratie-Modell im Auge hat: »Ich glaube, dass durch eine derartige Stellung dem Führer gerade die Möglichkeit gegeben wird, über Parteiorganisation und Parteikonstellation hinweg unmittelbar ans Volk zu appellieren. Ich würde meinen, dass eine derartige Führerstellung eine sehr starke plebiszitäre Kraft hätte, und ich würde darin das Begrüßenswer­ te sehen.«13 Hier zeigen sich abermals die Parallelen zu Buchanans weiter oben erörterter populistischer Argumentation, es sei erfor­ derlich, die etablierten Interessen und Akteure zu umgehen, um politische Blockaden zu überwinden. Doch Rüstows Strategie der Umwandlung des politischen Sys­ tems in eine ›Diktatokratie‹ sieht sich einem sehr ernsten Hindernis gegenüber, dessen er sich auch selbst schmerzhaft bewusst ist. Soll das politische System tatsächlich innerhalb der konstitutionellen Grenzen verbleiben, dann müssen die erforderlichen Verfassungs­ änderungen von genau jenen Akteuren vorgenommen werden, die keinerlei Interesse daran haben: »Ich bin nun nicht ein so großer Utopist, dass ich meinen würde, dass ein Vorschlag in der Rich­ tung, wie ich ihn eben skizziert habe, etwa normalerweise heute im Reichstag eine verfassungsändernde Mehrheit finden würde. Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Wenn wir einen Reichstag hätten, bei dem so etwas denkbar wäre, dann wäre der Vorschlag 13 Ebd.

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ja vielleicht gar nicht nötig […].«14 Auch Rüstow stößt also auf ge­ nau jenes Paradox, das wir bereits im Zusammenhang mit Eucken kennengelernt haben. Und auch wenn Rüstow vage andeutet, dass die Verfassung womöglich auf Grundlage eines entsprechenden Re­ ferendums geändert werden könnte, was eine weitere Parallele zu Buchanan darstellt, schätzt er doch selbst die Erfolgschancen als al­ lenfalls minimal ein. Dennoch besteht er darauf, dass etwas unter­ nommen werden muss, um die Lähmung des Systems zu überwin­ den, wobei es nicht damit getan sei, auf das Erscheinen des »starken Mannes« zu warten, worin andere ihr Heil suchten.15 Rüstow be­ schwört seine Zuhörerschaft, »dass wir unseren Teil tun, um diesem Führer das Kommen zu erleichtern«, was eine Verfassungsänderung unabdingbar mache, da »unsere heutigen Verfassungsverhältnis­ se das Kommen und das Sich-durchsetzen eines Führers auf das Äußerste erschweren«.16 In dieser letzten Einschätzung liegt eine schmerzhafte Ironie, bedenkt man, dass vier Jahre später der »Füh­ rer« kam und nur wenige Monate benötigte, um das gesamte Ver­ fassungssystem der Weimarer Republik zu demontieren. Rüstow mag der Erste unter den Neoliberalen gewesen sein, der über das Potential einer vorübergehenden Diktatur als institutio­ nelles Schwert nachdenkt, um den gordischen Knoten der pluralis­ tischen Demokratie zu zerschlagen, aber er ist nicht der Einzige.17 Es ist Hayek, der den Vorschlag einer exzeptionellen Lösung des Dilemmas neoliberaler Reformpolitik mit dem größten Nachdruck vertritt, und zwar vor allem, aber keineswegs ausschließlich, im Hinblick auf die Situation im Chile der 1970er Jahre. Denn wie wir 14 Ebd., S.  100. 15 Hier zeigen sich gewisse Parallelen zwischen Röpkes explizitem und Euckens im­ plizitem Hoffen auf einen wohlwollenden Wächsterstand sowie Rüstows Vorstel­ lung einer plebiszitären Diktatur-Demokratie. Doch offensichtlich entscheidet sich Rüstow für eine andersgeartete institutionelle Strategie, deren Umsetzungs­ schwierigkeiten, abgesehen von allen normativen Vorbehalten, allerdings auf der Hand liegen. 16 Ebd., S.  101. 17 Röpke spricht sich zwar nicht ausdrücklich für Übergangsdiktaturen aus, aber unternimmt doch einige semantisch-konzeptionelle Anstrengungen, um zwi­ schen »modernen Diktaturen« wie etwa Griechenland, Portugal und der Türkei (in den frühen 1940er Jahren) und den von ihm als solche bezeichneten moder­ nen Tyranneien wie Nazi-Deutschland oder der Sowjetunion zu unterscheiden. Siehe Röpke, International Economic Disintegration, S. 247.

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bereits wissen, vertritt Hayek schließlich auch in seinen Schriften die Vorstellung, ein liberaler Autoritarismus sei einer unbegrenz­ ten Demokratie vorzuziehen. Doch auch er steht letztlich vor dem gleichen Problem wie die Ordoliberalen: Wenn es zutrifft, dass sich die bestehenden Gesellschaften bereits zu proto-totalitären unbe­ grenzten Demokratien gewandelt haben, wie es Hayek ja wieder und wieder suggeriert, wie lassen sie sich dann in liberal-autoritäre Regime oder entpluralisierte Demokratien mit einem robusten rechtsstaatlichen Rahmen transformieren, wie es ihm vorschwebt? In der Überbrückung dieser logisch-strategischen Lücke besteht die systematische Funktion der Übergangsdiktatur innerhalb der Gesamtarchitektonik von Hayeks Denken. Die ausführlichste Dis­ kussion der Modalitäten eines derartigen politischen Ausnahme­ zustands, wenn auch in etwas abweichender Terminologie, findet sich in Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Hayek schreibt hier, die rechtsstaatlichen Grundprinzipien einer freien Gesellschaft könn­ ten »vor­übergehend aufgehoben werden, wenn die langfristige Er­ haltung dieser Ordnung selbst gefährdet ist«.18 Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines späten Opus magnum wird er allerdings weitaus konkreter, was die Notwendigkeit einer Übergangsdiktatur zur Verteidigung einer freien Gesellschaft gegen gewisse Bedrohun­ gen angeht. In einem Interview mit der bereits erwähnten chile­ nischen Zeitung El Mercurio wird Hayek zu seiner Meinung über Diktaturen befragt: »Als langfristige Institutionen lehne ich Dikta­ turen mit allem Nachdruck ab. Aber eine Diktatur kann für eine Übergangszeit das erforderliche System sein. Manchmal benötigt ein Land für eine bestimmte Zeit diktatorische Macht in der ein oder anderen Form. Wie Sie sicherlich einsehen werden, besteht die Möglichkeit, dass ein Diktator auf liberale Art und Weise re­ giert […]. Mein persönlicher Eindruck […] ist, dass wir in Chi­ le […] eine Transition von einer diktatorischen zu einer liberalen Regierung sehen werden […]. Während dieser Übergangsperiode mag es notwendig sein, bestimmte diktatorische Kompetenzen zu gewähren, nicht als ein dauerhaftes, sondern vorübergehendes Arrangement.«19 Es scheint also, als ob Hayek sich selbst davon überzeugt hätte, dass es im Falle einer totalitären Demokratie (in 18 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 429. 19 El Mercurio, »Friedrich von Hayek«, D9.

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einem anderen Interview jener Zeit behauptete Hayek, dass die Allende-Regierung ein totalitäres Regime gewesen sei) legitim sei, eine Übergangsdiktatur einzurichten. Dieser Standpunkt erscheint umso unheilvoller, wenn man bedenkt, dass der Hayek der späten 1970er Jahre sich sicher war, dass sich so gut wie jede real exis­ tierende Demokratie bereits auf dem mehr oder weniger langen, jedenfalls abschüssigen Weg in Richtung Totalitarismus befand. Folgerichtig wäre also in einer Vielzahl von Fällen die Politik der Diktatur als legitime Option anzusehen. So ließ Hayek nicht nur dem portugiesischen Diktator Salazar seine Verfassung der Freiheit zukommen, verbunden mit dem Hinweis, dass sie den Bauplan zur Erneuerung der portugiesischen Gesellschaft enthalte; berühmt ge­ worden ist auch der Briefwechsel zwischen ihm und der britischen Premierministerin Thatcher: Auf Hayeks Empfehlung, in Großbri­ tannien eine ähnliche ›Schocktherapie‹ zu verfolgen, wie es Chile vorgemacht habe, reagierte Thatcher mit dem legendären Hinweis, dass derart drastische und mit (quasi-)dikatorischen Mitteln durch­ gesetzte Reformen im höchsten Maße unvereinbar mit der briti­ schen Tradition des Konstitutionalismus seien. Offensichtlich knüpfen sich an Hayeks Verteidigung der Über­ gangsdiktatur erhebliche normative Bedenken, doch anstatt hier eine womöglich moralisierende Kritik zu formulieren, soll hier stattdessen Hayeks Ansatz problematisiert werden, indem die tief­ gehenden Inkonsistenzen herausgearbeitet werden, die mit seiner Position einhergehen. Schließlich war es Hayek, der in Der Weg zur Knechtschaft behauptet hatte, dass ein Regime oder eine Gruppe im Besitz unbegrenzter Macht alles tun werde, um diese Macht zu konsolidieren und zu verstetigen, so dass noch der wohlmeinendste Liberal-Sozialist letztendlich ein vorübergehend diktatorisches in ein vollumfänglich totalitäres Regime verwandeln würde. Warum sollten nun diese Mechanismen und Dynamiken im Falle des Kon­ zepts der Übergangsdiktatur, das Hayek verteidigen möchte, sus­ pendiert sein? Entweder ist sie genauso gefährlich wie ihre Pendants aus dem Weg zur Knechtschaft,20 oder das Slippery-Slope-Argument, das dem gesamten Buch zugrunde liegt, verliert erheblich an Über­ 20 Siehe hierzu auch Hayeks eigene Einschätzung, die nicht ohne weiteres kompa­ tibel ist mit der Verteidigung von Diktaturen: »Die Macht, die die moderne De­ mokratie besitzt, wäre in den Händen einer kleinen Elite noch unerträglicher.« Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 524.

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zeugungskraft. Und so wird eine Konstellation erkennbar, die uns bereits vertraut ist: Was der neoliberale Kritiker an Dringlichkeit seiner Diagnose gewinnt, verliert der neoliberale Reformer an Plau­ sibilität und Konsistenz seiner Umsetzungsstrategie. Soll Letzterer auch nur ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit erhalten bleiben, so muss die diagnostische Kritik erheblich zurückgefahren werden. Hayeks kontroverse Verteidigung der Übergangsdiktatur als wo­ möglich einzige Option, um die Probleme der unbegrenzten De­ mokratie zu überwinden, und die Inkonsistenzen, die sie in seinem Denken hervortreten lässt, bezeichnen aber nur die oberste Schicht einer fundamentalen Unstimmigkeit im Zusammenhang mit sei­ nem Politikverständnis, die unter den Neoliberalen ihresgleichen sucht. Was Hayek mit Buchanan, Friedman und auch den Ordo­ liberalen teilt, ist das Bekenntnis zu einer ambitionierten Reform­ agenda, die in der Modellverfassung gipfelt, die im DemokratieKapitel erörtert wurde. Die aktivistische Dimension von Hayeks Ansatz lässt sich auch an den unzähligen Zeitungs-Gastbeiträgen ablesen, in denen teils weitreichende Reformen angemahnt wer­ den, ganz zu schweigen von den Briefen, die er an Thatcher und andere politische Entscheidungsträger richtete. Abgesehen davon, dass Hayek sich zu einer Verteidigung der Vorstellung einer Über­ gangsdiktatur gezwungen sieht, um einen zumindest auf den ers­ ten Blick plausiblen Ausweg aus scheinbar reformresistenten un­ begrenzten Demokratien skizzieren zu können, besteht noch ein grundsätzlicheres Problem mit seiner Forderung nach radikalen Reformen, das desto virulenter wird, je mehr sich der späte Hayek in seinem Denken der Evolutionstheorie zuwendet.21 Hier ist nicht der Platz für eine allgemeine Diskussion der Vorund Nachteile seiner spezifischen Aneignung der Evolutionstheo­ rie, der Verbindung zu seinen epistemologischen Positionen und, nicht zuletzt, seiner Vorstellung von Kognition, die umfassend in Die sensorische Ordnung ausgearbeitet wird. Wir können uns aber durchaus die Frage stellen, inwiefern diese Position Hayeks seine Reformagenda verkompliziert. Das Problem besteht darin, dass Hayeks Idee der Gruppenselektion im Rahmen kultureller Evolu­ tion ihn in Richtung einer eher funktionalistischen Perspektive auf das soziale Leben treibt. Manifestierte sich kulturelle Evolution, 21 Siehe Friedrich August Hayek, Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus, Tübingen 1996, S. 7-26.

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indem manche Gruppen überleben, wohingegen andere zugrunde gehen, dann gebe es ein starkes prima-facie-Argument, die Institu­ tionen, Traditionen und Konventionen der Gruppe, die überlebt hat, als anderen überlegen anzusehen. Je länger sich solche Insti­ tutionen und Traditionen und damit auch die Gesellschaften er­ halten, in die sie eingebettet sind, desto mehr Grund besteht, an ihnen als Errungenschaften im Prozess kultureller Evolution fest­ zuhalten, die von unschätzbarem Wert für die jeweilige Gruppe sind. Hayek versteht Institutionen und Traditionen als Gefäße, in denen akkumuliertes Wissen und Erfahrung aufbewahrt werden, und vor allem Traditionen sind auch darüber hinaus wichtig, da über sie eine bestimmte Art impliziten Wissens weitergegeben werden kann, dem Hayek größte Bedeutung zumaß.22 An dieser Stelle ist bereits klar ersichtlich, dass er sich mit dem immer nach­ drücklicheren Verweis auf evolutionstheoretische Argumente in eine theoretisch höchst bedenkliche Position manövriert hat, denn damit legt er sich in gewisser Weise auf einen Burkeschen Konser­ vatismus fest, der bekanntlich die ikonoklastischen Ambitionen der Französischen Revolution wegen ihrer ignoranten Verachtung von Konvention und Tradition verurteilte, die doch die Weisheit der Jahrhunderte enthielten. Im berühmt gewordenen Nachwort zur Verfassung der Freiheit hatte Hayek dargelegt, warum er kein Konservativer sei,23 doch sei­ ne Kritik des konstruktivistischen Rationalismus sowie das Lob von Tradition und Konvention in Verbindung mit seinen Vorstellungen von kultureller Evolution führen ihn zu einer Bewertung des Status quo, die kaum von der eines Konservativen wie Burke unterscheid­ bar ist, wenn auch die jeweiligen theoretischen Ansätze natürlich völlig anders gelagert sind. Aber auch wenn es nicht unmöglich ist, so ist es doch zumindest schwierig, ein konservativer Reformer im Sinne Burkes zu sein – und Hayek will offensichtlich ein Reformer sein. Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass er immer wieder insinuiert oder gar ausdrücklich argumentiert, dass die Persistenz von Gruppen und ihren Institutionen auf die ›Effizienz‹ Letzterer 22 Die Werkzeuge des Menschen bestehen in »›Traditionen‹ und ›Institutionen‹, die er gebraucht, weil sie als Ergebnis eines kumulativen Wachstums zur Verfügung stehen, ohne daß sie je von einem einzelnen Verstand erdacht worden sind«. Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 37. 23 Siehe ebd., S. 517-533.

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schließen lässt. Folgerichtig müsste er dann aber auch etwa den Sozialstaat als eine Institution anerkennen, die sich über eine lange Zeit hinweg bewährt hat und somit als Errungenschaft in der kul­ turellen Evolution anzusehen wäre. Darüber hinaus können sich auch Konservative wie Oakeshott oder Burke mit Reformen ins Benehmen setzen, vorausgesetzt, diese sind in ihrem Umfang be­ grenzt und ähneln eher dem Muster inkrementellen organischen Wachstums als den Disruptionen, die mit drastischen und weitrei­ chenden Innovationen einhergehen. Doch Hayeks Vorschläge sind alles andere als begrenzt in ihrem Umfang, und natürlich unter­ scheidet die Modellverfassung nichts von den abstrakten Reißbrett­ entwürfen, die er immer wieder am Denken des konstruktivisti­ schen Rationalismus kritisiert. Zwar mag er argumentieren, dass die Modellverfassung keinen radikalen Bruch mit dem Status quo manifestiert, da es hier um die Wiederherstellung des rechtsstaat­ lichen Systems gehe, wie es einmal tatsächlich existierte, aber es war wiederum Hayek, der öffentlichkeitswirksam die Entwicklung neoliberaler Utopien einforderte;24 eine Wortwahl, die nahelegt, dass es bei diesem politischen Projekt um weitaus mehr geht als um die schlichte Wiederherstellung des Status quo ante – was im Üb­ rigen immer noch einen radikalen Bruch mit dem aktuellen Status quo darstellen würde. Hayek muss sich dieser fundamentalen Am­ biguität, um nicht zu sagen Widersprüchlichkeit, die sein spätes Werk kennzeichnet, bewusst gewesen sein, aber dennoch gibt es nur vereinzelte Stellen, an denen er die entsprechenden Spannun­ gen thematisiert und darlegt, warum es scheinbar durchaus mög­ lich ist, einerseits die Meinung zu vertreten, dass die beste Politik in der entschleunigten Kultivierung spontaner Ordnungen besteht, 24 »Was der echte Liberalismus vor allem aus dem Erfolg der Sozialisten lernen muß, ist, daß es ihr Mut zur Utopie war, der ihnen die Unterstützung der In­ tellektuellen gewann und damit jenen Einfluß auf die öffentliche Meinung gab, der schrittweise das möglich machte, was eben noch unmöglich schien.« Fried­ rich August Hayek, »Die Intellektuellen und der Sozialismus«, in: Wissenschaft und Sozialismus. Aufsätze zur Sozialismuskritik, Tübingen 2004, S. 3-16, hier S. 15. Siehe auch: »Heutzutage ist Utopie wie Ideologie ein Schimpfwort […]. Den­ noch ist ein Idealbild einer Gesellschaft, auch wenn es nicht völlig zu verwirk­ lichen sein mag, oder eine Leitvorstellung der anzustrebenden Gesamtordnung nicht nur unerläßliche Voraussetzung jeder rationalen Politik, sondern auch der Hauptbeitrag, den die Wissenschaft zu Lösung der Probleme der praktischen Politik leisten kann.« Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, S. 67.

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und andererseits seitenweise Reformentwürfe zu publizieren, die in etwa das Gegenteil jener gärtnergleichen Flankierung des langsamstetigen Wachstums von Traditionen und Konventionen darstel­ len.25 Als Gesamteindruck bleibt an dieser Stelle somit bestehen, dass die Entwicklung einer konsistenten neoliberalen Reformpo­ litik und ihrer (realistischen) Bedingungen der Möglichkeit nicht nur für die Ordoliberalen, sondern auch für Hayek eine schwer­ wiegende Herausforderung darstellt, denn die Annahmen, die den verschiedenen neoliberalen Ansätzen zugrunde liegen, scheinen die Möglichkeit einer solchen Politik geradezu auszuschließen.

Veränderung als Politik des Außeralltäglichen James Buchanan war von Hayeks Hinwendung zur Evolutionsthe­ orie in keinster Weise überzeugt, und er machte mehrfach deut­ lich, dass es für Hayeks Evolutionsoptimismus nicht mehr Anlass gebe als für einen entsprechenden Pessimismus: »Die Institutio­ nen, die überleben und gedeihen, müssen nicht immer auch die­ jenigen sein, welche die menschlichen Möglichkeiten verbessern. Die Evolution kann gesellschaftliche Dilemmata ebenso wie ein gesellschaftliches Paradies zutage fördern.«26 Offensichtlich war das Oszillieren Hayeks zwischen evolutionärem Fatalismus und radi­ kalreformerischem Aktivismus Buchanan fremd. Aus seiner Sicht neigte Hayek in bedenklicher Weise der ersteren Orientierung zu, die Buchanan »aufgrund ihrer überhöhenden Heiligung des Status quo« als »Extremkonstitutionalismus« bezeichnete,27 wohingegen er selbst sich eindeutig dem Lager des Reform-Aktivismus zurech­ nete: Verfassungen müssen schließlich entworfen werden, und es bedarf bewusster Reformanstrengungen, damit politische Gemein­ schaften dem Ideal einer freien Gesellschaft etwas näher kommen.28 25 »[…] und es ist zumindest denkbar, daß die Bildung einer spontanen Ordnung zur Gänze auf wohlüberlegt aufgestellten Regeln beruht.« Ebd., S. 48. 26 Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 237. 27 Buchanan, Liberty, Market and State, S. 56. 28 Siehe zu einem Entwurf, der beide Positionen zu versöhnen versucht, Viktor Vanberg, Liberaler Evolutionismus oder vertragstheoretischer Konstitutionalismus? Zum Problem institutioneller Reformen bei F. A. Hayek und J. M. Buchanan, Tü­ bingen 1981.

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Aber Buchanans Skepsis beschränkt sich keineswegs auf Hayeks in­ konsistente Haltung zu neoliberaler Reformpolitik, er beäugt auch das ordoliberale Hoffen auf das unvorhersehbare Auftauchen wohl­ wollender Aristokraten des Gemeinsinns mit größtem Misstrauen. Die intra-neoliberalen Gegensätze könnten hier zumindest auf den ersten Blick kaum schärfer sein. Schließlich ist es Buchanan, der sich im Namen einer realistischen Analyse der Politik mit größ­ tem Nachdruck gegen die Annahme wohlwollender Herrscher ausspricht. Dementsprechend scheint es zunächst, als ob er dem neoliberalen Reform-Dilemma zumindest in seiner spezifisch ordo­ liberalen Ausprägung entgehen könnte. Doch auch Buchanans Ansatz ist nicht frei von problematischen Oszillationen, und es stellt sich heraus, dass er das allgemeine Mus­ ter des neoliberalen Dilemmas, das zu Beginn des Kapitels skizziert wurde, wie kaum eine andere Variation des neoliberalen Denkens exemplifiziert. Buchanans Fall ist zudem der instruktivste und ge­ radezu faszinierendste unter den hier diskutierten Neoliberalen, denn im Gegensatz zu Hayek oder den Ordoliberalen versucht Buchanan gar nicht erst, das Problem zu ignorieren oder zu über­ tünchen. Im Gegenteil, eine Analyse von Buchanans Vorstellungen bezüglich einer neoliberalen Reformpolitik führt uns den Kampf zwischen dem scharfen Kritiker real existierender Demokratie und dem Reformer vor Augen, der letztlich gezwungen ist, genau die theoretischen Annahmen zumindest massiv in Frage zu stellen, die den Diagnosen des Kritikers zugrunde liegen, um die Hoffnung auf eine mögliche Veränderung zum Besseren am Leben zu halten.29 29 Auch wenn ich hier nicht systematisch auf ihn eingehe, ist zumindest festzuhal­ ten, dass auch Friedman zumindest implizit mit einem ähnlichen Dilemma kon­ frontiert ist, insoweit er sich in seinen Schriften aus den 1980er Jahren zunehmend Kerntheoreme der Public-Choice Literatur zu eigen macht und die Verantwor­ tung für die scheinbare Systemresistenz den ›Sonderinteressen‹ in Demokratien zuschiebt: »Die drei Ecken des eisernen Dreiecks [Bürokraten, Politiker und die Begünstigten der Regierungspolitik] wachen zusammen darüber, daß der Admi­ nistration keine ihrer Funktionen genommen wird. Die Tyrannei des Status quo ist stark und schwer zu überwinden.« Friedman/Friedman, Tyrannei des Status quo, S. 80. Zwar entwirft Friedman eine Strategie zur Verabschiedung bestimmter Verfassungszusätze, die den Umweg über die Parlamente der Einzelstaaten wählt, aber er selbst räumt ein, dass ähnliche Versuche in der Vergangenheit immer wie­ der an Parlamentsmitgliedern scheiterten, die öffentlichem Druck nachgegeben und vor allem ihre eigenen Interessen verfolgt hätten. Siehe ebd., S. 94-96.

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Der Ausgangspunkt unserer Diskussion ist eine kurze Rekapi­ tulation von Buchanans Konzeptionalisierung des Homo oecono­ micus, der bekanntlich ein integraler Bestandteil seines Analyse­ rahmens ist. Der innovative Aspekt an seinem Ansatz bestand unter anderem darin, die Annahmen des Verhaltensmodells des Homo oeconomicus in die Sphäre von Politik und Administration zu im­ portieren. Daraus folgte, dass Politiker unter demokratischen Be­ dingungen vor allem vom Interesse an ihrer Wiederwahl getrieben sind und dies insbesondere dadurch sicherzustellen versuchen, dass sie aus der Gesellschaft an sie gerichtete rent-seeking-Forderungen befriedigen und auch entsprechende Absprachen mit anderen Po­ litikern treffen, sofern dies im beiderseitigen Interesse liegt. Das Resultat dieser generalisierten Praxis sind eine inkohärente staat­ liche Politik, äußerst kurzfristige Handlungshorizonte, Inflation und die Akkumulation von Schulden der öffentlichen Hand. Wie wir bereits wissen, liegt die Lösung in (konstitutionellen) Regeln, vor allem natürlich der Verfassungsvorschrift ausgeglichener Haus­ halte. Die einfache, aber für Buchanan verheerende Frage lautet vor diesem Hintergrund schlicht: Warum sollte man annehmen und wie ließe es sich erklären, dass Politiker als rationale Nutzen­ maximierer, die vom Fehlen effektiver Regeln laut Buchanans ei­ gener Analyse immens profitieren, jemals die entsprechenden Ge­ setze verabschieden? Anders formuliert, welche Akteure kommen als glaubhafte Agenten neoliberaler Reformpolitik in Frage, wenn doch gewählte Politiker in dieser Hinsicht auszuscheiden schei­ nen? Offensichtlich gibt es gewisse Parallelen zwischen diesem und dem Dilemma der Ordoliberalen, doch die Unterschiede dürfen keineswegs unterschlagen werden, ist der Fokuspunkt Buchanans doch der Homo oeconomicus, dessen Verhaltensmodell die Ordo­ liberalen, wie wir wissen, eher ablehnend gegenüberstanden. Und doch findet sich Buchanan zuletzt an einem Punkt wieder, der nicht allzu weit von Röpke und Eucken entfernt ist. Zwar ist er sich der Herausforderung durchaus bewusst, mit der er konfron­ tiert ist, aber trotz aller diesbezüglichen Anstrengungen, die wir im Folgenden genauer betrachten, scheint er letztlich nicht in der Lage zu sein, die theoretische Antinomie zwischen der Analyse ei­ ner aufgrund von Sperrklinkeneffekten unveränderlichen Schul­ denpolitik und dem aktivistischen Programm einer neoliberalen Reformpolitik aufzulösen. 222

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Ein möglicher Weg aus dem Reform-Dilemma könnte im stär­ keren Einsatz direktdemokratischer Instrumente wie etwa Referen­ den bestehen, um die Verfassungsvorschrift ausgeglichener Haus­ halte einzuführen. Ermutigt durch das erfolgreiche Referendum der »Proposition 13« in Kalifornien Ende der 1970er Jahre, began­ nen Fiskal-Falken in ganz Amerika, über dieses Modell staatlicher Ausgabenbeschränkung (obgleich Proposition 13 genau genommen Obergrenzen für staatliche Einnahmen aus bestimmten Steuern festschrieb) und die entsprechende Möglichkeit der Begrenzung staatlicher Haushaltspolitik zu diskutieren, und zwar nicht nur auf der Ebene der Einzelstaaten, sondern auch auf der Bundesebene. Auf den ersten Blick passt die Strategie der Referenden sehr gut zu den populistischen oder antielitären Aspekten von Buchanans Den­ ken, und ihre Logik ist insofern stimmig, als es gemäß Buchanans Analysen ja die Kräfte des politischen Establishments von politi­ schen Parteien bis zu Lobby-Gruppen sind, die von den aktuellen Arrangements am meisten profitieren – zu Lasten der steuerzah­ lenden Bürgerschaft und ihrer schuldenbeladenen Nachkommen. Was läge also näher, als zu versuchen, die politischen Eliten zu umgehen und die Entscheidungsfindung direkt in die Hände der Wahlbevölkerung zu legen? Deren Repräsentanten mögen zwar Anreize haben, sich der Einführung einer ›Schuldenbremse‹ entge­ genzustellen, aber Bürger, deren Zeithorizont für Entscheidungen mutmaßlich nicht nur bis zur nächsten Wahl reicht, könnten sich dementsprechend als die angemessenen Adressaten für Buchanans Reformvorschläge erweisen. Doch schon kurz nach der Annahme von Proposition 13 zeigte sich Buchanan bereits skeptisch hinsicht­ lich der Möglichkeit, vom Erfolg dieser spezifischen Initiative auf die nationale Ebene zu extrapolieren,30 und rein theoretisch hatte er sich bereits selbst diesen Weg aus dem Dilemma verstellt, stellte er doch klar, dass Menschen, »ob als Angehörige eines Wahlkreises oder als politische Akteure, im Grunde dieselben Verhaltensmerk­ male aufweisen wie in ihren nicht-öffentlichen Rollen, wenn sie ihren privaten Angelegenheit nachgehen«.31 Und in gewisser Weise ist dies auch die einzig vertretbare Position, wenn Buchanan die 30 Siehe James Buchanan, »The Potential of Taxpayer Revolt in American Democ­ racy«, in: Social Science Quarterly 59 (1979), S. 691-696. 31 Buchanan/Musgrave, Public Finance, S. 126.

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Notwendigkeit strikter fiskalischer Regeln verteidigen möchte, denn wenn ›normale Menschen‹ über ein weniger eng definiertes Nutzenkalkül verfügten, in das auch der zukünftige Nutzen an­ derer (beispielsweise ihrer Kinder) ohne massive Diskontierung einfließen könnte, dann würde sich doch unweigerlich die Frage stellen, warum es überhaupt ausnahmsloser und streng geltender Regeln bedarf. Schließlich könnten dann doch eigeninteressierte Politiker und ihre Parteien mit dem Versprechen fiskalischer Diszi­ plin in den Wahlkampf ziehen, und es wäre zumindest nicht ausge­ schlossen, dass sie für dieses Programm mit dem Wahlsieg belohnt würden. Doch Buchanan muss diese Möglichkeit aus offensicht­ lichen Gründen bestreiten und insistiert stattdessen: »während es nur wenig politischen Widerstand gegen Budgetdefizite gibt, be­ steht erheblicher Widerstand gegen Haushaltsüberschüsse«,32 und suggeriert damit, dass ein solches Wahlprogramm unweigerlich zum Scheitern verurteilt wäre. Aber Buchanan ist dennoch nicht bereit, die Möglichkeit, sich mit seiner Reformagenda an die Bevölkerung zu wenden, gänzlich aufzugeben, was zu einer immer differenzierteren Sichtweise der Akteure führt, die die Welt seiner Analysen bevölkern.33 So finden sich an einer Stelle Andeutungen in Richtung einer dualistischen politischen Anthropologie, ist doch die Rede vom »Kampf in je­ dem von uns […] zwischen Rent-Seeker und Konstitutionalisten und dass fast alle Bürger simultan beide Rollen spielen werden«.34 Was die konstitutionalistische Haltung beinhaltet, lässt sich ex negativo aus den Beschreibungen des konstitutionellen »Analphabe­ ten« ableiten: »Es wird dann unmöglich, solche Personen aufzufor­ dern, ihre eigenen längerfristigen Interessen in Betracht zu ziehen, und es ist sicherlich völlig unsinnig, sie aufzufordern, die Interes­ sen der Gemeinschaft in ihrem umfassenden Sinn mit in Betracht zu ziehen«35 – mit anderen Worten, es ist eine Haltung, die die Einführung einer Verfassungsvorschrift ausgeglichener Haushalte befürworten würde. 32 James Buchanan, Constitutional Economics, S. 95 33  Brennan und Munger ist daher in ihrer Einschätzung zuzustimmen, dass »Buchanan immer ein ambivalentes Verhältnis zum Thema Homo oeconomicus hatte«. Brennan/Munger, »The Soul of James Buchanan?«, S. 339. 34 Buchanan, Constitutional Economics, S. 2, 10. 35 Buchanan, Liberty, Market and State, S. 56.

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Wenn wir diesem Argumentationsstrang weiter folgen, dann zeigt sich, dass sich Buchanans politische Agenda zu einem im­ mer breiter angelegten Projekt ausweitet, denn wenn es zutrifft, dass in jedem von uns ein Konstitutionalist steckt, den neolibera­ le Reform­anstrengungen adressieren könnten, dann lässt dies den eindeutigen Rückschluss zu, dass Homo oeconomicus nicht mo­ nolithisch strukturiert ist. Es sei daran erinnert, dass Buchanans Beschreibungen dieses Verhaltensmodells, die wir im vorigen Kapi­ tel kennengelernt haben, nicht ohne weiteres auf das Klischee des ›ökonomischen Menschen‹ reduzierbar sind, der ohne Wenn und Aber versucht, seinen eng verstandenen Nutzen zu maximieren. Hier fanden wir bereits bestätigt, dass der ›ökonomische Mensch‹ nur eine der Persönlichkeiten ist, aus denen sich der Akteur im Ganzen zusammensetzt, und zudem erschien zunehmend unklar, was es überhaupt bedeutet, seinen eigenen Nutzen rational zu ma­ ximieren, wenn der ›artefaktische‹ Mensch inklusive seiner Nut­ zenfunktion doch beständig im Werden begriffen ist. Angesichts dessen ergibt sich das Bild eines Subjekts, das von einem gewis­ sen Maß an Fluidität gekennzeichnet ist – zumindest legen dies Buchanans Charakterisierungen seines eigenen Projekts nahe. So schreibt er etwa: »Mein Ziel ist es vor allem, die Einstellungen und das Denken über gesellschaftliche Wechselbeziehungen, über po­ litische Institutionen, über Recht und Freiheit zu beeinflussen«,36 und er ziele darauf ab, »die Voraussetzungen für eine wirkliche Transformation von Verhaltensmustern zu schaffen, die sich voll­ ziehen muss«.37 Buchanan mag zwar in anderen Kontexten behaup­ ten, dass der Ausgangspunkt seines Ansatzes sei, »die Menschen so [zu nehmen], wie sie sind, mit all ihren moralischen Handicaps«,38 aber dies ist sicherlich nicht der Endpunkt, denn eigentlich geht es ihm doch um die Stärkung der konstitutionalistischen Haltung gegenüber der des rent-seeker, genauso wie Rousseau glaubte, der citoyen müsse gegenüber dem bourgeois gestärkt werden. Anders for­ muliert haben wir es mit einem Kampf um die Seele des Menschen zu tun, und wenn auch die religiöse Terminologie hier auf den ers­ ten Blick unangebracht erscheint, nicht zuletzt weil Buchanan nach 36 Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 250. 37 Buchanan/Musgrave, Public Finance, S. 207. 38 Brennan/Buchanan, Begründung von Regeln, S. xx.

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eigener Aussage alles andere als eine religiöse Person war,39 wird sich zeigen, dass dies der Stoßrichtung seiner Überlegungen durchaus angemessen ist. Am Beginn eines Textes mit dem Titel »Die Seele des klassischen Liberalismus« aus dem Jahr 2000 platziert Buchanan eine provo­ kante These, der gemäß »wir es über mehr als einhundert Jahre ver­ säumt haben, ›die Seele‹ des klassischen Liberalismus zu retten«.40 Natürlich ist die Rede von der »Seele« hier nicht ganz ernst ge­ meint, aber sie ist eben auch kein bloßer Scherz, denn Buchanan geht es darum, zu zeigen, dass die Befürwortung des Liberalismus auf zwei unterschiedlichen Motivationen beruhen kann. Wäh­ rend sich die eine aus den Argumenten der Wissenschaft und dem Appell an das Eigeninteresse speist, wurzelt die andere »in einer Vorstellung dessen, was man geradezu als die Seele der gesamten integrierten ideationalen Einheit [des Liberalismus, TB] bezeich­ nen könnte«,41 und der Liberalismus wird nicht bestehen können, wenn sich seine Unterstützung einzig oder vorwiegend auf ersterer Motivationslage gründet: »Wissenschaft und Eigeninteresse, vor allem in Kombination miteinander, verleihen in der Tat jedem Ar­ gument Stärke. Aber die Vision eines Ideals jenseits von Wissen­ schaft und Eigeninteresse ist erforderlich, und diejenigen, die für sich selbst in Anspruch nehmen, Mitglied im Club des klassischen Liberalismus zu sein, haben dieses Erfordernis auf katastrophale Art und Weise vernachlässigt.«42 Buchanan geht sogar so weit vor­ zuschlagen, »die Seele des klassischen Liberalismus als einen poten­ tiellen ästhetisch-ethischen Anziehungspunkt ins Feld zu führen, der in Unabhängigkeit von herkömmlicher Wissenschaft existiert, unterhalb ihrer strengen Standards und oberhalb ihrer antisepti­ schen Neutralität«.43 Dies sind bemerkenswerte Aussagen, denn sie 39 »Er stand jeglicher Art von Religion ablehnend gegenüber. Dies bezog sich nicht nur auf ›institutionalisierte‹ Religion im Sinne etwa von Kirchen: Falls das überhaupt möglich ist, lehnte er unorganisierte populistische Mystik und New-Age-Spiritualität noch stärker ab.« Brennan/Munger, »The Soul of James Buchanan?«, S. 331. 40 James Buchanan, »The Soul of Classical Liberalism«, in: Independent Review 4 (2000), S. 111-119, hier S. 111. 41 Ebd., S.  112. 42 Ebd. 43 Ebd., S.  114.

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sind ein klarer Beleg für Buchanans Überzeugung, dass tiefgehen­ de soziale Veränderungen im Geist des Liberalismus im weitesten Sinne Initiativen und Kampagnen voraussetzen, die sich nicht al­ lein auf das bessere ›wissenschaftliche‹ Argument oder den Appell an das Eigeninteresse des rent-seeker in uns verlassen können. Es müsste sich um eine Kampagne handeln, die sich auf einer anderen Ebene an die Menschen wendet und den Konstitutionalisten in ihnen anspricht, und zwar mit Verweis auf eine Vision oder ein Ideal, das ihnen nicht deshalb attraktiv erscheint, weil es mit ihren kurzfristigen Präferenzen korrespondiert. Vielmehr handelt es sich um ein Ideal, das darauf abzielt, Haltungen, Handlungsmuster, Präferenzen und grundsätzlichste Sichtweisen auf die Welt zu ver­ ändern. Man könnte auch sagen, dass Buchanan versucht, darauf hinzuwirken, dass die Menschen zum Liberalismus konvertieren, und hier scheint womöglich ebenfalls das evangelikal anmutende Vokabular zunächst deplatziert, aber er selbst schreibt: »Es ist nicht überraschend, dass diejenigen, die den Elementen des klassischen Liberalismus am beredtsten Ausdruck verleihen können, diejenigen sind, die die Erfahrung einer genuinen Konversion von der sozia­ listischen Sichtweise gemacht haben«,44 und immerhin charakteri­ sierte er sich selbst einmal als »wiedergeborener Ökonom« (bornagain economist), wenn auch wohl eher im Scherz.45 Die neoliberale Vision hat keine Chance auf Verwirklichung, wenn sie sich nur auf das rationale Eigeninteresse politischer Akteure und/oder Bür­ ger stützen kann;46 eine wirkliche Konversion ist notwendig, um Kontrolle und Einfluss des rent-seeker über den Konstitutionalisten ein für alle Mal zu brechen, und dementsprechend verwandelt sich das Projekt neoliberaler Reform de facto in eine Politik des quasireligiösen Außeralltäglichen. Der Drang nach Reformen erscheint zunehmend als eine eschatologische Sehnsucht nach dem großen Bruch (einer »konstitutionellen Revolution«, von der Buchanan immer wieder spricht),47 der der Monotonie des Ewiggleichen ein Ende setzt. Ähnliche Formulierungen, die sich bei Friedman und Rüstow finden, bestätigen diese Lesart, wenn sie etwa von »großer Politik, von der Politik, die die Kunst des Unmöglichen ist, dessen, 44 Ebd., S.  117. 45 Siehe James Buchanan, Economics from the outside in, S. 68. 46 Siehe Brennan/Munger, S. 339. 47 Buchanan, Grenzen der Freiheit, S. 235.

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was zu Unrecht für unmöglich gehalten worden war«, träumen48 und den Moment des Bruchs als eine Zeit charakterisieren, »in der, was unmöglich erschien, plötzlich unausweichlich wird«.49 Am Ende dieses Kapitels stehen wir so vor einer bemerkens­ werten Einsicht. Seien es die Ordoliberalen Röpke und Eucken mit ihrer Hoffnung auf wohlwollende Wächter-Eliten oder Hayek und Rüstow mit ihrer Verteidigung der Übergangsdiktatur und das Bekenntnis des Ersteren zu einer Evolutionstheorie, die seine eige­ ne Agenda bewusst intendierter Reformen in einem fragwürdigen Licht erscheinen lässt – allgemein ist festzustellen, dass die Theore­ tisierung neoliberaler Reformpolitik von bedenklichen Leerstellen und Spannungen durchzogen ist. Das Beispiel Buchanans ist ein letzter und überzeugender Beleg für diese These. Auf der Grundla­ ge der Annahmen seines eigenen Ansatzes ist er nicht in der Lage zu erklären, wie die neoliberalen Reformen, für die er sich einsetzt, je­ mals realisiert werden können – und auch Buchanan selbst war sich darüber durchaus im Klaren: »Wenn wir die Hoffnung auf eine Reform der grundlegenden Regeln des soziopolitischen Spiels auf­ rechterhalten wollen, müssen wir […] Elemente in unsere Überle­ gungen einführen, die das Postulat des Selbstinteresses verletzen.«50 Entsprechend muss er sich auf die Hoffnung auf Konversion und Revolution verlegen, die zu zentralen Bausteinen einer eschatologi­ schen Politik des Außeralltäglichen werden. Ein letzter Punkt bedarf am Ende dieses zweiten Teils des Buchs der Erläuterung, bevor wir im folgenden Teil den Fokus der Un­ tersuchung ausweiten und nicht nur neoliberale Theorie, sondern auch die neoliberale Praxis im Kontext der Europäischen Union in den Blick nehmen. Dieser Punkt führt uns noch einmal zurück an den Anfang des Buchs und das Aperçu über den größten Trick des Teufels, das im Übrigen nicht vom Drehbuchautor der Üblichen Verdächtigungen, sondern aus der Kurzgeschichte Der freigebige Spieler von Charles Baudelaire stammt. Erinnern wir uns, dass sich im Zusammenhang mit den kontroversen Diskussionen um den 48 Rüstow, Rede und Antwort, S. 117. 49 Milton Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago (3. Auflage) 2002, S. xiv. 50 Brennan/Buchanan, Begründung von Regeln, S. 192. Ich habe hier gemäß dem englischen Original die stärkere Formulierung als Aussagesatz gewählt; interes­ santer- und womöglich auch bezeichnenderweise hat man sich in der deutschen Übersetzung für die schwächere Formulierung als Fragesatz entschieden.

