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German Pages 448 Year 2014
Angelo Maiolino Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
Edition Moderne Postmoderne
Angelo Maiolino (lic. phil.) hat Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Zürich und Perugia studiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Theorien, Kulturtheorien, Antonio Gramscis Denken und Migrationsgeschichte.
Angelo Maiolino
Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus Eine Hegemonieanalyse
Der Autor dankt der Gedächtnisstiftung Paul Schmitt für die finanzielle Unterstützung. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Wintersemester 2011 auf Antrag von Prof. Dr. Georg Kohler und Prof. Dr. Urs Marti als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort von Georg Kohler | 7
Einleitung | 11
I. Politische Kultur | 21 1. Politik und Kultur | 25 2. Zur Begriffsgeschichte der politischen Kultur | 35 2.1 Der Auftakt zur politischen Kulturforschung | 35 2.2 Gabriel A. Almonds und Sidney Verbas Konzept der politischen Kultur | 41 3. Erste Annäherung: politische Kultur als politische Deutungskultur | 55 4. Zweite Annäherung: Dimensionen und Manifestationsformen politischer Kultur | 67 4.1 Die kommunikative Dimension | 68 4.2 Die institutionelle Dimension | 77 4.3 Die Dimension der Erinnerung | 89 5. Ein vorläufiges Fazit | 109 6. Die Kultur des Öffentlichen | 117 7. Ideologische Konstellationen | 133 7.1 Die Entstehung des Ideologiebegriffs | 135 7.2 Karl Marx’ Kritik der Ideologie | 139 7.3 Antonio Gramscis Hegemonietheorie | 158
7.3.1 Hegemonie gepanzert mit Zwang | 166 7.3.2 Zivilgesellschaft | 172 7.3.3 Materialität der Ideen | 181 8. Fazit | 191
II. Ökonomisierung des Sozialen | 201 1. Neoliberaler Paradigmenwechsel | 209 2. Ideologische Elemente | 225 2.1 Markt | 225 2.2 Homo oeconomicus | 235 2.3 Demokratie und Recht | 247 2.4 Vitalpolitik | 262 2.4.1 Entproletarisierung | 264 2.4.2 Privatisierung der Sorge | 270 2.5 Alternativlosigkeit | 277 3. Ein vorläufiges Fazit | 297 4. Neoliberale Hegemonie | 305 4.1 Fragmentarisierungen | 308 4.2 Politainment | 324 4.3 Die guten Reichen und die kostspieligen Armen | 345 4.4 Regieren auf Kosten Anderer | 356 5. Fazit | 385 Abschliessende Überlegungen und Ausblick | 405 Dankgsagung | 431 Bibliographie | 433
Vorwort
1989 ist ein Schlüsseldatum auch – und gerade – für das, was man den Aufstieg des Neoliberalismus nennen kann. Der Fall der Berliner Mauer ist der Anfang vom Ende der Sowjetunion und ihres Imperiums. Im grossen Wettbewerb der weltanschaulichen Antagonisten – liberale, kapitalistische Demokratie vs. kommunistische, planwirtschaftliche Parteiherrschaft – war der Gewinner klar: Der »Markt« hatte über den »Plan« gesiegt. Die Doktrin und die Werte des Westens waren dem normativen Modell des Ostens offensichtlich überlegen. Allerdings bleibt bei solcher Kurzfassung der Gegensätze und ihres Ausgangs vieles offen. Was genau hatte man beispielsweise unter »Markt« zu verstehen? Wie verhielten sich Markt und Demokratie zueinander? Und war das Prädikat »liberal« nur auf die besonders staatskritischen Ideen des Wirtschaftsliberalismus zu beziehen? Dass sich in den neunziger Jahren die wirtschaftsliberale Engführung der liberalen Philosophie – der allgemein so genannte »Neoliberalismus« (der mit seinem ein halbes Jahrhundert älteren Namensvetter freilich nicht verwechselt werden sollte) – so rasch durchsetzte, war eigentlich überraschend. Denn dieser »Sieg« der marktwirtschaftlich-liberalen Demokratie hing in hohem Mass vom sozialstaatlich gesicherten Wohlfahrtsniveau ab. Die Legitimität der westlichen Länder (und ebenso diejenige ihrer transnationalen Suprastrukturen) ruhte in den vierzig Jahren des Kalten Krieges zum wesentlichen Teil auf den beiden Pfeilern der sozialstaatlichen Demokratie und des allgemeinen Wohlstandes; auf der Erfahrung, dass es nicht allen gleich gut, aber allen (oder wenigstens den meistens) stetig besser ging. Der privatwirtschaftlich organisierte Sektor der Gesellschaft und das politische System wurden dadurch zu komplementären Teilen des Ganzen. »Materielle Existenzverbesserung durch marktwirtschaftliche Industrieproduktion plus Sozialstaatlichkeit im Rahmen einer demokratischen Parteienkonkurrenz« lautete also das westliche Erfolgsrezept. Dass diese Kombination dann in Schwierigkeiten geraten musste, wenn die Bedingungen regierungsamtlicher Sozialbefriedigung (vor allem auf dem Gebiet der Renten, Krankenversicherung, Arbeitslosenkassen und des Erziehungswesens) durch das Ungleichgewicht zwi-
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schen den Erfordernissen sozialstaatlicher Intervention und deren vom Wirtschaftsniveau gezogenen fiskalischen und budgetmässigen Grenzen bedroht werden, war seit langem bekannt, aber bis zur Wende von 89/90 kein wirkliches Problem. Wegen sehr verschiedener Gründe – verschärfte Weltmarktkonkurrenz dank neuer Produktionstechniken; verpasste Eigenmodernisierung der europäischen Industriekapazitäten; Lohndruck aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks und aus dem fernen Osten; in Deutschland ausserdem die Sanierungsbedürfnisse der früheren DDR – ist in den neunziger Jahren die allgemeine Wirtschaftslage schwach, die Arbeitslosenzahl hoch, die Fiskalmasse stagnierend und der Spielraum der öffentlichen Hände klein geworden. Damit schürzten sich die Gegensätze zwischen Marktökonomie und sozialstaatlich interpretierten Gerechtigkeitsansprüchen zu schwer entwirrbaren Knoten. In dieser Problemlage stiess nun die Idee der wieder zu entfesselnden kapitalistischen Marktkonkurrenz – als dem besten Mittel zu weiterem gesellschaftlichen Aufschwung – sowohl auf wenig Gegenwehr, als auch auf die ideologisch seit langem vorbereitete Disposition, sozialstaatliche Bürokratien, administrative Machtmechanismen und die Fiskalquoten der Umverteilungspolitik zu kritisieren. Nur wenn man sich diese beiden Faktoren vor Augen hält, wird einigermassen erklärbar, weshalb das ursprünglich, eigentlich siegreiche Modell des Westens so rasch beiseite gesetzt werden konnte. Angelo Maiolinos Buch erinnert darüber hinaus an ein weiteres, gesellschaftstheoretisch auffälliges, primär kulturanalytisch beschreibbares Motiv als einer Ursache für den Aufstieg des – so genannten – »Neoliberalismus«, der ja bereits seit den späten siebziger Jahren die Orientierung einflussreicher Teile der westlichen Funktionseliten geworden war. Man mag mit Richard Sennett das neoliberale Ideengeflecht auch die Ideologie des »Neuen Kapitalismus« nennen, der für jenen »flexiblen Menschen« wirbt, der sich den ständig ändernden postindustriellen Produktionsformen und Konsumangeboten (und damit auch den normativen Thesen der neoliberalen Konzeption) mühelos anzupassen weiss. »(Die) Devise lautet: mehr Freiheiten auf Kosten von Rechten. Ein flexibleres Leben, das von den strengen, durchrationalisierten und überwachten Arbeitsvorgängen im so genannten keynesianischen Zeitalter befreit ist, gibt es nur zum Preis geringerer Sicherheit, erweiterte Selbstbestimmung nur zum Preis des ökonomischen Risikos, womit auch Lohn und Freizeit mit neuen Bedeutungen versehen werden. […] Der Mensch wird in dieser schönen neuen Welt des neoliberalen Kapitalismus dazu angereizt, sich ständig fortzubewegen, ständig auf dem Laufe der Zeit zu sein, hierfür permanent das Ohr für die Chancen und Risiken auf dem Arbeitsmarkt offenzuhalten, möglichst viele Fähigkeiten zu erlernen, um auf möglichst vielen Hochzeiten tanzen zu können. Er wird dazu angehalten, sich um sich selbst zu kümmern und seine Position in der Gesellschaft durch das Aufsaugen möglichst vieler Information und der Aneignung möglichst vieler Fähigkeiten zu verbessern, im Wissen freilich, dass er vom Markt, trotz all seiner Anstrengungen, jederzeit ignoriert werden kann.« (In diesem Band S. 16, 17).
Einleitung: »Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus«
* Die Studie Maiolinos ruht auf einem breiten Fundament soziologischer und gegenwartsanalytischer Beobachtungen. Zwar argumentiert sie eingestandenermassen aus dem Standpunkt linker Gesellschaftstheorie: Sie kritisiert den Neoliberalismus als eine entsolidarisierende Moral der Ungleichheit. Doch sie tut dies auf eine Weise, die keine Zweifel an der wissenschaftlichen Informiertheit und Redlichkeit des Autors erlaubt: Sie erfasst ihren Gegenstand im Rahmen der zunächst und neutral eingeführten Kategorie der »Politischen Kultur«. Sie muss zuerst diesen Begriff bestimmen, bevor sie, auf der Basis der gewonnenen Klärungen, die Bewusstseinswirkungen des »Neuen Kapitalismus« und seiner Leitideen zu entfalten beginnt. Demgemäss besteht »Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus« aus zwei Hauptstücken: Einerseits expliziert das Buch eine zentrale Kategorie der heutigen Sozialtheorie, andererseits liefert es die engagierte Deutung einer in der Gegenwartsmoderne des Westens, höchst einflussreich gewordenen – »hegemonialen« –, das kollektive und individuelle Selbstverständnis organisierenden Mentalitätsstruktur. Maiolino formuliert die Interpretation der handlungsleitenden Faktoren der kulturellen Sphäre des »Neuen Kapitalismus« auf dem Boden eines übergreifenden Konzeptes. Während er im zweiten Teil seine neoliberalismuskritische Position vertritt, entwirft und analysiert er im ersten Teil umsichtig, den aktuellen Forschungsstand breit rezipierend, die grundlegende Kategorie der »Politischen Kultur«. Erst die Reflexion auf deren Gehalte und Perspektiven ergibt –im zweiten Schritt – ein Fazit, das kritische Gegenwartsdeutungen erlaubt. Der Focus der letzteren ist – evidenterweise – das, was der Autor als die »Ökonomisierung des Sozialen« markiert und als jene Strategie begreiflich macht, die ohne den »neoliberalen Paradigmenwechsel« gar nicht möglich gewesen wäre. * An den Schluss all seiner Überlegungen stellt Maiolino die Frage, die zum Ansatz (s)einer kritischen politischen Philosophie gehören muss: Was tun, wenn der Neoliberalismus geistig ebenso allgegenwärtig wie, normativ-praktisch betrachtet, inakzeptabel erscheint? Maiolinos Plädoyer ist das des Intellektuellen, der auf Öffentlichkeit und Gegendiskurs setzt: »Es geht darum, aus verschiedenen politischen Positionen der Gesellschaft, eine – wenn auch kleinste gemeinsame – Forderung öffentlich zu artikulieren, die eine nicht mehr zu ignorierende Irritation für das kollektive Bewusstsein und für die routinisierten Praktiken des Alltags bedeutet, und die durch ihre permanente Anwesenheit im medialen, politischen und alltäglichen Diskurs das angeblich ›Natürliche‹ und ›Unverrückbare‹ der bestehenden hege-
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monialen Ordnung in ihrer Kontingenz sichtbar macht und so für andere symbolische Formen, Diskurse und Deutungen öffnet.« (In diesem Band, S. 425) Dieses Projekt ist es, welches das Buch auf präzise und inspirierend nachdenkliche Weise vorbereitet und in Gang zu setzen weiss. Georg Kohler Zürich, im April 2014
Einleitung
Angesichts aktueller politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen stellen sich viele Menschen die Frage, was das für Zeiten sind, in denen sie – wir – leben. Es sind Zeiten der Verdichtung und Verknappung, der Fragmentarisierung und der Verflüchtigung, Zeiten, in denen die Güterströme wie reissende Flüsse den Globus überschwemmen, während die Verdammten dieser Erde weiterhin an den unwirtlichen Ufern ihr Dasein fristen müssen, Zeiten, in denen Unmengen an Kapitalien in virtuelle Welten ihre unsichtbaren Vernetzungen finden und ihre hartgepflasterten Autobahnen, auf denen die Privilegierten der Finanzwirtschaft mit ihren schnellen Karossen von Rendite zu Rendite schnellen, zunehmend die durchlöcherten Werkstrassen in die globale Peripherie verdrängen. Es sind Zeiten, in denen Informationen jederzeit und überall zur Hand liegen und die Medienindustrien ihr Echo auf der ganzen Welt verbreiten; ihre Inhalte schrumpfen aber zunehmend, bis sie nur noch als kurze, schnell konsumierbare Slogans aufscheinen, um gleich wieder im Rauschen des Medienspektakels unterzugehen. Das Verhältnis von Mensch, Kapital und Wissen nimmt neue Formen an und die politischen, öffentlichen und privaten Räume des Zusammenlebens werden von neuen, den Fragmentarisierungen und Verflüchtigungen der Zeit entsprechenden Werte, Sinnvorstellungen, Selbst- und Weltverständnisse untermauert. Es sind Zeiten, in denen die fragile Pflanze der Demokratie, als selbstbestimmte und vernunftbasierte Form des menschlichen Zusammenlebens, Stürmen ausgesetzt ist, die von den immer grösser werdenden und sich in immer kürzeren Zyklen begegnenden Hoch- und Tiefdruckgebieten des globalen Kapitals erzeugt werden. Das sind ›Unwetter‹, die auch die einstmals stabilen zivilgesellschaftlichen Institutionen sowie die Räume und Orte, an denen ihre Entwicklung, ihr Bestehen und ihre Notwendigkeit diskutiert werden, überdecken und so ihre Fundamente, ihre Pflasterungen und Grundrisse teilweise verwüsten. Im tosenden Regen, von Blitzen umgeben und in der eisigen Kälte, die nur für eine kurze Zeit den wärmenden Sonnenstrahlen Platz macht, sieht sich auch das Individuum gezwungen, sein Hab und Gut ins Trockene zu bringen, in die eigenen vier Wände zu flüchten und die Fenster und Jalousien zu schliessen, um wenigstens hier – im
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eigenen Bei-sich-Sein – die kurze Ruhe vor dem neu aufziehenden Sturm finden zu können. Es sind Zeiten, in denen eine »neue ›Weltordnung‹ eine neue, notwendigerweise neue Regellosigkeit zu stabilisieren (versucht), indem sie eine Form von Hegemonie installiert, die ohne Vorläufer ist« 1. Es ist ein zähes Amalgam aus ökonomischer Theorie und politischer Praxis, das unter dem diffusen Label ›Neoliberalismus‹ seit einigen Jahrzehnten den Globus überzieht. Dabei handelt es sich um ein politisches Projekt, das von verschiedenen Orten aus, mit verschiedenen Akteuren und durch bestimmte Praktiken den beissenden Wind seiner marktradikalen Weltanschauung in die Welt weht und Demokratien, Zivilgesellschaften und Individuen die ›Windrichtung‹ vorzuschreiben trachtet, das heisst ein Projekt, das eine neue ›Ordnung des Diskurses‹ etabliert, die mit dem semantischen Angebot der ›Ökonomisierung des Sozialen‹, das sich mit den operativen Begriffen der Marktordnung, des Wettbewerbs, des unternehmerischen Handelns, des Humankapitals und der Kommodifizierung artikuliert und eine hegemoniale Macht über Regierungen, Institutionen und Individuen ausübt. Es besitzt Zwangsgewalt, indem es globale Sachzwänge hervorruft, und es erheischt Konsens, indem es Freiheit, Wohlstand und Kreativität verspricht. Das neoliberale Projekt läutet ein neues politisch-ökonomisches Paradigma ein, das die globale Wirtschaft nach marktradikalen Kriterien umdisponiert, das ökonomische Kalkül zur einzig wahren Dechiffrierungsmatrize der Realität erhebt, neue Formen der Sozialisation in den jeweiligen Gesellschaften mit neuen Verhältnissen zwischen Bürgern und politischem System erzeugt und so auch neue Kodierungen des Selbst, der Welt sowie der politischen, zivilgesellschaftlichen und privaten Auseinandersetzung in die politische Kultur einbringt. Obwohl der ›Neoliberalismus‹ kein homogenes, geschlossenes Denk- und Praxismodell darstellt und in verschiedenen Variationen auftritt, vereint er bestimmte, gemeinsame Überzeugungen, die ihm Kohärenz verleihen. Das neoliberale Projekt, das verschiedene Denkströmungen umfasst und das im ›Ordoliberalismus‹ der Freiburger Schule seine Anfänge, über Friedrich August Hayeks Denken eine Konsolidierung und mit dem amerikanischen Neoliberalismus der Chicagoer Schule seine gegenwärtige Vollendung findet, gründet auf den, von all seinen Denkrichtungen geteilten, Prinzipien der individuellen Freiheit, des freien Unternehmertums, des freien Marktes, aber vor allem auf dem Misstrauen gegenüber dem Staat und jeglicher Form von Umverteilungspolitik. Der Markt, dies die zentrale ideologische Kategorie der Neoliberalen, gilt ihnen als einzige Sphäre, die Freiheit und Wohlstand produzieren und garantieren kann, hierfür aber von jeglicher staatlicher Intervention befreit werden muss. Seine Durchsetzung findet in hegemonialer Weise statt, also nicht durch blossen brachialen Zwang, sondern in Übereinstimmung mit einem breit getragenen Konsens. Bereits mit der Gründung der Mont Pèlerin Society 1947 wurde ein Zu1 | D ERRIDA , JACQUES. Marx’ Gespenster. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 76.
Einleitung
sammenschluss von neoliberalen Intellektuellen, Politikern und Vertretern aus der Wirtschaftselite geschaffen, in der eine implizite hegemoniale Strategie verfolgt wurde, um die marktradikale Weltanschauung öffentlich zu machen und sie im Alltagsverstand zu verankern. Hier trafen sich die Vertreter des Marktradikalismus, um den neoliberalen »Kreuzzug gegen den marxistischen und keynesianischen Totalitarismus« zu institutionalisieren.2 Dank prominenter Mitglieder – wie die beiden Nobelpreisträger Friedrich August Hayek und Milton Friedman – gewann diese ideologische ›Fabrik‹ der neoliberalen Gilde auch an Prestige und fand zunehmend Gehör in universitären Kreisen sowie in der Politik und in der Finanzwelt. Hier und an weiteren neu gegründeten ›Denkfabriken‹ organisierten sich wirtschaftsliberale Ökonomen und verkündeten ihre Doktrin der freien Märkte. Ziel solcher Zusammenschlüsse war die Vermarktung der eigenen Ideologie, um »das marktradikale Credo in die Köpfe gewichtiger gesellschaftlicher Eliten einzuschreiben, also jene Männer zu bekehren, die die privatwirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Arkana der Macht kontrollierten.« 3
Den grössten ideologischen und politischen Erfolg bescherte ihnen aber die Tatsache, dass die westlichen Ökonomien und Gesellschaften ab Mitte der siebziger Jahre, die auf dem keynesianischen Wirtschaftssystem und dem daran gekoppelten sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat auf bauten, in die Krise gerieten, was zugleich dem Marktliberalismus Auftrieb gab und seine Konsensfähigkeit in breiteren Teilen der Bevölkerung verstärkte. Obwohl das erste neoliberale Experiment 1973 unter der Diktatur von Augusto Pinochet in Chile eingeleitet wurde, konnte das marktradikale Projekt als Antwort auf die keynesianische Periode erst mit der Regierung von Margaret Thatcher in Grossbritannien und unter Ronald Reagans Präsidentschaft in den USA salonfähig werden und auf andere Länder einwirken. Ab den 1990er Jahren und mit dem Fall der Sowjetunion wurde es dann auch von internationalen Wirtschaftsorganisationen zum globalen Allheilmittel erklärt und mit dem berühmten ›Washington-Konsens‹, der zugleich den Schuldnerländern den Zwang auferlegte, ihre Volkswirtschaften zu privatisieren und für das Finanzkapital zu öffnen, durchgesetzt. Zu dieser Zeit wurde die Epoche des Keynesianismus und des sozialdemokratisch untermauerten Wohlfahrtsstaates in die Annalen der Geschichte verbannt, um einer neuen Ära, die unter dem neoliberalen Firmament stand, Platz zu machen.
2 | M ONTALBÁN, M ANUEL VÁZQUEZ . Marcos. Herr der Spiegel. Berlin: Wagenbach 2000. S. 78. 3 | KREISKY, EVA. Ver- und Neuformung des politischen und kulturellen Systems. Zur maskulinen Ethik des Neoliberalismus. In: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, Heft 4/2001. S. 38-50. Hier S. 41.
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Die globale Marktwirtschaft wird in dieser Zeit, mit tatkräftiger Unterstützung der demokratisch verfassten Industriemächte, nach neoliberalen Prinzipien ausgerichtet. Die Kapitalflüsse werden von staatlichen Erwägungen losgelöst und die Staaten dazu angehalten, sich wie ökonomische Akteure zu verhalten. Im Banne dieser neoliberalen Theorie und der Politiken, die sie in die Tat umsetzen, werden globale ›Sachzwänge‹ hervorgerufen, an denen sich fortan die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organe, aber auch die Individuen selbst auszurichten haben. Dies ist ein Projekt, das bis heute nachwirkt. Die Privatisierung, Deregulierung und Entmantelung staatlicher Institutionen, genauso wie die Aushöhlung der Arbeitsrechte und der demokratischen Kontrollmöglichkeiten über wirtschaftspolitische Belange gehören auch gegenwärtig zum politischen Alltag. Der »Glaube an die allgemeinen Segnungen des Profits« 4, wie Karl Polanyi einst betonte, und an die Ökonomisierung aller möglichen gesellschaftlichen Felder findet zudem Befürworter nicht nur in bürgerlichen oder konservativen Kreisen, sondern auch dort, wo man sie nicht erwarten würde. Unter dem Dach des Neoliberalismus fanden und finden weiterhin politische Strömungen Platz, die vom Konservatismus über den Rechtspopulismus bis hin zur Sozialdemokratie und den grünen Umweltparteien reichen. Marktradikale Phrasen, mit denen das gesellschaftliche Miteinander, seine Probleme und Chancen diskursiviert und so auch plausibilisiert werden, sind an der Basis politischer Programmatiken, und trotz aller Interessensdifferenzen breitet sich weiterhin ein Konsens aus, der im Namen der Standortkonkurrenz zwischen den Staaten den ineffizienten und aufgeblähten Sozialstaat auf dem Altar der Unternehmerprofite geopfert sehen will. Die neue neoliberale Weltordnung breitet sich somit hegemonial aus und zwingt auch solche Staaten, die sich ihr widersetzen, das Spiel der Standortkonkurrenz und die globalen Sachzwänge auf, so dass auch diese ihre politischen und gesellschaftlichen Institutionen zusehends dem Prinzip der Marktkonkurrenz aussetzen müssen. Es ist, wie Jacques Derrida betonte, eine Hegemonie ohne Vorläufer, weil ihre Strategie gerade darin besteht, alle möglichen Felder des menschlichen Lebens nach marktradikalen Prinzipien zu kodieren. Damit werden auch der demokratisch verfasste Staat ausgehöhlt, die gesellschaftlichen Institutionen geschwächt und das Individuum zum ›Unternehmer seiner selbst‹ erzogen. Diese neoliberale Hegemonie ist auf eine politische Durchsetzung angewiesen und produziert dabei diejenigen Zwänge, die sie zu ihrem Überleben benötigt. Ihre Strategie beruht auf einer Politik der Entpolitisierung und auf einer ›Ökonomisierung des Sozialen‹. Blickt man heute mit einem kritischen Auge beispielsweise auf die Situation der Demokratie, offenbart sich ein paradoxes Bild. Zu Beginn des dritten Jahrtau4 | KARL POLANYI zitiert in K REISKY, E VA . Ver- und Neuformung des politischen und kulturellen Systems. Zur maskulinen Ethik des Neoliberalismus. In: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, Heft 4/2001. S. 38.
Einleitung
sends sind zwar einerseits mehr Staaten denn jemals zuvor demokratisch verfasst, andererseits nehmen aber die Krisensymptome in den Staaten, die einstmals so etwas wie eine demokratische Avantgarde bildeten, zu. Neben den sinkenden Wahlbeteiligungen und der Einengung politischer Diskurse auf ein nationalkulturell verstandenes Gemeinwohl, womit das Konstrukt einer kulturalistischnationalistisch fundierten ›imagined community‹ erneut zum differenzierenden Prinzip von Inklusion und Exklusion erhoben wird, ist auch die Öffentlichkeit als Ort der argumentativen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen partikularen Interessen von mediokratischen Imperativen verzerrt, die schillernde Persönlichkeiten wie Nicolas Sarkozy oder Silvio Berlusconi an die Macht spülten. Zu diesen Symptomen gesellen sich auch systemische Paradoxien. Die Regierungsgewalt liegt nämlich immer weniger, keinesfalls immer fester in den Händen des ›Demos‹. Im Zuge der neoliberalen Globalisierung und der damit einhergehenden Erosion staatlicher Kontrolle über wirtschaftspolitische Fragen verschiebt sich auch der Ort der Entscheidung in immer weitere Ferne und bleibt bisweilen nicht immer erkennbar. Der genuin demokratische Entscheidungsprozess, in welchem innerhalb eines fest umgrenzten Territoriums die darin lebenden Staatsbürger und -bürgerinnen über die Sphäre der Öffentlichkeit Meinungen und Argumente austauschen, um letztlich eine von der Mehrheit getragene Entscheidung zur Norm zu erheben, weicht den Regelungen internationaler Regime wie dem IWF, der WTO oder der Weltbank und den Imperativen globaler Sachzwänge, die sich in Standortkonkurrenz und -sicherung niederschlagen. Den Bürgern erscheint die Nabelschnur, die sie hinsichtlich Gestaltung und Normierung mit der Gesellschaft verband, als eine gekappte. Die für ihre Lebensgestaltung massgeblichen Entscheidungen werden immer weniger innerhalb eines nationalstaatlichen Kontextes und immer mehr innerhalb von übernationalen Organisationen getroffen, deren Mechanismen und Legitimationsgrundlagen für die Bürger intransparent und exkludierend erscheinen. Diese Verschiebung der Entscheidungsbefugnis und -macht wirkt sich auf das für jede demokratisch verfasste Gesellschaft unverzichtbare Fundament der politischen Kultur aus. Die Motivationen zur politischen Partizipation versiegen und politische Apathie breitet sich aus. Die kollektive Sorge um das Gemeinwesen und die hierfür erdachten Verfahren der demokratischen Selbstbestimmung weichen einer Skepsis gegenüber der politischen Klasse und den demokratischen Institutionen. Das Verhältnis zwischen Regierten und Regierenden bricht zusehends zusammen. Kurz: die realexistierenden Demokratien sowie das ihnen zugrundeliegende Ideal der Selbstbestimmung und die damit verknüpften Werte – Freiheit, Gleichheit und Solidarität – scheinen in einer Krise zu stecken. Die Demokratie entwickelt sich zunehmend zur Postdemokratie, wie dies der englische Politikwissenschaftler Colin Crouch5 vor einigen Jahren diagnostiziert und präzise auf den Punkt gebracht hatte, der 5 | Vgl. C ROUCH, C OLIN . Postdemokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.
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damit das zunehmende Verschwinden der demokratischen Kontrolle über die wirtschaftlichen Prozesse beklagte und anmahnte, dass die ökonomische Macht zunehmend die politische beherrscht und in Geiselhaft nimmt und so eine längst überwunden geglaubte Feudalisierung der Gesellschaft wiederauferstehen lässt. Mit der neoliberalen Rahmung der globalen Wirtschaftsprozesse und ihrem Imperativ für die Staaten, sich an diese neue alternativlose Welt anzupassen, findet auch eine Fragmentarisierung der Gesellschaft, ihrer Institutionen und nicht zuletzt eine Neuausrichtung des Subjekts statt. Auf der einen Seite führt diese neoliberale Ordnung nämlich dazu, die gesellschaftlichen Felder der zwischenmenschlichen Interaktion nach ökonomischer Effizienz zu gestalten, indem sie beispielsweise durch Politiken der Austerity, also bspw. Finanzierungskürzungen für das Gesundheits- und Bildungswesen oder bei den öffentlichen Gütern wie Transportmittel und Parkanlagen, das ökonomische Nutzenkalkül aufzwingt, womit auch das einzelne Individuum, in diesem Milieu gefangen, ebendiese Prinzipien als Leitlinie seines Lebens übernehmen muss, will es nicht den persönlichen Misserfolg verbuchen müssen. Auf der anderen Seite generiert diese Ordnung durch die flexible, schnelle und wissensbasierte postfordistische Produktionsform eine Unmenge an (Konsum-)Reizen, die in einer wunderbaren Warenästhetik tagtäglich und über alle Kanäle der Kommunikation vermittelt werden, womit sich auch die Medien dieser Reizökonomie zunehmend anpassen. Dieser neue Kapitalismus, der mit dem theoretischen Unterbau des Neoliberalismus in den 1970er Jahren seinen Siegesritt über den Globus begann, zerstört somit die tradierten und bis dahin geltenden Formen der fordistischen Produktion und eröffnet neue Felder der Produktivität, Kreativität und Freiheit. Auf der einen Seite gewährt er neue Formen von Freiheit, um sie auf der anderen Seite zurückzunehmen. Was er den einen offeriert, wird den anderen genommen. Seine Devise lautet: mehr Freiheiten auf Kosten von Rechten. Ein flexibleres Leben, das von den strengen, durchrationalisierten und überwachten Arbeitsvorgängen im sogenannten keynesianischen Zeitalter befreit ist, gibt es nur zum Preis geringerer Sicherheit, erweiterte Selbstbestimmung nur zum Preis des ökonomischen Risikos, womit auch Lohn und Freizeit mit neuen Bedeutungen versehen werden. Die individuelle Leistungs- und Beschäftigungsfähigkeit wird nämlich weiterhin im Rahmen ihrer ökonomischen Verwertbarkeit entziffert und bewertet. Wer aber den unvorhersagbaren Ansprüchen des Marktes nicht genügt, fällt aus diesem Rahmen und bekommt damit auch gleichzeitig, vom neuen aktivierenden Wohlfahrtsapparat mit seinen unzähligen Job-Centern, die Aufforderung zu hören, sich in seiner Freizeit gefälligst mehr anzustrengen und den Marktanforderungen anzupassen. Das Individuum wird so auf sich selbst zurückgeworfen und zum alleinigen Schmied seines Schicksals geadelt, der überall und jederzeit an sich arbeiten muss und die hierfür notwendigen Werkzeuge auf einem grassierenden Markt der Weiterbildungs- und Self-Management-Kurse findet. Wer diese Werkzeuge nicht in die Hand nimmt und sich selbst nicht zum Erfolgsobjekt
Einleitung
schmiedet, darf dann vom kollektive Chor getrost als jemand besungen werden, der an seiner misslichen Lage selber schuld ist. Die Fragen nach Glück und Unglück, Armut und Reichtum, Erfolg und Misserfolg werden damit von ihrer sozialen Bedingtheit gelöst, von der kollektiven Auseinandersetzung zur demokratischen Gestaltung menschenwürdiger Lebensformen getrennt und zur alleinigen Sache des Einzelnen deklariert. Um dem persönlichen Bankrott zu entgehen, ist eine permanente Anpassung an die Anforderungen des Marktes, eine erhöhte Aufmerksamkeit für die neuen Trends und Risiken sowie ein unaufhörliches Aufsaugen aller möglichen Informationen und Signale in der Marktgesellschaft erforderlich. Dieses Übermass an Informationen, Reizen, Impulsen und die damit verlautbarten Imperative der ›richtigen‹, weil ›erfolgreichen‹ Verhaltens-, Denk- und sonstigen Lebensweisen beeinflussen nicht nur die Wahrnehmung des Einzelnen, sondern verändern auch seine Aufmerksamkeitsstruktur. Seine Ökonomie der Aufmerksamkeit kann sich nicht mehr auf die Kontemplation eines einzigen Sachverhaltes konzentrieren, sondern muss diversifiziert werden, auf alle möglichen Reize reagieren und diejenigen Informationen herausfiltern, die ein erfolgreiches Bestehen im sozialen Netz versprechen. Gefragt ist das viel gefeierte Multitasking, das aber gerade keinen zivilisatorischen Fortschritt darstellt, denn »das Multitasking ist keine Fähigkeit, zu der allein der Mensch in der spätmodernen Arbeits- und Informationsgesellschaft fähig wäre. Es handelt sich vielmehr um einen Regress. Das Multitasking ist gerade bei Tieren in der freien Wildbahn weit verbreitet. Es ist eine Aufmerksamkeitstechnik, die unerlässlich ist für das Überleben in der Wildnis.« 6
Der Mensch wird in dieser schönen neuen Welt des neoliberalen Kapitalismus dazu angereizt, sich ständig fortzubewegen, ständig auf dem Laufe der Zeit zu sein, hierfür permanent das Ohr für die Chancen und Risiken auf dem Arbeitsmarkt offen zu halten, möglichst viele Fähigkeiten zu erlernen, um auf möglichst vielen Hochzeiten tanzen zu können. Er wird dazu angehalten, sich um sich selbst zu kümmern und seine Position in der Gesellschaft durch dieses Aufsaugen möglichst vieler Informationen und der Aneignung möglichst vieler Fähigkeiten zu verbessern, im Wissen freilich, dass er vom Markt, trotz all seiner Anstrengungen, jederzeit ignoriert werden kann. Eine solche Tätigkeit, die überdies und mit der Zeit Erschöpfungszustände zeitigt, kann Unmotiviertheit, Überdruss und sogar Apathie hervorrufen. Zu Recht betont der koreanische Philosoph Byung-Chul Han, dass damit eine Müdigkeitsgesellschaft etabliert wird, in der die Kontemplation über das gute und gerechte Leben dem Diktat des Moments unterworfen wird, und so kollektive Projekte und politisches Engagement für eine durchdachte und der gemeinsamen öffentlichen Kritik unterstellte Idee des guten und gerechten gemeinsamen Miteinanders ermüden. »Die Sorge um das gute 6 | H AN, B YUNG -C HUL . Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz 2010. S. 24.
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Leben, zu dem auch das gelingende Zusammenleben gehört, weicht immer mehr der Sorge ums Überleben.«7 Damit entpuppt sich der Neoliberalismus nicht nur als ein Amalgam von ökonomischer Theorie und politischer Praxis, sondern vor allem als ein Machtsystem, das hegemonial die politischen und gesellschaftlichen Fundamente eines Gemeinwesens vereinnahmt und hier Asozialität und Egomanisierung organisiert und so auch die politische Kultur nach seinem Ebenbild auszurichten versucht. In der vorliegenden Studie geht es genau um den zuletzt genannten Sachverhalt. Es wird untersucht, wie politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus aussieht, welche gemeinsam geteilten Werte, Sinnvorstellungen, Symbole, Mythen und welche dominanten Selbst- und Weltverständnisse in ihr Platz finden, auf welche Weise dies geschieht und welche Auswirkungen diese Kodierungen auf das politischen Leben und die politischen Strukturen haben. Dabei wird von der These ausgegangen, dass die neoliberale hegemoniale Ordnung auf Politiken auf baut, die unweigerlich die politische Kultur vereinnahmen und sie nach ihren Prinzipien und Massgaben ausrichten. Als Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über die Krise der Demokratie, möchte diese Untersuchung somit den analytisch-kritischen Blick auf dasjenige Fundament richten, das für jede politisch verfasste Gemeinschaft unverzichtbar ist – auf die politische Kultur. Hier sedimentieren sich die dominanten, auf das politische System bezogenen Wertvorstellungen und Orientierungsmuster und hier werden sie über die Zeit tradiert, im kollektiven Bewusstsein wach gehalten, und in Form exklusiver Deutungsraster der Welt und des Selbst geben sie dem Einzelnen eine kollektiv geteilte normativ-kognitive ›Brille‹ an die Hand, mit der er die alltagspraktischen Handlungen, die Diskurse des Öffentlichen und Privaten und die jeweiligen ›Wir‹-Identitäten mit Sinn oder Unsinn behaftet, was unweigerlich auch seine Erwartungen und Ansprüche an das politische System formt. Hier wird also die These vertreten, dass die neoliberale Hegemonie, fern davon, politische Kultur zu zerstören, sich eine ihr entsprechende politische Kultur formt. Es ist eine Kultur des Undemokratischen, der Bedrohung und der reaktionären Gesinnung, die im Gleichklang mit dem neoliberalen Projekt der Politik der Entpolitisierung und der ›Ökonomisierung des Sozialen‹ das Denken, Handeln und Fühlen der Menschen einnimmt und so auch die bestehenden Herrschaftsverhältnisse sowie ihnen gemässe Welt- und Selbstdeutungen stabilisiert. Bevor diese Wechselwirkungen zwischen einem politisch-ökonomischen System, das globale hegemoniale Macht gewonnen hat und dem politisch-kulturellen Fundament einer jeden politisch verfassten Gemeinschaft näher betrachtet werden kann, wird in einem ersten Teil das Konzept der politischen Kultur analysiert. Hier wird danach gefragt, was unter politischer Kultur zu verstehen ist, wie sie sich manifestiert, welche Dimensionen sie konstituieren und wodurch 7 | Ibid. S. 25.
Einleitung
sie operationalisiert wird. Die Auseinandersetzung mit diesem schwer zu fassenden Begriff wird als Resultat einen Definitionsvorschlag formulieren, der in der bisherigen Forschungslandschaft ein neues Feld eröffnet. Politische Kultur, so das Fazit des ersten Teils, wird als Sediment hegemonialer Deutungen verstanden. Es besteht aus einer gemeinsam geteilten, kognitiv und normativ gefestigten Bewusstseinssphäre, in der dominante, kollektiv geteilte Selbst- und Weltbilder über den alltagspraktischen Vollzug ihrer Kodierungen eine Sedimentation erfahren. Die Welt und das Selbst erhalten ja erst dann Sinn, wenn sie durch Sprache, Praxis und Gedächtnis mit Bedeutung gefüllt werden können – eine Praxis der Bedeutungsgebung, die jedoch umkämpft ist, da ein Phänomen immer auch unterschiedlich signifiziert werden kann. Bedeutung benötigt also Konsens, aber indem sie einmal festgelegt wurde, erweist sie sich, solange der Konsens aufrechterhalten bleibt, als ein unsichtbarer Zwangsmechanismus, der die Kommunikation mit den dadurch tradierten und fixierten Bedeutungsangeboten sinnvoll und verständlich macht. Als Sediment hegemonialer, und das heisst eben immer auch politisch umkämpfter Deutungen, ist politische Kultur somit eine Speicherplatte der kollektiv geteilten, kommunizierten und erinnerten Sag- und Machbarkeiten in einer Gesellschaft, die als hegemoniale aber eben immer auch erodieren kann. Im zweiten Teil werden die globale Hegemonialwerdung des Neoliberalismus, seine ideologischen Fundamente, aber vor allem die politischen, sozialen und privaten Praktiken untersucht, die unweigerlich politische Kultur tangieren und sie, so die These, nach Massgabe der dominanten neoliberalen Doktrin samt ihrer Prinzipien und Verhaltens- wie Denkanweisungen kodieren. Hier wird also der Zustand von politischer Kultur in Zeiten des Neoliberalismus eruiert und auf die damit verbundenen Auswirkungen für das gesellschaftliche Zusammenleben befragt. Es wird sich hierbei zeigen, dass politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus unterschiedliche Praktiken der Bedeutungsgebung und somit unterschiedliche Kulturen speichert, die allesamt einen zutiefst undemokratischen Zug aufweisen. Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus ist das Sediment solcher hegemonialer Deutungen, die das Individuum auf sich selbst zurückwerfen und es mit einer Kultur der Egomanisierung verschränken sowie die Gesellschaft mit einer Kultur der Bedrohung unterfüttern und letztlich die Verbindung zwischen Bürgern und politischem System mit einer Kultur des Undemokratischen festigen. In Zeiten des Neoliberalismus, dieser gegenwärtigen hegemonialen Ordnung, wird politische Kultur nach Massgabe der hegemonialen Deutungen neu kodiert und ausgerichtet. Hier geht es also darum, mit einer hegemonietheoretischen Untersuchung aufzuzeigen, was politische Kultur formt und gestaltet und wie sie reflexiv und rückkoppelnd mit der hegemonialen politischen und ökonomischen Ordnung verschränkt ist. Es wird somit eine Analyse durchgeführt, die sich der dominanten Weltanschauungen wie auch der realen Kräfte- und Mächteverhältnisse annimmt, in denen sich diese materialisieren und über mediale Kanäle diskursiv vermittelt sowie mit dem Anspruch auf Wahrheit plausibilisiert und durch
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ihre alltagspraktische Performanz gespiegelt, habituell reproduziert und so auch im kollektiven Gedächtnis Eingang finden. Die Menschen, so betonte Friedrich Engels einst, machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen sie bedingenden Milieu. Im Zentrum des Interesses steht hier dieses Milieu, das aus einer Perspektive, die sich an Antonio Gramscis Hegemonietheorie ausrichtet, analysiert wird und die Ordnung, Macht und Herrschaft immer in Verbindung mit ihren kulturellen Ermöglichungsbedingungen denkt. Es handelt sich dabei um ein Milieu, das gegenwärtig von einer hegemonialen Ordnung dominiert ist, die sich um das neoliberale politisch-ökonomische Projekt gruppiert und entsprechende Praktiken, Diskurse sowie Denkund Handlungsweisen als ›richtige‹ taxiert, um andere auszugrenzen, und in welchem sich eine politische Kultur etabliert, die hiervon geformt wird und in welche diejenigen Welt- und Selbstbilder eingefügt werden, die zur Erhaltung der hegemonialen Ordnung beitragen. Die Menschen machen ihre Geschichte also auf dem Boden einer hegemonialen Ordnung, in der die Materialität der Praxis mit einer sie legitimierenden politisch-kulturellen Deutung reflexiv verschränkt ist. Es ist jedoch eine Geschichte, die wie jede andere Geschichte auch, verändert und nach Massgabe anderer Vorstellungen, Sinnmuster und Selbst- und Weltbilder geformt und gestaltet werden kann. Gerade das Verständnis von politischer Kultur als Sediment hegemonialer Deutungen ermöglicht die Öffnung eines politischen und semantischen Feldes in der Gesellschaft, in dem Widerstand gedacht und an verschiedenen Orten praktiziert werden kann, um so die dominante Ordnung und die sie stützende politische Kultur herausfordern und neu kodieren zu können. Gerade weil die neoliberale Ordnung eine hegemoniale Konstellation darstellt und auch die politische Kultur hegemonietechnisch formiert ist, ist das Milieu, in dem die Menschen sich vorfinden und ihre Geschichte schreiben, immer auch politisch veränderbar. Dies wird das Thema der abschliessenden Überlegungen und des darin skizzierten Ausblicks sein. Was aktuell also untersucht werden muss, ist, wie ein dominantes politisch-ökonomisches System, das die Köpfe und die Herzen der Leute gewinnt, sie nach Massgabe seiner Weltanschauung formt und so eine – wenn auch immer kontingente und prekäre – Stabilisierung seiner Macht und Ordnung sucht. Hierfür muss aber erneut die Frage nach Hegemonie gestellt werden.
I. Politische Kultur
Im gegenwärtigen politischen und öffentlichen Diskurs erhält der Begriff der ›politischen Kultur‹ immer mehr Resonanz und wird in vielerlei Zusammenhängen verwendet – so etwa, wenn ein Schwinden des politischen Interesses auf Seiten der Bürger beklagt wird, womit vielfach gemeinwohlzersetzende Entwicklungen gemeint sind, oder wenn dieselbe Diagnose dazu verwendet wird, um der Rede vom Politiküberdruss und der Demokratieentleerung Nachdruck zu geben. Der Begriff wird aber auch moralisch verwendet, wenn er als Appell an die gemeinschaftliche Verantwortung der Bürger, an ihre Loyalität gegenüber dem politischen System und an ihre Opferbereitschaft für das Gemeinwesen dient. In wissenschaftlich-vergleichender Absicht dient er als Instrument, um politische Transformationen, wie sie im ehemaligen sozialistischen Ostblock stattfinden, unter dem Aspekt kultureller Wandlungen zu thematisieren. Im alltäglichen Gebrauch findet er meistens Eingang in Diskussionen, die den Sieg oder den mangelnden Rückhalt in der Basis der einen oder anderen Partei erklären wollen. So kann es je nach Ausgang politischer Wahlen sein, dass die einen von einer konservativen, reaktionären oder gar rassistischen politischen Kultur sprechen, während die anderen die Rückbesinnung auf traditionelle und patriotische Werte als Auszeichnung der nationalen politischen Kultur und unter vorgehaltener Hand natürlich auch der Gesinnung ihrer Wählerschaft deklarieren. Aber auch innerhalb von politischen Parteien und Gruppierungen kann, sobald sich eine Fraktion ungerecht behandelt fühlt und dies mit Nachdruck kommuniziert, die Debatte um die – je nach Position, die eingenommen wird – ›demokratische‹ oder eben ›undemokratische‹ politische Kultur dieser Partei oder Gruppierung entfacht werden. Es scheint so, als würde der Begriff vielfach dann verwendet, wenn man nicht genau weiss, was man sagen will, aber dennoch auf das kulturelle Substrat einer politisch organisierten Gesellschaft oder Gruppe hinweisen möchte. Politische Kultur bezeichnet – so zumindest aus den bisherigen Ausführungen – eine gefühlsmässige Bindung der Leute an ihr politisches System, ihre organisierten Gruppen und die darin waltenden Akteure, wodurch Loyalität, Legitimität und Opferbereitschaft gemeint und erzeugt werden sollen. Mit dem Begriff der ›politischen Kultur‹ wird diesem Wechselverhältnis zwischen politischen Struk-
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turen und Gruppierung und die sie mit ›Leben‹ füllenden Wertorientierungen und Überzeugungssysteme der hiervon betroffenen Menschen Sinn zugesprochen. Ein politisches System, aber auch eine Partei oder sonstige politisch tätige Gruppierungen fundieren auf bestimmten Interessen, Werten, Überzeugungen und Weltanschauungen, die über kulturelle und politische Praktiken stabilisiert, reproduziert und so in ihrem Bestehen auch bestätigt werden. In diesem Sinne liesse sich sagen, dass in einem Staatswesen mehrere unterschiedlich kodierte, weil auf verschiedenen oder teils gegensätzlichen Wertvorstellungen und gefühlsmässigen Bindungen aufruhende politische Kulturen sich begegnen. Nicht nur zwischen linken und rechten politischen Gruppierungen wird sich eine Dichotomie feststellen lassen, auch neue soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Initiativen benötigen eine eigene politische Kultur, mit welcher sie ihre Deutungen der Welt und des Selbst erklären, legitimieren und im politischen Kampf um die ›gute‹ und ›gerechte‹ Ordnung geltend machen können. Damit ein politisches System jedoch über längere Zeit stabil gehalten werden kann, muss eine politische Kultur dominant gehalten und offizialisiert werden, damit die gesellschaftlichen Spielregeln und politischen Verfahren des Kampfes um die ›richtige‹ Gestaltung und Deutung des Gemeinwesens für die Mehrheit ihrer Mitglieder und Akteure auf Zustimmung hin festlegt werden können. Da jedes Gemeinwesen seine eigenen Traditionen erfindet und ritualisiert, seine Vorstellungen des ›richtigen‹ politischen und sozialen Umganges miteinander in den alltäglichen Praktiken festschreibt und rechtlich institutionalisiert, sind politische Kulturen immer auch partikular und in Kontingenz gefangen. Das heisst, dass sie einerseits die jeweils eigenen Wertvorstellungen, Interessen und Orientierungsmuster in Konkurrenz zu anderen durchsetzen wollen und andererseits, dass diese Kodierungen der Welt und des Selbst, diese Vorstellungen, Interessen und Deutungsmuster immer auch anders kodiert und beschrieben werden können. Entsprechend lässt sich schliessen, dass politische Kulturen länderspezifische Merkmale aufweisen. So prägen etwa historisch tradierte Selbstverständnisse über das politische System oder die mythisch unterfütterten nationalen Identitäten die jeweilige politische Kultur eines Landes. Beispielsweise wird die direktdemokratische Tradition der Schweiz auf einer anderen politischen Kultur gründen als das französische Präsidialsystem oder der chinesische Einparteienstaat. In diesem Teil soll ›politische Kultur‹ jedoch aus einer anderen Warte beleuchtet werden. Fern davon, die länderspezifischen Ausprägungen von politischer Kultur zu verneinen, geht es hier vielmehr darum, das Konzept der politischen Kultur neu aufzurollen. Dadurch lassen sich auch diejenigen Mechanismen, Dimensionen und Funktionsweisen in den Vordergrund stellen, die allen politischen Kulturen gemein sind, zumal sie ihre hinreichenden Konstitutionsbedingungen darstellen. Eine bloss auf länderspezifische Ausrichtung unternommene Analyse läuft Gefahr, in kulturalistische Untersuchungsmuster zu fallen, wenn sie den Blick nicht in vergleichender Absicht vom Lokalen zum Globalen und
I. Politische Kultur
auf die dazwischen stattfindenden Entwicklungen und Dynamiken wendet. Eine generalisierte Theorie der politischer Kultur hingegen, die jegliche länderspezifischen Aspekte ausblenden möchte, droht in einen Strukturalismus zu fallen, aus welchem politische Kultur nur noch als selbstläufiges System verstanden wird, ohne damit die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und vor allem politischen Kontingenzen erfassen zu können. Es geht also darum, einen Weg der Mitte einzuschlagen, sodass die analytische Aufarbeitung sich einerseits auf das abstrakt gehaltene Konzept der politischen Kultur konzentrieren kann und damit allgemeine Schlüsse zu ihrer Funktions-, Konstitutions- und Gestaltungsweise erläutert werden können. Andererseits müssen aber auch diejenigen in Kontingenz getauchten gesellschaftlichen Dynamiken erfasst werden, die politische Kultur immer wieder mit neuem Inhalt füllen. Zu fragen ist also, was politische Kultur definiert, wo sie sich manifestiert und auf welchen Macht- und Kräfteverhältnissen sie auf baut. Darüber hinaus ist zu untersuchen, welche Rolle die allgemeine Kultur eines Gemeinwesens, die sprachlichen Muster, die zur Erklärung und Plausibilisierung dieser Kultur verwendet werden, die Räume, in denen sie verlautbart werden und die materiellen Verhältnisse, in denen die Menschen ihr Dasein fristen, spielen. Es geht in diesem Teil der Untersuchung also darum, eine Metatheorie dieses Konzepts zu schreiben, um so auf diejenigen Konstitutionsbedingungen hinweisen zu können, die politische Kultur, unabhängig von ihrer jeweils partikularen nationalen, parteilichen oder gruppenspezifischen Ausrichtung, überhaupt erst ermöglichen. Hierfür ist ein langer analytischer Weg zu beschreiten, der mit den Gründern des modernen Konzepts der ›politischen Kultur‹ beginnt, in kritischer Absicht hierzu einen anderen Untersuchungsweg vorschlägt, um so dieses schwierig zu fassende Konzept neu einkreisen zu können. Es waren insbesondere Gunnar Folke Schupperts1 Untersuchungen zur politischen Kultur, die als Ideengeber diese analytische Neuausrichtung orientierten. Inspiriert durch diese Analysen wird es darum gehen, in zwei Annäherungsschritten die Dimensionen, in denen sich politische Kultur manifestiert, ihre Funktionslogik und den privilegierten Raum ihrer Erscheinung herausarbeiten zu können. Politische Kultur, so wird sich herausstellen, ist nicht nur ein Phänomen des Öffentlichen, sondern ganz und gar ideologisch durchtränkt. Gerade dieser ideologiekritische Zugang wird letztlich auf die Wechselwirkungen zwischen politischer Struktur, Kultur und kapitalistischer Produktionsweise und auf die Orte, an denen diese ideologischen Verflechtungen Materialität gewinnen und exklusive Selbst- und Weltdeutungen diskursiv stabilisieren, hinweisen, die wiederum auf die politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung rückkoppelnd einwirken. Unter Zuhilfenahme von Antonio Gramscis Hegemonietheorie können die Manifestationsformen und -dimensionen von politischer Kultur mit der kapitalistischen Produktionsweise derart in Verbindung gebracht werden, dass die Entste1 | Vgl. S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. Baden-Baden: Nomos 2008.
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hung und Reproduktion politisch-kultureller Deutungen der Welt und des Selbst als hegemoniale Prozesse verstanden werden können. Es wird jedoch mit dem Naheliegenden begonnen, das bereits im Begriff der politischen Kultur semantisch vereint ist: mit Politik und Kultur.
1. Politik und Kultur
Im Begriff der politischen Kultur schillern diejenigen Momente des menschlichen Zusammenlebens, die konstitutiv für ihr Gelingen sind und die aus der Dynamik der sozialen Handlungen produziert und reproduziert werden – Politik und Kultur. Doch ist zunächst zu klären, was genau unter den Begriffen ›Kultur‹ und ›Politik‹ zu verstehen ist. Während Politik jenes menschliche Handeln bezeichnet, »das auf die Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen (von ›allgemeiner Verbindlichkeit‹) in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt«1, ist Kultur ein weitläufigeres Konzept, in das die Politik zwar eingeschlossen ist, zumal sie die kulturellen Selbstverständnisse einer Gesellschaft in rechtlich kodifizierter Variante zum Ausdruck bringt und so rückkoppelnd auch wieder stabilisiert, aber eben nur einen – wenn auch den wichtigsten – Teil ihrer Konstitution darstellt. Kultur ist nicht dasselbe wie Politik und Politik geht nicht in Kultur auf. Zwar lässt sich sagen, dass Kultur immer politisch ist, also ihre Kodierungen und die damit erzeugten Wertorientierungen und Selbst- und Weltverständnisse politisch durchsetzbar sein müssen, um eine genügend grosse Resonanz beim Publikum und somit ein Deuten der Welt und ein Handeln in dieser, nach Massgabe der kulturellen Kodierungen, ermöglichen zu können. Aber Politik muss nicht immer kulturell durchsetzt sein. Arbeitskämpfe und Streiks sind gerade Beispiele politischer und nicht kultureller Kämpfe. In diesen geht es zwar auch um die ›richtige‹ kulturelle Kodierung, die in einer Gesellschaft vorhanden ist, aber vielmehr geht es um politische Rechte und um Fragen der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Natürlich lassen sich diese Fragen auch kulturell kodieren, etwa indem der geringe Lohn als Folge von Herkunft, Ethnizität, Faulheit oder als Konsequenz der Unangepasstheit an die Marktbedürfnisse entschuldigt wird, dennoch offenbart sich der Kampf insofern in einer politischen Semantik, als er auf diejenigen Herrschaftsapparate zielt, die eine Vereitelung oder einen Sieg der Arbeitskämpfe überhaupt ermöglichen. Bleibt man im Fahrwasser eines postmodernen Kulturalismus, der 1 | PATZELT, W ERNER J. Einführung in die Politikwissenschaft. 5. Auflage. Passau: Wissenschaftsverlag 2003. S. 23.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
jede politische Frage als eine kulturelle kodiert und jeden kulturellen Unterschied als politischen betrachtet, läuft man Gefahr, dasjenige zu übersehen, »was politisch gesprochen jenseits der Kultur liegt: der staatliche Gewalt- und Zwangsapparat.«2 Kulturelle Auseinandersetzungen sind sehr wohl politisch motiviert oder gar strukturiert, so wie auch politische Kämpfe nicht ohne kulturelle Vorverständnisse ablaufen, dennoch zielen beide auf unterschiedliche gesellschaftliche Institutionen und operieren mittels unterschiedlicher Strategien und Funktionslogiken. Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen zielt genauso wie der Kampf um die Anerkennung von Minderheiten auf Emanzipation und Selbstbestimmung, offenbart sich aber über eine andere Semantik. Geht es im ersten um die Veränderung wirtschaftlicher Verhältnisse, liegt dem zweiten die Sorge um die kulturelle Identität zugrunde. Beide können zwar politisch motiviert sein und vor einem jeweils kulturellen Hintergrund operieren, in ihrer Ausrichtung aber tangieren sie unterschiedliche Handlungsfelder der sozialen Interaktion, die in ihrer Komposition nicht dasselbe sind. Identifiziert man allzu leicht Politik mit Kultur oder umgekehrt, wird nicht nur unverständlich, wann ein Kampf im politischen oder kulturellen Register geführt wird, sondern alles droht dann in einen opaken Diskurs zu münden, aus welchem nicht mehr genau ersichtlich ist, was nun Fragen der politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Veränderung sind. Alle diese Fragen konvergieren zwar mit den jeweils anderen, aber die Reduktion von Arbeitskämpfen auf einen Streit um kulturelle Fragen sowie den Wunsch nach Anerkennung als bloss politischen zu verstehen, droht nicht nur, die jeweiligen Wissensbestände und Sinnhorizonte dieser zwei Kampfpositionen zu vernachlässigen, sondern auch, deren normative Forderungen bloss als partikulares Auf blitzen allgemeiner Unzufriedenheit zu klassifizieren, womit diesen Kämpfen auch die jeweilige Spitze abgebrochen wird. Wirtschaftliche Fragen tangieren sehr wohl die jeweilige Identität, sind aber nicht dasselbe wie Fragen des kulturellen Selbstverständnisses. In beiden interagieren Politik und Kultur, verschmelzen aber nicht zu einer undurchschaubaren Einheit. Dennoch erscheinen Politik und Kultur wie untrennbare siamesische Zwillinge aneinandergebunden, sodass geklärt werden muss, weshalb das so ist. Wie Werner Patzelt zu Recht betont, zielt Politik qua menschliches Handeln auf allgemeinverbindliche Entscheidungen. Hier geht es darum, regelgebundene Macht so zu sanktionieren, dass sie allgemeine Gültigkeit und somit Vorhersagbarkeit und Berechenbarkeit erhält. In der Sphäre der Politik geht es also um die sanktionsbewährte und effektive Stabilisierung oder Veränderung bestehender Verhältnisse, um den mit Gültigkeit versehenen Ausgang von Verteilungskonflikten und um die Herbeiführung der – wie auch immer definierten – ›guten Ordnung‹. Politik wird somit, wie es in der Politikwissenschaft allgemein anerkannt ist, folgendermaßen verstanden: ›politics is deciding who gets what when and where.‹ Sehr schnell aber wird einem klar, dass diese typisierten Politikfelder nicht ohne 2 | E AGLETON, TERRY. Was ist Kultur? München: Beck 2009. S. 63.