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Neoliberalismus auch der diametrale Gegensatz zwischen denen findet, die eine globale neoliberale Hegemonie konstatieren, und denen, die behaupten, dass es den Neoliberalismus nie gegeben hat, jedenfalls nicht als tatsächliche Praxis. Im Lichte dieses letzten Ka­ pitels müssen wir feststellen, dass dieser bereits reichlich bizarren Konstellation noch eine weitere Wendung hinzuzufügen ist, denn es scheint, als ob auch die Neoliberalen selbst virtuell an dieser De­ batte beteiligt sind, und zwar insofern, als ihr Scheitern am Versuch einer konsistenten Theoretisierung neoliberaler Reformpolitik un­ beabsichtigt den Beweis liefert, dass der Teufel tatsächlich gar nicht existieren kann. Aber welche Schlussfolgerungen lassen sich darüber hinaus zie­ hen, wenn wir doch über ausreichende empirische Belege dafür ver­ fügen, dass neoliberale Reformen in der Tat verabschiedet werden und beispielsweise Schuldenbremsen eingeführt werden, obwohl Buchanan nicht in der Lage ist, eine solche Möglichkeit theoretisch konsistent einzuholen? Natürlich ist es grundsätzlich möglich zu argumentieren, dass dies keinerlei Implikationen hat, da die Politik der Austerität und die Schuldenbremsen, die wir in den folgenden Kapiteln genauer betrachten werden, schlicht die seltenen Fälle ei­ nes Möglichkeitsfensters repräsentieren, in denen tatsächlich eine Politik des Außeralltäglichen realisiert werden kann. Aber selbst diejenigen, die nicht bereit sind, von einem ›neoliberalen Zeital­ ter‹ zu sprechen, und derart allgemeine Charakterisierungen vor allem als Ausdruck von politischen Motivationen betrachten, wür­ den wohl einräumen, dass neoliberale Praktiken und entsprechen­ de Reformen womöglich keinen hegemonialen Status haben, aber umgekehrt auch nicht als seltene Anomalie in einem ansonsten weitgehend nicht-neoliberalen Gesamtbild anzusehen sind. Dies bedeutet, dass für den Moment die recht einfache Schluss­ folgerung im Geiste des altehrwürdigen Falsifikationismus Karl Poppers zu ziehen ist: Wenn die Ergebnisse, zu denen die Theo­ rie führt, nicht mit der beobachteten Wirklichkeit übereinstimmt, dann bedeutet dies zwingend, dass ein Problem mit der Theorie und ihren Annahmen besteht. Buchanans eigener Erklärungsver­ such empirischer Fälle, in denen Politiker ganz in seinem Sinn Schlupflöcher der Fiskalverfassung stopfen, konzediert dies mehr oder weniger ausdrücklich: »Der Politökonom, der versucht, in­ nerhalb des Rahmens eines rent-seeking-Modells demokratischer 229

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Politik zu verbleiben, kann diese Geschehnisse nicht erklären.«51 Konkret bedeutet dies, dass vor allem die neoliberalen Kritiken von Staat und Demokratie zumindest in manchen ihrer Aspekte fragwürdig werden, beruhen sie doch auf Annahmen und Ana­ lyserahmen, die zu Ergebnissen führen, die – wenn auch nur in bestimmten Hinsichten – schlicht inkompatibel mit der beobach­ teten Realität sind.

51 Buchanan, Constitutional Economics, S. 11.

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Teil II: Die Disziplinierung Europas

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Nun ist es an der Zeit, den Rahmen unserer Analyse auszuwei­ ten, um herauszufinden, welche Rolle die politische Theorie für die Welt des real existierenden Neoliberalismus im Kontext der EU nach Finanz- und Eurozonenkrise spielt. Zwei Gründe sprechen für die Fokussierung auf genau diesen raumzeitlichen Kontext. Erstens gilt mein Interesse der Analyse »unserer neoliberalen Gegenwart«, um einen von Foucault ge­ prägten Ausdruck abzuwandeln, der mittlerweile als Maxime einer Vielzahl von kritischen Theorieansätzen gilt:1 Die Frage lautet also allgemein formuliert, wie sich der Neoliberalismus nach den bis dahin schwersten Krisen seit der Weltwirtschaftskrise beschreiben lässt und ob diese Krisen erkennbare Spuren an ihm hinterlassen haben, welcher Art diese auch seien. Zweitens konzentrieren sich die folgenden Ausführungen deshalb auf Europa, weil EU und die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) gemeinsam eines der interessantesten Laboratorien für die Entwicklung neuartiger neoliberaler politischer Formen darstellen. Schließlich sind hier neoliberale Ideen nicht nur in nationalstaatliche Strukturen und internationale Handelsregime, sondern auch in eine supranationa­ le Föderation mit Gemeinschaftswährung eingeschrieben. Zudem lässt sich zwar darüber streiten, ob auf beiden Seiten des Atlantiks tatsächlich ausreichend politische Energie in die Reformmaßnah­ men geflossen ist, die eine zukünftige Finanzkrise etwa durch neue Regelwerke für Banken und Finanzsektor verhindern sollen, un­ strittig ist aber, dass die Eurozone Gegenstand einer Vielzahl von Reformen in Reaktion auf die sogenannte Staatsschuldenkrise war. Die entsprechenden Implikationen sind dermaßen weitreichend, dass es kaum übertrieben scheint zu behaupten, dass das heutige Europa einen der interessantesten Schauplätze der (Weiter-)Ent­ wicklung, aber auch der Kontestation des Neoliberalismus darstellt. Meine diagnostische Hauptthese lautet, dass wir eine Transfor­ mation der EU erleben, die in vielen wichtigen Aspekten auf ihre zunehmende Ordoliberalisierung hinausläuft. Aufbau und Struk­ 1 Siehe Martin Saar, »Philosophie in ihrer (und gegen ihre) Zeit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 67 (2019), S. 1-22.

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tur der EU ähneln – in gewisser, noch zu spezifizierender Weise – den Entwürfen, die vor allem, wenn auch nicht ausschließlich von ordoliberalen Denkern, und hier insbesondere Walter Eucken, ent­ wickelt wurden. Die Argumentation, die diese These stützen soll, erfordert einige vorbereitende Schritte. Zunächst blicken wir auf die Finanzkrise und vergleichen die jeweiligen Reaktionen in den USA und in Europa. Am Anfang wies das Krisenmanagement auf beiden Seiten des Atlantiks kaum Unterschiede auf, aber mit dem Beginn der Eurozonenkrise im Herbst 2009 zeichneten sich immer stärkere Divergenzen ab. In den folgenden Jahren weitete sich die Kluft zwischen der ökonomischen Entwicklung der USA, die von einer raschen Erholung geprägt war, und der Eurozone, die in einer länger währenden ökonomischen Krise verharrte, immer mehr, was die Frage aufwirft, was sich für, aber auch gegen das europäische Krisenmanagement vorbringen lässt. Um dies zu untersuchen, wer­ den im nächsten Schritt skizzenhaft die wichtigsten Reformen der ökonomischen Governance-Strukturen sowie der mit ihnen jeweils verfolgte Zweck vorgestellt und erläutert. Doch um die Logik der Reformen voll erfassen zu können, müssen wir uns in aller Kürze mit einigen grundlegenden Strukturen, Mechanismen und Effek­ ten der WWU befassen, was uns zudem die Möglichkeit gibt, zu klären, inwieweit die WWU auch schon vor ihrer weitreichenden Rekonfiguration im Laufe des letzten Jahrzehnts den neolibera­ len Vorstellungen bezüglich einer ökonomischen Föderation ent­ sprach. Es steht außer Frage, dass die EU-Mitgliedsstaaten, vermittelt über die diversen EU-Institutionen, zwar offiziell über den Kurs des Reformprozesses entschieden – und weniger offiziell in der Eurogruppe im Hinblick auf die Eurozone –, Deutschland aber seit 2010 über den größten Einfluss in diesen Institutionen und ›Gruppen‹ verfügte. Schon davor war Deutschland aufgrund seines ökonomischen Gewichts einer der mächtigsten EU-Staaten, und durch die Krise fand es sich plötzlich in einer noch prominente­ ren Führungsrolle beim Versuch wieder, die Eurozone vor ihrem drohenden Auseinanderbrechen zu bewahren. Daher sehen wir uns im nächsten Schritt unterschiedliche Ansätze zur Erklärung der Strategie an, die die deutsche Regierung im Hinblick auf den Re­ formkurs vertrat. Im Zuge dieser Diskussion streifen wir auch eine Debatte, die ebenso komplex wie langandauernd ist und die Erklä­ 234

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rungsansätze und ontologische Annahmen betrifft, mit denen das Verhalten von Akteuren analytisch erfasst werden soll. Grundsätz­ lich gilt es, bei solchen Erklärungsversuchen drei Hauptfaktoren zu berücksichtigen, nämlich Interessen, Institutionen und Ideen, womöglich auch in diversen Kombinationen. Es versteht sich von selbst, dass eine unübersichtliche Fülle von Forschungsliteratur zu dieser Thematik existiert, und dementsprechend beschränke ich mich in meinen Ausführungen auf den Versuch des Nachweises, dass weder rein interessenbasierte Ansätze, wie etwa Theorien ra­ tionaler Wahl, noch ihr rein institutionalistisches Pendant eine adäquate Herangehensweise darstellen. Meines Erachtens ist dies eine allgemein vertretbare These, aber in unserem Zusammenhang kommt ihr besondere Plausibilität zu, denn mehr noch als unter ›normalen‹ Bedingungen kommt Ideen unter Bedingungen fundamentaler Ungewissheit besondere Bedeutung zu. Unter solchen Bedingungen, die die europäische Krise in ihren diversen Wellen immer wieder produzierte, sind sich Akteure nicht einmal sicher, was genau ihre Interessen sind, und müssen sich in der Konsequenz – mehr oder weniger bewusst – auf Ideen und Heuristiken verlas­ sen, um sich zu orientieren und Handlungspläne zu entwickeln. Daher müssen Ideen in Krisenzeiten besonders ernst genommen werden; und es sind ordoliberale Ideen, die einen gewichtigen Teil der politisch-intellektuellen Elite Deutschlands mit den basalen Erklärungsmustern und Orientierungsmarkern zur Interpretation der Krise und der entsprechenden Stoßrichtung der Reformpläne versorgten. Die Konsequenz ist die zunehmende Ordoliberalisie­ rung Europas.

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6. Europäische Krisen: Ursachen und Konsequenzen Nach über einer Dekade kann die Sozialwissenschaft auf ein beein­ druckendes Panorama der Krisenliteratur zurückblicken, an dessen Anfang die vorwiegend ökonomischen Analysen der Finanzkrise von Joseph Stiglitz, Nouriel Roubini und vielen anderen standen und das mit der rückblickenden (wirtschaftshistorischen) Ge­ samtschau in Crashed von Adam Tooze seinen vorübergehenden Abschluss gefunden hat – nicht zu vergessen, die investigativ-jour­ nalistische Aufbereitung, die im Falle von Michael Lewis’ The Big Short sogar zu einer Verfilmung führte, die ebenso unterhaltsam wie informativ war.1 Angesichts der Fülle dieser Literatur und der Tat­ sache, dass die Finanzkrise nicht im Mittelpunkt meines Interesses steht, besteht keine Notwendigkeit, noch einmal in allen Details zu schildern, wie das billige Geld der US-Notenbank, internationales Überschusskapital auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten, raffi­ nierte Finanzinstrumente mit fatalen Nebenwirkungen wie etwa die von den Wall-Street-Experten entwickelten Mortgage-Backed Securities sowie die Blase des Immobilienmarktes in den USA (aber auch in Irland oder Spanien) letztendlich zum Bankrott der Leh­ man Brothers Bank führten. Die Schockwellen dieses Ereignisses liefen durch die politischen Ökonomien der nordatlantischen Welt und waren auch darüber hinaus deutlich zu spüren. Die Akteure auf den Finanzmärkten reagierten auf die poli­ tische Weigerung, eine eher kleine, wenn auch systemrelevante Bank wie Lehman Brothers zu retten, mit Panikverkäufen all je­ ner Wertpapiere und Verbriefungen, die plötzlich einen toxischen Charakter angenommen hatten und auch zuhauf in den Bilanzen weitaus größerer Finanzinstitute zu finden waren. Dies drohte ei­ nen finanzwirtschaftlichen Zusammenbruch ungeahnten Ausma­ ßes auszulösen, und um diesen zu verhindern, entschlossen sich 1 Siehe Nouriel Roubini, Stephen Mihm, Crisis Economics: A Crash Course in the Future of Finance, New York 2010; Joseph Stiglitz, Im freien Fall: Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft, München 2011; Adam Tooze, Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben, Berlin 2018; Michael Lewis, The Big Short. Wie eine Handvoll Trader die Welt verzockte, München 2011.

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Regierungen allerorten, gigantische Rettungspakete zu schnüren. So spannte etwa die US-Regierung unter George W. Bush mit dem Troubled Asset Relief Program einen Rettungsschirm im Umfang von 700 Milliarden US-Dollar über dem Finanzsektor auf und ver­ wandelte die Federal Reserve in eine ›Bad Bank‹, wohin alle jene toxischen Papiere verschoben werden sollten, die nun wie tickende Zeitbomben in den Bilanzen der Privatbanken schlummerten. Und wo man schon einmal dabei war, verstaatlichte die von Republi­ kanern geführte Regierung auch noch de facto einige der größten Finanzinstitutionen der USA, was sich als womöglich größte, aber keineswegs letzte politische Überraschung im Rahmen des Krisen­ managements erweisen sollte. Trotz der Rettungsmaßnahmen blieb der Finanzsektor gelähmt, und der Geldverleih zwischen den Banken kam beinahe zum Er­ liegen, was sich rasch in eine Einschränkung der ökonomischen Aktivitäten auf der Angebotsseite übersetzte, welche wiederum ge­ ringere Investitionen zur Folge hatte. Gleichzeitig waren aber auch die Bedingungen auf der Nachfrageseite angesichts einer geplatzten Immobilienblase, massenhafter Zwangsvollstreckungen aufgrund ausstehender Hypothekenzahlungen, ausradierter Pensionsfonds und einer grundsätzlich tiefen und weitverbreiteten Verunsiche­ rung alles andere als günstig, so dass der (schuldenfinanzierte) Privatkonsum, der insbesondere in den USA ein Pfeiler des Ak­ kumulationsregimes darstellte, ebenfalls zu wanken begann.2 Die frischgewählte Obama-Administration entschloss sich daher, den von der Vorgängerregierung eingeschlagenen Kurs unkonventi­ oneller politischer Maßnahmen fortzuführen, und legte ein mul­ tidimensionales Programm zur Belebung der Konjunktur in der ›Realwirtschaft‹ auf, von der man damals zunehmend zu sprechen begann und die sich auf dem Weg in die Rezession befand. So floss etwa im Rahmen des American Recovery and Reinvestment Act Geld in öffentliche Infrastrukturprojekte, mit Hilfe einer Art Ab­ wrackprämie (im Englischen bezeichnet als »Cash for Klunkers«) sollte die notleidende amerikanische Autoindustrie subventioniert werden, die aber letztlich in Teilen ebenfalls verstaatlicht werden musste, und zuletzt ließ die Regierung etwa 130 Millionen Haus­ 2 Siehe Colin Crouch, »Vom Urkeynesianismus zum privatisierten Keynesianis­ mus – und was nun?«, in: Leviathan 37 (2009), S. 318-326.

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halten Schecks zukommen (ohne den Namen des Präsidenten auf ihnen), in der Hoffnung, dass die Menschen das Geld umgehend ausgeben und damit zu einer konjunkturellen Stabilisierung beitra­ gen würden. Das fiskalische Konjunkturprogramm der Regierung wurde von einem monetarischen der Federal Reserve ergänzt, die die Leitzinsen dramatisch senkte und auf lange Zeit – bis Anfang 2017 – niedrig hielt. Darüber hinaus begab sich die Zentralbank unter ihrem Präsidenten Ben Bernanke auch auf weitgehend un­ bekanntes geldpolitisches Terrain, indem sie mehrfach das Inst­ rument des sogenannten Quantitative Easing einsetzte, was dar­ auf hinausläuft, neues Geld zu schöpfen und es in die Ökonomie einzuspeisen – das Privileg und aus Sicht vieler Kommentatoren auch einer der größten Vorteile, die eine Zentralbank mit sich bringt. Einer derjenigen, die diese Möglichkeiten der Zentralbank für überaus vorteilhaft hielten, war John Maynard Keynes, und es gibt Grund anzunehmen, dass er die Gesamtstrategie der USA im Umgang mit einer in die Rezession taumelnden Wirtschaft für gut befunden hätte, denn jene ließ sich in ihrer Ausrichtung kaum anders als keynesianisch charakterisieren. Sicher hielten manche Kommentatoren wie Paul Krugman das Volumen der Maßnahme angesichts der massiven ökonomischen Kontraktion für unzurei­ chend, aber es bleibt dennoch festzuhalten, dass, dreißig Jahre nachdem der sogenannte Volcker-Schock3 den US-amerikanischen Keynesianismus als praktisch-politische Agenda offiziell zu Grabe getragen und die Ära des Monetarismus eingeläutet hatte, nun das keynesianische Politik-Portfolio der Konjunkturbelebung wieder gefragt war. Und nachdem vor beinahe vierzig Jahren Richard Ni­ xon verkündet hatte, »dass wir heute alle Keynesianer sind«, schien diese Aussage erneut zutreffend zu sein, denn es waren keineswegs nur die USA, die plötzlich die Instrumente der Nachfragesteuerung wiederentdeckten, was uns zur (unmittelbaren) Reaktion Europas auf die Krise führt. In den ersten Monaten der Finanzkrise unterschied sich das Muster des europäischen Krisenmanagements kaum von seinem US-amerikanischen Pendant. Banken, die besonders exponiert wa­ 3 Dies bezieht sich auf den damaligen Fed-Chef Paul Volcker, der mit seiner drastischen Hochzinspolitik Ende der 1970er die Inflation in den USA eindämmte; allerdings um den Preis einer massiven Rezession in den USA und einer Schuldenkrise in Südamerika.

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ren, weil sie im US-Immobilienmarkt involviert waren, aber auch weil die Finanzsektoren auf beiden Seiten des Atlantiks viel zu sehr integriert waren, als dass europäische Banken nicht durch die Ent­ wicklung in den USA negativ betroffen gewesen wären, mussten mit vielen Milliarden Euros gestützt und gerettet werden, und zwar vor allem in Irland, dem Vereinigten Königreich und Deutschland. Und wie in den Vereinigten Staaten führte die Bankenkrise und die damit einhergehende Einschränkung der Kreditvergabe zwischen Banken, aber auch an Unternehmen zu einer konjunkturellen Flaute der Gesamtwirtschaft, der die Europäer ebenfalls mit fiska­ lischen Programmen entgegenzuwirken versuchten: Die deutsche Abwrackprämie etwa war das Vorbild für das amerikanische Cashfor-Klunkers-Programm. Doch auch wenn es 2009 den Anschein hatte, dass wir alle (wieder) Keynesianer waren – sogar China legte ein Programm zur Konjunkturbelebung auf, um die Folgen der globalen Kontraktion für ihre exportorientierte Ökonomie abzu­ federn –, war das Keynes-Revival zumindest in Europa nur von kurzer Dauer, und es folgte eine dramatische Kursumkehr.4 Die Abkehr vom Keynesianismus und der Beginn der Auseinanderent­ wicklung der Krisenstrategien auf beiden Seiten des Nordatlantik lässt sich recht genau datieren: Im Oktober 2009 verkündete die gerade frisch ins Amt gekommene Regierung Griechenlands, dass das Haushaltsdefizit nicht wie zuvor behauptet etwas mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrage, sonders beinahe doppelt so viel. Dies war der Auftakt der Eurozonenkrise,5 denn sofort verlegte sich die Aufmerksamkeit der Rating-Agenturen auf öffentliche Schulden und Defizite, und griechische Staatsanleihen wurden von A auf BBB − herabgestuft. Damit stand das Land inner­ 4 Siehe Rew Woodruff, »Governing by Panic: The Politics of the Eurozone Crisis«, in: Politics & Society 44 (2016), S. 81-116. 5 Zu einem kompakten Überblick siehe Demosthenes Ioannou, Patrick Leblond, Arne Niemann, »European Integration and the Crisis: Practice and Theory«, in: Journal of European Public Policy 22 (2015), S. 155-176. Ich verwende nicht den Begriff der Staatsschuldenkrise, da er bereits ein bestimmtes Erklärungsnarrativ suggeriert, nämlich dass es sich dabei einzig um ein Problem staatlicher Haus­ haltspolitik handelt. Dagegen ist festzuhalten, dass die Überschuldung in vielen oder gar den meisten Fällen auf die Effekte der Banken- und Finanzkrise zurück­ zuführen ist, da die privaten Schulden in den öffentlichen Haushalten absorbiert wurden. Weiter unten wird diese Thematik noch einmal aufgegriffen, wenn es um die Bedeutung der Benennung und Charakterisierung einer Krise geht.

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halb kürzester Zeit vor dem Staatsbankrott, denn seine Anleihen verzeichneten massive Wertverluste, und die Zinsraten, die Käu­ fern für sie gezahlt werden mussten, schossen in die Höhe, was wiederum bedeutete, dass der Schuldenberg inklusive Zinszah­ lungen immer noch mehr anwuchs. Und nicht nur Griechenland zog die Aufmerksamkeit der Rating-Agenturen auf sich, auch an­ dere Länder wie Spanien und Irland standen nun unter genauer Beobachtung, die bis zum Ausbruch der Krise haushaltspolitische Musterschüler gewesen waren, nun aber die Folgen des Zerplatzens ihrer jeweiligen eigenen Immobilienblase absorbieren mussten, was sich in dramatisch ansteigenden Staatsschulden äußerte. Im veränderten Kontext einer globalen Rezession, der realen Möglich­ keit eines griechischen Staatsbankrotts, der Angst vor den entspre­ chenden Ansteckungseffekten und der offensichtlichen, aber eben entscheidenden Tatsache, dass die Mitgliedsstaaten der Eurozone nicht Schulden in einer Währung aufnehmen konnten, über die sie jeweils die Kontrolle hatten,6 fanden sich so auch Italien und Por­ tugal, deren Schuldenstand trotz gewisser Erhöhungen nicht mit denen Irlands und Spaniens zu vergleichen war, plötzlich auf der Liste der Länder wieder, deren Schuldenquote als potentiell nicht tragfähig angesehen wurde und deren Anleihen entsprechend von den Rating-Agenturen ebenfalls herabgestuft wurden. Sie komplet­ tierten die Gruppe von Staaten, die als GIIPS bezeichnet werden würden (Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien), und genauso wie das Akronym fälschlicherweise suggerierte, dass sie alle aus den gleichen Gründen in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren, wurde auch die gleiche Lösung für alle ins Werk gesetzt: die Politik der Austerität. In den Worten von Mark Blyth, der die autoritative Geschich­ te der Austeritätspolitik geschrieben hat, handelt es sich um »eine Art Deflationierung, wobei die Wirtschaft durch eine Senkung von Löhnen, Preisen und öffentlichen Ausgaben wettbewerbsfähiger gemacht wird. Erreicht wird dieses Ziel (angeblich) am besten, indem man das Budget, die Schulden und die Defizite des Staa­ tes reduziert.«7 Entsprechend kamen fiskalischer Konsolidierung, Steuererhöhungen, Ausgabenreduzierungen (vor allem im Bereich 6 Paul De Grauwe, The Governance of a Fragile Eurozone, Brüssel 2011, S. 2. 7 Mark Blyth, Wie Europa sich kaputtspart: Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik, Bonn 2014, S. 24.

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der Sozialpolitik) und Arbeitsmarktreformen, die ›Rigiditäten‹ zu­ gunsten größerer Flexibilität überwinden sollten, nun höchste Pri­ orität zu. Die anlässlich des G20-Gipfels 2010 in Toronto veröffent­ lichte gemeinsame Erklärung enthielt klare Anzeichen für einen bevorstehenden Richtungswechsel, wurde hier doch »die Bedeu­ tung tragfähiger öffentlicher Finanzen« hervorgehoben, was trotz des Versprechens, »die bestehenden Konjunkturprogramme voll­ ständig um[zu]setzen«, eine Verschiebung gegenüber den Monaten zuvor markierte, in denen die gemeinsame Position gelautet hatte, dass die wirtschaftliche Erholung durch kontinuierliche öffentliche Ausgaben sichergestellt werden sollte.8 Unter den G20-Mitglieds­ staaten sprachen sich vor allem die Europäer und unter diesen wiederum vor allem Deutschland und Großbritannien für einen Kurswechsel aus. Der damalige deutsche Finanzminister betonte in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt im Juni 2010, dass trotz der Risiken, die mit der abrupten Beendigung der konjunkturpo­ litischen Maßnahmen einhergehe, gelte: »Eine kreditfinanzierte Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage darf nicht zum Dauerzustand mit Drogencharakter werden«, weswegen es drin­ gend einer »wohlüberlegten Exit-Strategie« bedürfe. Im Hinblick auf die Kritik von Seiten der USA und anderer fügte er hinzu: »Die unterschiedlichen Erfahrungen und Neigungen [in den USA und in Europa/Deutschland] führen auch zu unterschiedlichen Ein­ schätzungen. Eine als zu hoch empfundene Staatsverschuldung löst Ängste aus, auch wenn sich das von der anderen Seite des Atlantiks nicht leicht nachvollziehen lässt.«9 Die hörbarste Unterstützung erhielt Schäuble von George Os­ borne, der soeben sein Amt als britischer Finanzminister angetreten hatte, und dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) Jean-Claude Trichet. In einer Rede vor dem britischen Unterhaus präsentierte Osborne den ersten von ihm verantworteten Haus­ halt, der Ausgabenkürzungen (80 Prozent) mit Steuererhöhungen (20 Prozent) in einem Gesamtvolumen von 40 Milliarden Pfund 8 G20-Gipfeltreffen in Toronto, Erklärung, S. 2. 〈https://www.bundesregierung. de/resource/blob/975254/474952/19271afa39845db0c3cb7 f.3af5e228fb/g20-gipfeltoronto-erklaerung-de-data.pdf?download=1〉. 9 Wolfgang Schäuble, »Droge Staatsverschuldung muss abgesetzt werden«, in: Handelsblatt 24. 6. 2010. 〈https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/wolf gang-schaeuble-droge-staatsverschuldung-muss-abgesetzt-werden/3471856.html〉.

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kombinierte, mit den Worten: »Dieses Budget ist aufgrund der Schulden des Landes erforderlich. Dieses Budget ist notwendig, um der Wirtschaft Zuversicht und Vertrauen zu vermitteln. Dieses Budget ist unausweichlich […]. Das Land hat nicht zu wenig Steu­ ereinnahmen, vielmehr liegen seine Ausgaben über seinen fiskali­ schen Möglichkeiten.«10 Damit hatte in Großbritannien die Ära der Austerität begonnen. Trichet wiederum schrieb in einem Bei­ trag für die Financial Times: »Wir erwarten, dass Regierungen ihre Entschlossenheit bekräftigen, die öffentlichen Finanzen zu konso­ lidieren«, und er lieferte auch Ratschläge bezüglich der spezifischen Methoden: »Die Kombination aus Anpassungen auf der Ausgaben­ seite in Verbindung mit strukturellen Reformen, um langfristiges Wachstum zu ermöglichen, ist typischerweise die beste Strategie, insbesondere wenn sie mit einem glaubwürdigen Bekenntnis zu langfristiger fiskalischer Konsolidierung einhergeht.«11 In einem Interview mit La Repubblica einen Monat zuvor hatte er bereits die wachsende Kritik am deutschen Kurs kategorisch zurückgewiesen: »Es freut mich zu hören, dass sich die deutsche Regierung auf Dis­ ziplin konzentriert. Und was ich über Deutschland denke, gilt auch für die anderen.«12 Und so war die Bühne bereitet für einen Ansatz im Umgang mit der Eurozonenkrise, der die WWU – jedenfalls für den Mo­ ment – zusammenhalten sollte: Rettungspakete wurden geschnürt, um die betroffenen Länder und – einmal mehr – Banken zu retten, deren Bilanzen in manchen Fällen vollgestopft mit den Anleihen jener Länder waren und die zu groß waren, um wiederum von ein­ zelnen Ländern gestützt zu werden. Doch die Verfügbarkeit dieser Rettungsmittel war strikt gekoppelt an die Umsetzung der berüch­ tigten »Strukturreformen« in den betroffenen Ländern, deren Aus­ wirkungen in die gleiche Kerbe schlugen wie die Austeritätspolitik. Darüber hinaus wurde auch für die europäischen Länder, die nicht 10 George Osborne,«Statement on the Emergency Budget«, 22. 6. 2010. 〈https:// www.theguardian.com/uk/2010/jun/22/emergency-budget-full-speech-text〉. 11 Jean-Claude Trichet, »Stimulate no more – it is time for all to tighten«, in: Financial Times 22. 7. 2010. 〈https://www.ft.com/content/1b3ae97e-95c6-11df-b5ad00144feab49a〉. 12  Jean-Claude Trichet, »Interview with La Repubblica«, in: La Repubblica 24. 6. 2010. 〈https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2010/html/sp100624.en. html〉.

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kurz vor dem Staatsbankrott standen, fiskalische Disziplin zum Gebot der Stunde – und weit darüber hinaus – erhoben, wodurch alternative Erwägungen und Rezepte im Hinblick auf eine Strate­ gie für die wirtschaftliche Erholung weitgehend verdrängt wurden. Aber bevor wir uns diese Maßnahmen genauer ansehen, sind zwei Punkte hervorzuheben: Erstens unterschied sich die europäische Herangehensweise merklich von der, die die US-Regierung verfolg­ te. Deutlich wird dies etwa in der Position, die die US-Amerikaner in den Verhandlungen des G20-Gipfels in Toronto vertraten, als erste transatlantische Divergenzen sichtbar wurden. In einem Brief an die G20 wies der damalige Finanzminister Timothy Geithner darauf hin, dass »die Besorgnis über fehlendes Wachstum, während Europa bestimmte Politik-Anpassungen vornimmt, das Momen­ tum der Erholung zu unterminieren droht«.13 Es bedarf kaum der Erwähnung, dass auch die Vereinigten Staaten während der Oba­ ma-Präsidentschaft durchaus ihre Erfahrungen mit der Austerität machten, vom berühmten fiscal cliff bis hin zur sogenannten Se­ questrierung des Haushalts, wodurch die staatlichen Ausgaben er­ heblich zurückgeschraubt wurden, und zwar vor allem auf der Ebe­ ne der Bundesstaaten und Kommunen, die rechtlich verpflichtet sind, ausgeglichene Haushalte vorzuweisen.14 Doch die Rigidität des europäischen Kurses trotz fehlender Anzeichen für eine Erho­ lung wurde auf amerikanischer Seite mit zunehmender Verwunde­ rung zur Kenntnis genommen, die sich keineswegs nur auf die zu erwartende Empörung eines bekennenden Keynesianers wie Paul Krugman beschränkte. Auch andere wie Joseph Stiglitz, Martin Wolf oder Erik Jones verfassten regelmäßig Beiträge und Kolum­ nen für die New York Times und die Financial Times, in der sie der Europäischen Union und vor allem Deutschland eine verfehlte und kontraproduktive Strategie vorwarfen, die im Wesentlichen in dem Versuch bestehe, die wirtschaftliche Erholung herbeizusparen. So­ gar die US-Regierung, die im Allgemeinen eine stärker marktorien­ tierte Position vertritt als die meisten ihrer europäischen Pendants, drängte darauf, den eingeschlagenen Kurs zu überdenken, und 13 Zitiert in Chris Giles, Christian Oliver, »G20 drops support for fiscal stimulus«, in: Financial Times 6. 6. 2010. 〈https://www.ft.com/content/786776b4-708f-11df96ab-00144feabdc0〉. 14 Siehe Paul Krugman, End this Depression Now!, New York 2012, S. 213 f.; Peck, »Pushing Austerity«.

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zeigte sich einerseits besorgt über den wirtschaftlichen Gesund­ heitszustand eines seiner wichtigsten Handelspartner, mahnte an­ dererseits aber auch, die Europäer sollten nicht als Trittbrettfahrer der andernorts verfolgten expansionistischen Politik agieren – ein Vorwurf, auf den nicht nur der deutsche Finanzminister wie oben zitiert reagierte. Noch wichtiger ist es festzuhalten, dass die Un­ terschiede in den jeweiligen Herangehensweisen zwar zunächst auf den Faktor der Eurozonenkrise zurückzuführen sind, die ja im USKrisenmanagement keine Rolle spielte, doch als Erklärung reicht dies letztlich nicht aus. Die Strategie der Austerität mag zwar auf den ersten Blick als eine intuitiv plausible oder gar einzig mögliche Reaktion auf Schulden und Defizite erscheinen, doch dies ist nicht der Fall, und auch die Finanzmärkte verlangten keineswegs, dass solch eine Strategie ›alternativlos‹ zu verfolgen sei.15 Eine seltsame Formel, die auch Schäuble in seinem Beitrag für das Handelsblatt benutzte, offenbart die inhärenten Widersprüche der Strategie, durch Austerität in eine Position der fiskalischen Tragfähigkeit zu gelangen. Was nun gefordert sei, so Schäub­ le, sei »expansive fiskalische Konsolidierung« (expansionary fiscal consolidation)16 – nur blieb dabei unklar, wie genau dies erreicht werden sollte. Denn wenn ein Land mit Schulden und Defiziten zu kämpfen hat und sich dann auf einen Sparkurs begibt, ist zumin­ dest kurzfristig von einem wirtschaftlichen Kontraktionseffekt aus­ zugehen, der sogar zusätzliche Staatsausgaben über die sogenann­ ten ›automatischen Stabilisierungsmechanismen‹ wie zum Beispiel Arbeitslosenversicherungen, aber auch massiv sinkende Steuerein­ nahmen zur Folge hat. Es blieb und bleibt eine offene Frage, worin genau der expansive Effekt fiskalischer Konsolidierungsmaßnah­ men besteht. Schäuble und seine Unterstützer in Wissenschaft und Politik würden auf die Notwendigkeit verweisen, das Vertrauen in die fiskalische Nachhaltigkeit eines Landeshaushalts wiederherzu­ stellen, was dann zu einer Senkung der Zinsen auf Staatsanleihen führe.17 Doch die ›Vertrauensfee‹, wie es Paul Krugman in seinen 15 Siehe Woodruff, »Governing by Panic«, S. 104. 16 Schäuble, »Droge Staatsverschuldung«. 17 Siehe hierzu Alberto Alesino, Silvia Ardagna, Large Changes in Fiscal Policy: Taxes Versus Spending, Cambridge 2009; Francesco Giavazzi, Marco Pagano, Can Severe Fiscal Contractions Be Expansionary? Tales of Two Small European Countries, Cambridge 1990. Eine weitaus skeptischere Einschätzung findet sich bei Roberto

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Kolumnen sarkastisch formulierte,18 ist ein scheues Wesen, und man würde denken, dass Zutrauen in die Tragfähigkeit öffentlicher Finanzen kurzfristig eher durch ökonomisches Wachstum entsteht. Dementsprechend waren die Märkte bestenfalls gespalten, was die Erfolgsaussichten der Austeritätsstrategie anging, und über Jahre hinweg gab es wenig Anzeichen dafür, dass ihr Vertrauen wieder­ hergestellt war – im Gegenteil. Dies bringt uns zum zweiten Punkt, der aus praktisch-politischer Perspektive womöglich der noch wich­ tigere ist und die sozioökonomische Entwicklung der Vereinigten Staaten im Vergleich zu Europa über die nächsten Jahre betrifft. Die Rezession in den Vereinigten Staaten dauerte rein technisch von Dezember 2007 bis Juni 2009. In der Eurozone dauerte die Rezession zunächst von Januar 2008 bis April 2009. Doch mit dem Beginn des dritten Quartals 2011 stürzte sie in eine erneute, län­ gerfristige Rezession, die sich weitere zwei Jahre hinzog. Zwischen 2014 und 2017 gab es ganze zwei Quartale, in denen das Wachstum über die neunzehn Mitgliedsstaaten hinweg mehr als 0,5 Prozent betrug. Und das Pro-Kopf-Wachstum in der Eurozone fiel stetig bis zum ersten Quartal 2017. Vergleicht man die Eurozone und die Vereinigten Staaten im Hinblick auf diesen Indikator zwischen 2007 und 2015, dann tritt die schlechte Bilanz der Europäer deut­ lich zutage. Während das Pro-Kopf-Wachstum in der Eurozone um beinahe zwei Prozent abnahm, stieg es in den USA in der gleichen Zeit um drei Prozent. Die Auseinanderentwicklung dieser ökonomischen Trends lässt sich auch an dem wohl bedeutsamsten sozioökonomischen Indi­ kator ablesen, der Arbeitslosigkeit. Im Jahr 2014 lag die Arbeits­ losenquote in den USA bei 6,7 Prozent, in der Eurozone war sie etwa doppelt so hoch, wobei Spanien und Griechenland sogar mit Quoten von 26,7 beziehungsweise 27,8 Prozent zu kämpfen hat­ ten. 2015 begann die Arbeitslosigkeit in der Eurozone langsam zu sinken, doch am Ende des Jahres lag die Quote immer noch bei beträchtlichen 10,4 Prozent. Und obwohl 2016 die bis dahin stärks­ te Erholung verzeichnet werden konnte – die Gesamtquote fiel im Dezember erstmals seit dem Frühjahr 2009 wieder in den einstelli­ Perotti, The ›Austerity Myth‹: Gain without Pain?, Cambridge 2011 und dem IMFWorking Paper von Jamie Guajardo, Daniel Leigh, Andrea Pescatori, Expansion­ ary Austerity: New International Evidence, New York 2011. 18 Krugman, End this Depression Now!, S. 195.

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gen Bereich (9,4 Prozent) –, ist diese Zahl nicht sonderlich beein­ druckend, vergleicht man sie mit den 4,7 Prozent Arbeitslosigkeit, die in den USA im gleichen Monat gemessen wurde. Darüber hi­ naus verschleiern die Durchschnittszahlen natürlich das kontinu­ ierlich hohe Niveau der Arbeitslosigkeit in den Ländern, die am stärksten von der Krise betroffen waren. Anfang Februar 2017 sah sich Griechenland immer noch mit einer Gesamtarbeitslosenquote von nicht weniger als 23 Prozent konfrontiert; in Spanien lag die Quote bei 18 Prozent. Und auch wenn hier sicherlich in Rechnung zu stellen ist, dass aufgrund einer Vielzahl von Faktoren die Ar­ beitslosigkeit in den USA auch grundsätzlich wesentlich niedriger liegt als in der Mehrzahl der Eurozonen-Staaten, erklärt dies noch keineswegs die drastischen Unterschiede, die die hier zitierten Zah­ len belegen. In Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern konn­ ten Epidemiologen buchstäblich messen, welche negativen Auswir­ kungen auf die Lebenserwartung und die Prävalenz (psychischer) Krankheiten die Krise hatte. Es scheint, als ob die Europäer im Lauf der ›expansionistischen fiskalischen Konsolidierung‹ einen hohen Preis gezahlt haben. Nicht von ungefähr war bei manchen Kommentatoren die Rede von einem verlorenen Jahrzehnt. Und auch wenn es seit 2017 Zeichen einer anhaltenden Erholung der Eurozone gab, die nicht nur auf die Stärke der deutschen Wirt­ schaft zurückzuführen waren, scheint diese Gesamteinschätzung doch keineswegs überzogen. Schließlich ist nach einer über zehn Jahre währenden Rezession davon auszugehen, dass irgendwann die Talsohle erreicht ist. Die Frage, die im Folgenden zu klären ist, lautet also: Wenn sogar die fiskalisch eher als Falken bekannten Amerikaner sich dagegen aussprachen, die Märkte bestenfalls ge­ spalten waren und ganzen Bevölkerungen dadurch teils schwere Opfer abverlangt wurden, warum wurde die Politik der Austerität in Europa mit einer derartigen Unbeirrbarkeit verfolgt?

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Die Restrukturierung der EU und der Eurozone: Ein Überblick über die wichtigsten Reformen Die erste größere Reform in Reaktion auf die Eurozonenkrise wurde durch die konkrete Situation in Griechenland ausgelöst und sollte die Solvenz des Landes erhalten sowie verhindern, dass es aus der Währungsunion ausscheiden muss – wobei kritische Stimmen darauf hinweisen würden, dass dies um den Preis einer ewigen Schuldknechtschaft geschah, in der sich Griechenland ge­ genüber seinen Gläubigern wiederfinde. Der Europäische Finanz­ stabilitätsmechanismus (EFSF) wurde 2010 eingerichtet. Er enthielt keine Mittel, sondern nur Bürgschaften und war ganz bewusst als Notmaßnahme auf Zeit deklariert, um sicherzustellen, dass dadurch nicht der mittlerweile berühmt-berüchtigte Artikel 125 des Vertrags zur Funktionsweise der Europäischen Union (TFEU) verletzt wurde, der es Mitgliedsstaaten und europäischen Institu­ tionen verbietet, nationale Haushalte zu finanzieren. Doch schon bald zeigte sich, dass die Einrichtung des EFSF nicht ausreichte, um Investoren zu beruhigen, und dass Griechenland entgegen den ursprünglichen Prognosen der Europäischen Kommission und von Befürwortern der Austeritätsstrategie in absehbarer Zeit nicht auf einen ökonomischen Wachstumskurs zurückkehren würde, ganz zu schweigen von Ländern wie Spanien, Portugal und Irland, die ebenfalls finanzielle Unterstützung benötigten. Nachdem die eu­ ropäischen Verträge entsprechend geändert worden waren, wurde daher der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen, um den EFSF zu ersetzen und die Mitgliedsstaaten der Währungs­ union auf Antrag mit Bürgschaften und Finanzmitteln zu versor­ gen: 80 Milliarden Euro waren sofort verfügbar; weitere rund 620 Milliarden mit einer gewissen Vorlaufzeit. Allerdings wurde das Geld nur unter strengen Auflagen zur Verfügung gestellt. Diejeni­ gen, die Unterstützung erhielten, nämlich Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Zypern, mussten eine Art Einverständniser­ klärung (Memorandum of Understanding) unterzeichnen, in der sie sich verpflichteten, bestimmte Strukturreformen im Geiste der Austerität durchzuführen. Zu den typischen Maßnahmen, die von den Empfängerländern verlangt wurden, gehörten Steuererhöhun­ gen, Ausgabenkürzungen vor allem im sozialstaatlichen Bereich wie etwa Rentenkürzungen, Einschränkungen der medizinischen 247

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Versorgung und reduzierte Arbeitslosenunterstützung, die Priva­ tisierung staatlicher Vermögenswerte und die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Angesichts der Tatsache, dass diese Maßnahmen in jeder Hinsicht den Strukturanpassungsprogrammen ähneln, die der Internationale Währungsfonds (IMF) typischerweise Ländern als Voraussetzung für finanzielle Unterstützung auferlegte, mag es nicht sonderlich überraschend sein, dass dieser auch in die euro­ päischen Rettungsanstrengungen involviert wurde, und zwar als Teil der berüchtigten ›Troika‹, von der später von offizieller Sei­ te nur noch als ›die Institutionen‹ die Rede war. Der IMF wurde mutmaßlich von den Europäern mit an Bord genommen, um die Durchsetzungsfähigkeit der ›Troika‹ zu erhöhen. Schließlich konn­ te der IMF auf eine lange und kontroverse Geschichte im Umgang mit Schuldnerländern zurückblicken, die oft genug mit der har­ ten Linie des Fonds konfrontiert wurden und darunter zu leiden hatten.19 Von daher entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der IMF sich im Ensemble der ›Institutionen‹ als die nachgiebigste erwies und an einem bestimmten Punkt sogar drohte, die Troika zu verlassen, falls es keine signifikante Umstrukturierung der grie­ chischen Schulden gebe. Jedenfalls wurde mit der Troika eine star­ ke und strenge Durchsetzungsinstanz installiert, und es erscheint kaum übertrieben zu sagen, dass die Regierungen von Ländern, die Unterstützung durch den EFSF beziehungsweise den ESM er­ hielten, nur über wenig Spielraum verfügten, was Annahme und Umsetzung der diversen Vereinbarungen anging – selbst gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Bevölkerung. Der ESM in Verbindung mit der Troika ist der Teil der Euro­ zonenrettungsaktion, der am leichtesten skandalisierbar ist – und dies auch zu Recht: Kommentatoren in den betroffenen Ländern bezeichneten die Troika stellenweise als ›Besatzungsregime‹ (die Troika besuchte anfangs noch die jeweiligen Länder, um sich vor Ort selbst ein Bild vom Stand der angemahnten Reformen machen 19 Ohne dass dies hier vertieft werden könnte, sei an dieser Stelle darauf hinge­ wiesen, dass die Rolle des IMF als Zuchtmeister verschuldeter Staaten nicht von allen Repräsentanten des Neoliberalismus befürwortet wurde, auch wenn man dies vermuten könnte. Milton Friedman etwa hegte diesbezüglich beträchtliche Vorbehalte. Siehe hierzu Daniel Kuehn, »›No Business of the Rest of the World‹: Milton Friedman and IMF Conditionality«, in: SSRN (2020). 〈https://papers. ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3530536〉.

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zu können, was implizit nahelegte, dass die Berichte der lokalen Verwaltungen und Landesregierungen nicht als vertrauenswürdig angesehen wurden) und die Vereinbarungen als ›ökonomisches Diktat‹. Doch für die These, die ich im Folgenden entwickeln wer­ de, sind eher die drei übrigen größeren Reformen relevant, denn hier geht es nicht um Notrettungsaktionen von Ländern kurz vor dem finanziellen Kollaps, vielmehr vollzieht sich mit ihnen eine strukturelle Transformation der ökonomischen Governance von EU und WWU. Die Beratungen über den sogenannten ›Six-Pack‹ begannen im März 2010 inmitten der Debatten über die akuten Rettungs­ maßnahmen für Griechenland; im November 2011 wurde er ver­ abschiedet. Zwar spielt dieses Reformpaket in den öffentlichen Debatten eine weit weniger prominente Rolle als etwa die Troika, aber dennoch enthält es einige weitreichende Implikationen für die Restrukturierung von EU und WWU. Sein eher maskulinistischer Name erklärt sich aus der Tatsache, dass das Paket aus fünf Re­ gulierungen und einer Direktive besteht – womit es Teil des EUSekundärrechts ist –, und sein Haupteffekt lässt sich zusammenfas­ sen als eine Verschärfung und Ergänzung des bereits existierenden Stabilitäts- und Wachstumspakts (SGP) von 1996 bis 1997, der im Vorfeld der Euro-Einführung mit dem Ziel verabschiedet wurde, vor allem deutsche Bedenken bezüglich der (fehlenden) Stabilität einer zukünftigen europäischen Währung zu zerstreuen. Die Un­ terzeichner verpflichteten sich gewissermaßen auf das, was oft als typisch deutsche ›Stabilitätskultur‹ bezeichnet wird und sich im Fall des SGP in den messbaren Regelparametern einer Schulden­ obergrenze von 60 Prozent des BIP sowie einer Defizitobergrenze von 3 Prozent des BIP manifestierte. Die Effektivität des SGP war aber in der politökonomischen Literatur von jeher umstritten.20 Entsprechende Zweifel wurden dann anfangs der 2000er Jahre dadurch geschürt, dass Deutschland und Frankreich mehrfach in Folge gegen den SGP verstießen. Obwohl die Kommission ein Ver­ fahren wegen übermäßiger Verschuldung eröffnen wollte, das Teil des Paktes ist, kam es aufgrund unklarer prozeduraler Vorgaben, 20 Siehe Martin Heipertz, Amy Verdun, Ruling Europe: The Politics of the Stability and Growth Pact, Cambridge 2010; James Savage, Making the EMU: The Politics of Budgetary Surveillance and the Enforcement of Maastricht, Oxford 2007.

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vor allem aber auch weil eine hinreichende Anzahl der Mitglieder im Rat für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) Widerstand leiste­ te, zu keiner Sanktionierung beider Staaten. In der Folge wurde der SGP zwar reformiert, doch aus Sicht vieler Beobachter erschien das Regime fiskalischer Disziplin weiterhin zahn- und damit letzt­ endlich auch beinahe bedeutungslos – zumindest im Umgang mit mächtigen Staaten wie Deutschland und Frankreich.21 Der Six-Pack sollte den SGP in dreierlei Hinsicht ergänzen und stärken. Erstens wurden die Regeln des bereits existierenden Ver­ fahrens bei übermäßigen Schulden verschärft, indem Schulden­ quoten ausdrücklich mit einbezogen wurden. Dies bedeutet, dass ein Verfahren gegen ein Land auch dann eingeleitet werden kann, wenn es die Defizitbestimmungen einhält, aber eine Schuldenquo­ te von über 60 Prozent aufweist. Zweitens wurde als Lehre aus der Konfrontation zwischen der Kommission sowie Frankreich und Deutschland in den frühen 2000er Jahren das Prinzip der ›umge­ kehrten qualifizierten Mehrheit‹ als Entscheidungsregel im Rat ein­ geführt. Vorher musste der Vorschlag zur Eröffnung eines Verfah­ rens seitens der Kommission von einer qualifizierten Mehrheit im Rat unterstützt werden, was offensichtlich die Gelegenheit zur For­ mierung von Blockadeallianzen der in Frage stehenden Länder mit anderen bot. Nun gilt die Empfehlung, ein Verfahren einzuleiten, aber auch gegebenenfalls Strafen bei kontinuierlichen Verstößen zu verhängen, als angenommen, wenn sich keine Mehrheit dagegen formiert. Dies erschwert mutmaßlich die Blockade des Verfahrens und kommt dementsprechend einer quasi-automatischen Regel nahe, die politischen Einfluss und Absprachen unter den betroffe­ nen Staaten zu minimieren versucht. Die Regel der umgekehrten qualifizierten Mehrheit findet auch Anwendung im Rahmen einer weiteren Neuerung, die Teil des Six-Pack ist und sich als unmittel­ bare Reaktion auf die Krise verstehen lässt, aber darüber hinaus die weitreichendsten Implikationen der neuen Regelungen enthält: das Verfahren bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht (MIP). Das MIP lässt sich insofern als Lehre aus der Schuldenkrise interpretieren, als »die Krise für die meisten Ländern der EuroPeripherie eine Krise der Zahlungsbilanz war, die auf die makro­ 21 Siehe Patrick Leblond, »The Political Stability and Growth Pact is Dead: Long Live the Economic Stability and Growth Pact«, in: Journal of Common Market Studies 44 (2006), S. 969-990.

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ökonomischen Ungleichgewichte zurückgeht, die sich seit der Einführung der Einheitswährung 1999 entwickelten«.22 Es wurde nun also davon ausgegangen, dass nicht nur Defizite und Schulden zu Problemen für individuelle Länder, aber auch kollektiv für die WWU führen, sondern auch die Entwicklung übermäßiger Un­ gleichgewichte im Rahmen des präventiven Arms des Verfahrens streng überwacht und gegebenenfalls mit den Mitteln des korrek­ tiven Arms hinreichend reduziert oder ganz beseitigt werden müss­ ten. Bereits Defizite und Schuldenquoten lassen sich weit weniger eindeutig feststellen und quantitativ bestimmen, als man vermu­ ten würde, da es Unterschiede im Finanzrechnungswesen gibt, die teils auch bewusst beibehalten werden; noch schwieriger ist dies für makroökonomische Ungleichgewichte und die Frage, ob und ab wann sie als ›übermäßig‹ zu deklarieren sind. Makroökonomi­ sche Ungleichgewichte können im Zusammenhang mit relativer Wettbewerbsfähigkeit stehen, wodurch die Dinge offensichtlich nicht unkomplizierter werden, wirft dies doch die Frage auf, wie Wettbewerbsfähigkeit zu messen ist. Dementsprechend haben die Politökonomen der Kommission ein sogenanntes ökonomisches »Scoreboard« entworfen, das aus elf Indikatoren besteht, die die Wettbewerbsfähigkeit einer Ökonomie quantifizierbar machen sol­ len. Wir können uns hier nicht zu lange mit dem Scoreboard und den vielfältigen Fragen beschäftigen, die es aufwirft.23 Zumindest ist aber auf die Heterogenität der Indikatoren hinzuweisen, bei de­ nen in manchen Fällen Ströme und relative Veränderungen über die Zeit hinweg gemessen werden, in anderen statische Zustandsva­ riablen. In Bezug auf alle elf Indikatoren legt das Scoreboard jeweils bestimmte Abweichungsmargen fest. Über- oder unterschreitet der Wert eines oder mehrerer Indikatoren die entsprechenden Oberund Untergrenzen, dann kann die Kommission den präventiven Arm der MIP einleiten, an dessen Beginn typischerweise eine soge­ nannte ›eingehende Länderprüfung‹ steht. Auf der Grundlage die­ ser ersten Einschätzung beschließt die Kommission entweder, dass 22 Ben Howarth, Lucia Quaglia, »The political economy of the euro area’s sovereign debt crisis: Introduction to the Special Issue of the Review of International Politi­ cal Economy«, in: Review of International Political Economy 22 (2015), S. 457-484, hier S. 466. 23 Siehe hierzu ausführlicher Thomas Biebricher, »Disciplining Europe: The Pro­ duction of Economic Delinquency«, in: Foucault Studies 23 (2017), S. 63-85.

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kein Anlass zu weiterem Handeln vorliegt, oder – was wahrschein­ licher ist – spricht Empfehlungen aus, wie das Ungleichgewicht durch bestimmte Reformmaßnahmen behoben werden sollte. Gesetzt den Fall, dass im Hinblick auf ein übermäßiges Ungleich­ gewicht, das Gegenmaßnahmen erfordert (dies ist ein technischer Ausdruck zur Kategorisierung von Ungleichgewichten), diese nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums ergriffen werden, kann die Kommission zuletzt den korrektiven Arm des Verfahrens initi­ ieren, und wie im Fall des Defizitverfahrens können auch hier als ultima ratio finanzielle Strafen verhängt werden – was aber bis dato noch nie geschehen ist. Bemerkenswert an den Indikatoren, die an­ zeigen, ob ein Ungleichgewichtsverfahren eingeleitet werden muss, sind ihre überaus weitreichenden Implikationen: Unter den Indi­ katoren finden sich beispielsweise die Zahlungsbilanz, reale effekti­ ve Wechselkurse, öffentliche und private Schuldenquoten, Immo­ bilienpreise und Lohnstückkosten. Manche dieser Größen können nur sehr indirekt durch Regierungshandeln beeinflusst werden, und die Maßnahmen, die die Kommission regelmäßig empfiehlt, beziehen sich oftmals auf Politikbereiche, die ausdrücklich nicht Teil der EU-Kompetenzen sind, wie etwa Sozial- und Arbeitsmarkt­ politik. Entsprechend kann es durch die MIP zu einer beträcht­ lichen Ausweitung des Einflusses der Kommission auf nationale Politik kommen, der über die in den Verträgen festgelegten PolitikDomänen der EU hinausreicht. Dies setzt aber auch voraus, dass die Kommission über ein sehr viel detaillierteres Wissen über na­ tionalstaatliche politische Zusammenhänge verfügen muss, wie ein Mitglied des Generalsekretariats der Kommission bestätigt: »Die Zielgrößen im Fall von übermäßigen Defiziten sind relativ klar de­ finiert, aber Mitgliedsstaaten Empfehlungen zu geben, was sie im Hinblick auf Immobilienpreise, ihr Rentensystem oder Arbeitslo­ senunterstützung unternehmen sollen, erfordert eine ganz andere Art von Wissen.«24 Man kann argumentieren, dass die MIP einen wünschenswerten Schritt weg von der exklusiven Fokussierung auf Schulden und Defizite darstellt, aber nichtsdestotrotz weitet sich mit ihr der Kontroll- und Einflussradius der Kommission drama­ 24 Zitiert in James Savage, Amy Verdun, »Strengthening the European Commission’s budgetary and economic surveillance capacity since Greece and the euro area cri­ sis: a study of five Directorates-General«, in: Journal of European Public Policy 23 (2015), S. 101-118, hier S. 110.

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tisch aus, was nicht nur aus demokratietheoretischer Perspektive, sondern auch vom Standpunkt des EU-Rechts bedenklich ist. Das nächste Reformpaket ist der sogenannte ›Two-Pack‹, der aus zwei Regulierungen besteht, die 2013 beschlossen wurden. Sein Hauptzweck besteht in der Harmonisierung der nationalen Haus­ haltsverfahren der Eurozonenländer im Rahmen des sogenannten Europäischen Semesters, das bereits 2011 eingeführt wurde, und in der Ausweitung der Kontrollmöglichkeiten der Kommission im Hinblick auf die nationalen Budgets. Gemäß dem detailliert getak­ teten Zeitplan des Two-Pack müssen Regierungen ihre Budgetent­ würfe zu einem bestimmten Zeitpunkt der Kommission vorlegen, die beurteilt, ob der Entwurf den mittelfristigen Budgetzielen ent­ spricht, die auf der Grundlage von Prognosen bezüglich der öko­ nomischen Entwicklung des jeweiligen Landes definiert werden. In diesem Zusammenhang ist vor allem darauf hinzuweisen, dass das Budget zunächst der Kommission vorzulegen ist, die wieder­ um eine Reaktion auf ihre Begutachtung von Seiten der Regierung erwartet, bevor nationale Parlamente den Entwurf einsehen und debattieren können. Sicher sind es letztlich jene Parlamente, die of­ fiziell das Budget beschließen, und im Laufe des Europäischen Se­ mesters geben auch Europäisches Parlament und Rat ihre Einschät­ zungen ab, aber der Gesamteffekt der Reform besteht doch in einer beträchtlichen Machtverschiebung von Legislative zu Exekutive, was angesichts der historischen Kernkompetenz von Parlamenten, über das Budget zu entscheiden, durchaus bedenklich ist. Damit einher geht aber auch eine Machtverschiebung von der nationalen auf die supranationale Ebene, insofern als die Kommission neuarti­ ge Möglichkeiten der Überwachung und zumindest indirekten Be­ einflussung der nationalen Haushaltsverfahren erhält. Und zuletzt darf nicht vergessen werden, dass dieses Regelwerk und auch die Kontrollmöglichkeiten, die Defizit- und Ungleichgewichtsverfah­ ren bieten, keineswegs nur auf außergewöhnliche Fälle von Län­ dern am Rande des Bankrotts Anwendung finden wie im Falle des ESM-Troika-Regimes, sondern auf alle EU-Staaten beziehungswei­ se die Eurozonenländer im Fall des Europäischen Semesters. Die letzte hier kurz vorzustellende Reform ist der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung, der 2012 abgeschlossen wurde und 2013 in Kraft trat. Ursprünglich war er nicht Teil des EU-Rechts, sondern ein internationaler Vertrag, der von allen EU253

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Staaten bis auf das Vereinigte Königreich und Tschechien unter­ zeichnet wurde. Ende 2017 wurde er aber dann in das EU-Recht integriert. Zwar enthält der Vertrag auch andere Elemente, die vor allem in Aufforderungen zu mehr Koordination und Kooperation innerhalb der EU bestehen, doch der wichtigste Teil ist der Fiskal­ pakt. Dieser nimmt ein weiteres Mal Defizite und Schulden ins Visier, indem er die Unterzeichner auf mehr oder weniger ausge­ glichene oder Überschusshaushalte verpflichtet. Die Obergrenze für Defizite liegt laut Fiskalpakt bei −0,5 Prozent oder −1 Prozent, falls die Schuldenquote signifikant unterhalb von 60 Prozent des BIP liegt. Liegt jene über 60 Prozent, dann ist das jeweilige Land verpflichtet, auf eine Reduzierung um fünf Prozent pro Jahr hinzu­ arbeiten. Und auch hier ist es in erster Linie die Kommission, der die Aufgabe zukommt, die Einhaltung des Fiskalpakts zu überwa­ chen und gegebenenfalls delinquenten Ländern Restrukturierungs­ programme zu empfehlen, um ihren fiskalischen Status mit den Vorgaben des Pakts in Einklang zu bringen. Darüber hinaus kann die Kommission auch die Einrichtung von Stabilitätsräten in den entsprechenden Ländern beschließen. Hält sich ein Land nicht an die Vorgaben, kann es von der Kommission oder anderen Unter­ zeichner-Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof (ECJ) verklagt werden, der wiederum gegebenenfalls Strafen aussprechen kann. Zuletzt verlangt der Fiskalpakt aber vor allem auch, dass die Unter­ zeichner eine ›Schuldenbremse‹ nach Vorbild der von Deutschland bereits 2009 beschlossenen Vorkehrungen einführen, und zwar wenn möglich auf Verfassungsebene. Die Strategie der Veranke­ rung von Schuldenbremsen auf der nationalen Ebene stützt sich sowohl auf praktische Erfahrung als auch Forschungsergebnisse, die nahelegen, dass fiskalische Regeln weitaus effektiver sind, wenn sie in nationaler Gesetzgebung und nicht in EU- oder gar interna­ tionalem Recht verankert sind.25 Auf der Grundlage dieser kurzen Exposition der Inhalte und Logik der wichtigsten Reformen kön­ nen wir nun klären, wie sie in den größeren Zusammenhang von EU und WWU passen.

25 Wim Marneffe, Bas van Aarle, Wouter van der Wielen, Lode Vereeck, »The Im­ pact of Fiscal Rules on Public Finances in the Euro Area«, in: CESifo DICE Report 3, S. 18-25.

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Die Evolution der EU Natürlich ist eine auch nur annähernd erschöpfende Behandlung der EU und ihrer Transformationen, ausgehend vom Nukleus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die vor sech­ zig Jahren mit den Römischen Verträgen gegründete Europäische Gemeinschaft bis hin zu den überlappenden Gemeinschaften von heute – die eigentliche EU, die WWU sowie der Schengen-Raum –, an dieser Stelle nicht möglich. Das Gleiche gilt für eine detaillierte Analyse der diversen EU-Institutionen vom Europäischen Parla­ ment über die Europäische Kommission bis hin zum Europäischen Rat/dem Rat der Europäischen Union und dem EuGH, obwohl sie im Folgenden natürlich immer wieder eine Rolle spielen werden. Die zwei Ziele dieses Abschnitts sind aber überschaubarer. Erstens benötigen wir ein Grundverständnis von Struktur und Dynamik der WWU, um verstehen zu können, welche Rolle sie im Hinblick auf die spezifischen Merkmale der Eurozonenkrise spielte, und um die Logik der soeben vorgestellten Reformen besser einschätzen zu können. Daraufhin können wir uns dann im folgenden Abschnitt der Frage zuwenden, inwieweit die WWU – auch schon vor der letzten Restrukturierungswelle – den neoliberalen Vorstellungen einer Föderation entsprach, wie sie etwa in den Schriften Hayeks, Röpkes und Buchanans zu finden sind und in Kapitel 2 besprochen wurden. Nachdem die Gemeinsame Europäische Akte 1986 die Aspi­ rationen wiederbelebte, die zuerst in den Römischen Verträgen formuliert worden waren, war die Europäische Gemeinschaft ent­ schlossen, einen ›Gemeinsamen Markt‹ oder ›Binnenmarkt‹ auf der Grundlage dessen zu schaffen, was gemeinhin als die ›Vier Freihei­ ten‹ bezeichnet wird: die freie Beweglichkeit von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und Menschen über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Das Ziel war die Schaffung eines Marktes, auf dem es für die ›Insider‹ keinerlei Bewegungs- oder Allokationseinschränkun­ gen geben würde. In der juristischen Sprache des EuGH ausge­ drückt, sollte der Markt auf einer strikten Anwendung des Prinzips der Nichtdiskriminierung von EU-Bürgern, Firmen und anderen Organisationen beruhen. Essentielle Voraussetzungen für Märkte und effektiven Wettbewerb sind die Erhöhung der Faktor-Mobi­ lität und der weitestmögliche Abbau von Einschränkungen, was 255

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ihre Allokation betrifft. Unternehmen sollten dementsprechend in der Lage sein, ihr Kapital gemäß den Erfordernissen dessen, was Marx als Wertgesetz bezeichnete, zu investieren und zu transfe­ rieren, ohne durch bürokratische Hürden oder protektionistische Maßnahmen wie etwa Zölle, die von einer bestimmten Jurisdiktion erhoben werden, daran gehindert zu werden, selbst wenn einheimi­ sche Konkurrenten negativ davon betroffen sind. Menschen sollten darüber hinaus die Möglichkeit haben, in der Jurisdiktion ihrer Wahl zu leben und zu arbeiten, und zwar ohne jedwede Einschrän­ kung, wobei die Mütter und Väter des Binnenmarktes allerdings davon ausgingen, dass Menschen die niedrigste Mobilität im Ver­ gleich zu Gütern, Kapital und Dienstleistungen aufweisen würden. Dementsprechend war das Ziel, effiziente »lokale Faktor-Märkte« zu schaffen, anstatt darauf zu bauen, dass Menschen gegebenen­ falls in großer Zahl in andere Ländern migrieren würden.26 Aus der Sicht vieler Beobachter ist die Bilanz der EU eher enttäuschend, was Integration und Entwicklung gemeinsamer Positionen etwa im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik oder anderer Poli­ tikbereiche angeht, doch der Binnenmarkt gilt gemeinhin als ein Bereich, in dem die ›Integration durch Recht‹ mit am weitesten fortgeschritten ist. Die Kommission erwies sich hier als entschlos­ sen handelnder Akteur, der sich entschieden gegen jegliche Wettbe­ werbsbeschränkung einsetzte, und es ist kein Zufall, dass die Wett­ bewerbspolitik zu den am meisten europäisierten Politikbereichen in der EU gehört. Ähnliches gilt für den EuGH, der sich als strikter Hüter und Durchsetzungsinstanz des Prinzips der Nichtdiskrimi­ nierung etablierte und allen natürlichen und juristischen Personen, die sich in ihrem Marktzugang eingeschränkt oder in ihrem Recht auf ›faire‹ Wettbewerbsbedingungen verletzt sahen, die Möglich­ keit zu klagen gewährte – und in einer Vielzahl der Fälle zugunsten der Kläger entschied. So trieb der Binnenmarkt die europäische Integration voran, und man würde vermuten, dass der logische nächste Schritt, um eine noch größere Effizienz in Handel und Faktor-Allokation zu erzielen, in der Einführung einer gemeinsamen Währung bestehen sollte. Doch hinter dem Euro und der WWU standen keineswegs 26 Siehe Erik Jones, »The Collapse of the Brussels-Frankfurt Consensus and the Future of the Euro«, in: Schmidt/Thatcher (Hg.), Resilient Liberalism, S. 145-170, hier S. 149.

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nur ökonomische, sondern auch politische Beweggründe. Bereits vor der deutschen Wiedervereinigung war die damalige Bundes­ republik ein ökonomisches Schwergewicht im Hinblick auf ihre Wirtschaftsleistung wie auch ihre Währung, die dermaßen für Stabilität stand, dass mehrere andere europäische Länder den Kurs ihrer Währung mehr oder weniger offiziell an die D-Mark gekop­ pelt hatten. Die Idee einer gemeinsamen Währung wurde in den Verhandlungen über die Möglichkeit einer deutschen Wiederver­ einigung 1989-1990 geboren. Unter den ehemaligen Alliierten und insbesondere in Großbritannien gab es erhebliche Bedenken be­ züglich eines wiedervereinigten Deutschlands, mit dem womöglich die ›deutsche Frage‹ wieder virulent werden könnte: Wie könnte ein Deutschland im geographischen Zentrum des Kontinents, das einerseits zu klein ist, um als Hegemon zu agieren, aber ande­ rerseits wesentlich größer und – wirtschaftlich – mächtiger als all seine Nachbarn, auf friedliche Weise in einen gesamteuropäischen Rahmen eingepasst werden? Die vorläufige Antwort auf die ›deut­ sche Frage‹ war der Euro. Vereinfacht gesagt, bestand die vor allem zwischen Deutschland und Frankreich getroffene Abmachung da­ rin, dass die Deutschen ihre sowohl symbolisch als auch materiell hochgeschätzte D-Mark im Gegenzug für die französische Unter­ stützung der Wiedervereinigung und das Versprechen aufgeben würden, dass institutionelle Vorkehrungen dahingehend getroffen würden, dass die zukünftige Gemeinschaftswährung genauso stabil sein würde wie die D-Mark. Die Bundesbank fungierte als Mo­ dell für die EZB mit ihrer politischen Unabhängigkeit und einem Mandat, das womöglich in seiner ausschließlichen Orientierung am Ziel der Preisniveaustabilität noch enger formuliert war als das der Bundesbank. Darüber hinaus bestand Deutschland nicht nur auf strengen Konvergenzkriterien insbesondere im Hinblick auf Defizite, Schulden und Währungsstabilität, die Länder zu erfüllen hatten, bevor sie der WWU beitreten konnten; es verlangte zudem Versicherungen, dass jene Länder sich auch nach ihrem Beitritt an die hohen Anforderungen einer ›Stabilitätskultur‹ halten würden, was in der Folge im bereits erwähnten SGP festgeschrieben wer­ den sollte. Zuletzt wurde die Nichtbeistandsklausel in Artikel 125 des TFEU kodifiziert, die es EU-Institutionen verbot, direkt den Haushalt eines anderen Mitgliedsstaates zu finanzieren, wodurch mutmaßlich sichergestellt wurde, dass jedes Land ganz allein für 257

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sich sowie seine Schulden haftbar war und nicht davon ausgehen konnte und durfte, dass andere ihm Unterstützung bei der Finan­ zierung seines Budgets gewähren würden. Aus dieser offensichtlich selektiven und vereinfachten Rekapitu­ lation der Ereignisse und Entwicklungen, die zur Formierung der WWU führten, lässt sich herauslesen, dass es zunächst für alle Be­ teiligten gute Gründe für die Einführung des Euro gab. Das neue Arrangement gewährte Frankreich, den Niederlanden und Belgien, die der WWU sofort beitraten, zumindest einen Platz am Tisch, an dem die geldpolitischen Entscheidungen nun getroffen wurden, denn die Präsidenten der nationalen Notenbanken waren auch Mitglieder im EZB-Rat, wohingegen jene Länder zuvor zwar vom geldpolitischen Kurs der Bundesbank betroffen waren, aber über keinerlei formelle Einflussmöglichkeiten verfügten. Deutschland wiederum erhielt die Zustimmung zur Wiedervereinigung wie auch die geforderten institutionellen Garantien, vom engen Mandat der EZB bis hin zur Nichtbeistandsklausel. Darüber hinaus erlangte die WWU besondere Attraktivität für Länder, die in der Vergangenheit nicht unbedingt für ihre Stabilitätskultur bekannt gewesen waren und daher hohe Zinsen auf ihre Staatsanleihen zahlen mussten. Denn sobald sie die Konvergenzkriterien erfüllt hatten und der WWU beitraten, fielen jene Zinsen auf beinahe deutsches Niveau, da Investoren offensichtlich davon ausgingen, dass italienische oder spanische Schulden letztendlich von der deutschen Wirtschaftsleis­ tung garantiert würden. In diesem Sinne gab es offensichtlich gute ökonomische Gründe für diese Länder, den Euro einzuführen, da sie dadurch weitaus besseren Zugang zu den Kapitalmärkten er­ hielten. Doch nicht nur die Spanier profitierten davon, dass ihre Schulden de facto wie deutsche Schulden betrachtet wurden, auch die Deutschen zogen Vorteile daraus, dass ihre Währung nicht nur wie die spanische behandelt wurde, sondern es sich tatsächlich um dieselbe Währung handelte. Die Folge war nämlich, dass der Euro relativ gesehen weit niedriger bewertet war, als es die D-Mark ge­ wesen wäre, woraus sich wiederum Umtauschkurse ergaben, die für das deutsche Akkumulationsregime, das bis dahin schon stark auf den Export ausgerichtet gewesen war und durch den Euro noch stärker davon abhängig wurde, überaus vorteilhaft waren. Auch wenn es vernünftige ökonomische Gründe gab, der WWU beizutreten, blickte die ökonomische Zunft doch insgesamt weitaus 258

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skeptischer auf die entstehende Eurozone. Kaum war der Plan für eine Gemeinschaftswährung in den Vertrag von Maastricht aufge­ nommen worden, meldete sich schon eine Vielzahl von Ökonomen zu Wort, die nachdrücklich auf die Unwägbarkeiten und Risiken eines solchen Unterfangens hinwiesen. Die zukünftige Eurozone war aus ihrer Perspektive kein »optimales Währungsgebiet«,27 was im Grunde bedeutete, dass es nicht in der Lage war, asymmetrische Schocks wie ökonomische Krisen durch die Mobilität von Arbeits­ kräften, interregionale Transferzahlungen oder andere Mechanis­ men zu absorbieren. Zudem sei zu befürchten, dass die eklatanten Disparitäten zwischen verschiedenen Kapitalismus-Varianten und Akkumulationsregimen innerhalb der Eurozone letztlich zu einem Auseinanderbrechen der Währungsunion führen würden.28 Wenn überhaupt, dann sollte der Euro nur am Ende eines langen Prozes­ ses wirtschaftlicher Konvergenz eingeführt werden, lautete das Ar­ gument der Skeptiker. Doch die gegenteilige Sichtweise setzte sich durch, nicht zuletzt auch gestützt durch das politische Argument der Notwendigkeit einer ›immer engeren Union‹ mit einer gemein­ samen Währung. Zwar wurden die ökonomischen Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern auch von dieser Seite nicht geleug­ net, aber die von der ›Krönungstheorie‹ vertretene Sequenzierung, nach der der Euro eben die Krönung eines langen Konvergenzpro­ zesses darstellen sollte, wurde umgekehrt: Nun sollte der Euro den gemeinsamen Währungsrahmen bieten, der eine langsame, aber sichere Konvergenz zwischen den Euro-Staaten herbeiführen sollte. In den Jahren nach der Einführung des Euro 1999 ließ sich aller­ dings ein Muster anhaltender und sich sogar vertiefender Dispari­ täten zwischen den verschiedenen Wirtschaftsräumen beobachten. Einer der Hauptgründe für diese Entwicklung war, was viele Kom­ mentatoren für einen fatalen Konstruktionsfehler der WWU und auch zentralen Faktor im Zusammenhang mit der Schuldenkrise halten, nämlich eine Geldpolitik, die ohne die Flankierung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Fiskalpolitik gemäß dem Motto »One Size Fits All« agieren musste. Was zu Beginn der 2000er Jah­ 27 Siehe Robert Mundell, »A Theory of Optimum Currency Areas«, in: American Economic Review 51 (1961), S. 657-665. 28 Siehe beispielsweise Martin Feldstein, »The Political Economy of the European Economic and Monetary Union: Political Sources of an Economic Liability«, in: Journal of Economic Perspectives 11 (1997), S. 23-42.

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re passierte, lässt sich am Beispiel von Spanien und Deutschland illustrieren. Aus einer Reihe von Gründen war Deutschland in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends nicht das ökonomische Zug­ pferd, als das es heute angesehen wird; vielmehr galt es als ›kranker Mann Europas‹ mit niedrigen Wachstumsraten, hoher Arbeitslosig­ keit, einer überalterten Bevölkerung und dem, was Beobachter da­ mals als einen überdimensionierten Sozialstaat und überregulierten Arbeitsmarkt kritisierten. Vor der Gründung der WWU wäre der Wert der D-Mark unter diesen Bedingungen womöglich gefallen, wovon der Exportsektor profitiert hätte. Und angesichts der nied­ rigen Inflationsraten hätte die Bundesbank sogar einige geldpoli­ tische Impulse setzen können, um die Konjunktur anzukurbeln. Doch der Wert der Gemeinschaftswährung sank eben nicht, und die EZB musste eben nicht nur die Konjunkturflaute Deutschlands bei ihren Entscheidungen in Betracht ziehen, sondern auch die Si­ tuation Spaniens. Hier verzeichnete man einen massiven Zustrom von Kapital, und die daraus folgenden ökonomischen Aktivitäten, vor allem im Immobilienbereich, resultierten letztlich in steigen­ den Preisen und Löhnen. Das Dilemma, vor dem die EZB damals wie heute steht, ist offensichtlich. Eine expansive Geldpolitik mit niedrigen Zinssätzen wäre im Hinblick auf Deutschland und die niedrigen Wachstums- und Inflationsraten dort fraglos im Rah­ men des EZB-Mandats möglich und angezeigt gewesen, doch in Spanien herrschten gegenteilige Bedingungen, die eigentlich nach einem kontraktiven Kurs in der Geldpolitik verlangt hätten. Ab­ gesehen von einer Reihe von sehr überschaubaren Möglichkeiten, eine gewisse regionale Differenzierung der Wirkungen ihrer Politik zu erreichen, hatte die EZB keine andere Wahl, als eine Geldpolitik zu verfolgen, die sich in etwa am Durchschnitt der ökonomischen Situation in Deutschland, Spanien und allen übrigen Ländern der Eurozone orientiert. Konfrontiert mit der Realität eines nichtoptimalen Währungsraums, entpuppte sich die One-Size-Fits-AllPolitik der EZB daher als eine Politik, die letztlich für niemanden passgenau war. Angesichts des offensichtlichen Dilemmas und der daraus resultierenden Ineffizienz der EZB-Politik fragt man sich unweigerlich, warum die WWU ohne eine gemeinsame Fiskalpo­ litik konzipiert wurde, über die beispielsweise Mittel für interre­ gionale Transfers mobilisiert werden könnten oder mit der sie auf andere Art und Weise die Instrumente zur regionalen/nationalen 260

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Ausbalancierung der uniformen Geldpolitik bereitstellen könnte. Diese Frage werden wir im weiteren Verlauf noch einmal aufgrei­ fen, aber blicken wir nun noch einmal auf die Situation Anfang der 2000er Jahre, als die deutsche Regierung eine weitreichende Entscheidung traf, indem sie die ökonomischen Schwierigkeiten durch die sogenannte ›Agenda 2010‹ zu überwinden versuchte, in der es bekanntlich insbesondere um eine Deregulierung des Ar­ beitsmarktes ging, der eine größere Kommodifizierung der Arbeits­ kraft zur Folge hatte. In Verbindung mit der von den Gewerkschaf­ ten nolens volens mitgetragenen Lohnzurückhaltung führte dies zu einer Reduzierung der Lohnstückkosten und einer entsprechenden Erhöhung der relativen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Öko­ nomie. Gleichzeitig erfreute sich Spanien angesichts seiner boo­ menden Wirtschaft eines anhaltenden Kapitalzuflusses, aber auch, weil Banken nur zu gerne bereit waren, Staatsanleihen zu kaufen, weil sie entweder davon ausgingen, dass spanische ebenso gut wie deutsche Schulden seien, oder darauf wetteten, dass die Banken im schlimmsten Fall sowieso gerettet würden, wenn sie nur genug Staatsanleihen in ihren Bilanzen stehen hatten. Das Resultat war erstens aus den bereits erwähnten Gründen eine Schwächung der spanischen Wettbewerbsfähigkeit und zweitens eine zunehmend fatale Ko-Abhängigkeit zwischen Staaten und Banken, die sich als eines der schwerwiegendsten Probleme der Eurozonenkrise erwei­ sen sollte.29 Aber was passierte mit all dem Kapital, das bis zum Ausbruch der Krise in Länder wie Spanien, Irland oder Griechenland floss? Wurde alles für »Frauen und Alkohol« auf den Kopf gehauen, wie es der damalige Chef der Eurogruppe Jeroen Dijsselbloem in ei­ nem Interview 2017 provokativ formulierte? Was auch immer es war, vieles davon kam aus Deutschland. Zwar suggeriert das in der (deutschen) öffentlichen Debatte vorherrschende Krisennarrativ, dass das Problem die Verschwendungssucht südeuropäischer Staa­ ten gewesen sei, woraus der einzig plausible Schluss zu ziehen sei, dass diese Länder den Gürtel enger schnallen, Austeritätspolitik be­ treiben und ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen müssten, 29 Siehe Vitali Acharya, Itamar Drechsler, Philipp Schnabl, »A Pyrrhic Victory? Bank Bailouts and Sovereign Credit Risk«, in: The Journal of Finance 69 (2014), S. 2689-2739; H.-Johannes Breckenfelder, Bernd Schwaab, The Bank-Sovereign Nexus across Borders, Frankfurt/M. 2015.

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wie es Deutschland Anfang der 2000er Jahre vorgemacht habe. Doch dieses Narrativ verschweigt ein weiteres Mal die andere Seite der Gleichung der deutschen Erholung und weigert sich, die Be­ dingungen europäischer Interdependenz zur Kenntnis zu nehmen. Denn im Falle einer geschlossenen Volkswirtschaft wäre es überaus schwierig, allein über die Senkung von Produktionskosten Wachs­ tum zu erzielen. Schließlich werden die Produzenten – Beschäftig­ te, die nun weniger verdienen – nun auch als Konsumenten weni­ ger Geld ausgeben, und daher kann die Rechnung nur aufgehen, wenn es irgendjemand anderen gibt, der die Güter auch tatsächlich kauft, die nun kostengünstiger produziert werden. Zugespitzt for­ muliert, eine der Voraussetzung für die Rückkehr Deutschlands auf einen ökonomischen Wachstumspfad bestand in der Bereitschaft von Spaniern und Griechen, das ihnen zur Verfügung stehende re­ lativ billige Geld für Produkte »Made in Germany« auszugeben. Sollten sich andere europäische Ländern wirklich und in aller Ent­ schlossenheit ein Beispiel an Deutschland nehmen, dann würden sehr viel mehr Produkte zu billigeren Preisen angeboten werden – aber in Europa würden sie keine Käufer mehr finden.30 Hier liegen also die tieferen Wurzeln der Eurozonenkrise, die natürlich etwas mit makroökonomischen Ungleichgewichten, re­ lativer Wettbewerbsfähigkeit und Schulden zu tun hat, welche ja vorgeblich in den diversen Reformen adressiert werden. Aber all diese Faktoren liegen doch keineswegs in der alleinigen Verantwor­ tung eines einzelnen Landes und seiner vermeintlichen Neigung zu überflüssigen Ausgaben; vielmehr sind sie auch zumindest in Teilen die Folge eines systemischen Kontexts von überexponierten Banken in tödlicher Umarmung mit verschuldeten Staaten, einem nicht-optimalen Währungsraum und einer Wirtschaftspolitik für die Eurozone, die sich allein auf ihren geldpolitischen Arm stützen kann, weil ihr das fiskalische Gegenstück auf dem Rücken festge­ bunden ist.

30 Siehe Martin Sandbu, Europe’s Orphan: The Future of the Euro and the Politics of Debt, Princeton 2015, S. 18.

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Neoliberales Denken und europäische Integration Bevor wir im nächsten Kapitel wieder die Fragen aufnehmen, wie sich die institutionellen Reaktionen auf die Eurozonenkrise erklä­ ren lassen und inwiefern sie tatsächlich mit den Vorstellungen der politischen Theorie des Ordoliberalismus korrespondieren, müssen wir zunächst klären, inwieweit die EU bereits lange vor den krisen­ bedingten Reformen, ja sogar vor der Einführung des Euro und als sie noch die durch die Römischen Verträge 1957 gegründete Eu­ ropäische Wirtschaftsgemeinschaft war, neoliberalen Vorstellungen entsprach. Aufgrund seines frühen Todes 1951 finden sich in Euckens Werk keine Ausführungen zur frühen europäischen Integration, und auch Rüstow kommentiert nur selten die europäischen Entwicklungen im Detail. Aber die wenigen Stellen, an denen dies doch geschieht, zeigen einen überaus skeptischen Rüstow. So mahnt er etwa an ei­ ner Stelle: »Der gemeinsame Markt hat in Wirklichkeit […] bisher zu einer weiteren Spaltung Europas geführt.«31 Am regelmäßigsten und detailliertesten äußert sich Röpke zur Anfangsphase der euro­ päischen Integration, und wie wir bereits wissen, kritisiert er trotz seiner abstrakten Begeisterung für föderal-dezentralisierte Arrange­ ments die konkrete europäische Integration gleich bei ihrer ersten Manifestation in Form der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bisweilen in durchaus harschem Ton.32 Röpkes Position gründet sich vor allem auf drei Kernargumente:33 Wenn erstens das übergeordnete Ziel aller Wirtschaftspolitik darin bestehe, Markt­ interaktionen von unzulässigen Einschränkungen zu befreien, die über die allgemeinen Regeln einer Wettbewerbsordnung hinaus­ gehen, dann ließe sich dies auch etwa durch eine Kombination aus Binnenmarkt und Freihandelszone erreichen (innerhalb derer 31 Rüstow, Rede und Antwort, S. 111, siehe auch ebd., S. 22 sowie Alexander Rüstow, »Geistige Grundlagen des Bewußtseins der europäischen Einheit«, in: Martin Göhring (Hg.), Europa – Erbe und Aufgabe, Wiesbaden 1956, S. 3-13. 32 Siehe Wilhelm Röpke, »Europäische Investitionsplanung: Das Beispiel der Mon­ tanunion«, in: ORDO 7 (1955), S. 71-102. 33 Siehe hierzu auch die umfassende Analyse von Röpkes europapolitischen Positi­ onen bei Milène Wegmann, Früher Neoliberalismus und europäische Integration. Interdependenz der nationalen, supranationalen und internationalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (1932-1965), Baden-Baden 2002.

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beispielsweise Entscheidungen über Handelspolitik immer noch von Nationalstaaten getroffen werden könnten). Dafür wäre nur erforderlich, dass die jeweiligen Nationalstaaten ihr Handelsregime liberalisieren und ihre Märkte für ausländisches Kapital, Güter etc. öffnen. In diesem Sinne beginnt tatsächliche ökonomische Integra­ tion immer »zu Hause«, wie es Röpke formuliert.34 Der Vorteil ei­ ner solchen Freihandelszone besteht laut Röpke in der Vermeidung eines Risikos, das er mit Blick auf Binnenmarkt und Zollunion erläutert, und zwar einer Innen-außen-Dialektik, in der interne Li­ beralisierung mit Protektionismus nach außen einhergeht. Solche ökonomischen Blöcke oder ›Großräume‹ könnten sich als Hinder­ nis beim Versuch, das Telos aller internationaler Integration zu er­ reichen, entpuppen, das aus Röpkes Sicht immer noch ein univer­ saler multilateraler Weltmarkt ist, wie er mutmaßlich zumindest in Ansätzen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts existierte.35 Insbesondere warnt er vor den potentiellen Exklusionseffekten, die von einem Kerneuropa nach den Römischen Verträgen ausgehen könnten, das sich womöglich sowohl von den USA als auch den übrigen europäischen Staaten abschottet. Stattdessen vertritt Röp­ ke die Vorstellung eines offenen, integrativen Binnenmarktes, der nicht nur anderen europäischen Nationen Zugang gewährte, son­ dern auch letztendlich die USA im Rahmen einer transatlantischen Union umfassen würde – eine Vision, die sich zweifellos auch aus den Ängsten des Kalten Krieges speist.36 Zweitens hegt Röpke Bedenken hinsichtlich des Modus des Integrationsprozesses, der in seinen frühen Jahren tatsächlich vor­ nehmlich dem Muster sektoraler Integration auf der Mikro-Ebene folgte, die eine Spillover-Dynamik auslöste und so weitere Inte­ grationsprozesse nach sich zog.37 Als Erfolgsrezept dieses Modus 34 Röpke, Internationale Ordnung, S. 311. 35 Siehe Wilhelm Röpke, »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft«, in: Melvin Lasky (Hg.), Aufbau eines neuen Europa. Fünf Aufsätze über wirtschaftliche Zusammenarbeit, Berlin 1953, S. 7-33, hier S. 21; Wilhelm Röpke, »Political Enthusiasm and Economic Sense: Some Comments on European Economic Integration«, in: Modern Age 2 (1958), S. 170-176, hier S. 171. 36 Siehe bereits Wilhelm Röpke, Internationale Ordnung, Erlenbach-Zürich 1945, S. 307-315 sowie Wegmann, Früher Neoliberalismus, S. 325-328. 37 Siehe zum ›neofunktionalistischen‹ Ansatz in der Integrationstheorie grundle­ gend Ernst B. Haas, The Uniting of Europe: Political, Social and Economic Forces 1950-1957, Stanford 1968.