1. Politik und Kultur
einen kulturellen Hintergrund funktionsfähig sein können. Dies ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass Politik immer nur menschliches Handeln sein kann. Denn es ist zu fragen, wer sonst, wenn nicht der Mensch, die menschlichen und allzumenschlichen Dinge ordnen, klassifizieren, bewerten und nach selbst festgelegten Kriterien auch die Entscheidungen über ihre Verteilung treffen könnte. Auch jede postulierte übermenschliche Ordnungsgewalt müsste sich ja irgendwie artikulier- und hörbar machen, und es könnte wohl nur der Mensch Rezipient, Interpret und Übersetzer dieser Botschaften sein, um sie dann in die politische Tat mit Anspruch auf allgemeinverbindlicher Geltung umzusetzen. Dies gilt nicht nur für eine göttliche Übergewalt, sondern auch für solche ›Wesenheiten‹, die sich angeblich abstrakt offenbaren und so mit dem Prestige des ›Eigenlebens‹ ausgestattet werden, wie dies beispielsweise in der neoliberalen Theorie für die spontane Ordnung des Marktes der Fall ist. Politisches Handeln qua menschliches Handeln findet also nicht in einem aseptischen und inhaltsleeren kognitiven Raum statt, vielmehr ist es immer schon von Normen, Interessen, Wertvorstellungen und Weltanschauungen geprägt, die einerseits in Relation mit dem Handeln anderer Menschen gesetzt werden und so erst ihre Sinnhaftigkeit entfalten, und andererseits durch Erziehung, Wissensvermittlung, Sozialisation und soziale Kontrolle erlernt und immer wieder auch unter den Augen der anderen prüf bar gemacht werden. Menschen beziehen ihre Handlungen aufeinander, interpretieren sie und vergewissern sich so ihrer Bedeutsamkeit. Sowohl im engeren Kreis der vertrauten Familienmitglieder als auch in der anonymen Sphäre der Öffentlichkeit bedarf die eigene Handlung oder die eigene kommunikative Mitteilung der Sinndeutung seitens ihrer Adressaten, die dann grössere Chancen zum gewünschten und intendierten Interpretationsausgang hat, wenn die Handlung und die Rede nach Massgabe der bestehenden, ›lesbaren‹ und ›richtigen‹ Spielordnung des familiären oder öffentlichen Austausches dechiffriert wird. Menschliches Handeln ist – wie es ein geflügeltes Wort von Max Weber sagt – qua soziales Handeln immer sinnhaft aufeinander bezogenes Handeln. Politisches Handeln lässt sich demnach als jenes soziale Handeln verstehen, das auf die Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit abzielt. Politische Wirklichkeit wird also von menschlichem Handeln hervorgebracht. Was hier banal daherkommt, muss nicht auch trivial sein. Die Relevanz dieses intuitiv einleuchtenden Zusammenhangs liegt vielmehr hinter seinen Bausteinen verborgen. Politische Wirklichkeit lässt sich problemlos eruieren. Wahlergebnisse, Institutionen, legislative Entscheide, Gesetzgebungsverfahren, Parteienstärken und parlamentarische Koalitionen lassen sich in Zahlen, architektonischen Bauwerken, Kommuniqués oder klar definierbaren Akteuren veranschaulichen. Aber erschöpft sie sich wirklich bloss darin? Wie steht es mit ihren zugrundeliegenden Deutungs- und Interpretationspraktiken, die erst so etwas wie sinnvolles menschliches Interagieren und somit legitimierbare oder zumindest nachvollziehbare politische Wirklichkeit erzeugen? Sind nicht vielmehr schon die Sinndeutungspraktiken, die als Interpretation der eigenen Handlungen sowie
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der anderer in einem sozialen Verband die Dinge in den ›richtigen‹ Sinnhorizont zu verschieben erlauben, durch und durch politisch? Erscheinen bei näherem Hinschauen nicht schon die kognitiven, symbolischen und mehr oder weniger intuitiv applizierten Konstruktionsmittel von sinnvollem Handeln ihrerseits als politische Konstrukte? Dieser rhetorische Fragenkatalog möchte darauf hinweisen, dass im Verborgenen der politischen Wirklichkeit sich ein ausgedehntes Feld kultureller Kodierungen, Praktiken, Sinngebungsverfahren und Rollengefüge ausbreitet, die menschliches Handeln qua soziales Handeln in unterschiedliche soziale Rollen, gesellschaftliche Institutionen und politische Entscheidungen münden lässt. Hinter dieser Oberflächenstruktur der politischen Wirklichkeit verbirgt sich also eine und zwar die Welt, die den Oberflächenphänomenen überhaupt erst Bedeutung verleiht. Hinter dem bewusst erfahrbaren Schein der politischen Wirklichkeit operiert ein kulturelles Unterbewusstsein, dessen Signale, Imperative und Fragen immer wieder an die Oberfläche treten, und das dort die menschlichen Interaktionen prägt und nach Massgabe seiner eigenen Kodierung deutbar werden lässt. Diese verborgene Welt kann ›politische Kultur‹ genannt werden. In ihr sind Wissensbestände, Sinndeutungen, Selbst- und Weltverständnisse, Symbole und kulturelle Kodierungen gespeichert, die von den einzelnen Individuen mittels Erziehung und Sozialisation in politisch oder gesellschaftlich sanktionierten Institutionen – wie bspw. Gerichtsbarkeit oder Familie – oder formalen und ungeschriebenen, aber im sozialen Verband mit der Gewalt der Selbstverständlichkeit kodierten ›ways of behaving‹ – wie bspw. Tischsitten oder Gebote des Verhaltens in öffentlichen Räumen – fraglos übernommen, kritisch verändert oder opportunistisch zum Zwecke des eigenen Ansehens missbraucht werden und so am Prozess der Hervorbringung, Aufrechterhaltung, Veränderung oder Zerstörung politischer Wirklichkeit beteiligt sind. Ist das Individuum nicht Herr im eigenen Hause, wie Sigmund Freud anmerkte, so liesse sich hier sagen, dass auch die politische Wirklichkeit von Geistern heimgesucht werden kann, die ihre Entwicklung beeinflussen. Politik erweist sich somit als ein kulturelles Faktum, aber umgekehrt ist auch Kultur ein politisches Faktum. Das Unbewusste der Politik beeinflusst sie nicht nur, sondern wird seinerseits von den Entwicklungen und Veränderungen im Bereich der bewusst wahrnehmbaren politischen Wirklichkeit von neuem genährt. Politisches Handeln ruht also auf einem kulturellen Fundament, das wir politische Kultur nennen, welches aber wiederum eine Rückkoppelung von den politisch plausibilisierten ›Wirklichkeiten‹ erfährt. Entsprechend muss mit einem Kulturbegriff gearbeitet werden, der weder statisch noch partikular abgeschlossen ist, sondern vielmehr dem symbolischen und semiotischen Gehalt des Kulturellen Rechnung trägt und ihn als offenen Prozess versteht.
1. Politik und Kultur
Liegt die erste Fehldefinition im Orbit des huntingtonschen Konzepts des »Kampf[es] der Kulturen«3, befindet sich die zweite im Rahmen des romantischen Denkens und des hieran anknüpfenden Nationalismus. Im Gegensatz zu diesen Kulturkonzepten wird hier eine Kulturdefinition vorschlagen, die nicht nur die Offenheit ihrer permanent gegebenen Möglichkeit zur Veränderung beinhaltet, sondern sie vor allem als bedeutungsgebende Praxis versteht. Huntingtons Werk definiert den Kern der westlichen Kultur anhand von acht Elementen, die vom klassischen Erbe bis hin zum Individualismus4 ihre essentiellen Fundamente darstellen, mittels derer die Differenzlinien zu anderen Kulturen gezogen werden können. Zwar zeichnen sich Kulturen oder Kulturkreise durch bestimmte konstant gehaltene Wertvorstellungen und Ideale aus, aber diese bilden keine essentiellen Komponenten einer Kernkultur. Vielmehr müssen sie ja gerade immer wieder reproduziert, in Erinnerung gerufen und stabilisiert werden, damit sie überhaupt konstant bleiben können. Zudem vernachlässigt eine solche Sicht von Kultur den dynamischen und polyvalenten Aspekt der Kulturbildung und -veränderung und verkürzt den Kulturbegriff, wie Hans Joas und Christof Mandry mahnend bemerkten, zu einem »Containerverständnis von Kultur«, wohingegen, wie sie weiter betonen, eine Kulturgemeinschaft vielmehr eine stets in Entwicklung befindliche Gemeinschaft ist, die eher einem Diskursraum als einem konstant bleibenden Gerüst entspricht, das auf einem griffigen Kulturund Wertefundus aufruht.5 Kultur ist also nicht die Summe von angeblich unveränderlichen Merkmalen einer sozialen Gemeinschaft, deren Totalität als unveränderbare Schablone zur Affirmation wie zur Selbst- und Fremdkritik verwendet werden kann, noch bezeichnet sie die ausgezeichnete Lebensform eines menschlichen Verbandes. Zwar betonte Johann Gottfried Herder in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«6, dass Kultur im Gegensatz zum Universalismus der Aufklärung nicht jene grossartige, unilineare Menschheitserzählung darstelle, sondern vielmehr eine Vielfalt von spezifischen Lebensformen bezeichne, die sich alle nach ihrem eigenen Entwicklungsgesetz entfalten und verändern. Kultur wird mit Herder plural. Laut Geoffrey Hartmann war Herder der erste, der das Wort 3 | Vgl. H UNTINGTON, S AMUEL P. Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München. Wien: Siedler 1998. 4 | Neben den zwei erwähnten listet Huntington noch folgende Elemente auf: Katholizismus und Protestantismus, Europäische Sprachen, Trennung geistlicher und weltlicher Macht, Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftlicher Pluralismus und Repräsentativorgane. In: Ibid. S. 99-102. 5 | J OAS, H ANS. M ANDRY, C HRISTOPH. Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft. In: S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . P ERNICE, I NGOLF. H ALTERN, U LRICH (Hg.). Europawissenschaft. Baden-Baden: Nomos 2005. S. 541ff, 568. 6 | Vgl. H ERDER, J OHANN G OT TFRIED. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Leipzig: Hartknoch 1903.
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›Kultur‹ »im modernen Sinn einer Identitätskultur gebrauchte: einer soziablen, volkstümlichen und traditionellen Lebensweise, die alles durchdringt und den Menschen sich in ihr verwurzelt oder beheimatet fühlen lässt.«7 Kultur wird bei ihm aber auch Identitätspolitik, da sie als einheitsstiftendes Grundprinzip fungiert, das mittels der Sprache, des kulturellen Erbes, des Bildungssystems und der darin vermittelten Werte eine homogene Volksgemeinschaft zwischen Fremden stiftet. Obwohl die moderne Vorstellung von Kultur von diesem Konzept einer homogenen Gemeinschaft ausgeht, bleibt zu bemerken, dass hiermit Kulturen aber erst vergleichbar, bewertbar und hierarchisierbar werden und so einem exklusiv-chauvinistischen Nationalismus Tür und Tor für seine ›Reinheitsthesen‹ öffnen können. Herders Konzept von Kultur als Lebensweise, die als ästhetisierte Version der Gesellschaft ihren Mitgliedern Einheit, sinnliche Unmittelbarkeit und Konfliktfreiheit vermittelt, gerät in nationalistischem Fahrwasser zu einem exklusiven und privilegierten Identitätskonzept, welches die hiervon devianten Lebensformen auszuschliessen oder in extremis sogar auszulöschen trachtet. Kultur als einheitliche Form der sprachlichen, religiösen, pädagogischen und ästhetischen Lebensweise einer Gemeinschaft wird umgehend zur Wertetafel, auf welcher das Eigene dann wie selbstverständlich die oberste Position einnimmt. Beide Herangehensweisen zur Klärung des Begriffes Kultur scheinen also nicht sehr fruchtbar zu sein, da sie implizit nicht nur eine Homogenität suggerieren, die so nicht gegeben ist, sondern vielmehr auch die Idee einer Geschlossenheit predigen, die der menschlichen Urteilskraft, ihrem Gestaltungswillen und ihrer Kreativität zur Erfindung neuer Traditionen oder Lebensstile jegliche Relevanz absprechen. Was also ist Kultur? Eine fruchtbare Definition findet sich in denjenigen Denkrichtungen, die im Anschluss an den sogenannten ›cultural turn‹ Kultur im Sinne von kollektiven Sinnsystemen deuten, in denen Deutungsschemata, Semantiken und kulturelle Modelle nicht mehr als Epiphänomene, sondern als notwendige Bedingungen aller sozialen Praxis wahrgenommen werden. Hier erscheint Kultur als jener Komplex von Sinnsystemen oder von symbolischen Ordnungen, mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermöglichen oder einschränken. Kultur hat in diesem Verständnis mit der Herstellung, Stabilisierung und Performanz von Bedeutung zu tun. Sie ist das Feld, in dem die Konflikte um Bedeutungen, Sinnorientierungen, Symbole und Werte ausgefochten werden. Dieses Kulturverständnis öffnet sich somit nicht nur für die semiotische und symbolische Dimension von Kultur, sondern betont, dass zur Kultur auch vorreflexive und unbewusste Elemente gehören. Die bestehenden Deutungsmuster der Welt und des Selbst, in die man geboren, sozialisiert oder mittels formeller wie auch informeller Zwangsmassnahmen gezwungen wird, formen und stabi7 | H ARTMANN, G EOFFREY. Das beredte Schweigen der Literatur. Über das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 228.
1. Politik und Kultur
lisieren die Selbst- und Weltverständnisse, können aber immer auch wieder in ihrer Bedeutsamkeit herausgefordert werden und so neue Sinndeutungen ermöglichen. Kultur erscheint aus dieser Perspektive als ein System von Kräften, die von der Geschichte hervorgebracht und wie Hefe in ihr wirksam sind. Kultur ist also nicht nur, wie Schiller8 bereits zu Recht betonte, das, was die menschlichen Subjekte nach den Bedürfnissen eines neuartigen Gemeinwesens prägt und sie so zu gelehrigen Trägern dieser neuen politischen Ordnung formt, sondern zugleich auch dasjenige Feld der menschlichen Interaktion, in dem die historisch dominant gewordenen Bedeutungen und Prägungen immer wieder auch neu kodiert werden können. Kultur ist ein Netz von Bezeichnungen, in das Menschen eingespannt sind und deren Maschen sie selber hergestellt haben und wieder verändern können. Kultur ist weder ein für alle Mal geschlossen und in ihrer bedeutungsgebenden Praxis fixiert noch befindet sie sich in einem permanenten Fluktuans möglicher Sinnstiftungen. Stabile Kulturen sind vielmehr darauf angewiesen, dass die Dinge an ihrem zugewiesenen Platz bleiben, im Wissen, dass dies nicht immer so sein muss. Ein solcher Kulturbegriff, welcher in der kommunikativ vermittelten, stabilisierten und sanktionierten Festlegung dessen, was bedeutsam ist und was nicht, seine Funktion findet, versteht das menschliche Da- und Zusammensein als eines, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, sich daraus wieder entwinden kann und in dieser zustimmenden oder ablehnenden Performanz gegenüber dem jeweils vorgefundenen Bedeutungsgewebe auch geformt wird. In der Kultur, so wie sie hier als Konzept einer bedeutungsgebenden Praxis vorgestellt wird, interagieren die verschiedenen Akteure einer Gesellschaft um Interpretationen, Bedeutungen und symbolisches Kapital, also auch um Prestige und Anerkennung, die wiederum mit exklusiver Bedeutung behaftet sein müssen, damit ihre Geltungsansprüche sozial anerkannt werden. Der Kampf um die ›richtige‹ Bedeutung, um das ›richtige‹ Verhalten in einem Gemeinwesen und um die entsprechenden materiellen wie intellektuellen Güter, die eine Konformität zu den dominanten kulturellen Bedeutungen, Sinnorientierungen und Wertereservoirs repräsentieren, findet öffentlich statt. Hier muss das jeweilige kulturelle und symbolische Kapital, die ›konformen‹ Praktiken und die ›geltenden‹ sozialen Anerkennungskriterien, aber auch die ›richtige‹ Kleidung, das ›angemessene‹ Sprechen, das ›relevante‹ Wissen sowie die materiellen Güter, die den Status eines Akteurs ›lesbar‹ machen, immer wieder an den dominierenden Sinndeutungen gemessen werden, hier entfachen sich die Kämpfe um die Definition des normativ wünschenswerten Verhaltens und Denkens oder bloss die konformistische Perpetuierung hiervon. Als bedeutungsgebende Praxis operiert Kultur mit gemeinsam geteilten Sinndeutungen, mit Rollenmodellen, die in ihrer Funktion und in ihrer Bezeichnung schon vorgefunden werden und so auch reproduziert oder kritisch verändert werden können, mit öffentlich legitimierten Institutionen, die – wie die Familie, das Konkubinat oder aber auch die politi8 | Vgl. E AGLETON, TERRY. Was ist Kultur? München: Beck 2001. S. 16.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
schen Gewalten, die Polizei und die Bildungseinrichtungen – immer wieder die Zustimmung ihrer Mitglieder bewusst oder unbewusst erheischen müssen, um überhaupt weiter in der bisherigen Form existieren zu können, und mit Narrationen, die die bestehende Ordnung mit einer entsprechend kodierten Erinnerungsarbeit legitimieren. Kultur ist aus dieser Warte also immer auch der Schauplatz eines politischen Konflikts um Bedeutung, zumal gerade dasjenige, was angeblich unpolitisch und somit ›natürlich‹ sein soll, zu seiner dogmatischen Durchsetzung einer permanenten politischen Intervention bedarf, damit der ideologische Einsatz immer wieder hinter dem Schein des Natürlichen verborgen bleibt. Politik und Kultur interagieren somit über bedeutungsgebende Praktiken. In diesen wird festgehalten, was in einem Gemeinwesen gelten soll, wie sich die Akteure darin bewegen sollen und welche Dinge sie sagen und machen können. Während die politische Auseinandersetzung explizit auf die öffentliche Artikulation drängt, um hier Entscheide fällen zu können, die der Allgemeinheit verbindlich zugeordnet werden, operiert die kulturelle Interaktion stärker über implizite Kodierungen, die – auch wenn sie öffentlich artikuliert oder herausgefordert werden – im informellen Bereich der menschlichen Interaktionen und des Alltagsverstandes ihre performative Kraft entfalten. Das Spucken auf den Boden kann zwar öffentlich angeprangert werden, seine Sanktionsgewalt erfährt es aber gewöhnlich nicht mittels eines politischen Diskurses, sondern aufgrund tradierter Sinnhorizonte, innerhalb derer eine solche Geste als unanständig und ›unkultiviert‹ gebrandmarkt wird. Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen hingegen mag sehr wohl kulturelle Hintergründe haben, operiert aber auf einer Ebene, auf welcher die Sanktionsgewalt des Staates und die rechtliche Festlegung anderer Arbeitsverhältnisse angesprochen werden. Beide Fälle streben nach allgemeiner Gültigkeit, finden aber ihre Grenzen der Machbarkeit in zwei verschiedenen Operationsfeldern, die zwar miteinander verknüpft, jedoch nicht identisch sind. Wird beim ersten Fall die öffentliche Indignation den Spuckenden eines Besseren belehren, ist beim zweiten Fall eine Entrüstung allenfalls auch im Spiel, benötigt aber der politischen Durchschlagskraft auf rechtlicher Ebene, um tatsächliche Änderungen herbeiführen zu können. Mit dem hier vorgeschlagenen Kulturbegriff, der als bedeutungsgebende Praxis vorgestellt wurde, wird es möglich, das Konzept der politischen Kultur in seiner semiotischen und symbolischen Ausprägung zu analysieren, um gleichzeitig auch die in ihr gespeicherten Wert-, Deutungs- und Sinnmuster als politisch durchgesetzte zu verstehen. Dadurch eröffnet sich auch ein Analysefeld, das um den symbolischen Aspekt der Politik, um die Kultur des Marktes, der Arbeit und des Konsums Ausschau hält – Felder also, in die das menschliche Da- und Zusammensein verstrickt ist, ihre materielle und geistige Reproduktion stattfindet und der eigene Sinnhorizont nach Massgabe der dominanten Selbst- und Weltdeutungen geprägt wird. Damit lassen sich auch die Strukturen öffentlicher oder medialer Verständigung untersuchen und Fragen nach den handlungsleitenden
1. Politik und Kultur
Mentalitäten gesellschaftlicher Gruppierungen stellen, so dass ein Wissen über die strukturellen Bedingungen und diskursive Infrastrukturen hergestellt werden kann, das Auskunft darüber gibt, wie Akteure sich über ihre Lebenspraxis verständigen, nach Interpretationen ihrer Lebensführung suchen oder ihre Interessengegensätze austragen. Politik und Kultur als Phänomene des menschlichen Zusammenlebens finden nicht nur einen Niederschlag im Konzept der politischen Kultur, welches sie semantisch schon einschliesst. Das Konzept selbst erweist sich als hegemoniale Formation, in welcher der Konsens seiner Produzenten und zugleich Unterworfenen hergestellt wird, um in der gewohnten Form weiter bestehen zu können, und zugleich formale oder informelle Zwänge generiert werden, die diesen Konsens über die Zeit perpetuieren. Politische Kultur ist der Ort, an dem dieses Wechselspiel von Kodierungen, die Konsens und Zwang erzeugen, stattfindet. Bevor aber diese hegemoniale Formation eine tiefgreifende Untersuchung und Darstellung erhalten kann, ist eine Auslegeordnung festzusetzen, damit einerseits die Spuren eruiert werden können, die dem Konzept der politischen Kultur im wissenschaftlichen Diskurs einen Definitionsrahmen vorgezeichnet haben, und andererseits und in kritischer Auseinandersetzung hiermit, die Dimensionen und Manifestationsformen dieses Konzept vorgestellt werden können, um anschliessend politische Kultur unter einem hegemonietheoretischen Raster neu zu positionieren und so eine Gesellschaftskritik der gegenwärtigen neoliberalen hegemonialen Ordnung begründen zu können, bei welcher die Entpolitisierung des Bürgers nur die Speerspitze eines wirtschafts- und sozialpolitischen Projekts zur Entleerung der Demokratie darstellt.
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2. Zur Begriffsgeschichte der politischen Kultur
Setzt man sich mit dem Konzept der politischen Kultur auseinander, kommt man nicht nur in Definitionsschwierigkeiten, weil dieses Unterfangen dem ›Nageln eines Puddings an die Wand‹ gleicht, 1 auch die analytische Herangehensweise erfordert einen zu beschreitenden Weg, der sich langsam an dieses Konzept herantastet, um dadurch der Gefahr zu entgehen, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen. Im öffentlichen und politischen Diskurs der Gegenwart erweist sich das Konzept der politischen Kultur trotz seiner ›puddinghaften Konsistenz‹ nicht nur als ein überaus erfolgreicher Begriff, sondern auch als ein Konzept, dessen diskursive Verwendung genealogisch vorgezeichnet ist. Ein Versuch, das Konzept der politischen Kultur analytisch zu fassen, muss sich also diesen beiden Schwierigkeiten stellen. Der ›schwabbelige‹ Aggregatzustand des Begriffs bekommt erst dann eine analytisch handhabbare Konsistenz, wenn seine genealogische Verwurzelung neu aufgerollt und in diesem Prozess gleichsam neu beschrieben wird. Eine Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Ahnherren der politischen Kulturforschung, wie sie auch für die heutige Zeit noch grundlegend ist, lässt sich daher nicht vermeiden. In einem ersten Schritt geht es also darum, das Konzept von derjenigen Warte aus kritisch zu beleuchten, aus der es erstmals wissenschaftlich untersucht wurde.
2.1 D ER A UF TAK T ZUR POLITISCHEN K ULTURFORSCHUNG Der Begriff der politischen Kultur findet mit den Studien von Gabriel A. Almond und Sidney Verba in den 1960er Jahren in der akademischen Welt Eingang.2 Im 1 | K AASE, M AX . Sinn oder Unsinn des Konzepts »Politische Kultur« für die vergleichende Politikforschung, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. In: D ERS. (Hg.). Wahlen und politisches System: Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1980. Opladen: Westdeutscher Verlag 1983. S. 144ff. 2 | A LMOND, G ABRIEL . V ERBA, S IDNEY. The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press 1963. Eine gute Einführung zum ak-
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
Rahmen der als ›behavioral revolution‹3 charakterisierten wissenschaftlichen Neuausrichtung der Politikwissenschaft konzentrierten sich beide Forscher auf die Frage, weshalb einige politische Systeme eine grössere demokratische Stabilität aufwiesen als andere. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlugen in der Tat viele Staaten den Weg der Demokratie ein, doch schien diese zweite Demokratisierungswelle, wie Samuel P. Huntington 4 sie nennt, verschiedene Geschwindigkeiten und Ausprägungen zu zeigen. Nicht nur nahmen Länder wie die USA und Grossbritannien andere politische Entwicklungen als beispielsweise Italien oder Frankreich, sie erwiesen sich auch als stabiler und krisenresistenter als Letztere. Mit dem Konzept der politischen Kultur versuchten Almond und Verba ein analytisches Instrument auszuarbeiten, um diese gleichzeitigen Ungleichzeitigkeiten erklären zu können. Ihrer Meinung nach müsste der Grund für diese unterschiedlichen und teils gegenläufigen Entwicklungen in der kulturellen Einbettung eines politischen Systems gesucht werden. Begrifflich brachte Gabriel A. Almond diesen für die PoliticalCulture- Forschung grundlegenden Zusammenhang bereits 1956 in weichenstellender Weise ins Spiel, indem er betonte, dass »every political system is imbedded in a particular pattern of orientations to political action. I have found it useful to
tuellen Forschungsstand über Konzept und Definition von ›politischer Kultur‹ bieten: S ALZBORN, S AMUEL (Hg.). Politische Kultur. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009. S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. Baden-Baden: Nomos 2008, sowie P ICKEL, S USANNE . P ICKEL, G ERT. Politische Kultur- und Demokratieforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006. 3 | Unter dem Begriff ›behavioral revolution‹ wird gemeinhin die methodische und theoretische Fokussierung auf Verhaltensstudien von Individuen oder Gruppen verstanden und eine Abwendung vom wissenschaftlichen und normativ inspirierten Interesse für politische Institutionen oder für die Interpretation von Rechtstexten. Sie wurde geprägt durch Forderungen und Ansätze wie theoriegeleitete Forschung (Erklärung statt Beschreibung), induktive Vorgehensweise, quantitative Forschungstechniken und eine Fokussierung auf individuelles Verhalten, das über das Theoriemodell des methodischen Individualismus eruiert wurde. Zu ihren Begründern gehören die Politikwissenschaftler Robert Dahl und Philip Converse sowie der Soziologe Paul Lazarsfeld und der Meinungsforscher Bernard Berelson. Vertiefend hierzu: DAHL , ROBERT A. The Behavioral Approach in Political Science. Epitaph for a Monument to a Successful Protest. In: American Political Science Review. Vol. 55, No. 4. (Dec., 1961). S. 763-772. 4 | Vgl. H UNTINGTON, S AMUEL P. The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth century. Norman: Oklahoma Press 1991. Die erste Welle datiert Huntington von 1828 bis 1926, die zweite von 1943 bis 1962 und die dritte lässt er Mitte der 1970er Jahre mit dem Ende der Nelkenrevolution in Portugal beginnen. Diese setzte sich in den 1980er Jahren in Lateinamerika fort, erreichte Ostasien, die kommunistischen Regime Osteuropas und die Sowjetunion und berührte einige Länder Afrikas.
2. Zur Begriffsgeschichte der politischen Kultur
refer to this as the political culture.«5 Diese erste vage Definition von politischer Kultur ist sicherlich noch nicht ausreichend, gibt aber schon einige Elemente an die Hand, die dem Konzept der politischen Kultur im almondschen Sinne Kontur verleihen. Politische Kultur scheint so etwas wie die Hintergrundfolie zu bilden, auf dessen sichtbarem Vordergrund sich ein bestimmtes politisches System abzeichnet, welches wiederum auf partikulare Orientierungsmuster angewiesen ist. Die methodische Richtung war somit vorgezeichnet. Die Phänomene von Stabilität oder Krisenhaftigkeit politischer Systeme mussten von ihren kulturellen Fundamenten her beleuchtet werden. Es ging also darum, die Bedeutung von Kultur für das Funktionieren und Überleben eines politischen Systems analytisch hervorzuheben. In theoretischer und methodischer Hinsicht konnten Almond und Verba hierfür auf Vorarbeiten aus der soziologischen Theorie und aus der behavioristischen politischen Psychologie zurückgreifen. Die Untersuchung der Bedeutung der Kultur für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen bildete bereits das Kernstück der soziologischen Theorie Max Webers und Talcott Parsons. Der deutsche Soziologe war für die Political-Culture-Forschung in zweierlei Hinsicht massgebend. Einerseits betonte er in seinen religionssoziologischen Schriften die Bedeutung der protestantischen Ethik6 für das Entstehen der modernen kapitalistischen Wirtschaftsform, also die Relevanz einer bestimmten dominant gewordenen Kultur für die darauf auf bauende Wirtschafts- und letztlich auch Politikform. Andererseits stellte Webers Macht-, aber vor allem Herrschaftssoziologie die Bedeutsamkeit der politischen Überzeugungen der Bevölkerung für die Legitimität einer Herrschaftsordnung heraus. Macht definiert er als jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, unabhängig davon, worauf diese Chance beruht.7 Für die Political-Culture-Forschung bietet aber der Machtbegriff wenig Anknüpfungspunkte, weil er einerseits vielfältig ist, wie Weber selbst betont, 8 und andererseits die Relationen zwischen Herrschern und Beherrschten zu sehr in eine Willens-Semantik taucht, aus der kaum objektive Schlüsse gezogen werden können. Präziser ist dafür der Begriff der Herrschaft, ohne die es nach Weber keine Macht geben kann. Webers Herrschaftsbegriff zielt auf den Aspekt der gegenseitigen Einflussnahme zwischen Regierenden und Regierten und öffnet ihn so für Fragen der 5 | A LMOND, G ABRIEL A. Comparative Political Systems. In: The Journal of Politics. 18. 1956. S. 391ff. Zitiert nach S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. Baden-Baden: Nomos 2008. S. 13. 6 | Vgl. W EBER, M AX. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1934). Herausg. von D IRK K AESLER . 3. durchges. Auflage. München: Beck 2010. 7 | W EBER, M AX . Wirtschaft und Gesellschaft (1922). Tübingen: Mohr 1972. S. 28. 8 | Anschliessend an seine Machtdefinition bemerkt Weber, dass die Grundlage für Macht genauso wie die Art ihrer Wirkung vielfältig ist, und nennt den Machtbegriff folglich »soziologisch amorph«. Siehe: Ibid. S. 28.
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Legitimation und Legitimität, die für eine Analyse der Kongruenz von politischer Struktur und Kultur sinnvoller erscheinen. Herrschaft, so Weber,9 ist die Chance »für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«. Sie setzt also Fügsamkeit voraus. Im Mittelpunkt dieser Betrachtung steht jedoch weniger die Frage nach den Gründen dieses Gehorsams als vielmehr nach den Prinzipien dieses Bereitseins zur Gefolgschaftsbereitschaft. Gemäss Weber kann nur dann von einer legitimen Form von Herrschaft die Rede sein, wenn ihre Prinzipien von Beherrschten und Herrschenden geteilt werden. Jede Herrschaft verfolgt zwar das Ziel der Legitimität – der Rechtmässigkeit ihres Bestehens – die Art dieser Legitimität kann jedoch variieren. Was aber nicht veränderbar sein kann, will man weiterhin von Legitimität sprechen, ist die gegenseitige Akzeptanz der Ordnungs- und Gehorsamsprinzipien und der damit festgelegten Legitimationsverhältnisse zwischen Herrschern und Beherrschten. Die von Weber vorgeschlagenen drei Idealtypen der Legitimation von Herrschaft – die rationale, traditionale und charismatische – operieren zwar über verschiedene Strategien, aber das Verhältnis zwischen Befehlsgeber und -empfänger bleibt auf Gehorsam angewiesen, soll Legitimität das Resultat sein. Die Legitimität der rationalen Herrschaft, die Weber auch legale oder bürokratische nennt, beruht auf dem Glauben an die Rationalität der »legal gesetzten sachlichen unpersönlichen Ordnung«,10 also auf die dadurch etablierte, kontrollierbare und einklagbare Legalität der Herrschaftsordnung. Der Geltungsgrund für diese Herrschaft liegt in der Tatsache, dass der Herrschende als Vertreter des Volkes gewählt wurde, dass seine Wahl somit bestimmten festgelegten und rechtlich sanktionierten Regeln folgt und entsprechend auch seine Befugnisse sich diesen und anderen Regeln und Normen fügen müssen. Somit ist auch der Befehlsgeber dem Gesetz verpflichtet. Das Ordnungs- und Gehorsamsprinzip beruht auf gegenseitiger Kontrolle. Diese aus der liberalen Tradition entstandene legale Form der Herrschaft mittels ›checks and balances‹ gilt bis heute als legitime Herrschaftsform. Ihr steht die traditionale und die charismatische Herrschaft gegenüber. Während die Legitimität bei ersterer aus »dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Tradition«11 entspringt, beruht die Legitimität der charismatischen Herrschaft auf der »außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenhaftigkeit oder die Vorbildlichkeit einer Person« 12 . Hier sind also die Aussergewöhnlichkeit, die jemand glaubwürdigerweise bei anderen für sich beanspruchen kann, und die aus dieser Position geschaffenen Regeln und Ordnungsprinzipien, welche Gültigkeit und Legitimität fordern. Diese webersche Unterteilung der Herrschaftsformen und ihrer Legitimationsquellen findet sich, 9 | Ibid. S. 28. 10 | Ibid. S. 124. 11 | Ibid. S. 124. 12 | Ibid. S. 124.
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wenn auch in gewandelter Form, bei Almond und Verba wieder, worauf zurückzukommen sein wird. Eine zweite Einflussgrösse bildete der von Talcott Parsons und Edwars Shils ausgearbeitete Kulturbegriff.13 Diesem gaben sie zwei Bedeutungsvarianten, die sie als kulturelle Objekte einerseits und kulturelle Orientierungen andererseits bezeichneten. Zu den kulturellen Objekten gehören sinnstiftende Symbole wie die Nationalflagge, die Nationalhymne, Nationalfeiertage, die Verfassung, bedeutsame historische Ereignisse, Gebäude oder Denkmäler usw. Kulturelle Objekte entfalten ihre Bedeutung aber nicht aus sich selbst heraus, vielmehr bedürfen sie der menschlichen Interpretationsleistung, damit sie für einzelne Personen oder Gruppen Sinn erhalten. Zur Kultur gehören also auch die auf kulturelle Objekte bezogenen Einstellungen der in einer Gesellschaft lebenden Menschen. Kultur umfasst somit aus Sicht von Parsons und Shils das Wissen um die Bedeutung von Symbolen, das Gefühl der Verbundenheit mit diesen Symbolen und die Anerkennung kultureller Werte als Grundlage des Zusammenlebens von Menschen in einer Gemeinschaft. Parsons’ Arbeiten waren aber auch in einer zweiten Hinsicht für den Political-Culture-Ansatz, wie ihn Almond und Verba entwickeln werden, wichtig. Gemäss Parsons’14 Systemtheorie bildet das Kultursystem das Steuerungszentrum eines jeden Sozialsystems, also auch des politischen (Teil-) Systems. Es erfüllt im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung die Aufgaben der Strukturerhaltung und Konfliktregelung und enthält all jene Werte, Normen, Verfahrensregeln und Identifikationsangebote, die es Menschen mit konkurrierenden Interessen ermöglichen, sich als Mitglieder einer Gemeinschaft zu fühlen. Kultur wird in diesem Sinne zum sinn- und identitätsstiftenden Teilsystem der Gesellschaft, das den Menschen in einer sich verändernden Welt Leitlinien für ihr Handeln vermittelt. Die Gesellschaft gewinnt aus dieser Perspektive ein gewisses Mass an Stabilität erst durch die Kultur. Eine dritte theoretische, aber vor allem methodische Quelle für Almonds und Verbas Political-Culture-Ansatz war die empirische Einstellungsforschung. Diese bildete auch den weitaus bedeutsameren Teil ihrer Untersuchungen, zumal die Fragestellungen, Konzepte und Methoden dieser, in den 1940er Jahren entstandenen, empirischen Wahlforschung auch für die Analyse der politischen Kultur vereinnahmt wurden. Die erste grosse empirische Wahlforschung erfolgte unter der Leitung von Paul F. Lazarsfeld anlässlich der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1940. In ihr kamen erstmals die Techniken der empirischen Umfrageforschung und der statistischen Datenanalyse zum Einsatz.15 13 | PARSONS, TALCOT T. S HILS, E DWARD. Toward a General Theory of Action. New York: Harper and Row 1962. S. 7ff. 14 | Vgl. PARSONS, TALCOT T. The Social System (1951). London: Routeledge 1991. 15 | Vgl. L AZARSFELD, PAUL F. B ERELSON, B ERNARD. G AUDET, H AZEL . The People’s Choice. How the Voter Makes up his Mind in a Presidental Campaign. New York: Columbia University Press 1941.
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Lazarsfelds Untersuchungsmethoden wurden 1952 und 1956 von Angus Campbell und anderen Forschern übernommen und weiterentwickelt.16 Ihre nationalen Wahlstudien in den Vereinigten Staaten dienten zudem als Vorbild für die Wahlforschung in anderen demokratischen Staaten und gewannen einen grossen Einfluss auf die Entwicklung der Methoden und Konzepte der PoliticalCulture-Forschung. Vor allem die im Rahmen der Wahlforschung entwickelten Methoden zur Gewinnung repräsentativer Bevölkerungsstichproben, der Datenerhebung und der statistischen Datenanalyse bildeten den unverzichtbaren methodischen Rahmen für die Etablierung der Political-Culture-Forschung. Weitere Einflüsse für die Erforschung der Beziehungen zwischen menschlicher Interaktion und ihrem Niederschlag auf das politische System kamen aus der politischen Psychologie, die im Laufe der 1930er Jahren eine zunehmend wichtiger werdende Rolle im Forschungsbetrieb einnahm. Während die psychoanalytische Persönlichkeitsforschung als ein erster Zweig der politischen Psychologie die Einflussfaktoren für die Persönlichkeitsbildung erforscht und insbesondere philosophisch-soziologische Arbeiten wie etwa die von Theodor W. Adorno geleitete Studie zur »autoritären Persönlichkeit«17 inspirierte, blieb er für die Political-Culture-Forschung marginal. Vielmehr war es der zweite Strang der politischen Psychologie, der psychologische Behaviorismus, welcher es der PoliticalCulture-Forschung ermöglichte, das Konzept der Einstellungsforschung mit der Erklärung des menschlichen Verhaltens zu verknüpfen. Individuelles politisches Verhalten und kollektive politische Entscheidungen werden hierbei mittels des methodologischen Individualismus erklärt. Dieses Methoden-Modell geht bei der Beschreibung und Erklärung sozialer Vorgänge (Makroebene) vom Handeln der einzelnen daran beteiligten Personen (Mikroebene) aus.18 Entsprechend werden auch »soziale Phänomene wie Institutionen, Normen, soziale Strukturen usw. … über individuelles Handeln zu erklären«19 versucht. Die Kosten-Nutzen-Kalküle, die das Individuum für sich trifft, entscheiden demnach über sein politisches Verhalten, welches als beobachtbare Variable sichtbar wird und somit Auskunft über das Funktionieren der Aggregatsebene (Makroebene) geben soll. Behavioristisch wird die Political-Culture-Forschung also dort, wo sie die Überzeugungsstrukturen der Individuen erfasst, um sie später auf das politische System zu übertragen – wo sie also, ausgehend von einer Mikroebenen-Untersuchung, die Makroebe16 | Vgl. C AMPBELL , A NGUS. G URIN, G ERALD. M ILLER, WAREN E. The Voter Decides. Evanston: Row and Peterson 1954. C AMPBELL , A NGUS. C ONVERSE, P HILIP E. M ILLER, WARREN E. S TOKES, D ONALD E. The American Voter. New York: Wiley 1960. 17 | Vgl. ADORNO, THEODOR W. FRENKEL-BRUNSWIK, ELSE. LEVINSON, DANIEL J. ET AL. The Autoritarian Personality. New York: Harper 1950. 18 | SCHUMPETER, JOSEPH. Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie. 2. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 1970. S. 90f. 19 | BÜSCHGES, GÜNTER. ABRAHAM, MARTIN. FUNK, WALTER. Grundzüge der Soziologie. München: Oldenbourg 1998. S. 85.
2. Zur Begriffsgeschichte der politischen Kultur
ne daraus entschlüsselt und erklärt. Damit wird neben den objektiven Gegebenheiten eines politischen Systems vor allem den Einstellungen seiner Bürger eine wichtige Bedeutung eingeräumt. Die damit verbundene Grundannahme besagt, dass das Überleben eines politischen Systems hochgradig abhängig von positiven Haltungen seiner Bürger ist. Entsprechend betonen Almond und Verba, dass »the development of a stable and effective democratic government depends upon the orientation that people have to the political process – upon the political culture.«20 Die Political-Culture-Forschung versteht sich also als eine interdisziplinär inspirierte Forschungsmethode zur Erkundung der individuellen Einstellungen der Bürger gegenüber einem politischen System, die in aggregierter Form als politische Kultur zusammengefasst werden. Dieses von Gabriel A. Almond und Sidney Verba ausgearbeitete Forschungsdesign hat für die gegenwärtige Politikwissenschaft insbesondere im Rahmen der Erklärung und Analyse der Transformationsprozesse in Osteuropa, aber auch in Lateinamerika 21, Asien oder Afrika eine Revitalisierung erfahren.22 Sie gehört insbesondere in westlichen Demokratien zu den fest etablierten Komponenten der politischen Forschung und findet heute vor allem in der sogenannten State-Building-Literatur23 grossen Anklang. Im Folgenden wird es also darum gehen, das von Almond und Verba ausgearbeitete und von ungebrochener oder wiederentdeckter Aktualität bleibende Konzept der politischen Kultur näher zu beleuchten.
2.2 G ABRIEL A. A LMONDS UND S IDNE Y V ERBAS K ONZEP T DER POLITISCHEN K ULTUR Das 1963 publizierte gemeinsame Werk »The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations« beinhaltete schon im Titel eine klare Aussage über das Programm dieses neuen Forschungszweiges. Es ging darum, den Beitrag der politischen Kultur zur Stabilisierung der Demokratie zu erklären. Die Studie versuchte entsprechend, die folgende Frage zu beantworten: »is there a de20 | ALMOND, GABRIEL A. VERBA, SIDNEY. The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press 1963. S. 498. 21 | Vgl. MAINWARING, SCOTT. VALENZUELA, ARTURO (Hg.). Politics, Society and Democracy: Latin America. Boston: Westview Press 1998. 22 | Vgl. DIAMOND, LARRY. Developing Democracy toward Consolidation. Baltimore: John Hopkins University Press 1999. Für die Entwicklung der politischen Kultur in Entwicklungsländern: DERS. (Hg.). Political Culture & Democracy in Developing Countries. Boulder: Lynne Rienner 1994. 23 | Siehe bspw. HUNTINGTON, SAMUEL P. Cultures Count. In: HARRISON, LAWRENCE E. HUNTINGTON, SAMUEL P. (Hg.). Culture Matters. How Values Shape Human Progress. New York: Basic Books 2000. S. xiii-xvii, sowie FUKUYAMA, FRANCIS. State-Building. Governance and World Order in the Twenty-First Century. London: Profile Books 2004.
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mocratic political culture – a pattern of political attitudes that fosters democratic stability, that in some way fits the democratic political system?«24 Das analytische Augenmerk richtete sich also einerseits auf die Frage, wie eine demokratische politische Kultur ausschauen müsse, und andererseits auf das Problem der Stabilität politischer Systeme. Ziel der beiden Forscher war die Evaluation der Responsivität zwischen Bevölkerung und Staat, respektive zwischen individuellen Einstellungen und der nationalen Entwicklung in fünf Staaten. Durch die Einstellungsforschung, welche quantifizierbare Antworten lieferte, die wiederum auf bestimmte, von Beginn an festgesetzte Variablen verteilt wurden, glaubten Almond und Verba eine taugliche Methode zur Beurteilung der jeweiligen Stabilität der politischen Systeme in den untersuchten Ländern gefunden zu haben. Andreas Dörner25 betont hierzu, dass das Konzept der ›political culture‹, das die Autoren hier entwickelt und empirisch umgesetzt haben, eine Schnittstelle zwischen dem politischen System und dem Handeln der Akteure zu benennen versucht, an der sich letztlich die Überlebensfähigkeit von Demokratien entscheidet. Ihr analytisches Interesse richtet sich also auf die Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit demokratische Ordnungen nicht nur etabliert, sondern auch auf Dauer gestellt werden können, eine Frage, die mit dem Entkolonialisierungsschub der 1960er Jahre auch für die vielen neu entstandenen Demokratien in der ›Dritten Welt‹ von grosser Bedeutung war. Methodologisch versuchten sie im Geiste des behavioristischen Wissenschaftsverständnisses und der an Talcott Parsons systemtheoretischen Rahmen orientierten soziologischen Prämissen, die kulturellen Voraussetzungen von stabiler Demokratie möglichst ›objektiv‹ in einer quantitativ-empirischen, international vergleichenden Studie zu messen. Bereits Seymour Lipset hatte in seiner Studie »Political Man«26 einen Versuch unternommen, eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb Staaten mit einem ähnlich hohen sozio-ökonomischen Entwicklungsniveau zwischen 1919 und 1945 stabile Demokratien (Grossbritannien), instabile Demokratien (Frankreich) und totalitäre Regime (Deutschland) hervorbrachten. Seinen Überlegungen zufolge waren es die Legitimitätsüberzeugungen der Bürger, die in Krisensituationen als Stabilisierungsfaktoren der Demokratie wirkten. Allerdings hatte er diese Annahmen nicht durch empirische Daten belegt. In »The Civic Culture« versuchten Almond und Verba erstmals, dahingehend einen empirischen Nachweis zu führen, dass die Bürger stabiler Demokratien – wie Grossbritannien und USA – andere Einstellungen aufwiesen als jene Menschen, die in instabilen politischen Systemen – wie Deutschland oder Italien – lebten. Die Grundannahme, die schon 24 | ALMOND, GABRIEL A. VERBA, SIDNEY. The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press 1963. S. 337-338. 25 | DÖRNER, ANDREAS. Politische Kulturforschung. In: MÜNKLER, HERFRIED (Hg). Politikwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003. S. 587. 26 | Vgl. L IPSET, S EYMOUR M. Political Man. The Social Bases of Politics. London: Heinemann 1959.
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von Lipset skizziert wurde, besagte, dass der Einfluss der politischen Kultur, die als methodische Kategorie aus der Evaluation der Einstellungen der Bürger zusammengefasst wurde, auf die Systemstabilität in ihrer verhaltenssteuernden Funktion liege. Sie beinhaltet die Ziele und Regeln, die als allgemein anerkannte Prinzipien das Verhalten der in einer politischen Gemeinschaft lebenden Menschen steuern. Die politische Struktur wird hierbei von der politischen Kultur beeinflusst, die wiederum das kollektiv zusammengefasste politische Verhalten ihrer Bürger spiegelt. Somit liesse sich die Frage nach der Stabilität eines Systems daran ablesen, ob und in welchem Ausmass die politische Kultur zum politischen System passe. Ein ›misfit‹ von politischer Kultur und politischer Struktur würde konsequenterweise zu politischer Instabilität führen. Folglich würde dies bedeuten, dass unterschiedliche politische Kulturen unterschiedliche politische Verhaltensmuster erzeugen und somit unterschiedliche politische Systeme mit unterschiedlichen Stabilitätsgraden hervorbringen würden – um es mit Parsons zu sagen: je nachdem, welche kulturellen Einstellungen sich gegenüber dem politischen Teilsystem im umfassenden Kultursystem etabliert haben, erhält das politische Teilsystem Form und Inhalt oder versinkt in Instabilität. Dies wollten Almond und Verba empirisch nachweisen. Die hierfür notwendigen Daten wurden in jeweils 1.000 Interviews in den Ländern USA, Grossbritannien, Italien, Bundesrepublik Deutschland und Mexiko erhoben. Mittels Umfrageergebnissen sollten also die objektiven Grundlagen geschaffen werden, um in den jeweiligen Ländern die Kongruenz von politischer Struktur und auf diese bezogener individueller Einstellung eruieren zu können. Die politische Kultur einer Nation wurde entsprechend als die spezifische Verteilung von Orientierungsmustern gegenüber politischen Objekten (politische Institutionen, Akteure, Verfahrens- und Entscheidungsprozeduren etc.) unter den Mitgliedern einer Nation definiert. Hierfür arbeiten sie drei verschiedene Typologien von politischer Kultur heraus, die wiederum den Grad an Kohärenz zwischen politischer Struktur und Kultur kennzeichnen. Ein Land kann eine ›parochial culture‹, eine ›subject culture‹ oder eine ›participant culture‹ aufweisen. Die parochiale Kultur kennzeichnet ein politisches System, in welchem die politische Indifferenz vorherrschend ist. »When the frequency of orientations to the specialized political objects … approaches zero, we can speak of the political culture as a parochial one … In these societies there are no specialized political roles.«27 Es bestehen also keine spezifischen politischen Rollen, die die Bürger einnehmen, sondern nur diffuse politisch-wirtschaftlich-religiöse Rollen. Das einzelne Individuum ist politisch nicht aktiv und auch nicht am politischen Handeln interessiert. Die mit der parochialen Kultur bezeichnete Beziehung zwischen Bürger und Staat ist eine, die durch wechselseitige ›Nichteinmischung‹ geprägt und auf Indifferenz gegründet ist. Die Bürger nehmen die Entscheidungen der Herrschenden mehr oder weniger klaglos hin, 27 | ALMOND, GABRIEL A. VERBA, SIDNEY. The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press 1963. S. 17.
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kritisieren diese nicht und haben auch keine Erwartungen an das politische System. Das Wissen über das politische System und über die politischen Prozesse ist in dieser politischen Kultur minimal und es besteht auch keine gefühlsmässige Bindung der Bürger an die Politik. Mangel an Wissen und Interesse für das politische System sind also für diese parochiale Kultur kennzeichnend. Beispiele einer solchen parochialen Kultur sind Stammes-, Dorf- und Feudalstrukturen mit uneingeschränkter und als göttlich gegeben verstandener Autorität der Herrschenden. Der Glaube an die Schicksalshaftigkeit des politischen Regierungsapparates und seiner Akteure bildet also den kognitiven Subtext dieser parochialen Kultur. Die ›subject culture‹ hingegen zeichnet sich als Untertanenkultur aus und integriert somit auch schon eine veränderte Beziehung zwischen den Bürgern und dem Staat. In ihrem Selbstverständnis als Untertanen beurteilen die Bürger nämlich die Leistung der Herrschenden, das heisst, sie nehmen sie nicht mehr als gottgegeben an, sondern stellen eigene Kriterien zur Legitimation der Herrschaft an. »Here there is a high frequency of orientations toward a differentiated political system and toward the output of the system, but orientations toward specifically input objects, and toward the self as an active participant, approach zero.«28 Die Orientierung des Individuums richtet sich also auf das politische System in seiner Funktion als Produzent von Gütern und Lebensbedingungen, die den einzelnen Menschen erfahrungs- und traditionsgemäss einen entsprechenden Vorteil oder Nachteil bescheren. Das Selbstverständnis als Urheber und Gestalter des politischen Systems bleibt aber noch inexistent. Die Menschen interessieren sich in dieser Typologie von politischer Kultur also für das politische System nur im Sinne seiner Output-Leistungen. Die Input-Seite wird noch nicht thematisiert. Der Bürger besitzt ein unpolitisches Selbstbild, betrachtet den politischen Prozess aus der Distanz und ist ihnen nicht verbunden. Entsprechend erfolgt auch nahezu keine eigene politische Aktivität. Die Beziehung zur Politik bleibt passiv und weist offenbar nur eine eingeschränkte, auf den blossen Output orientierte politische Bindung auf. Das deutsche Kaiserreich mit seiner differenzierten politischen Struktur, die eine klare Untertanenhaltung hervorbrachte und diese zugleich für das eigene Überleben benötigte, kann als Paradebeispiel eines politischen Systems betrachtet werden, das auf einer solchen ›subject culture‹ aufruht. Die ausgeprägteste Selbstidentifikation des Individuums mit seiner Rolle als politischer Bürger, Urheber und Gestalter des politischen Systems sichten Almond und Verba in der ›participant culture‹. »The third major type of political culture … is one in which the members of the society tend to be explicitly oriented to the system as a whole and to both the political and administrative structures and processes: in other words, to both the input and output aspects of the
28 | Ibid. S. 19.
2. Zur Begriffsgeschichte der politischen Kultur political system. Individual members … tend to be oriented toward an ›activist‹ role of the self in polity.« 29
Die Orientierung des Bürgers endet also nicht bei der Output-Leistung des Systems, sondern beinhaltet auch die Input-Prozesse und Möglichkeiten. Hier setzt sich also das in der Moderne vorherrschende Bild des mündigen Bürgers durch. In dieser politischen Kulturform beteiligen sich die Bürger am politischen Leben, sie erarbeiten sich ein grundlegendes politisches Wissen und bringen sich durch dieses auch konstruktiv in das politische System ein. Sie besitzen überdies eine umfassende Orientierung gegenüber dem politischen System sowie seinen Inputund Output-Mechanismen und haben auch ein Verständnis sowohl von der eigenen politischen Rolle als auch ihren Grenzen und Möglichkeiten. Diese drei Typen politischer Kultur erinnern an Max Webers drei Idealtypen der Legitimation von Herrschaft. Liest man Almond und Verba mit Max Weber, so lässt sich sagen, dass die parochiale politische Kultur auf charismatischen Legitimationsmustern und die Untertanenkultur auf traditionalen beruht, während die partizipatorische politische Kultur, da sie Input- und Output-Prozesse und ihre rechtliche Normierung integriert, an die rationale Legitimation von Herrschaft gekoppelt ist. Da es sich hier um Idealtypen handelt, also um theoretische Konstrukte, die der Reduktion von Komplexität dienen und somit nicht den Anspruch von Deckungsgleichheit mit der analysierten Realität erheben können, ist ihre reale Existenz auch unwahrscheinlich. Entsprechend werden sie von Almond und Verba mit drei Typen »of systematically mixed political cultures«30 ergänzt: der ›parochial-subject culture‹, der ›subject-participant culture‹ und der ›parochialparticipant culture‹. Im Forschungsdesign von Almond und Verba dienen sie zur Beschreibung der Entstehung und des Zustandes politischer Systeme, respektive politischer Kulturen. Während die parochiale Untertanenkultur (parochial-subject-culture) also den Übergang von Stammesgesellschaften und Feudalsystemen zu den Anfangsformen differenzierter politischer Strukturen verkörpert, dabei aber eine grosse Distanz zwischen Bürgern und Staat beibehält, wird die partizipatorische Untertanenkultur (subject-participant culture) als eine Folge des Nationalstaates konzipiert. Sie hat einen affektiven Unterbau, der sich aus dem Gefühl der nationalen Loyalität und Identität zusammensetzt und so den Hang zum Gehorsam gegenüber einer zentralen Autorität beinhaltet. Die Bevölkerung ist hier gespalten zwischen solchen Gruppen, die eine fundierte Input-Orientierung und ein aktives Rollenbild entwickeln, und jener Mehrheit, die einem passiven Rollenbild gegenüber der autoritären Regierungsstruktur verhaftet bleibt. Die politische Elite, als einziger Teil der Bevölkerung mit einem ausgeprägten politischen Bewusstsein, kann die unpolitische Mehrheit für seine Ziele aktivieren und so das politische System fortwährend verändern. Hierbei kann es zu einem 29 | Ibid. S. 19. 30 | Ibid. S. 23.
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unvorhersehbaren Wechsel zwischen autoritären und demokratischen Regierungen kommen. Karl Marx hat in seinem ›achtzehnten Brumaire‹31 diese Strategie eindrücklich herausgearbeitet. Der Sieg der Bourgeoisie über die Aristokratie im 18. Jahrhundert und die Verteidigung ihrer Interessen während des 19. Jahrhunderts beruhte auf eine partizipatorische Untertanenkultur. Im Namen revolutionärer liberaler Ideale und der damit verbundenen Notwendigkeit, die tradierte aristokratische Herrschaft zu beseitigen, verführten die bürgerlichen Klassen die bis dahin noch von der politischen Teilnahme ausgeschlossenen proletarischen Klassen. Aber fern davon, die ihnen zugesprochenen Rechte auf parlamentarische Repräsentation und Bildung eigener politischer Körperschaften ein für alle Mal zu garantieren, wurden sie nur solange etabliert, bis die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie dadurch in Gefahr gerieten. Alsbald wurden andere Schichten der unpolitisch gehaltenen Mehrheit aktiviert, um die zuvor von der Bourgeoisie politisch auf den Plan gerufenen proletarischen Klassen zu bekämpfen. Die Parzellenbauern und das Kleinbürgertum verabschieden die zaghaften demokratischen Erfolge von 1848, indem sie im Namen des Königs Louis Bonaparte und der von diesem geschützten ökonomischen Interessen der Bourgeoisie die vormals revolutionären Proletarier bekämpfen. Die daraus folgende Restauration der Monarchie zerstörte nicht nur die schon schwachen Strukturen der parlamentarischen Demokratie, sondern entwickelte sich auch im Einklang mit den Interessen der bürgerlichen Klasse. Diese behielt ökonomisch das Heft in der Hand, rettete ihre Privatinteressen und verschwand von der politischen Bühne.32 Eine Abfolge von Demokratisierungs- und Restaurationsprozessen, wie sie Karl Marx für die Zeit nach der 1848er Revolution in Frankreich geschildert hat, ist kennzeichnend für die von Almond und Verba definierte partizipatorische Untertanenkultur. Es ist also die strukturelle Instabilität des politischen Systems, die in den Augen von Almond und Verba verantwortlich dafür ist, dass die politische Kultur zwischen partizipatorischen Elementen und einer ausgeprägten Untertanenkultur hin und her schwankt. Dasselbe lässt sich auch für die dritte Mischform sagen. Die parochial-partizipatorische politische Kultur ist eine, in welcher fundierte Input- und OutputOrientierungen gleichzeitig entwickelt werden müssen. Demokratische Normen der politischen Struktur treffen auf eine parochiale Kultur, also auf politische Indifferenz, und stellen sie vor Veränderungszwang. Es ist eine Form politischer Kultur, die insofern am besten mit der Metapher einer Initialzündung beschrieben werden kann, als sie sich bestenfalls bei der Entwicklung einer politischen Kultur in neu begründeten Nationalstaaten findet, in welchem die noch abstrak31 | M ARX , K ARL . Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. 32 | Vgl. MARX, KARL. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. S. 99-114.
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ten demokratischen Normen und Partizipationsmöglichkeiten von einer bis dahin passiven Bevölkerung aktiv in die Tat umgesetzt werden, wie dies aber vielfach nur während und unmittelbar nach geglückten Demokratisierungsrevolutionen der Fall ist. Aus dem Zusammenspiel dieser Mischformen lassen Almond und Verba ihre Untersuchung in die Darstellung der ›civic culture‹ münden. In dieser sind starke partizipative Orientierungen mit einem positiven Einstellungsgefüge hinsichtlich der Strukturen des politischen Systems und der politischen Prozesse verbunden. »In the first place, the civic culture is an allegiant participant culture. Individuals are not only oriented to political input, they are oriented positively to the input structures and the input process. In other words …, the civic culture is a participant political culture in which the political culture and political structures are congruent. More important, in the civic culture participant political orientations combine with and do not replace subject and parochial political orientations. Individuals become participants in the political process, but they do not give up their orientations as subjects nor as parochials … The maintenance of these more traditional attitudes and their fusion with the participant orientations lead to a balanced political culture.« 33
Mit der ›civic culture‹ ist also eine rational-aktivistische Kultur gemeint, die sich vor allem auf die Aktivitäten auf der Seite des Inputs in das politische System bezieht und diese in ihrer Bedeutung hervorhebt. Sie ist die Operationsfläche für ein politisches Wesen, das in sich die aktive Seite des Citoyens, die gehorsame des Untertanen und die indifferente des parochial orientierten Menschen vereint. Der Bürger in der ›civic culture‹ ist somit in seinem Einstellungsmuster gegenüber dem politischen System eine Mischung aus Orientierungen, die von der aktiven Partizipation bis zur schweigsamen Duldung des bestehenden Systems reichen. Er ist also in den Augen der beiden Forscher ein anderes Individuum, als man es aus demokratietheoretischen Kriterien erwarten würde, nämlich nicht ein durchweg an allen Formen politischer Aktivitäten beteiligtes und interessiertes Individuum. Der ›gute Bürger‹ ist vielmehr eine Mischung aus Untertan und aktivem Bürger, wobei gerade den nicht-partizipativen Elementen der politischen Kultur eine mildernde Funktion hinsichtlich der Dynamik politischen Wandels zugesprochen wird. Mit der Mischung aus politischer Indifferenz, Traditionalismus und Modernität soll der Erhalt des gesamten politischen Systems garantiert werden, weil durch aktivierende und passivierende Elemente die Leistungen eines demokratischen Systems auf der Grundlage seiner anerkannten Rechtmässigkeit eingefordert werden können, ohne hierbei das politische System zu überfordern. Die Idee hinter dem Konzept der ›civic culture‹ besteht darin, dass ein politisches System nur dann stabil und zugleich demokratisch sein kann, wenn das Zusam33 | A LMOND, G ABRIEL A. V ERBA , S IDNEY. The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press 1963. S. 31f.
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menspiel von politischer Involvierung und politischer – stillschweigender oder aktiver – Unterstützung die zwei Grundpfeiler der ›civic culture‹ ausmachen, wenn also eine Balance zwischen Loyalität, Aktivismus und Kritikbereitschaft die Einstellung der Bürger zum politischen System ausmachen. Das politische System muss also einerseits auf ein ausreichendes ›good will reservoir‹ auf Seiten seiner Bürger stossen und ihnen andererseits die Wege zur politischen Einmischung offenhalten. Demokratisch ist dieses System, weil es auf einer ›civic culture‹ auf baut, welche diese aktivierenden und passivierenden Eigenschaften als Einstellungsmuster festsetzt, und so die kritische, wachsame und aktive Kontrolle derjenigen ermöglicht, denen die Bevölkerung die Ausübung politischer Herrschaft anvertraut hat. Zugleich aber gehört es zum Einstellungsmuster der ›civic culture‹, dass sich jemand auch ohne schlechtes Gewissen aus diesem Kontrollvorgang ausklinken kann. Diese in der deutschen Übersetzung als Staatsbürgerkultur definierte Haltung gegenüber dem politischen System ist aus Sicht von Almond und Verba so etwas wie ein normatives Leitbild für sich entwickelnde politische Systeme. Eine funktionierende, weil ausgeprägte und systemstabilisierende ›civic culture‹ sichten die beiden Forscher in den USA, die als Paradebeispiel einer partizipativen politischen Kultur vorgeschlagen wird. Den US-amerikanischen Bürgern attestieren sie eine hohe Zufriedenheit mit den politischen Inputstrukturen und eine grosse Bereitschaft zur politischen Diskussion: positive Eigenschaften, die zudem von einem tief verwurzelten Nationalstolz, der weniger ethnozentristisch als vielmehr zivilreligiöser Art ist, begleitet werden. Die Bürger verstehen sich als aktive Bestandteile einer politischen Gemeinschaft, die sich gleichzeitig, sofern sie es nicht für nötig halten, von der politischen Partizipation ausblenden können. Sie sind dann zwar in der Rolle eines Untertanen, aber nicht eines autoritären obrigkeitlichen Staates. Vielmehr ist ja gerade das Zusammenspiel zwischen aktiver politischer Partizipation und aktiver Selbstpassivierung eine, welche die Rolle des Untertanen als eine selbstgewählte darstellt. Mit der analytischen Erarbeitung der ›civic culture‹ und ihrer Identifikation mit dem politischen System der USA und in geringerem Umfang auch mit demjenigen Grossbritanniens, schliesst sich der Kreis der Untersuchung. Zur Erinnerung: Die Ausgangsfrage drehte sich um die Stabilitätsbedingungen eines demokratischen politischen Systems, und zwar angesichts der postulierten Tatsache, dass einige stabil sind, während andere dies nicht sind. Der Grund für die Stabilität scheint gefunden zu sein und zwar in der partikularen und für alle anderen politischen Systeme erstrebenswerten ›civic culture‹. Erst diese garantiert eine stabilitätswahrende Kohärenz zwischen politischer Struktur und politischer Kultur, weil nur sie diejenigen Bedingungen zulässt, die eine wechselseitige Spiegelung von individuellen politischen Einstellungen und systemrelevanten Kriterien des politischen Systems ermöglicht. Mit der Auswertung von Umfrageergebnissen als zentrales Instrument zur Definition und Evaluation der politischen Kultur in fünf Ländern sollte also die Herauskristallisierung allgemeiner und für späte-
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re Untersuchungen verwendbare Typisierungen von politischer Kultur gelingen, womit zugleich auch in vergleichender Perspektive neue Forschungsfelder für die Politikwissenschaft eröffnet werden sollten. Die Mischform der ›civic culture‹ fungiert dabei als normative Folie, anhand derer die restlichen politischen Kulturen und die an diese gekoppelten politischen Systeme beurteilt werden. In anderen Worten ausgedrückt: Das politische System der USA bildet das Firmament am Himmel der Demokratie, dessen Strahlkraft die dunklen Schatten anderer Demokratien erst sichtbar werden lässt. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Almonds und Verbas Konzept der politischen Kultur insofern einen wichtigen Beitrag zur Erforschung dieses schwer fassbaren Phänomens geleistet hat, als es die Beziehung zwischen politischem System und politischen Einstellungen als primäre analytische Kategorie zur Beurteilung der Stabilität und der Überlebensaussichten eines politisch verfassten Gemeinwesens definiert. Wie jedes theoretische Modell aber, das neue Konzepte definiert und neue Wege der Erkenntnis vorschlägt, enthält auch das hier vorgestellte Theoriemodell einige Aspekte, an denen Kritik zu üben ist. Erste Kritikpunkte lassen sich schon aus einer kritischen Betrachtung der Prämissen herauskristallisieren, die der Theorie von Almond und Verba immanent sind. Diese Kritik konzentriert sich hauptsächlich auf die ›blinden Flecken‹ des Theoriemodells, auf die unhinterfragten Annahmen also, die zur Definition von politischer Kultur verwendet werden. Almond und Verba verstehen ihren Ansatz als einen, der im Gegensatz zu engstirnigen materialistischen oder funktionalistischen Theorien den Aspekt der Kultur in den Vordergrund stellt und diesen somit nicht als sekundäres Resultat ökonomischer Verhältnisse oder systemischer Strukturbedingungen setzt. In dieser Hinsicht bleibt ihre in der Tradition von Max Weber und Talcott Parsons eingebundene Hervorhebung der Kultur, als eine Art Hintergrundfolie, auf deren Oberfläche sich politische Einstellungen ergeben und so zur Stabilisierung oder zum Verfall von politischen Systemen führen, eine nicht zu vernachlässigende Leistung. Gerade diese neue Perspektive auf die zentrale Sorge der modernen politischen Philosophie, also auf die Frage, wie eine Gesellschaft sich zu einem politischen Gemeinwesen formieren kann, das Bestand und Stabilität aufweist, hat diesem Ansatz ein langes Leben im politikwissenschaftlichen Diskurs beschert. Grundgedanke des Konzepts und Ausgangspunkt der Kritik ist die Idee, dass die Stabilität des politischen Systems hauptsächlich auf die Kongruenz von politischer Kultur und politischer Struktur zurückzuführen sei. Stabil ist ein politisches System also dann, wenn Struktur und Kultur, also Institutionalisierung und Einstellungsmuster, übereinstimmen.34 Besteht eine längerfristige Inkongruenz zwischen Struktur und Kultur, kommt es unweigerlich irgendwann zu 34 | »The civic culture is a participant political culture in which the political culture and the political structure are congruent.« In: A LMOND, G ABRIEL A. V ERBA , S IDNEY. The Civic Culture.
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einem Zusammenbruch des politischen Systems. Folgt man also diesen Überlegungen, so ist politische Kultur eine Abbildung individueller Einstellungen auf der Gesellschaftsebene. Die nationale politische Kultur wird von den beiden Politikwissenschaftlern als »die besondere Verteilung von Orientierungsmustern auf politische Objekte unter den Mitgliedern einer Nation« 35 definiert, wobei »politische Einstellungen als Eigenschaften von Individuen, die politische Kultur dagegen als Merkmal von Kollektiven« 36 gelten. Sie befasst sich also mit akkumulierten, individuellen Einstellungen gegenüber politischen Objekten. Problematisch an diesem Gründungskonzept der politischen Kulturforschung scheinen drei Aspekte zu sein. Erstens operierten Almond und Verba in ihren Umfragen und Analysen mit einem vorgefertigten Demokratiemodell, nämlich dem amerikanischen. Die untersuchten Demokratien sowie die in diesen vorherrschenden ›politischen Kulturen‹ wurden am amerikanischen Massstab gemessen. Almond und Verba passten also ihre Definition von Demokratie an die politische Realität der USA an. Dabei wiesen ihre Forschungen nicht nur eine starke ›nostrozentristische‹ Perspektive auf, sondern verunmöglichten auch eine kritische Betrachtung der eigenen Demokratiekonzeption. Dieses Vorgehen entsprach, um es mit Colin Crouch zu sagen, eher der Ideologie des Kalten Krieges als den methodischen Standards wissenschaftlicher Analysen.37 Auch Carol Pateman betont, dass Almond und Verba die Fragen, wie eine Demokratie definiert werden sollte und wie die Werte, die die Menschen verinnerlicht haben, diese stützen, vernachlässigen.38 Der zweite mangelhafte Aspekt scheint der individualistische Fehlschluss zu sein, dem die Autoren aufsitzen. Die auf der Individualebene erzielten Zusammenhänge werden zu Unrecht auf die Aggregatebene übertragen. Politische Kultur erscheint innerhalb eines solchen Forschungsdesigns als das blosse Resultat von Umfrageindikatoren. Je nach Indikatoren können aber verschiedene Resultate erzielt werden. Die Frage, ob man Demokratie als beste Regierungsform betrachtet, wird sicherlich hohe Werte erzielen, aber noch nichts über den Zustand der politischen Kultur oder der Demokratie aussagen. Zum einen weiss man weder, von welcher Demokratieform hier die Rede ist, noch, welche Demokratievorstellung die Befragten verinnerlicht haben, und zum anderen lässt diese Vorgehensweise das Konzept der ›politischen Kultur‹ nur noch als quantifizierbare Spiegelung vorgefertigter Fragelisten, die von Experten erstellt worden sind Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press 1963. S. 31. 35 | Ibid. S. 13. 36 | G ABRIEL, O SCAR W. Politische Kultur, Postmaterialismus und Materialismus in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986. S. 96. 37 | C ROUCH, C OLIN . Postdemokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 9. 38 | PATEMAN, C AROL . The Civic Culture: A Philosophical Critique. In: A LMOND, G ABRIEL A. V ERBA , S IDNEY (Hg.). The Civic Culture Revisited. London: Sage 1989. S. 67-68. (S. 57-102).
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und die letztlich auch manipulativ bewertet werden können, erscheinen. Aber auch die spezifischere Frage, ob man mit dem aktuellen nationalen Regierungssystem zufrieden sei, läuft in dieselbe Falle. Eine tiefe Abneigung wird im Sinne von Almond und Verba sicherlich auf eine fragile Stabilität des politischen Systems, muss aber nicht unbedingt auf eine aufkommende Untertanenkultur oder auf eine parochial werdende politische Kultur hinweisen: womöglich ist ja gerade die Unzufriedenheit ein Motor zur Herausbildung verschiedener zivilgesellschaftlicher Räume der aktiven politischen Partizipation. So betont auch Robert Putnam in seinem »Bowling alone«, dass der Vertrauensverlust der Systeme bei den Bürgern und die damit in Verbindung gesehene Legitimitätskrise oder Inkongruenz zwischen Struktur und Kultur nicht unbedingt problematisch ist, weil »a critical citizenry signals not illness in the body politic, but rather the health of democracy.«39 Auf der anderen Seite kann ein methodologisches Beharren auf individuellen Einstellungen zur Beurteilung der systemstabilisierenden politischen Kultur auch auf Seiten der ›Realpolitik‹ Auswirkungen aufweisen, die nicht unbedingt für eine gut funktionierende und auf Partizipation und Selbstbestimmung geeichte Demokratie sprechen. Politiker könnten, diesem methodischen Rahmen entsprechend, ihre Entscheidungen nur noch an Umfrageresultaten ausrichten. So bliebe die Responsivität zwischen individuellen Einstellungen und Vertretern des politischen Systems weiterhin erhalten. Die Politiker würden zwar nicht mehr eine bestimmte Gruppe repräsentieren, nämlich diejenige, von der sie gewählt wurden, sondern nur noch die Resultate der Meinungsumfragen. Ihre Sitze im Parlament und das Funktionieren des Systems bleiben so zwar gesichert, aber dass damit auch ›politische Kultur‹ und gar eine vitale und ›demokratische‹ nachgewiesen werden soll, irritiert. Die Ursache dieser Irritation liegt darin, dass Almond und Verba sich aufgrund ihrer methodologischen Prämissen auf individuelle Werteinstellungen gegenüber dem politischen System konzentrieren und damit die intersubjektive Konstitution, die diesen Einstellungen zugrunde liegt, vernachlässigen. Mathias Hildebrand betont hierzu, dass das Defizit der Reduzierung intersubjektiver gemeinsamer Bedeutungen auf subjektive Einstellungen durch den der systemtheoretischen Motivationstheorie zugrundeliegenden Wertebegriff verschärft wird. »Der Wertebegriff ist für die Analyse gesellschaftlicher Selbstverständnisse insofern problematisch, als er kulturelle Sinnwelten in einzelne Werte transformiert und diese Werte subjektiviert.«40 Dies erfolgt jedoch auf Kosten des Inhalts von Sinnwelten, der bei ihrer Umfunktionierung zu Werten absichtlich ausgeblendet wird. Mit diesen Sinnwelten geht aber auch das Verständnis für ihre Intersubjektivität verloren, da die gemeinsamen geteilten Bedeutungen keinen Platz mehr in 39 | P UTNAM, R OBERT D. Bowling alone. The Collapse and Revival of American Community. New York: Simon & Schuster 2001. S. 21. 40 | HILDEBRANDT, MATHIAS. Politische Kultur und Zivilreligion. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996. S. 32f.
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den analytischen Kategorien der politischen Kultur finden, wie sie Almond und Verba zu definieren vorschlagen. Drittens konzipieren beide Autoren ›politische Kultur‹ als Resultat und nicht als Prozess. Ihre Vorgehensweise bei der Definition von ›politischer Kultur‹ gleicht derjenigen einer landwirtschaftlichen Ernte-Hilfskraft, die im Unwissen über die Prozesse der Samenlegung, der Kultivierung der Pflanzen und der Bearbeitung des Bodens bloss die Früchte pflückt. Was also verloren geht, sind die historischen Prozesse sowie die von diesen transportierten, veränderten und wiederaufgenommenen Selbst- und Weltverständnisse der Menschen. Aber auch die diesen Verständnissen zugrundeliegenden ›Weltbilder‹, ›Sinnwelten‹, unhinterfragten Grundannahmen, ›ungeschriebenen Verfassungen‹, ›operative Ideen‹ und ›Wahrheitsdiskurse‹, also alle kulturell, politisch und somit machtförmig erzeugten und über Zeichen und Symbole vermittelten und festgesetzten Bedeutungen der Welt und des Selbst. Politische Kultur ist in den Augen Almonds und Verbas in erster Linie eine Ursache für politische Prozesse und weniger ein Effekt dieser Prozesse. Was sie somit vernachlässigen, ist der Aspekt der wechselseitigen Beeinflussung und Konstituierung von politischer Kultur und politischem System. Zwar legen sie nahe, dass es Korrelationen zwischen individuellen Einstellungen und sozial erlernten Fertigkeiten gibt, was die Möglichkeit suggeriert, dass politische Kultur durch die kombinierten Handlungen von Individuen und Institutionen ›produziert‹ wird. 41 Sie erläutern aber nicht, welche Mechanismen und Hintergrundannahmen dieser ›Produktion‹ zugrunde liegen, sondern berufen sich auf einen vage gehaltenen Hinweis auf die ›politische Sozialisation‹, die, wie Carol Pateman 42 betont, bestenfalls als neutrale Leitung zwischen Kultur und System dient. Politische Sozialisation hat aber nur dann eine aktive Rolle, wenn Spannungen zwischen den politischen Einstellungen und der Art und Weise, wie das politische System faktisch funktioniert, entstehen, wenn also die im kollektiven Bewusstsein gespeicherten Hintergrundannahmen dessen, was ein ›gute‹ und ›gerechte‹ politische Ordnung ausmacht und die sich in der individuellen kognitiven Ausrichtungen zum politischen System festsetzten, immer wieder hinsichtlich des wahrgenommenen Funktionierens oder Nicht-Funktionierens eines politischen Systems kritisch reflektiert werden und hier auch eine institutionelle Sanktionierung erfahren, die wiederum auf die in der politischen Kultur gespeicherten Werte und Einstellungen rückwirken. Wird eine formale Trennung zwischen politischer Kultur und politischem System postuliert, wie sie für Almonds und Verbas Ansatz einer vergleichenden politischen Kulturforschung grundle41 | VERBA, SIDNEY. On Revisiting the Civic Culture. A personal Postscript. In: ALMOND, GABRIEL A. VERBA, SIDNEY (Hg.). The Civic Culture Revisited. London: Sage 1989. S. 395, 399. (S. 394-410) 42 | PATEMAN, CAROL. The Civic Culture: A Philisophical Critique. In: ALMOND, GABRIEL A. VERBA, SIDNEY (Hg.). The Civic Culture Revisited. London: Sage 1989. S. 69-70.
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gend ist, dann erscheint politische Kultur tatsächlich als blosse Ursache für ein politisches System, sagt aber noch nichts darüber aus, wie und wovon politische Kultur konstituiert wird. Wenn politische Sozialisation also nur als Brücke zwischen politischem System und eigenständiger politischer Kultur dienen soll und somit eine Spiegelung von individuellen Wertorientierungen und politischen Strukturmerkmale darstellt, dann kann auch nicht von Kongruenz oder Inkongruenz zwischen Kultur und Struktur gesprochen werden. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Struktur und Kultur ergibt sich sinnvollerweise nur dann, wenn auch die Möglichkeit ihrer Unvereinbarkeit gegeben ist, wenn also in der politischen Kultur Orientierungen auftauchen und bestenfalls dominant werden könnten, die nicht im Einklang mit dem bestehenden politischen System stehen. Politische Kultur lässt sich also formal von der politischer Struktur trennen, weil sie auf solche Kategorien hinweist, die die gefühlsmässige und kognitive Bindung der Individuen an das politische System aufzeigen, nicht aber in organischer Hinsicht, weil die Einstellungen zum politischen System immer auch von einem politisch stabilisierten und kulturell praktizierten Sozialisationsprozess abhängig sind, der die bestehenden Merkmale und Kategorien des Systems reflektiert. Soll das Wechselspiel von Struktur und Kultur also nicht ein rein instrumentelles bleiben, sondern ein wechselseitig konstitutives, darf politische Kultur nicht als unabhängige wissenschaftliche Kategorie betrachtet werden, sondern muss als Effekt und zugleich Ursache des politischen Systems verstanden werden. So lässt sich eine methodische Abwendung von einem Behaviorismus vollziehen, der Einstellungen reflexartig auf der individuellen Ebene ansiedelt, ohne ihre Konstitutionsbedingungen zu reflektieren. Im Gegenzug ist aber eine interpretatorische Methode anzuwenden, die auf intersubjektive Verständigung abzielt und das Konzept der politischen Kultur somit näher an die Kulturtheorie rückt. Ein letzter und wichtiger Kritikpunkt, der auch für die folgenden Untersuchungen wichtig sein wird, formuliert sich aus einer marxistisch inspirierten Position. Almond und Verba unterlassen nämlich einerseits die Analyse der Beziehungen zwischen der sozio-ökonomischen Realität und den politischen Institutionen und blenden andererseits den Einfluss, den diese Beziehung auf die politische Kultur ausübt, aus. 43 Ihr Argument verdrängt schlichtweg die Analyse der Beziehung zwischen sozialem Status und politischer Partizipation und impliziert, dass die materielle und psychologische Ausstattung einer Person, ihr Wohlstand und ihre Wohlfahrt sowie die daraus sich ergebenden Chancen der Selbstbestimmung und der autonomen Lebensführung angeblich irrelevant für das politische Interesse oder für die Sinnzuschreibung von politischem Handeln oder apathischer Selbstpassivierung sind. 43 | Siehe hierzu auch: WIATR, JERZY J. The Civic Culture from a Marxist-Sociological Perspective. In: ALMOND, GABRIEL A. VERBA, SIDNEY (Hg.). The Civic Culture Revisited. London: Sage 1989. S. 103-123, insbesondere S. 114.
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Die Hauptkritik an Almond und Verba richtet sich also gegen den ontologischen und methodologischen Atomismus der empirischen Sozialforschung, der ihren Studien zugrunde liegt. Das Zerlegen der ordnungskonstitutiven Sinnwelten in Daten, Faktoren, Merkmale, Indikatoren, Kategorien, Funktionen, Rollen und Verhaltensmuster erfasst das Individuum als eine singuläre Welt für sich, unabhängig von den sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Zwängen, die gesellschaftliche Konformität erzeugen und dem einzelnen dadurch zwar die Reduktion von Komplexität und das Selbstverständnis innerhalb bestehender kollektiver Selbst- und Weltbilder erlauben, ihn aber gleichzeitig in eine bewusste oder auch unbewusste Konformität abgleiten lassen können. Es ist also die Beschränkung des soziopolitischen Selbstverständnisses auf blosse individuelle Trägerschaft, die den Blick für kulturelle Konstitutionsbedingungen verzerrt. Diese werden dann aus einem Muster individueller Einstellungen zusammengehalten, obwohl sie doch vielmehr auf kollektiv geteilten Vorstellungen über das Selbst und über die um diese gespannten sozialen, ökonomischen und politischen Umwelten beruhen, die so etwas wie Einstellungen überhaupt erst hervorbringen. Zu Recht betont Karl Rohe in kritischer Absicht zu Almonds und Verbas Ansatz, dass Vorstellungen »durchweg auf einer grundsätzlicheren Ebene anzusiedeln sind, … als die meisten der im Rahmen von Umfrageforschungen erhobenen politischen Einstellungen … zumal dann, wenn wir es mit kulturellen Selbstverständlichkeiten zu tun haben, die dem Befragten zumeist gar nicht bewusst sind.« 44
Almonds und Verbas Konzept der politischen Kultur bleibt trotz ihrer anerkennungswürdigen Bemühungen zur Klärung dieses schwierig zu fassenden Phänomens jedoch defizitär, so dass die Entwicklung eines anderen, eigenen methodischen Grundes, auf dem ein anderes Verständnis von politischer Kultur aufruhen kann, sinnvoll erscheint. Entgegen ihrer methodischen Ausrichtung, die sich auf die Entwicklung einer kulturellen, aber angesichts ihrer unhinterfragten USamerikanischen Demokratiedefinition auch kulturalistischen Theorie über politische Interessen und Einstellungen konzentrierte, wird es im Folgenden um die Ausarbeitung einer politischen Theorie der Kultur gehen.
44 | ROHE, KARL. Politische Kultur und der kulturelle Aspekt politischer Wirklichkeit, Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Fragestellung politischer Kulturforschung. In: BERG-SCHLOSSER, DIETER. SCHISSLER, JAKOB (Hg.). Politische Kultur in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1987. S. 39f.
3. Erste Annäherung: politische Kultur als politische Deutungskultur
Die Kritik an Almonds und Verbas Ansatz richtete sich an ihren verkürzten Politikbegriff, den sie ausschliesslich in die Sphäre des politischen Systems einreihen, und an ihren defizitären Kulturbegriff, welcher als Resultat von Umfrageergebnissen, in denen die aggregierten individuellen Einstellungen zum politischen System zusammengefasst werden, fungiert. Entgegen dieser Vorgehensweise, welche politische Kultur als eine Summe individueller Einstellungs- und Beurteilungsresultate gegenüber dem politischen System versteht, 1 wird hier politische Kultur als eine spezifische Kulturform betrachtet, eben eine politisch durchsetzte, deren Manifestationen auf einem unruhigen und instabilen gesellschaftlichen Fundament ruhen. Es geht also darum, politische Kultur nicht als etwas zu verstehen, das bloss aufgrund von Meinungsumfragen und Studien über die jeweilige Partizipationsbereitschaft der Bürger und ihren Einstellungen gegenüber den typischen Institutionen des politischen Systems und ihrer Akteure eruiert werden kann. Vielmehr ist der analytische Zugang gewissermaßen umzudrehen und
1 | Auf die sozialwissenschaftlichen Arbeiten, die im Anschluss an Almonds und Verbas Untersuchungen erschienen sind, wird hier nicht eingegangen. Viele dieser Forschungsarbeiten nährten sich aus einer Kritik am bestehenden Ansatz der beiden amerikanischen Politikwissenschaftler, aber erweiterten diesen letztlich bloss um einige, wenn auch wichtige, methodische Aspekte. Der grundlegende Gestus einer empirischen Forschung mittels Umfrageanalysen, welche die, wenn auch genauer definierte, Responsivität zwischen Bevölkerung und politischem System als privilegierte Kalkulationstabelle der ›politischen Kultur‹ verwendet, blieb aber weiterhin vorhanden. Siehe etwa PYE, LUCIAN. VERBA, SIDNEY. Political Culture and Political Development. Princeton: Princeton University Press 1965., DIAS, PATRICK V. Der Begriff »Politische Kultur« in der Politikwissenschaft. In: OBERNDÖRFER, DIETER (Hg.). Systemtheorie, Systemanalyse und Entwicklungsländerforschung. Berlin: Dunker+Humblodt 1971. S. 409-448, EASTON, DAVID. A Re-Assessment of the Concept of Political Support. In: British Journal of Political Science. 5 (1975). S. 435-457.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
sind die Fragen so zu stellen, dass die Konstitutionsaspekte von politischer Kultur ins Zentrum der Analyse gerückt werden können. Wenn ›politische Kultur‹ nicht nur Einstellungen zu politischen Institutionen meint, sondern auch Aspekte miteinbezieht, die wesentlich für das Selbst- und Weltverständnis einzelner Menschen, aber vor allem unterschiedlicher Gruppen sind, dann gewinnt das Konzept der ›politischen Kultur‹ eine Bedeutung, die ihrem semantischen Gehalt näher kommt. So, wie Politik, also der Raum, in welchem Recht und Ordnung für ein klar umgrenztes Territorium definiert wird, eine bestimmte Kultur hervorbringen kann, so kristallisiert sich umgekehrt innerhalb der Kultur, also innerhalb des Raumes der zwischenmenschlichen Interaktion, so etwas wie ein ›common sense‹ darüber heraus, was ›gute‹ und ›richtige‹ Politik ist. Nicht nur scheinen beide Begriffe oder Konzepte innerhalb derselben Sphäre zu interagieren und diese gleichzeitig zu gestalten, sondern auch eine reziproke und fruchtbare Wechselwirkung einzugehen. Bei der somit vorgeschlagenen methodischen Richtung einer politischen Theorie der Kultur wird es also für sinnvoll erachtet, zu den entscheidenden Konstitutionsbedingungen soziopolitischer Selbstverständnisse vorzudringen. Es geht hier also darum, das Konzept der politischen Kultur von ihrem individuellen Kopf der Einstellungen auf die Füsse der kollektiven und intersubjektiv geteilten kulturellen Verpflichtungsmuster zu stellen. Erst diese ermöglichen überhaupt die Herausbildung von individuellen Einstellungen gegenüber dem politischen System. Hierfür wird ein Denkmodell vorschlagen, das diese kulturelle Hintergrundfolie, auf der sich individuelle Einstellungen formieren, einzufangen erlaubt. Versteht man politische Kultur als eine kognitiv-normative Landkarte, die die politische Welt geistig absteckt und strukturiert, wie dies David J. Elkins und Richard E.B. Simeon2 vorgeschlagen haben, dann eröffnet sich der Blick auf den kollektiv geteilten kulturellen Verpflichtungscharakter von politischer Kultur. Sucht man Orientierung, nimmt man eine Landkarte zur Hilfe, auf welcher die Hauptstrassen, Nebenstrassen, Wege und Sackgassen, aber auch die Höhen und Tiefen einer Landschaft gezeichnet sind. Wie man eine Landkarte schon vorgezeichnet vorfindet, so verhält es sich auch mit der politischen Kultur. Beide müssen aber im Laufe der Zeit neu gestaltet werden, damit sie den geänderten Bedingungen einer Landschaft oder eines politischen Systems auch angepasst werden können. Folgt man dieser Metapher, so erscheint politische Kultur als etwas aus der historischen Präfiguration eines Gemeinwesens, seiner tradierten Werte, Überzeugungen, Selbstverständigungsprozeduren und der daraus resultierenden Sozialisierung ›Gewordenes‹, das aber immer wieder geändert werden kann. Gemäss dem hier vorgeschlagenen Denkmodell ist politische Kultur also insofern mit einer Landkarte zu vergleichen, als auch sie die Tektonik und Geographie der zu entziffernden politischen ›Landschaft‹ schon vorgezeichnet zur 2 | E LKINS, DAVID J. S IMEON, R ICHARD E.B. A Cause in Search of Its Effect, or What Does Political Culture Explain?. In: Comparative Politics 11 (1979). S. 127ff.
3. Erste Annäherung: politische Kultur als politische Deutungskultur
Verfügung stellt, und so Orientierung bietet, ohne den Anspruch auf endgültige Vollständigkeit zu erheben. Sie bietet somit die Prädispositionen für das politische Handeln, welches wiederum ein politisches Regime konsolidieren oder erodieren kann. Je nachdem, wie das historisch gewordene symbolische Fundament der politischen Kultur – also der Prozess der politischen Sozialisierung mit all den hierfür notwendigen Merkmalen und Hinweise über die ›Wege‹, die man beschreiten und die man nicht betreten darf – kodiert ist, wird ebendiese Kultur die Rückkoppelungen des politischen Systems entsprechend bewerten, was allenfalls ein verändertes politisches Handeln mit dem Wunsch nach einem anderen politischen System hervorbringen kann. Nach diesem Denkmodell erscheint politische Kultur als ein Weltbild im weberschen Sinne, das als ungeschriebene Verfassung eine ausgeprägte Programmierungsfunktion ausübt. Die kulturelle Dimension der politischen Kultur gewinnt dadurch nicht nur an Relevanz, sondern erscheint auch als eine, die mittels vergangener politischer Interventionen in das Feld der Gesellschaft und ihrer kollektiv geteilten Selbst- und Weltwahrnehmungen entstanden ist, gleichzeitig aber auch veränderbar bleibt. Als erste Annäherung kann unter politischer Kultur und anlehnend an das hier vorgeschlagene Denkmodell die für eine soziale Gruppe massgebenden Grundannahmen über die politische Welt und damit verknüpfte operative Ideen verstanden werden – Ideen also, die das eigene Handeln als ein sinnvolles, normativ erwünschtes und ›richtiges‹ taxieren, zumal sie sich mental und/ oder habituell auskristallisiert haben und die in der Alltagspraxis, als vom Einzelnen verinnerlichte kollektive Dispositionen, die als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen dienen, reproduziert werden. Die ›Landkarte‹ politische Kultur stellt in diesem Verständnis so etwas wie einen mit Sinnbezügen gefüllten politischen Denk-, Handlungs- und Diskursrahmen dar, innerhalb dessen sich das Denken, Handeln und öffentliche Reden der Gesellschaftsmitglieder als ein erkenn-, beurteil- und sanktionsfähiges vollzieht. Wie jede als typisch geltende Verhaltensorientierung ist auch politische Kultur das Ergebnis von Sozialisationsprozessen, durch die bestimmte Selbst- und Weltbilder als normativ wünschenswerte und somit ›richtige‹ oder ›falsche‹ erlernt werden. Wertorientierungen für politisches Verhalten werden somit durch die Rahmenbedingungen, die Institutionen setzen, konkretisiert und entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit den Wirkungen dieser Institutionen. Politische Kultur und politische Institutionen prägen sich somit gegenseitig. Die Grundannahmen über die politische Welt, die in der politischen Kultur gespeichert sind und die individuelle Einstellungen mittels politischer Sozialisation hervorrufen, sind ihrerseits Resultate vergangener politischer Interventionen, die wiederum von einer ihnen zu jener Zeit zugrundeliegenden politischen Kultur getragen, legitimiert und als normativ wünschenswerte sanktioniert wurden. Ein solches Verständnis von Grundannahmen über die politische Welt setzt im Gegensatz zu Almonds und Verbas abgefragten politischen Einstellungen an einem tieferen Punkt des
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sozialen Gefüges an. Es eröffnet das Blickfeld auf die kollektiv geteilten Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmassstäbe des Selbst und der Welt, die solchen Einstellungen zugrunde liegen. Mit dem hier vorgeschlagenen Denkmodell der ›Landkarte‹ lassen sich also zwei Aspekte festhalten, die dem Konzept der politischen Kultur analytische Konturen verleihen, auf denen die Begriffsdefinition weiter fortschreiten kann. In erster Linie ist die Wechselwirkung zwischen politischer Kultur und politischer Struktur oder System zu erwähnen, also die nicht unwesentliche Erkenntnis, dass Kultur immer auch in Wechselwirkung mit Politik gedacht werden muss. Politische Kultur ist als ein Sinn- und Deutungsrahmen zu verstehen, welcher einerseits politisch genormt und sanktioniert wird, andererseits aber aus seinen gespeicherten Wert- und Überzeugungsorientierungen diese Normierung und Sanktionierung immer auch mitgestaltet. Der zweite Aspekt stellt politische Kultur als ein soziales Phänomen mit einem genuinen sozialen Verpflichtungscharakter dar. Der Mensch ist von Natur aus kulturpflichtig, wie dies Arnold Gehlen betonte, und seine Kultur ist immer eine, die sich in der Interaktion mit anderen formt und nur innerhalb eines sozialen Kontextes Anerkennung und Legitimation finden oder auf Ablehnung stossen kann. Sinnvollerweise muss Kultur, ebenso wie Sprache, nicht als bloss individuelles, sondern als soziales Phänomen begriffen werden, auch wenn sie ohne Individuen als Träger nicht existieren könnte. Entscheidend für das Verständnis von politischer Kultur ist also ihr sozialer Verpflichtungscharakter. Sie gibt Aufschluss darüber, wie man in einem Sozialwesen zu denken, öffentlich zu reden und zu handeln hat, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Politische Kultur grenzt also nicht nur den Raum des Mach- und Sagbaren ab, sondern ist auch die Deutungsschablone dessen, was in diesen Räumen gerechtoder ungerechtfertigterweise geschehen darf. »Um an den Kern von politischer Kultur heranzukommen, müsste man deshalb wissen, welche Tabus in einem sozialen Verband existieren, wie die Beweislastregeln funktionieren, also was ›man‹ eigens begründen und rechtfertigen muss und welche Argumente und Handlungen wie selbstverständlich ohne Begründung durchgehen.« 3
Politische Kultur erweist sich in dieser von Karl Rohe ausgeführten Eingrenzung des Konzepts als die Eigenschaft eines Kollektivs und als ein soziales Phänomen, das die ›richtige‹ und ›konforme‹ Lebens- und Denkweise ihrer Mitglieder sanktioniert. Insofern scheint politische Kultur so etwas wie eine kollektiv geteilte, historisch gewachsene und in Kontingenz verankerte Deutungsschablone der Le3 | K ARL R OHE . Politische Kultur. Zum Verständnis eines theoretischen Konzeptes. In: N IEDERMEYER O SKAR . VON B EYME K LAUS (Hg.). Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. S. 4. (S. 1-21).
3. Erste Annäherung: politische Kultur als politische Deutungskultur
benswelt zu sein, die dem einzelnen Individuum als Kompass für seine Stellung in einem politisch verfassten Gemeinwesen dient. Sie ist aber nicht nur etwas, das als innerer Kompass dient, sondern bedarf zu ihrer eigenen Stabilisierung auch der öffentlichen Artikulation. Kulturelle Regeln und Prinzipien benötigen eine Veräusserlichung, damit sie ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen können. »Anders formuliert heisst das, dass sie auf zeichenhafte Verdeutlichung angewiesen sind und immer wieder durch Wort, Schrift, Bild und Tat in Erinnerung gerufen werden müssen. Das kann in sehr unterschiedlicher Weise geschehen, über historische Mythen, über Standbilder, Rituale, Fahnen und Feiern. Im Grunde kann alles zu einem politischen Symbol werden. Auch pragmatisches Alltagshandeln kann eine Zeichenfunktion übernehmen. Ein Musterbeispiel dafür ist das englische queuing, das ja nicht nur eine pragmatische, sondern stets auch eine demonstrative und symbolische Funktion besitzt, weil es auf grundlegende Ordnungsprinzipien einer zivilen Gesellschaft verweist.« 4
In diesem Sinne lässt sich sagen, dass politische Kultur die historisch gewordene, politisch formell oder gesellschaftliche informell sanktionierte und letztlich immer kontingente, weil auch anders kodierbare Deutungsschablone gesellschaftlicher Interaktionen, sozialer Praktiken und politischer Prozesse ist. Rohe unterscheidet diesbezüglich zwischen politischer Soziokultur und politischer Deutungskultur. »Auch politische Deutungskultur beginnt, wie alle Kultur, letztlich damit, dass nicht mehr alles möglich ist, was im Prinzip denkbar und machbar wäre, und dass man deshalb nicht immer mit allem rechnen muss. Nicht nur eine Rosenkultur erfordert, dass Seitentriebe beschnitten werden. Gerade Zivilkulturen, also Kulturen, in denen vieles informell, also ›kulturell‹ im engeren Sinne und nicht staatlich und rechtlich geregelt wird, also durch eine starke Beschränkung von an sich denkbaren Denk- und Handlungsmöglichkeiten. […] Auch politische Deutungskulturen müssen mithin auf ihre immanenten Beschränkungen und Tabus, also auf ihre spezifische Selektivität hin untersucht werden. Politisch-kulturelle Diskurse stellen zwar stets bisherige Selbstverständlichkeiten in Frage; aber das Ziel eines politisch-kulturellen Diskurses und einer kulturellen Strategie in der Politik ist letztlich, neue kulturelle Selbstverständlichkeiten zu schaffen. Wenn die Strategie erfolgreich ist, dann wandern ursprünglich kontroverse Themen gleichsam aus dem Bereich der konkurrierenden Deutungskultur in den Bereich der Soziokultur, um dort zumindest für eine Zeit lang fraglos hingenommen zu werden, ohne dass freilich eine Gewähr besteht, dass sie dort dauerhaft verbleiben.« 5
Zur Verdeutlichung dieses wichtigen Sachverhalts betont Rohe im Anschluss daran, dass Legitimationsmuster des neuzeitlichen Staates – wie das National4 | Ibid. S. 7. 5 | Ibid. S. 10.
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staatenprinzip oder das Wohlfahrtsstaatsprinzip, die ursprünglich einmal sehr umstritten waren – sich nach und nach in fast allen Kulturen durchgesetzt und frühere Legitimationsmuster ergänzt oder an die Seite gedrängt haben. Dieses, so räumt auch Rohe ein, müsse aber nicht so bleiben. Legitimationsmuster sind aus einer kontingent entstandenen und dominant gewordenen politischen Kultur durchgesetzt worden und können entsprechend wieder verwelken, also ihre Bedeutung verlieren. Gerade für die heutige Zeit scheint ein solcher ›Verwelkungsprozess‹ älterer Legitimationsmuster im Gange zu sein. Die neoliberale Ausrichtung nationaler Wirtschaftspolitiken hat nicht nur die alten Legitimationsmuster des Sozialstaates erodiert, sondern auch neue Selbst- und Weltverständnisse politisch-kulturell so durchgesetzt, dass nicht nur die politische Deutungskultur sich nach den Koordinaten dieser kognitiven Landkarte ausrichtet, sondern auch die politische Soziokultur ihre Kartographie an dieser Landkarte misst. Die »politische Deutungskultur ist gleichsam eine Kultur der Kultur, eine Metakultur, deren Funktion nicht zuletzt darin besteht, die auf der Ebene der Soziokultur gespeicherten, mehr oder minder unbewussten Denk-, Rede-, und Handlungsgewohnheiten zu thematisieren und sie damit selbst dann ihrer gleichsam natürlichen Unschuld zu berauben, wenn eine Deutungskultur sich grundsätzlich affirmativ zu einer Soziokultur verhält.« 6
Damit rückt Rohe von der Konzentration der bisherigen politischen Kulturforschung – welche die politischen Einstellungen der Bürger als repräsentierende Grössen der ›politischen Kultur‹ versteht – ab und plädiert für eine Berücksichtigung symbolischer Elemente. »Es geht deshalb nicht nur darum, die kulturelle Dimension des Politischen umfassender zu konzeptionalisieren als bislang, sondern umgekehrt auch darum, die politischen Dimensionen der allgemeinen Kultur systematischer in den Blick zu nehmen als das bislang der Fall war.«7
Dabei liegt ein zentrales Augenmerk auf der wechselseitigen Einflussnahme von politischer und kultureller Sphäre und dem Stellenwert, welcher der Politik in der Kultur eingeräumt wird. ›Politische Kultur‹ erscheint somit als ein mit Sinnbezügen gefüllter politischer Denk-, Handlungs- und Diskursrahmen, in welchem sich Verhalten, Handeln und Denken der politischen Akteure abspielt. Insofern muss sie Zeichen-, Ideen- und Symbolsysteme integrieren können. Wie bereits erwähnt, ist Kultur also genauso wie Sprache sinnvollerweise kein individuelles Phänomen, sondern ein soziales. Entsprechend kann die quantitative empirische Sozialforschung, mit ihren auf Individuen und ihre Einstellungen und Meinungen ausgerichteten Aggregatsvariablen, die komplexen sozialen 6 | Ibid. S. 8. 7 | Ibid. S. 10.
3. Erste Annäherung: politische Kultur als politische Deutungskultur
Sinnkonstrukte nicht analysieren, ohne in die Falle des individualistischen Fehlschlusses zu tappen. Hinzu kommt und viel wichtiger ist aber, dass diese Forschungsperspektive den sozialen Verpflichtungscharakter von politischer Kultur nicht oder kaum erfassen kann, es sei denn, man unterstellt, dass in demokratischen Gesellschaften das Mehrheitliche eo ipso auch das Massgebliche ist und stets auch Aufschluss darüber gibt, was und wie ›man‹ in den jeweiligen sozialen Gruppierungen zu denken, öffentlich zu reden und zu handeln hat, ohne mit informellen Sanktionen rechnen zu müssen. Das greift aber zu kurz, weil damit keine Auskunft darüber vorliegt, wie dieses ›Mehrheitliche‹ entstanden ist, welche Selbstverständlichkeiten und welche Verbote ihm zugrunde liegen und wie die dominante Deutung des Selbst und der Welt, die diesem ›Mehrheitlichen‹ zugrunde liegt, kodiert, strukturiert und auf Dauer gestellt wird. Für das politische Funktionieren demokratischer Gesellschaften und für ihre soziale Kohärenz sind aber genau dies die Fragen, die auch heute noch notwendigerweise gestellt werden müssen, sofern Demokratien nicht diejenige politische Form haben sollen, die sich auf das blosse Zusammenzählen periodischer Stimmen spezialisiert hat. Zur Erforschung der politischen Kultur genügt es also nicht, das ›Mehrheitliche‹ mit dem ›Massgeblichen‹ einfach gleichzusetzen. Vielmehr geht es darum zu verstehen, welche kulturellen Selbstverständnisse dieses ›Mehrheitliche‹ überhaupt mit dem Anspruch auf ›Wahrheit‹ sanktionieren, welche unhinterfragten Kodes des Zusammenlebens also die politische Kultur tragen, so dass Deutungsmuster etabliert werden, die das Bestehende auf eine bestimmte Weise entzifferbar machen und ihm so den Status der Richtigkeit und der Alternativlosigkeit zusprechen. Politische Kultur erscheint aus dieser Optik somit als ein diskursives Feld, in dem über sichtbare oder unsichtbare Sanktionsinstrumente, das Sagbare und Nichtsagbare sowie das Machbare und Unmögliche definiert wird. Sie ist somit nicht nur ein Phänomen, das einen inneren gesellschaftlichen Charakter verbirgt, der die Handlungen und Sprechweisen der Akteure ›diszipliniert‹, sondern ein Phänomen, das auch auf öffentliche Wahrnehmbarkeit angewiesen ist. Kulturelle Regeln und Prinzipien bedürfen einer öffentlichen Artikulation, damit sie ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen können. Sie sind auf zeichenhafte Verdeutlichung angewiesen und müssen immer wieder durch Wort, Schrift, Bild und Tat in Erinnerung gerufen werden. Jede politische Kultur materialisiert sich sinnlich fassbar in Form von Zeichenwelten. Das kulturell Geteilte besitzt nämlich eine Sinnlichkeit, die vom Menschen auch stets gefühlt werden kann. Sie wird nicht nur dort fühlbar, wo Lebensweisen sich in Form von Körperhaltungen, Zu- und Abgewandtheiten, Gesten und Gerüchen zeigen, sondern auch in ästhetisch durchgeformten Bereichen wie Kunst und Architektur oder in der alltäglichen Sprache. Überall manifestieren und wiederholen sich die kulturell geteilten Kodes und damit wird auch die dominante Deutungsschablone, mit welcher diese Zeichen erst ihren Sinn entfalten, bestätigt und tradiert. Kultur gewinnt dadurch einen langfristigen Charakter und sanktioniert entsprechend auch die ›richtige‹
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
oder ›falsche‹ kulturelle Einbindung. Die gemeinsam geteilten Grundannahmen über das Selbst und die Welt, diese »shared beliefs« wie Stephen Welch8 sie nennt, benötigen also eine stetige kommunikative Performanz, die sie im Gedächtnis wachhält und als normativ wünschenswerte deklariert. Die kognitiv-normative Landkarte erlaubt somit die Entzifferung der umliegenden Lebenswelt, und zwar mittels einer kognitiven Orientierung an gemeinsam geteilten Deutungsmustern der sozialen und politischen ›Landschaft‹. Politische Kultur gewinnt dadurch die Konnotation einer ›semiotischen Institution‹. Sie hat nicht nur mit Kommunikation zu tun, sondern wird zeichenhaft konstituiert und perpetuiert. Die Grenzen zwischen politischer Kultur und allgemeiner Kultur sind somit fliessend. »Politische Kultur umschreibt in diesem Sinne den Raum dessen, was man in einem Gemeinwesen legitimerweise tun und lassen kann, wie man hier üblicherweise denkt und handelt, fühlt und wahrnimmt, was von der Politik erwartet wird und wie die jeweils eigene Rolle als Akteur definiert ist. Politische Kultur definiert den Raum des Sagbaren und dadurch auch den Raum des Machbaren.« 9
Sie ist somit eine dominante10 kognitiv-normative Landkarte, mithilfe derer bestimmte Deutungen der Welt und des Selbst als legitim sanktioniert werden und andere nicht. Sie konstituiert und perpetuiert sich entsprechend kommunikativ und operiert somit als semiotische Institution, die einen öffentlichen Raum von Bedeutungen schafft. Sie muss als ein Phänomen des Öffentlichen betrachtet werden, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist und weil die in einem Kollektiv vorhandenen Bedeutungen und das ihnen zugrundeliegende Hintergrundwissen einen öffentlichen Raum von Bedeutungen schaffen, in dem die jeweiligen Akteure interagieren. Entsprechend muss auch die Rolle der Massenmedien bei der Prägung und Durchsetzung ihrer Bedeutungskonstrukte analysiert werden. Der Mediendiskurs dient hierbei zur Befestigung des kulturellen Status quo, in8 | Vgl. WELCH, STEPHEN. The Concept of Political Culture. New York: St. Martin’s Press 1993. S. 14ff. 9 | D ÖRNER, A NDREAS. Politische Kulturforschung. In: H ERFRIED M ÜNKLER (Hg.). Politikwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003. S. 603. 10 | Ich spreche hier und im Folgenden von dominant und nicht determiniert, weil es immer möglich ist, soziale Praktiken, politische Begebenheiten und Verfahren, wirtschaftliche Verhältnisse und alltäglich routinisierte Ereignisse und Diskurse anders zu deuten, zu ordnen, zu klassifizieren und zu dekodieren. Dominant auch deshalb, weil es ein Muster ›bevorzugter Lesarten‹ gibt, denen die institutionelle, politische und ideologische Ordnung eingeschrieben ist, und die selbst schon in der Alltagspraxis institutionalisiert wurden. Siehe hierzu auch: H ALL , S TUART. Kodieren/Dekodieren. In: D ERS. Ideologie, Identität, Re-präsentation. Ausgewählte Schriften 4. Herausgegeben von J UHA K OIVISTO und A NDREAS M ERKENS. Hamburg: Argument 2004. S. 66-80.
3. Erste Annäherung: politische Kultur als politische Deutungskultur
dem er dafür sorgt, dass politisch-kulturelle Vorstellungs- und Deutungsmuster immer wieder in der Öffentlichkeit aufgeführt werden und so nicht verblassen oder zur blossen Folklore absinken. Medien bewahren also einerseits die politische Kultur, indem sie die darin gespeicherten Kodierung und ›shared beliefs‹ immer wieder in Erinnerung rufen. Sie »führen uns – beinahe rituell – die geltenden Selbstverständlichkeiten in immer neuer Form vor und halten sie somit im kulturellen Gedächtnis lebendig.«11 Andererseits aber können sie bestimmte Veränderungstendenzen im sozialen Gefüge in ihrer publikumswirksamen Verstärkerfunktion zum Ausdruck bringen und so die Deutungshoheit der dominanten politischen Kultur in Frage stellen. Medien können also neben ihrer konservativen Funktion der Bewahrung bestehender Deutungsmuster immer auch Verstärker von Wandlungsprozessen sein, indem sie anders kodierte Wertpräferenzen, neue Lebensstile oder alternative Deutungen des sozialen und politischen Systems in den öffentlichen Wahrnehmungsraum bringen, sie dadurch ›normalisieren‹ und auch bei solchen Teilen der Bevölkerung akzeptabel machen können, die ihnen bis anhin ablehnend gegenüberstanden. Dennoch muss man sich dessen gewahr sein, dass Mediensysteme heute hauptsächlich marktförmig organisiert sind, so dass die Anbieter darauf achten müssen, dass sie die Erwartungen des Publikums möglichst genau bedienen. Erwartungen, Normalitätsvorstellungen, Werte und Sinnkonstrukte werden somit immer auch anlehnend an dominante, habitualisierte und vom Publikum erwünschte Deutungsmuster der politischen und sozialen Realität stabilisiert und auf Dauer gestellt. Um es mit Karl Rohes Unterscheidung zwischen Sozio- und Deutungskultur zu sagen, bilden Mediendiskurse eine Art Scharnierstelle zwischen diesen beiden Ebenen. Sie sind gleichzeitig auf der soziokulturellen wie auf der deutungskulturellen Ebene von politischer Kultur angesiedelt. Auf der einen Seite verstärken sie einerseits Wahrnehmungs- und Deutungsroutinen und somit auch politisch-kulturelle Traditionen, andererseits sind sie insofern zugleich wesentlicher Bestandteil der Soziokultur, als sie hier Selbstverständlichkeiten stabilisieren, die die Mediennutzer problemlos in ihren Horizont integrieren können. Auf der anderen Seite dienen sie in der Soziokultur als privilegierte Kanäle, um die Ebene der Deutungskultur zu beeinflussen. So können beispielsweise Skandalisierungen, die in der Soziokultur thematisiert werden und über die Medien einen hohen Aufmerksamkeitsgrad erlangen, auch die dominanten Deutungen verändern und so die politische Kultur neu kodieren. Gerade solche Medien, die fest in der Alltagswelt der Nutzer verankert sind – wie etwa Fernsehen, Internet oder Hörfunk – können im Prozess der Verschiebung politisch-kultureller Normen und der Etablierung neuer Bildwelten und somit neuer Deutungen eine entscheidende Rolle spielen. So betont
11 | D ÖRNER, A NDREAS. Politische Kulturforschung. In: H ERFRIED M ÜNKLER (Hg.). Politikwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003. S. 610.
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auch Birgit Peters,12 dass Massenmedien bei den Nutzern immer noch einen hohen Glaubwürdigkeitskredit haben, weshalb das Forum der Medienöffentlichkeit für prominente Akteure auch der bevorzugte Ort ist, um nachhaltige Wirkungen zu erzielen. Entsprechend können sie aber auch für rein propagandistische Zwecke und nicht für die Ausbreitung kritischer Inhalte missbraucht werden. Demokratien können so zu Mediokratien mutieren, in welchen der glänzende Schein die gesellschaftlichen Probleme und ihre komplexen Zusammenhänge überstrahlt und sie in Form billiger Werbebotschaften präsentiert. Dieses Thema wird später aufgegriffen. Hier geht es vorerst darum, die kommunikative und mediale Dimension der politischen Kultur, ihre öffentlichkeitswirksame Vermittlung dominanter Deutungsmuster und die damit latente Veränderbarkeit ihrer ›shared beliefs‹ aufzuzeigen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das spezifische Merkmal der politischen Kultur zwar ihre Ausrichtung auf die politische Sphäre, ihre Akteure, Institutionen, Diskurse und Verfahrensmechanismen ist. Aber insofern sie als kollektive Dechiffrierungsschablone dient, welche das politisch eingerahmte gesellschaftliche Zusammenleben mit Sinnkonstruktionen zu entziffern erlaubt und diese öffentlich vermitteln muss, liegt ihre Verankerung – ihr Fundus, aus dem sich ihre Praktiken der Bedeutungsgebung speisen – in der allgemeinen Kultur eines Kollektivs, ihren verfestigten Kodes, Symbolen, Erinnerungsorten, selbstverständlichen Praktiken des gesellschaftlichen Zusammenlebens, ideologischen Narrativen und Apparaten, welche das Sediment bilden, auf dem ›Wahres‹ von ›Falschem‹ und ›Gutes‹ von ›Bösem‹ unterschieden wird. Das Konzept der politischen Kultur wurde in diesem ersten Annäherungsschritt also danach befragt, was eigentlich die kulturelle Rahmung politischen Denkens und Handelns ausmacht. Die Metapher der kognitiv-normativen Landkarte hat das analytische Blickfeld auf die Hintergrundbedingungen von politischer Kultur eröffnet. Nicht nur wurde betont, dass die kulturelle Rahmung von politischer Kultur in der kulturellen Prägung von grundlegenden Denk-, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster besteht, sondern auch, dass diese Muster politisch durchgesetzt und immer wieder in Erinnerung gerufen werden müssen, da sie kollektive geteilte Bedeutungspraktiken sind und entsprechend auch in einem für das Kollektiv zugänglichen Raum, also öffentlich vermittelt werden. Politische Kultur ist in diesem Sinne ein Fundus von geteilten Bedeutungen, von ›shared beliefs‹, die von Kommunikationsprozessen erzeugt, stabilisiert, verändert und immer wieder auch öffentlich vermittelt werden. Zu den Elementen der politischen Kultur gehört also einerseits ihre Kommunikationsdimension, andererseits aber auch ihre Konfliktdimension, da dominante Deutungsmuster immer auch konkurrierende ausschliessen müssen, um auf Akzeptanz und Verinnerlichung stossen zu können. Des Weiteren hat die Landkarten-Metapher darauf hingewie12 | Vgl. P ETERS, B IRGIT. Prominenz. Eine soziologische Analyse ihrer Entstehung und Wirkung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
3. Erste Annäherung: politische Kultur als politische Deutungskultur
sen, dass geltende Deutungsmuster sowie die Sag- und Machbarkeiten, die sie bedeutungsvoll einrahmen, immer auch sanktionsfähig und durchsetzbar sein müssen, sollen sie ein Zurechtfinden und eine legitime Ordnung, nach der man sich orientieren kann, im sozialen Kollektiv ermöglichen. Politische Kultur manifestiert sich somit also auch in der institutionellen Dimension. Und letztlich wurde auf den historischen Prozess hingewiesen, in welchem sich politische Kultur grundsätzlich befindet. Ihre dominanten Kodes und ›shared beliefs‹ sind immer auch historisch geworden und müssen kommunikativ tradiert werden, sollen sie auch zukünftig Geltung erlangen. Sie müssen also immer wieder in Erinnerung gerufen werden, damit die bestehenden Deutungsmuster auch über eine längere Zeit hinweg verlässliche Orientierung bieten können. Politische Kultur manifestiert sich also auch in der Dimension der Erinnerung. Diese Manifestationsformen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden, damit eine schärfere Konturierung des Konzepts möglich wird und anschliessend das Feld eröffnet werden kann, auf dem das im Konzept der politischen Kultur anklingende Wechselspiel zwischen Kultur und Politik, sein Ort und seine ideologischen Komponenten analysiert werden können.
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4. Zweite Annäherung: Dimensionen und Manifestationsformen politischer Kultur
Wenn man der bisherigen Analyse folgt und zugesteht, dass politischen Kultur auf Sprache und somit Kommunikation, auf Räume, in denen Kommunikation stattfinden kann und auf die Art und Weise, wie diese Kommunikation erfolgt und wie sie reguliert wird, angewiesen ist – wenn also davon ausgegangen wird, dass Kultur wie Sprache ein kollektives und semiotisches Phänomen ist, und dass politische Kultur somit aus diesen Konstitutionsmechanismen erklärt werden muss, dann lässt sich als zweite Annäherung fragen, wie sich politischen Kultur manifestiert und in welchen Dimensionen sie erscheint. Die Rede von Dimensionen hat insofern ihre Berechtigung, als sie auf den Aspekt der Ausdehnung hinweist. Eine Dimension erstreckt sich über verschiedene Achsen der Entfaltung und impliziert somit einen unabgeschlossenen Raum, in welchem die Dynamik und Bewegung der darin sich befindenden Objekte und Subjekte potentiell uneingeschränkt ist. Wie bereits erwähnt, operiert politische Kultur, wie jede andere Kultur auch über die Dimension der Kommunikation, in und durch welche Bedeutung hergestellt und artikuliert wird. Kulturen sind zudem nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern in einem ständigen Transformationsprozess, der in die Zukunft zielt, aber hierfür immer wieder auch in die Vergangenheit zurückgreifen muss und dabei das ›Gewesene‹ immer wieder auch von der gegenwärtigen Position neu schreibt und in die Zukunft transportiert. Kulturen sind dimensionale Räume, in denen Menschen sich ihrer selbst, ihrer Lebenswelt sowie ihrer Wünsche und Nöte bewusst werden und hierfür gemeinschaftliche Ordnungen erschaffen, um die vergangenen Erfahrungen und ihre Ursachen aus der jeweils dominanten Deutung heraus positiv in die Zukunft zu führen oder negativ in der Gegenwart auszutilgen. Kurz gesagt: Kultur als bedeutungsgebende Praxis umfasst Standardisierungen, die im Kollektiv auf Geltung drängen. Hierfür ist Kommunikation unerlässlich. Werte, Deutungsmöglichkeiten, ›shared beliefs‹ und kollektiv geteilte Kodierungsweisen der Welt und des Selbst brauchen nämlich eine öffentliche Artikulation, damit sie wahrgenommen, geteilt, diskutiert und in der kog-
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nitiv-normativen Landkarte festgesetzt werden können. Mit dieser Dimension sind also auch Konfliktpotentiale verbunden, zumal die Deutungsmöglichkeiten immer wieder in Frage gestellt und verändert werden können. In dieser Dimension werden aber auch kognitive und mnemotechnische Elemente des Selbst- und Weltverständnisses transportiert. Insbesondere Erinnerungsschemata, die immer wieder kommunikativ tradiert und somit auch festgelegt werden und die der jeweiligen Position in einem politisch verfassten Gemeinwesen einen Sinngehalt zuschreiben, damit das Ich sich im Umfeld der Anderen zurechtfinden kann, bilden das privilegierte kognitive und auf kollektive Gültigkeit ausgerichtete ›Gut‹, das in der politischen Kultur kommunikativ verankert wird. Die Kommunikation und die dadurch artikulierte öffentliche Auseinandersetzung über das, was mach- und sagbar, aber auch erinnerungswürdig ist, bedürfen einer Institutionalisierung, in welcher die Kommunikation und der in diesem Modus stattfindende Konflikt einen legitimierbaren und ordnungsstiftenden Rahmen erhalten. Im Folgenden geht es also darum, das Konzept der politischen Kultur über die Dimensionen der Kommunikation, Institutionalisierung und Erinnerung, in denen zugleich ihre Manifestationsformen liegen, näher zu beleuchten. Begonnen wird mit der grundlegenden, weil primären operativen Dimension von politischer Kultur – der Kommunikation.