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funktionaler Integration galt die strategische Priorisierung ökono­ mischer gegenüber politischer Integration, und wie wir aus Röpkes Perspektive auf Föderalismus im Allgemeinen ableiten können, lehnte er die Idee, dass ökonomische Integration der politischen vorausgehen sollte, nachdrücklich ab.38 Der dritte, wichtigste Grund besteht darin, dass Röpke sich nur allzu klar darüber war, dass trotz der schwer zu bestreitenden »ordoliberalen Prägung« der Europäischen Wirtschaftsgemein­ schaft39 auch andere rivalisierende Projekte im Rahmen des ge­ meinsamen Marktes verfolgt wurden, denen es darum ging, die Techniken der makroökonomischen Steuerung auf diesem Binnen­ markt zur Anwendung zu bringen. Schließlich blickten mit Italien und vor allem Frankreich zwei Gründungsmitglieder der Europä­ ischen Wirtschaftsgemeinschaft auf eine lange Geschichte einer eher staatszentrierten Vorstellung ökonomischer Steuerung zurück, die sich in den 1950er und 1960er Jahren mit dem Keynesianismus verband und so den Antipoden zu der vorherrschenden ordolibe­ ralen Sichtweise auf den Binnenmarkt bezeichnete. Aus Röpkes Sicht besteht eine ernstzunehmende Gefahr, dass die Europäisie­ rung bestimmter Kompetenzen im Bereich der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik, die von größter Bedeutung für die Ausgestal­ tung des Binnenmarktes ist, von den Kräften des keynesianischen Dirigismus ausgenutzt wird, um zu versuchen, die Wirtschaftsge­ meinschaft in die Dystopie eines »europäischen Kollektivismus«40 zu verwandeln. Mit einem solchen »Superstaat« würde eine umfas­ sende Harmonisierung von Regulierungen und sozialen Standards einhergehen, befürchtet Röpke, wenn es nicht gar zu einem Race to the Bottom im Hinblick auf geldpolitische Disziplin komme, das der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft immer höhere In­ flationsraten bescheren würde. Dieses letzte Argument ist durchaus merkwürdig, denn rein rhetorisch erscheint es oftmals als Kern­ position Röpkes, wenn er immer wieder das Schreckgespenst ei­ nes umfassenden europäischen Kollektivismus heraufbeschwört. Gleichzeitig wirken Röpkes Warnungen aber insofern erheblich 38 Siehe Röpke, Internationale Ordnung – heute, S. 313. 39 Christian Joerges, »The Legitimacy Problématique of Economic Governance in the EU«, in: Mark Dawson, Henrik Enderlein, Christian Joerges (Hg.), The ­Governance Report 2015, Oxford 2015, S. 69-95, hier S. 74. 40 Röpke, »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft«, S. 26.

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weniger dringlich, als er seiner Leserschaft auch immer wieder versichert, dass ein europäischer Zentralstaat nie Realität werden könne, und damit in gewisser Weise Hayeks These von der völli­ gen Unmöglichkeit eines Sozialismus auf der Ebene supranationa­ ler Föderationen aufnimmt. Beide sind sich einig, dass es gänzlich unvorstellbar sei, dass europäische Nationen bereit seien, an einen solchen »Leviathan Machtbefugnisse zu übertragen, die ein großer Teil von ihnen sogar der eigenen nationalen Regierung mißtrau­ isch und in eifersüchtiger Verteidigung elementarer Freiheitsrechte vorenthält«.41 Die Gefahr eines kollektivistischen Europas scheint also nicht wirklich zu bestehen, aber dennoch spielt die entspre­ chende Warnung in Röpkes Rhetorik eine mindestens ebenso gro­ ße Rolle wie die Vorzüge des Freihandels. Damit gelangen wir zu einer zunächst überraschenden Einsicht: Zwar verweist eine Vielzahl von Kommentatoren regelmäßig auf die neoliberalen und ordoliberalen Elemente der Architektur der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft,42 doch der Ordoliberale, der sich am eingehendsten mit der frühen europäischen Integration befasst hat, erweist sich insgesamt weniger als ihr Befürworter denn als Kritiker.43 Aus meiner Sicht lässt sich Röpkes Skepsis gegenüber der ökonomischen Integration Europas aufgrund seiner Bedenken hinsichtlich eines übermäßig zentralistischen Supranationalismus auch auf die Spannungen innerhalb des neoliberalen Denkens zwi­ schen den prima facie widersprüchlichen Strategien der Dezentrie­ rung und Rezentrierung staatlicher Strukturen zurückführen, die im zweiten Kapitel erörtert wurden. Erinnern wir uns, dass eine Variante neoliberalen Denkens, repräsentiert durch Hayek, Röpke und Buchanan, für die Dezentralisierung von Staatlichkeit optier­ te, wohingegen die andere die Notwendigkeit einer Rezentrierung des Nationalstaats in den Vordergrund stellte – eine Position, die Hayek und bis zu einem bestimmten Punkt auch Röpke vertrat. Röpkes insgesamt kritische Haltung gegenüber der europäischen Integration lässt sich auch als Ausdruck seiner theoretischen Un­ 41 Ebd. 42 Siehe etwa Dardot/Laval, The New Way of the World, S. 194. 43 Siehe zur zeitgenössischen neoliberalen Kritik an der EU Quinn Slobodian, Dieter Plehwe, »Neoliberals against Europe«, in: William Callison, Zachary Manfredi (Hg.), Mutant Neoliberalism. Market Rule and Political Rupture, New York 2020, S. 89-111.

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entschiedenheit in diesen Fragen verstehen. Denn letztlich steht doch Röpkes abstrakte Begeisterung für den Föderalismus als ent­ scheidender Schritt zur Überwindung nationaler Souveränität in einem deutlichen Gegensatz zu seiner grundsätzlichen Argumenta­ tionslinie im Kontext europäischer Integration, wo er immer wie­ der die kontinuierliche Bedeutung der Nationalstaaten betont und nahelegt, dass sich das wirkliche Ziel einer internationalen Wirt­ schaftsordnung, Freihandel, am besten in einem klassisch westfä­ lischen System aus Nationalstaaten erreichen ließe, in dem diese bilaterale Freihandelsverträge miteinander abschließen.44 Es ist also zumindest nicht auszuschließen, dass Röpke im Hinblick auf den europäischen Kontext wirklich nur dem Namen nach Föderalist ist. Sein letzter Text zur Europäischen Union beziehungsweise zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist in dieser Hinsicht durchaus symptomatisch. Der größte Teil des Aufsatzes arbeitet heraus, welche Probleme sich aus der Harmonisierung von Politik­ bereichen und der Delegierung von Kompetenzen an die suprana­ tionale Ebene bis hin zum irregeleiteten Plan einer »gemeinsamen europäischen Regierung« ergeben.45 Doch dann im allerletzten Satz erinnert Röpke wiederum seine Leserschaft daran, »dass alles getan werden muss, um die politische und kulturelle Integration Europas weiter voranzutreiben«.46 Es bleibt allerdings schleierhaft, was po­ litische Integration bedeuten soll, wenn nicht genau jene Prozesse der Europäisierung, die Röpke offenkundig ablehnt. Bevor wir uns den neoliberalen Interpretationen der WWU zu­ wenden, sollten wir zunächst klären, welche neoliberale Logik – hier eher verstanden im Sinne Hayeks und Buchanans – dem Bin­ nenmarkt trotz aller Bedenken Röpkes tatsächlich zugrunde liegt. Die konsistentesten und systematischsten Argumente in dieser Hinsicht finde ich, soweit ich sehen kann, bei der ›Kölner Schule‹ 44 Razeen Sally lobt, was er als Röpkes »Liberalismus von unten« bezeichnet, der aber scheinbar genuin supranationalem Föderalismus eher skeptisch gegenüber­ steht: »Aus Röpkes Sicht liegt die Betonung auf unilateralem Handeln und Außenwirtschaftspolitik auf nationalstaatlicher Ebene. […], woraus sich internationale Ordnung als Nebenprodukt ergibt.« Razeen Sally, »Wilhelm Röpke and International Economic Order: ›Liberalism from below‹«, in: ORDO 50 (1999), S. 47-51, hier S. 49. 45 Wilhelm Röpke, »European Economic Integration and its Problems«, in: Modern Age 8 (1964), S. 231-244, hier S. 235. 46 Ebd., S.  243.

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Politischer Ökonomie und Soziologie, deren institutionelles Zen­ trum das dortige Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist. Für ihre Vertreter wie Fritz Scharpf, Wolfgang Streeck und Martin Höpner besteht der zentrale Effekt des Binnenmarktes im effektiven Verlust der Kontrolle über die nationalstaatlichen Gren­ zen. Dies führt zu einem größeren Markt, effizienterer Faktor-Allo­ kation und verschärftem Wettbewerb zwischen privaten Akteuren, aber auch zu einem Wettbewerbsföderalismus, der durchaus Ähn­ lichkeiten mit den Vorstellungen Hayeks und Buchanans aufweist. Von Scharpf stammen die klassischen Analysen der Mechanismen und Dynamiken dieser Konstruktion, die hier in einigen ihrer zen­ tralen Einsichten rekapituliert werden sollen.47 Die meisten Kommentatoren stimmen darin überein, dass der Aufbau des Binnenmarktes auf der Grundlage politischer Ver­ handlungen im Rat (mit Einstimmigkeitsregel) und des Prinzips der Harmonisierung technischer Standards sowie anderer pro­ dukt- und produktionsbezogener Richtlinien in den Jahren nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge zunehmend ins Sto­ cken geriet. Die Erfolge der Integration durch Politik blieben also überschaubar, doch in dieser Situation trat ein neuer Akteure, der EuGH, in den Vordergrund, der den Binnenmarkt und die EU ins­ gesamt nachhaltig formen sollte.48 Das erste einschneidende Urteil des Gerichts bezog sich auf den Güterhandel und instituierte Prin­ zipien, die später auch auf andere Freiheiten Anwendung finden sollten. Im berühmten Dassonville-Urteil aus dem Jahr 1974 ent­ schied das Gericht, dass alle Regelungen, die direkt oder indirekt zu einer potentiellen oder tatsächlichen Einschränkung des Handels führen, unzulässig seien.49 Die Voraussetzungen für dieses Urteil hatte das Gericht selbst in Form von zwei Entscheidungen aus den 1960er Jahren geschaffen, in denen es de facto die Doktrin etab­ liert hatte, dass europäisches Recht Vorrang vor nationalem genie­ 47 Siehe Fritz Scharpf, Regieren in Europa: effektiv und demokratisch?, Frankfurt/M. 1999; Fritz Scharpf, »The Asymmetry of European Integration, or, why the EU cannot be a ›Social Market Economy‹«, in: Socio-Economic Review 8 (2010), S. 211250. 48 Siehe Martin Höpner, Wie der Gerichtshof und die europäische Kommission Liberalisierung durchsetzen. Befunde aus der MPIfG-Forschungsgruppe zur politischen Ökonomie der europäischen Integration, Köln 2014. 49 Siehe Europäischer Gerichtshof C-8/74, Dassonville.

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ße, und feststellte, dass aus den Römischen Verträgen individuelle Rechte ableitbar seien, die juristische und natürliche Personen für sich reklamieren konnten und aufgrund derer sie dementsprechend auch gegen eine etwaige Verletzung der in den Verträgen kodifi­ zierten vier Freiheiten klagen konnten. Diese Urteile enthielten also eine bemerkenswerte Selbstermächtigung des Gerichts, und das Dassonville-Urteil markierte den Beginn einer weitaus ag­ gressiveren Vorgehensweise gegen alles, was den Anschein einer unzulässigen Einschränkung grenzübergreifender ökonomischer Aktivitäten hatte. Auf den Dassonville-Fall folgte bald das ebenso berühmte Cassis-Urteil, das bestimmte Ausnahmen bezüglich der in der Dassonville-Entscheidung aufgestellten Prinzipien einführte und damit die Flexibilität der Rechtsprechung erhöhte, was aber auch bedeutete, dass das Gericht einen größeren diskretionären Interpretationsspielraum bei seinen Entscheidungen erhielt, ob bestimmte nationale Regelungen aufrechterhalten oder für nich­ tig erklärt wurden. Darüber hinaus führte das Urteil die Doktrin der »gegenseitigen Anerkennung« ein, die sich auf die Äquivalenz nationaler Regelungen bezog, welche nun in gegenseitiger Aner­ kennung festgestellt werden konnte/sollte. Indem das Gericht mit Verweis auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung feststellte, dass es keinen validen Grund gebe, warum ein Produkt, das in ei­ nem Mitgliedsland hergestellt worden war, nicht in einem anderen Mitgliedsland angeboten werden könne, wurde diese Doktrin zum Grundstein einer neuen Integrationsstrategie, die sich als weitaus effektiver als der Weg der Harmonisierung erweisen sollte.50 Diese Urteile hauchten dem Projekt des Binnenmarktes insofern neues Leben ein, als die Integration durch Politik zusehends durch In­ tegration durch Recht ersetzt wurde. Allerdings war es im Rah­ men von politischen Verhandlungen prinzipiell möglich gewesen, sowohl marktbegrenzende Regeln abzuschaffen als auch neue Re­ geln zur Einbettung des Marktes zu entwickeln. Integration durch Recht ist dagegen weitgehend begrenzt auf die Abschaffung natio­ naler (gesetzlicher) Regelungen. Dadurch erhält die Integration des Binnenmarktes eine ganz bestimmte Ausrichtung. Obwohl der Eu­ ropäische Rat im Gefolge der Einheitlichen Europäischen Akte die Regel der qualifizierten Mehrheit für alle binnenmarktrelevanten 50 Siehe Europäischer Gerichtshof C-120/78, Cassis de Dijon.

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Entscheidungen einführte, bestand nach wie vor eine ausgeprägte Asymmetrie zwischen den beiden Integrationsmodi. Im Vokabular von Karl Polanyi könnte man formulieren, dass die entbettende Wirkung der Gerichtsentscheidungen die Anstrengungen, den Verlust nationaler Regeln durch markteinbettende Gesetze auf der europäischen Ebene zu kompensieren, bei weitem übersteigt. Die Folge ist ein Markt, der aus Sicht der Konsumenten teils beeindru­ ckende Vorteile bietet, allerdings um den Preis des Verlustes von Arbeitnehmerrechten, die in nationaler Gesetzgebung verankert waren und für ungültig erklärt werden konnten, falls sie die öko­ nomischen Freiheiten von Unternehmen einzuschränken drohten, wie das Gericht beispielsweise in den Fällen Viking, Laval und an­ deren urteilte.51 Es ist ein Markt, auf dem Unternehmen regime shopping betreiben und sich für eine Ansiedelung in der Jurisdik­ tion entscheiden können, die für sie die günstigsten Bedingungen bietet, welche etwa in einer möglichst geringen Regulierung der Produktionsbedingungen bestehen können. Zwar geben manche Kommentatoren zu bedenken, dass der EuGH nicht ausschließlich als Agent der Liberalisierung und Arbeitsmarktderegulierung gese­ hen werden dürfe,52 doch trotz einiger gewerkschaftsfreundlicher Entscheidungen bleibt doch der Gesamteindruck bestehen, dass sich Integration durch Recht in erster Linie als negative Integration entfaltet.53 Die Schlussfolgerung, die vor allem Scharpf aus dieser Konstellation gezogen hat, lautet, dass in die Struktur dessen, was sich als die Wirtschaftsverfassung des Binnenmarktes bezeichnen ließe, die durch Gesetzgebung entstanden und durch Gerichtsent­ scheidungen weiterentwickelt wurde, ein Bias gegen bestimmte Formen des Kapitalismus eingelassen ist. Der Aufbau des Binnen­ marktes habe systematisch nachteilige Auswirkungen auf die sozio­ ökonomischen Arrangements, die die Varieties-of-Capitalism-Lite­ ratur als koordinierte Marktökonomien bezeichnet, und begünstigt dagegen liberale Marktökonomien. Dementsprechend könne sich 51 Siehe Europäischer Gerichtshof C-438/05, Viking; Europäischer Gerichtshof C-341/05, Laval. 52 Siehe James Caporaso, Sindy Tarrow, »Polanyi in Brussels: Supranational Insti­ tutions and the Transnational Embedding of Markets«, in: International Organization 63 (2009), S. 593-620. 53 Siehe Martin Höpner, Armin Schäfer, Polanyi in Brussels? Embeddedness and the Three Dimensions of European Economic Integration, Köln 2010.

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der Binnenmarkt aus systematischen Gründen nie zu dem entwi­ ckeln, was im deutschen Kontext mit der normativ aufgeladenen Formel der sozialen Marktwirtschaft bezeichnet wird, die mutmaß­ lich auf einem Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit beruht, der auch und gerade jene Arbeitnehmerrechte umfasst, die das Ge­ richt als Einschränkung ökonomischer Freiheit betrachtet.54 Es scheint also, als ob die Entwürfe eines Wettbewerbsföderalis­ mus, wie sie von Hayek und Buchanan entwickelt und in Kapitel 2 erörtert wurden, bereits in beträchtlichem Maße in Form des Bin­ nenmarkts Wirklichkeit geworden seien. Buchanan etwa hält mit Blick auf die EU zustimmend fest, dass »normale Menschen vermut­ lich die Auswirkungen der Einschränkungen und Begrenzungen, die die ökonomische Europäisierung der Macht und Autorität von Politikern auferlegt, in wirtschaftlichen und anderen Fragen in das Leben der Bürger einzugreifen, sehr viel stärker spüren werden«.55 Und wenn auch Hayek die prominente Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der Abschaffung nationaler Regulierungsregime nicht vorhersah, hat sich seine Gesamteinschätzung bezüglich der Schlagseite des Integrationsprozesses als durchaus zutreffend er­ wiesen: »Die Schlußfolgerung, daß in einem Bundesstaat gewisse wirtschaftliche Machtvollkommenheiten, die jetzt allgemein von den Nationalstaaten ausgeübt werden, weder vom Bund noch von den Einzelstaaten ausgeübt werden könnten, heißt, daß überhaupt weniger ›regiert‹ werden müßte, wenn die Föderation durchführbar sein soll.«56 Dies bedeutet, dass die Gestaltungsmöglichkeiten so­ zioökonomischer Arrangements im weitesten Sinne, die der natio­ nalstaatlichen Ebene entzogen werden, wenn überhaupt, dann nur unzureichend durch entsprechende supranationale Kompetenzen kompensiert werden. Das Resultat ist ein Markt von Jurisdiktio­ nen, die vor allem um hochmobiles Kapital konkurrieren, wobei die supranationale Ebene zwar in anderen Bereichen nur über we­ nige Kompetenzen verfügt, jedoch durchaus in der Lage ist, die Regeln dieses Marktes konsequent durchzusetzen. Dies entspricht exakt Buchanans Forderung einer Kompetenzaufteilung zwischen den verschiedenen Staatsebenen: »Eine Reform erfordert die Etab­ lierung einer starken, aber begrenzten Zentralinstanz, die ermäch­ 54 Siehe Scharpf, »Asymmetry of European Integration«, S. 238. 55 Buchanan/Lee, »Fiscal Constitution«, S. 221. 56 Hayek, »Wirtschaftliche Voraussetzungen«, S. 337.

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tigt ist, die Zugangsfreiheit der Ökonomie durchzusetzen […]. Auf diesem Weg und nur auf diesem Weg kann die Gefahr der Aus­ beutung durch nationale politische Einheiten reduziert werden, der der einzelne Europäer ausgesetzt ist.«57 Der Grund für diese Disparität zwischen den diversen europä­ ischen Kompetenzen ist auch auf einen theoretisch trivialen, aber dennoch entscheidenden Punkt zurückzuführen: Wettbewerbs­ politik kostet vergleichsweise wenig, wohingegen jene politischen Maßnahmen, die die eher gefährlichen Effekte verstärkter Konkur­ renz auf dem Binnenmarkt abfedern könnten, in den meisten Fäl­ len mehr oder weniger große Finanztransfers beinhalten würden; und sieht man einmal von Sozial-, Struktur- und Kohäsionsfonds ab, dann fehlen der EU schlicht die finanziellen Mittel für ent­ sprechende Maßnahmen, die auch tatsächlich merkliche Wirkung entfalten könnten. Hayek und Buchanan mögen insofern mit ih­ ren Einschätzungen richtigliegen, als Bürger und Nationalstaaten tatsächlich nicht gewillt sind, weitreichende und kostenträchtige Kompetenzen an die supranationale Ebene zu delegieren, aber der weitaus wichtigere Grund in diesem Zusammenhang ist die Tat­ sache, dass die EU nicht über das Recht zur Steuererhebung ver­ fügt. Auch in diesem Sinne entspricht ihre Struktur weitgehend den Vorstellungen Buchanans, dessen Schlüsselidee, wie wir uns erinnern, im Modell der umgekehrten Mittelverteilung bestand, das sicherstellen sollte, dass die übergeordnete staatliche Ebe­ ne in völliger finanzieller Abhängigkeit von den unteren Ebenen verbleibt.58 Abgesehen von einigen kleineren Abweichungen von diesen Vorgaben59 dürfte das Gesamtarrangement also durchaus Buchanans Zustimmung finden. Der Unionshaushalt wird in ers­ ter Linie durch die Beiträge der Mitgliedsstaaten finanziert, und es ist nicht sonderlich überraschend, dass er viel zu klein ist, um als finanzielle Ressource für politische Maßnahmen zu dienen, die der Logik des Binnenmarktes entgegenwirken beziehungsweise zu deren Einbettung dienen sollten. 2019 hatte der EU-Haushalt ein Volumen von rund 165 Milliarden Euro und damit noch nicht 57 Buchanan, »Federalism as an Ideal Political Order«, S. 266. 58 »Unsere zentrale Empfehlung lautet, der Europäischen Union die Möglichkeit, eigenständig Steuern zu erheben, zu verwehren.« Buchanan/Lee, »Fiscal Con­ stitution«, S. 220. 59 Siehe ebd., S. 225.

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einmal die Hälfte des Bundeshaushalts von 360 Milliarden für das gleiche Jahr. Der französische Präsident Emmanuel Macron dringt seit einer Weile auf ein eigeständiges Eurozonen-Budget, das auch über ein beträchtliches Volumen verfügen sollte, allerdings reagier­ te vor allem die deutsche Regierung auf die bisherigen Ouvertüren sehr zurückhaltend. Allerdings sind diesbezüglich aufgrund der Corona-Pandemie die Dinge durchaus in Bewegung gekommen. Auf diese Veränderungen und die Auswirkungen auf das Gefüge von Eurozone und EU kommen wir noch einmal im Epilog des Buchs zurück. Abschließend blicken wir nun auf die neoliberalen Sichtweisen auf eine Währungsunion, insbesondere die WWU. Natürlich fehlte den Ordoliberalen die Erfahrung der WWU aus erster Hand, und obwohl sich Eucken und Rüstow teils sehr ausführlich zu Wäh­ rungsordnungen äußerten, existieren, soweit ich sehen kann, keine Überlegungen zu transnationalen Währungsunionen von ihrer Sei­ te. Wir erinnern uns, dass Röpke ursprünglich ein Verfechter des Goldstandards war, spätestens in den 1930er Jahren aber die Hoff­ nung weitgehend aufgegeben hatte, dass er je wiederbelebt werden könnte. Abgesehen davon ließ er natürlich keinen Zweifel an der Notwendigkeit einer stabilen Geldordnung, doch erst in seinen Schriften aus der Nachkriegszeit befasst er sich mit der Frage einer europäischen Währungsordnung. Nun unterscheidet er zwischen einer ökonomischen Währungsordnung, die beispielsweise auf ei­ nem Währungssystem wie dem Goldstandard beruht, und einer politischen Währungsunion, die auf Vereinbarungen zwischen Na­ tionalstaaten basiert und der er kaum Erfolgschancen einräumt.60 Röpke begrüßt zweifellos die potentiellen Disziplinierungseffekte einer internationalen/europäischen Währungsunion, die ja auch vom Goldstandard während dessen Bestands ausgingen, aber an­ gesichts der Tatsache, dass diese Option nicht länger verfügbar ist, gibt er sich zögerlich, was die Unterstützung einer wie auch immer gearteten Alternative auf der supranationalen Ebene angeht. In ei­ nem Text von 1964 spricht er sich vehement gegen eine europäische Währungsunion inklusive Zentralbank aus und weist – keineswegs zu Unrecht, wie wir mittlerweile wissen – darauf hin, dass »ein sol­ 60 Siehe Lars Feld, Europa in der Welt von heute: Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion, Freiburg 2012, S. 8.

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ches System [eine Währungsunion] eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik voraussetzen würde«, deren Einführung er aber nicht für möglich hielt.61 Die verbleibenden drei Neoliberalen äußern sich direkter zu den Vor- und Nachteilen einer Währungsunion im Kontext einer Föderation. Noch im Vorfeld der Euro-Einführung spricht sich Buchanan gegen »das vorschnelle Projekt einer Einheitswährung und einer monolithischen Zentralbank aus«, das mit Sicherheit »scheitern« werde.62 Doch in dem Moment, als der Euro tatsächlich eingeführt wird und die EZB das ausschließliche Mandat zur Kon­ trolle der Währungs- und Geldpolitik erhält, tritt der realistische Pragmatiker Buchanan in den Vordergrund. Dieser betont immer wieder die Wichtigkeit der Kontextualisierung von Analysen und Diagnosen, was bedeute, dass der Referenzpunkt bei der Bewer­ tung der Mach- und Wünschbarkeit alternativer Arrangements und Reformen immer das Hier und Jetzt sein müsse. Dementspre­ chend differenziert Buchanan in einem Artikel von 2004, der sich mit der nun bereits existierenden EZB und ihrer Funktionsweise befasst, zwischen zwei Untersuchungsschritten. Der erste Schritt befasst sich mit der Frage, ob die WWU zum damaligen Zeitpunkt die bestmögliche »konstitutionelle Wahlmöglichkeit« darstellte, was er nach wie vor verneint. Stattdessen verweist er auf die Idee des späten Hayek eines wettbewerblichen Währungsregimes als die bessere Option. Wichtiger ist aber der zweite Schritt, in dem zu klären ist, ob eine Alternative existiert, die gegenüber dem aktuel­ len Status quo zu bevorzugen wäre, und hier legt sich Buchanan in aller Eindeutigkeit fest: »Dies bedeutet, dass die EZB die Anforde­ rungen der ›konstitutionellen Effizienz‹ in diesem Sinn erfüllt.«63 In seinen weiteren Ausführungen zu dieser Einschätzung adressiert er auch das Kernproblem, das sich aus Sicht monetaristischer, aber auch anderer Beobachter im Zusammenhang mit einer Zentral­ bank stellt, nämlich das der potentiell recht umfassenden diskre­ tionären Entscheidungsspielräume, wohingegen das Ideal in dieser Hinsicht eigentlich darin bestehe, dass »Handlungen automatisch 61 Röpke, »European Economic Integration«, S. 235 f. 62 James Buchanan, »Europe as a Social Reality«, in: Constitutional Political Economy 7 (1996), S. 253-256, hier S. 255. 63 James Buchanan, »Constitutional Efficiency and the European Central Bank«, in: Cato Journal 24 (2004), S. 13-17, hier S. 14.

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durch ökonomische Parameter ausgelöst werden, auf die man sich objektiv verständigt hat«.64 Dennoch lobt Buchanan die Konfigu­ ration der Bank, die mit dem ausschließlichen Ziel der Preisniveau­ stabilität – das zumindest annäherungsweise objektiv beurteilbar sei, so dass auch die Öffentlichkeit überprüfen könne, inwieweit die Bank dieses Ziel erreicht – zumindest eine zweitbeste Alterna­ tive gegenüber dem Ideal gefunden habe. Und auch die Unabhän­ gigkeit der EZB hebt Buchanan positiv hervor, um abschließend zu folgern: Die Möglichkeit »einer ›entfesselten‹ EZB, die ihre diskre­ tionären Entscheidungsspielräume ausnutzt, um massive Abwei­ chungen von der Preisniveaustabilität zuzulassen, scheint in ihrem Fall weitaus unwahrscheinlicher als im Fall jeder einzelstaatlichen Zentralbank«65 – eine Einschätzung die die heutigen Kritiker der EZB zweifellos als vorschnell ansehen würden. Diesen Punkt wer­ den wir weiter unten noch einmal aufnehmen, doch nun wenden wir uns zunächst Friedmans Perspektive zu, die der von Buchanan und Hayek beinahe diametral entgegengesetzt ist. Es versteht sich von selbst, dass auch Friedman Bedenken hegt, was den diskretionären Handlungsspielraum der EZB an­ geht, schließlich war er es, der seinerzeit zu bedenken gab, dass Geldpolitik zu wichtig sei, um sie Zentralbanken und -bankern zu überlassen, und stattdessen die zentrale Forderung des mone­ taristischen Neoliberalismus formulierte: eine kontinuierliche Aus­ weitung der Geldmenge auf der Grundlage einer entsprechenden gesetzlichen Regelung.66 Friedman ist sich im Klaren darüber, dass Regeln für die handelnden Akteure der Zentralbank deren diskre­ tionäre Macht nicht im maximalen Umfang beschränken würden, aber es gehe auch vielmehr darum, ein Optimum zu erreichen.67 Die Alternative, die die Macht der Zentralbank noch weiter ein­ schränken würde bis zu dem Punkt, an dem sie als unabhängige geldpolitische Entscheidungsinstanz schlicht irrelevant werde, wäre wohl ein vollautomatisches rohstoffgestütztes Währungssystem wie 64 Ebd., S.  15. 65 Ebd., S.  16. 66 Siehe Friedman, Kapitalismus, S. 77-81; Milton Friedman, A Program for Monetary Stability, New York 1960. 67 Eine radikalere Kritik von Zentralbanken finden sich in Milton Friedman, »Do we need Central Banks?«, in: Monetary Management in Hong Kong, Hong Kong 1994, S. 44-47.

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der Goldstandard. Doch im Gegensatz zu Röpke vertritt Friedman, der sich seine wissenschaftliche Reputation nicht zuletzt mit einer detaillierten Studie zur Geschichte der Geldpolitik der USA erwarb, eine weitaus weniger nostalgische Position im Hinblick auf den Goldstandard. Er sei weder eine heute noch praktikable Option, was ja auch Röpke nicht bestreiten würde, noch habe es sich jemals um eine wirklich wünschenswerte Option gehandelt. »Sie [eine au­ tomatische Warenwährung] wäre auch nicht wünschenswert, denn sie würde hohe Kosten bei den Ressourcen verursachen, die man für die Produktion der Geld-Sachwerte benötigt. Eine Warenwäh­ rung ist auch nicht anwendbar, denn ihr Mythos und der Glaube, dass sie wirken würde, existieren nicht mehr.«68 Aber was bedeutet das im Hinblick auf die WWU? Friedman hat das Kernproblem der diskretionären Macht der EZB nie er­ örtert, und er starb, bevor eine seriöse empirische Bewertung der tatsächlichen Arbeitsweise der EZB möglich war, doch womöglich hätten ihn die Argumente Buchanans und dessen Verweis auf das recht klare und enge Mandat der Zentralbank zufriedengestellt.69 Friedman äußerte sich aber durchaus zu anderen Aspekten der WWU, und zwar in aller Kürze, aber auch in aller Klarheit. In ei­ nem Beitrag, der in etwa zu der Zeit erschien, als der SGP 1997 verabschiedet wurde, stellt sich Friedman die Frage, was eigentlich für die Einführung des Euro spricht, und gelangt zu einem skep­ tischen, um nicht zu sagen vernichtenden Urteil. Er verweist auf das begrenzte Absorptionspotential asymmetrischer ökonomischer Schocks aufgrund der im Vergleich zu den USA größeren Rigidi­ tät der Löhne und Preise sowie der niedrigeren innereuropäischen Mobilität wie auch auf das Fehlen von supranationalen Mitteln zur Abfederung der adversen Effekte regionaler und nationaler Krisen. Zudem habe eine Kerngruppe von Ländern schon ihre Währun­ gen an die D-Mark gekoppelt, wodurch de facto bereits eine Wäh­ rungsunion entstanden sei, der sich auch andere aus freien Stücken anschließen könnten – wobei sich aber alle die Möglichkeit einer 68 Friedman, Kapitalismus, S. 67. 69 Auf die Frage, ob die Bank an ihrem Ziel der Preisniveaustabilität im Sinne einer knapp unter zwei Prozent liegenden Inflationsrate festhalten solle, antwortete er seinerzeit mit einem klaren Ja. Siehe Milton Friedman, »Should the European Central Bank change its ›Two Percent Inflation Ceiling‹?«, in: The International Economy 17 (2003), S. 46.

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gegebenenfalls erforderlichen Entkoppelung etwa in Form einer Abwertung ihrer Währung vorbehalten könnten. Eine Währungs­ union ohne politische Einheit oder der Möglichkeit des Austritts würde zu einer Situation führen, die uns im Lichte der Entwick­ lungen seit 2010 nur allzu vertraut erscheinen dürfte: »Dies [die Einführung des Euro] würde politische Spannungen verschärfen, da divergente Schocks, die man durch Wechselkursänderungen in den Griff hätte kriegen können, in polarisierende politische Fragen verwandelt werden.«70 Damit ist nun die Bühne bereitet für einen virtuellen neolibe­ ralen Dissens, bei dem es meines Erachtens nicht so sehr um die streng ökonomischen Auswirkungen der WWU geht, sondern in erster Linie um unterschiedliche Einschätzungen der Risiken und Möglichkeiten, die sie bietet. Trotz seiner gelegentlichen Neigung zur theoretisch-politischen Provokation am Rande des Seriösen vertritt in dieser Debatte Friedman die konservativere Position, wenn er die Risiken einer WWU unterstreicht, die die National­ staaten der Kontrolle über ihre Geldpolitik beraubt, ihnen keine offizielle Ausstiegsmöglichkeiten bietet und nicht zuletzt insofern ›unvollständig‹ bleibt, als sie ohne nennenswerte fiskalpolitische Komponente bleibt, ganz zu schweigen von einer tatsächlichen politischen Union. Doch was, wenn genau diese Konstellation das eigentliche Ziel des föderalen Arrangements wäre? Erinnern wir uns, dass Hayeks Föderationsentwurf auch über eine gemein­ same Währung verfügte und es dementsprechend »nicht möglich sein würde, daß die Staaten innerhalb des Bundes eine selbstän­ dige Währungspolitik verfolgen«.71 Hayek schließt die Möglich­ keit einer gemeinsamen Fiskalpolitik nicht aus, die dann etwa die Funktion übernehmen könnte, die der der US-Bundesregierung im Falle regionaler Krisen entspricht, doch die entscheidende Annah­ me Hayeks lautet, dass Bevölkerungen und Nationalstaaten nicht bereit sind, der Zentralinstanz hoch interventionistische und/oder redistributive Politikkompetenzen zu gewähren (auch nicht das Recht, Steuern zu erheben), denn es mangelt schlicht an ausrei­ chendem Sozialkapital, um regelmäßig institutionell vermittelte 70 Milton Friedman, The Euro: Monetary Unity to Political Disunity?, in: Project Syndicate, 29. 8. 1997. 〈https://www.project-syndicate.org/commentary/the-euro-monetary-unity-to-political-disunity?barrier=accesspaylog〉. 71 Hayek, »Wirtschaftliche Voraussetzungen«, S. 329.

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»Solidarität unter Fremden« zu üben, um es in einer von Jürgen Habermas geprägten Formel auszudrücken.72 Es ist also nicht da­ von auszugehen, dass die Fiskalpolitik die Geldpolitik in dieser Föderation in absehbarer Zeit komplementiert, aber dies scheint keineswegs ein Konstruktionsfehler, sondern weit eher ein inten­ dierter Effekt zu sein, denn das grundsätzliche Ziel, das mit dem Föderationsentwurf verfolgt werden sollte, lautete doch, bestimmte Politikoptionen auf der nationalen Ebene zu eliminieren, ohne dass es die Chance auf ein Äquivalent auf der supranationalen Ebene gibt. Natürlich gibt es eine Geldpolitik auf supranationaler Ebene, aber dieser fehlen die Möglichkeiten der nationalen Ebene. Daraus ließe sich Folgendes schließen: Zwar mag es manche Beobachter gegeben haben, die darauf hofften, dass die WWU durch die List der neofunktionalistischen Vernunft komplettiert werden würde, die in absehbarer Zeit und angesichts rein technisch-funktionaler Erfordernisse dafür sorgen würde, dass die WWU eine wirkungsvol­ le Fiskalpolitik erhält. Doch eine eher ernüchterte Sichtweise der Situation würde sie dahingehend interpretieren, dass die in ihrer Unvollständigkeit festgefahrene WWU bereits die List der Vernunft manifestiert – nur eben nicht die der neofunktionalistischen, son­ dern die der neoliberalen Vernunft. Buchanan buchstabiert diesen Punkt in wünschenswerter Klarheit aus. Zwar mag es sein, dass die oben erläuterte Einschätzung der zukünftigen Entwicklung der EZB sich als nicht gänzlich zutreffend erwiesen hat, aber was die Möglichkeiten für (neoliberale) Reformen im Rahmen einer ›unvollständigen‹ WWU angeht, könne Buchanans Analyse kaum hellsichtiger sein: »Die WWU ist kritisiert worden, weil durch sie eine Dimension der Anpassung an veränderte ökonomische Be­ dingungen in einem bestimmten Land wegfällt und institutionelle Anpassungsleistungen auf der nationalstaatlichen Ebene anstel­ le von Wechselkursänderungen erzwungen werden. Man könnte allerdings argumentieren, dass, gerade weil es keine Möglichkeit der Wechselkursänderung gibt, die die Dringlichkeit innerer Re­ formen kaschieren […], die institutionellen Strukturen zu weiteren Reformen bewegt werden.«73 Die WWU in ihrer derzeitigen Form kann also einerseits als potentiell desaströses Arrangement angese­ 72 Siehe ebd., S. 335. 73 Buchanan, »Constitutional Efficiency«, S. 16. Siehe auch Feld, Europa in der Welt von heute, S. 12.

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hen werden, von dem manche Neoliberale wie Friedman glaubten, dass es nicht das Risiko wert sei, und vor dessen Konsequenzen sie inständig warnten. Andererseits scheinen jedenfalls nach mei­ ner Interpretation andere Neoliberale wie Hayek und Buchanan tendenziell bereit, dieses Risiko in Kauf zu nehmen angesichts des gewaltigen transformativen Potentials, das in einem solchen Arran­ gement hinsichtlich scheinbar unverrückbarer politisch-ökonomi­ scher Strukturen und Politikpräferenzen der Einzelstaaten steckt. Die WWU könnte sich so in einen gigantischen Hebel verwandeln, der sogar in politischem Stillstand zuneigenden Demokratien Ver­ änderungen herbeizuführen vermag, die Hayek und Buchanan sich ansonsten nur unter den Ausnahmebedingungen der Übergangs­ diktatur und der Politik des Außeralltäglichen einer genuinen Ver­ fassungsrevolution ausmalen konnten.

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7. Ideen, Ungewissheit und die Ordoliberalisierung Europas Nun gilt es, die schon weiter oben erwähnte komplizierte Frage nach dem Zusammenhang zwischen neoliberaler Theorie und Pra­ xis zu erörtern. Der Punkt, um den es mir in dieser weit ausgreifen­ den Debatte in erster Linie geht, lautet, dass die Einbeziehung von Ideen und Diskursen für ein umfassendes Verständnis politischer Entwicklungen unerlässlich ist, da sich diese Entwicklungen weder auf institutionelle Pfadabhängigkeiten reduzieren lassen noch allein mit Verweis auf rational ihre Interessen verfolgende Akteure erklär­ bar sind. In einem ersten Schritt wird im Folgenden gezeigt, dass Ansätze, die allein auf Interessen oder Institutionen als Erklärungs­ variablen rekurrieren, trotz ihrer vermeintlich sparsamen Annah­ men und entsprechender Eleganz letztlich an Grenzen stoßen, die es erforderlich machen, auch diskursive Phänomene als wirkmächtige Faktoren mit einzubeziehen. Allerdings werden Ideen und Diskurse in jenen Ansätzen vornehmlich als »Hilfsvariablen« betrachtet, die nur dann in Betracht gezogen werden, wenn eine bestimmte Ano­ malie nicht auf Grundlage der herkömmlichen Faktoren, nämlich Interessen und/oder Institutionen, erklärbar ist. Stattdessen vertrete ich einen Ansatz, der sich in den meisten Punkten mit dem deckt, was heute als diskursiver oder konstruktivistischer Institutionalis­ mus bezeichnet wird, dessen zentrales Postulat darin besteht, dass Ideen und Diskurse systematisch in sozialwissenschaftliche Erklä­ rungsansätze mit einbezogen werden müssen, nicht nur in Zeiten von Krisen oder anderen Turbulenzen, sondern immer, wenn wir die Welt des Sozialen zu erklären und zu verstehen versuchen.

Ideen, Krisen und Ungewissheit Der diskursive Institutionalismus ist der jüngste der sogenannten »neuen Institutionalismen«,1 und in gewisser Weise stellt er eine 1 Siehe Peter Hall, Rosemary Taylor, »Political Science and the Three New Institu­ tionalisms«, in: Political Studies 44 (1996), S. 936-957; Vivien A. Schmidt, »Discur­

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Reaktion auf die komplementären Defizite der übrigen drei neu­ en Institutionalismen dar, nämlich Rational-Choice-, historischer und soziologischer Institutionalismus. Deren zentrales Problem besteht in der Erklärbarkeit der Dynamik von Institutionen. Hier ist zwischen Rational-Choice-Institutionalismus und den beiden übrigen zu differenzieren, denn ihre jeweiligen Schwierigkeiten verhalten sich spiegelbildlich zueinander. Der Rational-ChoiceInstitutionalismus betrachtet Institutionen als Ergebnis des ratio­ nalen Verhaltens von Akteuren, die ihre individuellen Interessen verfolgen. Institutionen ermöglichen Individuen, Kooperations­ vorteile zu realisieren, und/oder erleichtern die Koordination im Zusammenhang mit Trittbrettfahrer-Phänomenen, das heißt, sie ermöglichen kollektiv bindende Entscheidungen und reduzieren ganz allgemein Ungewissheit.2 Was den Vertretern dieser instituti­ onalistischen Strömung dabei besonders schwerfällt, ist zum einen, eine Erklärung für die Stabilität von Institutionen zu liefern, denn gemäß ihren Annahmen gibt es sehr starke Anreize, aus solchen Arrangements auszuscheren, wann immer dies aus individueller Sicht rational erscheint, und zum anderen, zu begründen, warum sich Akteure auf ein ganz bestimmtes institutionelles Arrangement festlegen, wenn im Prinzip auch andere denkbar wären.3 Während es in diesem Fall also in erster Linie die Akteure sind, die Instituti­ onen schaffen und prägen, die dann wiederum als Restriktion die Handlungsoptionen der Akteure beeinflussen, gehen historischer und soziologischer Institutionalismus davon aus, dass Institutio­ nen einen umfassenderen Einfluss auf Akteure haben. Aus der Sicht dieser Schulen können Institutionen sogar die Präferenzen von Ak­ teuren (mit)formen, indem sie deren Selbstverständnis und damit auch die Wahrnehmung der eigenen Interessen und Präferenzen strukturieren. Entsprechend kann man sagen, dass im Fall von his­ torischem und soziologischem Institutionalismus das Verhalten der Akteure in erster Linie durch den institutionellen Kontext geprägt erscheint – wenn es sich nicht gerade umgekehrt verhält, und die­ sive Institutionalism: The Explanatory Power of Ideas and Discourse«, in: Annual Review of Political Science 11 (2008), S. 303-326. 2 Siehe beispielsweise Douglass North, Institutions, Institutional Change and Eco­ nomic Performance, Cambridge 1990. 3 Siehe Andreas Gofas, Colin Hay, The Ideas Debate in International and European Studies: Towards a Cartography and Critical Assessment, Barcelona 2008, S. 16.