4.1 D IE KOMMUNIK ATIVE D IMENSION Kommunikation ist in erster Linie eine soziale Interaktion, in der es um Bedeutungsvermittlung geht. Sie kann intentional oder auch nicht-intentional stattfinden und ein entsprechendes Handeln produzieren, das auf Verständigung aus ist. Bedeutungsvermittlung kann somit als Ziel von Kommunikation angesehen werden, sie ist aber nicht Selbstzweck, sondern vielmehr Mittel zum Zweck der Realisierung spezifischer Interessen. In der Kommunikation werden Welt- und Selbstbilder über verschiedene Medien, wie Sprache, Schrift, Körper, Gesten, Kleidung oder sonstige Symbole, ausgetauscht und auf Zustimmung hin artikuliert. Die eigenen kommunikativ vermittelten Argumente müssen nicht die besseren sein, werden aber zu Beginn einer jeden Kommunikation als solche angesehen und auch verteidigt. Das heisst nicht, dass sie nicht revidiert werden können, sondern bloss, dass ihre Artikulation dem Interesse ihrer Durchsetzung folgt, auch wenn dieses – sofern es sich um vernünftige Gesprächspartner handelt – nicht immer gelingt. Die Bedeutungsvermittlung, die mittels Kommunikation stattfindet, ist zudem immer auch von vorgefundenen Deutungsmustern und von den dadurch geprägten Sozialisationsprozessen bestimmt. In der Kommunikation spiegeln sich also immer auch die im kollektiven Bewusstsein gespeicherten Bedeutungsreservoirs und gemeinsam geteilte Vorverständnisse dessen, was in welchen sozialen Räumen gesagt und wie etwas getan werden kann. Kommunikation stellt somit nicht die blosse Übertragung von Signalen in den Mittelpunkt, sondern
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einen interaktiven Vorgang, der auf Verständigung abzielt und damit auch die kognitive Kartographierung des Selbst- und Weltverständnisses abstecken will. Für das Konzept der politischen Kultur bedeutet dies, dass die darin enthaltenen, tradierten und auf kollektive Zustimmung ausgerichteten Deutungsmuster der jeweiligen Lebenswelt mittels Kommunikationsprozessen überhaupt artikulierbar und als Verständigungsresultate auch (wieder)bestätigt werden können. Verständigung kann nämlich nur dann gelingen, wenn die Kommunikationspartner über gemeinsam geteilte Bedeutungsvorräte verfügen. Wenn jemand die Sprache seines Gegenübers nicht versteht, so bedeutet das nicht, dass keine Kommunikation stattfindet, sondern vielmehr, dass der Verständigungsprozess noch nicht eingesetzt hat. Erst nachdem eine gemeinsame Bedeutungsbasis hergestellt wurde, notfalls mithilfe von Händen und Füssen, kann Verständigung auch erzielt werden. Als erste Folgerung kann somit gesagt werden, dass kulturelle Praktiken sich im öffentlichen Raum von Bedeutungen als öffentliche Praktiken vollziehen, die notwendig immer auch kommunikative Praktiken sind. Zur Kommunikation gehört also nicht nur das verbale Wort, sondern auch Gesten, Symbole, Lebensstile – kurz: zeichenhafte Bedeutungsträger. Kommunikation ist somit immer auch ›gelebte Kultur‹. Sie findet durch Zeichen statt, die immer auch interpretiert und in die jeweils dominante und als ›richtig‹ taxierte Ordnung der Dinge gesetzt werden müssen. Dass hierbei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bestehen, versteht sich von selbst. Wenn jemand mit seiner Partnerin ein Zeichen vereinbart, beispielsweise das Kratzen des rechten Ohrlappens, was für beide als Signal für das Auffinden einer glaubwürdigen Ausrede dient, um der langweiligen Abendveranstaltung zu entfliehen, dann ist dieses Kommunikationszeichen eines, das verschiedene Interpretationen erlaubt. Nimmt der Abend unausstehliche Langeweile an und kratzt ein Gast sich am rechten Ohr, dann ist dieses Zeichen zwar für alle die ihn in ihrem Blickfeld haben, sichtbar, seine intendierte Bedeutung entfaltet es aber nur für diejenige Person, die die von ihm erwünschte Interpretation auch applizieren kann. Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass jede kulturelle Praxis zeichenhaft ist, sondern auch, dass Zeichen als Bedeutungsträger nicht für sich selbst stehen, sondern für etwas anderes. Im Interpretationsmuster der Anwesenden mag das Kratzen der Ausdruck eines körperlichen Bedürfnisses sein, für die damit angesprochene Person ist es aber eine klare Mitteilung. Jede Kultur kennt und braucht eine grosse Anzahl von mehr oder weniger standardisierten Zeichen und Zeichensystemen, die ihre Bedeutung immer in Anlehnung an ein dominantes, vereinbartes oder tradiertes Deutungsmuster entfalten. Kommunikation als ein Austauschprozess von Informationen und Meinungen, der sich zu einem öffentlichen Diskurs über Deutung und Bedeutung, über gesellschaftlichen Konsens und Dissens formieren kann, bleibt stets gebunden an die Vorstellung hinreichender sprachlicher und textlicher Verständigungsmittel. Sie manifestiert sich aber nicht nur durch diese offensichtlichen Medien, sondern vollzieht sich als kulturelle Haltung auch in komplexer und komplizierter Art.
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Kommunikation ist nicht Sprache und Text allein. Vielmehr ist sie eine kulturelle Praxis, die auch Körper, Dinge, Gesten, Symbole oder Lebensstile als kommunikative Medien einschliesst und die auch stets konkrete Kontexte benennt: Orte und Zeiten der Verständigung als Voraussetzung für ›Verstehen‹, gleichsam als eine kulturgeschichtliche Topographie sozialer Deutungs- und Bedeutungsmöglichkeiten.1 Kultur verkörpert also stets mehr Erfahrung und Prozess als Struktur und System. Die zentrale Analyseschablone, um Kultur – und in diesem besonderen Fall: politische Kultur – als einen von Zeichen wimmelnden ›Text‹ lesen zu können, der über die sprachliche Struktur und Semantik in den Raum des Symbolischen dringt, ist das ›Verstehen‹. Dieses ist aber immer vorgeprägt von bestehenden und tradierten Deutungsmustern, die aufgrund ihrer Dominanz bestimmte ›Interpretationen‹ als sinnvolle, andere hingegen als unsinnige oder gar weltfremde taxieren. Vielfach werden in der täglichen Kommunikation bereits vorgefertigte und über die Zeit standardisierte Sprechmuster verwendet, die den Inhalt des Gesagten intuitiv sinnvoll erscheinen lassen, weil dieses in Kongruenz mit dem herrschenden Deutungsangebot interpretiert und auch geäussert wird. Dies ist eine Beobachtung, die Ward H. Goodenough folgendermassen formuliert: »As powerful a resource as a language is for communicating experience with a high degree of sublety, using it to express one’s thought with precision is not always easy. Much of what we have to talk about in the course of everyday affairs, however, does not require great precision of communication. Stock words and phrases can be used over and over again. Once fabricated, expressions that effectively convey attitudes and feelings are likely to be used again when there is a similar attitude or feeling to be expressed. Most of what is said in ordinary conversation, therefore, is not mode of words individually selected out of the speaker’s vocabulary and fitted into a sentence one by one according to the principles of syntax. It consists largely of prefabricated sentences and phrases.« 2
Kommunikation funktioniert also über schon vorgefundene Sprechmuster und Bedeutungsinhalte, die handlungsrelevante ›public codes‹ und ›cognitive frames‹, also öffentlich vermittelte und mit Geltungsanspruch legitimierte semantische Formeln und Verständigungsrahmen hervorbringen. Als Individuen sind Menschen immer schon in eine bestehende Sprache ›geworfen‹ und formulieren die Geschichte ihres Selbst und die Deutung der Umwelt aus dieser vorgefundenen Sprache heraus. Die Deutungsangebote und Sprachmuster, in denen Menschen 1 | K ASCHUBA , WOLFGANG . Öffentliche Kultur – Kommunikation, Deutung und Bedeutung. In: JAEGER, F RIEDRICH . E T. A L. (Hg.). Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart. Weimar: Metzler 2004. S. 128ff. 2 | G OODENOUGH, WARD H. Culture, Language and Society. 2. Aufl. Menlo Park, CA: Benjamin/Cummings 1981. S. 14. Zitiert in S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. BadenBaden: Nomos 2008. S. 239.
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sich vorfinden und die als geteilte kognitive Modelle ihr Denken und Handeln beeinflussen, sind als Festschreibungen aber immer auch Kommunikationsereignisse. Sie müssen, um als stabil und kohärent zu gelten, durch Kommunikation immer wieder repetiert und bestätigt werden. Sobald jedoch neue Bedeutungsangebote mittels neuer öffentlich kommunizierter und durchsetzungsfähiger Deutungsmuster auftreten und damit den Sprachspielprozess unterbrechen, um ihn aus einer anderen Warte neu zu starten, wird die alte semantische Kohärenz aufgeweicht. Neue Bedeutungen können dann die bis dahin kollektiv geteilten und kommunikativ stabilisierten Selbstverständnisse neu kodieren. Alte Gemeinsamkeiten der Einschätzungen und Überzeugungen, die auf tradierten Deutungsmustern aufruhten, können aufgegeben werden für andere Sinnentschlüsselungsmodi. Neue Themen kommen auf, neue Überzeugungen, neue Handlungsoptionen, die das Bestehende und zuvor fraglos Hingenommene in ein kritisches Licht positionieren. Wenn also Kommunikation für soziale Interaktion und Vermittlung von Bedeutung ist, so kann eine solche verständigungsorientierte Kommunikation auch nur dann gelingen, wenn die Kommunikationspartner über gemeinsam geteilte Bedeutungsreservoirs verfügen, wenn also im Sinne George Herbert Meads Kommunikation als »symbolischer Interaktionismus«3 begriffen wird. Ein veranschaulichendes Beispiel für die Funktionsweise und die Relevanz dieses ›symbolischen Interaktionismus‹, aus welchem verständigungsorientierte Kommunikation nur dann gelingen kann, wenn sie auf gemeinsam geteilte Bedeutungsvorräte zurückgreifen kann, bietet Wolfgang Reinhard in seinem Buch »Lebensformen Europas«. Hier schildert er folgende Wirtshausszene: »In einem Pub im Westen Irlands bricht nach etlichen Bieren ein Streit zwischen zwei Männern aus. Der erste springt auf und brüllt: Haltet mich, oder ich bringe den Kerl um. Der zweite äussert Ähnliches, woraufhin etliche Anwesende beide festhalten, was diesen gestattet, sich demonstrativ zu wehren und weiter Mordabsichten zu verkünden, bis schliesslich beide dank längerer Bemühungen ihrer Freunde für dieses Mal auf eine Prügelei verzichten, ohne dass ihre Ehre beeinträchtigt wäre. Dann kommt einer der Iren als Neuling nach England und wiederholt die Szene in einem dortigen Pub. Die Anwesenden ignorieren sein Getöse, niemand hält ihn und seinen Gegner, so dass es schliesslich zu einem Kampf mit üblen Folgen kommt. Die anwesenden Briten aber fühlen sich in ihren Vorurteilen über die hitzigen, unbeherrschten und gewalttätigen Iren bestätigt, weil sie nicht verstanden haben, dass sie Zeugen oder unfähige Mitspieler eines verunglückten Rituals der irischen Kultur waren.« 4 3 | M EAD, G EORG H ERBERT. Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. S. 187ff. 4 | R EIHHARD, WOLFGANG . Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München: Beck 2004. S. 539. Zitiert in S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. BadenBaden: Nomos 2008. S. 248.
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Ein weiteres Beispiel, das diesen Interaktionismus bestätigt und eine genuin politische Komponente aufweist, stellt die Auseinandersetzung mit der Armut in der Dritten Welt dar. Heute würde niemand mehr vernünftigerweise behaupten wollen, die afrikanischen Entwicklungsländer seien in einem desolaten Zustand wegen der angeborenen Faulheit ihrer Bewohner. Diese Deutung scheint nur noch in Kreisen derjenigen eine Rolle zu spielen, die im Namen einer verzweifelten rassistischen Valorisierung des Selbst den Schritt aus der selbst auferlegten Unmündigkeit bewusst nicht machen wollen. Dieses rassistische und eugenische Bedeutungsreservoir ist längst wissenschaftlich diskreditiert worden und hat sich auch im Alltagsverstand weitgehend als unhaltbar erwiesen. Dennoch bleiben auch in vernünftigeren Kreisen die Deutungen über die Armut in grossen Teilen des afrikanischen Kontinents und die damit einhergehende Spaltung zwischen dem reichen Norden und dem vergessenen Kontinent unterschiedlich. Während sich ein dominanter Diskurs global ausbreitet, der auf ein Bedeutungsreservoir zurückgreift, in welchem Demokratisierungsprozesse im gleichen Atemzug erwähnt werden mit freien kapitalistischen Märkten und im Ansatz der ›Good Governance‹ die Lösung des Problems sichtet, betonen kritischere Stimmen, auch wenn sie nicht immer auf eine gastfreundliche Interpretation stossen, dass das Problem weniger institutioneller Natur ist, als vielmehr über die Thematisierung der ökonomischen Ungleichgewichte und der damit einhergehenden Unmöglichkeit selbstbestimmter und autonomer Gestaltung des politischen und sozialen Lebens in diesen Gesellschaften erklärt werden müsse.5 Je nachdem, welche Deutungsangebote vorherrschend sind, werden auch bestimmte Politiken mit einem höheren Plausibilitätsgrad artikuliert und somit als ›sinnvoller‹ interpretiert. Andere hingegen, die im vorherrschenden Deutungsmuster keine oder nur geringe Resonanz finden, müssen höhere Argumentationshürden bewältigen und auf eine öffentliche Rekodierung der herrschenden Interpretationsmuster drängen, um solche Probleme auch aus ihrer Warte als lösbar erscheinen zu lassen. In einer Demokratie ist gerade die öffentliche kommunikative Gegenüberstellung von Deutungsangeboten von konstitutiver Bedeutung, weil demokratische Rechte und Garantien für eine selbstbestimmte Lebensführung nur dann gerechtfertigterweise erhoben werden können, wenn de facto die Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten besteht. Zu Recht betont Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass Kommunikationsgrundrechte – wie die freie Meinungsäusserung, Presse- und Rundfunkfreiheit, aber auch Demonstrations- und Vereinigungsfreiheiten – zur demokratiebezogenen Grundrechtsfamilie gehören:
5 | Siehe zusammenfassend hierzu: M ARTI, U RS. Demokratie. Das uneingelöste Versprechen. Zürich: Rotpunktverlag 2006. Kapitel 4: Grenzenlose Demokratie. S. 149-191. Hier insbesondere S. 161ff.
4. Zweite Annäherung: Dimensionen und Manifestationsformen politischer Kultur »Die Grundrechte erhalten ihren Sinn und ihre prinzipielle Bedeutung als konstituierende Faktoren eines freien Prozesses demokratischer, das heisst von unten nach oben verlaufender, Staatshervorbringung – darin liegt die Gemeinsamkeit mit der Integrationslehre – und eines demokratischen Prozesses politischer Willensbildung.« 6
In diesem Verständnis operiert die Demokratie in erster Linie als ein Verfahren, in welchem über einen ständigen offen gehaltenen und frei zugänglichen Kommunikationsprozess die Legitimation der Herrschaft etabliert wird. Was in diesen Kommunikationsprozessen freilich in den Vordergrund gestellt wird, sind bestimmte Deutungen der sozialen und politischen Welt, die entsprechend auf Zustimmung hin artikuliert werden und so die Legitimationsbasis des Systems garantieren. Dabei setzten sich die erfolgreichen Deutungsmuster, die kommunikativ und öffentlich vermittelt werden, auch in der politischen Kultur fest und eichen dadurch auch die Selbst- und Weltverständnisse sowie den privaten und auch öffentlichen Handlungsrahmen der Gesellschaftsmitglieder. In diesem Sinne erweist sich Demokratie als ein kommunikativ stattfindendes – über die politisch-kulturell dominant gewordenen Deutungsmuster des gesellschaftlichen Zusammenlebens kodiertes – Verfahren der Legitimation, der Kontrolle und der Kritik politischer Herrschaft. Die Dimension, in welcher Demokratie also erfahrbar, kritisierbar und veränderbar ist, ist diejenige der Kommunikation, und insbesondere der politischen Kommunikation. Sie ist von einer neutralen Warte gesprochen zunächst einmal eine Bedeutungsvermittlung in Interaktionsprozessen zur Herstellung allgemein verbindlicher Entscheidungen. In kritischer Hinsicht lässt sich aber sagen, dass sie als Mittel zur Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen zugleich in ihrer Performanz selbst Politik und Kampf um die Durchsetzung bestimmter Interessen ist. In ihr werden nämlich die gemeinsam geteilten Wertüberzeugungen und Interpretationsangebote des Selbst und der Welt, die in der politischen Kultur sedimentiert sind, zum privilegierten Objekt unterschiedlicher Diskurse, die sich um sie drehen. Politische Akteure formulieren ihre Argumente indem sie ›shared beliefs‹ und ›public codes‹ zu ihrem Inhalt machen. Sie rufen diese gemeinsam geteilten Überzeugungen insofern an, als sie diese kommunikativ in der öffentlichen Meinung mit dem je eigenen Interpretationsmodell artikulieren und sie somit mit einem bestimmten Bedeutungsinhalt zu markieren versuchen. Gerade weil Kommunikation ihre Zeichen nicht ein für alle Mal festsetzen kann, sondern vielmehr dem Flottieren ihrer Bedeutungen Rechnung tragen muss, bleiben Begriffe – und in diesem spezifischen Fall politische Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit oder Gemeinwohl –, auf die Politiker aller Couleur ständig zurückgreifen, diffus. Erst wenn ein Deutungsangebot sich kollektiv durchsetzen kann,
6 | B ÖCKENFÖRDE, E RNST WOLFGANG . Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation. In: Neue Juristische Wochenschrift. Nr. 35. 1974. S. 1529-1538. Hier S. 1534.
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setzt dieses Flottieren möglicher Bedeutungen bis zur erneuten Infragestellung der dominanten Deutung aus. Die Bedeutungsvermittlung ist also eine, die konflikthaft ist, zumal die ›heiligen‹ Begriffe der Demokratie ständig umkämpft und über die Deutungsangebote spezifischer Gruppeninteressen artikuliert werden. Freiheit kann beispielsweise die Freiheit von äusseren Zwängen bedeuten, aber auch die letztlich damit verbundene Forderung kennzeichnen, frei zur Gestaltung des eigenen Lebens zu sein. Gleichheit kann alle Menschen als Gleiche vor dem Gesetz erscheinen lassen, im Bereich des ökonomischen Austausches aber ungleiche Verhandlungsund Startbedingungen getrost übersehen. So ist eine prekarisierte Putzfrau zwar vor dem Gesetz gleichgestellt mit ihrem Arbeitgeber, auf der existentiellen Ebene des Broterwerbs bleibt sie aber in einer Position, die nicht viel mit Gleichheit zu tun hat, falls man darunter nicht bloss die gleiche Unfreiheit aller Prekarisierten versteht, ihre Existenz nicht nach eigenen Wünschen gestalten zu dürfen. Was sie daran hindert, ist die einfache Tatsache, dass sie für ihr leibliches und soziales Überleben eine Konkurrenzsituation eingehen muss, aus welcher die Angebotsseite des Patrons aus einer überfülligen Nachfrage diejenige Arbeitskraft auswählen kann, die seinen Ansprüchen am besten entspricht. Dass diese Ansprüche vielfach mit der Erhöhung des Nutzens und der Senkung der Kosten gleichgesetzt werden, bedarf unter Bedingungen kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse wohl keiner wissenschaftlichen Herleitung. Die kommunikativ in der Öffentlichkeit vermittelten Überzeugungen, Werte und Verhaltensnormen stehen also immer in einem Machtverhältnis, da ihre Inhalte von bestimmten politischen Positionen artikuliert und auf Gültigkeit hin ausgerichtet werden. Entsprechend setzen sich auch diejenigen Bedeutungsinhalte durch, die mittels einer dominant gewordenen Deutungsweise auch die entsprechenden Interpretationen festlegen und diese so in der politischen Kultur in Form von ›shared beliefs‹ sedimentieren. Die Dimension der Kommunikation impliziert zwar einen offenen und potentiell unabschliessbaren Raum der öffentlichen Artikulation, lässt die stattfindenden Sprechakte aber vielmehr als konventionalisierte Vermittlungsmuster erscheinen, in denen bereits vorgefundene Sinnangebote des gesellschaftlichen Zusammenlebens tradiert und repetiert werden. Zugleich aber integriert sie auch den Aspekt des Konflikts, da die in der politischen Kultur sedimentierten Selbstverständnisse immer wieder auch kommunikativ herausgefordert und bestenfalls umkodiert werden können. Politische Kultur manifestiert und konsolidiert sich also nicht nur im Modus der Kommunikation, sondern auch im Modus des Konflikts. Dieses ist auch als grundlegendes Merkmal demokratisch verfasster Gemeinwesen zu betrachten. Konflikte bilden die Antriebskurbel für die Sedimentierungsvorgänge in der politischen Kultur. Sie sind ein fundamentales Element sozialer Interaktion und stellen als solche das ›Elixier‹ der Demokratie dar. Aufgabe des demokratischen Prozesses ist nach diesem Verständnis nicht die Vermeidung von Konflikten,
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sondern deren Regelung. So betonte auch Georg Simmel,7 dass die soziale Produktivität von Konflikten darin besteht, dass sie Gruppenidentität schaffen und stabilisieren. In einem weiteren Sinn sind sie auch deshalb produktiv, weil sie ihrerseits Regeln und Normen hervorbringen, die zu ihrer eigenen Begrenzung und Regulierung beitragen. Ein weiterer Konfliktsoziologe, Lewis Coser,8 betonte in kritischer Auseinandersetzung mit Talcott Parsons’ systemtheoretischem und strukturfunktionalistischem Ansatz, dass das Vorhandensein von Konflikten ein positives Zeichen für die Stabilität von sozialen Beziehungen sein kann. Den Systemtheoretikern wirft Coser vor, dass sie vor allem die Systemstabilität im Blick haben und den Konflikten daher keine prominente Rolle zuweisen. Coser hält insbesondere Parsons vor, sein Konzept des Systemgleichgewichts normativ aufzuladen, wodurch gewissermassen zwangsläufige Spannungen und Konfliktverhalten als deviant oder anormal qualifiziert werden müssten. Vielmehr aber hätten gerade Konflikte systemstabilisierende Qualitäten, da sie einerseits die diskursive Auseinandersetzung in Gang halten und andererseits aus dieser auch gleich die Bedingungen ihrer Austragung formulieren können. Dies gelingt gemäss Coser aber nur, wenn bereits ein ausreichendes Fundament an grundsätzlicher Gemeinsamkeit vorhanden ist. Wie schon Max Weber vor ihm, betont auch Coser, dass legislatives Inkraftsetzen von neuem Recht gerade in Bereichen notwendig ist, in denen Konflikte aufgetreten sind. Die primäre Funktion des Rechts und der legislativen öffentlichen Durchsetzung von Normen liegt – diesen Soziologen folgend – also in der Institutionalisierung und somit Ermöglichung von Konflikten innerhalb gewisser Rahmen. Die prominenteste Rolle schreibt Ralf Dahrendorf den Konflikten zu. Er betont nicht nur die konstitutive Rolle von Konflikten für demokratische Gesellschaften, sondern versteht Konflikte auch als ein anthropologisches a priori, das nicht wegdiskutiert werden kann. »Man darf es wohl als empirisch eindeutig bezeichnen, dass Gesellschaften nicht durchweg harmonische und gleichwertige Gefüge sind, sondern stets auch Auseinandersetzungen zwischen Gruppen, unvereinbare Werte und Erwartungen aufweisen. Konflikt scheint eine universelle soziale Tatsache, ja, ist vielleicht sogar ein notwendiges Element allen gesellschaftlichen Lebens.« 9
7 | S IMMEL , G EORG . Soziologische Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. (1908). 4. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 1958. S. 186ff. 8 | C OSER, L EWIS A. Reviewed work(s): Essays in Sociological Theory Pure and Applied by Talcott Parsons. In: The American Journal of Sociology, Vol. 55, No. 5 (March 1950). S. 502-504. 9 | DAHRENDORF, R ALF. Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart. München: Piper 1961. S. 114. Siehe auch D ERS. Zu einer Theorie des sozialen Konflikts. In: Z APF, WOLFGANG (Hg.). Theorien des sozialen Wandels. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1969. S. 108-123., sowie D ERS. Konflikt und Freiheit. München: Piper 1972.
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Für Dahrendorf ist das Positive am Konflikt und an der hiervon dynamisierten Gesellschaft, dass in den sozialen Konflikten eine »hervorragende schöpferische Kraft«10 von und für Gesellschaften liegt. Am Beispiel von Regierung und Opposition verdeutlicht Dahrendorf diese positive Konnotation, denn »der offenbare Sinn des Widerspiels von Regierung und Opposition [ist,] den politischen Prozess lebendig zu erhalten, im Widerspruch und Diskussionen neue Wege zu erkunden und damit die schöpferische Qualität menschlicher Gesellschaften zu erhalten. [...] Immer also liegen der Sinn und die Konsequenz sozialer Konflikte darin, den historischen Wandel wachzuhalten und die Entwicklung der Gesellschaft voranzutreiben.« 11
Es liesse sich hinzufügen, dass Konflikte darüber hinaus auch die Deutungsangebote, die in der politischen Kultur eine Sedimentierung erfahren, immer wieder in Frage stellen und mit anderen Deutungsangeboten konfrontieren und dadurch auch die festgesetzten politisch-kulturellen Selbstverständnisse aufweichen und neu beschreibbar machen. Der Versuch, Konflikte für immer zu lösen, provoziert eine proklamierte Totalität, die unweigerlich in Tyrannei – sei es in Form der Volks- und Blutgemeinschaft oder des realsozialistischen Paradieses – führt. Dahrendorf betont hierzu, dass die fortschrittliche Einstellung zu Konflikten diejenige ist, die zu ihrer Regelung und nicht etwa Lösung oder Unterdrückung führt. Eine erfolgreiche Regelung von Konflikten könne aber nur funktionieren, wenn Konflikte von allen Beteiligten als berechtigt und sinnvoll anerkannt werden, wenn damit nicht auf ihre endgültige Beseitigung abgezielt werde und wenn sich die Konflikte in organisierten Konfliktparteien manifestieren.12 Damit benennt Dahrendorf wichtige Aspekte zum Verständnis demokratischer Selbstverständigungsprozeduren und die sie fundierenden politisch-kulturellen Deutungsrahmen. Freilich bleibt die Frage offen, weshalb bestimmte Konfliktmuster mehr Anklang finden als andere, weshalb beispielsweise in westlichen Ländern die chauvinistische und nationalistische Rhetorik vielfach die Auseinandersetzung um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums übertönt. Dies soll nicht hier beantwortet werden. Eine eingehende Analyse dieser tendenziellen Verschmelzung von nationalistisch-exklusiver Mehrheitskultur mit politischer Kultur findet im zweiten Teil statt. An dieser Stelle ging es vorerst darum, den Konfliktaspekt, der immer in der Dimension der Kommunikation schlummert, als konstitutives Merkmal der Demokratie und Dynamo der politischen Kultur hervorzuheben. Eine und die zugleich wichtigste Dimension der politischen Kultur ist also die Kommunikation und ihre implizit enthaltene Konfliktualität, die immer auch in 10 | DAHRENDORF, R ALF. Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart. München: Piper 1961. S. 185. 11 | Ibid. S. 187. 12 | Ibid. S. 226f.
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einem öffentlich ausgetragenen Konflikt expliziert werden kann. Bedeutungen, Überzeugungsinhalte, Wertorientierungen und Selbst- sowie Weltverständnisse wollen erkämpft und mit einer bestimmten Deutung interpretierbar gemacht werden, damit sie in der kognitiv-normativen Landkarte auf Dauer festgeschrieben werden können. Beides aber, sowohl die Kommunikation als auch der Konflikt, generieren zugleich die Rahmenbedingungen, unter welchen sie stattfinden. Auch hier ist eine dominante Deutung des Sag- und Machbaren im Kommunikations- und Konfliktprozess am Werk, damit Aussagen, Geltungsansprüche und Deutungsangebote überhaupt als im Rahmen des Erträglichen wahrgenommen und diskursiv verarbeitet werden können. Was also zur Dimension der Kommunikation hinzutritt, ist diejenige der Institutionalisierung. Konflikte und Kommunikationsprozesse bedürfen eines institutionalisierten Rahmens und eines institutionalisierten ›way of behaving‹ in der öffentlichen Sphäre, damit sie ihre auf Zustimmung ausgerichteten Deutungsangebote des gesellschaftlichen Zusammenseins auch hör- und sichtbar artikulieren können und dadurch die gewünschten Geltungsansprüche in der politischen Kultur für eine gewisse Zeit festsetzen können.
4.2 D IE INSTITUTIONELLE D IMENSION Kommunikation und Konflikt sind also auf institutionalisierte Rahmen angewiesen. Erneut ist aber die Definition des Begriffes ›Institution‹ umkämpft und lässt verschiedene Deutungen zu. Der Soziologe Karl Acham versteht Institutionen als »relativ dauerhafte, durch Internalisierung ausgebildete Verhaltensmuster und Sinnorientierungen, denen in ihrer vollentwickelten Form Organisationen und sie legitimierende ideelle Objektivationen entsprechen, und die bestimmte – den individuellen Akteuren keineswegs immer bewusste – regulierende soziale Funktionen erfüllen.« 13
Niklas Luhmann führt hinsichtlich des Begriffs ›Institutionalisierung‹ die Bildung dauerhafter sozialer Beziehungen an, die sich von der je aktuellen Situation ablösen, so dass soziale Realitäten eigener Art entstehen, die Kommen und Gehen, Leben und Tod der einzelnen Individuen überdauern.14 Definitionsansätze aus der Geschichtswissenschaft zielen auch auf die Dauerhaftigkeit von Institutionen, und betonen deren vielgestaltige Erscheinungen im Laufe der Zeit. Klaus Schreiner bemerkt etwa, dass Institutionen Dauer begründen.
13 | ACHAM, K ARL . Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Sicht. In: M ELVILLE, G ERT (Hg.). Institutionen und Geschichte. Köln: Böhlau Verlag 1992. Band 1. S. 25-72. Hier S. 33. 14 | L UHMANN, N IKLAS. Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwekken in sozialen Systemen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. S. 183.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus »Sie reduzieren die Unbegrenztheit möglicher Verhaltensweisen; sie verhindern die Beliebigkeit persönlichen und kollektiven Handelns und machen Handlungsabläufe, die für die Funktionsfähigkeit und den Bestand sozialer Systeme grundlegend sind, vorhersehbar.«15
So liesse sich einerseits sagen, dass Institutionen rechtliche Konstrukte sind, mittels derer das Verhalten und die Handlungen der Rechtsunterworfenen sanktioniert werden können. Andererseits können aber auch Gemeinschaften, wie etwa Familien oder Sippen, Institutionen bilden und so das private, aber auch öffentliche Auftreten ihrer Mitglieder prägen. Hier wird der Begriff der Institution als ein ›public code‹ verstanden, der das Zurechtfinden in einer unübersichtlichen Welt erleichtert und es ermöglicht, dass Mitglieder eines Kollektivs – gerade auch durch und in Institutionen – leichter miteinander kommunizieren und interagieren können. In diesem noch allgemein gehaltenen Verständnis sind Institutionen relativ dauerhafte, durch Internalisierung ausgebildete Verhaltensmuster und Sinnorientierungen, die zwischen kultureller Sinnproduktion und sozialem Verhalten vermitteln, wie zum Beispiel die Sozialisation zwischen Kultur und Person. »Insofern können wir unterstellen, dass einer bestimmten Kultur oder Epoche auch eine bestimmte Institutionenkultur entspricht.« 16 Was Wolfgang Reinhard hier betont, steht in engem Zusammenhang mit den bisherigen Untersuchungen zum Konzept der politischen Kultur. Wenn Institutionen – ob sie nun staatliche Rechtskonstrukte oder informelle interpersonale Verpflichtungsgemeinschaften sind – in der Zeit verändert werden können, so auch und vor allem darum, weil die ihnen zugrundeliegenden Werte, Überzeugungen, ›shared beliefs‹ und Selbstverständnisse neue Konturen angenommen haben. Die Gesetzestexte als privilegierte Objekte staatlicher Rechtsgarantien finden im Laufe der Zeit und unter gewandelten sozialen, ökonomischen und internationalen Machtbedingungen auch neue Formulierungen und integrieren neue allgemeinverbindliche Normen. Veränderte Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaft, die die bestehende politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung mit neuen Deutungen in Frage stellen und herausfordern, finden früher oder später Niederschlag im rechtlichen Institutionalisierungsdiskurs, womit Rechte und Pflichten dadurch auch neu ausgehandelt werden. Damit können die geltenden Sinn- und Wertvorstellungen und die sie fundierenden Deutungsmuster verändert werden und neue Lebensstile und -formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ermöglichen. Man denke nur an die Jugend-
15 | S CHREINER, K LAUS. Dauer, Niedergang und Erneuerung. In: M ELVILLE, G ERT (Hg.). Institutionen und Geschichte. Köln: Böhlau Verlag 1992. Band 1. S. 296f. (S. 295-342). 16 | R EINHARD, WOLFGANG . Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: Beck 1999. S. 125. Zitiert in S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. Baden-Baden: Nomos 2008. S. 344.
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revolte von 196817, ihre Parolen sowie kulturellen und lebengemeinschaftlichen Experimente, die unweigerlich eine Veränderung im sozialen Gefüge auf persönlicher, familiärer und gesellschaftlicher Ebene ausgelöst und auch Eingang in Rechtskodifizierungen gefunden haben, wie etwa durch die rechtliche Kodifizierung gleichgeschlechtlicher oder ›wilder‹ Ehen sowie durch die in den 1970er Jahren in einigen europäischen Ländern etablierten neuen Scheidungs- und Abtreibungsgesetze. Damit wurde nicht nur die tradierte Vorstellung von Familie und Frau neu definiert und für neue Lebens- und Ausdrucksformen geöffnet, sondern auch gesellschaftlich festgefahrene Deutungsmuster neu kodiert. Aber auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht wurden bis dahin geltende und vielfach unhinterfragte Orientierungsmuster und ›shared beliefs‹ neu ausgehandelt, so dass lange unhinterfragte Selbst- und Weltverständnisse aus ihrem historischen Tiefschlaf geweckt wurden. Neben Reformen im Bildungswesen führten diese veränderten Deutungsmuster auch zu Forderungen für mehr Freiheiten im öffentlichen sowie privaten Bereich, die zugleich neue Identitätsvorstellungen im öffentlichen Raum artikulier- und streitbar machten. In Europa drehte sich der Konflikt insbesondere um die Geschichtsverarbeitung des Zweiten Weltkrieges, um die weiterhin konservativen Gesellschaftsstrukturen und um die diese Missstände überblendende Konsumkultur. In den USA wurden aus einer ähnlichen Motivation heraus, von den Bürgerbewegungen der Afro-Amerikaner und durch das ›Free-Speech-Movement‹ der Studenten und Studentinnen in Berkeley, die verhärteten und rassen- wie klassenfeindlichen bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen herausgefordert. Neue und anders kodierte Deutungsmuster können also, sofern sie auf öffentliche Resonanz und auf den Legitimitätsglauben einer Grosszahl von Individuen stossen, festgefahrene und bis dahin geltende Überzeugungen, Orientierungsmuster und kollektiv geteilte Vorstellungen der ›richtigen‹ und ›guten‹ Ordnung mit neuen Inhalten füllen und so neue Formen der Institutionalisierung für das öffentliche und private Leben entwickeln. Politische Kultur, als kognitiv-geistiges Reservoir gesellschaftlich geteilter und privat beglaubigter Selbst- und Weltverständnisse, operiert über Deutungsrahmen, die kommunikativ und konflikthaft ausgetragen werden und die mittels einer gleichzeitig stattfindenden Rahmensetzung dieser Diskurse neue Institutionalisierungsprozesse auslösen. Die Koordinaten der Auseinandersetzung mit der umliegenden Lebenswelt werden dadurch verändert und in neue Interpretationsausgänge eingespeist, die, sofern sie auf Glaubwürdigkeit und Legitimation seitens der Gesellschaftsmitglieder stossen, im alltäglichen Denken und Handeln übernommen und reproduziert werden. Im zweiten Teil wird aufgezeigt, wie eine in den 1970er Jahren 17 | Einen kursorischen Überblick bieten u.a.: G ÖTZ , A LY. Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück. Frankfurt a.M.: Fischer 2008. G ILCHER-H OLTEY, I NGRID. Die 68er Bewegung. Deutschland-Westeuropa-USA. München: Beck 2001. D IES. 1968. Eine Zeitreise. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S IEVERS, R UDOLF. 1968. Eine Enzyklopädie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.
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initiierte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die gemeinhin unter dem Begriff ›Neoliberalismus‹ firmiert, machtpolitisch demokratiefeindliche Selbst- und Weltverständnisse generiert und in die politische Kultur sedimentiert. Vorerst gilt es aber, die Dimension der Institutionalisierung als Operationsund Manifestationsraum von politischer Kultur näher zu beleuchten. Aus der geschichtswissenschaftlich inspirierten Position, die hier zur Untersuchung des Begriffes ›Institution‹ verwendet wurde, lässt sich Folgendes resümieren: Institutionen sind normative Verhaltensstrukturen oder soziale Regelsysteme, die der gesellschaftlichen und privaten Position des einzelnen Individuums Verankerung und Sinn geben. In dieser Hinsicht stellen sie auch organisierte Vereinigungen dar, die, wie eine Familie etwa, diese Position mittels Ritualen, ausgehandelter Rollenverteilungen und traditionell festgefahrener ›ways of behaving‹ immer wieder in Erinnerung rufen und sie so auch über die Zeit tradieren können. In Institutionen blitzt somit auch ihr ideeller Charakter auf. Sie sind kulturtypische Objektivationen, die beispielsweise in Form einer Sippe, Familie, Clan, Altersklassen, politische Organisationen usw. Wertorientierungen festlegen, tradieren und immer wieder an den Verhaltensmodi ihrer Mitglieder messen. Sie operieren über Leitideen, in welchen die Selbst- und Weltverständnisse auf Legitimation, Dauer und Stabilität ausgerichtet werden. Eine bewusste Handlungsnormierung können sie nur durch explizite Formulierung von Werten und Normen sicherstellen. Das repetitive und allenfalls mit Sanktionen versehene Zurechtrücken falscher oder, besser gesagt, nicht den dominanten und erwünschten institutionalisierten Verhaltensmuster entsprechender, verbaler oder nonverbaler Ausdrucksformen verstärkt so die Sedimentierung der herrschenden ›public codes‹ in der politischen Kultur und bindet das einzelne Individuum an diesen Massstab. Rollenangebote oder gesellschaftlich sanktionierte Verhaltensmuster werden von den Menschen schon vorgefunden und sie wachsen in sie hinein, bevor sie diese überhaupt kritisch durchschauen können. Entsprechend gehört es zum Wesensmerkmal von Institutionen, dass ihre formell oder informell kodifizierten Verhaltensangebote und normativ stabilisierte Interpretationsweisen des Selbst und der Welt von den Menschen meist unbewusst befolgt werden. Institutionen stecken in gewisser Weise den kulturellen und auf normative Geltung ausgerichteten Horizont ab, innerhalb dessen man dieses tun und jenes lassen soll. Vielfach werden die Institutionen der ›eigenen‹ Gesellschaft auch erst nach einer kulturellen Horizontüberschreitung entdeckt – sei diese nun die private Kritik an den vorherrschenden Lebensmustern, die durch gesellschaftliche Umwälzungen erschütterte persönliche Deutung des Selbst und der Welt oder die angesichts des fremden Anderen ausgelöste Irritation des eigenen Selbstverständnisses, die bestenfalls die Provokation des Andersseinkönnens erträglich macht oder schlimmstenfalls xenophob-nationalistische Abwehrreflexe hervorrufen kann. Institutionen sind also kulturelle Produkte und somit kulturell eingebettet. Diesen Sachverhalt kann man sich erneut historisch vor Augen führen. Vormo-
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derne gesellschaftliche Strukturen beruhten beispielsweise auf personalen Banden und waren durch Informalität und persönliche Beziehungen strukturiert. Feudalherren standen nicht primär durch rechtlich sanktionierte Gesetzestexte in Beziehung zu ihren Untergebenen, sondern innerhalb eines tradierten und kulturell geteilten Weltbildes, das sie als Herrschaftsbefugte kommentarlos akzeptieren liess. Natürlich beruhte die ihnen entgegengebrachte Loyalität nicht bloss auf dieser kulturellen Einbettung, sondern musste immer wieder, falls nötig, auch durch Gewaltanwendung auf Gehorsam getestet sowie mittels einer existenzsichernden Güterverteilung auch freiwillig etabliert werden. Am Beispiel des Lehenswesens betont Wolfgang Reinhard, dass hier nicht nur die Familie eine andere Bedeutung aufwies als heute, sondern auch die rechtliche Institutionalisierung eine war, die auf dem Fundament personaler Banden aufgerichtet wurde. »Familia und Familiares bezeichneten ja zunächst nicht die Familie in unserem Sinn, sondern den Haushalt, die Höflinge, die Gefolgschaft und andere Getreue eines Herrn. Da frühe Herrschermacht sich nicht auf formale Organisation stützen konnte, lag es nahe, die durch Gütervergabe an solche Leute gestifteten Abhängigkeitsverhältnisse und damit die Herrschaft rechtlich zu stabilisieren. Das Lehenswesen war insofern nichts anderes als eine durch Formalisierung stabilisierte Klientelpolitik, die sogar ihr eigenes Lehensrecht hervorgebracht hat.«18
Dieses Rechtssystem war kulturell so eingebettet, dass ihm eine Rechtskultur entsprach, »in der die allgemeine sittliche Idee der Gerechtigkeit ihren angemessenen Ausdruck nicht in Rechtsgleichheit für alle, sondern im Recht der einzelnen Gruppe oder Personen fand. Das Recht erschien in erster Linie als ›unser‹ oder ›mein Recht‹. [...] Unter diesen Umständen waren allgemeinverbindliche Regelungen im Sinne moderner Gesetze und Verordnungen nicht nur kaum möglich, sondern überhaupt nicht gefragt.«19
Reinhards Ausführungen weisen darauf hin, dass kodifizierte Verhaltensweisen je nach dominanten Deutungsmustern, die eine Kultur prägen, entsprechende institutionelle Rahmen füllen. Die Patron-Klient-Beziehung als dominante Struktur der feudalen Gesellschaft prägte also nicht nur die Deutungen und Legitimationsaspekte der jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Position, sondern fand auch in verschiedenen gesellschaftlichen Ausdrucksformen ihre Institutionalisierung; in der Hausgemeinschaft bis zum kapillaren Verhältnis innerhalb dieser spiegelte sich die für die Gesellschaft struktur- und deutungsrelevante 18 | R EINHARD, WOLFGANG . Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: Beck 1999. S. 133. Zitiert in: S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. Baden-Baden: Nomos 2008. S. 347. 19 | Ibid.
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Klientelbeziehung ab. Erst durch tiefe Umwälzungen in der ökonomischen und politischen Ausrichtung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also mit dem Aufkommen des Liberalismus als politisch dominante Denkweise und dem industriellen Kapitalismus als alle früheren Produktionsformen vereinnahmende Form der Produktion, konnten sich neue Deutungen durchsetzen und damit auch neue kulturelle Selbst- und Weltverständnisse etablieren, die wiederum in neuen Institutionen ihren Ausdruck fanden. Max Weber sichtete in dieser Entwicklung die Herausbildung des ›modernen Amtsbegriffs‹, in welchem sich auch der Typus legaler Herrschaft qua moderner Herrschaft reflektierte. Die gesellschaftlichen Rollen waren nicht mehr an die Person gebunden, sondern an die Funktion. Der anonyme und auswechselbare Beamte ersetzt die Institution des durch persönliche Autorität bekannten Herrn. Die Institutionen des Rechts lösen sich von der charismatischen Figur des Herrn, welcher die Formulierung von Verhaltensnormen und Lebensgewohnheiten und die hierfür notwendigen rechtlichen Sanktionierungen noch in seiner Person vereinigen konnte. Was nun zählt, ist nicht mehr die Person, sondern das Gehäuse, in welchem mittels rechtlicher Institutionalisierung erwünschte Verhaltensweisen und Handlungsnormen festgelegt werden. In diesem sind die Personen nur noch Funktionäre im Namen eines selbstläufigen Systems, das zwar geölt und geeicht werden will, sich aber selbst am Leben erhält. »Der einzelne Beamte kann sich dem Apparat, in dem er eingespannt ist, nicht entwinden [...] Er ist – der weit überwiegenden Mehrzahl nach – nur ein einzelnes, mit spezialisierten Aufgaben betrautes, Glied in einem … rastlos weiterlaufenden Mechanismus, der ihm eine im Wesentlichen gebundene Marschroute vorschreibt.« 20
Die ausschlaggebende Herrschaft ist nicht mehr diejenige, die sich in der Person eines Herrn konzentriert, sondern die anonyme Bürokratie. Hierzu sagt Weber, dass sich ihre spezifische Eigenart umso vollkommener entwickelt, »je mehr sie sich entmenschlicht, [...] ihr die Ausschaltung von Liebe, Hass und aller rein persönlicher, überhaupt aller irrationaler, dem Kalkül sich entziehender Empfindungselemente aus der Erledigung der Amtsgeschäfte gelingt.« 21
Was diese Herrschaftsform so erfolgreich macht, ist ihre Rationalität, die auf Sachlichkeit, Unpersönlichkeit und Berechenbarkeit beruht. Sie ist »Herrschaft kraft Wissen« und verdankt ihren Siegeszug ihrer »rein technische[n] Überlegenheit«.22 Die Bürokratie ist eine Herrschaftsform, die wie eine Maschine funktioniert, zumal ihre Ergebnisse wie ihre Leistungen ebenso berechenbar werden. 20 | W EBER, M AX . Wirtschaft und Gesellschaft (1922). Tübingen: Mohr 1972. S. 727. 21 | Ibid. S. 563. 22 | Ibid. S. 716.
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Entsprechend nennt Weber die Bürokratie ein »stahlhartes Gehäuse«, das zur Parzellierung der menschlichen Seelen führt. Unabhängig von denjenigen, die darin walten, bleiben seine Mauern stehen, weil es gerade nicht mehr auf die Persönlichkeit seiner Bewohner angewiesen ist, sondern nur noch auf die eigene Funktionslogik, die sich im stahlharten Gemäuer blind für individualistische Rücksichtnahmen reproduziert. Mit Weber lässt sich also sagen, dass Institutionen und die darin sanktionierten Verpflichtungsbeziehungen zwischen ihren Mitgliedern im Zuge der kapitalistischen Landnahme eine neue Gestalt angenommen haben, die nicht mehr auf den persönlichen Bindungen aufruht, sondern auf technokratischen Systemperformanzen. In dieser Hinsicht ist auch Karl Marx’ Soziologie des Kapitalismus erwähnenswert, wie er sie gemeinsam mit Friedrich Engels im »Manifest der kommunistischen Partei« darstellt. Marx und Engels zeigen in diesem kleinen Schriftstück insbesondere die Veränderungen auf, die die kapitalistische Produktionsweise auf der Ebene der menschlichen Interaktionen und ihres Selbst- und Weltverständnisses bewirkt hat. Hier betonen sie, wie diese neue Produktionsform für Politik, Gesellschaft und Kultur verändernd wirkt, wie die Rationalität und Instrumentalität der kapitalistischen Produktion also dazu tendiert, alle anderen Bereiche der Gesellschaft nach ihrem Muster und ihrer Funktionslogik zu formen. Die tradierten und lange Zeit als selbstverständlich erachteten institutionellen Bastionen der aristokratischen und feudalen Gesellschaft werden geschliffen und mit einem anderen – stahlharten – Mauerwerk neu errichtet. »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. [...] Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. [...] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« 23
Nun ist bekanntermassen Marx’ und Engels Verdikt über den Kapitalismus insofern ein negatives, als sie darin die Entfremdung und die Unterjochung des Menschen unter das Kapital sichten, nicht aber bezüglich seiner wissenschaftlichen Fortschritte, die er stetig gebiert, um den profitablen Kreislauf am Leben zu hal23 | M ARX , K ARL . E NGELS, F RIEDRICH . Manifest der Kommunistischen Partei (1848). Stuttgart: Reclam 2007. S. 22f.
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ten. Marx und Engels betonten immer wieder, dass diese neue Produktionsform nicht bloss auf materieller Ebene neue Entwicklungen herbeiführt, sondern auch auf geistiger Ebene die Entzauberung der Welt vollendet. Neue, kühl berechnete und wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse lösen nicht nur die althergebrachten Vorstellungen von Autorität auf, sondern diffundieren dieses neue Wissen auch in diejenigen Teile der Bevölkerung, die bislang unter dem Schleier des dogmatischen Glaubens an die natur- oder gottgegebenen Privilegien einer kleinen Herrscherschicht standen. Mit dem Siegeszug der Bourgeoisie und ihrer neuen Produktionsform tritt auch ein Zivilisationsprozess ein. »An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeiten und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen, in die Zivilisation. [...] Sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.« 24
Was sich also durchsetzt, ist eine neue Deutung des Selbst und der Welt. Marx und Engels »Manifest« ist gerade für eine soziologische Lektüre des Kapitalismus und seiner Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Menschen und folglich auch auf die daraus sich entwickelnde Kultur und insbesondere ›politische Kultur‹ wertvoll. Eine bloss ökonomische Lektüre des »Manifests« erzeugt eine verkürzte Sicht auf die Produktions- und Zirkulationsprozesse des kapitalistischen Warenaustausches, zumal die wichtigen Kategorien für eine ökonomische Analyse des Kapitalismus, wie etwa der Begriff der ›Arbeitkraft‹, die wie eine Ware verkauft wird, erst im »Kapital« von Marx genauer untersucht werden. Im »Manifest« sprechen die Autoren noch verkürzt von der ›Arbeit‹, die dem Kapitalisten für Lohn geleistet wird. Was also im »Manifest« hervorgehoben wird, ist weniger die ökonomische Analyse des Kapitalismus als vielmehr die Gestaltungskraft dieser neuen Produktionsform für Mensch und Gesellschaft. Die alte traditionelle ständische Dogmatik »verdampft« und damit lösen sich auch tradierte Deutungsmuster des Selbst und der Welt auf. Was sich aber einnistet, ist eine neue, anders kodierte Dogmatik. Das von Marx und Engels erwähnte »Verdampfen« alter Traditionen und Gehorsamsverpflichtungen positioniert den Menschen gegenüber dem anderen Menschen in eine gleichgestellte Lage. Zwar verschwinden die tradierten Institutionen, die aufgrund naturwüchsiger oder vererbter Merkmale die Herrschaftsbeziehung zwischen Untergebenen und Regierenden rechtfertigten, womit die Menschen, zumindest formal, auf gleicher Augenhöhe 24 | Ibid. S. 23f.
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stehen. Sie sind nicht mehr durch alte traditionelle Banden aneinandergekoppelt, vielmehr dürfen sie sich nun gleichgültig sein, was aber nicht heisst, dass sie auch gleich gültig sind. Mit der neuen Produktionsform setzen sich auch neue Institutionen durch, die wiederum von neu kodierten Deutungen des Selbst- und der Welt gefestigt und auf Dauer gestellt werden. Das ›nackte‹ Interesse kommt, wenn man so will, über die ›umhüllte‹ persönliche Verbindung zwischen Herr und Knecht. Die »nüchternen Augen« von denen Marx und Engels sprechen, sind die neuen institutionalisierten Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Beide begegnen sich als Freie, zumal der Besitzer der Produktionsmittel seine Stellung nicht mehr glaubwürdigerweise auf Gottes Gnade oder adelige Herkunft zurückführen kann. Beide haben auch ein je eigenes Interesse, das sie mittels des Austauschs von Gütern stillen möchten. Der eine braucht Arbeitskraft und der andere Geld, um sich und seine Familie reproduzieren zu können. Sie sind gleich, insofern sie nicht mehr auf tradierte oder gottgegebene Deutungsmuster zurückgreifen müssen, um ihre Beziehung mit Sinn zu füllen. Sie sind aber nicht ebenbürtig oder gleichberechtigt, weil der Unternehmer die Bedingungen für die Anstellung des Arbeitnehmers diktieren und sich hierfür auf rationale, kühl kalkulierte Berechnungen beziehen kann, die ihm den Anschein der neutralen und von Macht unberührten Entscheidungsfindung verleihen. Diese neue Produktionsform zerstört also die althergebrachten und auf illusionäre oder gottesfürchtige Annahmen aufgebauten traditionellen Verbindungen zwischen den Menschen im Namen des Fortschritts, der Rationalität, der Technik und der Vermehrung des Reichtums, die freilich ungleich zugunsten einer kleinen Schicht und auf Kosten der Vielen verteilt wird. Marx’ und Engels’ Untersuchungen zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts legen zwei Perspektiven frei, die fruchtbar auf die Analyse der institutionellen Dimension von politischer Kultur angewendet werden können. Einerseits zeigen sie auf, wie mit der Ausbreitung kapitalistischer Produktionsformen sich auch die gesellschaftlichen Interaktionsformen und -sphären verändern, wie also tradierte institutionalisierte Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens neu eingerichtet und damit neue und anders kodierte Selbst- und Weltverständnisse erzeugt werden, die sowohl rechtlich, also formell, als auch in der interpersonellen Beziehung, also informell, sanktioniert werden.25 Andererseits – und damit zusammenhängend – lässt sich ausgehend von dieser soziologischen Untersuchung 25 | Vor allem das Kapitel »Proletarier und Kommunisten« des »Manifests« fungiert in dieser Hinsicht als Aufzählung solcher Institutionen, die im Zuge der Ausweitung kapitalistischer Produktionsprozesse Transformationen angenommen haben, die unweigerlich das Selbst- und Weltverständnis der Gesellschaftsmitglieder verändern. Neben einer Rekodierung der Begriffe Eigentum und Kapital, nennen Marx und Engels auch die neue Institution der Lohnarbeit, die damit verbundene Konzeption von Freiheit, die Veränderungen im Bereich der Bildung und des tradierten Familienlebens sowie die Valorisierung der Nation.
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des frühen Industriekapitalismus auch schon die Relevanz sozio-ökonomischer Verhältnisse für die politische Kultur skizzieren. Die Ausbildung einer modernen Institutionenkultur, die sowohl aus Sicht von Max Weber als auch in der Perspektive von Marx und Engels im Zusammenhang mit dem Dominantwerden kapitalistischer Produktionsformen verstanden werden muss, trägt dazu bei, dass das Individuum sein Selbstverhältnis nun ausgehend von anonymen und selbstläufigen wirtschaftlichen und rechtlichen Mechanismen definieren muss, was unweigerlich seine Identitätsvorstellungen und seine Deutungen des Selbst und der Welt verändert, respektive umkodiert. Wenn der Feudalherr nicht mehr die privilegierte Referenzposition darstellt, an der die rechtliche und wirtschaftliche Selbstidentifikation stattfinden kann, sondern ein unpersönliches Rechtssystem sich ausbildet, dann entstehen mit dieser Wandlung konsequenterweise auch andere Orientierungs- und Sinndeutungsmuster, die fortan das Selbst- und Weltverständnis der Menschen mit neuer Bedeutung füllen. Alle Institutionen, sowohl die feudalen als auch die modernen, fungieren somit als ›public codes‹, da sie für die jeweilige Zeit, in der sie wirksam sind, unhinterfragt angenommen und somit zugleich auch reproduziert und bestätigt werden. Diese gewinnen ihre unhinterfragte Legitimität gerade durch ihre Wiederholung. Alfred Heuss betonte hierzu, dass Ordnungsnormen und Institutionen darin bestehen, »dass gleiche Akte wiederholt werden und deshalb auch wiederholbar sein müssen. Sie bestehen geradezu in der Wiederkehr des Gleichen. Es ist bezeichnend, dass der Mensch, den wir ein geschichtliches Wesen nennen, sich vorwiegend nach dieser Gleichheit verhält und sich aufgrund der Gleichheit von Situationen zurechtfindet.« 26
Institutionen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie auf lange Dauer Regelmässigkeit, Gleichförmigkeit und Bestand aufweisen und damit als Verfestigung bestehender und dominanter Deutungsmuster fungieren. Erst eine tiefgreifende Veränderung im sozialen Gewebe, wie dies am Beispiel von Max Webers Untersuchungen zum modernen Amtsbegriff und an Marx’ und Engels’ Soziologie des Kapitalismus mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise gezeigt wurde, erzeugt neue Institutionen, die die bestehenden ›public codes‹ verändern können und mit neuen normativen Handlungsmodi füllen. Bei allen Institutionen steht somit, wie dies Gert Melville27 hervorgehoben hat, den norSiehe: M ARX , K ARL . E NGELS, F RIEDRICH. Manifest der Kommunistischen Partei (1848). Stuttgart: Reclam 2007. S. 33-43 26 | H EUSS, A LFRED. Zum Problem einer geschichtlichen Anthropologie. In: G ADAMER, H ANS -G EORG . VOGLER, PAUL (Hg.). Kulturanthropologie. München: dtv 1973. S. 171. 27 | M ELVILLE, G ERT. Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema. In: D ERS. Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterlich Befunde. Köln. Weimar. Wien: Böhlau. 1992. S. 10.
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mativen, die Handlungsfreiheit eingrenzenden Verhaltensmustern deren Fundierung in Sinnvorstellungen gegenüber, die zu realisieren für prinzipiell notwendig gehalten wird. »Da in den institutionellen Formen die beruhigende Perspektive ›sinn‹-vollen Handelns liegt, geben sie Halt in der Kontingenz des geschichtlichen Seins. Genau dies bewirkt die Akzeptanz, sich ihnen zu unterwerfen.« 28
Institutionen dienen also der Reduktion von Komplexität und ermöglichen dadurch eine vereinfachende Deutung des Selbst und der Welt. Sowohl das positiv gesetzte Recht, das in Gesetzesbüchern seinen Ausdruck findet, wie auch informelle Institutionen erzeugen Leitmotive des Handelns, die öffentliche Bestätigung, Performanz und Sanktionierung durch ihre unhinterfragte Wiederholung gewinnen. Normative Verhaltensmuster werden also insofern institutionalisiert, als sie wie ›public codes‹ funktionieren, die die bestehenden und formell oder informell sanktionierten Sinnvorstellungen in Form von inkorporierten Leitideen spiegeln und eine unhinterfragte Pragmatik des Handelns, Denkens und Fühlens erzeugen. ›Public codes‹ fungieren somit als Deutungsschablonen der eigenen gesellschaftlichen Position und der sie umgebenden Lebenswelt. Durch sie werden die relevanten ›Spielregeln‹ des sozialen Austausches zwischen den Menschen festgelegt und auf ›Richtigkeit‹ oder ›Falschheit‹ prüf bar gemacht. Institutionen sind also institutionalisierte ›public codes‹, die das Verhalten mittelbar – und das heisst dank struktureller Vorgaben für das, was als ›richtig‹ oder ›falsch‹ deutbar gemacht wird – steuern. Sie dicken die herrschenden und dominanten kulturellen Deutungsmuster ein und verfestigen sie in der normativ-kognitiven Landkarte durch die Wiederholung der positiven Hervorhebung erwünschter Handlungsmuster und der negativen Sanktionierung zuwiderlaufender Verhaltensmodi. Sie sind aber zugleich auf zeitliche Permanenz angewiesen, sollen ihre Deutungsmuster auf unhinterfragte Legitimität stossen. Wandlungsprozesse, wie es mit Max Weber und dem soziologischen Inhalt des »Manifestes« gezeigt wurde, können institutionelle Zweckerfüllungen und institutionelle Sinnerfüllung in Frage stellen. Neue Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion auf wirtschaftlicher oder sozialer Ebene oder kulturelle Umdeutungen im allgemeinen Wertespektrum, wie dies nach der 1968er Revolte erfolgte, vermindern die unhinterfragte Akzeptanz herrschender Sinnmuster und lockern die legitimierende Verankerung bestehender Handlungsnormen. Jede Institution ist somit darauf angewiesen, bestimmte Verhaltensmuster als normativ wünschenswerte ›public codes‹ in der Deutungskultur zu festigen und so die darin enthaltenen Einschränkungen von Verhaltensmöglichkeiten so zu festigen, dass ihnen zugestimmt wird. Ihr Bestehen hängt somit davon ab, ob
28 | Ibid. S. 10f.