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se Einschränkung bezeichnet in aller Knappheit das fundamentale Problem, mit dem sich diese beiden Institutionalismen konfron­ tiert sehen. Ihre größte Herausforderung besteht darin, zu erklä­ ren, wie es sein kann, dass es Zeitfenster gibt, in denen sich die unterstellte Richtung der Kausalität gewissermaßen umkehrt und es plötzlich die Akteure sind, die Institutionen prägen und (neu) formen. Das Geschichtsbild, das sich aus diesen Perspektiven er­ gibt, ist eines von »durchbrochenen Gleichgewichten« (punctuated equilibriums), wie es in der Fachsprache heißt, in dem Institutionen zumeist als stabil gelten, es jedoch in Zeiten von Aufruhr, Krise, externen Schocks etc. zu einer Destabilisierung des institutionellen Gleichgewichts kommt, womit eine Periode von weitgehend un­ berechenbarer Fluidität einsetzt, an deren Ende sich ein neues in­ stitutionelles Gleichgewicht herausgebildet haben wird. An dieser Stelle werden nun Ideen und Diskurse als die entscheidenden Fak­ toren eingeführt, die den Unterschied ausmachen zwischen einer ›normalen‹ Situation institutioneller Trägheit, in der es nach wie vor Institutionen sind, die Akteure prägen, und der gegenteiligen Konstellation, in der Institutionen zum Objekt von Reformen und anderen Versuchen von Akteuren werden, sie umzuformen. Problematisch an dieser Art und Weise, Ideen und Diskurse in institutionalistische Erklärungsansätze zu integrieren, ist ihr Status als Hilfsvariable. Dies bedeutet, dass sowohl Rational-Choice- als auch historischer Institutionalismus sich immer nur dann Ideen zuwenden, wenn ihr herkömmlicher Ansatz keine zufriedenstellen­ den Erklärungen zu liefern vermag. Aber solange dies nicht der Fall ist, spielen diskursive Phänomene in beiden Ansätzen bestenfalls eine marginale Rolle, und stattdessen verlegt man sich auf die ver­ meintlich eleganteren Erklärungen auf der Grundlage von Inter­ essen und Institutionen. Die Grundüberzeugung des diskursiven beziehungsweise konstruktivistischen Institutionalismus,4 was ich für die passendere Bezeichnung halte, lautet im Gegensatz dazu, dass Ideen und Diskurse systematisch in Erklärungsansätze einge­ arbeitet werden müssen und nicht nur als theoretischer Notbehelf Beachtung finden dürfen. Ich teile die Sichtweise, dass diskursive Phänomene ein integraler 4 Siehe Colin Hay, »Ideas and the Construction of Interests«, in: Daniel Béland, Robert Cox (Hg.), Ideas and Politics in Social Science Research, Oxford 2010, S. 6582, hier S. 66.

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Bestandteil einer jeden sozialwissenschaftlichen Herangehensweise sein müssen, die umfassende und nicht-reduktive Erklärungspo­ tentiale für sich in Anspruch nimmt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sich rein interessen- oder institutionenbasierte Ansät­ ze in den allermeisten Kontexten als unzureichend erweisen. Im Folgenden werde ich mich nur auf die interessenbasierte Version konzentrieren und überblicksweise die entsprechende Problema­ tik erläutern.5 Die Attraktivität von Interessen als fundamentalen Erklärungsvariablen gründet sich offensichtlich auf der mutmaß­ lichen Sparsamkeit der Annahmen und der daraus resultierenden Eleganz der entsprechenden Ansätze, die typischerweise davon aus­ gehen, dass Akteure bestimmte Interessen haben, die sich in ent­ sprechende Handlungspräferenzen übersetzen, welche wiederum ganz im Sinne des Homo oeconomicus rational verfolgt werden. Aber was genau konstituiert das Interesse eines bestimmten Ak­ teurs in einem gegebenen Kontext? Vertreter der Theorie der ratio­ nalen Wahl stehen hier vor der Herausforderung einer Definition, die über die Tautologie von Interessen als in Handlungen des Ak­ teurs ›offenbarten Präferenzen‹ hinausgeht, denn ansonsten müss­ ten alle Handlungen, egal wie fehlgeleitet sie auch aus Beobach­ terperspektive erscheinen, per definitionem als rational betrachtet werden, schließlich hätte der Akteur ansonsten anders gehandelt. Die Annahme lautet stattdessen typischerweise, dass sich die Inter­ essen/Präferenzen eines Akteurs aus dem spezifischen strategischen Kontext ableiten lassen, in dem sich der Akteur befindet, und in der Konsequenz bedeutet dies, dass das Verhalten des Akteurs be­ rechenbar wird. Aber was, wenn der Akteur sich gerade nicht so verhält, wie es der Beobachter prognostiziert hat? Mit dieser Frage erschließen sich uns die Komplexitäten des vermeintlich einfachen 5 Im Hinblick auf rein institutionenbasierte Ansätze lässt sich das Kernargument in etwa folgendermaßen zusammenfassen: »Es sind nicht nur die Institutionen an sich, sondern auch die Ideen, auf denen sie basieren und die ihrem Entwurf und ihrer Entwicklung zugrunde liegen, die politischer Autonomie Restriktionen auferlegen. Institutionen werden auf ideationalen Fundamenten errichtet, die sich in Form einer eigenständigen Pfadabhängigkeit im Hinblick auf die weitere Entwicklung dieser Institutionen auswirken.« Hay, »Ideas and the Construction of Interests«, S. 69. Siehe zu einer historisch-institutionalistischen Erklärung der krisenbeding­ ten Restrukturierungen der EU Federico Steinberg, Mattias Vermeiren, »Germany’s Institutional Power and the EMU Regime after the Crisis: Towards a Germanized Euro Area?«, in: Journal of Common Market Studies 54 (2015), S. 388-407.

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Konzeptes (wahrer) Interessen. Schließlich setzt die Identifizierung bestimmter Interessen ein bemerkenswert hohes Maß an Infor­ mation auf Forscherseite, aber auch auf Seiten des kalkuliert han­ delnden Akteurs voraus. Genau genommen erfordert nämlich die Klärung, welcher Handlungsplan in einer bestimmten Situation am besten den Interessen eines Akteurs entspricht, Wissen über jede im Prinzip mögliche Handlungsoption, und als ob diese Auf­ gabe nicht schon einschüchternd genug wäre, bedürfte es darüber hinaus auch eines prognostischen Wissens über die intendierten und nicht-intendierten Konsequenzen, die mit einer bestimmten Handlungsoption einhergehen. Es handelt sich um »eine Kombina­ tion aus Allwissenheit bezüglich der Gegenwart und vollständiger Voraussicht der Zukunft«.6 Wenn diese nicht ganz unkontroverse Einschätzung tatsächlich zutreffend ist, dann sind die Annahmen von interessenbasierten Ansätzen weitaus weniger genügsam, als es zunächst erscheinen mag, denn abgesehen von extrem stilisierten Modell-Szenarien gibt es kaum Situationen, in denen Akteursin­ teressen selbstevident wären. Eine weitere Komplikation ergibt sich aus der Tatsache, dass sich aus Interessen erst dann konkrete Hand­ lungspläne ableiten lassen, wenn sie auf der Grundlage kognitiver und normativer Ideen – Ideen darüber, wie die Welt verfasst ist, und Ideen darüber, wie ich mich als (moralischer) Akteur verhalten soll­ te, um meine Vorstellung des guten Lebens zu realisieren – inter­ pretiert worden sind. Konkret bedeutet dies etwa, dass die Frage, ob es in meinem besten Interesse liegt, jetzt eine Zigarette zu rauchen, streng genommen so lange unentscheidbar bleibt, bis nicht mein normativer Lebensentwurf (irgendwo zwischen ›live fast, die young‹ und ›live long and prosper‹) wie auch etwa meine Einschätzung der Verlässlichkeit von klinischen Studien in die Betrachtung mit einbe­ zogen wird. Die Folgerung aus beiden Punkten läuft auf die zentrale These hinaus, dass es nicht die ›wahren‹ Interessen der Akteure sind, die erklärungsanalytisch von Belang sind, sondern Interessen, wie sie von Akteuren im Lichte von Ideen aufgefasst und interpretiert werden. Dadurch verkomplizieren sich die Dinge aber erheblich, zumindest für diejenigen, die hoffen, die Sozialwissenschaft könnte sich zu einer Quasi-Naturwissenschaft mit prädiktiven Ansprüchen mau­ sern. Schließlich spielt es im Rahmen eines rein interessenbasierten 6 Hay, »Ideas and the Construction of Interests«, S. 76.

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Ansatzes kaum eine Rolle, wer genau die handelnden Akteure sind, denn den gleichen Informationsstand in der gleichen Situation vorausgesetzt, würden sich alle denkbaren Akteure letztlich gleich verhalten. Doch wenn es zutrifft, dass Interessen immer nur ver­ mittelt durch Ideen gegeben sind, dann kommt es sogar sehr darauf an, wer die handelnden Akteure sind, welche Überzeugungen und Orientierungen sie in ihren Handlungen anleiten und durch wel­ che Diskurse sich diese Überzeugungen herausbildeten. Aus Sicht der Verfechter einer prädiktiven Sozialwissenschaft mag das ein er­ nüchternder Befund sein, doch positiv gewendet, bedeutet es auch, dass es ein Potential umfassenderer Erklärungen auf der Grundla­ ge von im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektiven gibt. Und indem sie Akteuren tatsächlich die Fähigkeit zu Handeln im starken Sinn zuerkennt und sie in den Modellannahmen nicht auf reines Verhalten im Sinne Arendts reduziert, adressiert eine solche Herangehensweise zudem ein Problem, das wir in unterschiedlicher Ausprägung auch im neoliberalen und in manchen Varianten des institutionalistischen Denkens registriert haben: Wie ist es möglich, Wandel und Veränderung theoretisch im Rahmen eines Ansatzes zu erfassen, der nahelegt, dass der Status quo in seinen Grundparame­ tern aufgrund etwa von Sperrklinkeneffekten weitgehend unverän­ derbar festgelegt ist? Es ist wichtig, hier die Bedeutung von Ideen nicht überzubewerten und sogleich einschränkend festzuhalten, dass diskursive Phänomene nur einen Faktor darstellen, der Wan­ del herbeiführen kann – der aber im Übrigen auch Wandel verhin­ dern kann, beispielsweise durch weitverbreitete und festverankerte Konventionen. Jedenfalls ermöglicht aber die Integrierung dieser Dimension sowie die Varianz in der Wahrnehmung von Interessen und ihrer Übersetzung in Handeln, die dadurch erfassbar wird, eine überzeugendere Theoretisierung von gesellschaftlich-politischem Wandel, als dies auf der Grundlage rein interessen- oder institutio­ nenbasierter Ansätze der Fall ist. Es gibt noch eine weitere Argumentationslinie im Hinblick auf die Bedeutung von Ideen und Diskursen für die politische Praxis, die unsere Aufmerksamkeit erfordert. In vielerlei Hinsicht handelt es sich hierbei um den kleinsten gemeinsamen Nenner im Rahmen dessen, was bisweilen als die »Ideen-Debatte«7 bezeichnet wird, da 7 Gofas/Hay, Ideas Debate.

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sowohl Konstruktivisten als auch Vertreter von Rational-ChoiceAnsätzen sich vermutlich darauf verständigen könnten, dass es Kri­ senzeiten sind, in denen Ideen die größte Bedeutung zukommt und sie über das umfassendste Transformationspotential verfügen, was politische Praktiken und institutionelle Reformen angeht. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe. Erstens sind Krisen nie ein objek­ tiv gegebenes Datum. Genau genommen kann erst dann von einer Krise die Rede sein, wenn sie als solche bezeichnet wird und dieser Akt der Signifikation eine hinreichende Resonanz erzeugt.8 Allein die Tatsache einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums oder gar einer Stagnation über längere Zeit konstituiert noch keine Kri­ se per se. Was eine Krise ist, lässt sich nicht allein mit Verweis auf (ökonomische) Daten bestimmen, vielmehr handelt es sich um eine Frage der Interpretation, Konstruktion und Narration9 – wo­ bei die womöglich noch wichtigere Frage lautet, um welche Art von Krise es sich handelt. Denn auch diesbezüglich reicht es nicht aus, sich einfach die Fakten anzusehen, denn es wird immer mehr als eine Möglichkeit geben, eine bestimmte Faktenlage plausibel zu erklären, abgesehen davon, dass es bis zu einem gewissen Maß von der Erklärungshypothese selbst abhängt, was überhaupt als re­ levantes Faktum gilt. Krisen bedürfen also der Interpretation, und welche Interpretation sich durchsetzt, ist daher offensichtlich von größter Wichtigkeit, denn mit den Diagnosen bezüglich der Natur der Krise variieren auch die Maßnahmen zu ihrer Überwindung. Mit Blick auf das Beispiel, das uns im Vorhergehenden beschäftigt hat, macht es beispielsweise einen entscheidenden Unterschied, ob die Turbulenzen der EU und WWU in erster Linie als eine Ban­ kenkrise, eine Staatsschuldenkrise, eine Währungskrise oder eine Kombination aus allen dreien interpretiert werden, denn die je­ 8 Siehe Colin Hay, »Narrating Crisis: The Discursive Construction of the ›Winter of Discontent‹«, in: Sociology 30 (1996), S. 253-277; Mark Blyth, Great Transformations: Economic Ideas and Institutional Change in the Twentieth Century, Cambridge 2002. 9 In seiner Analyse der ›Krise‹ (das Wort leitet sich laut Hay vom griechischen ›kri­ no‹ ab, das den Moment eines entscheidenden Eingriffs bezeichnet) des Keyne­ sianismus aus diskursiv-institutionalistischer Perspektive schreibt Hay: »Die Voraussetzung für einen entscheidenden Eingriff ist die Wahrnehmung, dass ein entscheidender Eingriff erforderlich ist.« Hay, »The ›Crisis‹ of Keynesianism and the Rise of Neoliberalism in Britain«, in: John Campbell, Ove Pedersen (Hg.), The Rise of Neoliberalism and Institutional Analysis, Princeton 2001, S. 193-218.

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weils angebracht erscheinenden Gegenmaßnahmen unterscheiden sich zumindest bis zu einem gewissen Grad. Angesichts der Un­ terdeterminiertheit von Krisen entscheidet zweifellos nicht nur die jeweilige Korrespondenz mit den Fakten, welches Krisennarrativ sich durchsetzt, vielmehr handelt es sich um eine Frage diskursiver Macht und Kontestation.10 Interpretation und Narration, die bei der Konstruktion und Definition von entscheidender Bedeutung sind, müssen als Praktiken aufgefasst werden, die unausweichlich ideational aufgeladen und durchsetzt sind, und dieser ideationale Import hat dementsprechend indirekte Auswirkungen sowohl auf das Krisenmanagement als auch auf damit einhergehende instituti­ onelle Transformationen. Zuletzt verstärken Krisen nicht nur ganz allgemein den Einfluss von Ideen, sie können auch als Einfallstor für neue Ideen fungieren, insbesondere falls von der Krise auch die etablierten Interpretati­ onsschemata betroffen sind. Es macht daher einen großen Unter­ schied, ob das dominante Narrativ eine Krise innerhalb des Keyne­ sianismus oder eine Krise des Keynesianismus apostrophiert, um hier auf den Krisen-Kontext der 1970er Jahre zurückzugreifen. Das damals vorherrschende Narrativ kolportierte, dass es die westliche Welt nicht nur mit einer ökonomischen, sondern auch mit einer epistemologischen Krise zu tun hatte, da das dominante sozioöko­ nomische Interpretationsschema mutmaßlich nicht in der Lage war, eine der prominentesten Manifestationen der Krise, das Phänomen der Stagflation, adäquat zu erklären. Als Folge dieser Entwertung des Paradigmas, das mit einem Entzug von Unterstützung von Sei­ ten der politisch-intellektuellen Eliten einherging, wurden vormals marginalisierte Alternativen wie der Monetarismus in die Lage ver­ setzt, den Keynesianismus herauszufordern und letztendlich sogar als hegemoniales Paradigma zu ersetzen. Doch auch hier müssen wir sofort einschränkend darauf hinweisen, dass die Krise eines Pa­ radigmas, selbst wenn diese plausibel narrativ unterfüttert ist, noch keineswegs notwendig zu seiner Ersetzung durch ein alternatives Paradigma führen muss, wie das Beispiel der Krisen des vergange­ nen Jahrzehnts beweisen. Es gab zwar Kommentatoren, die mut­ maßten, dem Neoliberalismus könnte nun sein eigener ›Moment 10 Siehe beispielsweise Martin Carstensen, Vivien A. Schmidt, »Power over, through and in Ideas: Conceptualizing Ideational Power in Discursive Institutionalism«, in: Journal of European Public Policy 23 (2016), S. 318-337.

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der Stagflation‹ drohen, aber im Nachhinein würde wohl niemand behaupten, dass wir insgesamt eine Abkehr vom Neoliberalismus als einem dominanten, wenn auch umkämpften Interpretations­ schema oder auch den entsprechenden Praktiken erlebt haben. Die Gründe dafür haben etwas mit der zweiten Quelle zu tun, aus der sich der Einfluss von Ideen in Krisenzeiten speist, nämlich der Ungewissheit. Selbst unter Rational-Choice-Institutionalisten gilt Ungewissheit als einer der Hauptgründe, warum Ideen unter be­ stimmten Umständen eine immense Wirkung entfalten können. In Situationen, die durch eine Komplexität gekennzeichnet sind, wel­ che es zusehends schwieriger macht, alle relevanten Informationen zu verarbeiten und die entsprechenden Handlungen und die daraus folgenden Konsequenzen zu kalkulieren, verlegen sich Akteure auf Ideen, die ihnen basale Heuristiken zur Überbrückung der Infor­ mationslücke und damit auch Leitfäden und Wegweiser in unüber­ sichtlichem Terrain zur Verfügung stellen.11 Nun trifft es sicherlich zu, dass Ideen unter anderem als Heuristiken und Leitfäden dienen können, doch aus meiner Sicht erstreckt sich das entsprechende Informationsproblem nicht nur auf Krisen, sondern auch auf die meisten anderen Situationen. Mark Blyth hat überzeugend darge­ legt, dass Ungewissheit mehr ist als bloße Komplexität im gerade erläuterten Sinn. Mit Verweis auf eine berühmte Unterscheidung Frank Knights, einer Schlüsselfigur der ›ersten‹ Chicagoer Schule, zu dessen Schülern auch Friedman und Buchanan gehörten, argu­ mentiert er, dass Krisen Situationen erzeugen, die nicht durch Risi­ ko, sondern durch genuine Ungewissheit gekennzeichnet sind.12 In Risiko-Situationen ist es grundsätzlich möglich, wenn auch biswei­ len äußerst schwierig, auf der Grundlage von Erfahrungswerten wie etwa der Häufigkeit eines bestimmten Ereignisses X über die Zeit hinweg, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Eintreten von X zu bestimmen. Ungewissheit im Sinne Knights unterscheidet sich von dieser Konstellation insofern, als die gegebene Situation derart ungewöhnlich oder gar einzigartig ist, dass keine Erfahrungswerte der Vergangenheit zur Verfügung stehen, um Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Wenn Akteure so gezwungen sind, Entscheidungen mit unkalkulierbaren Auswirkungen zu treffen, handeln sie unter 11 Siehe Judith Goldstein, Robert Keohane, Ideas, Interests and American Trade ­Policy, Ithaca 1993, S. 8. 12 Siehe Blyth, Great Transformations, S. 31-34.

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Ungewissheit in diesem spezifischen Sinn. Darüber hinaus ist Un­ gewissheit im Sinne Knights umfassender, als es Interpretationen von Ungewissheit im Sinn von Überkomplexität nahelegen, denn die Probleme der Akteure beschränken sich nicht darauf, die rich­ tige Strategie zu wählen, um ihre Interessen so weit wie möglich zu realisieren, vielmehr »sind sich Akteure nicht sicher, was eigentlich ihre Interessen sind, ganz zu schweigen davon, wie sie zu realisieren wären«.13 Unter solchen Bedingungen fundamentaler Ungewiss­ heit gibt es kaum Alternativen zum mehr oder weniger bewussten Rückgriff auf Ideen als Interpretationshilfen einer gegebenen Situ­ ation und zur Entwicklung von entsprechenden Handlungsplänen. Mit Blick auf die Eurozonenkrise und die Reaktion darauf lautet mein zentraler Punkt, dass die diversen Krisen mehrfach Situatio­ nen genuiner Ungewissheit im Sinne Knights hervorbrachten, in denen sich die Akteure grundsätzlich im Unklaren darüber waren, was genau in ihrem besten Interesse lag. Angesichts von dennoch vorhandenen Entscheidungszwängen unter Zeitdruck kommt Ideen in diesem Zusammenhang der Rang eines wichtigen Erklä­ rungsfaktors für das Gesamtergebnis der Konstellation zu. Selbst diejenigen, die dem Ansinnen, Ideen wieder stärker in sozialwissen­ schaftlichen Erklärungsansätzen zur Geltung zu bringen, skeptisch gegenüberstehen, könnten sich vermutlich mit der Vorstellung an­ freunden, dass Ideen in Momenten kriseninduzierter Ungewissheit im Knightschen Sinn seltene, aber dann auch signifikante Bedeu­ tung zukommt. Im Prinzip hätte zur Stützung meiner These bezüg­ lich der Bedeutung von ordo-/neoliberaleren Interpretationssche­ mata für das Krisenmanagement der letzten Dekade auch schon der Verweis auf dieses Argument ausgereicht. Mir geht es aber darum, dass der schroffe Gegensatz zwischen normalen Zeiten, in denen Ideen keine Rolle spielen, und den wenigen Momenten von Krisen und Ungewissheit, in denen sie von Bedeutung sind, an­ gesichts der grundsätzlich ideationalen Aufladung von Interessen kaum aufrechtzuerhalten ist. Außerdem verbleibt diese Sichtweise in zu großer Nähe zu einem Verständnis von politischem Wandel, das diesen nur durch exogene Schocks und selten auftretende au­ ßergewöhnliche Umstände zu erklären vermag, wie wir es aus neo­ liberalen Ansätzen kennen. Ideen entfalten insbesondere in diesen 13 Ebd., S.  9.

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Krisenmomenten Wirkung, doch dies rechtfertigt keineswegs den Umkehrschluss, dass sie außerhalb solcher Situationen von keiner­ lei Belang sind – Ideen sind grundsätzlich von Bedeutung, aber insbesondere unter Bedingungen genuiner Ungewissheit. Zudem steht zu bedenken, dass unser Verständnis der politi­ schen Landschaft als einer zumeist durch Risiken und entspre­ chendes Risikomanagement geprägten, wohingegen Situationen genuiner Unsicherheit nur überaus selten auftreten, nicht ganz zutreffend sein könnte, da wir womöglich das als Risikomanage­ ment missverstehen, was eigentlich Handeln unter Bedingungen von Ungewissheit darstellt. Woher wissen wir schließlich, dass wir die Erfahrungswerte der Vergangenheit hinreichend ausgewertet haben, um Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, wenn wir nicht einmal genau wissen, was genau ein Phänomen wie die Finanzkrise auslöst? Folgt mal Blyth’ Argumentation, dann könnte es sich her­ ausstellen, dass der Anschein von Normalität und Stabilität selbst das Ergebnis von Konstruktionen darstellt, die auf Ideen basieren, welche wiederum die Fundamente von Institutionen verkörpern. Trotz dieser Stabilisierungsarbeit bleibt die Welt ontologisch gese­ hen eine Welt der Ungewissheit, und trotz der Bemühungen, sie in eine Welt des Risikos zu verwandeln, »ist es uns unglücklicherwei­ se nur gelungen, eine Welt zu konstruieren, in der immer wieder sogenannte fat tails auftreten [das heißt vermeintlich extrem un­ wahrscheinliche Ausreißer jenseits der Normalverteilung; TB] und in der dementsprechend Risiko und Ungewissheit Seite an Seite leben. Daher fassen wir die Welt als eine des Risikos auf und mo­ dellieren sie auch dementsprechend, obwohl wir in einer Welt der Ungewissheit leben; wo die Kontingenz regiert, sehen wir Notwen­ digkeit, und wo Stabilität beständig von Akteuren rekonstruiert und neuverhandelt wird, gehen Forscher von Gleichgewichten als der Norm aus.«14 Inmitten von Krisen mag Ungewissheit extreme Ausmaße annehmen, aber ihre auch ansonsten gegebene Prävalenz zeigt uns, dass der Status quo nie so festgelegt und unverrückbar ist, wie es neoliberale Ansätze nahelegen, und dass die Macht der Ideen zwar in Krisenzeiten ausgeprägter als sonst sein mag, aber eben nicht auf diese Episoden beschränkt ist, da sie grundsätzlich immer eine Rolle spielen. 14 Mark Blyth, »Ideas, Uncertainty, and Evolution«, in: Béland/Cox (Hg.), Ideas and Politics, S. 83-101, hier S. 96.

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Die Ordoliberalisierung Europas Wir nähern uns dem Ende dieser Studie zur politischen Theorie des Neoliberalismus, der Europäischen Union und ihrer Krisen, und es ist an der Zeit, die verschiedenen Argumentationsstränge zusammenzuführen, um eine abschließende Gegenwartsdiagnose im Hinblick auf die spezifischen Charakteristika des real existieren­ den Neoliberalismus im Europa nach einer von Krisen und Krisen­ management geprägten Dekade zu formulieren.15 Was genau bedeutet es, von der Ordoliberalisierung Europas zu sprechen? Im Kern besagt diese These, dass die ökonomischen Governance-Strukturen von EU und WWU in ihrer aktuellen Kon­ figuration als eine Wettbewerbsordnung oder Wirtschaftsverfas­ sung interpretiert werden können, die in etwa dem entspricht, was vor allem Walter Eucken als institutioneller Rahmen für Märkte vorschwebte.16 Doch die ökonomische Verfassung im Nach-Kri­ sen-Europa dient nicht nur der Organisation des Wettbewerbs zwischen privaten Akteuren, wichtiger noch ist, dass es sich um eine Wettbewerbsordnung für Nationalstaaten und ihre politi­ schen Ökonomien handelt, wobei die EU zunehmend die Funkti­ onen übernimmt, die Eucken und die Ordoliberalen für den Staat im Umgang mit Unternehmen, Gewerkschaften etc. vorgesehen hatten: die einer unparteiischen Durchsetzungsinstanz von idea­ lerweise quasi-automatischen Regeln des Wettbewerbsspiels; eines Schiedsrichters, der sich beim Entwurf der Regeln auf die Erkennt­ nisse der Wissenschaft stützt und in seiner Entscheidungsfindung in keinerlei Weise durch die Spieler manipulierbar ist. Ich werde also darlegen, dass sich die Ordoliberalisierung Europas nicht nur auf die Policy-Ebene und die dort verfolgten Ziele bezieht – die In­ tensivierung von Konkurrenz und die Erhöhung von Wettbewerbs­ fähigkeit als quintessentiellen Werten des Ordoliberalismus –, son­ 15 Siehe zu alternativen wichtigen Diagnostiken der neoliberalen Gegenwart Wen­ dy Brown, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015; Mirowski, Never let a serious crisis, Dardot/Laval, The New Way of the World; William Davies, »The New Neoliberalism«, in: New Left Review 101 (2016), S. 121-134; Nancy Fraser, »The End of Progressive Neoliberalism«, in: Dissent Magazine 2. 1. 2017. 16 Siehe Eucken, »Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung«, in: ORDO 2 (1949), S. 1-99.

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dern insbesondere auch auf die strukturellen Voraussetzungen für die Implementierung dieser Politik: ein technokratisches Regime von Regeln und Sanktionen, die die spezifischen Modalitäten des Wettbewerbs festschreiben. Kurz nachdem sich der Staub nach den dramatischsten Perioden der Eurozonenkrise wieder legte – und wie wir wissen, war dies natürlich nicht die letzte europäische oder globale Krise –, offenbarte sich, dass die kriseninduzierten Refor­ men die Wirtschaftsverfassung Europas in eine Wettbewerbsord­ nung verwandelt hatten, die in vielerlei Hinsicht dem ähnelt, was die Ordoliberalen und vor allem Eucken vor Augen hatten, wenn sie vom Rahmenwerk eines wirklich durch Wettbewerb geprägten Marktes sprachen. Der erste Schritt der Argumentation hinter dieser These besteht darin, das europäische Krisenmanagement und seine maßgeblichen Akteure genauer in den Blick zu nehmen. Krisen sind typischer­ weise die Stunde der Exekutiven, und so müssen wir bei der Su­ che nach den institutionellen Betreibern des Krisenmanagements weniger auf das Europäische Parlament und den EuGH blicken als auf den Europäischen Rat als das Forum, in dem die Mitglieder europäischer Exekutiven zusammenkommen und Entscheidungen treffen. Darüber hinaus treffen sich die Finanzminister der Eurozo­ nenmitglieder im Rahmen der Eurogruppe, und obgleich hier kei­ ne offiziellen Entscheidungen getroffen werden, da die Eurogrup­ pe keine offizielle Institution ist, verfügt die Gruppe doch über beträchtlichen Einfluss auf die Vorgehensweise in einer bestimm­ ten Situation, wie etwa der damalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis während der Treffen im Sommer 2015 feststellen musste.17 Diese beiden Foren waren nicht die einzigen institutio­ nellen Schauplätze, die von Bedeutung für die Ausrichtung des EUKrisenmanagements waren. Vor allem die EZB entwickelte sich zu dem mutmaßlich wichtigsten europäischen Akteur im Zusammen­ hang mit der akuten Krisenbekämpfung; schließlich war es Mario Draghis berühmt gewordene Versicherung, man werde auf Seiten der EZB »alles tun, was erforderlich sei«, um den Euro zu retten, die im Juli 2012 endlich die Investoren zu beruhigen vermochte, was 17 Siehe Yanis Varoufakis, Die ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment, München 2017; James Galbraith, Welcome to the Poisoned Chalice: The Destruction of Greece and the Future of Europe, New Haven 2016.

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sich auch in Form einer merklichen und dringend notwendigen Senkung der Zinsen auf Staatsanleihen von Krisenstaaten nieder­ schlug. Für den Moment werden wir uns auf die anderen beiden Foren konzentrieren, bevor wir weiter unten noch einmal auf die schillernde Rolle der EZB zurückkommen. Wenn es zutrifft, dass die Entscheidungen über die Reformen in Reaktion auf die Krise im Rat und in der Eurogruppe vorbereitet und getroffen wurden, dann lautet die Anschlussfrage offensicht­ lich, wie die Machtstrukturen in diesen beiden (Quasi-)Institutio­ nen einzuschätzen sind. Natürlich ist es unmöglich, hier eine detail­ lierte Antwort zu geben, aber im vorliegenden Zusammenhang ist dies auch nicht erforderlich, da es mir in erster Linie um die Rolle Deutschlands geht, und diesbezüglich herrscht in den Befunden in der einschlägigen Literatur eine große Übereinstimmung. Im Laufe der Krise entwickelte sich Deutschland zu einem unverzichtbaren Akteur innerhalb der EU. Anders formuliert bedeutet dies, dass es von Deutschland abhing, ob bestimmte Reformen verabschiedet wurden oder nicht, wie beispielsweise das hochkontroverse Beispiel von Eurobonds belegt.18 Eine letzte weitere Möglichkeit, den Sta­ tus Deutschlands zumindest in einigen entscheidenden Phasen des Krisenmanagements zu beschreiben, wäre seine Charakterisierung als zögerlicher Quasi-Hegemon Europas.19 Aber abgesehen davon, welcher Formulierung man hier eher zuneigt, bleibt festzuhalten, dass Deutschland im Rahmen der Krisenreaktion »eine über­ große Rolle gespielt hat« und die diversen Merkel-Regierungen »beispielslose Einflussmöglichkeiten auf die Umgestaltung der Grundparameter der Währungsunion« erlangten.20 Zwar handel­ 18 Ein hochrangiger EU-Angestellter beschwerte sich: »Wenn sich die deutsche Haltung zu einem Thema ändert, dreht sich das Kaleidoskop, und andere Län­ dern gruppieren sich entsprechend um. Das gab es so in der Geschichte der EU noch nie.« The Economist, Europe’s Reluctant Hegemon: Special Report Germany, 13. 6. 2013, S. 3. 19 Siehe Simon Bulmer, William Paterson,«Germany as the EU’s Reluctant Hege­ mon? Of Economic Strength and Political Constraint«, in: Journal of European Public Policy 20 (2013), S. 1387-1405; Simon Bulmer, »Germany and the Eurozone Crisis: Between Hegemony and Domestic Politics«, in: West European Politics 37 (2014), S. 1244-1263. 20 David Art, »The German Rescue of the Eurozone: How Germany is Getting the Europe It Always Wanted«, in: in: Political Science Quarterly 130 (2015), S. 181212, hier S. 183.

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te Deutschland keineswegs allein und unilateral, gab es doch vor allem unter den Benelux- und den skandinavischen Staaten einige Unterstützer, aber es kann kaum ein Zweifel an seiner Schlüsselrol­ le im Hinblick auf die Reformergebnisse bestehen. Wenn wir uns also bei der Suche nach einer Erklärung für die inhaltliche Ausrichtung und auch die zeitliche Entwicklung des europäischen Krisenmanagements in erster Linie auf Berlin und Frankfurt konzentrieren müssen, dann lautet die nächste Frage, ob und wie der These, dass es gerade ordoliberale Vorstellungen wa­ ren, die sich in der Sichtweise deutscher politischer Eliten nieder­ schlugen, eine grundsätzliche Plausibilität verliehen werden kann. Es versteht sich von selbst, dass ich hier keine auch nur annähernd erschöpfende empirische Studie zu den vorherrschenden Einstel­ lungen und Interpretationsschemata der deutschen Entscheidungs­ träger und ihrer Zuarbeiter im Rahmen des Krisenmanagements liefern kann, aber es gibt zumindest indirekte und anekdotische Belege dafür, dass es alles andere als unplausibel ist, davon auszuge­ hen, dass hier ordoliberale Ideen eine gewisse Rolle spielten. Trotz seiner relativen Marginalisierung im akademischen Be­ trieb der wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereiche bleibt dem Ordoliberalismus ein nicht zu unterschätzender Einfluss erhalten; und auch wenn dieser Einfluss im Rahmen des sogenannten ›neu­ en Methodenstreits‹ in jüngster Vergangenheit innerhalb der Wirt­ schaftswissenschaften kontrovers diskutiert wurde,21 ist nach wie vor davon auszugehen, dass es beinahe unmöglich ist, an deutschen Universitäten Wirtschaftswissenschaften zu studieren, ohne irgend­ wann mit ordoliberalen Ideen konfrontiert zu werden, vor allem dann, wenn es um wirtschaftspolitische Fragestellungen geht.22 Ab­ 21 Siehe zum prekären akademischen Status des Ordoliberalismus beziehungsweise der Ordnungsökonomik als seiner zeitgenössischen Inkarnation Lars Feld, Ek­ kehard Köhler, »Ist die Ordnungsökonomik zukunftsfähig?«, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 12 (2011), S. 173-195; Volker Caspari, Bertram Schefold (Hg.), Wohin steuert die ökonomische Wissenschaft, Frankfurt/M. 2011; Thomas Biebricher, Ralf Ptak, Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2020, S. 218-224. 22 Siehe Sebastian Dullien, Ulrike Guérot, The Long Shadow of Ordoliberalism: Germany’s Approach to the Euro Crisis, London 2012. Siehe dazu auch Peter Bofin­ ger: »Deutsche Studierende lesen die gleichen Makroökonomie-Lehrbücher wie Studierende in anderen Ländern, und auf der fortgeschrittenen Ebene werden die Standard-DSGE-Modelle gelehrt und angewandt. Aber hinter dem formalen the­

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gesehen von dieser Verbreitungsschiene über die akademische So­ zialisation werden ordoliberale Vorstellungen auch indirekt durch institutionelle Traditionen weitergetragen. Die Bundesministerien für Wirtschaft und Finanzen sowie insbesondere die Bundesbank gelten von jeher als Bastionen des Ordoliberalismus, dessen Geist die Ausrichtung der Institutionen insgesamt, dementsprechend aber auch die in ihrem Rahmen handelnden Akteure zumindest mitprägt. Es ist wohlbekannt, dass Ordoliberale wie Franz Böhm und Wilhelm Röpke enge Beziehungen zum neugegründeten Wirtschaftsministerium hatten, und laut der zugegebenermaßen nicht-repräsentativen empirischen Studie, die Peter Nedergaard und Holly Snaith durchgeführt haben, ist der ordoliberale Geist noch nicht gänzlich aus Finanz- und Außenministerium gewi­ chen: »Ja, innerhalb der Regierung existiert unabhängig von Linksrechts-Mustern eine starke ordoliberale Tradition«, lässt sich ein hochrangiger Mitarbeiter zitieren, und ein anderer fügt hinzu, dass es »eine tiefverwurzelte Präferenz für eine Art ordoliberales Krisen­ management gibt«.23 Auch die Bundesbank vertritt nach wie vor eine Sichtweise, die in ihren Grundzügen zumindest höchst kompatibel mit ordolibe­ ralen Vorstellungen ist, und einige ihrer prominentesten Reprä­ sentanten haben sich sehr deutlich dazu geäußert, wie wichtig die oretischen Analyseapparat lässt sich ein spezifisches Paradigma der Wirtschafts­ politik genannten ›Ordnungspolitik‹ erkennen, das in dieser Form in keinem an­ deren Land existiert. Zwar gibt es keine Universitätsseminare oder Vorlesungen zu diesem Thema, aber dennoch spielt Ordnungspolitik in akademischen PolicyDebatten und in der tatsächlichen Wirtschaftspolitik eine wichtige Rolle.« Peter Bofinger, German Macroeconomics: The Long Shadow of Walter Eucken. 〈https:// voxeu.org/article/german-macroeconomics-long-shadow-walter-eucken〉. 23 Zitiert in Peter Nedergaard, Holly Snaith, »›As I Drifted on a River I Could Not Control‹: The Unintended Ordoliberal Consequences of the Eurozone Crisis«, in: Journal of Common Market Studies 53 (2015), S. 1094-1109, hier S. 1097. Siehe zum Einfluss des ordoliberalen Denkens auf die deutschen politökonomischen Eliten auch Wade Jacoby, »The Politics of the Eurozone Crisis: Two Puzzles be­ hind the German Consensus«, in: German Politics and Society 34 (2014), S. 70-85; Femke Van Esch,«Exploring the Keynesian-Ordoliberal Divide: Flexibility and Convergence in French and German Leaders’ Economic Ideas During the EuroCrisis«, in: Journal of Contemporary European Studies 22 (2014), S. 288-302; Ar­ naud Lechevalier,«Eucken under the Pillow: The Ordoliberal Imprint on Social Europe«, in: Arnaud Lechevalier, Jan Wielghos (Hg.), Social Europe: The Dead End. What the Eurocrisis is Doing to Europe’s Social Dimension, Copenhagen 2015.

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ordoliberale Tradition für ihre eigene geldpolitische Herangehens­ weise ist. Als Beispiel lässt sich hier etwa Jürgen Stark heranziehen, der Positionen im Wirtschafts- und Finanzministerium sowie in der Bundesbank bekleidete, bevor er Mitglied des EZB-Exekutiv­ rats und 2006 ihr Chefökonom wurde. Im November 2008, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, hielt Stark einen Vortrag in Frankfurt am Main, der eine ordoliberale Interpretation der Kri­ se sowie entsprechende Vorschläge zu ihrer Bewältigung enthielt. Die intellektuelle Grundlage von Starks Analyse bilden Euckens Grundsätze der Wirtschaftspolitik und die sechs konstitutiven Prin­ zipien der Wettbewerbsordnung, die wir in Kapitel 2 kennenge­ lernt haben, wobei er insbesondere das Prinzip der unbeschränkten Haftung hervorhob: Erstens hätten Staaten insofern die Finanzkrise mitverursacht, als sie ihre »Aufgabe als regelsetzende Instanz« in Bezug auf die (Finanz-)Märkte vernachlässigt und es zudem in der Folge versäumt hätten, dem Haftungsprinzip durch entschlossenes Vorgehen Geltung zu verschaffen.24 Zweitens hätten »expansive geldpolitische Maßnahmen auf der ganzen Welt« zur Bildung von Blasen auf den Immobilienmärkten und auch darüber hinaus bei­ getragen, wodurch das Prinzip der währungspolitischen Stabilität verletzt worden sei, was letztlich zu schmerzhaften, aber notwen­ digen Anpassungen führen musste. Was folgt aus diesem Krisen­ narrativ im Hinblick auf die Maßnahmen zu ihrer Bewältigung? Kurz- und mittelfristig sollte die Regulierung des Finanzmarktes verbessert werden, aber abgesehen davon gebe es keinen Grund, nun den Kurs einer »aktivistischen« Geld- oder Fiskalpolitik ein­ zuschlagen. Stark lehnt fiskalische Konjunkturmaßnahmen ab, und auch wenn er die Bereitstellung von Liquidität von Seiten der EZB für notwendig zur Aufrechterhaltung des Interbank-Marktes hält, insistiert er doch darauf, dass jede ihrer Maßnahmen ein­ deutig durch ihr Mandat gedeckt sein müsse, das darin bestehe, »mittelfristige Preisniveaustabilität zu sichern. An dieses Mandat muss man sich in normalen wie auch in Krisenzeiten halten. Die geldpolitische Position, die der Aufgabenstellung unseres Mandats entspricht, beruht ausschließlich auf unserer Bewertung möglicher 24 Jürgen Stark, Monetary, financial and Fiscal Stability in Europe. Vortrag vom 18. 11. 2008. 〈https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2008/html/sp081118_1. en.html〉.