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sie die hierfür notwendigen und fundierenden Sinnmuster erzeugen, perpetuieren und erfolgreich stabilisieren kann. Dies gilt sowohl für die Familie als informelle Institution als auch für den demokratisch verfassten Staat als höchste institutionalisierte Rechtsinstanz einer Gesellschaft. Als einschränkende Institutionen für die individuellen Betätigungen können sie nur dann über die Zeit gültig bleiben und auf legitimierender Akzeptanz ruhen, wenn sie auf Sinnvorstellungen fundieren, die die Realisierung dieser Institutionen als prinzipiell unausweichlich, notwendig und normativ wünschenswert halten. Beide müssen die für sie konstitutiven Deutungsangebote auf Dauer stellen und mit Legitimität zementieren, weil ansonsten eine Legitimations- oder Gehorsamsverweigerung und/oder ein offener Widerstand gegen diese Institutionen die Folge sein kann. In der institutionellen Dimension manifestiert sich politische Kultur somit als regulative Instanz von sozialem Verhalten, in dem die darin gespeicherten Deutungs- und Orientierungsmuster das jeweils ›richtige‹ vom ›falschen‹ Handeln unterscheiden. Zugleich bildet politische Kultur in dieser Dimension das normative System, das seinerseits auf Wert- und Sinnvorstellungen aufruht, die kollektiv geteilt und im alltäglichen Vollzug der ihnen entsprechenden Praktiken bestätigt werden. Als Institution manifestiert sich politische Kultur aber vor allem deswegen, weil in ihr die deutungsrelevanten Sinnmuster für das Selbst und für die es umgebende Lebenswelt und die darin stattfindenden oder möglichen Interaktionen sedimentiert sind. Für die hier verfolgte Analyse bedeuten diese Folgerungen, dass politische Kultur sich über institutionalisierte Formen der gesellschaftlichen Selbstverständigung und der dadurch etablierten ›public codes‹ manifestiert, die aber weder ein für alle Mal gelten noch allein die Ermöglichungsbedingungen ihrer Wirkung bereitstellen können. Politische Kultur und Institutionen prägen sich somit gegenseitig, zumal beide das Ergebnis von Sozialisationsprozessen sind, durch die bestimmte Glaubens- und Denkmuster sowie Wertbeziehungen und Ordnungsvorstellungen gelernt und mittels öffentlicher Wiederholung ihrer sinngemässen Akte, die in Form von ›public codes‹ auftreten und so als ›normale‹ und ›allgemeingültige‹ deutbar werden, auch auf Dauer stabilisiert werden. Gerade die Institutionalisierung gemeinsam geteilter Deutungsmuster und Sinnvorstellungen, die als ›public codes‹ erscheinen und fungieren, ermöglichen eine gemeinsame Verständigung, durch welche ebendiese ›public codes‹ sich in der normativ-kognitiven Landkarte der Gesellschaftsmitglieder sedimentieren. Sobald aber herrschende ›public codes‹ von anderen öffentlich kommunizierten und Konsens findenden Deutungsmustern, den damit zusammenhängenden Orientierungs- und Wertevorstellungen und den hiervon inspirierten Handlungen herausgefordert werden, sterben sie ab und bleiben bestenfalls noch in der Erinnerung lebendig. Gerade diese bildet aber ein kollektives Reservoir, aus welchem verloren geglaubte Deutungsmuster wieder aktiviert werden können und so die bestehenden Institutionen, die darin dominanten Deutungen und die daraus sich speisenden unhinter-
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fragten Bedeutungen des Selbst und der Welt erneut in eine Krise geraten können.
4.3 D IE D IMENSION DER E RINNERUNG Wenn politische Kultur ein kommunikativer Prozess der kollektiven Selbst- und Weltverständigung ist, in welchem durch konfliktäre Auseinandersetzungen bestimmte Deutungs- und Orientierungsmuster dominant werden und diesen Prozess mittels der Etablierung von formellen oder informellen ›public codes‹ institutionalisieren, dann stellt sich die Frage, aus welchem Fundus diese Muster ihre Plausibilität gewinnen und was solche Muster über die Zeit hinweg stabilisiert. Darüber hinaus ist zu eruieren, worauf sie gründen, um auf Dauer gestellt zu werden und wie sie ihnen korrespondierende Interpretationen und Handlungen erzeugen, damit sie über Generationen tradiert werden können. Es geht hier also darum, diejenige Dimension zu untersuchen, die über die Zeit wirksam ist und den Akteuren die Kohärenz von Lebensführung und Identität vorspiegelt. Die Kommunikationsprozesse, die der politischen Kultur überhaupt Form und Inhalt geben, die Konflikte, die sich um die Festlegung relevanter Selbstverständigungsprozeduren und -inhalte eines Kollektivs entfachen und die damit einhergehenden Wiederholungen oder Erneuerungen institutionalisierter Handlungen und normativer Erwartungen fussen immer auch auf einer ›Erzählung‹, die kollektiv vermittelt wird und in welcher bestimmte Identitätsformationen stabil gehalten werden und andere nicht. Während die Dimension der Kommunikation und die damit einhergehenden Institutionalisierungsvorgänge, die in Form von ›public codes‹ die dominierenden Deutungs- und Orientierungsmuster einer politischen Kultur ›erfahrbar‹ und sanktionierbar machen, eine vorwiegend räumliche Ausdehnung implizieren, bleibt die zeitliche Ausdehnung von politischer Kultur noch unbeleuchtet. Kommunikationsprozesse, Konflikte und institutionalisierte Formen der menschlichen Interaktion finden verbal oder non-verbal, also über symbolische Zeichen, in der Öffentlichkeit statt. Hier werden die gemeinschaftsrelevanten Themen ausgehandelt und die Deutungsangebote gegeneinander abgewogen. Politische Kultur offenbart sich in diesen Prozessen als eine räumliche Dimension, weil die in ihr gespeicherten Wertorientierungen sowie Selbst- und Weltverständnisse nicht nur eine territoriale Ausweitung, sondern auch eine gruppenspezifische Ausprägung erfahren. Einwanderer, Heranwachsende, aber auch Bürger in den Nachbarländern sind von den dominanten politisch-kulturellen Kommunikations- und Konfliktprozessen eines Landes betroffen und potentiell aufgefordert, die institutionalisierten, weil kollektiv legitimierten Deutungsmuster mindestens zur Kenntnis zu nehmen. Politische Kultur ist demnach nicht auf eine einzelne Gruppe reduzierbar und auch nicht auf ein einzelnes Land zu beschränken. Vielmehr ›expandieren‹ ihre Inhalte, Kategorien und Kodes auch auf solche Akteure, die aufgrund ihrer Nationalität, ihres Alters oder ihres Wohn-
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ortes nicht als Entscheidungsbefugte an der öffentlichen politischen Dezision teilnehmen können, davon aber betroffen bleiben. Neben dieser räumlichen Ausdehnung von politischer Kultur gilt es auch ihre historische Tiefendimension zu erkunden, also neben der horizontalen Ausbreitung gesellschaftsrelevanter Normen auch den zeitlichen Vektor zu beleuchten, durch welchen die politisch-kulturellen Orientierungs- und Deutungsangebote des Bestehenden narrativ legitimiert und auf Dauer gestellt werden können. Hierbei wird sich zeigen, dass sowohl die explizit räumliche Ausdehnung immer an ein Lot gebunden ist, das in Geschichte getaucht ist, als auch die historische Narration immer auch expansive und territoriale Aspekte miteinschliesst. Es sind Politiken der Erinnerung, die die jeweilige Kollektivität, ihre Normen, Selbstverständnisse und Wertorientierungen über die Zeit hinweg mit einer bestimmten normativ aufgeladenen ›Erzählung‹ über ihre Identität stabilisieren. Im Kommunikationsprozess, in den damit zusammenhängenden Konflikten und in der öffentlichkeitswirksamen Publizität der darin vermittelten Deutungs- und Orientierungsmuster werden Selbst- und Weltverständnisse nicht nur auf Dauer gestellt, sondern immer wieder auch in Erinnerung gerufen. In der öffentlichen Verständigung über die eigene Vergangenheit wird zugleich festgehalten, was die ›Wir‹-Gruppe ausmacht und welche Kriterien und Bedingungen diese überhaupt formen. Kollektive grenzen sich durch ihre kommunikativen Prozesse, die dadurch etablierten ›public codes‹ und die hiermit stabilisierten Deutungsmuster des Selbst und der Welt voneinander ab und vergewissern sich ihrer je eigenen Identität. Politische Kultur operiert also nicht nur über Prozesse, die immer auch Identitätsangebote enthalten und diese zu fixieren suchen, sondern etabliert auch, sobald sich dominante Deutungen und Orientierungen herausgebildet haben, eine Narration des Selbstverständnisses, das kollektiv getragen und über die Zeit transportiert wird. Dieser Sedimentierungsvorgang handlungs- und denkrelevanter Deutungsmuster in der politischen Kultur lässt sich am besten verstehen, wenn man den Aspekt der Erinnerung und seiner symbolischen Elemente näher beleuchtet. In der Soziologie und in der Geschichtswissenschaft haben sich hierfür insbesondere die Konzepte der ›mémoire collective‹ von Maurice Halbwachs und die ›lieux de mémoire‹ von Pierre Nora bewährt. In Anlehnung an diese Theoriekonstrukte soll hier die Dimension der Erinnerung und ihre Relevanz für das Verständnis des Konzepts der politischen Kultur analysiert werden. Maurice Halbwachs betonte mit seinem Konzept der ›mémoire collective‹,29 dass das individuelle Selbstverständnis immer in ein Kollektivgedächtnis getaucht ist und nur in Zusammenhang mit diesem überhaupt Form und Inhalt gewinnt. Die singuläre Identität ist mit anderen Worten das Resultat einer dominanten kollektiven Identität, in welcher bestimmte Merkmale und Normen über 29 | H ALBWACHS, M AURICE . Das kollektive Gedächtnis (1950). Frankfurt a.M.: Fischer 1985.
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die Zeit tradiert und so stabilisiert werden. Jan Assmann schliesst zu Recht, dass Halbwachs’ Konzept nicht nur raum- und zeit-, sondern eben auch identitätskonkret ist. »Das bedeutet, dass es ausschliesslich auf den Standpunkt einer wirklichen und lebendigen Gruppe bezogen ist. Die Raum- und Zeitbegriffe des kollektiven Gedächtnisses stehen mit den Kommunikationsformen der entsprechenden Gruppe in einem Lebenszusammenhang, der affektiv und wertbesetzt ist. Sie erscheinen darin als Heimat- und Lebensgeschichte, voller Sinn und Bedeutung für das Selbstbild und die Ziele einer Gruppe.« 30
Assmann macht hier auf zwei wesentliche Aspekte von Halbwachs’ Konzept aufmerksam: einerseits die Hervorhebung der Mechanik von Identität und andererseits die hiervon garantierte Kohärenz in der Selbst- und Weltwahrnehmung. Halbwachs betonte immer wieder, dass das Gedächtnis eines Individuums und die darin gespeicherte Identitätsvorstellung sozial bedingt sind, dass also nur in Abhängigkeit der sozialen Lebenswelt und der darin herrschenden Deutungsmuster und ›shared beliefs‹ das individuelle Gedächtnis und das individuelle Identitätsverständnis seiner selbst und der anderen konzipiert werden könne. »Es gibt kein mögliches Gedächtnis ausserhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.« 31
Gedächtnis ist für Halbwachs also etwas, das nur in sozialer Interaktion entstehen kann und dessen Rede nur in diesem Zusammenhang sinnvoll ist. Mein Gedächtnis ist zwar insofern an meine Person gebunden, als es eben ›mein‹ Gedächtnis ist, jedoch ist seine Konstitution nicht das Resultat eines solipsistischen Vorgangs, sondern einer kollektiven Prägung. Das kollektive Gedächtnis, die ›mémoire collective‹, ist also nicht ein Gut, das im Besitz eines Kollektivs steht, sondern vielmehr eine kollektive Praxis der Erinnerung, der Kommunikation dieser Erinnerung und der Sanktion der erinnerten Merkmale, Vorgänge und Geschehnisse im alltäglichen Handeln und Denken, die das Gedächtnis der Beteiligten prägt und formt. Gedächtnis ist also nur im Zusammenhang mit einer sozialen Gemeinschaft, in welcher kommunikativ die Wertorientierungen, Deutungsmuster und Verständigungsprozesse ausgehandelt und die daraus sich entwickelnden institutionalisierten Verhaltens- und Denknormen sanktioniert werden, zu konzipieren. Wäre Robinson Crusoe nicht auf einer einsamen Insel verschollen, sondern unmittelbar nach seiner Geburt darauf ausgesetzt worden, und hätte er 30 | A SSMANN, JAN . Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 2000. S. 39f. 31 | H ALBWACHS, M AURICE . Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985. S. 121.
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die ersten Lebensjahre überlebt, dann hätte er zwar ein Erinnerungsvermögen, weil er wissen würde, was er gestern gegessen hat, aber kein Gedächtnis, durch welches er erst ein Bewusstsein seiner Lage, seiner Person und seiner Identität gewinnt. Erst das Zusammentreffen mit Freitag würde die soziale Basis herstellen, die für die Herausbildung eines Gedächtnisses und damit von Identität notwendig ist. Mit dieser etwas weit hergeholten Robinsonade soll auf den Umstand aufmerksam gemacht werden, dass das individuelle Gedächtnis immer abhängig von einer sozialen Formung und diese soziale Formung ihrerseits das Resultat von Kommunikationsprozessen ist. Nur wenn der Einzelne an diesen Prozessen, verbal oder non-verbal teilhat, und dadurch nolens volens in seiner Wahrnehmungsund Deutungsfähigkeit beeinflusst wird, lässt sich die Kette von Kommunikation, Sozialisierung und Herausbildung eines in das kollektive Selbstverständnis getauchten Gedächtnisses skizzieren. »Mit anderen Worten: das individuelle Gedächtnis baut sich in einer bestimmten Person kraft ihrer Teilnahme an kommunikativen Prozessen auf. Es ist eine Funktion ihrer Eingebundenheit in mannigfaltige soziale Gruppen, von der Familie bis zur Religions- und Staatsgemeinschaft. Das Gedächtnis lebt und erhält sich in der Kommunikation; bricht diese ab bzw. verschwinden oder ändern sich die Bezugsrahmen der kommunizierten Wirklichkeit, ist Vergessen die Folge. Man erinnert nur, was man kommuniziert und was man in den Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses lokalisieren kann.« 32
Werden diese Folgerungen auf das Konzept der politischen Kultur übertragen, so bedeutet dies, dass die in einem Kollektiv mittels zeichenhafter Kommunikation und vielfach nach konflikthafter Auseinandersetzung institutionalisierten ›public codes‹ von einer Narration abhängig sind, in welcher tradierte Normen, Selbstund Weltverständnisse und hierfür konstitutive Deutungsmuster immer wieder in Erinnerung gerufen werden. Politische Kultur entsteht und reproduziert sich erst unter der Voraussetzung einer existierenden Kommunikationsgemeinschaft, in welcher die gemeinsamen Wertorientierungen und Deutungsmuster des Selbst und der Welt kollektiv erinnert werden. In der öffentlichen Kommunikation, sei sie verbaler oder non-verbaler Art, werden die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses immer wieder in Erinnerung gerufen und so auch stabilisiert. Über das Medium der Sprache oder über symbolische Zeichen verständigt sich eine Kommunikationsgemeinschaft darüber, was die handlungsleitenden ›public codes‹, die legitimen ›shared beliefs‹, die anerkannten kulturellen Kodes und die ›richtigen‹ Deutungsmuster der bestehenden sozialen und politischen Ordnung sind. In der öffentlichen Diskussion findet im Sprechen über das ›richtige‹ und ›falsche‹ Verhalten, über die geeigneten und ungeeigneten Deutungen der Welt immer auch die explizite oder implizite Erwähnung von Vergangenheit statt. In 32 | Ibid. S. 364.
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der sozialen Interaktion wird unausgesprochen immer auch die Spur in die Vergangenheit gelegt und so die gemeinsam geteilten kulturellen Kodes mit ihrem historischen Fundus im Rücken der Akteure wirksam. Die kommunikative Konstellation ist, ohne dass dies explizit hervorscheint, per se schon von historisch tradierten Normen und Verhaltenskodifizierungen geprägt, die die Position der Sprechenden, aber auch ihr Sagbares und Machbares festlegen. Harald Welzer betont in seinem Überblicksartikel zum Begriff ›Interaktion‹, dass unter diesen kommunikative Praktiken fallen, die entweder per se Modi der Vergegenwärtigung von Vergangenem betreffen oder Vergangenheit en passant thematisieren. Jede kommunikative Interaktion lässt sich dadurch als eine Erinnerungssituation verstehen, zumal der kommunikative Akt – die Erzählungen, Fragen, Kommentare, Ergänzungen – nach Massgabe von tradierten Erzählkonventionen sowie Plausibilitäts- und Kausalitätserwartungen so geordnet werden, dass eine für alle Beteiligten sinnvolle Geschichte entsteht. Als einleuchtendes Beispiel erwähnt Welzer Familientreffen, bei denen »gleichsam im Rücken der erzählten Geschichten so etwas wie ein historischer Assoziationsraum der Umstände, des Zeitkolorits, des Habitus der historischen Akteure vermittelt«33 wird. Geschichte wird, wie Welzer betont, von den Sprechern unbemerkt und beiläufig durch soziale Interaktionen en passant transportiert. Die unhinterfragten Sprechpositionen und Erzählkonventionen, die in einer solchen Interaktion die Kommunikation von Beginn an strukturieren, legen auch gleich die relevanten Plausibilitäts- und Kausalitätserwartungen fest, die ein Gespräch als sinnvoll erscheinen lassen. Bei einem Treffen von Bankern, Intellektuellen, Arbeitern oder Politikern wirkt im Hintergrund ihrer Interaktionen ein habitualisierter Rahmen, in welchem die Akteure sich positionieren und nach den jeweiligen Spielregeln interagieren, um ihr Sprechen mit möglichst grosser Wahrscheinlichkeit verständlich werden zu lassen. Würde bei einem Treffen von Bankern einer der Beteiligten klassenkämpferische Parolen so artikulieren, dass jeder Anflug von Ironie verschwindet, führte dies zu einer Verzerrung der gemeinsam geteilten und unausgesprochen vermittelten Kodes. Die bis anhin unhinterfragten Konventionen des Sprechens und des Verhalten einer solchen Gruppe, die in ihrer habitualisierten Anwendung immer wieder auch in Erinnerung gerufen werden, erleiden durch solche Irritationen eine Krise ihrer Selbstverständlichkeit. Die Spur der Erinnerung wird so mit einer Gegen-Erinnerung konfrontiert und gleichsam ihrer unhinterfragten Normalität beraubt. Die im Rücken der Akteure wirkenden Schranken der Interaktion, ihre dominanten Deutungsmuster und Verhaltensnormen können dann neu ausgehandelt, durch Marginalisierung der Gegenerinnerung
33 | W ELZER, H ARALD. Gedächtnis und Erinnerung. In: JAEGER, F RIEDRICH. RÜSEN, J ÖRN (Hg.). Handbuch der Kulturwissenschaft. Bd. 3. »Theorien und Tendenzen«. Stuttgart. Weimar: Metzler 2004. S. 155-174. Hier S. 165f.
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stur beibehalten oder aber auch die Gruppenzusammensetzung neu konstituiert werden. Mit Halbwachs liesse sich somit sagen, dass das soziale Gedächtnis zugleich den ›cadre socieux‹ formt, innerhalb dessen sich das Individuum bewegt und aufgrund dessen sein Verhalten von anderen ›gelesen‹ und somit als richtig oder falsch eingestuft werden kann. Die bewusst zur Sprache gebrachte oder unbewusst in der kommunikativen Interaktion wirkende kollektive Narration einer Gruppe bildet also die soziale Rahmung, in welcher nicht nur die ›public codes‹ ihre institutionelle Legitimität gewinnen, als in der hiervon ermöglichten Sanktionierungsmöglichkeit auch dasjenige Verhalten hervorgebracht wird, das die herrschenden Kodes unhinterfragt reproduziert oder bewusst legitimiert, sondern auch die Formung des individuellen Gedächtnisses entscheidend mitgestalten und so eine dem sozialen Rahmen entsprechende Identität stabilisieren. In der politischen Kultur werden also durch habitualisierte Prozesse, Verfahren und Diskurse auch solche Spuren gelegt, die unausgesprochen immer auch die Narration der jeweiligen ›Wir‹-Identität tragen, und diese gerade in den alltäglich erscheinenden politischen Handlungen unausgesprochen zum Ausdruck bringen und so zugleich reproduzieren. Politische Kultur ist daher eng mit Politiken der Identität verbunden, und zwar der kollektiven Identität. Nicht nur vermittelt sie kommunikativ die normativen Verhaltensmuster, die in einem Kollektiv zu gelten haben und diese mittels institutionalisierter ›public codes‹ zugleich auch kontrollier- und sanktionierbar macht, sie hält auch fest, was die gemeinsam geteilte Identität eines Kollektivs ausmacht. Eine Funktion von politischer Kultur ist also auch die Festlegung der kollektiven Identität, des kollektiven Selbstverständnisses, das unweigerlich immer auch die singuläre Identität des Einzelnen nach Massgabe der kollektiv sanktionierten Vorstellungen misst. Als Dechiffrierungsmatrizen des Selbst sind Identitäten nämlich immer in ein kollektives Bewusstsein eingeschrieben, welches ihnen Kohärenz und Stabilität verleiht.34 Was sich bei der Herauskristallisierung und Festlegung von Identität ereignet, lässt sich auch mit Karl Mannheim beschreiben, der in seiner klassischen Studie »Ideologie und Utopie« davon ausgeht, dass Menschen nicht als »isolierte Individuen«, sondern »in bestimmten Gruppen« denken. Mannheim betont hier, dass der Denkstil dieser Gruppen aus einer »endlosen Reihe von Reaktionen auf gewisse typische, für ihre gemeinsame Position charakteristische Situationen« bestehe.35 Mannheims Wissenssoziologie versteht das individuelle Denken somit als eines, das immer schon Teil eines kollektiven 34 | Vgl. M AIOLINO, A NGELO. Überfremdung und Mediterranisierung der Schweiz. Identitäten im Spannungsfeld. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 58, 2010. S. 177. 35 | M ANNHEIM, K ARL . Ideologie und Utopie (1929). Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1995. S. 5.
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Denkens ist und nur aus dieser Warte verstanden werden kann. »Streng genommen«, so Mannheim, »ist es in der Tat ungenau, wenn man sagt, dass das einzelne Individuum denkt. Korrekter wäre der Hinweis, dass es bloss daran teilnimmt, das weiterzudenken, was andere Menschen vor ihm gedacht haben.« Weiter sagt Mannheim, dass das Individuum sich in einer ererbten Situation mit Denkmodellen findet, »die dieser Situation angemessen sind, und versucht, die ererbten Reaktionsweisen weiter auszuarbeiten oder andere an ihre Stelle zu rücken, um mit den neuen Anforderungen, die sich aus den Veränderungen und Wandlungen der Situation ergeben, auf eine adäquate Weise fertig zu werden.« Das Individuum, so sein Schluss, ist auf zweierlei Weise prädeterminiert: »es findet eine fertige Situation vor und in dieser Situation findet es vorgeformte Denk- und Verhaltensmodelle vor.«36 In dieser ›Geworfenheit‹ findet der Mensch also schon institutionalisierte Verhaltensweisen vor, die ihm sein Handeln, Fühlen und Denken als ›richtiges‹ oder ›falsches‹ erscheinen lassen und ihm somit auch ein spezifisches Bewusstsein seiner Identität vermitteln. Insofern lassen sich konkret existierende Denkweisen nicht aus dem Zusammenhang mit dem kollektiven Handeln und den diesem zugrunde liegenden Kategorien des ›Richtigen‹ und ›Falschen‹ lösen. Identität reiht sich in diesen Mechanismus ein, indem es sowohl an besagten Kategorien gemessen wird als auch über soziale Praktiken gefestigt und reflektiert wird. Als stabilstes Fundament für dieses Wechselspiel von Denkstil, kollektivem Handeln und daraus folgender Beurteilung der richtigen oder falschen Identität bleibt bis auf weiteres das Konzept der ›Nation‹ – eine imaginierte Einheit37 von Territorialität, Identität und sozialer Reproduktion also, die dem Einzelnen die Sinnhaftigkeit seines ›In-der-Welt-Seins‹ vermittelt, eine Sinnhaftigkeit überdies, die mittels bestimmter Lebensformen repräsentiert werden muss, um so das Konstrukt der nationalen Identität mit kulturellem Inhalt füllen zu können.38 Die identitätsrelevanten Kategorien, Kriterien und Eigenschaften eines Kollektivs sind in der politischen Kultur gespeichert und werden immer wieder in Erinnerung gerufen, so dass die einzelnen Akteure immer wieder auch an ihre Zugehörigkeit und die hierfür notwendigen Bringschulden erinnert werden. Eine sinnvolle methodologische Kategorie, um diese Verfestigung von Vergangenheit im politischen Diskurs hervorzuheben, bietet Pierre Noras Konzept der »lieux de mémoire« an. Mit diesem Konzept untersuchte er mit seinen Mitarbeitern die Kristallisationspunkte des nationalen französischen Erbes. Ziel war die Hervorbringung, Darstellung und Analyse der wichtigsten »Orte«, an denen 36 | Ibid. 37 | Vgl. A NDERSON, B ENEDICT. Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso 1983. 38 | Vgl. M AIOLINO, A NGELO. Überfremdung und Mediterranisierung der Schweiz. Identitäten im Spannungsfeld. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 58, 2010. S. 177-193. Hier S. 177.
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sich das kollektive Gedächtnis festmacht, um so eine »Topologie der Symbolik Frankreichs« zu erstellen.39 Erinnerungsorte können dabei immaterieller, materieller oder ideeller Art sein. Sie können ein immaterielles historisches Ereignis sein, das als Ursprungsmythos über die Zeit tradiert wird, oder Monumente, die in ihrer Materialität die angeblichen Spezifika und Charakteristika einer Nation widerspiegeln. Daneben können sie aber auch ideeller Art sein, zumal Begriffe, die eine hohe Assoziationskraft auslösen, wie etwas ›Auschwitz‹, im kollektiven Gedächtnis die damit verbundenen Ver- und Gebote speichern. Das Selbstverständnis einer Gemeinschaft, sei sie national, ethnisch, kulturell oder interessensgebunden, rekurriert auf solche Erinnerungsorte, die über ihre historische Realität hinaus insbesondere eine symbolische Wahrheit vermitteln, durch welche die Kohäsion und Identität gefestigt und die Reduktion von Komplexität ermöglicht wird. Mit den ›lieux de mémoire‹ wird also eine Symbolgeschichte geschrieben, in welcher die Selbstverständlichkeiten, die Deutungsmuster und gemeinsam geteilten Kodes einer Gemeinschaft in gleichsam symbolischer Form verfestigt sind und durch ihre Wiederholung die Erinnerung und die Selbstverständigungsprozeduren einer Gemeinschaft prägen und eichen. Feste, Denkmäler, Jubiläen, Gedenkstätte und -zeremonien, aber auch Embleme, Fahnen und Wahlsprüche dienen als ›Orte‹, an denen die Narration über die jeweilige Identität und ihre Genealogie immer wieder in Erinnerung gerufen wird, um gleichsam eine vertrauensvolle Projektion in die Zukunft zu ermöglichen. An diesen ›Erinnerungsorten‹ wird immer wieder auch und zumeist unausgesprochen die Frage gestellt, was die Gemeinschaft nicht vergessen darf sowie was erinnert und somit für andere Generationen tradiert werden soll. Um die ›lieux de mémoire‹ kristallisiert sich also eine Erinnerungskultur, die ihrerseits von dominant gewordenen Deutungsmustern des jeweiligen Erinnerungsortes geprägt und strukturiert wird – eine Erinnerungskultur, die deshalb aber immer auch umkämpft ist, zumal die ihr zugrundeliegenden Deutungen auch herausgefordert werden können. Beispiele gibt es hier zur Genüge. In Italien versucht beispielsweise die rechtspopulistische Lega Nord aus der Vergangenheit eine andere Geschichtsnarration hervorzugreifen, um ein bestimmtes Territorium – Norditalien – anders zu definieren und so politische Ansprüche darauf erheben zu können. Die Padania – so die Bezeichnung des geographischen Landstriches zwischen Alpen und südlichem Ende der Poebene bei den Legisten – wird aus einer Narration, die im Lombardenbund von Alberto da Giussano – Hauptsymbol der Parteifahne –, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die norditalienischen Kommunen gegen Kaiser Friedrich I. Barbarossa anführte und am 29. Mai 1176 in Legnano, das etwa 30km nordwestlich von Mailand liegt, die entscheidende Schlacht gewann, seinen Anknüpfungs39 | N ORA , P IERRE . Das Abenteuer der Lieux de mémoire. In: E TIENNE, F RANCOIS E T A L . (Hg.). Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. S. 83-92. Hier S. 83.
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punkt und Mythos findet, aus der dominanten italienischen Geschichtsnarration gelöst und neu beschrieben. 40 In Frankreich bediente sich der frühere ›Front National‹-Führer Jean Marie Le Pen des 1. Mai, um an diesem Tag Jeanne d’Arc, die heilige Kämpferin gegen die englische Vormacht im Frankreich des 15. Jahrhunderts, zu feiern. 41 Obwohl die Erinnerung an Jeanne d’Arc am 8. Mai in Orléans, dem Tag, an dem sie 1429 die Stadt befreite, gefeiert wird, setzte Le Pen ab dem Jahre 1988 eine landesweite Erinnerungsfeier am 1. Mai durch. Spätestens seit der Historiker Jules Michelet 42 in einem Werk mit dem Titel »Jeanne d’Arc«, das zugleich dem fünften Band seiner »Histoire de France« entspricht, im Jahr 1841 die Kämpferin und Heeresführerin zur Heldin emporstilisierte, die das französische Volk verkörpere, gehört Jeanne d’Arc zu den Symbolen der französischen Nation. Die politische Linke hat sie als Tochter des Volkes und Opfer der Kirche vereinnahmt, während die Rechte in ihr insbesondere die Wehrhaftigkeit des Volkes gegen Invasoren sieht. Le Pen hat den Mythos von Jeanne d’Arc durch seine im ganzen Land veranstalteten Gedenkfeiern neu ›ent-deckt‹ und gleichsam kodiert. Die anachronistische Vorverlegung der Feierlichkeit auf den 1. Mai diente zwei Zielen. Einerseits versuchte Le Pen damit, die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen und diese für seine Präsidentschaftswahl zu nutzen, andererseits wurde damit ein Erinnerungsort mit neuem Inhalt gefüllt. Nicht nur wurde der Mythos von Jeanne d’Arc von der frontistischen Rechten mit ihrem nationalistischen Gedankengut zu besetzen versucht, auch der Erinnerungsort ›Tag der Arbeit‹ wurde durch diese Feierlichkeiten herausgefordert, zumal die damit assoziierte Geschichte und die Erinnerungskultur der Arbeiterschaft miteinander in Konkurrenz traten. Der ›1. Mai‹ wird dadurch mit zwei gegensätzlichen Deutungen besetzt und für die jeweilige Identitätspolitik publikumswirksam umgeschrieben. Zwei unterschiedliche Erinnerungskulturen mit ihren jeweils narrativ aufgeladenen und für die eigene Sache eingenommenen Symbolen – die durchaus denselben Gegenstand, wie bspw. die nationale Flagge, repräsentieren können – kreisen um diesen Erinnerungsort und zielen auf die Festlegung und Dominanz einer bestimmten Bedeutung, die mit diesem ›Ort‹ verbunden werden soll. Damit sickern aber auch andere Deutungsmuster und Wertorientierungen in die politische Kultur ein und formieren so die Selbst- und Weltverständnisse sowie die Einstellungen und Verhaltensnormen der Bürger gegenüber dem politischen System. Auch für die Schweiz lassen sich umkämpfte Erinnerungsorte analysieren, die umkämpfte Erinnerungskulturen hervorbringen, die wiederum auf die Ko40 | Vgl. B IORCIO, R OBERTO. La Padania Promessa. La Storia, le idee e la logica d`azione della Lega Nord. Milano: Il Saggiatore 1997. 41 | Vgl. hierzu die Artikel von W INOCK , M ICHEL . Jeanne d`Arc. In: Le Monde, 1. Mai 1988 und TINCQ, H ENRI. Jeanne d`Arc détournée. In: Le Monde, 4. Mai 1988. 42 | Vgl. M ICHELET, J ULES. Histoire de France. Jeanne D`Arc. Charles VII (1841). Tome 5. Sainte-Marguerite sur Mer: Édition des Équateurs 2008.
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dierung politisch-kultureller Traditionen einwirken können. Die mit den sogenannten nachrichtenlosen Vermögen 1989 entfachte öffentliche Debatte über die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges brachte nicht nur den Mythos der »Insel im tosenden Meer«, 43 der ›geistigen Landesverteidigung‹, des ›Sonderfalls‹ und der heldenhaften Abwehrbereitschaft zum Wanken, sondern auch das über lange Zeit gepflegte und bei offiziellen Anlässen immer wieder in Erinnerung gerufene Ideal der neutralen, sich an der humanitären Tradition orientierenden Schweiz. Die daran geknüpfte Erinnerungskultur, die einen roten Faden bis zum Jahre 1291 suggerierte und an dem sich das Selbstverständnis der Schweiz immer wieder binden konnte, erfuhr mit dem Öffentlichwerden jüdischer Vermögenswerte, die seit den 1930er und 1940er Jahren auf Schweizer Konten ruhten, eine Erschütterung und einen Schnitt für den identitätswahrenden Faden der Geschichte. Diese Konten blieben nachrichtenlos, weil viele ausländische und vor allem jüdische Kontoinhaber entweder während der Judenverfolgung im Dritten Reich gestorben waren oder aufgrund der danach einsetzenden Ost-West-Teilung Europas keinen Zugriff mehr darauf hatten und ihr Nachfahren nichts von diesen Vermögenswerten wussten. Die darauf folgende juristische, politische und mediale Auseinandersetzung über die rechtmässige Restitution dieser Vermögen an ihre Eigentümer rief nicht nur jüdische Organisationen wie den World Jewish Congres oder die World Jewish Restitution Organization auf den Plan, sondern auch öffentliche Diskurse, die sich um das Selbstbild der Schweiz drehten und dadurch die bislang geltende Erinnerungskultur mit ihre Symbolen, Mythen und unhinterfragten Narrationen herausforderten. »Man kann es nicht deutlich genug sagen: Bei der schweizerischen Auseinandersetzung mit jüdischen Organisationen ging es letztlich nicht um die – durchaus vorhandenen – Sünden der Vergangenheit, weder der Kriegsjahre noch der Nachkriegszeit. Sie waren mit gutem Grund Ausgangspunkt und Thema des Konflikts, aber nicht dessen Motor. Diesen lieferte der aktuelle schweizerische Umgang mit dem Problem, das Verhalten von repräsentativen Schweizern in den Jahren ab 1995. Sie verweigerten sich ausdrücklich, durch Worte und Gesten, einer Umschreibung ihrer Geschichte. [...] In ihrem Verhalten während des Krieges, in einer gewissen Indifferenz gegenüber der Judenverfolgung und in der egoistischen Ausrichtung am nationalen Interesse in existenzbedrohenden Zeiten hatte sich die Schweiz wenig von anderen Ländern unterschieden. Wie diese es erfolglos versucht hatten, so hatte sie sich aus einem Krieg herausgehalten, den nur einer – Hitler – führen wollte. Aber die Schweizer machten aus dieser Enthaltsamkeit, die zu wahren sonst kaum jemandem gelang, nachträglich eine Geschichte von Heldentum und moralischer Exklusivität.« 44
43 | M AISSEN, THOMAS. Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und Schweizer Weltkriegsdebatte 1989-2004. Zürich: NZZ libro 2005. S. 97. 44 | Ibid. S. 609f.
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Gerade der letzte Satz gibt die Relevanz und Funktionsweise von Politiken der Erinnerung wider. Je nachdem, was erinnert wird und in der Öffentlichkeit, in der Schule, in der Familie, im Rechtsapparat und in der politischen Auseinandersetzung zur dominanten Narration emporstilisiert wird, entwickelt sich parallel dazu eine Erinnerungskultur, die die vermittelten Erinnerungsorte aus einer bestimmten Deutungsperspektive mit Sinn füllt und so auf Dauer zu halten sucht. Im Kommunikationsprozess, in welchem Vergangenheit zur kollektiven Erinnerung gerinnt, ist es von Relevanz zu fragen, welche gedächtnispolitische Strategie die Narration dominiert und kodiert, welche Vergangenheit hochstilisiert und welche verschwiegen wird und welche politischen Ziele damit verfolgt werden. Erinnerungsorte werden diskursiv vereinnahmt und mit bestimmten zweckgerichteten Wertinhalte ›gefüllt‹, die oftmals dem Ziel dienen, das Selbstverständnis einer Nation oder einer Gruppe von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft über ein fest kodiertes kollektives Gedächtnis mit Sicherheitsgarantien zu verknüpfen. Erinnerungsorte – seien dies geographische Landstücke, historische Persönlichkeiten oder ideelle Wertvorstellungen einer Nation oder Gruppe – sind zutiefst politisch konnotiert, da ihre Bedeutung von gegnerischen Interessensvorstellungen symbolisch aufgeladen wird. Sie versammeln um sich herum eine jeweils partikulare politisch gefärbte Erinnerungskultur, aus welcher die ›lieux de mémoire‹ zu umkämpften Knotenpunkten des kollektiven Erinnerns werden. Geschichte, und dies ist wohl die wichtigste Lektion von Pierre Nora, ist immer auch eine Symbol-Geschichte, 45 in der die Narrationen über vergangene Geschehnisse aus der gegenwärtigen Perspektive erzählt werden und so gleichzeitig der Versuchung unterliegen, eine Traditionslinie zu ziehen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die symbolbeladenen Erinnerungsorte dienen hierbei als Kompass für die Praxis der Bedeutungsgebung, Identitätssicherung und Zukunftsgerichtetheit einer Nation oder Gruppe. Erinnerungsorte mag es viele geben und sie mögen zwischen Ländern oder Gruppen variieren, entscheidend sind aber vielmehr die um diese Orte kreisenden und sie erst als politisch aufgeladene ›lieux de mémoire‹ konstituierenden Erinnerungskulturen, die, wie Jan Assmann betont, ein universales Phänomen darstellen. »Es lässt sich schlechterdings keine soziale Gruppierung denken, in der sich nicht – in wie abgeschwächter Form auch immer – Formen der Erinnerungskultur nachweisen liessen.« 46
45 | N ORA , P IERRE . Das Abenteuer der Lieux de mémoire. In: E TIENNE, F RANCOIS E T A L . (Hg.). Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. S. 85. 46 | A SSMANN, JAN . Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 2000. S. 30.
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So wie die Narration der eigenen oder fremden Geschichte immer ein kommunikativer Akt ist, in welchem zwischen den Zeilen die gruppenrelevanten Eigenschaften mitgeteilt werden und in der das kollektive Gedächtnis sich immer wieder seiner symbolhaften Eigenschaften erinnert, ist auch politische Kultur eine Praxis der Kommunikation, und insbesondere der öffentlichen Kommunikation. Auch hier werden in den Interaktionen zwischen Individuen, Gruppen, privaten oder öffentlichen Akteuren die kommunikations-, weil sinnrelevanten ›public codes‹ und die darin festgelegten Verhaltenserwartungen und Deutungsmuster im Zwischenbereich des Gesprochenen mitgeteilt. So wie Pierre Nora sein Untersuchungskonzept danach ausgerichtet hat, nicht nach einer Rekonstruktion oder Repräsentation von Geschichte zu trachten, sondern vielmehr das ›Sich-Erinnern‹ in den Fokus des Interesses zu stellen, 47 so liesse sich in Anlehnung daran auch für das Konzept der politischen Kultur das Augenmerk nicht auf die Evaluation allfälliger Kongruenzen zwischen Einstellungen und politischem System richten, also auf die Darstellung eines bestimmten historischen Zeitpunktes, aus welchem die Stabilität eines politisch verfassten Gemeinwesens repräsentiert werden soll, sondern auf das symbolbeladene Fundament der kollektiven Erinnerung, auf welchem die Einstellungen, Wertorientierungen und Deutungsmuster Form gewinnen und über die Zeit ruhen. Geschichte wird so zu einem grundlegenden Faktor von politischer Kultur und der hierdurch gefestigten kollektiven Identität. Ihre konstitutiven Dimensionen werden hierbei immer wieder reaktiviert und mit einer Narration über die jeweilige ›Wir‹-Identität verknüpft. Nicht nur manifestiert sich politische Kultur in der öffentlichen Kommunikation als ein kollektiver Sprechvorgang, in welchem gewisse Deutungsmuster des Selbst und der Welt und die ihr zugrundeliegende kollektive Erinnerung durch unausgesprochene oder explizit erwähnte Erinnerungssemantiken gefestigt werden, auch die Erinnerungskultur als Orbit, der diese Kommunikation umkreist, erweist sich als umkämpftes Narrationsfeld, in dem ein öffentlicher Konflikt über die Bedeutungsinhalte der eigenen Geschichte und ihrer Erinnerungsorte ständig ausbrechen kann. In einem politisch verfassten Gemeinwesen und in seinen gruppenspezifischen Vereinigungen, seien dies die Familie, die Partei oder zivilgesellschaftliche Interessengruppen, ist demnach mit einer Pluralität von kollektiven Gedächtnissen und Erinnerungskulturen, respektive Semantiken zu rechnen. Geschichte kann immer auch aus einer anderen Perspektive geschrieben und erzählt werden und so als Prolog der Gegenwart ebendiese mit anderen Normvorstellungen und Wertorientierungen behaften. In ihr sucht ein Gemeinwesen Auskunft über die eigene Herkunft und Identität, damit auch die Gegenwart aus dieser einmal deutungswirksam stabilisierten Sicht in die Vergangenheit sinnvoll 47 | N ORA , P IERRE . Das Abenteuer der Lieux de mémoire. In: E TIENNE, F RANCOIS E T A L . (Hg.). Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. S. 91.
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und erträglich erscheint. Aleida Assmann betont hierzu, dass dieses Interesse nicht erst mit der Durchsetzung der Nation als gemeinschaftsspendendes und rechtlich übergeordnetes Konstrukt im 19. Jahrhundert aufkam. Bereits in der Renaissance »kam es zu einer Konjunktur der Hofhistoriographie und dynastischen Geschichtsschreibung. [...] Diese Nachforschungen wurden wichtig, als das Privileg genealogischer Legitimierung und Selbstbestimmung vom König an die Fürsten, Adelshäuser, Städte und erfolgreichen Bürger überging. Solche Geschichtsforschung galt der Herkunft der eigenen Familie oder Gruppe und stand im Zeichen eines neuen Konkurrenzdrucks. Mit der Sprengung der dualen Herrschaft von Kaiser und Papst war es zu einer Vervielfältigung der geschichtsmächtigen Subjekte gekommen. Adelshäuser, Patrizierfamilien, Städte konstituierten sich als Subjekte, die durch rekonstruktive Geschichtserzählungen ihre Identität profilierten und ihre Legitimität untermauerten. Solcher Vergangenheitsgebrauch stand unter dem Zwang des Legitimations-, Repräsentations- und Identitätsbedürfnisses in der Konkurrenzsituation der frühneuzeitlichen gesellschaftlichen und politischen Differenzierungsbewegungen.« 48
Weiter bemerkt Assmann, dass dieser Prozess der Legitimation durch Narration vor allem durch das Aufkommen des Buchdrucks verstärkt wurde. Die Vervielfältigung schriftlicher Erzeugnisse und die Zunahme des lesenden Publikums, der auch im Zusammenhang mit den neuen protokapitalistischen Wirtschaftsformen zunehmend wichtig wurde, öffnete den Zugang zu neuen Interpretationen der Vergangenheit, der Gegenwart und der jeweils herrschenden Dynastien, ihrer Legitimationssemantiken und ihrer Deutungsrhetoriken der Welt und des Selbst. Insbesondere die Kirche und der Hof verloren dadurch das »Erinnerungsmonopol«, womit zugleich »neue Machtkämpfe um die Erinnerung entfesselt wurden.« 49 Das offizielle oder politische Gedächtnis will also nicht nur erinnert werden, sondern in den Deutungsmustern und Wertorientierungen, die es vorgibt, auch Legitimation erheischen. Die Rückversetzung gegenwärtiger politischer Ordnungsformen und institutionalisierter Machtverhältnisse einer politisch verfassten Gemeinschaft in eine historische Narration, aus welcher sie Plausibilität und Bedeutung gewinnen, unterstützt die Legitimationsbereitschaft seitens der Herrschaftsunterworfenen und stabilisiert so das politische System, die sie fundierende politische Kultur und die darin dominanten Deutungs- und Selbstverständigungsmuster. Kurz gesagt: Herrschaft braucht Herkunft. Die kollektiv explizit oder auch nur implizit erzählte Genealogie sowie ihre im alltäglichen Handeln, 48 | A SSMANN, A LEIDA . Erinnerungsräume, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999. S. 48f. Zitiert in: S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. Baden-Baden: Nomos 2008. S. 593. 49 | Ibid.
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Verhalten und Denken performierten und reproduzierten Traditionslinien und Normen stabilisieren auf diese Weise ein kollektives Gedächtnis, in welchem die vorhandenen Machtverhältnisse als unhinterfragte legitimiert werden sollen. Die Legitimationsdynamik politischer Herrschaft ist so im Oszillationsbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft verankert. Retrospektiv wird sie legitimiert und prospektiv wird sie verewigt. Mit der genealogischen Erzählung soll also eine bestimmte Vergangenheit bedeutsam gemacht und dadurch in ihrer Bedeutsamkeit legitimiert werden. In diesem Prozess ist Erinnerung ein Akt der Semiotisierung – was nichts anderes als Sinnstiftung bedeutet. Kollektive Identität entsteht und schreibt sich in diesen Prozess ein. Durch Verwendung tradierter, erzählter und stabilisierter Symbole vergewissern sich die Akteure ihrer Provenienz und Zugehörigkeit. Dabei kann alles zum Zeichen werden, um Gemeinschaft zu stiften. Was zählt, ist nicht das Medium oder der Erinnerungsort allein, sondern vor allem seine Symbolfunktion und Zeichenstruktur, die aus ihm mittels einer dominanten und kollektiv gefestigten Deutung ›gelesen‹ wird. Vergangenheit wird so in fundierende Geschichte transformiert. Herrschaft muss also, um über längere Zeit auf freiwilligen Gehorsam seitens ihrer Unterworfenen zählen zu können, auf eine sekundäre Erzählebene zurückgreifen, aus welcher die gegenwärtigen politischen Entscheidungen immer wieder auch erklärt und mit Sinn gefüllt werden können. Herrschaft braucht in diesem Sinne nicht nur Herkunft, sondern auch Mythen. Ernst Cassirer bemerkte in dieser Hinsicht, dass das Politische immer auf einem »vulkanischen Boden«50 und damit auf einem mythischen Fundament aufruht. Die Geschichte der politischen Theorie, so Cassirer weiter, sei seit Platon die Geschichte des Kampfes gegen den Mythos. Dennoch seien politische Mythen niemals »wirklich besiegt« worden, sie sind unendlich wandelbar, entfalten sich an unvermuteter Stelle und unterminieren das rationale Denken. Was die Geschichte schreibt, so das geflügelte Wort von Georges Sorel, ist nicht die Vernunft, sondern es sind die Mythen. Der Mythos kommodifiziert die bedrohlichen Sinneseindrücke, die im Spannungsfeld von Mensch und Welt entstehen, und macht sie beherrschbar. Er ist »first and foremost social practice.«51 Die Sprache fungiert hierbei als Instanz, die das Mythische so verarbeitet, dass es von der kausal-logischen Form der Wissenschaft aufgegriffen und beispielsweise von den Massenmedien übernommen wird, die aufgrund ihrer Aufmerksamkeitslogik sowohl die Rationalität wie auch die leidenschaftlichen Emotionen ihrer Betrachter ansprechen und hierfür auf
50 | C ASSIRER, E RNST. Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (1946). Frankfurt a.M.: Fischer 1994. S. 364. 51 | K ROIS, J OHN M ICHAEL . Cassirer – Symbolic forms and history. New Heaven. London: Yale University Press 1987. S. 144.
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mythische Mittel zurückgreifen müssen.52 Aber auch und vor allem die Politik als im Wesentlichen soziale Handlung ist dasjenige Gebiet, in dem mythisches Denken stets gegenwärtig ist. Das gilt sowohl für eine politische Gemeinschaft, die sich an eine Führerfigur gebunden fühlt, als auch für moderne Massendemokratien, in denen der politische Input- und Output-Prozess von massenmedial vermittelten Politikvorstellungen gestaltet wird. Entsprechend wäre es eine Verkürzung des Sachverhaltes, würde man das mythische Feld, das den genuinen Untergrund von Politik bildet, als Ausdruck von Naivität und Einfalt an sich bezeichnen. Vielmehr erfüllen Mythen und Riten die Funktion von Erkenntnisweisen und konstruieren so die geistige Wirklichkeit, an der wir die empirische Welt messen und beurteilen. Ihre Seinsbedingung ist nicht an die rationale Kausalität, sondern an die soziale Kausalität der Sympathie gebunden. Der Mythos ist nach Cassirer an ein gefühlsmässiges Band geknüpft, das nicht »die empirischen Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung, sondern die Intensität und Tiefe … menschlicher Beziehungen« meint.53 In den Mythen reflektiert sich die verdichtete Vergangenheit als fundierende Geschichte eines nationalen, zivilgesellschaftlichen oder privaten Gemeinwesens. Zu Recht betonte der Semiologe Roland Barthes54 dass der Mythos eine Aussage sei. Er ist ein Mitteilungssystem, eine Botschaft, eine Weise des Bedeutens. Durch ihn und in ihm werden Dinge, Handlungsweisen, Verhaltensnormen, politische Prozesse, aber auch einfache alltägliche Gegenstände mit Bedeutung aufgeladen und so immer wieder in die ›richtige‹, vom Mythos selbst erzeugte Ordnung der Dinge gerückt. Mythen verbergen nichts und stellen auch nichts zur Schau, sie deformieren, indem sie Geschichte in Natur verwandeln. Gerade für die Herausbildung eines kollektiven und kulturellen Gedächtnisses, aus welchem die eigene Identität immer wieder versichert werden kann, spielen politische Mythen eine zentrale Rolle. Sie sind Narrationen, die sich auf ein Handlungskollektiv beziehen und zu dessen Selbstbeschreibung dienen. Fern davon, kollektive Identität zu verbergen oder zu verschweigen, machen sie diese zu ihrem schwatzhaftesten Thema. Über diese sekundäre Erzählebene, die der Mythos darstellt und ermöglicht, können verschiedene Deutungseliten und politische Akteure ihre Machtpositionen gegen Einwände immunisieren oder gewünschte Entwicklungen vorantreiben. »Der Mythos hat einen imperativen und interpellatorischen Charakter.«55 Er schreibt vor, was das richtige Verhalten und die richtigen Deutungs- und Wertorientierungsmuster sind, die im kollektiven Verband zählen, und konfrontiert die einzelnen Akteure immer wieder mit der unhörbar lauten Frage, ob sie sich 52 | Die wohl beste Darstellung der mythischen Hintergründe massenmedialer Botschaften bietet nach wie vor der erste Teil von Roland Barthes »Mythen des Alltags«. 53 | C ASSIRER, E RNST. Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (1946). Frankfurt a.M.: Fischer 1994. S. 54. 54 | B ARTHES, R OLAND. Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964. S. 85f. 55 | Ibid. S. 106.
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an diese Vorschriften auch halten. Die Festlegung einer bestimmten politischen Haltung, aus welcher erst die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, meist die nationale Volksgemeinschaft, ersichtlich und legitimierbar wird, ist nicht nur eine alte national-konservative Strategie zur politischen Machterlangung und -sicherung, sondern auch ein immer wiederkehrendes Motiv, das auch in der Gegenwart von rechtspopulistischen Parteien intensiv bedient wird und so kollektive Identität mythologisch mit exklusiven nationalen Eigenschaften verschränkt.56 Politische Mythen werden funktionalisiert, um Identitätsbildung, Integration und Handlungsfähigkeit innerhalb einer klar definierten Menschengruppe zu stiften. Sie dienen damit der Territorialisierung und Orientierung des politischen Verbandes in Vergangenheit und Zukunft. Den Einsatz, den sie einzulösen haben, ist, wie für alle mythischen Erzählungen, Dauer durch zeitlose Ordnungsmuster zu erzeugen. Möglich wird dies nur, indem Kontingenz und geschichtliches Gewordensein ausgeblendet werden. Wie Barthes bereits sagte, ist das eigentliche Prinzip des Mythos die Verwandlung von Geschichte in Natur. Auch Herfried Münkler betont dieses grundlegende Funktionsmerkmal des Mythos. Indem nämlich politische Mythen »die Kontingenz in der Abfolge der Ereignisse wegerzählen und die pure Faktizität der Geschichte mit sinnhaften Bedeutungen überziehen, geben sie ein Versprechen hinsichtlich 56 | Der Slogan der schweizerischen Volkspartei (SVP) für die Wahlkampagne 2011, »Schweizer wählen SVP« ist nur ein Beispiel hierfür. Altgediente Aussagen, die unweigerlich einen nationalen Mythos bedienen, sind immer wieder in unterschiedlichen Ländern zu hören und folgen einem einfachen Strukturprinzip. Die Bezeichnung des Landes dient zugleich der Beschreibung ihrer rechtmässigen Bewohner. »Deutschland den Deutschen«, »Frankreich den Franzosen« oder »Die Schweiz den Schweizern« sind diese unschuldig daherkommenden mythologisch aufgeladenen Aussagen, die auf dem ersten Blick nichts moralisch Verwerfliches hörbar werden lassen, bei einem genauen Zuhören aber all ihre selbstbewusste und -gerechte Kraft entfalten. Der Mythos des kollektiven Imaginären, der hier unter dem Begriff ›Volk‹ verborgen bleibt, gruppiert nicht nur bestimmte moralische und charakterliche Eigenschaften um sich, die wie von Natur aus im ›Volk‹ vorhanden sein sollen, sondern erscheint als unhistorisches Faktum. Das ›Volk‹ wird dann zu einer Kollektivität, die unhistorisch über die Zeiten waltet und den je Einzelnen überdauert, ein Ganzes, welches seine Eigenschaften und Vorzüge trotz der geschichtlichen Veränderungen permanent aufrechterhält: ein kollektives Imaginäres also, das Stabilität, Sicherheit, Kontinuität und die Garantie ewiger Eigenschaften vermittelt – solange man von Zeit zu Zeit das Eigene vom Anderen reinigt. Seine versteckte Botschaft lautet, dass man qua ›Volksangehöriger‹ so etwas wie angestammte Rechte besitzt, um über den ›Rest‹ der Bevölkerung nach freien Stücken zu urteilen. Eine rationale Rechtfertigung könnte dieser Mythos aber nur dann erhalten, wenn entweder der Alptraum einer höheren Rasse geträumt wird oder das ›Volk‹ zu göttlicher Würde erhoben wird, weil es in jedem Fall letztinstanzliche Entscheidungsgewalt über den ›Rest‹ ist.
4. Zweite Annäherung: Dimensionen und Manifestationsformen politischer Kultur der Zukunft des Gemeinwesens: Es wird auch künftige Gefahren und Herausforderungen bestehen, wenn man sich in solchen Situationen der Bedrohung und Gefahr am mythisch erzählten Vorbild orientieren wird. Politische Mythen haben insofern einen appellativen Charakter und zugleich eine innerweltliche providentielle Qualität, indem sie politische Garantie- und Heilsversprechen abgeben, ohne sich dabei auf transzendente Mächte berufen zu müssen.« 57
Sie generieren also verbindliche Loyalität, Orientierungswissen und Zukunftsvertrauen, die in politischen Krisensituationen bestenfalls reaktiviert werden können oder andernfalls dem Vergessen preisgegeben werden, weil sich anders kodierte Mythen mit anderen Deutungsangeboten durchgesetzt haben. Politische Mythen dienen also der Stabilisierung des kollektiven Gedächtnisses, der darin dominierenden Deutungsmuster des Selbst und der Welt sowie der hiervon generierten Wertvorstellung und Identitätsmuster. Politische Kultur ist also immer auch das Resultat mythologischer Erzählungen, durch welche die Kommunikationsgemeinschaften sich ihrer Identität, ihrer Herkunft und ihrer Selbstverständigungsprozeduren versichern. In diesem Sinne spielt in der Herausbildung und Stabilisierung von politischer Kultur immer auch Macht eine entscheidende Rolle. Macht entfaltet sich durch Kommunikation und realisiert sich dann, wenn innerhalb einer sozialen Beziehung ein bestimmter Wille, wie es Max Weber sagte, oder eine bestimmte Deutung des Selbst und der Welt, wie es für das Konzept der politischen Kultur bestimmend ist, dem Verhalten und Selbstverständnis anderer aufgezwungen werden kann. Auch Gruppierungen, die sich explizit gegen die dominante Narration des Nationalen und der kollektiven Identität sowie der dominanten politisch-kulturellen Deutungen, die diese exklusiven Identitätsmuster fundieren, müssen ihren Widerstand immer mit Bezug darauf formulieren. Die Dimension der Erinnerung spielt in dieser diskursiven Etablierung von Identität und Gegenidentität die Rolle der Wahrheitsaufseherin. Kulturelle Kodierungen, Deutungsmuster und Wertorientierungen erfüllen nämlich erst dann ihren Zweck, wenn sie über längere Zeit Gültigkeit beanspruchen können, wenn sie zur ›Normalität‹ des Alltags und zum unhinterfragten Leitrahmen der eigenen Lebensführung und Identität geworden sind. Als politisch-kulturelle Fundamente einer Gemeinschaft oder Gruppierung gewinnen sie ihren Schein von unhinterfragter Plausibilität zwar immer erst nach einem konflikthaften Aushandlungsprozess, stabil bleiben sie aber nur durch die Verschleierung ihrer Entstehungsgeschichte. Deutungen, Konventionen und Wertorientierungen entfalten dann ihre stärkste Wirkung, wenn sie unhinterfragt übernommen und gleichsam im Rücken der Akteure wirken und so ihr Selbst- und Weltverständnis mit dem Anschein von Evidenz durchsetzen. 57 | M ÜNKLER, H ERFRIED. Politische Mythen der DDR. In: Jahrbuch 1996 der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Akademie Verlag 1997. S. 129f.
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Der Rückgriff auf eine explizite oder implizite Narration, das hiervon kodierte kollektive Gedächtnis und die dadurch transportierten Mythen untermauert die in der politischen Kultur sedimentierten Selbst- und Weltverständnisse und garantiert so eine zeitüberdauernde Legitimation der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Damit werden auch die gemäss den dominierenden Deutungsrahmen einer Gesellschaft strukturierten Sozialisierungs- und Habitualisierungsprozesse reproduziert und gefestigt. »Das lange nicht Geänderte nämlich scheint unänderbar. Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständlich ist, als dass wir uns bemühen müssten, es zu verstehen. Was sie miteinander erleben, scheint den Menschen das gegebene menschliche Erleben. Das Kind, lebend in der Welt der Greise, lernt, wie es dort zugeht. Wie die Dinge eben laufen, so werden sie ihm geläufig. Ist einer kühn genug, etwas nebenhinaus zu wünschen, wünschte er es sich nur als Ausnahme. Selbst wenn er, was die ›Vorsehung‹ über ihn verhängt, als das erkennte, was die Gesellschaft für ihn vorgesehen hat, müsste ihm die Gesellschaft, diese mächtige Sammlung von Wesen seinesgleichen, wie ein Ganzes, das grösser ist als die Summe seiner Teile, ganz unbeeinflussbar vorkommen – und dennoch wäre das Unbeeinflussbare ihm vertraut, und wer misstraut dem, was ihm vertraut ist?« 58
Die alltäglichen sozialen Konventionen und die darin gespeicherten Deutungsmuster der Welt und des Selbst fungieren als Repräsentanten dessen, was ›lange nicht geändert wurde‹ und blockieren sowohl Bewusstsein wie auch potentielle Veränderung. Brecht konzipiert den Menschen jedoch nicht als ›judgemental dope‹ der wie eine Marionette von den Fäden der dominanten Verhaltens- und Denkkonventionen durch das Leben geführt wird. Die unhinterfragte Legitimität des bisher Unveränderten bedeutet nicht, dass dieses nicht verändert werden kann, sondern bloss, dass die Narration und die mit ihr immer wieder reproduzierte Erinnerung, die dem Status quo den Schein des Ewigen vermittelt, weiterhin wirksam sind. Wird der gegenwärtige Diskurs, in welchem sich eine mythische Narration mit einer dominanten Deutungsweise der Welt verknüpft, mit einer anderen Erinnerung, mit einer Gegen-Narration konfrontiert, blättert der Schein der unhinterfragten ›Normalität‹ ab. Eine solche Methode behandelt, wie Brecht an gleicher Stelle schreibt, »um auf die Beweglichkeit der Gesellschaft zu kommen, die gesellschaftlichen Zustände als Prozesse und verfolgt diese in ihrer Widersprüchlichkeit, ihr existiert alles nur, indem es sich wandelt, also in Uneinigkeit mit sich selbst ist.« 59
58 | B RECHT, B ERTOLT. Kleines Organon für das Theater. In: D ERS. Gesammelte Werke. Band 16. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967. S. 681. 59 | Ibid. S. 682.
4. Zweite Annäherung: Dimensionen und Manifestationsformen politischer Kultur
Mit der Strategie der ›Verfremdung‹, wie sie Brecht nannte, werden nicht nur die Fundamente der bestehenden Narration erschüttert und die Sinngehalte der Erzählung entmystifiziert, sondern es wird auch eine Distanz zu den bisher unhinterfragten Deutungs- und Wertorientierungsmuster etabliert, die im kollektiven Gedächtnis und in den alltäglichen konventionellen Handlungen transportiert und reproduziert werden. Indem so die offizielle Narration der Vergangenheit ›verfremdet‹ wird, wird gleichsam Raum für eine Gegenerinnerung eröffnet und neue und andere Deutungen der Vergangenheit und somit immer auch der Gegenwart öffentlich artikulierbar. Aleida Assmann bringt diesen Sachverhalt folgendermassen auf den Punkt: »Das Motiv der Gegenerinnerung, deren Träger die Besiegten und Unterdrückten sind, ist die Delegitimierung von Machtverhältnissen, die als oppressiv erfahren werden. Sie ist ebenso politisch wie die offizielle Erinnerung, da es in beiden Fällen um Legitimierung und Macht geht. Die Erinnerung, die in diesem Falle ausgewählt und aufbewahrt wird, dient der Fundierung nicht der Gegenwart, sondern der Zukunft, d.h. jener Gegenwart, die auf den Umsturz der bestehenden Machtverhältnisse folgen soll.« 60
Mit diesen hoffnungsfrohen Worten schliesst sich dieses Kapitel. Im Folgenden wird es darum gehen, die bisherigen Annäherungsversuche zur Definition der politischen Kultur auf ihre Erfolgsaussichten zu befragen, um danach die öffentlichen und verborgenen ›Liaisons‹ zwischen Politik und Kultur zu beleuchten.
60 | A SSMANN, A LEIDA . Erinnerungsräume, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999. S. 139. Zitiert in: S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. Baden-Baden: Nomos 2008. S. 615.
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5. Ein vorläufiges Fazit
In seinen »unsichtbaren Städten« lässt Italo Calvino den fiktiven Marco Polo die Stadt Zirma besuchen. Zirma ist diejenige Stadt im Grossreich des Kublai Khan, die die Reisenden mit genauen Erinnerungen ausstattet. Sie quillt über an Verrückten, die sich über die Dachsimse von Wolkenkratzern lehnen, an Mädchen, die mit Raubkatzen an der Leine spazieren gehen, an beleibten Frauen, welche die Untergrundbahnen vollstopfen oder an blinden Menschen, die in die Menge hineinschreien. »Die Stadt«, so Marco Polo, »ist übervoll: Sie wiederholt sich, damit irgendetwas im Gedächtnis haften bleibe.« Das Sonderbare an Zirma ist aber, dass diese Gestalten gar nicht so zahlreich sind. Übervoll ist nämlich nur das Gedächtnis; »es wiederholt die Zeichen, damit die Stadt zu existieren beginnt.«1 Marco Polos Beschreibung der Stadt Zirma konzentriert sich auf einen Funktionsmodus menschlicher Gemeinschaften, der mittels wiederholender narrativer Versatzstücke, die immer auch symbolische Zeichen sind, Sinn und Kohärenz für ihre Mitglieder stiftet. Die zwei Annäherungsversuche zur Beschreibung dessen, was politische Kultur ist, haben auf diesen Funktionsmodus hinweisen wollen. Wie in Zirma die Stadt ihre Konturen über die erinnerte Wiederholung von Zeichen gewinnt, so bildet auch politische Kultur eine Kartographie der sozialen Interaktion, in der sichtbare wie unsichtbare Imperative, das menschliche Miteinander regeln, die gemeinsam geteilten Deutungsmuster des Selbst und der Welt ins kulturelle Gedächtnis einprägen und mittels kommunikativer Auseinandersetzung diese immer wieder in Erinnerung rufen. Während die sichtbaren Imperative sich beispielsweise in Verbotschildern, in rechtlichen Schriftstücken, aber auch in Gesten und in informell als normativ wünschenswerten Verhaltensformen ausdrücken, sind unsichtbare Imperative insbesondere in gemeinsam geteilten Deutungsmustern des Selbst und der Welt, in den ›shared beliefs‹ und
1 | C ALVINO, I TALO. Die unsichtbaren Städte. München: dtv 2006. S. 24. Siehe auch M AIOLINO, A NGELO. Das Ausrufezeichen. Von sichtbaren und unsichtbaren Imperativen. In: C HRISTINE A BBT. TIM K AMMASCH (Hg.). Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung. Bielefeld: transcript 2009. S. 27-39. Hier S. 34.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
kulturellen Kodierungen einer Gesellschaft oder in den Identitätsangeboten, die sich im kollektiven Gedächtnis festsetzen, enthalten. Sowohl die sichtbaren wie auch die unsichtbaren Imperative dienen somit der Sinngebung für soziales und entsprechend auch individuelles Handeln. Sie rahmen den Raum des Mach- und Sagbaren ein und bilden so die fundamentalsten Elemente jeder politischen Kultur. Wie jede andere Kultur auch ist politische Kultur als eine soziale Praxis zu verstehen, in welcher Sanktionsvorschriften für das jeweils ›richtige‹ oder ›falsche‹ Verhalten sichtbar oder unsichtbar im Gedächtnis der einzelnen Akteure das Selbst- und Weltverständnis steuern. Wie jede andere Kultur auch ist also auch politische Kultur ein Geschehen, »das von Regeln gelenkt wird, die man als Aussenstehender zwar bemerkt, aber kaum durchschaut und schon gar nicht beherrscht.«2 Diese von Georg Kohler vorgeschlagene Erklärung von Kultur weist darauf hin, dass kulturelle Praktiken einerseits sichtbar und somit bemerkbar sind, dass sie also anhand von sichtbaren Imperativen auch eine entsprechend zustimmende oder ablehnende Haltung erzeugen können, andererseits aber auch auf Sinngebungspraktiken angewiesen sind, die wie unsichtbare Imperative, die sich im kollektiven und individuelle Gedächtnis eingenistet haben, das Handeln, Sprechen und Fühlen der jeweiligen Akteure beeinflussen. Weiter betont Georg Kohler, dass der vage Zusammenhang von gesellschaftlichen Werten, Grenzen des Sagbaren, meist versteckten Tabus, Expressionsweisen, Glaubenssätzen und Selbstbildern, der das Ganze einer Kultur zusammenhält, niemals aus einem oder aus einigen wenigen Prinzipien zu erklären ist, und endet mit Heinz Budes3 Aussage, dass er vielmehr auf eine anonyme und alltägliche Kreativität zurückgeht, die sich auf ein bestimmtes Wissen nicht festlegen lässt. 4 Georg Kohler macht im weiteren Verlauf seiner Ausführungen darauf aufmerksam, dass ein Zurechtfinden in einer fremden Kultur dann möglich ist, wenn man sich in ihrem Regelsystem zurechtfindet und in den verschiedenen sozialen Spielen, die sie ermöglicht, mitzuspielen versteht. Entscheidend hierbei ist, dass dieses Zurechtfinden-Können implizit erfolgt und nicht explizit.
2 | K OHLER, G EORG . Die Dämonen der Differenz und das Ethos der Verständigung. Über Kultur-Politik. In: Bundesamt für Kultur (Hg.). dutyfree *useme*, Humanity Urban Planning Dignity, sneak preview. La Biennale di Venezia. 7. Mostra Internazionale di Archittetura. Zürich: Niggli 2000. o. S. 3 | B UDE, H EINZ . Kultur als Problem. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 9/10, 49. Jahrgang, Sept./Okt. 1995 (Unterschiede über Kulturkämpfe. S. 775). 4 | K OHLER, G EORG . Die Dämonen der Differenz und das Ethos der Verständigung. Über Kultur-Politik. In: Bundesamt für Kultur (Hg.). dutyfree *useme*, Humanity Urban Planning Dignity, sneak preview. La Biennale di Venezia. 7. Mostra Internazionale di Archittetura. Zürich: Niggli 2000. o. S.
5. Ein vorläufiges Fazit »Wer das kann, kann es so, wie man eine Sprache ›kann‹, die man durchs blosse Mithören und Nachreden gelernt hat. Man beherrscht sie intuitiv, nicht reflexiv; implizit: durchs Gefühl, nicht explizit: nicht durch die ausdrückliche Kenntnis der Grammatik. Doch das implizite Können genügt, um dazuzugehören; um einer von denen zu sein, die sich wechselseitig daran erkennen und dadurch auch als gleichwertig anerkennen, dass sie sich nach bestimmten Regeln und Werten zu verhalten imstande sind und sich so in einer besonderen sozialen Sprache vereint sehen.« 5
Worauf Kohler hier hinweist, ist, dass die Ausübung kulturell kodierter Verhaltensweisen nicht eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Konstitutionsbedingungen voraussetzt, sondern vielmehr implizit und intuitiv vonstatten geht. Für das Konzept der politischen Kultur bedeutet dies, dass ihre ›shared beliefs‹ und ihre normativen Verhaltens- sowie Deutungsmuster von den Akteuren auch ohne das Wissen über ihre Entstehungsbedingungen übernommen werden. Die unsichtbaren und sichtbaren Imperative, die jede politische Kultur einrahmen und definieren, müssen nicht einer kritischen Reflexion unterworfen werden, damit sie von den einzelnen Individuen in ihr Selbst- und Weltverständnis integriert werden, vielmehr findet dies über habitualisierte Praktiken statt oder anhand von formellen oder informellen Sanktionen im Falle eines nichtkonformen Verhaltens. Gerade die unhinterfragte Applikation solcher kultureller Kodes und die daraus mit normativem Anspruch versehenen Verhaltensweisen ermöglichen wiederum die Festigung identitärer Selbstverständnisse einer ›Wir‹-Gruppe. Sobald nämlich deviante kulturelle Praktiken oder Verhaltensformen auftauchen, wie sie von der Mehrheitsgruppe oftmals bei Zuwanderern identifiziert werden, erfahren die intuitiv übernommenen kulturellen Praktiken eine Sinnkrise. Selbst- und Weltverständnisse, die bis anhin intuitiv in das eigene Identitätsbild übernommen wurden, werden mit anderen Dechiffrierungsmöglichkeiten des Selbst und der Welt konfrontiert und eröffnen so immer auch einen Kampf um die vorherrschenden Bedeutungsreservoirs der politischen Kultur. Der Ausgang solcher Auseinandersetzungen kann dann entweder zu einer hermetischen Schliessung der ›Wir‹-Kultur führen und so die »Dämonen der Differenz«, wie Georg Kohler sie nennt, herauf beschwören, oder aber, was trotz dieser reaktionären Taktiken der Ausschliessung und Verachtung des Anderen auch geschehen kann, zu einer Hybridisierung und somit Umkodierung der dominanten politischen Kultur führen. Gesellschaften, die eine lange Tradition als Einwanderungsländer haben, kennen dieses Phänomen. Die auf politischer Ebene und in der medialen Öffentlichkeit schillernden nationalistisch gefärbten Abwehrsemantiken gegen die Einwanderer und kulturell Fremden haben gerade die auf interpersonaler Ebene stattfindende Hybridisierung der Gesellschaft nicht eindämmen können. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Schweiz. In diesem Land, wo auch der Neologismus der ›Überfremdung‹ geprägt wurde, hat die 5 | Ibid.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
Abwehrreaktion gegenüber Fremden – von den Ostjuden in den 1920er über die Italiener in den 1960er Jahren bis hin zu Kosovo-Albanern, Schwarzafrikanern und Muslimen, die gegenwärtig in die Fussstapfen der ehemals bedrohlichen Fremden gepresst werden – die befürchtete, aber letztlich bereichernde kulturelle Diversifikation nicht verhindern können. Die Schweiz ist längst ›mediterranisiert‹ und zur kulturellen Selbstverständlichkeit dieses Landes gehören nicht nur kulinarische Produkte, die bis vor vierzig Jahren noch als ›unschweizerisch‹ gebrandmarkt wurden, sondern auch kulturelle Praktiken, die südlich der Alpen schon längst zum Alltag gehören. Das Trinken des Espresso an der Bar und der süssliche Duft ofenfrischer Pizza, die aus den unzähligen italienischen Restaurants die schweizerischen Strassen durchzieht, gehören genauso selbstverständlich zum Stadt- oder Dorf bild wie die schwarzgefleckten Kühe zum Bild des alpinen Idylls.6 Es geht hier jedoch nicht um eine Analyse des ›Kreolisierungsphänomens‹ und seiner Entstehungsbedingungen sowie Transformationseffekte für die jeweiligen Gesellschaftsgruppen, sondern vielmehr darum, auf die Veränderbarkeit von Kultur hinzuweisen. Sie ist weder statisch noch ein für alle Mal geschlossen, vielmehr befindet sie sich in einem permanenten Fluss der Veränderbarkeit, weil sie eine soziale Praxis darstellt, die nur über Bedeutungen funktionieren kann und so im Prozess der Sinnstiftung bestehende Bedeutungsvorräte in Frage stellen und sogar ersetzen kann. Jede Kultur ist somit diesem potentiellen Umdeutungsprozess unterworfen, der immer auch auf die politische Kultur einwirkt und hier die Grenzen zwischen ›Wir‹- und ›Ihr‹-Gruppe neu aushandelt, die bestehenden Deutungsmuster in Frage stellt oder aus einer feindlichen Haltung heraus und mittels rechtspopulistischer Semantiken, die an einen Ursprungsmythos anknüpfen, noch stärker im kollektiven Bewusstsein zu zementieren versucht. Das Spiel um die Deutungshoheit, die in der politischen Kultur ihre Sedimentierung in Form von ›shared beliefs‹, ›public codes‹ und mnemotechnischer Narrative findet, ist zumindest in seiner Potentialität immer offen und keineswegs systemisch oder gar strukturell geschlossen. Je nachdem, welche Konflikte in einer Gesellschaft auftauchen, wie sie kommunikativ in der Öffentlichkeit ausgehandelt werden, welcher Stellenwert hierbei der vernünftigen Argumentation oder der emotionalen nationalistischen Bindung zugesprochen wird und wie die Teilnahmekanäle und -möglichkeiten strukturiert sind, wird sich die bestehende Deutungskultur festigen oder verabschieden müssen. Die bis anhin verfolgte politische Theorie der Kultur, die als methodologischer Rahmen für die Begriffsdefinition von politischer Kultur vorgeschlagen wurde, hat einerseits auf die Konstitutionsbedingungen resp. -dimensionen von politischer Kultur hinweisen wollen. Politische Kultur manifestiert und reprodu6 | Ausführlicher dazu: M AIOLINO, A NGELO. Überfremdung und Mediterranisierung der Schweiz. Identitäten im Spannungsfeld. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 58, 2010. S. 177-193.
5. Ein vorläufiges Fazit
ziert sich im jeweils individuellen Selbstverständnis über die Dimensionen der Kommunikation, des Konflikts, der Institution und der Erinnerung. Sie integriert also Verständigungsprozeduren, die kommunikativ ablaufen, Bedeutung immer nur kontingent fixieren können und die somit jederzeit andere Sinngebungen hervorbringen können. Politische Kultur ist daher bereits in ihrem Modus der Konstitution umkämpft. Die dominanten Deutungs- und Handlungsmuster, die sich in einer politischen Kultur sedimentieren, sind somit immer auch das Resultat von Machtverhältnissen, aus denen die eine oder andere Deutung der Welt und des Selbst hervorgehen kann. Zur politischen Theorie der politischen Kultur gehört einerseits also die Erkenntnis, dass die an der Oberfläche und in der Empirie nachprüf baren Einstellungen und Wertorientierungen der Individuen gegenüber ihrer politischen und sozialen Einbindung immer schon machtspezifisch präformiert sind und somit immer auch schon der Kausalität des politischen Machtkampfes um die ›richtige‹ Deutung der Welt und des Selbst entspringen. Andererseits haben die zwei Annäherungsversuche darauf hinweisen wollen, dass politische Kultur wie jede andere Kultur auch von sichtbaren und unsichtbaren, weil im kollektiven Gedächtnis oder im habitualisierten Modus des gesellschaftlichen Zusammenlebens sich offenbarenden, Imperativen geprägt und strukturiert ist. Sie ist also nicht nur eine Sache der vernünftigen und argumentativen Auseinandersetzung mit der Frage, was eine gerechte und gute Gesellschaft ist und wie die hierfür notwendige politische Ordnung institutionalisiert und geordnet werden soll, sondern sie ist eben auch eine Sache der gefühlsmässigen Bindung des Einzelnen an das Gemeinwesen. Sie inkorporiert also nicht nur die vernünftige kommunikative Reflexion über die In- und Output-Prozesse eines politischen Gemeinwesens, sondern eben auch die im kollektiven Bewusstsein schlummernden Mythen, die einen intuitiven und gefühlsmässigen Zusammenhalt zwischen Individuum und Grossgruppe, die zumeist national umrahmt wird, schmiedet. Zusammenfassend gilt es also, folgende drei Punkte festzuhalten, die einerseits über die Auseinandersetzung mit den Konstitutionsbedingungen von politischer Kultur eruiert wurden und andererseits auch ihren politischen Subtext, ihre verborgene politische Dimension aufzeigen: •
Politische Kultur formiert sich und operiert über zeichenhafte, umkämpfte, kommunikative Praktiken, daraus resultierende Institutionalisierungsprozeduren und sie festigende mnemotechnische Erzählungen. Sie ist das Produkt von sinnhaft aufeinander bezogenem Handeln und rahmt zugleich das normativ erwartete soziale Handeln der Akteure ein. Nicht nur fungiert sie als Deutungskultur dessen, was sich in der Soziokultur, also in der empirisch wahrgenommenen Wirklichkeit ereignet, sie manifestiert sich zu diesem Zweck über verschiedene Dimensionen. Ihre primäre Eigenschaft liegt darin, dominante oder offizielle Deutungsangebote so zu festigen, dass diese über die Kanäle der Kommunikation, über die Institutionen der Konfliktaushandlung und über die narrative Selbstvergewisserung einer ›Wir‹-Gruppe im
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•
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jeweils individuellen Horizont problemlos eingefügt und möglichst unhinterfragt übernommen werden können. Erst daraus resultieren Einstellungen und Wertorientierungen gegenüber dem politischen System, den gesellschaftlichen Normen und den ungeschriebenen ›ways of behavior‹ wie sie für jede Gesellschaft prägend und konstituierend sind. Ihre Sinnprägungs- und Deutungsfunktion findet also über Dimensionen statt, die ihrerseits vom Verhältnis zwischen öffentlichem Raum und privatem Raum sowie vom institutionalisierten Handlungsrahmen, in welchem die faktische Kommunikation und die soziale Interaktion stattfinden, strukturiert, gewandelt oder stabilisiert werden. Mit dem Konzept der politischen Kultur, so wie es hier vorgeschlagen wird, sind im politischen Raum die kulturelle Ebene einer Gesellschaft und die darin institutionalisierten Möglichkeiten des Mach- und Sagbaren angesprochen. Politische Kultur ist das jeweils kontingente Resultat umkämpfter Bedeutungsgebungspraktiken und somit als Resultat vergangener politischer Interventionen zu ihrer Konstituierung und gegenwärtiger Politiken zu ihrer Stabilisierung zu verstehen. Sie ist somit machtförmig präformiert und in Kontingenz gefangen. Über ihre sichtbaren und unsichtbaren Imperative definiert eine jede offizielle oder offizialisierte politische Kultur die momentan dominanten und von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder als legitim empfundenen sozialen Deutungs- und Handlungsweisen, die zugleich die Eintrittshürden für Zuwanderer und heranwachsende Bürger und Bürgerinnen in die jeweils als ›richtig‹, ›gut‹ und ›gerecht‹ taxierten sozialen Handlungsnormen darstellen. Übernimmt man dieses kulturelle Regelsystem und fügt man sich ihren Spielmodi, ist soziale Inklusion die Folge. Beharrt man auf divergierenden Deutungs- und Handlungsweisen und legt so eine deviante Verhaltensweise an den Tag, führt dies zu informellen und je nach Grad der Devianz auch zu rechtlichen, also formellen Sanktionen oder aber zu Umkodierungen der herrschenden politisch-kulturellen Selbstverständnisse. Politische Kultur hat also wie jede andere Kultur auch nicht nur explizit-sichtbare und implizit-unsichtbare Sanktionskriterien und -instrumente, mit denen sie ihre Kohärenz und Stabilität wahrt, sondern auch einen konservativen Hang zur Konformität. Was lange nicht verändert wurde, findet eine Sedimentierung im kollektiven Gedächtnis und wird von den Akteuren als unumgängliches Faktum, als unhinterfragbarer sozialer ›way of behaving and thinking‹ inkorporiert und mittels Erinnerungspolitiken und Mythen reproduziert und ›naturalisiert‹. Politische Systeme, ökonomische Produktionsweisen oder kollektive Selbstverständnisse können über diese Kartographie der sichtbaren und unsichtbaren Imperative politische Kultur mit Konformität zementieren und so unhinterfragte Unterstützung seitens ihrer Akteure finden.
Wenn das Wahre das Konkrete ist, wie Hegel einst betonte, ist danach zu fragen, was dies dann für die politische Kultur bedeutet. Mit der in den bisherigen Aus-
5. Ein vorläufiges Fazit
führungen schon mehrfach angesprochenen Zirkularität zwischen den Dimensionen von politischer Kultur und den hiervor konstituierten Deutungsmustern, die, sobald sie in einer Gesellschaft dominant werden, auch einen stabilisierenden Rückkopplungseffekt auf die herrschenden Selbst- und Weltverständnisse generieren, soll darauf hingewiesen werden, dass die in der öffentlichen Diskussion artikulierten Deutungsrahmen der sozialen Wirklichkeit und die hierfür konstitutiven und symbolisch behafteteten Welt- und Selbstverständnisse zugleich die reflexiven Momente darstellen, an denen sich die Gestaltung der politischen Kultur ereignet. Insofern erweist sich politische Kultur als eine epistemologische Aufstellung von Selbst- und Weltverständnissen, die durch die von ihr generierten und mit Wahrheit und Richtigkeit oder zumindest mit hoher und legitim anerkannter Plausibilität sanktionierten Praktiken auf sich selber zurückwirkt. Diese Erkenntnis weist darauf hin, dass politische Kultur nicht ein für alle Mal festgeschrieben ist, dass sie aufgrund unterschiedlicher Interventionen in den unterschiedlichen Dimensionen auch ein ständiges Veränderungspotential aufweist und dass die jeweils dominante Deutungshoheit der Politik und der Kultur eben auch über Praktiken der öffentlich artikulierten Gegenerinnerung oder Kritik neu formiert und kodiert werden kann. Die Wahrheit der politischen Kultur, um erneut Hegels Diktum zu bemühen, findet sich also nicht in der blossen empirischen Erscheinung von Meinungsumfragen oder Einstellungsevaluationen der Bevölkerung zum politischen System. Ihr Konkretes liegt vielmehr hinter dem Augenscheinlichen verborgen und operiert über Taktiken der Bewusstseinsgestaltung, damit bestimmte Weisen der Selbst- und Weltdeutung in einer Gesellschaft dominant gehalten werden können und andere nicht. In der Reproduktion der politischen Kultur sind also kulturell produzierende, somit auch verändernde Prozesse inkorporiert, die auf die Institutionen und politischen Deutungs- und Handlungsrahmen einer Gesellschaft einwirken. Die dominante politische Kultur ist damit nicht strukturell determiniert und wird nicht von nur einer gesellschaftlichen Gruppe beherrscht. Vielmehr stellt sie ein Reservoir an Bedeutungen, Deutungsmustern und Verhaltensweisen zur Verfügung, die dadurch nicht nur die Sanktionierung devianter Verhaltensweisen, sondern eben auch die unhinterfragte Übernahme dieser kulturell kodierten sozialen Praktiken ermöglicht. In der Analyse des Konzepts der politischen Kultur geht es also nicht allein um die Frage, ob ein politisches System – aber eben auch die hierdurch gestaltete Wirtschaftsform sowie die soziokulturellen Interaktionsge- und verbote und die dadurch stabilisierten kollektiven Identitäten – von der politischen Gesellschaft gestützt wird, sondern vor allem darum, aufgrund welcher Sinn- und Deutungsrahmen diese Unterstützung gewährt oder verweigert wird. Politische Kultur, so liesse sich als ein erstes Fazit formulieren, ist das kollektiv bearbeitete Bewusstseinsfeld einer Gruppe oder Nation, in welchem bestimmte Bedeutungen der Welt und des Selbst mit Anspruch auf Legitimität so artikuliert werden, dass nicht nur die Erzählung der eigenen ›Wir‹-Gruppe über
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die Zeit für sinnvoll gehalten werden kann, sondern auch die politische Ordnung nach Massgabe der dominanten Narrationen und der ihnen zugrundeliegenden Deutungs- und Handlungsmuster gestaltet wird. Sie kartographiert anhand von sichtbaren und unsichtbaren Imperativen, die kommunikativ in der Öffentlichkeit vermittelt, ausgehandelt werden und im kollektiven Bewusstsein sedimentiert sind, die Sag- und Machbarkeiten innerhalb einer Gesellschaft und somit auch die Deutungsrahmen, anhand welcher die politische Ordnung – samt ihrer Akteure, Institutionen sowie Ge- und Verbote – beurteilt wird. Ein solches Fazit bleibt aber insofern unbefriedigend, als es die Wechselwirkungen von Politik und Kultur zwar hervorschimmern lässt, aber den Ort ihrer Wechselwirkung noch unzureichend erklärt. Im folgenden Kapitel wird es also darum gehen, diesem ersten Fazit mehr Kontur und Substanz zu verleihen, indem das Konzept der politischen Kultur mit dem Ort seiner Erscheinung und Wirksamkeit – der Öffentlichkeit – und dem hier stattfindenden expliziten oder impliziten ›Spiel‹ von Konsens und Zwang untersucht wird.
6. Die Kultur des Öffentlichen
Politische Kultur, so lässt sich die Phänomenologie dieses Konzepts auf den Punkt bringen, ist ein Phänomen der Öffentlichkeit. Hier verknüpfen sich die konstitutiven Dimensionen zu einer Narration über die kollektive Identität und hier offenbaren sich auch die sichtbaren und unsichtbaren Imperative, die den Rahmen für das Sag- und Machbare konturieren. Kommunikation, Konflikt, Institutionalisierung und Erinnerung sind Dimensionen einer jeden politischen Kultur, die, damit ihre Deutungen der Welt und des Selbst auf legitime Zustimmung seitens ihrer Akteure stossen können, öffentlich artikuliert werden müssen. Öffentlichkeit wird gemeinhin als der dritte Bereich eines politisch verfassten Gemeinwesens verstanden, das neben den Bereichen Staat und Markt, respektive Privatsphäre aufscheint. In der Öffentlichkeit werden also mittels eines für alle prinzipiell offenen Kommunikationsraumes diejenigen kulturellen Kodes vermittelt und ausgehandelt, die eine politische Kultur und ihre dominanten Deutungs- und Handlungsmuster nicht nur spiegeln, sondern eventuell sogar verändern können. In erklärender Absicht lässt sich also sagen, dass politische Kultur insofern ein Phänomen des Öffentlichen ist, als die Öffentlichkeit einen von vielen geteilten Raum darstellt, »in welchem einander fremde Individuen kollektiv gültige Wertvorstellungen, Bedürfnisbewertungen, Traditionsinterpretationen, Wir-Intentionen«1 teilen und so ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Doch ist zunächst zu klären, was Öffentlichkeit bedeutet. Hier kann der Hinweis auf Hannah Arendt eine erste Antwort ermöglichen. In ihrer »Vita activa« macht sie auf die grundlegende Spezifik von Öffentlichkeit für eine jede politisch verfasste Gemeinschaft aufmerksam. Ihrer Meinung nach bildet die Öffentlichkeit nicht nur den Raum der Diskussion, sondern auch die Ermöglichungsbedingung für demokratische Selbstverständigungsprozeduren. In ihrem Rückgriff auf die antike Philosophie betont Arendt, dass soziales Handeln sowohl im Bereich des Haushalts, also im ›oikos‹, als auch im Raum des Politischen, also in der ›Polis‹ stattfindet. 1 | K OHLER, G EORG . Öffentlichkeit. In: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Freiburg i.Br.: Karl Alber 2011. S. 1664.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus »Die einfache Unterscheidung zwischen privat und öffentlich entspricht dem Bereich des Haushalts auf der einen, dem Raum des Politischen auf der anderen Seite, und diese Bereiche haben als unterschiedene, genau voneinander getrennte Einheiten zum mindesten seit Beginn des antiken Stadt-Staates existiert.« 2
Wesentlich hierbei ist aber die typologische Unterscheidung, die Arendt zwischen diesen zwei Bereichen des sozialen Handelns vorschlägt. In ihrer Analyse dieser zwei Einheiten betont sie, dass die differentia specifica darin liegt, dass die Sphäre des Haushalts eine ist, in der solche Tätigkeiten stattfinden, die der Erhaltung des Lebens dienen, während in der Polis die Handlungen auf eine ›allen gemeinsame Welt‹ gerichtet sind. Der Bereich des Privaten zeichnete sich also dadurch aus, dass das Zusammenleben in ihm vornehmlich von den menschlichen Bedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten diktiert war, wohingegen der Raum der Polis das Reich der Freiheit war, in welchem es um die Fragen des allgemeinen und eben nicht mehr bloss privaten Wohles ging. Natürlich präzisiert Arendt, dass der Bezug zwischen diesen beiden Sphären darin lag, »dass die Beherrschung der Lebensnotwendigkeiten innerhalb eines Haushaltes die Bedingungen für die Freiheit in der Polis darstellte.«3 Nicht nur konnten also nur diejenigen sich aktiv an der Gestaltung der Polis beteiligen und sich somit in der Öffentlichkeit politisch betätigen, die genügend wohlhabend waren, um sich nicht mehr um das private Wohlergehen kümmern zu müssen, sondern – und vielleicht wichtiger noch – die nicht egoistische politische Teilnahme an der Polis wurde als eine verstanden, die nur dann die privaten Egoismen vernachlässigen würde und somit das Wohl der Polis ins Blickfeld rücken würden, wenn die Akteure auf eine ausreichend hohe materielle Versorgung zurückgreifen konnten. Polis-Bürger waren tatsächlich nur wohlhabende Griechen, wohingegen die Armen, weil ihnen die blosse Verfolgung egoistischer Ziele nachgesagt und ausserdem unterstellt wurde, sie könnten sich im Namen der eigenen Bereicherung von anderen korrumpieren lassen, ausgeschlossen wurden. In modernen Demokratien hat sich der lange Weg zur allgemeinen politischen Beteiligung mittlerweile durchgesetzt. Heute stehen wir zumindest in formeller Hinsicht nicht mehr vor dieser Trennung. Die Teilnahme an der Öffentlichkeit und auch die politischen Teilhabechancen sind in modernen Demokratien nicht mehr vom Wohlstand des privaten Haushaltes abhängig, was aber nicht heisst, dass die ökonomische Macht deswegen keine Rolle mehr spielen würde. Im Gegenteil, gerade wenn es um Wahlkämpfe – an denen potentiell alle Staatsbürger und Staatsbürgerinnen unabhängig ihres Reichtums beteiligt sein können – oder um die Realisierung privater Interessen durch politische Verfah2 | A RENDT, H ANNAH . Vita activa oder Vom tätigen Leben. Zürich. München: Piper 2005. S. 38. 3 | A RENDT, H ANNAH . Vita activa oder Vom tätigen Leben. München. Zürich: Piper 2005. S. 38.
6. Die Kultur des Öffentlichen
ren geht, ist sie ein nicht unwesentlicher Erfolgsfaktor. Die ökonomische Macht ist weiterhin im Spiel, nur dient sie nicht mehr als offizielle und gesetzlich verankerte Schranke, an der diejenigen gemessen werden, die am politischen Diskurs teilnehmen dürfen und die das nicht können. Arendts Rückgriff auf die antike Polis dient jedoch vorerst dazu, den Raum des Öffentlichen als einen Raum der allgemeinverbindlichen Kommunikation zu konturieren. Hier entwickelt sich soziales Handeln, dessen Zielpunkte die Allgemeinheit betreffen und nicht bloss das Private. Die Öffentlichkeit selbst ist aber wiederum ein Raum, in welchem bestimmte Dinge getan oder geäussert werden dürfen und andere nicht. Schon die berühmt gewordene Angewohnheit des Diogenes von Sinope, mitten auf dem Athener Marktplatz zu masturbieren – was vom athenischen Publikum als anstössig und verwerflich empfunden wurde –, zeigt, dass in einem politisch geordneten Gemeinwesen diejenige Sphäre, in welcher mehrere mitunter fremde Menschen zusammentreffen, eine ist, die von bestimmten wünschenswerten oder zu unterlassenden Verhaltensweisen geprägt ist. Der öffentliche Raum ist somit nicht ein inhaltsleerer Raum, in den automatisch dann eingetreten wird, sobald man die private Sphäre verlassen hat. Vielmehr ist er ein Raum, der immer auch bestimmte Regeln und Sanktionen definiert und in welchem man nach Massgabe dieser Richtlinien auch von den anderen wahrgenommen, beurteilt oder im Falle eines anstössigen devianten Verhaltens ignoriert oder gar ausgeschlossen werden kann. »Viele Gesellschaften, darunter bemerkenswerterweise die meisten heutigen westeuropäischen Gesellschaften [sind] stillschweigend von einem Prinzip geleitet, welches besagt, wie man sich auf öffentlichen Plätzen zu verhalten hat, das so genannte Prinzip der ›zivilen Unauffälligkeit‹ oder ›Nichtbeachtbarkeit‹. Ein öffentlicher Platz ist ein Ort, wo ich erwarten kann, von jedem, der zufällig da ist, beobachtet zu werden, das heisst von Leuten, die ich nicht persönlich kenne und die nicht notwendig schon ihr ausdrückliches Einverständnis dazu gegeben haben, in einen engen Kontakt mit mir zu treten.« 4
Raimond Geuss macht diesbezüglich auf zwei Dinge aufmerksam, die im Zusammenhang mit der Ausgestaltung von Öffentlichkeit und ihrer Relevanz für die politisch-kulturelle Auseinandersetzung zwischen Gesellschaftsmitgliedern stehen und einer näheren Betrachtung wert sind. •
Erstens ist Öffentlichkeit als ein Raum, der prinzipiell und potentiell allen offen steht, immer auch ein Raum, in dem der Andere – in erklärender Absicht – ertragen werden muss und – aus normativer Sicht – eben auch ertragen werden soll. Ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen beruht ja gerade auf der öffentlich ausgetragenen Debatte über die richtige und gute Ordnung.
4 | G EUSS, R AIMOND. Privatheit. Eine Genealogie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. S. 34.
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•
Entsprechend ist es auf die Beteiligung möglichst vieler Individuen angewiesen, die im öffentlichen Raum an dieser Auseinandersetzung partizipieren, sich einbringen und so Bestätigung oder Kritik an den vorherrschenden politischen und sozialen Bedingungen oder aber auch an den von diesen erzeugten und sie zugleich stabilisierenden Deutungs- und Handlungsmustern üben. Demokratie beruht also auf der öffentlichen kommunikativen Auseinandersetzung über das richtige und gute Leben in einer politisch geordneten Gesellschaft. Sie ist eine Staatsform, die zu ihrem eigenen Fortbestehen auf die Aufrechterhaltung einer offenen diskursiven Auseinandersetzung über unterschiedliche Gruppeninteressen angewiesen ist. Wenn die antike Polis – in der der öffentliche Raum, die ›Agorà‹, der Ort der Diskussion über allgemeinverbindliche Interessen war – in den Augen Jakob Burckhardts bloss die »schwatzhafteste aller Staatsformen« war, so liesse sich für die moderne Demokratie zwar dasselbe sagen, aber ins positive Gegenteil gewendet. Gerade in einer möglichst für alle Gesellschaftsmitglieder öffentlichen Sphäre der Kommunikation liegt der Kern der demokratischen Auseinandersetzung und Systemstabilisierung, da es ja gerade zum Grundideal der aufgeklärten Demokratie gehört, dass diejenigen, die von den Gesetzen betroffen sind, auch diejenigen sein sollen, die sie mittels des öffentlich ausgetragenen Streits um die besseren Argumente auch gestalten. Zweitens weist Geuss darauf hin, dass die Öffentlichkeit immer auch ein Raum ist, der sozial konstruiert ist und entsprechend seine Grenzen gegenüber der Sphäre des Privaten einschränken oder ausweiten sowie die Zutrittsberechtigung immer wieder auch vereinfachen oder erschweren kann. Der öffentliche Raum ist somit immer ein – über den Einfluss der politischen Kultur mitsamt den Medien als funktionales Instrument ihrer Veröffentlichung – öffentlich konstruierter Raum. Je nach dominanten Deutungs- und Handlungsmustern, die in der vorherrschenden politischen Kultur sedimentiert sind und im kollektiven Bewusstsein über ihre Medialisierung Eingang finden, kann der Eintritt in den öffentlichen Raum erschwert oder gar verhindert werden. Kleidungsvorschriften, Symbole oder auch Verhaltensweisen können zum Kriterium des Einlasses oder des Ausschlusses werden, sobald sie über die öffentlich ausgetragene Meinungsfindung rechtliche Sanktionierung finden. Dabei bilden die in der politischen Kultur dominant gewordenen Deutungs- und Handlungsmuster sowie die hiervon mit dem Anspruch auf ›Richtigkeit‹ generierten Diskurse über das Selbst, das soziale Umfeld und die jeweilige ›Wir‹-Identität notwendige, aber nicht unbedingt hinreichende Vorbedingungen für die Definition der In-Out-Kriterien bezüglich des öffentlichen Auftretens und Sprechens. Die ›Burka-Debatten‹ und die Auseinandersetzungen über die Berechtigung von religiösen oder politischen Symbolen in öffentlichen Räumen, wie sie die öffentliche Diskussion in den westlichen Ländern während der letzten Jahre begleitet und mancherorts auch dominiert hat, genügen hier als Beispiele.
6. Die Kultur des Öffentlichen
Die ›öffentliche Meinung‹ steht zwar immer unter der Beeinflussbarkeit des gezielten Medieneinsatzes, der Informationen und Stimmungskampagnen, die eine Interessensgruppe etwa aufgrund weitreichender finanzieller, politischer und lobbyistischer Macht im Gegensatz zu anderen dominant in der Öffentlichkeit platzieren kann. Dadurch können die Neigungen der meisten Leute, emotional stark besetzten Vorurteilen eher zu trauen als rationalen Zweifeln, verstärkt werden und so auf die hermetische Verflechtung von politischer Kultur und Mehrheitskultur zurückwirken.5 Öffentlichkeit als Raum der argumentativen Auseinandersetzung über die Richtlinien und Ordnungsvorstellungen, die sich für ein politisch verfasstes Gemeinwesen in rechtlicher Sanktionierung niederschlagen sollen, bietet jedoch immer auch die Möglichkeit, sofern der diskursive, physische und auch gruppenspezifische Zugang in der Öffentlichkeit möglichst offen gehalten wird, zur räsonierenden, vernünftigen und kritikbasierten Diskussion, die, solange keine äusseren oder inneren Zwänge den öffentlichen Auftritt von Beginn an in eine vorurteilbeladene und kompromisslos ausgerichtete Sprechposition setzen, auch Überzeugungsresultate erreichen kann, die auf rationalen und vernünftigen Gründe und weniger auf gefühlsmässigen Bindungen mit einem mythisch behafteten kollektiven Selbstbild basieren. Normativ-konstruktiv lässt sich also durchaus das Bild einer Öffentlichkeit skizzieren, das für funktionierende freiheitliche Demokratien gelten soll, welches aber zu der empirisch-analytischen Auseinandersetzung mit den faktischen Teilnahmechancen an der öffentlichen Diskussion oftmals in Kontrast steht. Dabei versteht es sich von selbst, dass eine normative Definition dessen, was Öffentlichkeit sein soll und was sie auch leisten können müsste, unschwer vom Blick in die empirische Wirklichkeit desavouiert werden kann. »Man muss nur sehr hohe (oder ungeklärte) Prätentionen in den Messbegriff einbauen, um dafür zu sorgen, dass die ›tatsächlich reale‹ Öffentlichkeit die ›normativen‹ Erwartungen von Philosophen als idealistische Utopien entlarvt. In der Tat ist es ja nicht schwierig, allen Vorstellungen einer rousseauistischen Polisdemokratie das deskriptiv zu bestätigende Bild einer manipulierbaren, flüchtigen Stimmungen unterworfenen Massengesellschaft entgegenzuhalten.«6 Dennoch bleibt eine solche idealistische Definition für eine demokratietheoretische Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Demokratien und der sie fundierenden politischen Kultur weiterhin wertvoll, weil sie – trotz ihres idealisierten Bildes – immer auch eine kritische Kontrastfolie zur empirischen Wirklichkeit bilden kann und überdies auch das Augenmerk auf das politisch-kulturelle Substrat zu lenken erlaubt, welches den öffentlichen Diskussionen zugrunde liegt. Einen fruchtbaren Zugang zu dieser Problematik bietet Jürgen Habermas in seinem Werk »Faktizität und Geltung«. »Öffentlichkeit«, so Habermas, »ist zwar ein ebenso elementares gesellschaftli5 | Ausführlicher hierzu: K OHLER, G EORG . Öffentlichkeit. In: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Freiburg i.Br.: Karl Alber 2011. S. 1669f. 6 | Ibid. S. 1669.
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ches Phänomen wie Handlung, Aktor, Gruppe oder Kollektiv; aber es entzieht sich den herkömmlichen Begriffen für soziale Ordnung. Öffentlichkeit lässt sich nicht als Institution und gewiss nicht als Organisation begreifen; sie ist selbst kein Normengefüge mit Kompetenz- und Rollendifferenzierung, Mitgliedschaftsregelung usw. Ebensowenig stellt sie ein System dar; sie erlaubt zwar interne Grenzziehungen, ist aber nach aussen hin durch offene, durchlässige und verschiebbare Horizonte gekennzeichnet. Die Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten.«7 Habermas betont also, dass Öffentlichkeit per se kein normatives System darstellt, dass sie jedoch der Ort ist, an dem Normen und Kriterien für die Zu- und Ausgänge der öffentlichen diskursiven Partizipation definiert und so auf rechtliche Sanktionierung gedrängt werden. Die jeweils sich daraus ergebende öffentliche Meinung gestaltet rückwirkend auch die Räume, relevanten Themen und Zugangsbedingungen, die in der Öffentlichkeit darüber entscheiden, wer, wo und was mit Anspruch auf Zustimmung sagen darf. Gleichzeitig ist aber die Öffentlichkeit eben auch kein geschlossener Raum, dessen Grenzen ein für alle Mal festgesetzt sind. Sie ist »durch offene, durchlässige und verschiebbare Horizonte gekennzeichnet« und erweist sich so vielmehr als eine Sphäre, die im Gegensatz zur Raummetapher die Offenheit und Ausweitung oder Einschränkung ihrer Grenzen impliziert. Damit will Habermas die für die Öffentlichkeit konstitutive und immer potentiell gegebene Möglichkeit ansprechen, dass auch solche Akteure und solche Semantiken auftreten können, mit denen zuvor nicht gerechnet wurde. Die dominanten Deutungsmuster der sozialen Realität und die sich hieraus ergebenden politischen Einstellungen und Wertorientierungen mögen sich zwar in der Öffentlichkeit reproduzieren, können hier aber genauso gut auch herausgefordert werden und durch neue und anders kodierte Deutungen soweit verändert werden, dass sich dieser Wandel auch in der rechtlichen Sanktionierung festsetzen kann. Habermas geht hierbei von einer geschichtlichen Herleitung der Hervorbringung von Öffentlichkeit und ihrer Relevanz für die Demokratisierung westlicher Gesellschaften aus. In seinem früheren Werk »Strukturwandel der Öffentlichkeit« weist Habermas auf die nicht unwesentliche Erkenntnis hin, dass Öffentlichkeit als Ort der politischen Auseinandersetzung über allgemeine und die persönlichen Interessen transzendierende Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erst durch die Verwandlung von Kultur in Warenform etabliert werden konnte.
7 | H ABERMAS, J ÜRGEN . Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. S. 435f.
6. Die Kultur des Öffentlichen »In dem Masse aber, in dem die philosophischen und die literarischen Werke, Kunstwerke überhaupt, für den Markt hergestellt und durch ihn vermittelt werden, ähneln sich die Kulturgüter jener Art Informationen an: als Waren werden sie im Prinzip allgemein zugänglich. Sie bleiben nicht länger Bestandteile der Repräsentation kirchlicher wie höfischer Öffentlichkeit; genau das ist mit dem Verlust ihrer Aura, mit der Profanierung ihres einst sakramentalen Charakters gemeint. Die Privatleute, denen das Werk als Ware zugänglich wird, profanieren es, indem sie autonom, auf dem Wege der rationellen Verständigung untereinander, seinen Sinn suchen, bereden und damit aussprechen müssen, was eben in der Unausgesprochenheit solange autoritative Kraft hatte entfalten können.« 8
Erst die Warenform von Kulturgütern ermöglicht überhaupt die Etablierung einer diskussionsfähigen Kultur und somit auch die Veröffentlichung von Meinungen eines zumindest potentiell unabgeschlossenen Publikums. Somit werden gemäss Habermas die diskutablen Fragen ›allgemein‹ und zwar nicht nur im Sinne ihrer Bedeutsamkeit, sondern auch im Sinne der Zugänglichkeit – alle müssen dazugehören können.9 Habermas ist sich natürlich dessen bewusst, dass gerade für diejenige Zeit, die er im Visier hat – das 18. Jahrhundert – die Anzahl der Literaten gegenüber den Analphabeten nicht nur eine krasse Minderheit darstellte, sondern auch die Trennung zwischen wohlhabenden Bürgern und pauperisierter Masse markierte.10 Was Habermas dagegen ansprechen möchte, ist die Idee, dass durch die Möglichkeit der publizitätswirksamen Veröffentlichung von Meinungen ein Diskursraum entstehen kann, in dem die vernünftige Auseinandersetzung über die politischen, sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen ohne Furcht vor persönlicher Verfolgung und somit im Schutz der Öffentlichkeit stattfinden kann. Habermas Denkbewegung knüpft hier offenbar an Kants Konzept des »Publikums« an. In der »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von 1784 betont der Königsberger Philosoph Folgendes: »Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten … Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich, ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.« 11
Kant machte damit auf zwei Aspekte aufmerksam, die seiner Ansicht nach unabänderlich für das Projekt der Aufklärung waren: einerseits die Idee, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung – auch wenn sie nur zwischen Literaten und 8 | H ABERMAS, J ÜRGEN . Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt a.M. Suhrkamp 1990. S. 97f. 9 | Ibid. S. 98. 10 | Ibid. S. 99. 11 | K ANT, I MMANUEL . Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). In: D ERS. Werke in 12 Bänden. Band XI. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. S. 54.
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Intellektuellen stattfindet – die jeweiligen Argumente vor dem Hintergrund eines Publikums ihre Überzeugungskraft entfalten müssen und daher andererseits auf die vernünftige Einsicht seitens des öffentlichen Publikums stossen müssen, um überhaupt Zustimmung gewinnen zu können. Die Befreiung von unhinterfragten Deutungen des Selbst und der Welt, von intuitiv übernommenen sozialen Praktiken und den hiervon transportierten Traditionen, die alle in der jeweiligen politischen Kultur sedimentiert sind, wird gemäss Kant nicht nur in der privaten Selbstoffenheit im stillen Studierkämmerlein erreicht, sondern und vor allem auch öffentlich. Sein »sapere aude!«, dieses primäre Postulat der Aufklärung, welches den Einzelnen dazu ermutigt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, bedarf also neben der kritischen Reflexion im stillen ›Bei-sich-Sein‹ auch der öffentlichen Artikulation. Hierfür braucht es aber zweitens die politisch garantierten Ermöglichungsbedingungen der Meinungsund Redefreiheit. »Ohne sie wäre ja gar nicht möglich, was Kant zuallererst erhofft und was für ihn den eigentlichen Motor des Vernunftfortschritts bildet: die Selbstaufklärung des ›Publikums‹.«12 Im selben Fahrwasser des aufgeklärten Denkens betont auch Jürgen Habermas die Relevanz der publikumswirksamen Öffentlichkeit und der möglichst offenen Zugangsmöglichkeiten zu dieser, damit die diskursiven Auseinandersetzungen vor aller Augen und Ohren möglichst über die Kriterien der Vernünftigkeit und nicht der Privilegien oder Machteinflüsse von einem ebenso möglichst unkorrumpierten und räsonierenden Publikum sanktioniert werden. Trotz des ideal-normativen Gehalts dieses Öffentlichkeitsmodells ist sich Habermas der empirischen Tatsache bewusst, dass nie alle dieselben Chancen haben, sich Gehör zu verschaffen und so das Einflusspotential der Öffentlichkeit zu nutzen, »aber der … Einfluss, den die Akteure über öffentliche Kommunikation gewinnen, muss sich letztlich auf die Resonanz, und zwar auf die Zustimmung eines egalitär zusammengesetzten Laienpublikums stützen.«13
Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit, das er vor dem Erbe Kants ausbreitet, operiert auf der unausgesprochenen Basis einer Herrschafts- und Machtkritik oder zumindest -eindämmung. In der Publizität der jeweiligen Meinungen und Argumente sichtet Habermas den privilegierten Zugang für eine kommunikative Auseinandersetzung über die bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Zum Begriff der Publizität, wie ihn Habermas hier in Anlehnung an Kant vertritt, gehört das Element der Machtkritik und -rationalisierung, das ein ›räsonierendes Publikum‹ hervorbringen kann, welches zwischen dem Öffentlichen der geäusserten 12 | K OHLER, G EORG . Öffentlichkeit. In: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Freiburg i.Br.: Karl Alber 2011. S. 1668. 13 | H ABERMAS, J ÜRGEN . Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. S. 440.
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Meinungen und Argumente und dem Öffentlichen der öffentlichen Gewalt, also gewissermassen dem politischen Apparat, vermittelt und so die Richtung und Orientierung der politisch-kulturellen Rahmung einer Gesellschaft vorspuren kann. In der Sphäre der Publizität findet also die Selektion, Formulierung und Gewichtung von Themen statt, die für die politische Bearbeitung auf institutioneller Ebene kompatibel gemacht werden. Insofern ist Publizität immer auch ein Element der kommunikativen Machtbildung. In ihr und durch sie wird nicht nur das ›Bestehende‹ einer Gesellschaft diskutiert und kritisiert, sondern eben auch das ›Mögliche‹ formuliert und in eine entsprechende Richtung gelenkt. Hierbei ist das Publikum der Publizität nicht einheitlich oder homogen konstituiert, sondern fragmentiert. Gerade in den gegenwärtigen hochindustrialisierten und kulturell gemischten Gesellschaften, wie sie für die modernen Demokratien des Westens exemplarisch sind, finden sich in der Sphäre der Publizität verschiedene Deutungsmuster der Welt und des Selbst und somit auch unterschiedliche Publika, die diese artikulieren und sich von diesen angesprochen fühlen. Entsprechend ist es wichtig, unter dem Begriff des ›Publikums‹ ein fragmentiertes Feld zu verstehen, das von verschiedenen Akteuren, Interessengruppen und medialen Funktionsträgern bevölkert ist. Das Publikum ist vielmehr eine vorgestellte Gemeinschaft im Sinne Benedict Andersons.14 Es ist eine ›imagined community‹, die in ihrer Größe und ihren Interessen variieren kann und die im Sinne einer dem ›gesunden Menschenverstand‹ und dem ›Volk‹ verpflichteten Audienz in der Öffentlichkeit auch ›angerufen‹ werden kann. In der Öffentlichkeit können also neben der gegebenen Möglichkeit einer räsonierenden Kommunikation über die ›gute‹ und ›gerechte‹ Ordnung auch solche Rhetoriken Platz finden, die eine ›imaginierte Gemeinschaft‹ über Exklusionssemantiken anrufen und zugleich zu konstituieren versuchen. Obwohl Menschen multiple Identitäten in sich vereinigen, können dominant gewordene Diskurse ganz bestimmte ›Identitäten‹ ansprechen und aktivieren und so zugleich die Deutungsmuster des Selbst und der Welt in der politischen Kultur rückkoppelnd festigen. Öffentlichkeit birgt also die Möglichkeit der Kritik, aber auch diejenige der ideologischen Schliessung von Diskursen, Identitäten und Deutungsmustern. Je nachdem, wie die politische Kultur kodiert ist, welche Werte in ihr transportiert und dominant werden, kann das räsonierende Publikum oder eine – wie auch immer motivierte – exklusive Gruppe den Ton angeben und so die Resonanz der öffentlichen Debatten auf den vernünftigen Austausch von Argumenten oder auf die Schliessung des diskursiven Feldes lenken. Das bedeutet jedoch nicht, dass keine Veränderung der jeweils dominanten Diskurse möglich sei, sondern bloss, dass die Sphäre der Öffentlichkeit eben auch von Rhetoriken vereinnahmt werden kann, die nicht nur die dominant gewordene 14 | Vgl. A NDERSON, B ENEDICT. Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso 1983.