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Gefahren für die Preisstabilität und auf nichts sonst.«25 Zuletzt erwägt Stark Maßnahmen, um jenseits des akuten Krisenmana­ gements zukünftige Krisen zu verhindern. Seine diesbezügliche Grundposition ist wenig überraschend: »Das Bekenntnis zu Preis­ stabilität und gesunden öffentlichen Finanzen ist der beste Beitrag, den Geld- und Fiskalpolitik in der Eurozone zur finanziellen Sta­ bilität leisten kann.«26 Genauer gesagt, die Krisenprävention sollte darauf abzielen, die Kräfte des Wettbewerbs auf Märkten zu unter­ stützen, von diskretionären Maßnahmen absehen und stattdessen allgemeine Regeln für Märkte (und Staaten) entwerfen sowie, nicht zuletzt, das Prinzip der individuellen Haftung stärken. Zusammen­ fassend lässt sich feststellen, dass aus Starks Perspektive die ökono­ misch-politische Welt in weitaus besserer Verfassung wäre, hätte sie sich an Euckens Prinzipien gehalten. Stark mag mit seiner offen zur Schau gestellten Begeisterung für die Grundsätze der Wirtschaftspolitik ein Sonderfall sein, und obwohl Lars Feld, Direktor des Walter Eucken Instituts und mitt­ lerweile Vorsitzender des Rats zur Begutachtung der gesamtwirt­ schaftlichen Entwicklung, einst (offensichtlich im Scherz) vor­ schlug, dass alle Politiker mit Euckens Buch unter ihrem Kissen schlafen sollten,27 gehe ich keineswegs davon aus, dass sie dieser Empfehlung nachgekommen sind. Doch auch wenn kaum je­ mand zur Beurteilung der Krise und möglicher Lösungsansätze bewusst die ordoliberalen Schriften konsultiert haben dürfte, er­ scheint vor dem Hintergrund des hier Erläuterten die Annahme, dass die basalen Interpretationsschemata deutscher politischer Eli­ ten, die in den Episoden Knightscher Ungewissheit während der europäischen Krisen zur Geltung kamen, insbesondere auch auf ordoliberalen Vorstellungen fußten, kaum überzogen. Der Ordoli­ beralismus lieferte den handelnden Eliten Ideen, die auf mehreren Ebenen relevant waren: Zum einen war dies die Ebene der Prob­ lemdefinition und damit auch des Krisennarrativs, zum anderen war es die Ebene der konkreten Lösungsansätze für das Problem, 25 Ebd. Hier ist darauf hinzuweisen, dass die EZB diese Vorgabe ihres Mandats äußerst ernst nimmt: Immerhin erhöhte sie inmitten des Krisenjahres 2011 sogar die Zinsen, um etwaigen inflationären Tendenzen vorzubeugen, wobei sich diese Sorge als völlig unbegründet erweisen sollte. 26 Ebd. 27 Lars Feld, »Für Fehler geradestehen«, in: Wirtschaftswoche, 23. Oktober 2011.

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gemäß seiner Definition auf der Grundlage der ordoliberalen Vernunft.28 Doch bevor wir auf die Einzelheiten jenseits von Starks allge­ meinen Erläuterungen eingehen, bedarf es eines letzten argumen­ tativen Schritts, um der These der Bedeutung ordoliberaler Ideen zum Verständnis des Krisenmanagements Überzeugungskraft zu verleihen. Schließlich könnten etwa diejenigen, die dem konst­ ruktivistischen Institutionalismus skeptisch bis ablehnend gegen­ überstehen, argumentieren, dass es nicht nötig ist, sich auf einen ideenbasierten Ansatz zu verlegen und damit die Erklärung un­ nötig zu verkomplizieren, da die deutsche Regierung schlicht eine Strategie verfolgte, die den nationalen Interessen entsprach. Weiter oben wurde bereits eine Reihe von allgemeinen Argumenten zur Problematisierung von Konzepten wie ›objektiven‹ oder ›materi­ ellen‹ Interessen vorgebracht, aber nehmen wir einmal an, diese wären nicht überzeugend, und sehen uns stattdessen an, wie ein typischer interessenbasierter Ansatz die Ergebnisse der Eurozonen­ krise erklären würde. Frank Schimmelfennig hat eine solche Analy­ se auf Basis des sogenannten Liberalen Intergouvernementalismus durchgeführt, der als repräsentativ für interessen- oder präferenz­ basierte Ansätze gelten kann.29 Aus seiner Perspektive können die Debatten über Rettungsmaßnahmen und institutionelle Reformen als Mixed-Motive-Spiele modelliert werden, in denen das vorwie­ gende gemeinsame Interesse der Spieler in der Aufrechterhaltung einer intakten Eurozone bestand, wohingegen die divergierenden Präferenzen sich darauf bezogen, wie dies zu erreichen sei und wie die entsprechenden Kosten aufzuteilen seien. Laut Schimmelfennig entsprechen die Ergebnisse weitgehend den Präferenzen Deutsch­ lands als dem Akteur, der in den Verhandlungen über den größten Einfluss verfügte, und dies bestätigt aus seiner Sicht die Fähigkeit des Liberalen Intergouvernementalismus, überzeugende Erklärun­ gen der Konstellationen in der Eurozone zu liefern. Tatsächlich handelt es sich hier um einen durchaus differenzierten Ansatz, der nicht etwa ein monolithisches Nationalinteresse voraussetzt, wie es 28 Siehe Van Esch, »Exploring the Keynesian-Ordoliberal Divide« und zur Unter­ scheidung dieser Ebenen Jal Mehta, »From ›Whether‹ to ›How‹: The Varied Role of Ideas in Politics«, in: Béland/Cox, Ideas and Politics, S. 23-46. 29 Siehe Frank Schimmelfennig, »Liberal intergovernmentalism and the euro area crisis«, in: Journal of European Public Policy 22 (2015), S. 177-195.

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in manchen Strömungen des Realismus der Fall ist. Dennoch lohnt es sich, etwas genauer hinzusehen, wie hier die Bildung nationaler Präferenzen konzeptionalisiert wird. Laut Schimmelfennig bilden sich nationale Präferenzen auf der Grundlage von Interdependenz und der »fiskalischen Position des Staates«,30 aber ist es wirklich überzeugend, davon auszugehen, dass sich die diversen Präferenzen allein aus der relativen Solvenz des Staates ableiten lassen? Schim­ melfennig selbst macht auf ein Erklärungsproblem in seinem An­ satz aufmerksam, und die Art und Weise, wie es gelöst wird, ist im Sinne meiner vorherigen Ausführungen durchaus bezeichnend. Die Position Frankreichs im Hinblick auf Eurobonds ist nämlich nicht gänzlich konsistent mit seiner fiskalischen Position, und Schimmelfennig vermutet, dass diese Anomalie auf den Einfluss des Keynesianismus in Frankreich im Unterschied zum ordolibe­ ralen Einfluss in Deutschland zurückzuführen ist. »Der eklatante Unterschied gegenüber den deutschen Präferenzen ist aber schwer durch die materiellen Bedingungen zu erklären und verweist statt­ dessen auf die Relevanz von ordoliberalen versus keynesianischen ökonomischen Vorstellungen.«31 Es handelt sich also um ein Lehr­ buchbeispiel für die Praxis der Inkorporation von Ideen als Hilfs­ variablen, die dann herangezogen werden, wenn Interessen ein be­ stimmtes Verhaltensmuster nicht erklären können. Damit erweisen sich interessenbasierte Erklärungsansätze ein weiteres Mal als weit­ aus voraussetzungsreicher, als es zunächst den Anschein hat. Und ein weiteres Mal ist zu betonen, dass mein Punkt nicht darin be­ steht, dass wir interessenbasierte gegen ideenbasierte Ansätze aus­ spielen sollten, noch bezweifle ich grundsätzlich das Erklärungspo­ tential von Analysen wie derjenigen Schimmelfennigs. Aber auch wenn ich die Einschätzung teile, dass Deutschland weitgehend das Krisenmanagement durchsetzen konnte, das es wollte, bekam es, genau genommen, das Krisenmanagement, von dem es glaubte, es sei in seinem besten Interesse in einer hochvolatilen Situation fun­ damentaler Ungewissheit. Das bedeutet, dass wir keineswegs so weit gehen müssen, zu be­ haupten, der Einfluss ordoliberaler Interpretationsschemata habe letztlich sogar dazu geführt, dass deutsche Entscheidungsträger 30 Ebd., S.  191. 31 Ebd., S.  183.

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entgegen ihren Interessen handelten, denn diese existieren ja eben ausschließlich als Interessen, wie sie wahrgenommen werden. Mat­ thias Matthijs teilt diese Sichtweise grundsätzlich, aber in seiner Einschätzung des Krisenmanagements unter deutscher Federfüh­ rung finden sich Formulierungen, die das Gegenteil suggerieren: »Seine ordoliberale Politik führte letztlich dazu, dass Deutschland seinen eigenen nationalen Interessen schadete, da dadurch kurzfris­ tig eine Kontraktion ausgelöst wurde und Deutschland langfristig weitere Kontrolle über fiskalische und finanzielle Kompetenzen aufgab, indem diese an die EU-Ebene delegiert wurden. Deutsch­ lands Ideen führten aus der Sicht der Berliner Interessen nicht nur zu suboptimalen Ergebnissen, sondern sie verursachten die Krise, indem sie sie zu einer systemischen machten.«32 Matthijs’ zentraler Punkt lautet, dass das zögerliche und unentschlossene Krisenma­ nagement, das wir bereits thematisiert haben, in Verbindung mit der Politik ›expansiver Konsolidierung‹ die Krise verschlimmerte und in gewisser Weise erst zum Ausbruch brachte. Hätte Deutsch­ land sich bereit erklärt, einen Rettungsplan für Griechenland ins Werk zu setzen, unmittelbar nachdem die Neuigkeiten bezüglich der Defizite und Schulden öffentlich geworden waren, wäre es womöglich nie zur Eurozonenkrise als einer systemischen Krise gekommen. Natürlich hätte dies Deutschland Geld gekostet, aber vermutlich weitaus weniger, als die vorläufige Rettungsverweige­ rung am Ende kostete, und die gleiche Logik lässt sich auf all die anderen Momente anwenden, in denen das deutsche Insistieren auf ordoliberalen Prinzipien letztlich den Effekt hatte, den Preis der Krise immer höher zu schrauben. Es gibt tatsächlich Interpretati­ onen, die behaupten, Merkel habe bewusst und aus strategischen Gründen immer wieder nur gerade genug getan, um das Auseinan­ derbrechen der Währungsunion zu verhindern. Denn so konnte sie argumentieren, dass die von der deutschen Regierung geforderten Reformen alternativlos seien, um den drohenden Kollaps des Euro abzuwenden. Diese Rahmung ihrer Rettungs-Politik als ultima ratio zur Bewahrung der Gemeinschaftswährung habe zudem si­ chergestellt, dass das Bundesverfassungsgericht die Einrichtung des 32 Matthias Matthijs, »Powerful rules governing the euro: the perverse logic of Ger­ man ideas«, in: Journal of European Public Policy 23 (2016), S. 375-391, hier S. 378. Siehe zu den nicht-intendierten Folgen des Krisenmanagements auch Neder­ gaard, Snaith, »›As I Drifted Into A River‹«.

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ESM nicht als unvereinbar mit dem Grundgesetz erklären würde.33

Aber dies scheint mir die strategische Voraussicht von Akteuren überzubewerten – selbst wenn es sich um die mutmaßlich die Din­ ge vom Ende her denkende Angela Merkel handelt –, und es wäre plausibler, im Sinne von Matthijs und dem konstruktivistischen Institutionalismus im Allgemeinen zu argumentieren: Deutsche Entscheidungsträger handelten in Ungewissheit, was die Auswir­ kungen ihrer Entscheidungen angeht und was genau in ihrem In­ teresse lag, daher handelten sie gemäß der quintessentiellen ordo­ liberalen Maxime, dass die Regeln eingehalten werden müssen, da dies ihrer Wahrnehmung nach in ihrem besten Interesse lag. Mer­ kel brachte dies im Dezember 2011 in einer Regierungserklärung auf den Punkt: »Das sind ja ganz einfache Lehren: Regeln müssen eingehalten werden; ihre Einhaltung muss kontrolliert werden; ihre Nichteinhaltung muss Konsequenzen haben.«34 Für den Moment können wir also zusammenfassend festhalten, dass es ausreichend Grund zu der Annahme gibt, dass ordolibera­ le Vorstellungen einen gewissen Einfluss auf das insbesondere von Deutschland orchestrierte Krisenmanagement und damit auch auf die jüngsten institutionellen Restrukturierungen der EU hatten. Aber in welcher Hinsicht entspricht nun die EU in ihrer aktu­ ellen Form ordoliberalen Vorgaben, und zwar vor allem denen, die sich im Werk Walter Euckens finden? Wie bereits erwähnt, besteht der Schlüsselgedanke in einer Analogie zwischen dem, was Eucken als Wettbewerbsordnung beschrieb, sowie der Rolle, die Staat, De­ mokratie und Wissenschaft bei ihrer Umsetzung und Aufrechter­ haltung spielen sollten, einerseits und der Wirtschaftsverfassung der WWU als einer Wettbewerbsordnung für Nationalstaaten und ihre Volkswirtschaften andererseits. Meine These lautet, dass jene supranationale Wettbewerbsordnung insbesondere nach den jüngs­ ten Reformen in vielerlei Hinsicht dem Ideal Euckens entspricht. Rekapitulieren wir die Kernannahmen, die Euckens Vorstel­ lungen von wünschenswertem Wettbewerb zugrunde liegen. Die Grundvoraussetzung besteht vor allem anderen in einem funktio­ 33 Siehe Art, »The German Rescue of the Eurozone«. 34 Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor dem Deut­ schen Bundestag am 2. Dezember 2011. 〈https://www.bundesregierung.de/bregde/service/bulletin/regierungserklaerung-von-bundeskanzlerin-dr-angela-mer kel-800684〉.

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nierenden Preissystem, denn diesbezügliche Verzerrungen senden die falschen Signale im Hinblick auf Knappheit und Risiko an Konsumenten und Produzenten. Dies bedeutet, dass inflationäre Tendenzen und eine bewusst expansive Geldpolitik vermieden wer­ den müssen, da Letztere den ›Preis‹ des Geldes verzerrt. Die Stabi­ lität der Währungsordnung ist somit das fundamentalste unter den diversen konstituierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung.35 Das Prinzip der unbeschränkten Haftung liegt in seiner Bedeutung allerdings nur knapp dahinter, denn auch durch dieses wird sicher­ gestellt, dass es keine Risikoverzerrung gibt. Es bedarf der konse­ quenten Durchsetzung, denn Wettbewerb funktioniert nur, wenn er Gewinner und Verlierer produziert, und die Verlierer müssen tat­ sächlich die volle Last des Misserfolgs bis hin zum Rückzug aus dem Markt tragen, genauso wie im Gegenzug die Gewinne individuell zugerechnet werden.36 Offensichtlich ist dieses Prinzip nicht nur von funktionaler, sondern auch von beträchtlicher normativer Be­ deutung, denn ein Haftungsausschluss würde beispielsweise einen moral hazard heraufbeschwören. Schließlich ist der marktvermittel­ te Wettbewerb für Eucken im Gegensatz etwa zum späten Hayek mehr als nur ein evolutionärer Vorteil; in ihm geht es auch um Ethik und Normen. Eucken wollte nicht irgendeine Art von Wettbewerb anreizen, sondern das, was er als »Leistungswettbewerb«37 bezeich­ nete, in dessen Rahmen Profite nur dann realisiert werden dürfen, wenn diesen eine Leistung gegenüber den Konsumenten gegen­ übersteht. Dadurch erklärt sich zumindest in Teilen auch Euckens vehemente Ablehnung von Kartellen und Monopolen, denn diese könnten einen Marktvorteil durch Behinderungswettbewerb38 er­ zielen. Auch hier ist der normative Aspekt kaum zu übersehen. Pro­ fite müssen im Gegensatz etwa zu Monopol-Renten im eigentlichen Sinn erwirtschaftet werden und sind insofern gerechtfertigt, als sie im Austausch für eine tatsächliche Leistung zu günstigeren Preisen oder höherer Qualität für die Konsumenten erzielt werden – deren Inter­essen im Übrigen die einzig universalisierbaren sind, wie zeit­ genössische Vertreter des Ordoliberalismus hinzufügen würden. 35 »Die Währungspolitik besitzt daher für die Wettbewerbsordnung ein Primat.« Eucken, Grundsätze, S. 256. 36 Siehe ebd., S. 279-285. 37 Ebd., S.  247. 38 Siehe ebd., S. 43

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Welche Bedeutung haben nun all diese Elemente in der europä­ ischen Konstellation? Es ist beinahe überflüssig zu erwähnen, dass das fundamentale Strukturprinzip des ordoliberalen Denkens – der rechtlich-politische Rahmen einer Wirtschaftsverfassung – für den Aufbau der WWU auf Grundlage des Maastricht-Vertrages und des SGP eine zentrale Rolle spielte; durch die Reformen der 2010er Jah­ re ist dieses regelbasierte Regime ausgeweitet, spezifiziert und ver­ schärft worden. Sei es durch die verschiedenen Verfahren oder den Fiskalpakt, die Regeln des Wettbewerbs zwischen den europäischen Jurisdiktionen sind durch jene Reformen weiter kodifiziert wor­ den, und obgleich es durchaus Stimmen gibt, die dementgegen da­ rauf hinweisen, dass die Wirtschaftsverfassung der WWU durch die vielfältigen Notmaßnahmen inmitten der Krise massiv unterhöht worden sei,39 wird hier die Auffassung vertreten, dass alle institutio­ nellen und konstitutionellen Reformen, die verabschiedet wurden, die Maastricht-Ordnung bestätigen und die Möglichkeiten der Durchsetzung ihrer diversen Erfordernisse vergrößern. Der Punkt, der hier festzuhalten ist, besagt, dass der Ordoliberalismus als das Ideenreservoir anzusehen ist, aus dem sich diese Reformen speisen, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihren substantiellen Gehalt, sondern auch im Hinblick auf die Problemdefinition und die ent­ sprechenden Lösungsansätze. Die ordoliberale Vernunft verlangt, dass Regeln eingehalten werden, und aus dieser Perspektive bestand das Problem der Eurozonenkrise darin, dass die Regeln gebrochen wurden. Folgerichtig besteht die Lösung darin, mehr und bessere Regeln zu haben. In diesem Sinne war die Krise eigentlich das Ge­ genteil eines Einfalltors für neue Ideen und Herangehensweisen im Bereich der Politischen Ökonomie, denn die vermeintliche Lösung des Krisenproblems basiert auf demselben modalen Rezept wie der doch mutmaßlich unzulängliche Status quo ante. Trifft es zu, dass die europäische Wirtschaftsverfassung, wie sie aus primärem und sekundärem Recht herauspräpariert werden kann, als rechtsverbindlicher Rahmen wünschenswerten Wett­ bewerbs fungieren soll, wie es hier soeben skizziert wurde, dann müssen die Prinzipien der unbeschränkten Haftung und der Wäh­ rungsstabilität verwirklicht werden. Einer von denjenigen, die die­ ser Aufgabenstellung zustimmen würden, ist der derzeitige Präsi­ 39 Siehe Joerges, »Legitimation Problématique«; siehe auch Christian Joerges, »Eu­ ropas Wirtschaftsverfassung in der Krise«, in: Der Staat 51 (2012), S. 357-385.

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dent der Bundesbank Jens Weidmann, und nicht zuletzt aufgrund dieser prominenten Stellung lohnt es, sich genauer anzusehen, wie er eine zutiefst ordoliberale Theorie des europäischen Jurisdiktio­ nenwettbewerbs entwirft – und zwar passenderweise im Rahmen der Walter-Eucken-Vorlesung, gehalten am 11. Februar 2013 in Frei­ burg. Auch Weidmann hebt die Bedeutung des Haftungsprinzips her­ vor, das das zentrale Element im ordoliberalen Krisennarrativ dar­ stellt, welches wiederum im deutschen Kontext immer mehr zum dominanten Interpretationsrahmen avancierte. Der Ursprung der Krise, so Weidmann, liegt im Verhalten einzelner Länder, die ihre »Wettbewerbsfähigkeit« eingebüßt und Schulden angehäuft hät­ ten, die nicht mehr tragfähig gewesen seien.40 Dementsprechend handelt es sich weder um eine durch eine fragwürdige EurozonenArchitektur mitverursachte systemische Krise noch um eine Ban­ kenkrise, die sich zu etwas Umfassenderen ausweitete, sondern um eine Krise individueller Staaten, die zu viele Schulden aufnahmen und über ihre Verhältnisse lebten. Gemäß dem Prinzip der indivi­ duellen Haftung müssen diejenigen, die unternehmerisches Schei­ tern zu verantworten haben, auch die vollen Konsequenzen dafür tragen; daher sollte es auch keine Umschuldung oder gar einen Schuldenschnitt geben, da dies zu Fehlanreizen im Sinne des moral hazard führen würde. Des Weiteren trug auch die fehlende Glaub­ würdigkeit des Prinzips vor der Krise zu dieser selbst bei, da die Anleihenhändler nicht wirklich an die Geltung der Nichtbeistandsklausel glaubten, die aus ihrer Sicht im Zweifelsfall missachtet wer­ den würde, was erklärt, warum Länder wie Griechenland vor der Krise ähnlich niedrige Zinsen auf ihre Anleihen zahlen mussten wie Deutschland. Mit anderen Worten, es war zu Verzerrungen des Preissystems auf dem Anleihemarkt gekommen, da das Haftungs­ prinzip offensichtlich nur unzureichend verankert worden war, und die sich daraus ergebenden Fehlsignale der Preise im Hinblick auf bestimmte Risiken hatten zur Folge, dass Länder wie Griechen­ land mehr Kredit erhielten, als richtig gewesen wäre. Wenn also mehr individuelle Haftung gemäß Weidmanns Analyse einen Bei­ trag zur Verhinderung der Krise hätte leisten können, dann kann es 40 Jens Weidmann, Krisenmanagement und Ordnungspolitik. 〈https://www.bundes bank.de/de/presse/reden/krisenmanagement-und-ordnungspolitik-710712〉.

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kaum überraschen, dass er Schuldenschnitten und vor allem auch der Schulden-Vergemeinschaftung innerhalb der Eurozone über­ aus skeptisch gegenübersteht. Individuelle Marktakteure, seien es nun Unternehmen oder Nationalstaaten, müssen unbeschränkt haftbar gemacht werden können, wenn Wettbewerb wirklich ef­ fektiv funktionieren soll. Da Notfall-Rettungsmaßnahmen, die ja im Laufe der Krise tatsächlich in diversen Formen durchgeführt wurden, dieses Prinzip unterminieren würden, ist es nur stringent, wenn Weidmann auch Regelungen für einen Staatsbankrott in Erwägung zieht: »Dies bedeutet dann in letzter Konsequenz, dass Staatsinsolvenzen nicht ausgeschlossen werden können – und nicht ausgeschlossen werden dürfen.«41 Schließlich muss der europäische Markt der Jurisdiktionen aus ordoliberaler Perspektive so lange als defizitär gelten, als Euckens berühmte »Peitsche der Konkurrenz«42 durch die Unmöglichkeit des Marktaustritts in ihrer Wirkung erheblich eingeschränkt bleibt. Aus meiner Sicht wäre daher die Einführung einer staatlichen Insolvenzordnung der konsequente nächste Schritt im Prozess der Ordoliberalisierung Europas.43 Blicken wir nun auf das fundamentale Prinzip der Währungs­ stabilität und seine Bedeutung für effektiven Wettbewerb. Wie erwähnt, besteht das Problem fehlender monetärer Stabilität im Allgemeinen in seiner verzerrenden Wirkung auf den Preisme­ chanismus, der in seiner Bedeutung gewissermaßen sogar den konstituierenden Prinzipien vorgelagert ist. Anders formuliert: Die konstituierenden Prinzipien bilden den Voraussetzungskranz für ein funktionierendes Preissystem auf Märkten, und die »Her­ stellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Kon­ kurrenz zum wesentlichen Kriterium jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme« zu machen, ist »das wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundprinzip«.44 Wie also lässt sich aus Sicht des Ordoliberalis­ mus sicherstellen, dass die EZB ihren Beitrag zur Verwirklichung 41 Ebd. 42 Eucken, »Staatliche Strukturwandlungen«, S. 298. 43 Die Bedeutung des Insolvenzrechts für das Funktionieren der Wettbewerbsord­ nung wird bereits von Eucken hervorgehoben. Siehe Eucken, Grundsätze, S. 282. Auch Feld merkt kritisch an, dass die Möglichkeit einer staatlichen Insolvenzord­ nung in den Maastricht-Verhandlungen nicht in Erwägung gezogen worden sei. Siehe Feld, Europa in der Welt von heute, S. 13. 44 Eucken, Grundsätze, S. 254

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dieses Grundprinzips leistet? Aus Weidmanns Perspektive enthält die Finanzverfassung der WWU zwei Kernelemente zur Sicherung der Währungsstabilität. Erstens ist die EZB vermutlich die un­ abhängigste aller Zentralbanken, was bedeutet, dass sie sich nur schwer von einzelnen Eurozonenmitgliedern zu politischen Zwe­ cken instrumentalisieren lässt, und zwar vor allem nicht, um Geld zu drucken. Zweitens hat sie ein ausgesprochen schmales Mandat, das ausschließlich Maßnahmen zur S­ icherung der Preisniveausta­ bilität abdeckt. Handelt es sich hier also um eine Geldordnung, die in ihren zentralen Strukturelementen dem ordoliberalen Prin­ zip entspricht und dieses verwirklicht? Dies ist eine Frage, die überraschend heiß umkämpft ist. Röpke und Eucken waren auf­ grund der automatischen Anpassungen durch den Fluss von Gold Befürworter des Goldstandards beziehungsweise einer anderen Rohstoffreservewährung, die diskretionäre Entscheidungen von Seiten der Zentralbanker weitgehend überflüssig machen würde. Doch es erscheint etwas weit hergeholt, daraus die Schlussfolge­ rung zu ziehen, die Unabhängigkeit der Zentralbank sei »gänz­ lich inkompatibel mit dem Ordoliberalismus«.45 Es stimmt, dass Eucken ebenso wie etwa Friedman große Skepsis gegenüber der diskretionären Macht der Zinsfestsetzung von Seiten der Vertre­ ter der Zentralbank hegte und nach einem Geldsystem fahndete, dessen Grundlage idealerweise einzig ein »automatisch arbeitender geldpolitischer Stabilisator« wäre.46 Nichtsdestotrotz erscheint es kaum plausibel, daraus die These abzuleiten, dass eine unabhän­ gige Zentralbank in Verbindung mit einem äußerst engen Mandat aus Sicht des Ordoliberalismus ein beträchtliches Problem darstellt. Immerhin kommt es doch der Idee einer regelgeleiteten Geldpo­ litik vergleichsweise nahe, die Zentralbank in ihrem Wirken auf das Ziel einer Inflationsrate knapp unter zwei Prozent festzulegen. Was aber wiederum im Hinblick auf Euckens Skepsis gegenüber der Vorstellung einer unabhängigen Zentralbank überaus interes­ sant und aus meiner Sicht auch ebenso symptomatisch ist, ist die darin enthaltene Bekräftigung seines Postulats eines starken, ein­ 45 Jörg Bibow, Investigating the Intellectual Origins of Euroland’s Macroeconomic ­Policy Regime: Central Banking Institutions and Traditions in West Germany after the War, Annandale-on-Hudson 2004, S. 19. 46 Walter Eucken, »Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung«, in: ORDO 2 (1949), S. 1-100, hier S. 91.

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heitlichen Staates, der beständig durch ›pluralistische‹ Elemente bedroht wird. Ihn treibt nämlich die Sorge um, dass »eine allzu unabhängige […] Zentralbank nur schwer in die Struktur des Staa­ tes einzupassen ist. Sie wird versucht sein, sich in Opposition zur allgemeinen Wirtschaftspolitik zu positionieren. Allzu leicht wird sich ein ›Pluralismus‹ entwickeln, der die Einheitlichkeit staatlicher Politik gefährden würde.«47 Im Rahmen ihres Versuchs einer Widerlegung der These der Ordoliberalisierung Europas bemühen sich auch Lars Feld, Ekke­ hard Köhler und Daniel Nientiedt nachzuweisen, dass die Struk­ turen und Mandate von sowohl Bundesbank als auch EZB nicht den ordoliberalen Vorstellungen entsprechen. Die Unabhängigkeit mag den beiden Zentralbanken zwar von Seiten der Politik aus­ drücklich zugestanden worden sein, doch damit erhielten sie auch viel zu viel diskretionäre Macht zu geld- und währungspolitischen Entscheidungen, als dass dies aus ordoliberaler Perspektive gutge­ heißen werden könne. Aber im Verlauf des Textes nimmt ihre Ar­ gumentation eine überraschende Wendung. Die Autoren kommen natürlich auch auf das Haftungsprinzip zu sprechen und folgern zutreffenderweise, dass »die traditionelle regelbasierte Perspektive der Ordnungspolitik die deutsche Ablehnung weiterer Rettungs­ maßnahmen und fiskalpolitischer Integration erklärt«.48 Dies habe aber keineswegs die intendierten Auswirkungen gehabt, denn die Weigerung, Schulden zu vergemeinschaften, habe zu einer Ver­ längerung der Krise geführt und letztendlich Mario Draghi keine andere Wahl gelassen, als mit seinem berühmten Statement ein­ zugreifen, die EZB werde tun, was auch immer nötig sei, um den Euro zu retten. Dies ist ein Problem für Feld und seine Kollegen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es so zu einer Politisierung der Finanzverfassung des Euro-Regimes und des Widerstands gegen Schulden-Vergemeinschaftung kam. De facto wurde also eine wei­ ter gehende fiskalische Integration im Sinne der von Deutschland vertretenen Position verhindert, doch dies geschah um den Preis der Unabhängigkeit der EZB. Die Autoren resümieren, dass es bes­ ser gewesen wäre, Konzessionen im Hinblick auf eine (teilweise) 47 Zitiert in ebd., S. 16. 48 Lars Feld, Ekkehard Köhler, Daniel Nientiedt, Ordoliberalism, Pragmatism and the Eurozone Crisis: How the German Tradition Shaped Economic Policy in Europe, München 2015, S. 15.

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Vergemeinschaftung der Schulden zu machen, als die Unabhängig­ keit der Zentralbank aufs Spiel zu setzen.49 Diese Unabhängigkeit genießt am Ende des Papiers also sogar Priorität gegenüber dem Haftungsprinzip, was insofern eher überraschend ist, als die drei Vertreter des Walter Eucken Instituts sich dermaßen um den Nach­ weis bemühten, dass die Ordoliberalen und insbesondere Eucken nie Befürworter einer unabhängigen Zentralbank gewesen seien. Aber zumindest legen sie in aller Deutlichkeit dar, warum die Grundstruktur der WWU aus ordoliberaler Perspektive begrüßens­ wert ist. Auf den Punkt gebracht, liegt der Grund darin, dass kein einzelnes Mitglied der Eurozone die Kontrolle über seine Währung hat und es daher für alle unmöglich geworden ist, sie durch eine bewusst herbeigeführte Inflation oder andere politisch motivierte Maßnahmen zu manipulieren. Was die Einschränkung der geldund währungspolitischen Möglichkeiten der Einzelstaaten angeht, lässt sich die WWU durchaus mit dem Goldstandard vergleichen – eine Ähnlichkeit, auf die so unterschiedliche Denker wie Milton Friedman und Wolfgang Streeck hingewiesen und ihre jeweiligen Bedenken geäußert haben,50 wohingegen dies für Befürworter des Goldstandards wie etwa Eucken und Röpke womöglich ein triffti­ ger Grund gewesen wäre, die WWU gutzuheißen. Nach diesem kurzen Exkurs zum Thema der Unabhängigkeit der Zentralbank können wir nun wieder zu Weidmann und dem Prin­ zip der Währungsstabilität zurückkehren. Wenn die Nationalstaaten nicht ihre Währung manipulieren können und die ausschließliche Aufgabe der Zentralbank in der Wahrung der Preisniveaustabilität besteht, dann bleibt als einzige potentielle Ursache inflationärer Tendenzen eine exzessive öffentliche Schuldenlast: »Eine wirksame Begrenzung der Staatsverschuldung ist somit ein elementarer Pfei­ ler einer Politik des stabilen Geldes. Die Währungsunion als Stabi­ litätsunion erforderte daher solide Staatsfinanzen.«51 Ursprünglich sollte der SGP sicherstellen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, die Verschärfungen durch Fiskalpakt, Six-Pack und Europäisches Semester sollen nun endlich den erhofften Effekt bringen, aller­ dings um den Preis der konstitutionalisierten Austerität. 49 Siehe ebd., S. 18. 50 Siehe Friedman, The Euro; Wolfgang Streeck, »Why the Euro Divides Europe«, in: New Left Review 95 (2015), S. 5-26. 51 Weidmann, Krisenmanagement und Ordnungspolitik.

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Wir haben nun also einen recht klaren Eindruck vom normati­ ven Ideal des Wettbewerbsföderalismus in der Eurozone: Es gibt eine bestimmte Art von Wettbewerb, die wünschenswert ist und dementsprechend beständig weiter angereizt wird, doch dies setzt voraus, dass andere Arten des Wettbewerbs beziehungsweise alter­ native Strategien der (Wieder-)Erlangung von Wettbewerbsfähig­ keit für unzulässig erklärt werden – und in diesem Fall de facto unmöglich werden. Schließlich bestände eine Möglichkeit der Wiederherstellung von Wettbewerbsfähigkeit relativ zu einer ande­ ren Volkswirtschaft darin, die Währung abzuwerten, so dass Expor­ te billiger und Importe teurer werden. Aber genauso wie Behinde­ rungswettbewerb nicht als Wettbewerb im eigentlichen und normativ wünschenswerten Sinn gilt, so gilt auch Wettbewerb durch Abwertung aus ordoliberaler Perspektive nicht als wün­ schenswerte Form des Wettbewerbs, denn »Erfahrungen vergange­ ner politisch herbeigeführter Abwertungen belegen, dass sie in aller Regel zu keinem nachhaltigen Gewinn an Wettbewerbsfähigkeit führen. Häufig sind immer neue Abwertungen nötig«, was im schlimmsten Fall gar zu einem »Abwertungswettlauf« führen kön­ ne.52 Aber wenn es sich hier also um eine nicht wünschenswerte und womöglich sogar moralisch fragwürdige Art der Konkurrenz handelt, die nicht dem Ideal des Leistungswettbewerbs entspricht, was ist dann der normativ funktional richtige Weg zur Wiederer­ langung von Wettbewerbsfähigkeit? Die Antwort könnte nicht ein­ deutiger sein, denn da sich in einer Eurozone fester Wechselkurse Anpassungsprozesse nicht über diese vollziehen können, bleibt nur der Weg der inneren Abwertung durch die Politik der Austerität. Der gestärkte SGP in Kombination mit dem Fiskalpakt stellt sicher, dass der Staat bestimmte Defizitgrenzen nicht überschreitet, und schränkt so seine Möglichkeiten der Konjunkturbelebung durch öffentliche Investitionen oder fiskalpolitische Maßnahmen ein. Doch dies ist nur die staatliche Dimension der Austerität. Anpas­ sungsprozesse, die sich auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirken (sollen), finden auch insbesondere auf den Arbeitsmärkten statt. Und wenn wir Euckens Überzeugung ernst nehmen, dass die wich­ tigste Voraussetzung für Marktwettbewerb in einem unverzerrt wirkenden Preismechanismus besteht, dann muss dies natürlich 52 Ebd.

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auch für die Preise auf dem Arbeitsmarkt gelten. Mit anderen Wor­ ten, dies bedeutet, dass eine Strategie zur Wiederherstellung von Wettbewerbsfähigkeit darin besteht, die ›Rigiditäten‹ des Arbeits­ marktes zu überwinden und bei Löhnen und Preisen eine höhere Flexibilität nach unten zuzulassen. Von daher ist es nur stimmig und auch nicht sonderlich überraschend, dass die Einverständnis­ erklärungen, die die Empfängerländer von ESM-Leistungen unter­ schreiben mussten, auch immer Maßnahmen zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes und der damit einhergehenden Schwächung von Gewerkschaften enthielten. Lohn- und Preisflexibilität ist der Schlüssel zur Überwindung von Krisen, wie Eucken im Zusam­ menhang einer Erörterung des deutschen Krisenmanagements in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise deutlich macht. Sicherlich stelle Massenarbeitslosigkeit ein schwerwiegendes moralisches Pro­ blem dar, doch die Politik der Vollbeschäftigung – was später unter Keynesianismus firmieren sollte – halte diesbezüglich keine über­ zeugende Lösung bereit, da sie zu Instabilität auf anderen Märkten und einer Verstärkung des Trends in Richtung Zentra­lisierung füh­ re.53 Das wirkliche Problem werde dadurch also gar nicht adressiert, und das Gleiche gelte für eine expansive Politik des billigen Geldes, die allenfalls eine kurzfristige Konjunkturbelebung erreichen kön­ ne, und dies nur um den viel zu hohen Preis einer Verzerrung des Preissystems, da unter Bedingungen des billigen Geldes jedes noch so unzulängliche Angebot seine Nachfrage finde.54 Wie wir vor dem Hintergrund des Euckenschen Ansatzes bereits vermuten konnten, besteht das wirkliche Problem in ökonomischer Macht oder dem, was Eucken als »den korporativen Aufbau des Arbeits­ marktes« bezeichnet, der eine Anpassung von Preisen und Löhnen verhindere.55 »Im Krisenjahr 1931 mußten die Berliner Bauunter­ nehmer mit gewissen, relativ starren Preisen der Produktionsmittel, die – wie bei Eisen und Zement – durch Syndikate festgehalten waren, und mit relativ starren Löhnen rechnen, während die Häu­ serpreise rasch fielen.«56 Laut Eucken ist die Deflation, mit der Deutschland in den frühen 1930er Jahren zu kämpfen hatte, vor allem eine Konsequenz dieser mangelnden Flexibilität der Preise. 53 Siehe Eucken, Zeitalter der Mißerfolge, S. 36. 54 »Da alle Waren Absatz finden, verliert der Preis die Auslesefunktion.« Ebd., S. 48. 55 Ebd., S.  36. 56 Ebd., S.  55.

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Die einzig akzeptable Art des Wettbewerbs besteht also in der Er­ höhung von Produktivität, wie ja auch das MIP-Scoreboard bestä­ tigt: Einer der elf Indikatoren sind die Lohnstückkosten, und auf Märkten mit homogenen Gütern können diese zwar mittel- und langfristig durch Investitionen in Technologie und Humankapital sinken, aber kurzfristig und im Gesamtkontext eines wirtschaftli­ chen Abschwungs lässt sich dieser Effekt letztlich nur erzielen, in­ dem die Löhne inklusive ›Lohnnebenkosten‹ sinken. Dieses Rezept findet durchaus Befürworter im ordoliberalen Denken; sowohl Eu­ cken als auch Rüstow glaubten, dass es sich um eine bittere, aber notwendige Medizin handele,57 die – um in die jüngere Vergangen­ heit zu springen – mutmaßlich auch dem ehemals kranken Mann Europas Anfang des 21. Jahrhunderts wieder auf die Beine geholfen hat. Denn war es schließlich nicht die kluge und disziplinierte Lohnzurückhaltung der deutschen Gewerkschaften in Verbindung mit der Liberalisierung des Arbeitsmarktes und der Erhöhung des Renteneintrittsalters, was letztlich den Weg zur wirtschaftlichen Erholung Deutschlands ebnete? Was sich in dieser seit Jahren um­ strittenen Frage mit Sicherheit beziffern lässt, ist nur der Preis, der zu entrichten war, und zwar in Form von Reallohnkürzungen in vielen Bereichen, einem zunehmend punitiven Ansatz in der Be­ kämpfung von Arbeitslosigkeit und einer Zunahme der sozialen Ungleichheit. Jedenfalls war aber die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft am Vorabend der Finanzkrise wieder in­ takt, und vor diesem ideationalen und empirischen Hintergrund ist es alles andere als überraschend, dass die deutschen Eliten hierin das Patentrezept sahen, das allen aktuellen kranken Männern Euro­ pas zu verschreiben sei. Aber es handelt sich natürlich um ein Re­ zept beziehungsweise eine Medizin, die viele teils sehr ernste Ne­ benwirkungen hat und auch nur unter ganz bestimmten Bedin­ gungen eine Linderung des Leidens verspricht. Genau genommen bedeutet dies, dass auch Deutschland davon betroffen wäre, denn seine wirtschaftliche Genesung Anfang der 2000er Jahre beruhte 57 »Das, was not tut, ist demnach eine Selbstkostenentlastung durch Senkung der Preise jener Selbstkostenelemente, deren überhöhte Festsetzung an der Veren­ gung des Rentabilitätsspielraumes und damit an der Krise Schuld trägt. Daß von diesen Elementen die Löhne am meisten zu Buche schlagen, liegt auf der Hand.« Alexander Rüstow, »Selbstkostensenkung, Lohnabbau und Preisabbau«, in: Der deutsche Volkswirt 4 (1930), S. 1403-1406.

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schließlich auch auf der (oftmals kreditfinanzierten) Nachfrage an­ derer Länder. Hinzu kommt, dass Wettbewerbsfähigkeit ein relati­ ves Konzept ist, was bedeutet, dass der Versuch, der Auseinander­ entwicklung der relativen Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Eurozone durch deren Erhöhung in Griechenland, Spanien und Italien Herr zu werden, per definitionem eine Verringerung der deutschen implizieren würde. Selbst wenn wir also für den Mo­ ment unterstellen würden, dass die ordoliberale Analyse zutreffend ist, dann hätte die wirtschaftspolitische Therapie, die in Europa so viel Unglück, Leid und Konflikt verursacht hat, dennoch keine Chance auf Erfolg, solange Deutschland eifersüchtig seinen Status als ›Exportweltmeister‹ verteidigt, an der Politik der Schwarzen Null festhält und eine Ausweitung öffentlicher Investitionen ab­ lehnt, denn »wir können nicht alle gleichzeitig durch Sparen zurück zum Wachstum finden«, wie es Mark Blyth auf den Punkt bringt.58 Die Konstellation ist geradezu bizarr. Während der damalige Fi­ nanzminister Schäuble betonte: »Wir Deutschen wollen kein deut­ sches Europa«,59 hat das von Deutschland maßgeblich beeinflusste Krisenmanagement zu einer Wirtschaftsverfassung der Eurozone geführt, die zwischen unterschiedlichen Formen des Wettbewerbs unterscheidet und bestimmte als unerwünscht angesehene Formen de facto oder de jure weitgehend verunmöglicht, so dass als einzige Option des Wettbewerbs nur die verbleibt, die nicht nur den ordo­ liberalen Vorgaben entspricht, sondern zufälligerweise auch dieje­ nige ist, auf die sich Deutschland spezialisiert hat: ein Musterbei­ spiel für die Wahrnehmung von Interessen durch ein ideational imprägniertes Interpretationsschema. Die EU hat sich selbst ein Wettbewerbsmodell auferlegt, das bestimmten Varianten des Kapitalismus klare Wettbewerbsvorteile verschafft. Daraus resultiert ein zunehmender Druck auf all jene Volkswirtschaften, deren Kapitalismus-Variante mehr oder weniger stark vom ›Modell Deutschland‹ abweicht, ihr Akkumulationsre­ gime durch Strukturreformen im Bereich von Sozial- bis Arbeits­ marktpolitik entsprechend anzupassen, und zwar ohne dass hier die teils beträchtlich variierenden institutionellen Voraussetzungen 58 Mark Blyth, Wie Europa sich kaputtspart. Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik, Bonn 2014, S. 31. 59 Wolfgang Schäuble, »We Germans don’t want a German Europe«, in: The Guard­ ian, 19. 07. 2013.