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›imaginierte‹ ›Wir‹-Kultur mit der politischen Kultur verschränken und so die räsonierende Auseinandersetzung erschweren oder gar verunmöglichen, sondern auch, dass in der Öffentlichkeit immer auch ideologische Positionen die Macht über die ›richtigen‹ Deutungs- und Handlungsmuster übernehmen. Wer zum Beispiel die dominanten Verhaltens- und Deutungsmuster nicht dekodieren kann und sich somit ausserhalb der politisch-kulturell gefestigten Räume des Sag- und Machbaren befindet, wird nicht nur identifizierbar, sondern ihm droht auch der Ausschluss. Letztlich bedarf ja auch die räsonierende Kritik der bestehenden politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse einer Gesellschaft zunächst ein Verstehen-Wollen ihrer zugrundeliegenden und sie stabilisierenden Deutungen, der dadurch gefestigten Selbst- und Weltverständnisse und einer selbstkritischen Konfrontation mit den eigenen Selbst- und Weltbilder, bevor überhaupt eine konstruktive und vernünftige Kritik geäussert werden kann – also eine Ideologiekritik einsetzt. Ein blosses öffentliches Vorpreschen mit unreflektierten und an den bestehenden politisch-kulturell gefestigten Deutungen nicht gemessenen Aussagen würde bestenfalls verständnisloses Kopfschütteln und schlimmstenfalls den Ausschluss aus der publizitätswirksamen Diskussion provozieren. Begann die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Öffentlichkeit anhand der Unterscheidung von privaten und öffentlichen Räumen, hat sie sich auf die machtspezifischen Aspekte der kommunikativen Auseinandersetzung und der dieser zugrundeliegenden und von den politisch-kulturell gefestigten Deutungen der Welt und des Selbst transportierten Sanktionen über die Sag- und Machbarkeiten in der Öffentlichkeit erweitert. Dabei hat sich gezeigt, dass die zwar potentiell gegebene Möglichkeit der räsonierenden Kommunikation ideologisch vereinnahmt und so das Publikum immer auch als exklusive ›vorgestellte Gemeinschaft‹ angerufen werden kann. Die Potentialität der offenen Auseinandersetzung, die das Konzept der Öffentlichkeit auszeichnet, steht also unter der permanenten Bedrohung einer Schliessung, sobald politische Kultur auf Mythen, Vorstellungen und Exklusivitäten einer Mehrheitskultur eingeschränkt wird. Politische Kultur erweist sich so als ein Konzept, das immer auch das jeweilige kontingente Resultat vergangener politischer Kämpfe und kommunikativer Auseinandersetzungen über die ›richtige‹ Deutung der Welt und des Selbst ist. In der Öffentlichkeit manifestieren sich die Dimensionen der politischen Kultur wie ihre dominant gewordenen Deutungsmuster der ›Realität‹, und hier werden sie auch auf die Probe gestellt, diskutiert und entweder neu ausgehandelt oder bestätigt. Kultur ist also immer ein politisches Faktum und insbesondere ist dies politische Kultur: da sie in engem Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft steht, jedoch in ihrer Ausrichtung explizit auf das politische und soziale Ordnungsgefüge eines Gemeinwesens zielt, ist sie sozusagen natura suae politisch. Im Konzept der politischen Kultur, in ihrer Wirkungsweise und in ihren dimensionalen Manifestationsformen kreuzen sich immer wieder die Sphären der Politik und der Kultur, hier gehen sie symbiotische Verflechtungen ein und kodieren so die sozialen, politischen und kulturellen Handlungsweisen der
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Gesellschaftsmitglieder. Hinter jeder Kultur steckt somit eine politische Theorie, durch welche die kulturellen Erscheinungen und Phänomene mit dem politisch erkämpften Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit auch rechtlich oder gesellschaftlich, also mittels ›ungeschriebener Gesetzte‹, institutionalisiert und so über die Zeit in Erinnerung gerufen werden können, damit immer wieder auch die den sedimentierten Kodes einer politischen Kultur äquivalenten Dechiffrierungen reproduziert und mit sinnvoller Bedeutung stabil gehalten werden können. Öffentlichkeit ist also ein Feld, in dem Bedeutungen und Handlungsweisen mit dem Anspruch auf ›Richtigkeit‹ umkämpft und kommunikativ stabilisiert werden. Als Phänomen des Öffentlichen bildet politische Kultur diejenige Schaltstelle, in welcher diese Bedeutungen und Handlungsweisen in exklusive Deutungsmuster des Selbst und der Welt sedimentiert, artikuliert und mittels der für jede politische Kultur konstitutiven Dimensionen der Kommunikation, des Konflikts, der Institutionalisierung und der Erinnerung auf Dauer gestellt werden und so reflexiv und rückkoppelnd auf das politische System, auf die soziale Ordnung und auf das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft einwirken und hier Sinn- und Orientierungsmuster stabilisieren und reproduzieren. Politische Kultur offenbart sich in der Öffentlichkeit als ein Deutungsmuster des Selbst und der Welt, das kollektiv erzeugt und stabilisiert wird, sich jedoch in den individuellen Sinnhorizont einfügt und hier mit der Legitimation des ›Richtigen‹ das Denken und Handeln nach Massgabe der dominanten Deutungen ausrichtet. In ihrem Verborgenen bleiben jedoch die reflexiven Verschränkungen zwischen einer politisierten Kultur und einer kulturalisierten Politik immanente Momente ihrer Konstitution. Gerade ein kritischer Blick auf das demokratische Selbstverständnis, wie es sich spätestens seit der französischen Revolution durchgesetzt hat, ermöglicht einen informativen Zugang zu diesem Amalgam von Politik und Kultur. An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert geschehen in Anlehnung an die zwei grossen europäischen Revolutionen tiefgreifende Veränderungen für das Verhältnis des einzelnen Individuums zum staatlichen Apparat. Die glorreiche Revolution in England hatte zur Herausbildung einer rechtmässigen Opposition geführt. Der politisch Andersdenkende und um die Macht Konkurrierende wurde nicht mehr als vernichtenswerter Feind betrachtet, sondern als legitimer Gegner im Kampf um die politische Herrschaft. Dies öffnete den Weg zur parlamentarischen Institutionalisierung politischer Auseinandersetzungen, rekodierte entsprechend die politische Kultur nach Massgaben der Gegner- und nicht mehr Feindschaft und rückte die Sphäre der Politik als sublimierte Aggressivität durch die Institutionalisierung von parlamentarischen Spielregeln ins Welt- und Selbstverständnis der Gesellschaftsmitglieder. Die zweite grosse Revolution, die französische, deklarierte Politik zu einer Sache aller. Dadurch, dass jedermann die ›rechtliche Aufrüstung‹ zum Bürger erhielt, also mit unveräusserlichen Bürger- und Menschenrechten ausgestattet wurde, öffnete sich der politische Raum auch denjenigen, die zuvor ausgeschlossen waren. In der Sache bedeuten diese beiden – hier
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bloss idealtypisch dargestellten – epochemachenden Ereignisse nicht nur eine neue Kodierung politisch-kultureller Selbst- und Weltverständnisse, sondern in technischer Hinsicht vor allem auch die Potenzierung der politisch-kulturellen Dimensionen. Kommunikative Akte werden in der Öffentlichkeit auch dank der Warenförmigkeit der Wissensmedien, des damit eingesetzten Publizitätsschubes und der zunehmenden Anzahl von Literaten zahlreicher, so dass sich die politische Entscheidungsfindung von den privaten Gemächern der Fürsten in die öffentliche Auseinandersetzung verschob. Hier werden nicht nur Narrationen und erfundene Traditionen der eigenen jungen Nation verlautbart und auf Massenidentifikation ausgerichtet, sondern auch die Konfliktaustragung öffnet sich einem breiten Publikum, dessen einzelne Mitglieder in einem Verhältnis der Fremdheit stehen und deshalb auch neue Regeln des gemeinsamen Umgangs lernen müssen. Für die neuzeitliche Demokratie entwickelt sich auf der historischen Folie dieser beiden Grossereignisse die Überzeugung, dass die Sphäre der Öffentlichkeit nicht nur die Vitalität und Existenzbedingung eines liberalen demokratischen Gemeinwesens darstellt, sondern dass sie hierfür eben auch nach bestimmten institutionalisierten Kriterien oder Ermöglichungsbedingungen eingerichtet sein muss. Der öffentliche Raum wird so zu einem Raum der Freiheit, der Gleichheit und der Zumutung emporstilisiert, ein Raum, in welchem der Zugang – zumindest prinzipiell – allen in gleicher Weise offen stehen muss und in dem sich jeder die Freiheitsausübung der anderen zumuten lassen muss. Grundlegend hierfür ist die binäre Dichotomie von privatem und öffentlichem Raum. Demokratisch verfasste Gemeinwesen handeln die Angelegenheiten, die alle betreffen, in der Öffentlichkeit aus, während sie die jeweilige Privatsphäre, als Raum, in welchem die persönlichen Lebensgestaltungen Ausdruck finden können, als von der öffentlichen Intervention rechtlich befreit wissen wollen. Dies ist eine Unterscheidung zwischen ›öffentlich‹ und ›privat‹, die zum Selbstverständnis und zur Auszeichnung demokratischer liberaler Gemeinwesen geworden ist, zugleich eine Unterscheidung, die bei näherem Hinschauen Inkonsistenzen aufweist und so den Verdacht ihrer bloss ideologischen Legitimierung zumindest plausibel erscheinen lässt. Einen ausschliesslich privaten und öffentlichen Raum gibt es in dieser engen Definition nicht. Stattdessen sollte darauf hingewiesen werden, dass gesellschaftliche Verhaltensnormen, die in der Öffentlichkeit explizit oder implizit kommuniziert, sanktioniert oder stillschweigend akzeptiert und reproduziert werden, einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die häuslichen Sitten haben. Man müsste also von einer Mikrophysik der Macht sprechen, die zwischen den zwei Sphären operiert und diese so vernäht, dass eine endgültige Unterscheidung gar nicht mehr möglich ist. Der französische Philosoph Michel Foucault betont, dass der Preis der Demokratie mit ihren Trennmodulen von öffentlich-privat, RechtUnrecht, Politik-Wirtschaft etc. die Herausbildung mikrophysischer Machtfelder war, in denen die Menschen nach Massgabe des Systems subjektiviert werden
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– also ein bestimmtes Bewusstsein ihrer selbst und der sie umgebenden Lebenswelt aufgepfropft bekommen. »Sobald eine Macht, unendlich weniger brutal und zügellos, weniger sichtbar und weniger schwerfällig als die monarchistische Administration notwendig wurde, entstanden für eine bestimmte soziale Klasse grössere Spielräume für eine Teilnahme an der Macht und an Entscheidungsprozessen. Zur gleichen Zeit aber, und als Kompensation dieses Umstands, wurde ein Ausbildungssystem ausgearbeitet, das im Besonderen für die anderen Klassen geschaffen wurde, aber auch für die neue herrschende Klasse – da die Bourgeoisie an sich selbst gearbeitet hatte, brachte sie auch einen eigenen Typ von Individuum hervor. Ich glaube nicht, dass die beiden Phänomene einander widersprechen: das eine war der Preis für das andere. Es war für eine bestimmte Form bourgeoiser Liberalität notwendig, sich auf institutioneller Ebene zu organisieren, es war notwendig, im Bereich dessen, was ich ›Mikrophysik der Mächte‹ nenne, ein viel strengeres Regime der Investition in Körper und Verhaltensweisen zu installieren. Die Disziplin ist die Kehrseite der Demokratie.«15
Das, was sich in den Augen des französischen Philosophen häufig als progressive Reform, als Entfesselung bestehender Normen, als neue Freiheitspotentiale oder im speziellen Fall der Vorsorgepolitik als Demokratisierung der sozialen Gesundheit darstellt, verbirgt in seinem Inneren in Wirklichkeit Verwaltungs- und Überwachungstechnologien – entweder als Mittel oder als Zweck. Was Foucault in diesem Zusammenhang »Mikrotechnologien der Macht« nennt, ist, wie er an anderer Stelle betont, die »Zirkulation der Effekte von Macht durch immer feinere Kanäle, die schliesslich zum Individuum selbst führen, zu den Körpern, den Gesten und den allfälligen Verrichtungen.«16 Diese Ausführungen von Foucault sind nicht nur relevant, um die Scheinheiligkeit der liberalen Demokratiekonzeption, ihrer rechtlich sanktionierten Tätigkeitssphären und der darin erlaubten und unerlaubten Handlungen aufzudecken, sondern sie geben auch wichtige Hinweise auf die Verflechtungen von Politik und Kultur, wie sie sich in der politischen Kultur sedimentieren. Foucault weist mit seiner Machtkritik nämlich auf diejenigen Wissens- und Macht-Aspekte hin, die aufgrund einer, mit dem Erscheinen der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert einsetzenden, Wissensökonomie über den Menschen als Subjekt und zugleich Objekt seiner eigenen Humanwissenschaften einen Anreiz zum Wissen über den Menschen generierte, mit dem Ziel, dieses ›ungesellig gesellige‹ Wesen nach bestimmten Zwecken zu regieren und ihm so deviantes und konformes Ver15 | F OUCAULT, M ICHEL . An Interview with Michel Foucault. In: History of the Present, 1, Feb. 1985. S. 14. Das Interview wurde von Jean-Louis Ezine geführt und erschien erstmals in »Les Nouvelles Littéraires« im März 1975, kurz nach Foucaults Veröffentlichung von »Überwachen und Strafen«. 16 | F OUCAULT, M ICHEL . The Eye of Power. In: D ERS. Power/Knowledge. Edited by C OLIN G ORDON . New York: Pantheon 1980. S. 146-165. Hier S. 151f.
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halten zusprechen und entsprechend sanktionieren oder fördern zu können. Das in Schulen, Spitälern, Gefängnissen sowie in statistischen Studien über die Gesundheit, die Hygiene und die Perversionen der Gesellschaft gesammelte Wissen über das Objekt ›Mensch‹ wird von ebendiesem dazu verwendet, dieselben Institutionen so einzurichten, dass der Körper gelehrig wird und der Geist dressiert werden kann, um so eine effiziente und ökonomische Regierbarkeit zu etablieren, in welcher genormte und somit erwünschte Verhaltensweisen erzeugt werden sollen. Das soziale Handeln wird so aufgrund mikroskopischer Eingriffe in die menschlichen Lebenssphären mit den Kriterien der ›Normalität‹, ›Wahrheit‹ und ›Richtigkeit‹ sanktioniert. Es sind dies Kriterien, die nicht unbedingt explizit ausgesprochen werden müssen, die aber aufgrund politisch sanktionierter und festgelegter Betätigungsfelder, in denen die erlaubten und unerlaubten Handlungen nach Massgabe des dominanten Wissensregimes und des hierdurch plausibilisierten politisch-kulturellen Selbstverständnisses eines Gemeinwesens, seinen ›shared beliefs‹, seinen ›public codes‹ und seinen narrativen Selbstverständigungsmustern identifizierbar und somit auch straf bar gemacht werden können. Das Individuum, fern davon, die Freiheitspotentiale auszukosten, die ihm das dichotomisierte liberale Demokratieverständnis verspricht, ist so gemäss Foucault immer wieder verschiedensten Zwängen ausgesetzt. Durch den Wissensanreiz, der den Menschen zum befragten Objekt seiner selbst macht und ihn so nach den Richtlinien der ›Normalität‹ oder ›Devianz‹ einstuft, die überdies ins politisch-kulturelle Selbstverständnis einer historischen gesellschaftlichen Konfiguration eindringen, werden diese Zwänge stabilisiert. Diesen muss er Rechenschaft ablegen, will er nicht durch deviantes Verhalten auffallen und die strafenden Augen der anderen auf sich ziehen. Die Subjektivierung des Individuums findet somit im Zwischenbereich von offizieller politisch-rechtlicher Sanktionierungsgewalt und informellen kulturellen Kodierungen statt. In diesem Verflechtungszusammenhang ist der Einzelne positioniert und hier muss er sich seiner selbst gewahr werden, indem er sich den formellen und informellen, offiziellen und inoffiziellen, rechtlich sanktionierten und sozial gefestigten Normen als sichtbares, beurteilbares und somit subjektiviertes Individuum zeigt. Die Unterscheidung von privaten und öffentlichen Räumen gehört zur altehrwürdigen Semantik des Liberalismus. Aus Foucaults Analyseperspektive ist sie aber bloss ein Gegensatz, den die Menschen unhinterfragt als Gegebenheit hinnehmen. Sie ist somit eine »blinde Sakralisierung«, wie Foucault an anderer Stelle17 betont, die in ihrem Verborgenen einem mikroskopisch engmaschigen Netz der Disziplin gleicht, in welchem sich das Öffentliche und Private ununterscheid-
17 | M ICHEL F OUCAULT. Von anderen Räumen. In: J ÖRG D ÜNNE . S TEPHAN G ÜNZEL (Hg.). Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 319.
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bar verstricken, und so den Menschen dort einfängt, wo er dies nicht erwartet und ihn so gleichsam subjektiviert. Das Subjekt, um nochmals Foucaults Erkenntnisse für die Thematisierung von politischer Kultur fruchtbar zu machen, ist eingepfercht zwischen Wissensrastern, die es einkreisen, durchleuchten und kontrollieren und so auch mittels administrativer und politischer Sanktionierungen sowie der hiervon angereizten und sanktionierbar gemachten kulturellen Kodierungen ein Konstrukt des ›Normalen‹ generieren, die ihm die ›Richtigkeit‹ seiner Handlungen und seines Denkens vorschreiben und die mittels institutionalisierter ›public codes‹, von der Familie bis hin zum Rechtsstaat, deviantes von legitimem Verhalten trennen. Sowohl die kulturellen Kodierungen als auch die politischen Sanktionen gewinnen ihre Bedeutung und die damit verbundene Möglichkeit zur Rahmung von ›richtigem‹ oder ›falschem‹ sozialen Handeln aus dem Fundus der politischen Kultur. Insofern ist Kultur immer schon politisiert und Politik immer auch kulturell behaftet, mithin besteht eine gegenseitige Beeinflussung von Politik und Kultur, in deren Zirkularität sich die Dimensionen der politischen Kultur formieren und dominante Deutungen der Welt und des Selbst generieren.
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7. Ideologische Konstellationen »Das Kriterium der Richtigkeit des Denkens ist zwar die Wirklichkeit. Diese ist aber nicht, sondern sie wird – nicht ohne Zutun des Denkens.« G EORG L UK ACS
Politische Kultur als Phänomen des Öffentlichen ist somit diejenige Sphäre gesellschaftlicher Interaktion, in der Deutungen der Welt und des Selbst in der öffentlichen Auseinandersetzung umkämpft werden, mit dem Ziel, bestimmte exklusive Selbst- und Weltverständnisse zumindest bis zu ihrer erneuten Infragestellung dominant zu halten und so die politische Karte und Ordnung eines Gemeinwesens nach Massgabe dieser Deutungen zu gestalten und zu stabilisieren. In der Öffentlichkeit bilden sich diejenigen Diskurse, in denen das soziale Handeln – von der politischen Praxis über die gesellschaftliche Normen der Interaktion bis zu den moralisch legitimierten Handlungsweisen im Privaten – nach Massgabe dominant gewordener Deutungs- und Verhaltensmuster immer wieder ausgefochten und diskutiert und so auch rechtlich formal oder gesellschaftliche informal mit Sanktionen belegt werden können. Hier werden also die sedimentierten Denk- und Handlungsweisen, die eine politische Kultur über die Zeit transportiert, nicht nur als Ideen formuliert und bestenfalls kritisiert, sondern hier finden sie auch ihren materiellen Niederschlag in sozialen Praktiken, die als Entsprechungen dieser Ideen und nach Massgabe ihrer Bedeutungen öffentlich beurteilbar werden. Ideen und Handlungsweisen müssen in der Öffentlichkeit auf Konsens stossen, damit sie Legitimität, Gefolgsbereitschaft oder zumindest Akzeptanz erheischen können. Ein Konsens aber, der sich in Form von kollektiv geteilten und so auch stabil gehaltenen Verhaltens- und Denkweisen formiert und der sich durch die ihnen zugrundeliegenden Deutungsmustern der Welt und des Selbst eben auch als Zwang ausweist, zumal er deviantes ›Sprechen‹ oder Handeln hör- und sichtbar und somit eben auch sanktionierbar werden lässt. Politische Kultur als Raum des Sag- und Machbaren strukturiert sich also über das in der Öffentlichkeit festgelegte und mit Anspruch auf ›Richtigkeit‹ stabilisierte Wissen über das, was in einem sozialen Verband gesagt und getan werden darf. Insofern operiert
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politische Kultur als ideologische Schablone des Selbst- und Weltverständnisses, die auf der öffentlichen Bühne politischen Kredit einzulösen trachtet. Hier werden ihre Wertinhalte, Deutungsmuster und Sinnhorizonte mit Konsens und Zwang legitimiert und gefestigt. Politische Kultur erweist sich somit als eine ideologische Verknüpfung verschiedener Werthaltungen, Sinnhorizonte und Deutungsmuster, die – öffentlich und kollektiv generiert – das Handeln und Denken des Einzelnen nach Massgabe ihrer Richtlinien eichen. Das bedeutet nicht, dass ein Ausbrechen aus diesen kollektiv hergestellten konsensuellen Zwangsmechanismen unmöglich ist, sondern bloss, dass politische Kultur immer auch ein ideologisches Raster vorlegt, in welchem sich der Einzelne befindet, sozialisiert wird und in welchem er mit anderen interagiert, den er aber, sobald andere ideologische Momente mit anderen Deutungsinhalten der Welt und des Selbst in der Öffentlichkeit den majoritären Konsens erheischen, auch durchbrechen kann und so neue, anders kodierte Deutungsweisen durchgesetzt werden können. Politische Kultur ist also ein ideologisch umkämpftes Feld von Bedeutungen, die primär zwar das politische System betreffen, sekundär und damit zusammenhängend aber eben auch die soziale, ökonomische und identitätsrelevante Lebenswelt eines Gemeinwesens bis zu seinen einzelnen Mitgliedern hegemonial einkreisen und so neben der politischen auch alle anderen Sphären des sozialen Handelns nach Massgabe der dominant gewordenen Deutungsraster der Welt und des Selbst, die die politische und soziale Ordnung mit Sinnhaftigkeit unterfüttern, kodiert. Das Denken und Handeln der Akteure ist jedoch nicht losgelöst von den materiellen Bedingungen, in denen sie sich befinden. Eine Untersuchung zu den ideologischen Konstellationen, wie sie einer jeden politischen Kultur inhärent sind, muss sich somit auch solchen Analysen öffnen, die die ökonomischen Strukturen einer Gesellschaft für nicht unwesentlich bei der Formierung von Selbst- und Weltdeutungen halten. Und das bedeutet unter den gegenwärtigen globalen Bedingungen, die kapitalistische Produktionsweise in das bisherige Untersuchungsraster einzubeziehen, damit einerseits das Denken und Handeln der Akteure im Zusammenhang mit den politisch legitimierten und sozial reproduzierten wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen erfasst und andererseits das Konzept der politischen Kultur mit dem bislang unterbelichteten menschlichen Interaktionsfeld des wirtschaftlichen Austausches in Verbindung gebracht werden kann. Politische Kultur erweist sich dann als eine bedeutungsgebende Praxis des Politischen, die gerade in ihrer ideologischen Konstellation hochgradig von den materiellen Bedingungen einer Gesellschaft und den darin stattfindenden, politisch legitimierten und habituell reproduzierten Verteilungskämpfen des gesellschaftlichen Reichtums abhängig ist. In diesem Kapitel geht es also darum, die ideologische Dimension von politischer Kultur herauszukristallisieren, ihre ideelle und praktische Performanz aufzuzeigen und so politische Kultur mit dem zu verschränken, was der italienische Marxist Antonio Gramsci Hegemonie nannte. Es wird sich hierbei herausstellen, dass ein Verständnis von politischer Kultur als hegemoniale Formation
7. Ideologische Konstellationen
nicht nur einer unterkomplexen Definition entgegenwirkt, indem es gerade auf die Verschränkung von ideeller Bewusstseinsgestaltung, materiellen Verhältnissen und sozialer Praxis hinweist und so den Aspekt der Materialität der Ideen für die Ausrichtung der politischen und sozialen Ordnung ins Blickfeld nimmt, sondern auch als fruchtbare Analysekategorie dient, um die im zweiten Teil sich anschliessende Gesellschaftskritik durchführen zu können. Die folgende Auseinandersetzung beginnt mit einer historischen Herleitung des Ideologiebegriffs bei Antoine Destutt de Tracy, um daran anschliessend Karl Marx’ Kritik der Ideologie darzustellen. Hierbei werden sich einige Grundzüge des Ideologiebegriffs festhalten lassen, die ihn zwar in Zusammenhang mit gesellschaftlicher Praxis stellen, seine konstitutive Bedeutung für die Formierung von Selbst- und Weltverständnissen, wie sie sich im praktischen Alltag ausbilden, manifestieren und reproduzieren, aber noch unzureichend erklären. Erst die Auseinandersetzung mit Antonio Gramscis Begriff der Hegemonie wird diese analytische Lücke schliessen, zumal sein begriffliches Instrumentarium es erlaubt, die Materialität der Ideen in der zivilgesellschaftlichen Interaktion zwischen Menschen und den von ihnen geschaffenen Institutionen einzufangen. Mit Gramscis Weiterentwicklung der marxistischen Ideologiekritik eröffnet sich ein neuer Zugang zum Konzept der politischen Kultur. Zuletzt wird der schon angedeutete öffentliche und über eine konfliktbehaftete Kommunikation und mittels praktischen Vollzugs hergestellte Konsens, der zugleich das Moment des Zwanges integriert – also das, was Gramsci die Funktionsweisen der Hegemonie nannte – erneut aufgegriffen, um so letztlich politische Kultur als Sediment hegemonialer Deutungen definieren zu können. Begonnen sei also mit dem Begriff der Ideologie, seiner Entstehung, Bedeutung und Funktion.
7.1 D IE E NTSTEHUNG DES I DEOLOGIEBEGRIFFS Schon im antiken Griechenland wurden politische Theorien mit dem Anspruch, die Welt erklären zu können, formuliert, gelehrt, in der Öffentlichkeit diskutiert und in der politischen und sozialen Praxis angewendet, verworfen oder einer konzeptionellen Änderung unterzogen. Von den späteren Ideologien unterscheiden sie sich aber, weil diese Theorien in ihrer Wirkung im Wesentlichen auf die Eliten ihrer Zeit beschränkt waren. Diejenigen Bewohner der antiken Poleis, die keinen Bürgerstatus hatten, wurden zwar von den geistigen und praktischen Effekten dieser Welterklärungen tangiert, waren aber weder an ihrer Formulierung und Konzipierung beteiligt noch mussten sie diesen Ideen ihre explizite Zustimmung geben, damit die politischen Ordnungen überleben konnten. Im Gegensatz zu diesen antiken Weltdeutungssystemen richten sich Ideologien im modernen Sinne an die Massen und entstanden deshalb erst, als am Ende des 18. Jahrhunderts der politische Prozess so eingerichtet wurde, dass erstmals grössere Teile der Bevölkerung darin involviert waren.
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Die ersten Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen der Ideologie auseinandersetzten, die sogenannten ›Idéologistes‹ der französischen Aufklärung, verstanden sich auch als Kritiker der vorherrschenden, dogmatisch geprägten Meinungen der Kirche, die mit ihren metaphysisch fundierten Lehrsätzen nicht nur den Anspruch auf politische Macht erhoben, sondern diese auch ausschliesslich im Rahmen ihrer eigenen Welterklärung auslegten. So stärkten beispielsweise die Enzyklopädisten Denis Diderot und Jean-Baptiste d’Alembert in ihrem aufgeklärten Denken die revolutionäre Vorstellung, dass Politik genauso wie Gesellschaft in gleicher Weise untersucht, erklärt und letztlich auch gestaltet werden könne, wie dies die sich damals etablierende positivistische Naturwissenschaft es für die belebte und unbelebte Natur beanspruchte. Entsprechend wurden traditionelle und insbesondere katholische Lehrmeinungen als Hindernis auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen bekämpft. Voltaires berühmt gewordene Parole »Écrasez l’infâme!«, mit der er viele seiner späteren Briefe zu beenden pflegte, brachte genau diesen Sachverhalt auf den Punkt. Der ›Niederträchtigen‹ (l’infâme) – die Kirche als Institution – wurde unterstellt, dass sie sich aus wohlverstandenem Eigeninteresse gegen das rationale Denken sperre, um so ihre eigene Autorität und diejenige der Fürsten und Könige mit unumschränkter Macht zu legitimieren, aber auch, weil sie dadurch die Menschen im Aberglauben festhielt und ihre Aufklärung verhinderte.1 Die Dogmatik fundiert demnach nicht nur Macht, sondern erhält sie auch dadurch, dass sie jegliche Form kritischen Denkens im Keim erstickt und so, wie Karl Marx später pointiert notierte, die Köpfe der Leute wie mit Opium betäubt. In ihrem Widerstand gegen die traditionellen und mit Anspruch auf unhinterfragbare Legitimität festgelegten Lehrmeinungen der Kirche begründeten diese Aufklärer aber nicht nur die Tradition der Ideologiekritik, sondern auch eine erste moderne Ideologie, nämlich die des Liberalismus. Der eigentliche Begriff findet aber erst mit dem französischen Politiker und Philosophen Antoine Destutt de Tracy (1754-1836) Eingang in die politische Ideengeschichte.2 Unter dem Einfluss des Positivismus in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts versuchte de Tracy die politischen Ideen seiner Zeit zu erfassen, zu systematisieren und so auch zu bewerten. Damit verfolgte er das Ziel, auf diese Weise eine Wissenschaft von den Ideen – was die wortgetreue Bedeutung des Begriffes Ideologie ausdrückt und so auch in der damaligen wissenschaftlichen Auseinandersetzung Gebrauch fand – zu begründen und so schliesslich auch die wissenschaftlich begründete Methode zu konstruieren, anhand derer die objektiv richtigen Lösungen für ein 1 | Zu Leben und Denken von Francois Marie Arouet alias M. (Monsieur) de Voltaire, wie sich der französische Philosoph ab 1718 nannte, vergleiche: AYER, A LFRED J ULES. Voltaire. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987. 2 | Die Untersuchung von Destutt de Tracys Ideologiebegriff orientiert sich an: L ORENZ , U LRICH. Das Projekt der Ideologie. Studien zur Konzeption einer »ersten Philosophie« bei Destutt de Tracy. (Quaestiones 6). Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1994.
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gegebenes politisches Problem zu finden seien. Ursprünglich bezeichnet ›Ideologie‹ also die wissenschaftliche Untersuchung menschlicher Vorstellungen und Ideen – eine Untersuchung aber, die zugleich auf die Umwertung der Werte zielte und so auch die bestehende politische Macht herausforderte. Gerade an de Tracy lässt sich dieser Wandel vom wissenschaftlichen Gegenstand zur Methode der Herrschaftskritik nachvollziehen. Ideologie verwandelt sich von einer nüchternen wissenschaftlichen Betrachtung über die Ideen der Menschen zur Bezeichnung von Ideensystemen, die ihrerseits mit der Unterstellung belegt sind, politische Macht legitimieren zu wollen. Insbesondere de Tracys Werdegang offenbart diesen Wandel. Als Aristokrat wendet er sich gegen seine eigene Klasse und wird zu einem der kämpferischsten Sprecher des revolutionären französischen Bürgertums. Wie Antonio Gramsci war auch de Tracy ein Gefangener des politischen Regimes und wie der italienische Marxist bringt auch der französische Revolutionär die Entwürfe seiner Wissenschaft von den Ideen zwischen Kerkermauern auf Papier. Der Begriff der Ideologie strahlt aus den dunklen Gefängnisbauten in die Denklandschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts hinein und gewinnt unter versteinerten ideologischen Bedingungen an Kontur. Im Gegensatz zur Barbarei der Schreckensherrschaft, der er seinen Kerkeraufenthalt zu verdanken hatte, verstand de Tracy Ideologie als Teil einer rationalen Politik. Menschen können sich seiner Meinung nach nur dann erfolgreich und freiheitlich selbst regieren, wenn sie die Gesetze ihres Wesens vorher akribisch untersucht haben und so politische Herrschaft nach Massgabe dieser Grundsätze ausrichten. So wie Newton die Gesetze der Natur erforschte, so müsste auch ein Intellektueller desselben Formats diejenigen des Denkens erforschen, womit de Tracy sich selbst in diese Position erhob. Ideologie bezeichnet zur Zeit ihrer Schöpfung also noch nichts anderes als die Wissenschaft der Ideen. »Als Zweig eines mechanischen Materialismus, der an der Überzeugung festhält, dass die Funktionsweisen des Verstandes ebenso vorhersehbar sind wie die Gesetze der Schwerkraft«3, entwickelt sich der Begriff aber alsbald zu einem Kampf begriff. Als Wissenschaft von den Ideen beansprucht Ideologie auch, das exakte Wissen bereitzustellen, mit dem die menschliche Natur erklärt werden kann und nach welchem folglich auch die Institutionen der Gesellschaft auszurichten sind. Ideologie als wissenschaftliche Disziplin, die sich dem exakten Wissen über das menschliche Denken widmet, wird zu einer Methode der Kritik der bestehenden sozialen und politischen Ordnung. Sie ist der wissenschaftlich fundierte politische Einsatz zur Umformung der sozialen Umwelt, der politischen Institutionen und somit des einzelnen Empfindens. Wenn das Denken der Menschen ihr Verhalten leitet, dieses nun aber mittels der Disziplin ›Ideologie‹ wissenschaftlich eruiert werden kann und nach Vorbild der exakten Wissenschaften auch Vorhersagbarkeit impliziert, dann gilt es, die politischen Strukturen nach diesem unveränderlichen Grundsätzen auszurichten. In diesem Sinne schuf der noch neutrale 3 | E AGLETON, TERRY. Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart. Weimar: Metzler 2000. S. 80.
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wissenschaftliche Ideologiebegriff die Arena für die ideologischen Auseinandersetzungen und betrat diese in gewandelter Form als Kampf begriff für die Veränderung der bestehenden politischen Verhältnisse, und zwar nach den Richtlinien des politischen Liberalismus und Republikanismus. De Tracy schrieb, seinem rationalistischen Glauben treu, den Ideen eine fundamentale Rolle im gesellschaftlichen Leben zu und war davon überzeugt, dass sich die Politik von diesen apriorischen Prinzipien her definieren lassen müsse – ein politischer Einsatz, der sich vor allem gegen Napoleons Autoritarismus wendete. Von Beginn an war also der Begriff der Ideologie mit dem Kampf um Bedeutung und Herstellung der ›gerechten‹ und ›guten‹ politischen Ordnung verknüpft. Sein Auftauchen mit dem Philosophen de Tracy ist nicht bloss ein weiteres Kapitel im Buch der Ideengeschichte, sondern steht in enger Verbindung mit den revolutionären Auseinandersetzungen der damaligen Zeit. Von Anfang an figuriert Ideologie als theoretische Waffe im Kampf um die richtige Deutung von Gesellschaft und Politik und zugleich als Instrument zu ihrer ›richtigen‹ Gestaltung. Mit Destutt de Tracy lassen sich also jene Spuren festhalten, anhand welcher der Begriff Kontur, Wirkung und Funktion gewann. Einerseits lassen sich aus seinen Analysen Ideen als Bewusstseinsformen verstehen, die einem – wenn auch naturwissenschaftlich und mechanistisch geprägten – Materialismus entspringen und zugleich die Grundlagen bilden, auf denen alles auf baut. Andererseits erweist sich Ideologie als janusgesichtig, insofern sie die wissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Denkens, aber eben auch die daraus abgeleitete politische Forderung nach Veränderungen integriert. Problematisch an de Tracys Ideologiekonzeption ist jedoch, dass sie nicht begründen kann, inwiefern das Denken der Ideologen selbst nicht schon vorurteilsbehaftet ist. Wenn für de Tracy das Ziel der Ideologie darin liegt, die Ursprünge menschlichen Bewusstseins zu untersuchen, ist zu fragen, wie es dann mit dem Bewusstsein desjenigen steht, der diese Untersuchungen durchführt, und ob seine Vernunft immun gegenüber den eigenen Vorstellungen von den Grundlagen des Denkens ist. Wenn der Ideologe gleich einem Naturwissenschaftler die ›richtigen‹ Schlüsse aus den Mysterien des menschlichen Denkens zu ziehen weiss und dadurch auch den für ihn legitimen Anspruch erhebt, die Gesellschaft und die Politik nach Massgabe seiner universellen Erkenntnisse über die menschliche Denkart zu erziehen, muss gefragt werden, wer dann den Erzieher erzieht. Die Wissenschaft von den Ideen, wie sie von de Tracy ausgearbeitet wurde, schien sich selbst in einen transzendentalen Status zu versetzen und sich so paradoxerweise wieder an den Ort zurückzuziehen, wo die Kritik der frühen französischen ›Idéologistes‹ begonnen hatte. Startpunkt ihrer Kritik war ja gerade der Obskurantismus der alten Ordnung, die mittels ihrer Lehrmeinungen weder den Bezug zur materiellen Wirklichkeit berücksichtigte noch aus ihrem dogmatischen Schlummer aufwachen wollte, sondern sich ausschliesslich der Reproduktion ihrer eigenen Ideenwelt widmete. Der aufklärerische Traum einer Welt, die völlig durchsichtig für die Vernunft und frei von Vorurteilen ist, geriet
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alsbald zum intellektuellen Albtraum einer selbstbezüglichen Verwissenschaftlichung des Denkens, die ihrerseits einem Obskurantismus gleichkam, als sie die menschliche Interaktion nur noch in den abstrakten Begriffen einer wissenschaftlichen Ideologie zu fassen bekam. Die Vernunft zerstört die alten Irrationalitäten, schafft sich aber gleich selber neue, die sie im Gewand neuer politischer Forderungen rationalistisch zu rechtfertigen glaubt. Hauptpunkt der Kritik, die sich gegen de Tracys Ideologiekonzeption richtete, war entsprechend auch ihr exzessiver Rationalismus. Insbesondere Napoleon, der seine diktatorische Herrschaft auf sentimentalen Illusionen und Mythen aufgebaut hatte, beklagte aus nicht uneigennützigen Gründen, dass die Denker im Umfeld von de Tracy ihre Untersuchungen der Gesetze der Vernunft so weit getrieben hätten, dass sie sich in einem eigenen luftdichten System einschlossen, unfähig, die Bezüge zur praktischen Wirklichkeit herzustellen. Die Vernunft verabsolutiert sich zur alleinigen Herrscherin über das Denken und Fühlen der Menschen und weist sich mit Hegels »Phänomenologie des Geistes« selber einen Platz zu, an dem sie sich auf sich selbst zurückführt und als stetiges Voranschreiten darstellt. Spätestens mit den deutschen Idealisten findet die bei de Tracy angelegte Problematik der Rationalisierung des Denkens eine Aufhebung darin, dass nunmehr die Ideen die Welt erklären und nicht mehr die Welt erforscht werden muss, um auf die Ideen schliessen zu können. Der Ideologiebegriff verschiebt sich in der Zeitspanne, die zwischen de Tracys Untersuchungen liegen, und der vor allem nachhegelianischen Tradition, die im Weltgeist den Motor des Voranschreitens der Vernunft sichtet, von einer Bezeichnung für einen skeptischen wissenschaftlichen Rationalismus zu einer Bezeichnung für ein Feld abstrakter, zusammenhangloser Ideen. Es ist dieses Verbergen des Ideologiebegriffs in einer abstrakten Welt der Ideen, die von Karl Marx und Friedrich Engels angegriffen wird. Und es ihre Auseinandersetzung mit dem idealistischen Denken der deutschen Hegelschüler, aus dem das Fundament geschaffen wird, auf dem die Entwicklung des modernen Ideologiebegriffs, wie er sich bis heute hält, stattfindet.
7.2 K ARL M AR X ’ K RITIK DER I DEOLOGIE Bei Karl Marx findet die Ideologiekritik unterschiedliche Präzisionsgrade. Von den Frühschriften bis zu seinem Spätwerk gewinnt nicht nur der Begriff an Stringenz, sondern auch seine kritische Auseinandersetzung wird zunehmend präziser und tiefgreifender. In seinen frühen »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« 4 betont Marx, dass Ideologie sich in die Produkte der Menschen 4 | M ARX , K ARL . Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: M ARX , K ARL . E NGELS, F RIEDRICH . Politische Ökonomie. Studienausgabe Band II. Herausgegeben von I RING F ETSCHER . Berlin: Aufbau 2004. S. 38-135.
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einschleicht und hier eine scheinbar autonome Existenz führt. In dieser frühen Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Produktionsweise merkt Marx an, dass unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, menschliche Kräfte, Produkte und Verfahren sich der Kontrolle durch das Subjekt entziehen und so eine scheinbare Selbständigkeit erlangen, die fernab von menschlicher Einflussnahme liegt. Derart von ihren Produzenten entfremdet, nehmen die Produkte eine Machtposition ein, durch welche sie die Menschen unterwerfen, so als seien die Produkte eine fremde Gewalt, die über sie gebietet. Mit der kapitalistischen Produktionsform wird der Mensch von seinem Produkt losgelöst und so in ein Verhältnis der Subordination gesetzt. Durch seine Tätigkeit produziert der arbeitende Mensch fortwährend einen immer grösseren, ihm fremden Reichtum in Form von Privateigentum in den Händen der Kapitalistenklassen, von der er erneut ausgebeutet wird. »Die äusserliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäussert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung. Endlich erschien die Äusserlichkeit der Arbeit für den Arbeiter darin, dass sie nicht sein eigen, sondern eines anderen ist, dass sie ihm nicht gehört, dass er in ihr nicht sich selbst, sondern einem anderen gehört.« 5
Der arbeitende Mensch, fern davon, sich in seinen Fähigkeiten und kreativen Möglichkeiten zu entfalten, wird unter kapitalistischen Produktionsbedingungen zu einer Ware, die, wie jede andere Ware auch, gehandelt werden kann, mit dem alleinigen moralischen Unterschied, dass die Ware ›Mensch‹, um seinen Wert auch ausschöpfen zu können, d.h. um produzieren zu können, sich selbst mit Nahrung reproduzieren muss. Marx betont in dieser Frühschrift also, dass die Produktion unter kapitalistischen Bedingungen eine ist, in welcher die Arbeit nicht nur Waren produziert, sondern »sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware«.6 In seiner Tätigkeit produziert der Arbeiter also nicht nur eine anwachsende Zahl ihm fremder Waren, er produziert mit ihnen zugleich das ihn ausbeutende Lohnarbeitsverhältnis selbst und die Warenförmigkeit seiner Arbeit. Mit der zunehmenden Verwertung der Sachenwelt, so Marx, »nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu.«7 Was Marx hier unter dem Begriff der ›Entfremdung‹ postuliert, ist ein Mechanismus der Verblendung, der über das Lohnarbeitsverhältnis die Menschen in eine Position versetzt, in denen die sie einfangenden Zwänge wie Naturnotwendigkeiten erscheinen. Durch die kapitalistische Produktionsweise, wird der Mensch nicht nur von seinem Arbeitsprodukt getrennt, indem ein anderer Mensch – der Kapitalist – sich dieses aneignet, sondern er wird dadurch eben auch von seinen Mitmenschen und von seiner ihm eigentümlichen Seinsweise 5 | Ibid. S. 81f. 6 | Ibid. S. 78f. 7 | Ibid. S. 78.
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– das, was Marx das »Gattungswesen« nennt – getrennt. Die freie und bewusste Tätigkeit, die dem ›animal rationale‹ und ›sociale‹ eigen ist, und die damit einhergehende menschlich spezifische Eigenschaft, die eigene Umwelt, das eigene Leben und die gesellschaftlichen Strukturen, die er selber konstruieren und nach eigenen Prinzipien ordnen kann, sind dem Arbeiter unmöglich geworden, weil ein scheinbar äusserer, autonomer Zwang ihn von diesen Tätigkeiten loslöst. Wie vor eine unausweichliche Tatsache gestellt, ist der Mensch gezwungen, seine Arbeitskraft zu reproduzieren, indem er sie verkauft und damit die notwendigen Mittel erwerben kann, um überhaupt physisch am Leben zu bleiben. Alle anderen Tätigkeiten werden diesem Zwangsmechanismus untergeordnet. Mit der Entfremdung von Arbeitsprodukt, Tätigkeit und dem menschlichen Wesen entfremdet sich der Mensch vom anderen Menschen und somit auch von sich selbst. Worauf Marx in dieser Frühschrift aufmerksam macht, ist eine bestimmte Mechanik, nach der das Bewusstsein der Menschen geformt wird. Dieses erhält und reproduziert sich nicht innerhalb einer abstrakten Sphäre der menschlichen Vernunft, losgelöst von den historischen und materiellen Bedingungen, denen die Menschen unterliegen – im Gegenteil: Gerade das Entfremdungskonzept soll in den Frühschriften darauf hinweisen, dass das Denken eng mit den Subordinations- und Ausbeutungsverhältnissen einer Gesellschaft zusammenhängt, in welcher die materielle Produktion den Menschen in ein Verhältnis der Äusserlichkeit versetzt. Daran gehindert, sich seiner eigenen Produkte zu bemächtigen, bleibt der arbeitende Mensch nicht nur vom Produkt seiner Tätigkeit entäussert oder eben entfremdet, sondern er wird von der vorherrschenden Produktionsform auch in seinem Selbst- und Weltverständnis geprägt. Er ist zwar integraler Bestandteil dieses Produktionssystems, gerät aber zugleich in eine äussere Position bezüglich der Möglichkeit, sich seine Produkte anzueignen oder die Produktionsbedingungen zu bestimmen. Er wird in diesem System zur Ware degradiert, die sich nur mittels Subordination zu diesem Produktionssystem überhaupt am Leben erhalten kann und sich so auch verkaufen lässt. Sein Bewusstsein wird aufgrund der herrschenden Produktionsformen auf das Selbstverständnis zurückgestutzt, sich selbst als Ware zu verstehen und anzupreisen. Alle anderen Entfaltungsmöglichkeiten, die dem menschlichen Gattungscharakter eigen sind, verkümmern so zur alleinigen Anpassung an das scheinbar äusserliche und selbstläufige Produktionssystem. Die Relevanz dieser Frühschriften für die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ideologie liegt darin, dass Marx, ausgehend von seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, in welchen die sozialen Phänomene aufhören, als Ergebnis menschlicher Unternehmungen erkennbar zu sein, und so als materielle Dinge wahrgenommen werden, deren Existenz den Schein ihrer unvermeidlichen Akzeptanz ausstrahlt, die Selbst- und Weltverständnisse der Menschen untersucht. Diese gründen in den materiellen Verhältnissen, in denen die Menschen ihr Leben führen und auch das Bewusstsein ihrer selbst und der sie umgebenden Welt gewinnen.
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Die Ideologiekritik, die Karl Marx und Friedrich Engels in der »Deutschen Ideologie« ausarbeiten, zielt gerade auf die Frage, wie und wovon das Bewusstsein geformt und geprägt wird. Obwohl sie hier das Konzept der »Entfremdung«, das ihnen einen allzu starken »idealistischen« Sinngehalt aufweist, fallenlassen und es nur noch verwenden, »um den Philosophen verständlich zu bleiben«.8 konzentrieren sie sich, insbesondere in ihrer Auseinandersetzung mit Feuerbachs Materialismus, auf die materiellen Grundlagen des Bewusstseins. Wenn nämlich menschliche Kräfte und Institutionen den Prozess der Entfremdung durchlaufen können, so muss das auch für das Bewusstsein möglich sein. Im Gegensatz zu den deutschen Philosophen des Idealismus, die sie in dieser Schrift auf die Anklagebank setzen und die das Bewusstsein als etwas begreifen, das von den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Praxen losgelöst existiert, kehren Marx und Engels diese Behauptung um. Sie kritisieren am deutschen Idealismus insbesondere, dass seine Vertreter das Bewusstsein zu einem ›Ding an sich‹ machen, das als Ursprung und Grundlage historischer Existenz herhalten muss. Gerade die Auffassung, Ideen als autonome Einheiten zu betrachtet, trägt jedoch zu ihrer Enthistorisierung und Naturalisierung bei und entpuppt sich als Geheimnis aller Ideologie. In ihrer berühmten Passage über die Konstitutionsbedingungen von Bewusstsein und Dasein bringen Marx und Engels diese Kritik auf den Punkt: »Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinaus. Das Bewusstsein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dieses Phänomen ebenso aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. [...] es wird von wirklichen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. [...] Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.« 9
Im Gegensatz zu den Philosophen des deutschen Idealismus und den ersten ›Idéologistes‹ der französischen Aufklärung achten Marx und Engels auf die historischen Grundlagen und gesellschaftlichen Praktiken, die so etwas wie 8 | M ARX , K ARL . E NGELS, F RIEDRICH. Die deutsche Ideologie. (1854-1856). Band I: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner. MEW 3. Berlin: Dietz 1958. S. 34. 9 | Ibid. S. 26f.
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Bewusstsein und in ihrem spezifischen Fall falsches Bewusstsein überhaupt erst entstehen lassen können. Damit führen sie eine der wichtigsten modernen Bedeutungen des Begriffs ein. In ihrem Eifer gegen die deutschen Idealisten schrammen sie aber gefährlich nahe an einem naiven Sinnesempirismus vorbei, bei dem unerklärt bleibt, wie das »Sein« oder ein »wirklicher Lebensprozess« ohne Bewusstsein, also ohne Interpretation überhaupt erfasst werden kann. Zwar stellen sie das Denkgebäude der deutschen Idealisten vom Kopf auf die Füsse, aber es sind Füsse, die ihrerseits keinen Kopf mehr haben. Vielmehr suggerieren sie hier, dass Ideen blosse Reflexe der materiellen und somit ökonomischen Verhältnisse sind – eine Verkürzung, die unweigerlich zum ökonomischen Reduktionismus führt, zumal alle Bewusstseinsformen als durch das Ökonomische determinierte verstanden werden können. Ideen könnten dann letztlich auf das Wesen ihrer angeblichen Wahrheit, auf ihren ökonomischen Gehalt reduziert werden, womit auch die Folgerung impliziert ist, dass eine Veränderung der materiellen Bedingungen automatisch zu einer Veränderung des Bewusstseins führen müsse. Aber auch diese bedürfen zu allererst einer Interpretation, einer Praxis der Bedeutungsgebung, damit sie überhaupt angegangen werden können. Was hier anklingt, ist die Suspendierung dieses Bereichs der Bedeutung, damit die ›wirklichen‹ Bedingungen besser untersucht werden können. Raymond Williams betont, dass diese »objektivistische Phantasie« davon ausgeht, dass die Bedingungen des wirklichen Lebens »unabhängig von Sprache und historischen Berichten gekannt werden« könnten. Es ist aber gerade nicht so, dass da »zuerst das materiell gesellschaftliche Leben ist und dann, in zeitlicher oder räumlicher Distanz das Bewusstsein und ›seine‹ Hervorbringungen … Das Bewusstsein und seine Hervorbringungen sind immer, wenn auch in unterschiedlichen Formen, Teil des materiellen gesellschaftlichen Prozesses selbst« 10. Eine kritische Bemerkung zum suggerierten Ökonomismus, die in Friedrich Engels »Altersbriefen« eine Klärung findet. In einem Brief an Joseph Bloch verneint Engels, dass es solche einfachen Determinierungen gibt und erklärt, wie es zu dieser Zuspitzung kam, die für den weiteren Denkverlauf der marxistischen Tradition nicht unwesentliche Fehlschläge verursacht hat. »Dass von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer die Zeit, Ort und Gelegenheit, die Übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen.« 11 10 | W ILLIAMS, R AYMOND. Marxism and Literature. Oxford: Oxford University Press 1977. S. 60. Zitiert in: E AGLETON, TERRY. Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart. Weimar: Metzler 2000. S. 91. 11 | Brief von Friedrich Engels an Joseph Bloch vom 20./21. September 1890. In: K ARL M ARX /F RIEDRICH E NGELS – W ERKE (MEW) Band 37. 4. Auflage. Berlin: Dietz 1986. S. 465.
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Die Erläuterungen von Engels sind fruchtbar und anregend, weil sie die damalige Situation reflektieren und gleichzeitig auch aufzeigen, dass Ideen letztlich immer auch Kampfinstrumente darstellen. Die Vereinfachungen, so lässt sich aus Engels’ Präzisierung herauslesen, entstanden nämlich dadurch, dass er und Marx sich im Kampf gegen den spekulativen Idealismus ihrer Zeit befanden. Das dominante Bewusstsein, mit dem Marx und Engels damals konfrontiert waren, hatte einen höchst metaphysischen Charakter, den es auszutreiben galt, notfalls mit einseitigen Verzerrungen, die zu Übertreibungen, wenn nicht gelegentlich zur Polemik führten. Nichtsdestoweniger bleibt die Passage in ihrem Erkenntnisgehalt arm und unfruchtbar für eine eingehende Analyse des Ideologieproblems. Marx und Engels betonen hier, wenn auch mit den erwähnten Implikationen und Konsequenzen, dass die Selbst- und Weltbilder, die die Menschen sich erschaffen, um ihrem Dasein Sinn abzugewinnen, von den materiellen Bedingungen, in denen sie sich befinden, determiniert sind. Aber es ist zu fragen, ob dann Ideen bloss das Abbild der materiellen Bedingungen oder vielmehr ein politisches Instrument zur Herrschaftssicherung sind, das gezielt und gewollt eingesetzt wird. In einer weiteren berühmten Passage der »Deutschen Ideologie« scheinen die beiden Autoren für den zweiten Vorschlag zu plädieren. Ideen werden nun mit der herrschenden Klasse in eins gesetzt. »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.« 12
Hier bekommt der Begriff der Ideologie eine stärkere politische Färbung, zumal unter diesem Begriff jetzt ein Denken verstanden wird, das sich sehr wohl seiner gesellschaftlichen Ursprünge bewusst und demnach nicht mehr mit der vorherigen ›objektivistischen‹ Konzeption in Einklang zu bringen ist. Unklar bleibt jedoch, was denn die Ideen letztlich ideologisch macht: ob es die idealistische Konzeption ist, dass Ideen nicht gesellschaftlich verankert sind und die umgekehrt werden muss oder ob Ideologie vielmehr das Problem des politischen Kampfes um Deutungshoheit betrifft, zumal Ideen auch die Waffen der herrschenden Klasse sein können. Weiterhin bleibt offen, ob die zweite Konzeption 12 | M ARX , K ARL . E NGELS, F RIEDRICH. Die deutsche Ideologie. (1854-1856). Band I: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner. MEW 3. Berlin: Dietz 1958. S. 46.
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in einer Kausalität mit der ersten steht. Wenn Marx und Engels betonen, dass die herrschenden Gedanken nichts anderes sind als der »ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse«, dann legt das eine innigere Beziehung von Ideologie und materiellem Leben nahe, als es die »objektivistische« Variante tat. Es liesse sich hieran anschliessend sagen, dass Ideologie nichts anderes sei als die gedankliche Zusammenfassung der materiellen Verhältnisse, die von den Privilegierten für die Unterprivilegierten des Wirtschaftssystems ausgearbeitet wurden, damit das System in seinem gewohnten Kreislauf beibehalten wird. Die herrschenden Gedanken sind dann, wie Marx und Engels an anderer Stelle betonen, »nichts als die illusorischen Formen …, in denen die wirklichen Kämpfe der verschiedenen Klassen geführt werden.«13 Ideen erhalten somit insofern eine politische Konnotation, als sie dazu dienen, bestehende Macht-, Reichtums- und Produktionsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Ideologie wird so zu einem politischen Kampfinstrument, das bestimmte materielle Verhältnisse stabilisieren, reproduzieren oder auch neu herbeiführen will und hierfür eben auf ein adäquates und diesen Zielen entsprechend formiertes Selbst- und Weltverständnis, das sie zugleich erzeugt, auf bauen muss. Ideologie bekommt somit das Attribut des ›Illusorischen‹, da sie die bestehenden materiellen Verhältnisse so proklamieren und die darin herrschenden Widersprüche so kaschieren muss, dass sie allgemeine Akzeptanz erzeugen kann. Entsprechend kommentieren Marx und Engels, dass »jede neue Klasse, nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, genötigt [ist], schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen.« 14
Wenn nun aber diese strategische Gewinnung des »gemeinschaftlichen Interesses aller Mitglieder einer Gesellschaft« auf Ideologie angewiesen ist, die wiederum die herrschenden Gedanken widerspiegelt, dann muss gefragt werden, was genau an dieser strategischen Gewinnung von Zustimmung illusorisch ist: die realen materiellen Bedingungen oder die herrschenden Gedanken, die diese abbilden. Naheliegend ist die zweite Variante. Die Verhältnisse, in denen die Menschen leben, sind allzu ›real‹, als dass sie illusorisch sein könnten. Die leere Lohntüte ist nicht eine Chimäre, die die Bezahlung von Rechnungen und Nahrungsmitteln verunmöglicht. Sie ist allzu real, aber gleichzeitig ideologisch, da die Tatsache, dass kein Einkommen erzielt wird, unterschiedlich erklärt werden kann. Das ›Illusorische‹ betrifft also viel eher die Erklärung eines realen Sachverhaltes als die wirkliche Lebensbedingung als solche. Die »illusorischen Formen«, von denen Marx und Engels hier sprechen, sind nicht unbedingt ein Synonym für ›falsche Formen‹, vielmehr weisen sie darauf hin, dass es eine Diskrepanz 13 | Ibid. S. 33. 14 | Ibid. S. 47.
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gibt zwischen den realen Verhältnissen, in denen die Menschen leben, arbeiten und sich reproduzieren, und den Diskursen, die sich um diese ranken und sie in einen klar definierten und geordneten Bedeutungsrahmen einspeisen, aus welchem dann die realen Verhältnisse interpretiert werden. Marx und Engels weisen hier also auf einen Mechanismus hin, der sich aus den Interessenskonflikten auf der materiellen Ebene speist und mittels ideeller Einsätze, also anhand von ideologischen Interventionen das zu verbergen trachtet, was die ungleichen und ungerechten Lebensbedingungen unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen überhaupt erst erzeugt. In der »Deutschen Ideologie« gewinnt der Begriff des ›Ideologischen‹ somit eine zweifache Wendung. Einerseits bezeichnet er in epistemologischer Weise ein Ideengebäude, das von materiellen Verhältnissen determiniert ist, und andererseits einen politischen Begriff, der dazu dient, diese materiellen Verhältnisse mit dem Etikett der Unausweichlichkeit und der ›Richtigkeit‹ zu versehen. Ideologien werden in diesem Text als der direkte Ausdruck materieller Interessen und als reale Werkzeuge des Klassenkampfes verstanden. In ihrem Eifer gegen die metaphysischen Denkgebäude ihrer Zeit, die zur Stabilisierung von politischer Herrschaft verwendet wurden, sind die beiden entgegengesetzten Ideologiebegriffe in der historischen Situation, welche Marx und Engels mit der »Deutschen Ideologie« untersuchen, eins. Die Konsequenzen dieser wichtigen Kampfschrift gegen die idealistischen Seins- und Staatskonzeptionen, die sie bekämpfen, sind begriffliche Verengungen und unterkomplexe Betrachtungen, die zu einem zweiseitigen Reduktionismus führen: einerseits zum ›ökonomischen Reduktionismus‹, der davon ausging, dass alles Denken und somit auch und vor allem das Selbst- und Weltverständnis der Menschen immer nur der direkte Ausdruck ökonomisch-materieller Verhältnisse sei, und andererseits zum ›Klassenreduktionismus‹, der den Kampf um Ideen mit dem Kampf zwischen klar definierten und umgrenzten Klassen verwechselte. In diesem werden Ideen in eins gesetzt mit den Klassen, die sie denken, so dass die herrschenden oder dominanten Ideen unbedingt diejenigen der Kapitalisten sein müssen, während die antagonistische Klasse entgegengesetzte Ideen haben müsste, die jedoch nur dann zum Siege finden, wenn die materiellen Bedingungen verändert worden sind. Diese reduktionistischen Varianten werden aber von Marx selbst in der »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« bekämpft. Hier lässt Marx den Schimmer des ›Illusorischen‹ fallen und betrachtet Ideologie im Zusammenhang mit den Begriffen des »Überbaus« und der »Basis«. Darin schreibt er über die rechtlichen, politischen, religiösen, ästhetischen und philosophischen, kurz, über die ideologischen Formen, in denen sich die Menschen ihrer ökonomischen Konflikte bewusst werden und sie ausfechten.15 15 | »Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden
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Hier schliesst Ideologie nicht nur die herrschenden Klassen ein, sondern alle Menschen und es gibt auch keine Andeutungen mehr, dass diese Modi des ›Überbaus‹, also die rechtlichen, politischen, religiösen, kurz, die ideologischen Formen irgendwie ›illusorisch‹, ›chimärisch‹ oder ›fantastisch‹ seien. Der Begriff der Ideologie wird hier von seiner pejorativen Bedeutung eines blossen Herrschaftsinstruments der Herrschenden losgelöst, erhält dafür aber die Bedeutung eines Klassenkampfes auf der Ebene der Ideen. Fallengelassen wird auch die Implikation, dass diese Ideen immer falsch sind. Mit der berühmten marxistischen Formulierung von ›Basis‹ und ›Überbau‹, wie sie in der »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« dargestellt wird, lokalisiert Marx die Ideologie im ›Überbau‹. Die Menschen, so sagt er, gehen in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens »bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« 16
Hier kommt zwar die Inversionsformel von Sein und Bewusstsein wieder vor, aber in einer doch dezidiert anderen Variante. Was Marx hier anspricht, ist, dass der soziale Verband, in welchem der Mensch sich vorfindet, auf bestimmten ökonomischen Verhältnissen auf baut, aber vor allem auch auf Interpretationen desselben (juristischer und politischer Überbau), die zur Legitimierung des gesellschaftlichen Seins – der sozialen Interaktion und der hier entstehenden Bewusstseinsformen und der Selbst- und Weltverständnisse – verwendet werden und diesen dadurch stabilisieren. Im Gegensatz zur ›deterministischen‹ Variante der »Deutschen Ideologie« spricht Marx an dieser Stelle keineswegs von »widerspiegeln« oder »ableiten« und auch nicht von »Determinierung«, sondern bloss von einer »realen Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte Bewusstseinsformen« eben nicht widerspiegeln oder determinieren, sondern bloss entsprechen. Dies ist eine nicht zu unterschätzende Wortwahl, weil sie nicht nur die Relation zwischen den Produktionsverhältnissen und dem Bewusstsein der Menschen in eine andere, losere, Verbindung Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.« In: M ARX , K ARL . Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie (1859). MEW 13. 7. Auflage. Berlin: Dietz 1971. S. 9. 16 | Ibid. S. 8-9.
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setzt, sondern auch, weil dadurch das gesellschaftliche Bewusstsein, die darin enthaltenen Selbst- und Weltdeutungen und letztlich die dadurch stabilisierten Einstellungen zum politischen, rechtlichen und sozialen System mit der ökonomischen Basis gedacht werden können, ohne sie mit ihr gleichsetzen zu müssen. Zu Recht betont Terry Eagleton, dass der Begriff des ›Überbaus‹ ein relationaler ist. Mit diesem gelingt es, die Art und Weise zu verstehen, in der bestimmte gesellschaftliche Institutionen als ›Stützen‹ der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse agieren. »Er lädt uns dazu ein, diese Institutionen auf eine bestimmte Weise zu kontextualisieren, nämlich sie in ihren funktionalen Beziehungen zur herrschenden gesellschaftlichen Macht zu betrachten.«17
Die politischen und juristischen Einrichtungen eines Staates dienen in diesem Sinne dazu, die vorherrschenden Produktionsverhältnisse nicht nur zu plausibilisieren, sondern zugleich auch mittels ihrer politischen und rechtlichen Interventionen institutionell zu festigen und so zu reproduzieren. Dass damit auch das Bewusstsein der Menschen geprägt wird, leuchtet ein. Letztlich konstatiert eine Aussage, welche in der materiellen Produktivität die prägende Struktur des Lebens und Denkens sichtet, nichts anderes als das Offensichtliche. Die meisten Menschen verbrachten und verbringen weiterhin die meiste Zeit mit der materiellen Produktion und dem Erzielen eines Einkommens, welches ihnen den Konsum lebenswichtiger Güter ermöglicht. Die materielle Produktion ist in dem Sinne ›primär‹, als sie zu den Konstanten des menschlichen Lebens gehört. Für Marx ist es offensichtlich, dass diese Produktion den roten Faden der Geschichte darstellt. Es ist der ›homo laborans‹, der die ›conditio humana‹ ausmacht und es ist der ›homo laborans‹, der sein Denken in Abhängigkeit der Produktionsverhältnisse gestaltet, in denen er sich vorfindet. Bertolt Brechts Aussage, dass »das Fressen vor der Moral kommt« macht tatsächlich nur vor diesem Hintergrund Sinn. Nur wenn man annimmt, dass Fressen und Moral durch ein kausales Wirkungsverhältnis verbunden sind, lässt sich auch verstehen, weshalb ein voller Magen eher zu allgemeinverbindlichen altruistischen Handlungen verleitet als ein leerer. Marxens Einsatz ist hier aber ein zweifacher. Nicht nur macht er auf diesen Zusammenhang zwischen Produktionsverhältnissen und menschlichem Bewusstsein aufmerksam, sondern er betont gerade mit dem Begriff des ›Überbaus‹, dass sogar ein leerer Magen von den offiziellen Institutionen so erklärt werden kann, dass er trotz seiner Protestlaute als voller plausibilisiert und getrost überhört werden kann, dass also diejenigen Bedingungen, in denen die Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten, ohne dadurch ihren Magen zur Be-
17 | Vgl. E AGLETON, TERRY. Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart. Weimar: Metzler 2000. S. 99.