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und »Kulturen des Kapitalismus« in Rechnung gestellt würden. Es handelt sich um eine »erzwungene strukturelle Konvergenz in der Eurozone«,60 und in diesem Zusammenhang geht es keineswegs ­darum, Diversität um ihrer selbst willen zu verteidigen, wie es etwa in der Diskussion zwischen Jürgen Habermas und Fritz Scharpf anklang,61 sondern vielmehr darum, darauf hinzuweisen, dass ers­ tens die Anpassungskosten in einer Vielzahl von Währungen inklu­ sive der von Lebenschancen anfallen und wir es zweitens mit einem geradezu paradoxen Projekt zu tun haben: Denn schließlich kann Europa nur deutscher werden, wenn Deutschland selbst etwas we­ niger deutsch wird. Wie wir aus den Diskussionen im ersten Teil dieser Studie wis­ sen, glaubten die Ordoliberalen und vor allem Eucken, dass eine konsistente Politik der Wettbewerbsordnung nur unter ganz be­ stimmten institutionellen Bedingungen erfolgreich betrieben wer­ den könnte, die auf eine Form technokratischer Herrschaft hin­ ausliefen, welche auf einem von gesellschaftlichen Einflussnahmen abgeschirmten starken Staat fußte. Mit Blick auf den europäischen Kontext sprechen sowohl der Inhalt der Politik der Wettbewerbs­ ordnung als auch die institutionellen Voraussetzungen für eine zu­ nehmende Ordoliberalisierung der EU. Dies mag zunächst nach einer etwas steilen These klingen, und tatsächlich mangelt es auch nicht an Wortmeldungen, die diese Diagnose aus verschiedenen Gründen und politischen Motivla­ gen anzweifeln,62 aber beginnen wir die Überprüfung, indem wir uns noch einmal die diversen Aspekte einer idealen Herrschafts­ ordnung im Sinne Euckens ansehen. Ein starker Staat könn­ te zumindest im Bedarfsfall auf einen autoritären Politikmodus umstellen, um bestimmte Politiken sogar gegen den Widerstand der Betroffenen durchzusetzen. Als Erstes kommt einem hier als europäisches Äquivalent die Troika mit ihren Einverständniser­ klärungen und der Überwachung der korrekten Umsetzung von Strukturreformen in den Sinn. Es fällt schwer, das Troika-Regime 60 Fritz Scharpf, Forced Structural Convergence in the Eurozone – Or a Differentiated European Monetary Community, Köln 2016. 61 Siehe zu dieser Debatte Fritz Scharpf, »Das Dilemma supranationaler Demokra­ tie in Europa«, in: Leviathan 43 (2015), S. 11-28; Jürgen Habermas, »Der Demos der Demokratie – Eine Replik«; in: Leviathan 43 (2015), S. 145-154. 62 Siehe zum aktuellen Stand der Debatte das Nachwort.

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nicht als eine Art autoritärer Herrschaftsausübung zu charakteri­ sieren, denn sie suspendierte die Souveränität der ihrer Herrschaft Unterworfenen und setzte politische Maßnahmen selbst gegen den ausdrücklichen Willen der betroffenen Bevölkerung durch – so­ fern diese überhaupt offiziell ihren Willen bekunden durfte.63 Als der griechische Premierminister George Papandreou seinerzeit ein Referendum über die Bedingungen der europäischen Unterstüt­ zungsleistungen ankündigte, wurde er zum Rücktritt gedrängt, und eine Übergangsregierung aus nicht gewählten Technokraten trat an seine Stelle. Ähnliches hatte sich schon in Italien ereignet, als ein Expertenkabinett unter der Führung von Mario Monti die italienischen Regierungsgeschäfte nach dem erzwungenen Rück­ tritt von Silvio Berlusconi übernahm. Hier liegt der Einwand nah, dass dies nicht sonderlich aussagekräftig im Hinblick auf eine strukturelle Transformation der EU ist, da das drakonische TroikaRegime eben nur die extremen Fälle betrifft, in denen Länder am Rande des Staatsbankrotts stehen. Und tatsächlich, wäre es nur die Troika allein, würde dies nicht zur Untermauerung meiner These ausreichen, doch dem ist nicht so. Der Kommission sind nämlich weitreichende Kontroll-, Überwachungs- und gegebenenfalls Sank­ tionsmöglichkeiten zugewiesen worden, die mit dem Budgetrecht sogar den Kernbereich der Kompetenzen nationaler Parlamente berühren, um nicht zu sagen verletzen. Zwar scheint es auf den ersten Blick etwas abenteuerlich zu sein, die Kommission als eu­ ropäisches Äquivalent eines starken Staates ins Spiel zu bringen, aber wir sollten nicht vergessen, dass es tatsächlich die Kommission ist, die sich als »unerwarteter Gewinner der Krise« entpuppt hat.64 Intergouvernementalisten verweisen an dieser Stelle gerne darauf, dass das Machtzentrum Europas immer noch der Rat ist, und spre­ chen sogar von einem »neuen Intergouvernementalismus«, der sich 63 Zur Sorge über die Wiederkehr eines ›autoritären Liberalismus‹ in Europa siehe Ian Bruff, »The Rise of Authoritarian Neoliberalism«, in: Rethinking Marxism 26 (2014), S. 113-129; Wolfgang Streeck, »Heller, Schmitt and the Euro«, in: European Law Journal 21 (2015), S. 361-370; Michael Wilkinson, »The Specter of Au­ thoritarian Liberalism: Reflections on the Constitutional Crisis of the European Union«, in: German Law Journal 14 (2013), S. 527-560. 64 Michael Bauer, Stefan Becker, »The unexpected Winner of the Crisis: the Euro­ pean Commission’s strengthened Role in economic Governance«, in: Journal of European Integration 36 (2014), S. 213-229.

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vermeintlich im Zuge der Krise entwickelt habe. Von dieser Seite ausgeblendet wird aber, dass der Einfluss des Rats durch die Ein­ führung des Prinzips der umgekehrten Mehrheit ausdrücklich und erheblich geschmälert wurde, das es ja weit unwahrscheinlicher macht, dass der Rat die Einleitung eines bestimmten Verfahrens blockiert, wenn dessen Einleitung von der Kommission empfohlen wurde. Aber gelingt es der Kommission tatsächlich, ihrer (neuen) Rolle als Überwachungs- und Sanktionsinstanz mit Hilfe der neu­ en Instrumente gerecht zu werden? Wie James Savage und Amy Verdun zeigen, hat die Kommission auf ihre neue und erweiterte Agenda mit beträchtlichen internen Umstrukturierungen reagiert, etwa indem mehr Generaldirektorate und auch der Kommissions­ präsident daran beteiligt sind, eine Bewertung der Haushalts- und gesamtwirtschaftlichen Lage eines Mitgliedslandes vorzunehmen und entsprechende Reformempfehlungen auszusprechen. Ein Mit­ glied des Generalsekretariats beschrieb die veränderte Rolle der Kommission und insbesondere des Generaldirektorats für ökono­ mische und finanzielle Angelegenheiten (ECFIN) und fasste die Entwicklung folgendermaßen zusammen: »Was sich grundlegend verändert hat, ist, dass das Aufgabenprofil von ECFIN traditionell eher beratend und analytisch war. Mit der Krise und [der Not­ wendigkeit] umfassenderer Politik-Koordination wurde es weitaus mehr zu einer Organisation, die mit Politikentwicklung und Re­ gelumsetzung befasst war.«65 Es ist also nicht übertrieben zu be­ haupten, dass die Kommission sich zumindest weiter dem Ideal des unparteiischen Schiedsrichters annähert, der der starke Staat im ordoliberalen Denken sein sollte. Doch aus ordoliberaler Sicht kann sie die entsprechenden in sie gesetzten Erwartungen nach wie vor nicht erfüllen. In verlässlicher Weise werden die Gründe von Jens Weidmann erläutert, der durchaus den Versuch zur Kenntnis nimmt, »quasi-automatische« Regeln zu schaffen, aber hier auch den Finger in die Wunde legt: Es sind eben nur quasi-automatische Regeln. Die Verfahren selbst mögen noch so gut von politischen Einflussnahmen abgeschirmt sein, die Entscheidung, sie einzulei­ ten, beinhaltet immer noch zu viel diskretionären Handlungs- und Interpretationsspielraum auf Seiten der Kommission: »Hin- und hergerissen in ihrer Doppelrolle als politische Institution und Hü­ 65 Zitiert in Savage/Verdun, »Strengthening the European Commission«, S. 113.

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terin der Verträge neigt die Kommission immer wieder dazu, Kom­ promisse zu Lasten der Haushaltsdisziplin einzugehen. In Sachen Haushaltsüberwachung verhält sich die Kommission wie Marx, nicht wie Karl Marx, sondern Groucho Marx, der amerikanische Komiker, der von sich sagte: ›Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch andere.‹«66 Tatsächlich sind Weidmanns Sorgen durchaus berechtigt, denn die Kommission hat sich im Hinblick auf französische Haushaltsdefizite und italieni­ sche Schulden mit Verweis auf die insgesamt positiven wirtschaft­ lichen Aussichten immer wieder äußerst nachsichtig gezeigt. Die­ se Argumentation der Kommission kann aber selbstverständlich kaum zur ordoliberalen Beruhigung im Hinblick auf die vielbe­ schworene Stabilitätskultur der WWU beitragen. Aus ordoliberaler Perspektive agiert die Kommission noch immer viel zu politisch bei ihren Entscheidungen, anstatt schlicht und einfach die Regeln umzusetzen. Konsequenterweise schlägt Weidmann vor, was einem weiteren Schritt in Richtung einer Ordoliberalisierung Europas gleichkäme: »Eine konsequentere Auslegung der Regeln könnte erreicht werden, wenn anstelle der Kommission eine unabhängige Institution für die Haushaltsüberwachung zuständig wäre. Dann würde immerhin klar, wo die unvoreingenommene Analyse endet und wo das politische Zugeständnis beginnt.«67 Der unparteiische und über den Dingen stehende Schiedsrichter, der unbeeindruckt von politischen Einflussnahmen stoisch die Regeln durchsetzt, bleibt also alles in allem bis heute das Ideal einer ordo-/neoliberalen Staatsexekutive und ihres Äquivalents auf der europäischen Ebene. Aber auch wenn die Kommission zum Bedauern der Ordoli­ beralen immer noch eine rudimentär politische Institution bleibt, ist eine andere Voraussetzung für eine funktionierende Politik der Wettbewerbsordnung doch mit der Stärkung der Kommission weit­ gehend erfüllt: Abgesehen vom EuGH und der EZB ist die Kommis­ sion sicherlich die EU-Institution, die am besten vor dem Einfluss demokratischer Mehrheiten abgeschirmt ist, obwohl dies natürlich nicht für den Einfluss des Lobbyismus im Allgemeinen gilt, was die Sache nur noch problematischer macht. Die Delegierung von 66 Jens Weidmann, Perspektiven für die Wirtschaft. Rede beim Jahresempfang der Wirtschaft 7. 2. 2017. 〈https://www.bundesbank.de/de/presse/reden/perspek tiven-fuer-die-wirtschaft-665238〉. 67 Ebd.

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ausgeweiteten Kompetenzen zur Budgetüberwachung und -kor­ rektur an die Kommission ist interpretiert worden als »Verschie­ bung politisch-ökonomischer Entscheidungskompetenzen von der nationalen auf eine neue, speziell dafür geschaffene internationale Ebene […], ein institutioneller Kontext, mit anderen Worten, der im Gegensatz zum Nationalstaat bewusst so konzipiert wurde, dass er sich nicht zur Demokratisierung eignete«.68 Zwar teile ich nicht ganz die Skepsis Streecks, was die grundsätzliche Möglichkeit einer Demokratisierung der EU angeht, aber für den Moment ist festzu­ halten, dass es durchaus zutrifft, wenn er schreibt: »Dort, wo es in Europa noch immer demokratische Institutionen gibt, gibt es keine ökonomische Governance-Kompetenzen mehr, damit bloß nicht marktkorrigierende antikapitalistische Interessen die Steuerung der Wirtschaft an sich reißen können. Und dort, wo ökonomische Governance-Kompetenzen angesiedelt sind, sucht man die Demo­ kratie vergeblich.«69 Und noch einmal ist darauf hinzuweisen, dass es hier noch nicht einmal um die offensichtlich undemokratische Herrschaft der Troika geht, sondern um das allgemeine Haushalts­ regime der EU/WWU, dem jeder Mitgliedsstaat unterworfen ist und das den gewählten Parlamenten Entscheidungskompetenzen entzieht, um sie in die Hände der Kommission zu legen. Die Kom­ mission mag heute über etwas mehr demokratische Legitimation verfügen als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, aber es bleibt doch eine äußerst dünne, und womöglich ist dies auch kein Zufall. Damit kommen wir noch einmal auf Majone und sein Konzept des Regulationsstaates zurück. Majone hatte im Hinblick auf die EU und ihre früheren Inkarnationen zugunsten einer Delegierung bestimmter Kompetenzen an nicht-gewählte Institutionen wie die Kommission oder die EZB argumentiert, dass dadurch sogar die de­ mokratische Legitimation der EU insgesamt gestärkt werden kön­ ne, solange die in Frage stehenden Kompetenzen sich auf paretooptimale und nicht-redistributive politische Maßnahmen bezögen, wie etwa die Überwachung und Kontrolle von Produktstandards auf dem Binnenmarkt.70 Diese Argumentation mag vor der letzten Reformrunde etwas für sich gehabt haben, auch wenn sie schon 68 Streeck, »Heller, Schmitt and the Euro«, S. 365. 69 Ebd., S.  366. 70 Siehe Majone, »Rise of the Regulatory State«.

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damals umstritten war,71 aber es steht außer Frage, dass die neu­ en Kompetenzen nicht auf dieser Grundlage zu rechtfertigen sind. Majone ging von der Annahme aus, dass die Aufgaben regulativer Institutionen klar und eng definiert sind, und die diversen neuen Instrumente wie auch insbesondere die MIP weiten die Reichweite der Überwachungs- und Kontrollfunktion der Kommission erheb­ lich aus. Darüber hinaus beinhalten die Empfehlungen der Kom­ mission inhaltliche politische Maßnahmen und Reformen, die in ihren Auswirkungen alles andere als nicht-redistributiv sind, da ohne Frage manche Individuen und Gruppen davon profitieren, andere dagegen negativ betroffen sind. Daher hat sogar Majone selbst große Zweifel geäußert, ob die Legitimation der Kommissi­ ons-Agenda unter den neuen Bedingungen weiterhin als gegeben angesehen werden könne,72 und hierbei ist noch nicht einmal in Rechnung gestellt, dass die neuen Kompetenzen der Kommission sich auch auf Bereiche erstrecken, die ausdrücklich der nationalen Entscheidungsebene vorbehalten sind.73 Man muss zusammen­ fassend festhalten, dass die letzte institutionelle Reformrunde das bereits bestehende Demokratiedefizit massiv vergrößert hat. Mei­ ne Schlussfolgerung aus dieser Feststellung lautet nicht, dass die Kompetenzen wieder auf breiter Front an die nationalstaatliche Ebene zurückverlagert werden sollten, wenn dies auch punktuell angebracht sein kann. Bemerkenswert ist aber doch, wie viel Macht im Rahmen der aktuellen Mehrebenenstruktur der EU Institutio­ nen wie Kommission und EZB zukommt, die am weitesten sowohl elektoralem Einfluss als auch parlamentarischer Kontrolle entzo­ gen sind. Bestand eine der gravierendsten ordoliberalen Sorgen darin, dass die demokratischen Massen – oder auch nur gewählte Parlamente – zu viel Einfluss auf die Wirtschaftspolitik gewinnen könnten, dann muss man nüchtern feststellen, dass die Kompe­ tenzverteilung in der Eurozone von heute diese Sorge weitgehend gegenstandslos gemacht hat. 71 Siehe Andreas Follesdal, Simon Hix,«Why there is a Democratic Deficit in the EU: A Response to Majone and Moravcsik«, in: Journal of Common Market ­Studies 44 (2006), S. 533-562. 72 Siehe Giandomenico Majone, »From Regulatory State to a Democratic Default«, in: Journal of Common Market Studies 52 (2014), S. 1216-1223. 73 Siehe Martin Höpner, Florian Rödl, »Illegitim und rechtswidrig: Das neue makro­ ökonomische Regime im Euroraum«, in: Wirtschaftsdienst 92 (2011), S. 219-225.

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Blicken wir nun auf das dritte wichtige Element der politischen Theorie des Ordoliberalismus, die Wissenschaft und ihre Rolle im Verhältnis zur Politik. Wie wir wissen, setzte vor allem Eucken be­ trächtliche Hoffnungen in die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft, vorausgesetzt, sie würde in der richtigen Art und Weise betrieben, und dementsprechend postulierte er auch eine Pflicht, sich als Ex­ perte in den politischen Prozess mit einzubringen. Wirtschaftswis­ senschaftler und Juristen sollten nicht nur ihren Teil zur theore­ tischen Entwicklung der Wettbewerbsordnung beitragen, sondern auch dafür sorgen, dass der Einfluss der interessierten Parteien und gegebenenfalls auch der eines fehlgeleiteten Demos auf diesen Pro­ zess minimiert würden. Lässt sich behaupten, dass es in der EU nach Finanz- und Eurozonenkrise ein Äquivalent zu diesen tech­ nokratischen Vorstellungen gibt? Der Vorwurf der Technokratie ist natürlich nichts Neues in den Diskussionen über die EU und vor allem über das Wirken der Kommission. Aber hier geht es nicht um das Verbot von Glühbirnen und bestimmte Produktstandards für Staubsauger, sondern um eine womöglich weit problematische­ re Form der Technokratie, die eine Reihe von Kommentatoren wie etwa Jürgen Habermas bereits zur Warnung vor einem neuen »Sog der Technokratie« veranlasst hat.74 Durch das europäische Se­ mester und den jeweiligen präventiven Arm von Defizitverfahren und MIP erlangt die Kommission beträchtlichen Einfluss auf den politischen Prozess der Mitgliedsstaaten, und zwar nicht nur aus­ schließlich im Bereich der Fiskalpolitik. Schließlich beinhaltet das MIP-Scoreboard Indikatoren, die vom Trend der Immobilienprei­ se bis zu privaten Schuldenquoten und Lohnstückkosten reichen. Wann immer die Werte dieser Indikatoren eine bestimmte Schwel­ le über- oder unterschreiten, formuliert die Kommission entspre­ chend Empfehlungen und überwacht deren Umsetzung in ihren detaillierten Länderberichten. Bemerkenswert an vielen dieser In­ dikatoren ist die Tatsache, dass ihre Beeinflussung nach allgemeiner Meinung Maßnahmen in Politikbereichen erfordern würde, die eindeutig exklusive Domänen nationaler Politik sind, und zudem ist es überaus schwierig für politische Instanzen, Einfluss auf Im­ mobilienpreise oder auch Lohnstückkosten zu nehmen, wenn es etwa, wie in Deutschland, ein dezentralisiertes Tarifverhandlungs­ 74 Jürgen Habermas, Im Sog der Technokratie, Berlin 2013.

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system gibt. Am wichtigsten im vorliegenden Kontext ist aber, dass es wissenschaftlich überaus umstritten ist, wie etwa bestimmten Ungleichgewichten effektiv entgegenzuwirken wäre. Und was auch immer die entsprechenden Handlungsempfehlungen an die Adres­ se nationaler Regierungen sind, es wird sich sicherlich nicht um eine Form der rein regulativen Politik im Sinne Majones handeln. Es sind vor allem die beiden letzten Punkte, die im Mittelpunkt der aktuellen europäischen Debatte um einen mutmaßlichen tech­ nokratischen Sog stehen. Eucken, Rüstow und Friedman waren der Meinung, dass die Wissenschaft vor allem in Zeiten sozioöko­ nomischer Turbulenzen als ein Stabilitätsanker fungieren könnte, indem sie mit Verweis auf ihre dekontestatorische Autorität zu ei­ ner dringend erforderlichen Entpolitisierung bestimmter Materien beitragen könnte. Aber wenn die Umsetzung wissenschaftlicher Empfehlungen zu einer Lasten-Umverteilung führt und es noch nicht einmal einen belastbaren Konsens bezüglich der in Frage stehenden politischen Maßnahmen gibt, dann kann dies nicht anders denn als eine Form technokratischer Herrschaftsausübung bezeichnet werden, die dadurch gekennzeichnet ist, dass eminent und inhärent politische Fragen systematisch in rein technische An­ gelegenheiten umgedeutet werden, die vermeintlich auf rational entpolitisierte Art und Weise und auf Grundlage wohletablierter politisch-ökonomischer Einsichten der Wissenschaft geregelt wer­ den könnten. Die Politik der Austerität, um nur das offensicht­ lichste Beispiel anzusprechen, war und ist weder unumstritten unter den »Männern der Wissenschaft«, von denen im program­ matischen Text »Unsere Aufgabe« der Ordoliberalen die Rede war, noch ist sie nicht-redistributiv. Die Entscheidungsmacht über diese und andere Rezepte zur Bekämpfung von Krisensymptomen in die Hände der zweifellos äußerst kompetenten, aber doch auch äußerst dünn legitimierten Ökonominnen und Juristen der Kommission und der EZB zu legen, hätte zwar vermutlich die Zustimmung de­ rer gefunden, die 1936 ihre Entthronung beklagten, aber dennoch wächst dadurch vor allem die Legitimationslücke, die ohnehin in­ mitten des ordoliberalen Europas klafft, nur noch weiter. Natürlich hätten andere Neoliberale wie Hayek und womöglich auch Röpke Bedenken gegenüber dem geäußert, was Hayek vermutlich als die »Anmaßung von Wissen« und eine Art von Szientismus gebrand­ markt hätte, aber diejenigen auf der anderen Seite der Debatte über 320

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die (politische) Rolle der Wissenschaft, zu denen ja auch Eucken zählte, hätten vielleicht wohlwollender auf diese Arrangements ge­ blickt, die der Wissenschaft Einflussmöglichkeiten zu Lasten von gewählten Politikern und auch ihren Wählern gewähren. Um noch einmal Jens Weidmann zu zitieren, der in einem Interview mit der BILD-Zeitung 2016 darüber nachdachte, wie den europäischen Schuldenregeln nachhaltigere Wirkung verschafft werden könnte: »Zudem müssen die Haushaltsregeln mehr Biss bekommen. Da­ bei könnte ein unabhängiges Gremium helfen, das die nationalen Haushalte überwacht. In dem Gremium sollten Experten sitzen, keine Politiker.«75 Ein paar letzte Fragen sind noch offen: Inwieweit lassen sich die äußerst spezifischen und detaillierten Empfehlungen an einzelne Länder noch immer als Ausdruck einer regelbasierten Politik gemäß ordoliberalen Vorstellungen verstehen?76 Und inwiefern stellt der Kurs der EZB als »Anleihenkäuferin letzter Instanz«77 gewisserma­ ßen das Gegenteil einer solchen regelbasierten Politik dar, nicht zu­ letzt weil damit im Hinblick auf die Nichtbeistandsklausel womög­ lich nicht gegen den Buchstaben, aber doch gegen den Geist der Gesetze verstoßen wird? Gerade der letzte Punkt wird oft als eines der wichtigsten Beweisstücke präsentiert, wenn es darum geht, den Zerfall der europäischen Wirtschaftsverfassung und damit auch ei­ ner ordoliberalen Regierungsrationalität insgesamt zu belegen. Aus meiner Sicht reicht keiner der beiden Punkte aus, um die These der Ordoliberalisierung Europas zu widerlegen. Erstens kann natürlich durchaus die Frage gestellt werden – und gerade Jens Weidmann hat dies auch oft genug getan –, ob der Kurs der EZB kompatibel mit ordoliberalen Positionen ist, aber immerhin ist festzuhalten, dass Draghi selbst dies im Rahmen einer 2013 in Jerusalem gehaltenen Ansprache ausdrücklich bekräftigt hat: »In diesem Zusammenhang lohnt es sich, daran zu erinnern, dass die Währungsverfassung der EZB fest in den Prinzipien des ›Ordoliberalismus‹ verankert ist. […] Impliziert die Tatsache, dass wir im Rahmen unserer Operationen 75 Jens Weidmann, »Lohnt sich Sparen überhaupt noch? Interview mit der BILDZeitung«, in: BILD vom 26. 12. 2016. 〈https://www.bild.de/geld/mein-geld/jensweidmann/lohnt-sich-sparen-ueberhaupt-noch-49488690.bild.html〉. 76 Siehe Fritz Scharpf, Monetary Union, Fiscal Crisis and the Preemption of Democ­ racy, Köln 2011. 77 Sandbu, Europe’s Orphan, S. 158.

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einige Kreditrisiken in unsere Bilanzen aufnehmen, eine Verletzung unserer ordoliberalen Prinzipien? […] Meine Antwort lautet nein. […] Die Risiken, die wir im Rahmen unserer Operationen in unse­ re Bilanzen aufnehmen, sind kontrolliert, und wir nehmen sie auch nur insoweit auf, wie es strikt erforderlich ist, um die Preisstabilität zu gewährleisten.«78 Natürlich wäre es naiv, Draghis Einschätzung der Dinge einfach für bare Münze zu nehmen, aber es darf nicht vergessen werden, dass bislang die Aufgabe der EZB, für Preisni­ veaustabilität im Sinne einer Inflationsrate knapp unter zwei Pro­ zent zu sorgen, auch nicht durch ihre unorthodoxen Maßnahmen kompromittiert worden ist. Und im Gegensatz zu den Warnungen von Seiten Weidmanns und anderen, die erklangen, als die EZB ihren Kurswechsel vollzog, waren inflationäre Tendenzen noch nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Wenn überhaupt, dann gab es einen teils durchaus ernstzunehmenden Deflationsdruck, bedenkt man, dass die Inflationsrate zwischen 2012 und 2015 von knapp über zwei auf minus 0,5 Prozent fiel. Von daher erschien es durchaus angebracht, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Zuletzt gilt es auch, das Timing des EZB-Kurswechsels 2012 mit in Betracht zu ziehen. Schließlich war dies eine Zeit, zu der all die wichtigen strukturellen Reformen in Ländern wie Irland und Portugal und in einem gewissen Maße auch Griechenland bereits auf den Weg gebracht worden waren. Wie David Woodruff zeigt, hatte sich die EZB in mehreren Briefen an die jeweiligen Regierungen gewandt und die konsequente Umsetzung der erforderlichen Reformen an­ gemahnt. Weigerten sie sich, so würde die EZB dringend benötigte Notkreditlinien nicht mehr bereitstellen: »Die EZB-Führung droh­ te implizit oder explizit damit, ihre Hilfe zurückzuziehen, falls die Politiken oder institutionellen Veränderungen, die den Prioritäten von Frankfurt und Brüssel entsprachen (vor allem Arbeitsmarkt­ liberalisierung und fiskalische Sparmaßnahmen), nicht implemen­ tiert würden. Glaubwürdigkeit wurde diesen Drohungen durch die rigiden Regeln hinsichtlich des Mandats und der Unabhängigkeit der EZB wie auch der energischen deutschen Opposition […] ge­ gen eine Ausweitung des Mandats verliehen.«79 Woodruff gelangt 78 Mario Draghi, Opening Remarks at the Session ›Rethinking the Limitations of ­Monetary Policy‹ am 18. 6. 2013. 〈https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2013/ html/sp130618.en.html〉. 79 Woodruff, »Governing by Panic«, S. 98.

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letztlich zu der Einschätzung, dass EZB und deutsche Regierung in einer Art versteckter Allianz Hand in Hand miteinander agierten, und erst als beide das bekommen hatten, was sie wollten – Struk­ turreformen, Fiskalpakte etc. –, änderte die EZB ihren Kurs. Die expansive Geldpolitik – und natürlich der indirekte Beitrag zum Schuldendienst der Staaten – war der Preis, der für mehr oder strengere Regeln gezahlt werden musste: »Die institutionellen Ver­ änderungen entsprachen also vollständig dem Geist des Ordolibe­ ralismus, denn durch sie wurden die Regeln wie auch die Akteure, die ihnen unterworfen sind, so umstrukturiert, dass das Funktio­ nieren einer Marktwirtschaft erleichtert wurde und weitere diskre­ tionäre Eingriffsmöglichkeiten nicht mehr erforderlich und auch nicht mehr verfügbar waren.«80 Ein ähnliches Argument lässt sich im Hinblick auf die Frage vorbringen, ob die hochspezifischen Empfehlungen der Kommis­ sion im Gegensatz zur Vorstellung einer regelbasierten Politik ste­ hen. Diese Empfehlungen zielen im Prinzip darauf ab, sich selbst überflüssig zu machen, nämlich dann, wenn die diversen Volks­ wirtschaften so restrukturiert worden sind, dass sie an der Art von Wettbewerb teilnehmen können, der in der Wirtschaftsverfassung als wünschenswert festgeschrieben ist. Es steht zu bezweifeln, dass dies jemals passieren wird oder auch nur passieren könnte, aber si­ cherlich ist dies die Stoßrichtung der Strukturreformen, auf die die EZB und vor allem die Kommission gedrängt haben. Selbst wenn man also die entsprechenden Empfehlungen als diskretionäre Ein­ griffe interpretieren wollte, dann wären es immer noch Eingriffe, deren Ziel darin besteht, für einen regelgerechten Wettbewerb der Jurisdiktionen in der Zukunft zu sorgen. Die Ausnahme von der Regel ließe sich als Preis für ein besseres zukünftiges Funktionieren der Regeln rechtfertigen.81 Die Ordoliberalisierung Europas ist ein Prozess, der andauert, und die Wirtschaftsverfassung ist in vielerlei Hinsicht nach wie vor lückenhaft. Die Interventionen der Kommissionen wie auch der ESM müssen in diesem Zusammenhang als eine Konsequenz des kontinuierlichen ›Marktversagens‹ verstanden werden, das aus diesen nach wie vor bestehenden ökonomisch-konstitutionellen 80 Ebd. 81 Siehe ebd., S. 97.

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Unzulänglichkeiten resultiert: Weigern sich Staaten, ihre inneren politisch-ökonomischen Angelegenheiten in adäquater Weise zu regeln und entsprechende Reformen voranzutreiben, dann laufen sie Gefahr, ihre Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen und sogar letzt­ lich bankrottzugehen. Derzeit ist dies aus Sicht der Wettbewerbs­ ordnung noch immer ein sehr ernstes Problem, denn der ESM soll in diesen Fällen zwar an bestimmte Bedingungen geknüpfte Unterstützung gewähren, aber ein Land wie Italien übersteigt die Kapazitäten des Fonds. Zudem besteht eine gewisse Gefahr des moral hazard, auch wenn diese durch die strikte Konditionalität erheblich reduziert wird. Dementsprechend besteht das Kernpro­ blem aus ordoliberaler Perspektive darin, dass es nach wie vor keinen Mechanismus gibt, der beispielsweise Ländern wie Italien eine geordnete Insolvenz ermöglichen würde, ohne dadurch den Bestand der Eurozone zu gefährden. Gäbe es einen solchen Mecha­ nismus, müssten Länder nicht durch ESM-Hilfen gerettet werden, und sie müssten womöglich auch nicht durch die Institutionen von EU und WWU diszipliniert werden, denn der Markt würde dies regeln und die Ordoliberalisierung Europas wäre einen Schritt weiter. Schließlich bezieht sich die neo-/ordoliberale Problematik auf die Voraussetzungen funktionierender Märkte, und die grund­ legendste unter diesen Bedingungen besteht in der Möglichkeit des Ausscheidens aus dem Markt, und zwar sowohl für private Akteu­ re wie auch für Nationalstaaten. Wie Eucken in den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik schreibt: »Wenn man die Konsequenzen des Kollektivismus nicht will, dann muss man wollen, dass das Gesetz des Wettbewerbs herrscht. Und wenn der Markt herrschen soll, dann darf man sich auch nicht weigern, sich ihm anzupassen.«82 Wir müssen also abschließend feststellen, dass die politische Theorie des Neoliberalismus und vor allem die Elemente, auf die wir uns konzentriert haben, weit davon entfernt sind, rein theoreti­ sche Entwürfe ohne jede Bedeutung für die Welt des real existieren­ den Neoliberalismus zu sein. Wie gezeigt wurde, sind es vor allem die Vorstellungen des Euckenschen Ordoliberalismus, die mit einer ganzen Reihe von Strukturelementen der Governance von EU und Eurozone korrespondieren. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass diese Strukturen inkompatibel mit den Vorstellungen anderer 82 Eucken, Grundsätze, S. 371.

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Neoliberaler sind, denkt man etwa an den Fiskalpakt und die dar­ in enthaltenen konstitutionellen Schuldenbremsen, die den For­ derungen nach einer konstitutionellen Vorkehrung zur Sicherung ausgeglichener Haushalte äußerst nahe kommen, die Buchanan so unermüdlich vorbrachte. Klar ist aber auch, dass europäische In­ stitutionen und Politik nicht auf eine ordoliberale Wirtschafsver­ fassung reduzierbar sind. Die politische Wirklichkeit entspricht nie exakt irgendwelchen theoretischen Entwürfen, denn diese Realität ist der Austragungsort von Kontestationen und Kämpfen zwischen rivalisierenden politischen Projekten. Was ich zu zeigen versucht habe, ist, dass es eine wahrnehmbare Tendenz in Richtung einer Ordoliberalisierung Europas im Sinne der Etablierung einer Wett­ bewerbsordnung für Volkswirtschaften und der Durchsetzung ih­ rer Regeln auch gegen den expliziten Widerstand einzelner Mitglie­ der gibt. Darüber hinaus entspricht die Art und Weise, wie diese Wettbewerbsordnung regiert wird, in vielerlei Hinsicht den Vor­ stellungen, die sich im ordoliberalen Denken und insbesondere im Werk von Eucken finden, was die Rolle von Staat, Demokratie und Wissenschaft angeht. Die angemessene Reaktion auf diese Tendenz besteht meiner Ansicht nach nicht im Versuch, die europäisierten Kompetenzen in der Finanzpolitik wieder auf die Ebene der Einzel­ staaten zurückzuverlagern und die Rückabwicklung der Eurozone zu betreiben. Die Wettbewerbsordnung Europas muss stattdessen repolitisiert und, genauer gesagt, demokratisiert werden. Mit ande­ ren Worten, sie muss entordoliberalisiert werden. Wie genau dies geschehen sollte und was die erfolgversprechendsten Strategien sind, wäre Gegenstand einer eigenen Studie. Ich habe mich hier auf die Ebene von Analyse und Diagnose beschränkt, die mich zu folgender abschließender Einschätzung führt: Gelingt es Europa nicht, seine Willensbildungsprozesse zu re-demokratisieren und ei­ nige seiner Institutionen zu politisieren, dann besteht eine nicht zu unterschätzende Gefahr, dass seine Ordoliberalisierung immer wei­ ter voranschreitet. Aber in einer Welt der Ungewissheit ist nichts in Stein gemeißelt.

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8. Epilog In den vergangenen Jahren sind es insbesondere zwei Entwick­ lungen, die neue Fragen hinsichtlich des real existierenden Neoli­ beralismus und der Bedeutung neo- und ordoliberaler Diskurse aufgeworfen haben. Es handelt sich erstens um das Aufkommen beziehungsweise Erstarken dessen, was gemeinhin als (Rechts-)Po­ pulismus bezeichnet wird und sowohl in der akademischen als auch der breiteren gesellschaftlichen Debatte nach wie vor kontrovers dis­ kutiert wird. Nicht nur die normative Einordnung des Phänomens, auch die Erklärung seiner Ursprünge sind bis heute umstritten, was nicht zuletzt für den Begriff des Populismus an sich gilt. Zweitens handelt es sich um die Corona-Pandemie, die seit Anfang des Jahres 2020 beinahe alle gesellschaftlichen Subsysteme von der globalen bis zur lokalen Ebene unter Stress gesetzt hat und die auf absehbare Zeit ein signifikanter Faktor für eine Vielzahl von Politikbereichen, ins­ besondere für die Sphäre der politischen Ökonomie bleiben wird. Nun kann es hier natürlich nicht darum gehen, beide Phänomene in all ihren vielfältigen Aspekten zu diskutieren, vielmehr sollen ei­ nige pointierte Überlegungen dahingehend angestellt werden, wel­ che Implikationen sie für die Argumente und Thesen dieser Studie haben. Dies scheint insofern dringend geboten, als die Implikatio­ nen zumindest aus der Sichtweise mancher Kommentatoren darin bestehen sollen, dass sie jene Thesen und Argumente gewisserma­ ßen obsolet machen: Denn sowohl das Aufkommen des Populis­ mus als auch der Ausbruch der Pandemie sind mitunter als Zäsur ­interpretiert worden, die das Ende des Neoliberalismus einläute. Nun ist diese Art von politisch-intellektuellen Todesanzeigen gerade im Zusammenhang mit dem Neoliberalismus alles andere als neu. Im Gefolge der Finanzkrise war immer wieder die Rede vom unmittelbar bevorstehenden Kollaps des Neoliberalismus, der sich als politökonomisches Paradigma der selbstregulierenden (Fi­ nanz-)Märkte disqualifiziert habe und angesichts der Auszehrung seiner intellektuellen Substanz nur noch ein Zombiedasein friste.1 1 Jamie Peck, »Zombie Neoliberalism and the Ambidextrous State«, in: Theoretical Criminology 14 (2010), S. 104-110.

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Doch bekanntlich wurde die Silberkugel, um dem zerstörerischen Weitertaumeln dieses politökonomischen Untoten ein Ende zu bereiten, nicht gefunden, und so ist das Genre der Neoliberalis­ musforschung reich an Titeln, die sich auf den immer wieder ange­ kündigten, ja sogar beschworenen Tod des Neoliberalismus bezie­ hen, der dann aber doch nicht eintrat.2 Obwohl dementsprechend Skepsis geboten ist, wenn der Neoliberalismus – nun aber endgül­ tig – für klinisch tot erklärt wird, können diese Befunde nicht ein­ fach abgetan werden, sondern sind auf ihre allgemeine Stichhaltig­ keit und vor allem auch auf die Implikationen im Hinblick auf die Kontexte, die in der vorliegenden Studie im Mittelpunkt standen, hin zu untersuchen. Blicken wir also zunächst auf den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Populismus, wobei wir uns hier auf seine rechtsnationalistische Variante konzentrieren können, da der Zu­ sammenhang zwischen Linkspopulismus und Neoliberalismus kei­ ne allzu großen Rätsel aufgibt.3 Allerdings ist hier eine konzeptio­ nell semantische Vorbemerkung vonnöten, die den umstrittenen Begriff des (Rechts-)Populismus betrifft. Zwar wurde im Laufe der vorliegenden Studie auch en passant diese Begrifflichkeit verwendet, aber im Lichte der akademischen Debatten der letzten Jahre und vor allem auch der politischen Entwicklungen halte ich es für ange­ brachter, von Autoritarismus zu sprechen. Dafür spricht grundsätz­ lich, dass der Begriff von einer solchen Unschärfe gekennzeichnet ist, dass dagegen die mit dem Neoliberalismus verbundenen be­ grifflich definitorischen Probleme als geradezu geringfügig erschei­ nen. Zudem scheinen mir viele, wenn auch sicherlich nicht alle der vorgeschlagenen Definitionen und damit verbundenen Theorien4 darauf hinauszulaufen, dass sich rechtspopulistische Projekte in ers­ ter Linie gegen ein pluralistisches Demokratieverständnis wenden, und damit handelt es sich um Formen des Autoritarismus. Zwar verfügen wir bislang nicht über eine vollausgearbeitete Theorie des 2 Siehe etwa Crouch, The Strange Non-Death of Neoliberalism; Plehwe/Slobodian/ Mirowski, Nine Lives of Neoliberalism. 3 Siehe zu den politökonomischen Bestimmungsgründen rechts- und linkspopu­ listischer Ausprägungen die erhellende Studie von Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018. 4 Siehe hierzu den hervorragenden Überblick in Dirk Jörke, Veith Selk, Theorien des Populismus zur Einführung, Hamburg 2017.

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Autoritarismus, auf die sich hier verweisen ließe, aber in den letzten Jahren ist sowohl in der politischen Theorie als auch in der verglei­ chenden Politikwissenschaft eine Vielzahl von Studien erschienen, die Anlass zu der Einschätzung geben, dass es sich hier um die aus­ sichtsreichere begrifflich konzeptionelle Alternative handelt.5 Zwar wird im weiteren Verlauf als Konzession an den vorherrschenden Sprachgebrauch in den diskutierten Positionen noch von Populis­ mus die Rede sein, grundsätzlich halte ich hier aber einen sprachli­ chen Strategiewechsel für angebracht. Die Diskussion über das Verhältnis von Autoritarismus und Neoliberalismus lässt sich in drei Phasen unterteilen, deren früheste bis zur Jahrtausendwende zurückreicht, als sich Chantal Mouffe in einigen wegweisenden Arbeiten mit der ersten Welle des europäi­ schen Rechtspopulismus befasste. In ihrer Argumentation lastete sie das Aufkommen populistischer Akteure der ›neuen‹ Sozialde­ mokratie von Clinton bis Schröder an.6 Mit ihrer zentristischen Po­ litik, die im Wesentlichen zu einer Entpolitisierung des Politischen geführt habe, hätten sie dem Aufkommen rechtspopulistischer Be­ wegungen den Weg geebnet, die dieser Politik zwischen Konsens und Alternativlosigkeit den Kampf angesagt hätten. An dieses Nar­ rativ konnte die zweite Phase der Diskussion anschließen, die sich auf das augenfällige Erstarken des zeitgenössischen Autoritarismus bezog, zu dessen Illustrierung die Stichworte Trump, Brexit, Front National (heute Rassemblement National), FPÖ, AfD und La Lega im Hinblick auf den nordatlantischen Kontext mittlerweile aus­ reichen dürften. So wurden sowohl der Brexit als auch die Wahl Donald Trumps schon sehr bald als die oben erwähnten Zäsuren gedeutet, mit denen der Neoliberalismus in den Vereinigten Staa­ ten beziehungsweise dem Vereinigten Königreich vor seinem Ende stehe.7 Dieser Phase der Diskussion lag zumindest implizit die An­ 5 Siehe hierzu exemplarisch im Bereich der politischen Theorie Wendy Brown, Peter Gordon, Max Pensky, Authoritarianism: Three Inquiries in Critical Theory, Chica­ go 2018, und in der vergleichenden Politikwissenschaft Steven Levitsky, Competitive Authoritarianism: Hybrid Regimes after the Cold War, Cambridge 2011. 6 Siehe Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London 2000. 7 Siehe im Hinblick auf die US-amerikanischen Wahlen Cornel West, »Goodbye, American Neoliberalism. A New Era is here«, in: The Guardian, 17. 11. 2016, und im Hinblick auf die Brexit-Entscheidung Martin Jacques, »The Death of Neo­ liberalism and the Crisis of Western Politics«, in: The Guardian, 21. 8. 2016.

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nahme zugrunde, dass zwischen Neoliberalismus und Rechtspopu­ lismus ein geradezu dichotomisches Verhältnis bestehe und Letzte­ rer den Ersteren nun zusehends marginalisiere. Das Narrativ dieser Perspektive lässt sich in Anlehnung an die berühmten Formulie­ rungen bei Marx so zusammenfassen, dass der Neoliberalismus sei­ ne eigenen Totengräber in Form von populistischen Akteuren von rechts wie von links produziert hat, die ihn nun als hegemoniale gesellschaftliche Kraft ablösten. Doch schon bald ging die Diskussion in eine dritte Phase über, die von Nancy Fraser eingeleitet wurde, die zwar angesichts der Entwicklungen im nordatlantischen Raum ebenfalls die »Implosi­ on der neoliberalen Hegemonie« verzeichnete, diesen Befund aber insofern präzisierte, als es den Anhängern Trumps nur um die Ab­ kehr von einem »progressiven Neoliberalismus« gehe.8 In der Folge wurde diese dritte Phase zusehends stärker geprägt von Perspek­ tiven, die die Artikulationspotentiale zwischen Neoliberalismus und Autoritarismus betonten, wie sie etwa in den Arbeiten von Melinda Cooper, Wendy Brown, Quinn Slobodian und Grégoire Cha­mayou dargelegt werden.9 Die folgenden Überlegungen schlie­ ßen an diese letztgenannten Positionen an und wenden sich gegen die Vorstellung eines strikt dichotomischen Gegensatzes zwischen Autoritarismus und Neoliberalismus, wobei sofort hinzuzufügen ist, dass hier auch nicht die umgekehrte Vorstellung vertreten wer­ den soll, dass Autoritarismus und Neoliberalismus inhärent und notwendig miteinander verknüpft sind. Im Gegensatz zu diesen Maximalthesen geht es vielmehr darum, die Korrespondenzen zwi­ schen beiden herauszuarbeiten und gegenseitige Andockpunkte zu identifizieren, ohne Neoliberalismus und Autoritarismus ineinan­ der aufgehen zu lassen. Diese Verhältnisbestimmung kann auf zweierlei Weise vorge­ 8 Fraser, »The End of Progressive Neoliberalism«; siehe auch Nancy Fraser, The Old is Dying and the New Cannot Be Born: From Progressive Neoliberalism to Trump and Beyond, London 2019. 9 Siehe Wendy Brown, In the Ruins of Neoliberalism: The Rise of Antidemocratic Pol­ itics in the West, New York 2019; Melinda Cooper, Family Values: Between Neoliberalism and the New Social Conservatism, New York 2017; Quinn Slobodian, »Neoliberalism’s Populist Bastards«, in: Public Seminar 2018, 〈http://www.pub licseminar.org/2018/02/neoliberalisms-populist-bastards/〉; Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft.

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nommen werden. Zum einen kann empirisch untersucht werden, inwieweit sich als neoliberal charakterisierbare Elemente in den politökonomischen Positionen finden lassen, die von autoritären Akteuren vertreten werden. Zum anderen kann das neoliberale Denken auf seine Affinitäten in Richtung einer autoritären Politik hin untersucht werden. Beide Vorgehensweisen sollen hier verfolgt werden, wobei der begrenzte Rahmen dieses Epilogs es erforderlich macht, dass dies auf sehr komprimierte und selektive Art und Wei­ se erfolgen muss.10 Blicken wir also zunächst auf eine kleine Auswahl autoritärer Akteure und versuchen zu klären, inwieweit sich eine neoliberale Ausrichtung ihrer Politik nachweisen lässt. Diese Auswahl erklärt sich nicht nur durch ihre Prominenz, sondern auch, weil zumin­ dest in drei Fällen die entsprechenden Akteure auch in Regierungs­ verantwortung waren und sind und wir uns daher nicht allein auf Parteiprogramme verlassen müssen, deren Papier bekanntlich sehr geduldig ist. Dies muss beim vierten Fall, der AfD, offensichtlich in Rechnung gestellt werden, der hier aber dennoch diskutiert wer­ den soll, da er offensichtlich im deutschsprachigen Kontext von großem Interesse ist. Begeben wir uns also auf eine kurze Tour d’Horizon, beginnend mit Italien, dessen Fall zunächst recht eindeutig zu belegen scheint, dass es gerade keine Affinität, sondern eine klare Gegnerschaft zwi­ schen Autoritarismus und Neoliberalismus gibt. Denn war es nicht die seinerzeitige italienische Koalitionsregierung aus Fünf-SterneBewegung und La Lega, die vehement das europäische Austeritäts­ regime kritisierte und diesen Worten zunächst auch Taten folgen ließ, indem sie der Kommission Budgetpläne vorlegte, die keines­ wegs den Regeln des Stabilitätspaktes entsprachen? Und tatsäch­ lich kann es in diesem Fall auch keinen Zweifel geben, dass diese Position uneingeschränkt von La Lega und nicht nur vom Koali­ tionspartner vertreten wurde, denn schließlich wetterte Parteichef Matteo Salvini am lautesten gegen die EU, und der wirtschaftspo­ litische Mentor und Sprecher der Partei, Claudio Borghi, bestätig­ te noch bis kurz vor dem Auseinanderbrechen der Koalition, dass La Lega im Falle einer absoluten Mehrheit in den Neuwahlen, die Salvini seinerzeit provozieren wollte, den Austritt Italiens aus der 10 Siehe zum Folgenden ausführlicher Thomas Biebricher, »Neoliberalism and Au­ thoritarianism«, in: Global Perspectives 1 (2020).

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Eurozone zu vollziehen gedenke. Doch selbst dieser grundsätzlich überzeugende Beleg für den Gegensatz von Autoritarismus und Austeritätsneoliberalismus relativiert sich etwas, bedenkt man, dass die italienische Regierung letztendlich ein Budget vorlegte, dass nur minimal die festgelegten Defizitgrenzen überschritt. Vor allem aber war die Europa- und Finanzpolitik nicht der einzige wirtschaftspolitische Bereich, in dem die Partei sich positionierte. Vielmehr war die höhere Schuldenaufnahme vorgesehen, um das steuerpolitische Prestigeprojekt Salvinis gegenzufinanzieren, das in der Einführung einer Flat Tax bestand. Nun lässt sich über die De­ tails dieser Reform, zu der es aufgrund des Regierungswechsels nie kam, nur spekulieren, aber grundsätzlich deutet das Bekenntnis zu einer solchen Einheitssteuer darauf hin, dass die autoritäre La Lega keine grundsätzlichen Berührungsängste mit neoliberalen Vorstel­ lungen etwa im Hinblick auf die Fiskalpolitik hat. Schließlich han­ delt es sich bei der Einheitssteuer um einen der seltenen Fälle, in denen sich spezifische policies recht unkompliziert an neoliberale Vorstellungen zurückbinden lassen, findet sich die Idee doch ne­ ben dem Vorschlag einer negativen Einkommenssteuer schon in Friedmans Kapitalismus und Freiheit, der in einem Interview von 1972 bekannte: »Ich bin zu der Schlussfolgerung gelangt, dass das beste Steuersystem ein Einheitssteuersatz auf alle Einkommen ohne irgendwelche Absetzmöglichkeiten wäre.«11 Es zeigt sich also, dass selbst in die Agenda einer stramm nationalistisch-autoritären Par­ tei wie La Lega neoliberal geprägte Politikvorstellungen Eingang finden können. Blicken wir etwas weiter nach Norden, so sehen wir im Fall Österreichs ein etwas anderes Muster der selektiven Appropriation neoliberaler Vorstellungen. Sozialpolitisch wird die Agenda unter dem schwarz-türkisblauen Regierungsbündnis aus Freiheitlicher Partei Österreichs und der zur Liste Kurz zusammengeschrumpften Österreichischen Volkspartei oft mit dem Begriff des Sozialchauvi­ nismus zusammengefasst. Doch es wäre unzutreffend, hieraus auf eine Art nativistisch gekehrte pseudo-sozialdemokratische Politik zu schließen. Was wirtschafts- und steuerpolitisch im Vordergrund stand, waren wie in Italien Steuersenkungen, und zwar auf allen Ebenen, womit auch hier der Supply-Side-Neoliberalismus im Sin­ 11 Milton Friedman, »Milton Friedman Responds. A Business and Society Review Interview«, in: Business and Society Review 1 (1972), S. 1-16.

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ne der Reaganomics als Modell erkennbar wird, was in den ent­ sprechenden Passagen des FPÖ-Programms bestätigt wird.12 Die Kombination aus Steuersenkungen und Bekenntnis zur Schul­ denbremse impliziert zwangsläufig und trotz allem vermeintlichen Sozialchauvinismus eine Aufgaben- und Verantwortungsverschie­ bung vom Staat auf responsibilisierte Individuen im Namen der Austerität, in der sich unschwer eine Vielzahl der Vorstellungen wiedererkennen lässt, die hier im Zuammenhang mit neoliberaler Theorie und Praxis erläutert wurden.13 Die USA galten zu Beginn der Trump-Administration als Kan­ didat für die Abkehr vom Neoliberalismus im Namen einer Kom­ bination aus ökonomischem Nationalismus und Sozialchauvinis­ mus, und was den ersten Punkt angeht, wird man sicher feststellen müssen, dass der etwa mit China angezettelte Handelskrieg und die damit verbundenen protektionistischen Maßnahmen nicht ohne weiteres mit den Freihandelsvorstellungen, die im neoliberalen Denken in fast allen Varianten eine überragende Rolle spielen, ver­ einbar sind. Doch wäre es vorschnell, die Schlussfolgerung zu zie­ hen, dass sich die Vereinigten Staaten grundsätzlich auf dem Weg in den handelspolitischen Isolationismus befinden. Sicherlich for­ dert die amerikanische Handelspolitik mit großer Vehemenz besse­ re Konditionen für die heimische Wirtschaft ein und setzt dafür die eigene ökonomische Potenz als Druckmittel ein. Doch dies bedeu­ tet noch nicht, dass man sich auf reinen Protektionismus verlegt, und es bedeutet noch nicht einmal die prinzipielle Abkehr vom Multilateralismus: Das im Wahlkampf vielgescholtene NAFTAAbkommen wurde zwar aufgekündigt – aber nur um ein neues Abkommen mit (minimal) besseren Bedingungen für die USA zu verhandeln. Und vor allem handelt es sich bei diesem allgemeinen handelspolitischen Muster keineswegs um ein Novum; auch die Reagan-Administration agierte recht robust bei der Verhandlung von Handelsabkommen, und auch sie focht einen veritablen Han­ 12 »Niedrige Steuern und Leistungsanreize sind Voraussetzungen für ein erfolg­ reiches Wirtschaften […]. Sie sind Subventionen und Umverteilungen vorzu­ ziehen.« FPÖ, Parteiprogramm der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) (2011), 〈www.fpoe.at/test/parteiprogramm/〉. 13 Siehe Bruno Rossmann, Markus Rohringer, »Die Budgetpolitik nach der poli­ tischen Wende – damals und heute«, in: Emmerich Tálos (Hg.), Die SchwarzBlaue Wende in Österreich. Eine Bilanz, Wien 2019, S. 169-193.

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delskrieg aus, nur dass der Gegner damals nicht China, sondern Japan hieß.14 Will man also daran festhalten, die Außenwirtschafts­ politik unter Reagan als neoliberal zu kennzeichnen, dann wird man dieses Label der Trumpschen Politik in diesem Bereich kaum verwehren können. Die Reaganomics sind auch der Bezugspunkt für das einzig wirkliche legislative Projekt der Trump-Administration im Bereich der Wirtschaftspolitik, das in der Steuerreform von 2017/2018 be­ stand, deren Parallelen zu Reagans Steuersenkungspolitik sich auch auf eine geradezu kuriose personelle Kontinuität erstrecken. Es ist nämlich Arthur Laffer, der Reagan seinerzeit den Sinn von Steu­ ersenkungen erklärt haben soll, indem er die sogenannte LafferKurve auf eine Serviette malte, der auch die Trump-Administration bei ihren Steuerreform-Plänen beriet, in der Folge Vorsitzender des ökonomischen Expertenrats der Regierung wurde und Anfang 2019 sogar die Presidential Medal of Honor erhielt – womöglich auch für seine bezeichnenderweise Trumponomics betitelte Lob­rede auf die Wirtschaftspolitik der Regierung.15 Zuletzt sind es auch die Effekte der beiden Steuerreformen aus dem Geiste des SupplySide-Neoliberalismus, die unbestreitbare Parallelen aufweisen: Die Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende führten in beiden Fällen zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheit – und ließen im Gegensatz zu den Voraussagen Laffers das Haushaltsde­ fizit explodieren, was damals wie heute wiederum keineswegs der reinen Lehre der meisten hier diskutierten Varianten des Neolibe­ ralismus entspricht und in den 1980er Jahren bereits harsche Kritik an der Regierung von Seiten Buchanans provoziert hatte. Wenden wir uns abschließend in aller Kürze dem Fall der AfD zu, der aber aus den erwähnten Gründen nur begrenzt eine solide Einschätzung ermöglicht, nicht zuletzt auch deshalb, weil es inner­ halb der Partei einen schon seit Jahren mehr oder weniger offen aus­ getragenen Konflikt über die Ausrichtung in der Wirtschafts- und vor allem Sozialpolitik gibt, dessen Ausgang nach wie vor unklar ist. Ist dementsprechend also Zurückhaltung bei der Beurteilung ange­ zeigt, muss doch festgehalten werden, dass das AfD-Parteiprogramm 14 Siehe Randi Rodrick, »Trump’s Tariff: How it compares with Reagan’s Trade Pol­ icy«, in: International Economy 32 (2018). S. 40-41. 15 Stephen Moore/Arthur Laffer, Trumponomics. Inside the America First Plan to Revive our Economy, New York 2018.

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in den einschlägigen Kapiteln nicht mit neoliberalen und vor allem ordoliberalen Bezugnahmen geizt. Natürlich hat dies auch etwas mit den Personen und Milieus zu tun, die die AfD in ihrer Grün­ dungsphase prägten. Konrad Adam, Olaf Henkel, Joachim Starbat­ ty, Bernd Lucke und viele andere fühlten sich mehr oder weniger dezidiert dem Neo- und Ordoliberalismus verpflichtet, und schließ­ lich wurde die Partei ja ursprünglich aus Protest gegen die vermeint­ lich viel zu konziliante Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung gegründet. Da sich auch im Rahmen des Wahlprogramms von 2017 keine größere Neuakzentuierung erkennen lässt, spricht vieles dafür, dass es in der AfD zumindest immer noch ein Kontingent derer gibt, die für eine neo- beziehungsweise ordoliberale Verortung in Wirt­ schafts- und Sozialpolitik optieren, wozu nicht zuletzt die Vorsit­ zenden Alice Weidel und Jörg Meuthen zu rechnen sein dürften. So bekennt man sich, wenig überraschend, zur Schuldenbremse, geht aber sogar noch einen Schritt weiter mit der Forderung nach der Ins­ tallierung einer »Abgabenbremse« im Grundgesetz.16 In Verbindung mit der Forderung nach einem Steuerstufentarif, der den Progressi­ onseffekt reduzieren würde und de facto Steuersenkungen zur Folge hätte, läuft auch dieses Gesamtpaket auf Austerität hinaus. Entspre­ chend wird das Ideal des ›schlanken Staates‹ beschworen, den man weiter »verschlanken und effizienter«17 machen müsse. Dass neben all den inhaltlichen Forderungen, die sich recht mühelos im neoli­ beralen Gedankenkosmos verorten lassen, im Grundsatzprogramm zudem ausdrücklich auf die ordoliberale Tradition und ihre Vertre­ ter von Röpke über Eucken bis Müller-Armack als Grundlage für die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Partei verwiesen wird, darf aus den genannten Gründen keinesfalls überbewertet, aber eben auch nicht unterschlagen werden.18 Die Schlussfolgerung aus diesen kurzen Skizzen lautet, dass es bei allem Eklektizismus der politischen Positionen im Bereich der Wirtschafts-, Finanz-, aber auch Arbeitsmarktpolitik klar erkenn­ bare neoliberale Anleihen gibt. Damit soll keineswegs geleugnet werden, dass sich die autoritären Agenden auch aus anderen, antineoliberalen Quellen speisen, aber es belegt, dass von einer strikten 16 AfD, Unser Programm zur Bundestagswahl 2017, S. 50. 17 Ebd., S. 17, 53. 18 Siehe AfD, Programm für Deutschland. Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland (2016), S. 137.

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Gegnerschaft zum Neoliberalismus von Seiten der Autoritären kei­ ne Rede sein kann. Blicken wir nun aus der entgegengesetzten Frageperspektive auf dieses Verhältnis und loten die autoritären Potentiale des neolibe­ ralen Denkens aus. Bei dieser Aufgabenstellung können wir uns in hohem Maße auf die schon an verschiedenen Stellen in dieser Stu­ die herausgearbeiteten Punkte stützen, die auf unterschiedlichen Ebenen die entsprechenden Affinitäten belegen. Diese reichen von den Forderungen nach dem starken Staat über die bemerkenswerten Anstrengungen, die unternommen werden, um Totalitarismus und Autoritarismus zu unterscheiden, und letztlich eine Art Normalisie­ rung des Letzteren bewirken, bis hin zum mehr oder weniger weit­ reichenden Engagement in der Politikberatung illiberal-undemo­ kratischer Regime von Pinochet in Chile bis zu Salazar in Portugal. Ein weiterer Punkt muss hier aber noch einmal ausdrücklich betont werden, da er meiner Ansicht nach eine nicht zu unterschät­ zende Rolle im Verhältnis von Neoliberalismus und Autoritaris­ mus spielt. Wie in Kapitel 5 erläutert, haben alle hier diskutierten Vertreter des neoliberalen Denkens große Schwierigkeiten, eine konsistente Theorie neoliberaler (Reform-)Politik zu entwickeln, die sich nicht in Paradoxien verfängt, die eigenen theoretischen Grundannahmen verletzt und/oder nur außerhalb des Rahmens liberaler Demokratie umgesetzt werden könnte. Es wurde darauf hingewiesen, dass das Idiom des neoliberalen Diskurses an dieser Stelle typischerweise ins Theologische kippt, wenn von säkulari­ sierten Heiligen und Konversionserlebnissen die Rede ist. Doch was ist das säkulare politische Äquivalent dieser zutiefst eschatolo­ gischen Hoffnung auf die Umkehrung der Verhältnisse, des Bruchs mit dem Immergleichen und der Phantasien einer – wenn auch konstitutionellen – Revolution? Es ist der Traum davon, die gordi­ schen Knoten der liberalen Demokratie zu zerschlagen und endlich jemand mit »starkem Besen« den »Saustall ausmisten« oder auch den »Sumpf trockenlegen« zu lassen, zu dem der parlamentarische Betrieb verkommen sei. Bekanntlich handelt es sich bei der letzten Formulierung um eine Kampfansage Donald Trumps; der »Zucht­ meister«, der mit seinem Besen den Saustall der Politik ausmistet, wird vom AfD-Politiker Björn Höcke herbeigesehnt.19 Natürlich 19 Zitiert nach Hajo Funke, »Höcke will den Bürgerkrieg«, in: Die Zeit, 24. 10. 2019.

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soll damit nicht suggeriert werden, dass Röpke auf einen Höcke, Hayek auf einen Boris Johnson und Buchanan auf einen Trump gehofft hätte, aber letztendlich läuft die Vorstellung neoliberaler Politik in Ermangelung von Alternativen auf die Art von Politik hinaus, von der die autoritären Führungsfiguren behaupten, dass sie bereit und in der Lage sind, sie umzusetzen.20 Die Politik des Autoritarismus ist das Monster, das der neoliberale Frankenstein erschaffen hat, wie es Wendy Brown formuliert.21 Und auch wenn man dies den intellektuellen Vordenkern vergangener Zeiten nicht unbedingt unterstellen will, so scheinen doch zeitgenössische Neo­ liberale sogar Gefallen an diesem Monster zu finden: In einem Gastbeitrag für das Wall Street Journal sprach sich der scheiden­ de Präsident der Mont Pèlerin Society John Taylor in einem recht flammenden Plädoyer für die Wiederwahl Donald Trumps aus: Dessen Wirtschaftspolitik habe das unmöglich Geglaubte möglich gemacht und dem Land bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie ungeahnte Wohlstandzuwächse verschafft.22 Damit sind wir beim zweiten Punkt angelangt, der im Rahmen dieses Epilogs zumindest skizzenhaft und in aller Vorläufigkeit zu erläutern ist, der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen. Galt der Autoritarismus manchen Kommentatoren als Totengräber des Neoliberalismus, so wurden auch im Hinblick auf die Pandemie schnell Stimmen laut, die nun den bevorstehenden Untergang des Neoliberalismus diagnostizierten oder doch zumindest befanden, dass er jetzt »ausgedient« habe, wie es Klaus Schwab formulierte, der immerhin der Gründer des World Economic Forum ist, wel­ ches bis in die jüngste Vergangenheit massiv vom Geist des Neoli­ beralismus umweht war.23 Nun lassen sich hier natürlich nicht die Auswirkungen der Pandemie auf den Neoliberalismus im Ganzen erläutern; fokussieren wir vielmehr auf den Kontext, der im zwei­ 20 Wobei etwa im Fall Trump die Recherchen der New York Times zeigen, dass der Sumpf nur noch sehr viel tiefer wurde. Siehe »The Swamp that Trump Built«, in: New York Times, 10. 10. 2020. 21 Brown, In the Ruins, S. 10. 22 Siehe John Cogan, John Taylor, »Trump’s Economic Dream Come True«, in: Wall Street Journal, 6. 10. 2020. 23 Siehe Klaus Schwab, »Der Neoliberalismus hat ausgedient«, in: Die Zeit, 21. 9.  2020. 〈https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-09/corona-kapitalismus-rezession-wefneoliberalismus-klaus-schwab?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google. com%2F〉.

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ten Teil dieser Studie im Mittelpunkt stand, und fragen, welche Folgen die Corona-Krise für die Europäische Union hat, deren zu­ nehmende Ordoliberalisierung im Gefolge der Eurozonenkrise hier diagnostiziert wurde. Bis zum Ausbruch der Krise hatte sich an der allgemeinen insti­ tutionellen Konstellation, die zu dieser These Anlass gab – welche im Übrigen mittlerweile Gegenstand ausgedehnter Diskussionen ist24 –, kaum etwas geändert.25 Zwar unternahm Präsident Ma­cron beginnend mit seiner Sorbonne-Ansprache im September 2017 mehrere Anläufe, wieder Bewegung in den europäischen Integra­ tionsprozess zu bringen, um die hier erläuterten Asymmetrien der WWU zumindest abzumildern, doch diese Avancen ließ die deut­ sche Bundesregierung einigermaßen erwartungsgemäß ins Leere laufen. Und auch noch zu Beginn der Pandemie, als sich abzuzeich­ nen begann, dass der ökonomische Schaden zum einen gigantisch und zum anderen innerhalb Europas äußerst ungleich verteilt sein würde, schien es, als ob die Reaktion den gut eingeübten Choreo­ graphien der Eurozonenkrise folgen würde, in denen die üblichen 24 Siehe hierzu exemplarisch etwa Josef Hien, Cristian Joerges (Hg.), Ordoliberal­ ism, Law and the Rule of Economics, Oxford/Portland 2017; Malte Dold, Tim Krieger (Hg.), Ordoliberalism and European Economic Policy: Between Realpolitik and Economic Utopia, New York 2020; Thorsten Beck, Hans-Helmut Kotz (Hg.), Ordoliberalism: A German Oddity?, Washington 2017, sowie Josef Hien, Christi­ an Joerges, »Das aktuelle europäische Interesse an der ordoliberalen Tradition«, in: Leviathan 45 (2017), S. 459-493, und meine Entgegnung: Thomas Biebricher, »Zur Ordoliberalisierung Europas – Replik auf Hien und Joerges«, in: Leviathan 46 (2018), S. 170-188. 25 Die einzige, aber auch überaus erwähnenswerte Ausnahme ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm der EZB, das für kurze Zeit die Wogen in der akademischen, aber auch der breiteren gesellschaftlichen Debatte hochschlagen ließ. Schließlich konnten sich hier einerseits zunächst alle Gegner der EZB-Politik unter Draghi bestätigt fühlen, andererseits echauf­ fierten sich Kritiker über die wirtschaftspolitischen Anmaßungen der Richter. Das Urteil ist durchaus bemerkenswert, insofern es auch als Aufforderung an die EZB gelesen werden kann, in ihren Maßnahmen nicht ausschließlich das Ziel der Preisniveaustabilität, sondern auch breitere ökonomische Auswirkungen mitzuberücksichtigen, was ja keineswegs im Sinne der tendenziell ordoliberal gesinnten Beschwerdeführer wäre, doch dies kann und muss hier nicht vertieft werden. Schließlich kann man, was die unmittelbaren Auswirkungen angeht, wohl zu Recht von einem Sturm im Wasserglas sprechen, da sich die Nachbesse­ rungsforderungen des Gerichts als minimal erwiesen und am Status quo kaum etwas geändert haben.

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Verdächtigen auf beiden Seiten sich eben für Corona-Bonds als letzte Rettung europäischer Solidarität oder gegen sie als Sargnagel finanzpolitischer Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten aus­ sprachen. So verhallte etwa der öffentliche Appell des italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, Italien im Geiste der europä­ ischen Idee in der Krise nicht alleinezulassen, zunächst ungehört.26 Vielmehr waren auch Stimmen zu hören, die die unterschiedliche ›Resilienz‹ europäischer Staaten, etwa im Hinblick auf die Mög­ lichkeiten, mit finanz- und steuerpolitischen Gegenmaßnahmen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu begrenzen, auf die je unterschiedlich ausgeprägte fiskalpolitische Disziplin vor der Kri­ se zurückführten; letztere habe »in aller Deutlichkeit gezeigt, wie wichtig solide Staatsfinanzen für die Handlungsfähigkeit des Staa­ tes sind«.27 Wie schon mehrfach im Rahmen dieser Studie betont, ist auch nichts Grundsätzliches gegen dieses Leitbild einzuwenden, solange es eben nicht auf Kosten von sinnvollen (Investitions-) Ausgaben geht, die ebenfalls zur Resilienz beitragen können. An­ ders formuliert: Hat es sich als sinnvoller Beitrag zur italienischen oder spanischen Resilienz erwiesen, den Ländern im Rahmen des europäischen Austeritätsregimes immer neue Kürzungsrunden im staatlichen Gesundheitswesen abzuverlangen? Obwohl manche mit solchen Argumenten eine Wiederauflage des Eurozonen-Krisennarrativs einleiten wollten, dem zufolge die Verantwortung allein bei den jeweiligen Nationalstaaten zu ver­ orten sei, gelang ihnen dies nicht; und es ist hervorzuheben, dass Weidmann selbst dem soeben zitierten Satz in einer Rede vom 22. Juni 2020 die versöhnliche Aufforderung folgen ließ: »Andere Län­ der sind jedoch möglicherweise mit höheren Finanzierungskosten konfrontiert. Wir sollten ihnen nicht den Rücken kehren.« Auch Lars Feld hatte sich schon in der Frühphase der Krise in ähnlicher Weise positioniert, als er festhielt, dass jene »ja nicht auf politi­ sche Fehlentscheidungen der Länder zurück[gehe]«. Auch wollte er sich nicht grundsätzlich gegen Transfers in Richtung Krisenlän­ 26 Giuseppe Conte, »Italien an vorderster Front«, in: Die Zeit 15, 2. 4. 2020. 27 Jens Weidmann, Die aktuelle Krise und die damit verbundenen Herausforderungen für die Wirtschafts- und Geldpolitik. Rede auf dem Frankfurt Finance Summit, 22. Juni 2020, 〈https://www.bundesbank.de/de/presse/reden/die-aktuelle-krise-unddie-damit-verbundenen-herausforderungen-fuer-die-wirtschafts-und-geldpoli tik-835594〉.

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der aussprechen, die ja schon indirekt auch im schnell aufgelegten Krisenprogramm der EZB enthalten sind. »Die Frage ist, wie man diese Transfers organisiert – und wie umfassend sie sind. […] Ich bin gegen gemeinsame Anleihen, wie sie unter dem Schlagwort Corona-Bonds diskutiert werden.«28 Doch auch wenn jene Corona-Bonds tatsächlich nicht kamen, so blieb die europäische Krisenpolitik dennoch nicht den Mustern der Eurozonenkrise verhaftet und lieferte mit den Entschlüssen vom 21. Juli 2020 einen wirklichen Paukenschlag: Die Staats- und Regierungschefs der EU beschlossen, die Kommission erstmalig zur Aufnahme europäischer Schulden im Umfang von 750 Milliarden Euro zu autorisieren, von denen mehr als die Hälfte (390 Milliar­ den) im Rahmen von nicht zurückzuzahlenden Zuschüssen nach einem bestimmten Schlüssel an die europäischen Mitgliedsstaaten fließen sollen. Kernstück dieses offiziell als Future Generation EU bezeichneten europäischen Wiederaufbaufonds ist die sogenannte Recovery and Resilience Facility, über die etwas über 300 Milliar­ den verteilt werden sollen. Die Zukunft der EU wird in großem Maße von diesem Fonds abhängen, doch bevor wir uns den weit­ reichenden Implikationen und den damit verbundenen offenen Fragen zuwenden, darf hier nicht verschwiegen werden, dass die Einrichtung des Fonds im Wesentlichen auf die gemeinsame Initi­ ative Frankreichs und Deutschlands zurückging. Dies wirft natürlich die Frage auf, wie es zu diesem Kurswechsel gegenüber der Eurozonenkrise kam und was dies für die These der von Deutschland mit angetriebenen Ordoliberalisierung Europas bedeutet. Über die Motive der Regierung ist viel spekuliert worden, zuletzt auch von Jürgen Habermas, der gar eine Verbindung zur deutschen Wiedervereinigung, aber auch zur Rolle der AfD sehen will.29 Hier kann keine detaillierte Analyse der diversen relevanten Faktoren vorgenommen werden, wie etwa der Tatsache, dass das Finanzministerium nicht von Wolfgang Schäuble geleitet wurde, aber ebenso der Möglichkeit, dass es hier schlicht zu gewissen Lern­ prozessen mancher politischen Akteure gekommen ist. Argumenta­ 28  Lars Feld, Philippe Martin, »Was heißt das: Solidarität«, in: Die Zeit 18, 23. 4. 2020. 29 Jürgen Habermas, »30 Jahre danach: Die zweite Chance. Merkels europapoliti­ sche Kehrtwende und der deutsche Einigungsprozess«, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik 9 (2020), S. 41-56.

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tiv zu kurz gesprungen wäre es allerdings, aus der Repositionierung der Regierung zu schließen, dass ordoliberale Prägungen der han­ delnden Eliten in der Eurozonenkrise keine Rolle gespielt hätten – und zwar nicht nur aus rein logischen Gründen, sondern auch, weil dies womöglich die Implikationen des Fonds überschätzt: Denn ob es sich hier wirklich um einen ›Hamiltonian Moment‹ handelt, wie Finanzminister Olaf Scholz es in einem Interview nahelegte,30 und ob der Kurswechsel der deutschen Regierung wirklich eine Kurs­ umkehr war, ist noch längst nicht ausgemacht, was uns zu einem abschließenden Kurzüberblick über jene Implikationen, Potentiale und Szenarien bringt. Zwei Themenkomplexe sind hier von über­ ragender Bedeutung. Zunächst geht es um die Konditionen, an die das Erhalten von Zuschüssen geknüpft ist, denn auch wenn dies in der medialen Darstellung bisweilen unterging, sind auch die Zuwendungen der Recovery and Resilience Facility an Bedingungen geknüpft. Hier geht es um bestimmte investive Schwerpunktsetzungen, wie etwa im Bereich Digitalisierung und Klimaneutralität, doch die Mittel­ vergabe ist eben auch ganz ausdrücklich in das Europäische Se­ mester, die Budgetverhandlungen und die entsprechenden länder­ spezifischen Empfehlungen im Hinblick auf bestimmte Reformen integriert. In den Erläuterungen der Kommission zum Verfahren heißt es dementsprechend, dass die Wiederaufbau- bzw. Invesi­ tionspläne, die die Staaten zur Beantragung der Gelder vorlegen müssen, »eine detaillierte Erklärung, wie die vorgeschlagenen Re­ formen die länderspezifischen Empfehlungen adressieren«, enthal­ ten müssen.31 Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die Hilfs­ gelder als ein weiterer Hebel instrumentalisiert werden, um die entsprechenden Länder anzuhalten, nun doch endlich ›ihre Haus­ aufgaben‹ zu erledigen, nachdem sich das bestehende Regelwerk abermals als zu lückenhaft und/oder lax in der Umsetzung erwiesen hat. Schon im Vorfeld des Gipfels hatte Feld genau diese Hoffnung geäußert, nämlich dass man in den Verhandlungen »auch zu ge­ wissen Auflagen kommt – zum Beispiel, dass Italien sich stärker verpflichtet, seine Schulden im Rahmen des Europäischen Semes­ 30 Olaf Scholz, »›Jemand muss vorangehen‹«, in Die Zeit, 15. 5. 2020. 31 Europäische Kommission, Guidance to Member States’ Recovery and Resilience Plans, S. 7. 〈https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/3_en_document_travail_ser vice_part1_v3_en_0.pdf〉

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ters abzubauen, sobald diese Krise vorbei ist«.32 Von daher schiene es doch etwas überzogen, die Einrichtung des Fonds grundsätzlich zu einem radikal antiordoliberalen Kurswechsel hochzustilisieren, wenn auch der Kronberger Kreis im Hinblick auf die wirtschafts­ politische Gesamtlage Alarm schlägt: »Europa soll durch protek­ tionistische Maßnahmen, staatliche Subventionen und steuerliche Sondervorteile gestärkt werden«, wohingegen tatsächliche Wett­ bewerbsfähigkeit gemäß dem ordoliberalen ceterum censeo nicht durch »Schutz vor Wettbewerb«, sondern eben durch Wettbewerb zu erreichen sei.33 Fest steht, dass vieles im Hinblick auf den Fonds, aber eben auch die zukünftige Ausrichtung der Europäischen Union insgesamt da­ von abhängen wird, welche Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der Vergabe und Verwendung der Gelder gegeben sind, was sowohl Feld als auch Weidmann erwartbarerweise im Gefolge der Einigung hervorhoben. Dass diese prominente Aufgabe der Überwachung des Prozesses der Kommission zufällt, ist ein weiterer Beleg für die hier vertretene These ihrer Stärkung im institutionellen Konzert der EU; die Tatsache, dass eine Beschwerdemöglichkeit und ein, wenngleich nur suspensives Veto für Nationalstaaten, die meinen, dass andere ihre Reformauflagen nicht erfüllen, mit in die Gover­ nance-Regeln aufgenommen wurden, zeigt, wie wenig der Kom­ mission im Hinblick auf die stringente Durchsetzung der Regeln von mancher Seite über den Weg getraut wird. Jedenfalls zeichnet sich schon jetzt ab, dass Vergabe und Verwendung der Hilfsgelder eines der zentralen europäischen Konfliktfelder der nächsten Jahre sein werden, das nicht zuletzt von entscheidender Bedeutung im Hinblick auf die Frage sein wird, ob es hier bei einer einmaligen Maßnahme bleibt, wie es offiziell heißt, oder ob es doch zu einer dauerhaften Einrichtung kommen könnte – was unwahrscheinlich wäre, sollte die Bilanz zu negativ ausfallen und das Geld in erster Linie für konsumtive Ausgaben verwendet werden oder im allge­ meinen Staatshaushalt versanden. Die Frage der möglichen Verdauerung führt uns zum zweiten 32 »Chef der ›Wirtschaftsweisen‹ begrüßt Vorschlag zu EU-Hilfen«, Börsennews 25. Mai 2020. 〈https://www.boersennews.de/nachrichten/artikel/chef-der-wirt schaftsweisen-begr-t-vorschlag-zu-eu-hilfen/2283115/〉 33 Kronberger Kreis/Stiftung Marktwirtschaft, Keine Rückkehr zur Festung Europa, Berlin 2020, S. 5.

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Themenkomplex, bei dem es um die Implikationen für die EU als politische Form geht. Denn mit der Autorisierung, Schulden aufzu­ nehmen – wenn auch vorläufig nur ausnahmsweise –, rückt die EU als politische Form dem Modell klassischer Staatlichkeit und seinen typischen Attributen ein gutes Stück näher. Funktional weitgehend ununterscheidbar würde sie durch einen weiteren Schritt, nämlich durch das Recht, eigenständig Steuern zu erheben, und genau auf diese Möglichkeit der Generierung »eigener Mittel«, wie es in aller Vagheit heißt, wird im Zusammenhang mit der Schuldentilgung, die ab 2028 gestreckt über zwanzig Jahre erfolgen soll, immer wie­ der von Seiten der EU, aber auch von Seiten mancher nationalstaat­ licher Finanzminister verwiesen. Die Debatte hierüber wird nicht zuletzt insofern brisant, als sie in eine Zeit fallen wird, in der mit einiger Wahrscheinlichkeit mit einer neu aufflammenden Diskussi­ on über nationalstaatliche und europäisch sanktionierte Austerität zu rechnen ist. Es deutet sich bereits an, dass, ähnlich dem Re­ aktionsmuster in der Finanzkrise, auf einen anfänglichen KrisenKeynesianismus Warnungen vor überbordenden Staatsschulden aufgrund der Corona-Krise und Forderungen nach einer Rückkehr zur fiskalischen Disziplin laut werden. In dieser Situation könnte auch Finanzministern, die europäischen Steuern eigentlich ableh­ nend gegenüberstehen, die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe einen Teil der Corona-Schulden zu begleichen, durchaus attraktiv erscheinen. Bekanntlich war ein solches eigenständiges Steuerrecht für die EU etwa aus Sicht Buchanans so ziemlich das Worst Case Scenario, und es wäre sicherlich naiv, darauf hinzuweisen, dass hier zunächst einmal nur von Mitteln für die Tilgung einer einmaligen Kredit­ aufnahme die Rede ist, denn man muss kein Neoliberaler sein, um zu vermuten, dass sich der Geist europäischer Steuern dann kaum mehr in die Flasche zurückdrängen lassen würde. Man muss aber vor allem auch kein Neoliberaler sein, um daraus die Schlussfol­ gerung zu ziehen, dass sich in diesem Fall einer Quasi-Verstaatli­ chung der EU durch die Finanz- und steuerpolitische Hintertür die Frage ihrer multiplen Demokratiedefizite noch einmal in einer neuen, wuchtigen Dringlichkeit stellen würde. Das Ringen um die Ausrichtung der EU geht in eine neue, womöglich entscheidende Runde.

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Danksagung Das vorliegende Buch ist die Übersetzung meiner 2017 eingereichten Habilitationsschrift The Political Theory of Neoliberalism. Abgesehen vom neu verfassten Epilog ist der Haupttext bis auf wenige minimale Anpassungen unverändert geblieben, der Fußnotenapparat wurde erweitert und teils aktualisiert. Mein Dank gilt zunächst denjenigen, die seinerzeit das Manuskript gegengelesen und hilfreiche Rückmeldungen gegeben haben: William Callison, Marius Kött und Susanne Rühle. Daneben danke ich den anonymen Gutachtern für Stanford University Press, wo das englischssprachige Buch 2019 erschien, für ihre kritischen Einwände und Hinweise und vor allem der damaligen Verlagslektorin Emily-Jane Cohen, die das Projekt mit großem Elan durch den gesamten Prozess begleitet hat. Beim Suhrkamp Verlag danke ich wiederum insbesondere Eva Gilmer und Philip Hölzing für die überaus angenehme Zusammenarbeit. Auch wenn sie nur mittelbar beteiligt waren, möchte ich mich zudem bei Rainer Forst und Wendy Brown bedanken, denn mit ihrer langjährigen Unterstützung und Ermutigung haben sie wesentlich zum Gelingen dieses Buchprojekts beigetragen. Zuletzt danke ich meiner Freundin Raphaela, die mir – ein weiteres Mal – die notwendigen Freiräume zur Fertigstellung dieses Buchs verschafft hat, und unserer Tochter Lucía dafür, dass sie die ist, die sie ist. Ihr ist das englischsprachige Buch gewidmet, dieses unserem Sohn Leander.

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Namenregister Arendt, Hannah  285

Feld, Lars P.  100, 273, 278, 294, 297, 305, 307, 338-341 Barber, Benjamin  152 Ferguson, Adam  37, 180, 186 Blyth, Mark  240, 286, 288, 290, 312 Foucault, Michel  12, 31, 35, 61, Bofinger, Peter  294-295 74, 102-103, 173-174, 182, 203, Böhm, Franz  199, 201, 295 233 Bourdieu, Pierre  7 Fraser, Nancy  291, 329 Brennan, Geoffrey  82-83, 100-101, Friedman, Milton  8, 29, 38, 40-41, 105, 124, 159, 178, 190, 193, 22455-62, 67, 73, 84-85, 121, 125, 127, 228 136-137, 147-150, 161-168, 170Brown, Wendy  291, 328-329, 336, 172, 178, 183, 185, 188, 195-197, 343 207, 217, 221, 227-228, 248, Buchanan, James  8, 29, 37, 45-46, 275-277, 279, 288, 306, 308, 53, 55, 60, 81-85, 87-88, 90, 99320, 331 103, 105, 124-125, 127-128, 133-138, Furet, François  31 143-146, 148-150, 158-160, 162, 176-180, 183, 185, 188-196, 214, Habermas, Jürgen  141-142, 164, 217, 220-230, 266, 271-272, 274278, 313, 319, 339 275, 278-279, 288, 325, 336 Hall, Peter  280 Harvey, David  7, 17 Chamayou, Grégoire  110, 112, 134, Hay, Colin  21, 281-286 156, 329 Hayek, Friedrich August  8, 12, Chomsky, Noam  7, 21 26-27, 29-30, 32, 34-38, 41-42, 55, Crouch, Colin  13, 21, 237, 327 57, 59-61, 66, 73, 75-84, 87-91, Crozier, Michael  134 96-101, 103-104, 108, 111-115, 117, 121-126, 128, 130, 139, 141-142, Draghi, Mario  292, 307, 321-322, 150, 153-158, 162, 174-176, 180337 188, 195-198, 207, 214-221, 228, 255, 266-268, 271-272, 274-275, Eucken, Walter  8, 24, 32-33, 53, 277, 279, 302, 320, 336 55, 60-65, 67, 74-75, 84, 107-111, Heller, Hermann  115, 211 115, 121, 129-132, 139-140, 153, Hobbes, Thomas  13, 81-82 159, 161-162, 168-176, 183, 185, Hobsbawm, Eric  26, 28, 31 187-189, 198-205, 207-210, 214, Höcke, Björn  335-336 222, 228, 234, 263, 273, 291, 292, Honegger, Hans  24 295-297, 301-302, 305-306, 308Höpner, Martin  268, 270, 318 311, 313, 319-321, 324-325, 334 Huntington, Samuel  134

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Stuttgart Mo, Mai 29th 2023, 07:14

Jessop, Bob  21 Joerges, Christian  265, 303, 337 Johnson, Boris  336 Kelsen, Hans  24 Keynes, John Maynard  28-29, 34, 173, 190, 238-239 Köhler, Ekkehard  129-131, 294, 307 Krugman, Paul  238, 243-245 Linz, Juan J.  114 Lippmann, Walter  23-26, 28, 32, 35 MacLean, Nancy  195 Macron, Emmanuel  273, 337 Majone, Giandomenico  146-147, 317-318, 320 Merkel, Angela  293, 300-301, 339 Mill, John Stuart  42, 58, 122 Mirowski, Philip  17-19, 22, 25, 291, 327 Nientiedt, Daniel  129-131, 307 North, Douglass  281 Obama, Barack  237, 243 Offe, Claus  127-128 Pinochet, Augusto  113, 195-196, 335 Polanyi, Karl  26-27, 92, 270

162, 171, 173-177, 183-188, 198, 201-202, 207-210, 214, 222, 228, 255, 263-267, 273-274, 276, 295, 306, 308, 320, 334, 336 Rüstow, Alexander  8, 14, 24-25, 31-33, 38-41, 55, 63, 65-73, 81, 91, 103, 106-109, 115-116, 128-129, 131-132, 151, 159, 161-162, 168-172, 174-176, 183-185, 187-188, 198202, 204-205, 211-214, 227-228, 263, 273, 311, 320 Saar, Martin  233 Schäfer, Armin  270 Scharpf, Fritz  268, 270-271, 313, 321 Schäuble, Wolfgang  241, 244, 312, 339 Schmitt, Carl  115, 123, 130, 158, 209, 211-212 Slobodian, Quinn  25, 33, 92, 266, 327, 329 Smith, Adam  7, 37, 39, 42, 173, 187 Stark, Jürgen  296-298 Stiglitz, Joseph  40, 236, 243 Streeck, Wolfgang  99, 268, 308, 314, 317 Thatcher, Margaret  196, 216-217 Trichet, Jean-Claude  241-242 Trump, Donald  328-329, 332-333, 335-336

Rawls, John  81 Varoufakis, Yanis  292 Röpke, Wilhelm  8, 25-26, 29, 31, 33, 35, 38-39, 41, 55, 65, 67-75, 84, Weidmann, Jens  304-306, 308, 31591-96, 99, 107-109, 111, 113-115, 316, 321-322, 338 117, 129, 131-133, 139, 150, 153, 159,

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