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friedigung des Hungers füllen zu können, als ›richtige‹, ›natürliche‹ oder ›unumgängliche‹ von den Überbau-Strukturen erklärt werden. Das Konzept des ›Überbaus‹ impliziert somit die Vorstellung von bestimmten Institutionen, die dem materiellen Leben entfremdet sind, ihm aber als herrschende Kräfte übergeordnet werden. Indem diese Institutionen zwar historisch geworden und somit auch von den materiellen Produktionsverhältnissen abhängig sind, diesen aber übergeordnet werden, beeinflussen sie die Bewusstseinsgestaltung der Menschen. »Die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft [bildet] die reale Grundlage, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweisen eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären sind.« 18
Beim Überbau und den Bewusstseinsformen handelt es sich gemäss Engels also um getrennte Erscheinungen, die aber auf einer Ebene liegen und beide auf der historisch bestimmten Art und Weise der materiellen Produktion der Gesellschaft beruhen. »Aus der bestimmten Form der materiellen Produktion«, so erneut Marx, »ergibt sich eine bestimmte Gliederung der Gesellschaft – Nr.1, zweitens ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zur Natur. Ihr Staatswesen und ihre geistige Anschauung sind durch beides bestimmt. Also durch die Art ihrer geistigen Produktion.«19 Obwohl die Basis-Überbau-Doktrin als zu statisch, hierarchisch und dualistisch kritisiert worden ist, lohnt es sich, einige Worte zu ihrer Verteidigung zu äussern. Was Marx hier andeutet, ist zunächst einmal, dass die vom Willen der einzelnen unabhängigen Produktionsverhältnisse die ökonomisch-gesellschaftliche Struktur (die materielle Basis) der verschiedenen Gesellschaften bildet, auf deren Grundlage sich ein juristischer, politischer und ideologischer (die Bewusstseinsformen prägender) Überbau entwickelt. Marx betont hiermit also, dass Politik, Recht, Staat und Ideologie mit ihren Normen und Institutionen weder aus sich selbst noch aus der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes heraus begriffen werden können. Die einzig mögliche Erklärungsgrundlage bildet die in der ökonomisch-gesellschaftlichen Struktur enthaltene Entwicklungs- und Widerspruchsdynamik. Diese Ordnung ist jedoch nicht als einfacher Kausalzusammenhang gemeint, sondern als komplexes Ganzes, das in seinen konkreten Strukturen und Vermittlungsprozessen zu analysieren sei. Dies macht spätestens Friedrich Engels klar: »Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat 18 | E NGELS, F RIEDRICH. Anti-Dühring (1878). MEW 20. Berlin: Dietz 1962. S. 25. 19 | M ARX , K ARL . Theorien über den Mehrwert. MEW 26.1. Berlin: Dietz 1962. S. 257.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmten in vielen Fällen vorwiegend deren Formen. [...] Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. [...] Zweitens aber macht sich die Geschichte so, dass das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählig einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ereignis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes bewusstlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann.« 20
Was dieses Modell also keineswegs behaupten will, ist, dass Überbau-Institutionen wie die parlamentarische Demokratie, der Rechtsstaat oder aber auch die Gefängnisse weniger wirklich sind als Fabriktore, Bürogebäude und Geldnoten. Sie sind genauso materiell wie der Boden, der vom Bauern gepflügt wird, oder der Besen, den die Putzfrau verwenden muss, um ihre Arbeit verrichten zu können. Diese Doktrin will also diejenige Ebene des gesellschaftlichen Zusammenlebens herausschälen, die die anderen Ebenen am stärksten beeinflusst und die folglich auch die privilegierte Kampf bühne für die Herbeiführung umfassender gesellschaftlicher Veränderungen ist. Die materielle Basis ist aber wiederum in begriffliche Formen gefasst, die im Überbau plausibilisiert und stabilisiert werden und so die Bewusstseinsformen der Menschen prägen. Diese Doktrin weist also auf einen materiellen und geistigen Kontext hin, in welchem sich Selbst- und Weltdeutungen in Anlehnung an die im Überbau artikulierten Plausibilisierungsdiskurse über die materiellen Verhältnisse entwickeln und reproduzieren. Das Selbst- und Weltverständnis der Menschen ist nicht einzig und allein von den materiellen Bedingungen abhängig, ist nicht dessen Spiegelung in begrifflicher Variante, sondern von den rechtlichen und politischen diskursiven Erklärungseffekten abhängig, die das Materielle der Produktion mit dem Ideellen der Bedeutung erst verschränken: Effekte, die ideologischen Charakter haben, weil sie die materielle Basis von einer historisch dominant gewordenen Perspektive und nicht von einer anderen, beleuchten und erklären. Marx’ und Engels’ intellektuelle Arbeit zielt ja gerade darauf, die zu ihrer Zeit dominanten Erklärungsmuster 20 | Brief von Friedrich Engels an Joseph Bloch vom 20./21. September 1890. In: K ARL M ARX /F RIEDRICH E NGELS – W ERKE (MEW) Band 37. 4. Auflage. Berlin: Dietz 1986. S. 462.
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der Welt und des Selbst zu durchbrechen und in kritischer Auseinandersetzung mit diesen neue an ihrer Stelle zu setzen. »Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien.« 21
Es müssen also zunächst die ideologischen Formen analysiert und kritisiert werden, in denen die Menschen Bewusstsein ihrer Lage gewinnen, damit aus einer Kritik der dominanten Interpretationen des Selbst und der Welt auch die materiellen Bedingungen angegangen und verändert werden können, die lange Zeit die Lebens- und eben auch Denkgrundlage der Menschen bildeten. Ideologie erscheint in dieser Auslegung weniger die Sache einer herrschenden Klasse zu sein als vielmehr diejenige einer bestimmten Gesellschaftsform. Gerade in seinen Spätwerken scheint sich Marx auf dieses Verständnis von Ideologie festgelegt zu haben. Im ersten Band des »Kapitals« behauptet Marx im Kapitel über den »Fetischcharakter der Ware«, dass die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse von Menschen in kapitalistischen Gesellschaften durch die scheinbar autonome Interaktion der Waren, die sie herstellen, beherrscht werden. »Das Geheimnisvolle der Ware«, so Marx, »besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein ausser ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. [...] Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.« 22
Was Marx schon in seinen frühen »ökonomisch-philosophischen Manuskripten« unter dem Begriff der »Entfremdung« thematisiert hatte, wird hier weiterentwickelt. Die Menschen, so lässt sich diesem Zitat entnehmen, schaffen Produkte, die sich jedoch ihrer Kontrolle entziehen und so ihre Existenzbedingungen bestim21 | Brief von Karl Marx an Arnold Ruge vom September 1843. In: M ARX , K ARL . Briefe aus den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« (1843). MEW 1. Berlin: Dietz 1976. S. 345. 22 | M ARX , K ARL . Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23. Berlin: Dietz 2007. S. 86f.
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men. Es ist der ›Warenfetischismus‹, diese »phantasmagorische« Form, die die menschlichen Verhältnisse als Verhältnisse von Dingen erscheinen lässt. Die Warenwelt wird zur Welt des Menschen und seiner Selbst- und Weltdeutungen. Alles wird in der Kodierung dieser Logik betrachtet, verstanden und ihr gemäss ausgeführt. Die ideologischen Konsequenzen dieses Fetischismus betreffen unmittelbar das Denken und das Bewusstsein der Menschen. Einerseits wird dadurch das reale Wirken der Gesellschaft verschleiert und verdeckt. Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit verbirgt sich hinter dem Schleier der Warenzirkulation, deren Produkte nicht länger als gesellschaftliche Produkte erkennbar sind. Andererseits lässt sich aus dieser Passage auch folgende Konsequenz ziehen. Da die Gesellschaft nicht mehr als Ausdruck menschlicher gemeinsamer Konstruktion erscheint, sondern nur noch von der Warenlogik zusammengehalten wird, verliert sie ihren Zugang als Totalität. Sie kann, angesichts des atomisierenden Einflusses der Waren, die die kollektive Tätigkeit gesellschaftlicher Arbeit in ein Verhältnis einzelner, toter Dinge verwandelt, nur noch in fragmentarisierter Variante erfasst werden. Die Zusammenhänge, Ursachen und Logiken dieser Gesellschaft werden für den Menschen undurchschaubar und dadurch vermindert die kapitalistische Ordnung ihre Anfälligkeit für politische Kritik. Die Gesellschaft erscheint dem Menschen als etwas, das er nicht mehr als von ihm konstruierte und somit auch nicht mehr von ihm selbst veränderbare wahrnimmt. Ihre ›Phantasmagorie‹ liegt gerade darin, dass die Gesellschaft wie von selbst zu funktionieren scheint, ohne willentliches Zutun des Menschen. Was ihm einzig noch zu Gesicht kommt, ist der fetischisierte Teil dieser Gesellschaft: der Markt. Hier zirkulieren die Waren und hier bewegt sich auch der Mensch, selber Teil dieser Warenwelt. Der Markt erscheint als etwas, das die ökonomischen Prozesse regiert und reguliert. Hier findet der Tausch der Waren statt, hier treffen sich Produzenten und Konsumenten, die nichts voneinander wissen und eben auch nicht wissen müssen, sofern die smithsche ›unsichtbare Hand‹ des Marktes da ist, und die Informationen über den Preismechanismus den anonymen Tauschpartnern zur Verfügung stellt. Da der Markt wie durch Zauberei funktioniert, indem er blindlings die Bedürfnisse und ihre Befriedigung aufeinander abstimmt, gibt es darin auch keine ›Zwänge‹. Schliesslich können die Menschen ›wählen‹, ob sie eine Ware kaufen oder verkaufen wollen oder nicht. Niemand zwingt sie. In dieser durchsichtig-undurchsichtigen Welt des Marktes ist weder Nächstenliebe noch Kameradschaft gefragt. In der Tat funktioniert der Markt am besten, wenn jede Partei nur ihr Eigeninteresse verfolgt, ihre Handlungen danach ausrichtet und so auch intentionslos ringsum eine bestimmte Art von Befriedigung herbeiführt. Der Unternehmer hat Arbeitskräfte, diese erhalten einen Lohn, der Grundbesitzer, auf dem die Fabrik oder Büros stehen, erhält eine Rente und die produzierten Waren erfreuen solche Menschen, die man nicht zu kennen braucht. Eine selbstläufige, zufriedene Welt glücklicher anonymer Tauschobjekte. Doch dies, woran Marx immer wieder erinnert, ist eben nur die Phantasmagorie der realen Verhältnisse. Der Markt erscheint nämlich auch in einem ganz anderen Sinne. Er ist
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Teil des kapitalistischen Kreislaufes, den jeder klar sehen kann, jenes Stückchen Realität, das alle Menschen täglich erfahren. Ohne Einkommen zu erzielen, ohne also die eigene Arbeitskraft zu einem Lohnpreis zu verkaufen, lässt sich auch nichts konsumieren, und ohne die in produktive Abläufe gesteckte Arbeitskraft lassen sich auch keine Güter herstellen, die ihrerseits dem Konsum gewidmet sind. Es gibt nichts zu verkaufen, wenn keine Waren produziert werden, und es ist zu allererst die Produktion, in der der Wert der Ware generiert, der Profit vorgespurt und das Kapital verwertet wird und alles – so mahnt Marx immer wieder – beruht auf der im Produktionskreislauf ausgebeuteten Arbeitkraft. Das ›Phantasmagorische‹ der kapitalistischen Gesellschaft liegt nun darin, dass eine Marktideologie nur eine Art von ›Ausbeutung‹ sehen und begreifen kann, und zwar das ›Profitieren‹ – das Erzielen eines zu grossen Anteils am Marktpreis also. Der Markt ist also durchaus real, nur erscheint er uns in Form bestimmter Wahrheiten und Plausibilisierungsdiskurse, die wiederum effektive Auswirkungen auf das menschliche Leben und Denken haben. Es ist also nicht mehr bloss eine Frage verzerrter Wahrnehmung durch Menschen, wie dies Marx noch in den »ökonomisch-philosophischen Manuskripten« andeutete, welche die reale Welt in ihrem Bewusstsein verkehren und sie sich daher vorstellen, die Waren kontrollierten ihr Leben. Marx behauptet im Kapital nämlich, dass es gerade nicht so ist, dass es so aussehen würde, als ob die Waren im Kapitalismus eine tyrannische Macht über die gesellschaftlichen Verhältnisse ausüben. In seinem Spätwerk behauptet er vielmehr, dass sie es wirklich tun. Ideologie wird so von einer reinen Angelegenheit des Bewusstseins in die materiellen Lebensbedingungen der Menschen transferiert. Sie ist nun, wie dies Alex Callinicos zu Recht hervorhebt, eher eine Funktion der kapitalistischen Wirtschaft, die ihre eigenen falschen Wahrnehmungen produziert, als eine blosse Funktion der Diskurse, Überzeugungen und Institutionen des Überbaus.23 Ideologie ist also nicht nur etwas, das das Bewusstsein betrifft, sondern hochgradig materiell, weil sie sich durch die alltägliche Selbstverständlichkeit menschlicher Betätigungen stillschweigend performiert und reproduziert. Ihre Taktik ist die der Naturalisierung und der Verewigung von Verhältnissen, und zwar nicht nur, indem sie permanent diskursiv plausibilisiert werden muss, sondern einfach schon dadurch, dass alltägliche Praktiken aufgrund ihrer Repetition die historischen Spuren und die Machtverhältnisse, die diese Wiederholungen überhaupt erst erzwingen, verschleiert. Der Verkauf der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt unter ungleichen Eintritts- und Verhandlungsbedingungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber erscheint dann zwar als phantasmagorischer Ausdruck des Marktes, ist aber gerade wirklicher Ausdruck des Marktes, und aufgrund seiner Unausweichlichkeit zwingt er die Menschen unter seine Gesetze, als hätten sie keine Möglichkeit, diese zu verändern. Die ideologischen Kategorien des kapita23 | C ALLINICOS, A LEX . Marxism and Philosophy. Oxford. New York: Oxford University Press 1985. S. 131
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listischen Marktsystems, die einzig in der Sphäre der Zirkulation die Erzeugung des Profits und des Mehrwerts sichten, verbergen die darunterliegende Realität der Produktionssphäre, in welcher die Arbeitsverhältnisse ausgebeutet werden, und substituieren all diese Verhältnisse durch die ›Wahrheit‹ des Marktes. Ideologie ist nun nicht mehr eine blosse Machtstrategie einer herrschenden Klasse, sie gründet vielmehr in der materiellen Praxis der bürgerlichen Gesellschaft. »Die Idee der Falschheit erhält sich im Begriff der trügerischen Erscheinungen, die jedoch weniger gedankliche Fiktionen als vielmehr strukturelle Effekte des Kapitalismus sind.«24 Mit der Theorie des ›Warenfetischismus‹ schmiedet Marx einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen kapitalistischer Produktion und menschlichem Bewusstsein. In der alltäglichen Praxis der Menschen reflektieren sich die ideologischen Momente des kapitalistischen Systems als ›Wahrheiten‹, die unumgänglich sind und so eben auch die ideologischen Formen generieren, in denen die Menschen Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Lage in der Gesellschaft gewinnen. Die Selbst- und Weltdeutungen der Menschen, so lässt uns Marx verstehen, lassen sich also nicht erforschen, wenn man nicht auch die materiellen Grundlagen in Betracht zieht, unter deren Imperative der Existenzsicherung und der Lebensausrichtung die Menschen stehen. Die Falschheit dieser Selbst- und Weltverständnisse entsteht nicht aus der Tatsache, dass der Markt eine Illusion, eine Taschenspielerei sei, sondern sie besteht nur im Sinne einer inadäquaten Erklärung eines Prozesses. Gerade der ›Fetischismus‹, diese phantasmagorische Erscheinung einer Warenwelt, die von den Menschen losgelöst, sie dennoch in ihren Bann zieht, ermöglicht die Verschleierung und eben Ideologisierung eines Prozesses, dessen grundlegende Merkmale im Dunkeln bleiben und nur die Oberflächenphänomene, also der blosse Tausch der Waren auf der Ebene der Zirkulation, sichtbar bleiben. Die Verhältnisse, in denen die Leute leben, sind immer die ›wirklichen Verhältnisse‹ und die Begriffe und Kategorien, die sie verwenden, helfen ihnen, diese gedanklich zu erfassen und zu artikulieren. Es sind aber Begriffe und Kategorien, die aus dem alltäglichen Kreislauf von Produktion und Konsumtion generiert werden, und zwar so, dass nur ein Teil dieses Kreislaufes hervorgehoben wird. Ideologien dienen also nicht einfach dazu, eine Lüge zu verbreitern, sondern vielmehr ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, das durchaus erfahrbar und wirklich ist, in eine bestimmte Logik zu tauchen, so dass die gesellschaftliche Interaktion mit dieser Logik in Einklang gebracht werden kann und zugleich diejenigen materiellen Effekte produziert, die der Logik entsprechend, von den Menschen angeeignet und reproduziert werden. So mag es zwar richtig sein, dass für das gegenwärtige kapitalistische System eine bestimmte Arbeitslosenrate unvermeidlich ist. Das ist aber weder in Granit gemeisselt noch eine unverrückbare Wahrheit, denn dies muss nicht auch für zukünftige Alternativen gelten. Die Ideologie wirkt hier also nicht, indem sie eine 24 | E AGLETON, TERRY. Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart. Weimar: Metzler 2000. S. 104.
7. Ideologische Konstellationen
Unwahrheit als Wahrheit ausgibt, sondern indem sie ein bestehendes Verhältnis als einzig Mögliches plausibilisieren will. Ideologien können also als Aussagen über die jetzige Gesellschaftskonstitution wahr sein, aber sie können eben auch falsch sein, insofern sie dazu benutzt werden, eine Veränderung der Verhältnisse zu verhindern. Wenn ein Arbeitsloser seine desolate Lage als unausweichliche Konsequenz der kapitalistischen Marktmechanismen versteht, so ist das nicht nur eine Reproduktion der dominanten Ideologie, die sich in der alltäglichen von der kapitalistischen Produktionsweise erzeugten Praxis manifestiert, sie ist auch innerhalb dieser Logik nicht falsch, sie bildet und stabilisiert jedoch gerade jenes Amalgam von ideologischen Formen, in denen der Arbeitslose seine Lage nur noch im Register dieser ›Sprache‹ entziffert. Sein Bewusstsein ist insofern ein falsches, als es bloss die dominanten ideologischen ›Sprachen‹ innerlich wiederholt und so eine verkürzte und mangelhafte Analyse seiner Lage produziert. Dasselbe geschieht, wenn schlecht bezahlte Arbeitnehmer paradoxerweise für die Verlängerung des Arbeitstages kämpfen, im Glauben, nur so könne der Betrieb genug Umsatz erzielen, um ihre Löhne weiterhin bezahlen zu können, da ansonsten der Markt die Schliessung ihres Betriebes erzwingen würde. Das muss in der Konsequenz nicht falsch sein, muss aber auch nicht die ganze Wahrheit sein. Mit der vorgespielten Gefahr des Arbeitsplatzverlustes findet insofern eine Täuschung statt, als die damit intendierte Botschaft lautet, dass die Verlängerung des Arbeitstages zu denselben Löhnen das einzig Konstruktive wäre, was nicht unbedingt der Fall sein muss. Eine Veränderung der Lohnstrukturen, die auch das obere Kader einbeziehen würde, und Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, was zu grösserer Kreativität und zu stärkerer Attraktivität für die Kunden führen könnten, wären nur einige der Alternativen, die angegangen werden könnten. Mit Marx lässt sich also sagen, dass Ideologie, obwohl er uns verschiedene Varianten dieses Begriffes vorschlägt, ein inhärentes Merkmal der Gesellschaftsstrukturen, ihrer materiellen Verhältnisse und der Diskurse, die sich um diese ranken, ist. Ideologie entsteht nicht notwendig durch diskursive Verzerrung der wahrgenommenen Wirklichkeit, sie kann sich auch in den alltäglichen Praktiken einnisten und sich hier schweigend zum Ausdruck bringen. Was sie auf jeden Fall auszeichnet, und das haben Marx und Engels präzise dargestellt, ist, dass sie die Schnittstelle zwischen Macht und Sprache bildet. Sie ist sowohl machtförmiger Ausdruck einer sozialen Praxis als auch diskursiver Einsatz, um die von ihr plausibilisierte und erzeugte soziale Praxis zu verabsolutieren und naturalisieren. Ideologie ist demnach etwas, in dem sich alle befinden, die Herrschenden wie die Unterworfenen, aber zugleich ist sie natürlich auch der privilegierte Diskurs derjenigen, die ihre Macht im gesellschaftlichen Kontext aufrechterhalten möchten. Ein Investmentbanker kann die drei Bände des Kapitals verschlingen und die marxistische Kapitalismuskritik gutheissen, sich somit der ideologischen Mechanismen, in denen auch er gefangen ist, bewusst sein, dennoch aber an diesem System, das ihm Privilegien und hohe Profite beschert, festhalten. Der späte Marx lässt uns verstehen, dass Ideologie der allgemeine materielle Prozess der Produk-
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tion von Ideen, Überzeugungen und Werten des gesellschaftlichen Lebens ist. Die Menschen erzeugen aus der materiellen Welt, in der sie leben, Bedeutungen dieser Welt, damit sie diese und auch sich selbst darin mit Sinn behaften können – Bedeutungen aber, die immer auch bestimmte Machtverhältnisse widerspiegeln und von den Mächtigen auch stabilisiert werden wollen, damit sie möglichst ›natürlich‹ und unhinterfragt übernommen werden. Marx’ und Engels’ Arbeit zielte gerade auf die Entschleierung dieser ideologischen Machtaspekte. Mit ihrer Kritik der bürgerlichen Ökonomie wollten sie nicht nur die Widersprüche des kapitalistischen Kreislaufs aufzeigen, sondern eben auch auf die materiellen Bedingungen des ideologischen Diskurses aufmerksam machen, der diesen Kreislauf als einzig möglichen propagiert, legitimiert und naturalisiert, während er doch nur dazu dient, die Interessen einer bestimmten Klasse aufrechtzuerhalten. Folgt man der marxistischen Ideologiekritik, so lassen sich unter dem Begriff der Ideologie die mentalen Rahmen verstehen – die Sprachen, Konzepte, Kategorien, Denkbilder und Vorstellungssysteme –, die verschiedene Klassen und soziale Gruppen entwickeln, um der Funktionsweise der Gesellschaft einen Sinn abzugewinnen, sie zu definieren, auszugestalten und verständlich zu machen. Diese mentalen Rahmen können jedoch nicht losgelöst von den Produktionsverhältnissen verstanden werden. Da die Menschen ihr Dasein unter materiellen Bedingungen bestreiten müssen, ist für Marx klar, dass ihr Denken auch nicht unabhängig von diesen konzipiert werden kann. Marx und Engels machen jedoch immer wieder darauf aufmerksam, dass es nicht um eine blinde Determinierung des Denkens durch das Ökonomische geht. Es ist nicht so, dass »die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist die Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit. [...] Es ist also nicht, wie man sich hier und da bequemerweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage, sondern die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu.« 25
Was sie hervorheben wollen, ist die Wechselwirkung zwischen der alltäglich erfahrbaren ökonomischen Produktion von Waren und Reproduktion von menschlicher Arbeitskraft, und den diese materiellen Verhältnisse plausibilisierenden Diskurse. Das Basis-Überbau-Modell will auf die dialektische Einheit von Materie und Idee, respektive von Produktion und Interpretation derselben hinweisen und sie als konkrete Totalität, in der die Menschen Bewusstsein ihrer Lage, ihrer Selbst und der sie umliegenden Welt gewinnen, verstehen. Das Resultat, zu dem Marx und Engels gelangen, ist gerade nicht,
25 | Brief von Friedrich Engels an Joseph Bloch vom 20./21. September 1890. In: K ARL M ARX /F RIEDRICH E NGELS – W ERKE (MEW) Band 37. 4. Auflage. Berlin: Dietz 1986. S. 462f.
7. Ideologische Konstellationen »dass Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion identisch sind, sondern dass sie alle Glieder einer Totalität bilden. Unterschiede innerhalb einer Einheit. [...] Es findet Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Momenten statt. Dies ist der Fall bei jedem organischen Ganzen.« 26
Das heisst nichts anderes, als dass die gesellschaftliche Interaktion, in welcher die Menschen ihre Selbst- und Weltbilder erzeugen, das Resultat gleichzeitiger Bewegungen ist, die zwar auf verschiedenen Ebenen stattfinden, aber deswegen nicht voneinander losgelöst sind. Das Ganze der gesellschaftlichen Interaktion ist gemäss Marx und Engels das Resultat der Wechselwirkung zwischen ökonomischer materieller Grundlage oder eben praktischer, alltäglich erfahrbarer Gewinnung der materiellen Ressourcen, um körperlich am Leben zu bleiben und den geistigen, ideellen Interpretationen, die diesen Vorgängen Sinn zuschreiben, womit zugleich auch die individuelle Lage im gesellschaftlichen Kontext mit Bedeutung behaftet wird. Es geht ihnen nicht um die Privilegierung der materiellen Produktion, die letztlich alles erklären soll, weil alles auf ihr auf baut. Eine solche Reduktion käme nicht nur einem »primitiven Infantilismus« 27 gleich, wie Antonio Gramsci es später gegen die ökonomisch-reduktionistische Marxinterpretation polemisch auf den Punkt bringen wird, sondern sie wäre auch vollkommen unwissenschaftlich, da sie historische Ereignisse nicht erklären könnte, ohne in absurde Spiegelfechterei zu verfallen. Einer Methode nämlich, die einzig davon ausgeht, dass alles von der ökonomischen Basis determiniert ist, gelingt es nicht, »die Existenz jedes deutschen Kleinstaates der Vergangenheit und Gegenwart oder den Ursprung der hochdeutschen Lautverschiebung … ökonomisch zu erklären, ohne sich lächerlich zu machen.«28 Basis und Überbau sind also nicht zwei voneinander getrennte Sphären der Bewusstseinsgestaltung. Vielmehr sind sie so aneinandergekoppelt, dass sie wechselseitig aufeinander einwirken. Die auf der materiellen Ebene vorherrschenden Produktionsverhältnisse, die den Menschen abstrakt erscheinen, weil sie sich in Zwängen vorfinden, deren Ursachen sie nicht mehr durchschauen können, korrespondieren mit konkreten ›Erklärungen‹ dieser phantasmagorischen Erscheinungen, die ihnen Sinn, Kohärenz und Stabilität zuweisen. Die kapitalistische Produktion erzeugt selber Zwänge in Form des Warenfetischs, aber auch diese wollen mit Bedeutung gefüllt werden, damit die Menschen ihrem alltäglichen Gang zur Arbeit einen Sinn abgewinnen können.
26 | M ARX , K ARL . Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1859). MEW 13. 7. Auflage. Berlin: Dietz 1971. S. 630. 27 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 4, Heft 7, S. 878. 28 | Brief von Friedrich Engels an Joseph Bloch vom 20./21. September 1890. In: K ARL M ARX /F RIEDRICH E NGELS – W ERKE (MEW) Band 37. 4. Auflage. Berlin: Dietz 1986. S. 464.
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Die Wechselwirkung zwischen materieller Produktion und ideeller Sinnstiftung ebendieser Produktion, benötigt jedoch auch eine politische Legitimation, damit sie weiterhin wirksam bleiben kann: eine Legitimation, die zudem auf eine politische Kultur angewiesen ist, in welcher gerade diejenigen Selbst- und Weltverständnisse sowie Deutungen der eigenen Position im gesellschaftlichen Kontext gefestigt sind, die ihrerseits der bestehenden Produktionsweise Bedeutung und Kohärenz verleihen. Wenn politische Kultur über ihre Dimensionen den Raum des Sag- und Machbaren definiert, dann nur, indem sie bestimmte Deutungen der Welt, des Selbst sowie der gesellschaftlichen und somit auch ökonomischen Verhältnisse generiert, über die Zeit transportiert, immer wieder in Erinnerung ruft und so eben auch stabilisiert und auf Zustimmung ausrichtet. Politische Kultur ist deshalb hochgradig ideologisch, weil sie als Deutungskultur dessen, was in der Soziokultur, also in der alltäglichen Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Gewebes, einen erklärenden und interpretierenden Diskurs dieser sozio-kulturellen Vorgänge so festigen muss, dass er als dominanter Diskurs andere Interpretationsmöglichkeiten ausschliesst oder zumindest marginalisiert. Einer jeden politischen Kultur ist somit der Kampf um Bedeutung eingeschrieben, der nicht unabhängig von den materiellen Verhältnissen gedacht werden kann. Ideologie mag zwar in der materiellen Struktur der Gesellschaft gründen, hier als ›Warenfetischismus‹ die Menschen in ihren Bann ziehen und zugleich auch die Diskurse generieren, die zur Stützung der gegebenen Ordnung dienen; jedoch scheint dies für die Aufrechterhaltung eines politischen und ökonomischen Systems allein nicht zu genügen. Damit moderne wirtschaftliche und politische Ordnungssysteme stabil bleiben können, bedürfen sie, wie Max Weber lehrte, der aktiven Zustimmung ihrer Teilnehmer. Gerade dieser Zusammenhang zwischen materiellen Existenzbedingungen, ihnen inhärenten ideologischen Formen und der zustimmungsfähigen Reproduktion dieser ökonomischen und politischen Strukturen wird die Frage sein, die den italienischen Politiker und Philosophen Antonio Gramsci beschäftigte und von ihm mit dem Begriff der ›Hegemonie‹ zu fassen versucht wurde.
7.3 A NTONIO G R AMSCIS H EGEMONIE THEORIE Das Problem, das sich hier stellt, liegt also darin, danach zu fragen, wie Selbstund Weltdeutungen die Köpfe der Massen ergreifen, dadurch zur ›materiellen‹ Gewalt werden und somit auch politische Ordnungen stützen und legitimieren. Gerade Gramscis Hegemonietheorie zielt insofern auf dieses Problem, als es auf die Dimensionen der Macht und der Deutungshoheit in Gesellschaften aufmerksam macht. Damit Deutungen über längere Zeit im kollektiven Bewusstsein erhalten bleiben und dadurch auch das individuelle Selbst- und Weltverständnis prägen, müssen sie auf Vorstellungen, Ideen und Sinnmuster zurückgreifen,
7. Ideologische Konstellationen
durch welche die ökonomische und politische Welt und das darin verstrickte Selbst mit nachvollziehbarer Bedeutung gefüllt und ihnen mit Legitimität begegnet werden kann. Sie müssen also über Ideologien operieren, um ihr Deutungsangebot aufrechterhalten zu können. Deutungen sind aber auch auf praktischen Vollzug angewiesen. Sowohl Ideologien einschließlich der durch sie stabilisierten Deutungen der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse und der politischen Ordnungssysteme als auch die jeweiligen subjektiven Positionen, die die Menschen darin einnehmen, benötigen nicht nur Dimensionen der Artikulation in denen und durch die sie sich manifestieren können, sie müssen auch in der sozialen Praxis des Alltags erkennbar sein. Durch die praktische Handlung im sozialen Gewebe gewinnen Ideologien an Materialität, und das heisst, dass sie in ihrer praktischen und materiellen Erscheinung für andere erkennbar, respektive ›lesbar‹ werden. In der praktischen Handlung, im alltäglichen Sprechen und in den jeweiligen Verhaltensweisen, die jemand im Privaten oder Öffentlichen zur Schau stellt, lässt sich die Konformität dieser Praktiken mit den dominanten politisch-kulturellen Deutungen eines Gemeinwesens eruieren. Bleibt die Konformität zwischen dominanter Deutung und sozialer Praxis erhalten, so generiert dies keine weitere Irritation, sondern reproduziert in unhinterfragter Weise die intuitiv als ›richtig‹ wahrgenommenen Handlungen. Diese soziale Praxis durchläuft dann den Bereich der ›Normalität‹, ohne dass sich jemand daran stört. Bleibt die Konformität aber aus und korrespondiert die soziale Praxis nicht mit dem dominant kodifizierten Raum des Sag- und Machbaren, wird nicht nur die Grenze des ›Normalen‹ überschritten, sondern auch die stillschweigende Reproduktion der ideologischen Denkmuster herausgefordert. Diese soziale Handlung, die als nicht-normale soziale Praxis von den anderen identifiziert wird, tangiert unweigerlich die geistig inkorporierten Denk- und Handlungsweisen. Es ist also die Materialität der Handlung, ihr praktischer Vollzug, die hier das Geistige der Idee in Schwingung bringt. Daraus mag sich eine Dissonanz ergeben, die das ganze soziale Umfeld öffentlich erfasst, muss aber nicht. Wichtig ist vielmehr diese Verbindung zwischen dem kognitiven Bereich der Selbst- und Weltverständnisse, der durch die kommunikativen, institutionellen und mnemotechnischen Dimensionen der politischen Kultur stabilisiert wird, und der Materialität – die Fassund Sichtbarkeit einer sozialen Praxis –, die diesen Verständnissen offensichtlich nicht entspricht. Der ideologische Gehalt, den jede politische Kultur aufweist, zumal sie ja gerade mit Anspruch auf – zumindest temporale – Unhinterfragbarkeit ihrer gespeicherten sicht- und unsichtbaren Imperative als Grenzsteine für die Räume des Sag- und Machbaren auftritt, muss sich somit auch materiell reproduzieren, damit eine stabile und sinnvolle Narration über die Sag- und Machbarkeiten eine Zeit lang aufrechterhalten werden kann. Das Ideelle der politischen Kultur ist also auf seine materielle, in der sozialen Praxis sich manifestierende Reproduktion angewiesen, um die eigenen Kodierung des ›Richtigen‹ und ›Falschen‹ bezüglich der politischen, sozialen und ökonomischen Welt unhinterfragt zu stabilisieren. Politische Kultur ist ein Deutungssystem der Welt und des Selbst,
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das eben nicht nur ideellen Charakter, sondern vor allem auch einen praktischen Vollzug beinhaltet. Antonio Gramscis Begriff der Hegemonie versucht gerade diesen Verflechtungszusammenhang von Ideologie und sozialer Praxis einzufangen. Damit eröffnet er die Perspektive für solche Machtaspekte, die in der sozialen Praxis Kontur gewinnen und so ideologische Inhalte über praktische Handlungen und Sprechweisen im kognitiven Kortex des Einzelnen reproduzieren. Gramscis Hegemoniebegriff verschränkt die ideellen Wertesysteme oder Ideologien mit der Materialität ihres praktischen Vollzugs, um so auf Machtfelder, -orte und -interventionen aufmerksam zu machen, in denen und durch welche bestimmte Deutungen der Welt und des Selbst angereizt, vollzogen, reproduziert und so auch intuitiv in den eigenen Sinnhorizont einsickern und sich festsetzen können. Es ist jedoch wichtig, den Begriff der ›Hegemonie‹ so auszulegen, wie ihn Gramsci hergeleitet hat. Im alltäglichen Sprachgebrauch und vielfach auch im politischen Diskurs wird Hegemonie nämlich fälschlicherweise mit ›Vorherrschaft‹ gleichgesetzt: eine Begriffsverkürzung, die nicht nur wesentliche Momente des Hegemoniebegriffes abschneidet, sondern auch unzureichend für eine hegemonietheoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept der politischen Kultur ist. Aus dem griechischen Verb ›heghemoneou‹, was soviel wie ›führen‹ und/oder ›vorangehen‹ bedeutet, leitet sich der Begriff ›Hegemonie‹ ab, und weist schon in dieser ursprünglichen Definition darauf hin, dass es bei der Hegemonie nicht einfach um erzwungene Unterwerfung geht, wie es die Gleichsetzung mit ›Vorherrschaft‹ suggeriert. Was den Begriff der Hegemonie bei Gramsci ausmacht, ist, dass dieser die aktive Zustimmung derjenigen verlangt, die in einem politischen und sozialen System zu den Unterprivilegierten gehören. Zur Hegemonie gehört also nicht bloss das Moment des Zwanges, sondern auch – und das ist entscheidend – dasjenige des Konsenses. Die Bedürfnisse und Interessen der Herrschaftsunterworfenen müssen sich in einem hegemonialen Projekt redefinieren lassen, damit dieses von ihnen gewollt und aktiv angestrebt wird. Hegemonie wäre also ohne das aktive Element der Zustimmung bloss Zwang und Gewalt, oder abgeschwächt ausgedrückt: Vorherrschaft. Gramscis Analysen, die vor dem Hintergrund eines Geschichtsbruchs formuliert wurden, kreisen um die Frage, wie politische Herrschaft in modernen kapitalistischen Gesellschaften aufrechterhalten wird. Angesichts der Niederlage der Linken im Europa der 1930er Jahre und des Aufkommens einer neuen Produktions- und Lebensweise – die aus Henry Fords Fabriken den Fordismus als Mischung zwischen fliessbandgesteuerter Produktion und daran gekoppelter massenhafter Konsumtion zum neuen Produktions- und politischen Legitimationsparadigma kapitalistisch-liberaler Demokratien in die Welt ausstrahlen wird – konzentriert sich Gramsci auf das kulturelle Fundament politischer Macht, auf das also, was ›politische Kultur‹ zu nennen ist. Grob gesprochen lässt sich Hegemonie als eine ganze Reihe praktischer Strategien definieren, durch die eine herrschende Macht Zustimmung von ihren
6. Die Kultur des Öffentlichen
Herrschaftsunterworfenen erlangt. Gramsci begreift die moderne bürgerliche Herrschaft als eine, die deshalb ihre Macht aufrechterhalten kann, weil sie die Etablierung einer moralischen, politischen und intellektuellen Führung im gesellschaftlichen Leben durchsetzen und reproduzieren kann. Dies gelingt ihr dadurch, dass sie ihre eigene ›Weltanschauung‹ im ganzen Gewebe der Gesellschaft verbreitet und so die eigenen Interessen mit denen der Gesellschaft gleichsetzt. Hegemonie heisst entsprechend, »dass die herrschende Gruppe sich auf konkrete Weise mit den allgemeinen Interessen der untergeordneten Gruppen abstimmen wird und das Staatsleben als ein andauerndes Formieren und Überwinden von instabilen Gleichgewichten zu fassen ist …, von Gleichgewichten, in denen die Interessen der herrschenden Gruppen überwiegen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, d.h. nicht bis zu einem engen ökonomisch-korporativen Interesse.« 29
Die herrschende Gruppe, also diejenige, welche die ökonomische und politische Macht innehat, setzt, wie Alex Demirovic betont, »ihre Interessen keineswegs in reiner Form durch, sondern durchdringt zum einen durch Verallgemeinerung und Polarisierung die der anderen Fraktionen, zum anderen nimmt sie durch den selben Vorgang der Verallgemeinerung deren Interessen in sich auf.«30 Gramsci bricht somit eine starre Ideologiekonzeption auf, wie sie fälschlicherweise noch von Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie« nahegelegt wurde und nach der die herrschenden Gedanken zugleich diejenigen der herrschenden Klasse seien. Im Gegensatz zum Bild von Klassenblöcken – mit dem ihnen zugeschriebenen ideologischen Gepäck und ihren ideologischen Nummernschildern auf dem Rücken, wie es von Nicos Poulantzas31 einst gezeichnet wurde – plädiert Gramsci für ein komplexeres Verständnis des Zusammenhangs von Ideologie und politischer Herrschaft. Weder sind Ideologien die direkten Abbilder ökonomischer Verhältnisse noch gehören sie einer einzigen Klasse an. Ideologien sind vielmehr dann wirksam, wenn sie auch von denjenigen übernommen werden, die von den Machtverhältnissen, die diese Ideologien festigen, unterprivilegiert bleiben. Herrschaft ist dann hegemonial, wenn sie auf einem Konsens auf bauen kann, der nicht nur die privilegierten, sondern eben auch die unterprivilegierten Gruppen einschliesst. Bei der Hegemonie handelt es sich also nicht darum, dass eine Klasse oder ein politisches Bündnis ihr Projekt als das der gesamten Gesellschaft darstellt, also bloss so tut ›als ob‹, um es dann hinterrücks durchzusetzen. Ein hegemonia29 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 13, S. 1584. 30 | D EMIROVIC, A LEX . Nicos Poulantzas. Eine kritische Auseinandersetzung. Berlin: Argument 1987. S. 64. 31 | P OULANTZAS, N ICOS. Politische Macht und gesellschaftliche Klassen. Frankfurt a.M.: Athenäum 1974. S. 204.
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les Projekt bedarf vielmehr der aktiven Zustimmung seitens seiner Unterworfenen, respektive seitens der Subalternen, wie sie Gramsci nennt, und entspricht somit einer »passiven Revolution«. Mit dem Begriff der »passiven Revolution« möchte Gramsci auf einen Mechanismus der Herrschaftsausübung aufmerksam machen, in welchem die bestehenden Machtverhältnisse und ökonomischen Produktionsbedingungen – das, was er die »ökonomisch-korporativen Interessen« der herrschenden Gruppe nennt – dadurch legitimiert werden, dass sie den Konsens derjenigen gewinnen, die von diesen Interessen nicht direkt profitieren. Die bestehende ›Ordnung der Dinge‹ perpetuiert sich somit ›passiv‹, das heisst, ohne zu ihrer Stabilisierung repressive oder gar gewalttätige Methoden anwenden zu müssen. Sie beruht zudem auch nicht auf blosser (Selbst-)Täuschung oder auf gewaltsam aufgezwungenen Weltvorstellungen. Mit dem Begriff der ›passiven Revolution‹ ist vielmehr ein Prozess der Verallgemeinerung von Interessen in einem stabilen Kompromissgleichgewicht gemeint, in welchem ideologische Inhalte dadurch hegemonial und dominant werden, dass sie auch von den Subalternen unterstützt werden. Diese haben reale Vorteile ihrer Zustimmung vor Augen und entwickeln ein echtes Interesse an der Beibehaltung der bestehenden Ordnung, weil sie sich eigene Vorteile davon erhoffen. Kurzum, ideologische Inhalte bedürfen in einem hegemonialen Projekt des Konsenses der Subalternen, den sie eher durch die Plausibilisierung bestimmter Selbst- und Weltdeutungen, die als vorteilhaft für die einzelnen Mitglieder angesehen werden, als durch rohe Gewalt erreichen. Für Gramsci ist somit klar, dass die Trennung von Politik, Ideologie, Kultur und Ökonomie, also schlicht von Basis und Überbau nur eine relative ist. In seiner Sichtweise sind sie die unterschiedlichen Elemente einer Gesellschaftsformation, die vielfach miteinander verschränkt sind. Sie sind Momente der »Einheit des Prozesses des Wirklichen«,32 wie er das ein wenig enigmatisch zum Ausdruck bringt. Zu fragen ist, was damit ausgesagt werden soll. Basis und Überbau – oder Struktur und Superstruktur in Gramscis Termini – müssen »als innerlich zusammenhängend und notwendig aufeinander bezogen und in Wechselwirkung«33 begriffen werden. Das bedeutet nicht nur, dass die Annahme der Dominanz einer bestimmten Struktur – beispielsweise die ökonomische – gegenüber allen anderen fallengelassen wird, sondern auch, dass politische Herrschaft in modernen kapitalistischen Gesellschaften eine hegemoniale Form annimmt. Hegemonie wird hierbei von einem »historischen Block« ausgeübt. In diesem vereint sich die »Einheit des Prozesses des Wirklichen« zu einem Kollektivwillen. Gramsci versteht politische Herrschaft also nicht als die Herrschaft einer bestimmten Klasse, sondern vielmehr als ein Amalgam verschiedener sozialer Interessen und Positionen, das in einem gemeinsamen Kompromissgleichgewicht und dem damit er32 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 10, S. 1308. 33 | Ibid.
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zeugten Kollektivwillen zur Perpetuierung der ökonomischen Verhältnisse, zur Stabilisierung der politischen Macht und zur Festigung der politisch-kulturellen oder eben ideologischen Deutungsmuster der gegebenen Ordnung dient. Mit den Begriffen der »passiven Revolution« und des »historischen Blocks« möchte Gramsci auf eine Herrschaftsform aufmerksam machen, die gerade wegen und trotz der ökonomischen und politischen Widersprüche zwischen Regierten und Regierenden besteht. Im »historischen Block« sind nicht nur die ›Herrschenden‹ eingeschlossen, sondern eben auch die ›Beherrschten‹. Darin sind die ›Führenden‹ sowie die ›Geführten‹, die ›Repräsentanten‹ wie auch die ›Repräsentierten‹ integriert. Kurz: mit dem Begriff der Hegemonie macht Gramsci deutlich, wie alle Gesellschaftsmitglieder tagtäglich an der Reproduktion von Herrschaft beteiligt sind – eine Reproduktion, die sich insbesondere im praktischen Handeln manifestiert und hier zugleich mit den hegemonialen ideellen Kodierungen rechtfertigt wird. Um es mit Gramsci zu sagen, wird Hegemonie von einem »historischen Block« ausgeübt, in welchem »sozio-ökonomischer Inhalt und ethischpolitische Form … identisch«34 sind. Hegemonie ist also eine Herrschaftsform, in welcher die Gruppe, die führen will, Opfer bringen muss. Sie muss also auf die Konflikte eingehen, die sich aus der Konkurrenz in der kapitalistischen Produktion ergeben, sie muss denjenigen Zugeständnisse machen, die sie als Bündnispartner gewinnen will oder sogar muss, um weiterhin die Hegemonie ausüben zu können. Aber wie Gramsci betont, sind es eben Zugeständnisse, die nicht die Existenz der bestehenden Produktionsweise in Frage stellen, denn »es besteht kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt.« 35
Um es in Gramscis Termini zu verpacken: damit die Bourgeoisie ihre ökonomische und politische Macht aufrechterhalten kann, muss sie einerseits auf ihre nächst gelegenen potentiellen Bündnispartner – wie die Grossgrundbesitzer und Bauern oder das Kleinbürgertum mit seinen Händlern, Kleinunternehmern und Freiberuflichen – Rücksicht nehmen, andererseits aber auch diejenigen führen können, von denen der stärkste Widerstand zu erwarten wäre, also die Arbeiterschaft, die mit ihrer körperlichen Verausgabung den Reichtum erzeugt, der in den Unternehmen angeeignet und auf die gesamte Klasse der Bourgeoisie verteilt wird. Hegemonie impliziert also die Artikulation verschiedener und teils wider34 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 10, S. 1251. 35 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 13, S. 1567.
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sprüchlicher Diskurse und Interessen zu einem gemeinsamen Projekt, in dem sich Bourgeoisie wie Subalterne finden können. Zugleich aber impliziert Hegemonie gerade aufgrund dieser ihrer Zusammensetzungslogik, dass ihre Einheit oder Kohärenz immer in Bewegung bleibt und dadurch eben auch Gefahr läuft auseinanderzubrechen. Mit Hegemonie ist also nicht die Beseitigung von Widersprüchen gemeint, sondern vielmehr ihre Formgebung unter jeweils kontingenten und immer wieder veränderbaren Bedingungen. Gelingt die Bearbeitung dieser Widersprüche nicht, treten gegenhegemoniale Projekte auf und es kommt zur Desartikulation der bestehenden Hegemonie und mit ihr zur Auflösung der im historischen Block zusammengefassten gesellschaftlichen Kräfte.36 Hegemonie ist also keine geschlossene Totalität, keine starre Herrschaftsform, in der eine bestimmte Gruppe das Sagen über die anderen hat. Sie ist vielmehr ein offenes Konzept, das aufgrund ihrer inneren Widersprüche durch gesellschaftliche Praxis transformiert werden kann. Was zum Hegemoniekonzept aber auch gehört, ist ihr Zwangscharakter. Gerade dort, wo die Hegemonie brüchig wird, tritt das immer anwesende, aber nicht immer sichtbare Element des Zwanges deutlich hervor. Gestützt auf den ›Konsens der Mehrheit‹ wird potentielle und reale Gewalt gegen jene eingesetzt, die die bestehende Hegemonie nicht anerkennen oder sich widersetzen. In Gramscis Verständnis ist Hegemonie daher »gepanzert mit Zwang«37 – ein Zwang aber, der sich auch schweigend und eben unsichtbar im sozialen Gewebe durchsetzt. Gerade moderne bürgerliche Gesellschaften, so kann Gramsci verstanden werden, operieren auf der Ebene von Zwangsmechanismen, die auch ohne eine sichtbare Zwangsgewalt durchgesetzt werden. Ihr materielles Fundament beruht auf der kapitalistischen Produktionsform, die wiederum hegemonial, also durch Konsens gefestigt, stabilisiert und von den Subalternen auch legitimiert wird: eine Produktionsweise, die – wie Marx schon herausgearbeitet hatte – ihre eigenen Zwänge produziert und so die Menschen wie durch eine ›unsichtbare Hand‹ an der Kandare hält. Im Kapitalismus ist das Wirtschaftsleben gerade nicht Gegenstand von permanenten politischen Überwachungen. Im Gegensatz zur alten Feudalherrschaft genügt hier, wie Marx im »Kapital« feststellt, der blosse »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse«38, der blosse Überlebenswunsch der Menschen, um sie bei der Arbeit zu halten, losgelöst von jeglichem Rahmen politischer Verpflichtungen. Dieser »besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter«,39 nicht eine Armee blindwütiger Staatsangestellter, die die Arbeiter zur Arbeit hetzen. Es ist, als 36 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 5, Heft 8, S. 1051. 37 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 4, Heft 6, S. 783. 38 | M ARX , K ARL . Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23. Berlin: Dietz 2007. S. 765. 39 | Ibid.
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würde die Wirtschaft in dieser bürgerlich-kapitalistischen Lebensform ganz von selbst funktionieren und der Staat sich zurücklehnen, um nur noch die allgemeinen Strukturen zu erhalten bzw. zu verwalten: eine Vision des ›Nachtwächterstaates‹, der mit dem aufkommenden Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts stärker wurde und heute wieder ›Urständ‹ feiert. Für Marx und Gramsci ist jedoch klar, dass dies die wahrhaft materielle Basis der Überzeugung ist, dass der bürgerliche Staat zutiefst ohne Interessen sei und vielmehr die Funktion des Schlichters zwischen rivalisierenden Kräften einnehme. In diesem Sinne ist Hegemonie in seine Natur eingebaut. Dieser bürgerliche Staat greift nur dann auf Gewalt zurück, wenn er dazu gezwungen ist, womit er aber auch einen drastischen Verlust an ideologischer Glaubwürdigkeit riskiert. Herrschaft unter Bedingungen moderner und avancierter Produktionsbedingungen lässt sich eher dadurch stärken, dass sie gewollt und gewünscht wird, als dass sie brachial die Illusion der Zustimmung erzwingt. Für die Macht – so sah es auch Foucault – ist es besser, unsichtbar zu bleiben, sich im ganzen Gewebe des sozialen Lebens auszubreiten und sich damit in Form von Gebräuchen, Gewohnheiten und spontanen Praxen zu ›naturalisieren‹. Das Ideologische an der kapitalistischen Gesellschaft, so betonen Marx und Gramsci immer wieder, ist ja gerade ihre permanente Plausibilisierung von Autonomie und individueller negativer Freiheit. Der Lohnarbeiter, so Marx, ist tatsächlich »frei« und zwar »in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als Ware verfügt, dass er andererseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.«40 Der kapitalistischen Produktionsweise liegt somit ein Klassenverhältnis von Eigentümern an Geld- und Produktionsmitteln und Eigentumslosen, aber rechtlich freien Arbeitern zugrunde. Gramsci seinerseits betont, dass nicht nur auf der Ebene der Produktion, also auf der materiellen Seite des gesellschaftlichen Gewebes, diese Form von unfreiwilliger Freiheit notwendig sein muss, damit die kapitalistische Gesellschaftsordnung aufrechterhalten bleibt. Sie muss auch auf ideeller Ebene, also in den Köpfen der Leute, sich als solche offenbaren, damit der Konsens eben ohne sichtbare Gewaltanwendung gewährleistet werden kann. Für die kapitalistische Produktionsform ist es also notwendig, so Gramsci, eine Gesellschaftsordnung zu konstituieren, »in der sich das Individuum selbst regieren kann, ohne dass diese Selbstregierung mit der politischen Gesellschaft [gemeint ist der Staat im engeren Sinne, A.M.] in Konflikt gerät – sondern statt dessen ihre normale Fortsetzung, ihre organische Ergänzung wird.« Das »Leben des Staates«, so Gramsci weiter, muss »spontan« sein, eins mit der »freien« Identität des Subjekts; wenn dies die psychologische Dimension der Hegemonie ist, so hat sie eine solide materielle Basis im Leben der Mittelschicht. 41 Dies ist nicht 40 | Ibid. S. 183. 41 | G RAMSCI, A NTONIO. Selection from the Prison Notebooks. New York: International Publishers 1971. S. 268. Zitiert in E AGLETON, TERRY. Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart.
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eine blosse Illusion, die von den herrschenden Mächten vorgespiegelt wird. In modernen kapitalistischen Gesellschaften ist politische Macht tatsächlich relativ autonom, und das heisst, sie ist nicht eine permanent kontrollierende Instanz des sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Im Gegensatz zu den Zuständen im Frühkapitalismus, als der feudale Adel die Bauern nicht nur ausbeutete, sondern auch konstitutive politische, kulturelle und juristische Funktionen in ihrem Leben einnahm und so direkt in das alltägliche Dasein seiner Untertanen eingriff, benötigen moderne kapitalistische Gesellschaften ihre Freiräume, um die für die Profitgewinnung und Reichtumsakkumulation notwendigen Innovationen und Kreativitäten hervorbringen zu können. Hegemonie findet also nicht bloss auf ökonomischer Ebene statt, in dem die Subalternen in der Hoffnung, aus dem bestehenden Wirtschaftssystem Vorteile schöpfen zu können, dieses mit Konsens unterstützen, sie findet auch auf der politischen Ebene statt. Der bürgerliche Staat, damit er hegemoniale Funktionen und somit sein Überleben sichern kann, muss eine Sphäre der freien Interaktion zwischen den Menschen gewährleisten, damit diese ihre eigenen Interessen verfolgen können, ohne von staatlichen Zwängen bevormundet zu werden. Diese Sphäre der Zivilgesellschaft gilt dem bürgerlichen Staat als Garant seiner Neutralität und zugleich als Ort, an dem sich Widerstände und Kritiken gegen den Staat herausbilden können: die Hegemonie findet auf der politischen Ebene darin ihr Fundament, dass sie zwei Sphären der gesellschaftlichen Interaktion voneinander trennt und so den Anschein stärkt, dass die freie und faire Interaktion auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft die Rechtfertigung darstellt für den dadurch legitimierten Zwang auf staatlicher Ebene, damit aber eben bloss den Anschein von neutraler Macht- und Legitimitätsbildung erweckt, wie Gramsci mit seinen Untersuchungen zum Staat und zur Zivilgesellschaft verdeutlicht.
7.3.1 Hegemonie gepanzert mit Zwang In der liberalen Theorietradition, wie sie von Thomas Hobbes und John Locke begründet wurde, wird der moderne Staat als diejenige Instanz verstanden, in der die Spielregeln des gesellschaftlichen Miteinanders festgelegt und mittels souveräner staatlicher Gewalt auch durchgesetzt werden. Die hierfür grundlegende Unterstellung, dass Individuen in der Verfolgung ihrer je eigenen Interessen naturwüchsig miteinander in Konflikt geraten müssen, lässt eine Staatstheorie entstehen, in welcher eine Sphäre, die staatliche, eine andere, die bürgerliche Gesellschaft, nach Massgabe allgemeinverbindlicher Regeln ordnet. Als neutraler Schiedsrichter steht der Staat über der Gesellschaft, ihren Konflikten und den jeweils partikularen Interessen und gewährleistet dadurch die Einhaltung allgemeinverbindlicher Regelungen (rule of law), so dass die Verfolgung individueller Interessen im Rahmen der genau abgesteckten Rechtssphäre, ohne andere zu beWeimar: Metzler 2000. S. 137.
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einträchtigen oder deren Chancen von Beginn weg zu mindern, für alle gleichermassen ermöglicht werden soll. Im eigenen Interesse schliessen die Individuen also einen Gesellschaftsvertrag ab und geben sich so eine politische Ordnung, in der die Spielregeln festgesetzt sind und von einer alle einschliessenden Instanz, dem Staat, durchgesetzt und gewahrt werden. Dieser »sterbliche Gott« oder »künstliche Mensch«, wie Thomas Hobbes42 den Staat nannte, ist die einzige souveräne Instanz, die über der Gesellschaft stehend ihre allgemeinen Bewegungsgesetze sowie Ver- und Gebote definiert und sie mittels souveräner staatlicher Gewalt sanktionierbar macht. Oberstes Ziel ist die Vermeidung des Bürgerkrieges. Diese Funktion der Befriedung und des Zusammenhalts kann der Staat aber nur dann erfüllen, wenn er die gesellschaftlich für legitim gehaltene Gewalt und die hierfür notwendigen Gewaltmittel monopolisiert. Gewaltsamkeit, so Max Weber, »ist natürlich nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staates: – davon ist keine Rede – wohl aber: das ihm spezifische.« 43 Weber gibt hier einen wichtigen Hinweis zum Verständnis der modernen liberalen Staatskonzeption. Diese wird vor allem durch Gewalt definiert. »Heute«, so erneut Weber, »werden wir sagen müssen: Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes … das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.« 44 Im Unterschied zur liberalen Konzeption des Staates als einer neutralen Instanz, die über der Gesellschaft stehend allgemeinverbindliche Gesetze notfalls mit souveräner Gewalt garantiert, vertritt der Marxismus eine andere Ansicht. Hier wird der Staat als eine partikulare und nicht neutrale Gewalt verstanden. »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet.« 45 Er ist also parteiisch, obwohl er sich als neutral versteht, und an partikulare Interessen gebunden, obwohl er allgemeine zu schützen vorgibt. Er ist insofern öffentlich, als seine Gewalt eine öffentliche ist, die jedoch zur Wahrung partikularer Interessen die ganze Gesellschaft einnimmt, wie Lenin später betonen wird. Aus dem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat bildet sich seiner Ansicht nach nämlich eine »selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung« als öffentliche Gewalt. In der Gestalt des Militärs, der Polizei und der Verwaltung hält sie diesen Gegensatz aufrecht und teilt die Individuen nach Staatsangehörigkeit
42 | H OBBES, THOMAS. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Neuwied: Luchterhand 1966. S. 5f, 134. 43 | W EBER, M AX . Politik als Beruf (1919). Stuttgart: Reclam 1992. S. 6. 44 | Ibid. 45 | M ARX , K ARL . E NGELS, F RIEDRICH. Manifest der kommunistischen Partei (1848). Stuttgart: Reclam 2007. S. 21.
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ein. 46 In enger Anlehnung an Marxens Kritik des Staates betont Lenin, dass der Staat »ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ der Unterdrückung der einen Klasse durch eine andere« ist; eine Instanz, »die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft.« 47 Der Staat wird bei Marx und bei Lenin als eine Instanz begriffen, die zur Durchsetzung partikularer Interessen sich den Schein der Neutralität gibt. Gegenüber der liberalen wie auch der marxistisch-leninistischen Tradition bietet Gramsci ein komplexeres Verständnis des modernen kapitalistischen Staates an. Dieser ist in seinen Augen nicht bloss eine angeblich neutrale Maschine, ein militärischer oder polizeilicher Apparat oder eine Bürokratie. Für Gramsci ist der Staat selbst schon Gesellschaft. Er steht weder über noch ausserhalb der Gesellschaft, sondern ist ein besonderer, nämlich der politische Bereich der Gesellschaft. Nach Gramsci verkörpert der Staat nicht nur die repressive Seite. Maximal effizient kann er nämlich nur dann sein, wenn der Zwang hinter die Momente des Konsenses zurücktritt, respektive dem »spontanen Konsens« 48 der Massen entspricht. Bei Gramsci ist der Staat also weder neutral noch allein auf die Funktion der gesellschaftlichen Kontrolle reduzierbar. Vielmehr muss er ideologische Funktionen übernehmen, damit er auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantieren kann. Die Gewährleistung einer neutralen Sphäre des Interessensaustausches oder brachiale Repression allein genügen hierfür nicht. Damit moderne kapitalistische Staaten funktionsfähig sind, und das heisst, Konsens seitens der Massen gewinnen können, müssen sie erzieherische Funktionen übernehmen. Sie müssen also nicht nur die Ver- und Gebote sanktionierbar machen, sondern eben auch diese Sanktionen als prinzipiell wünschenswerte plausibilisieren, so dass die Sinnhaftigkeit der allgemeinverbindlichen Gesetze, Normen und Verhaltensweisen und der hierfür vorgesehenen souveränen Gewaltandrohung seitens des Staates von den Gesellschaftsmitgliedern nachvollzogen und legitimiert wird. In diesem Zusammenhang versteht Gramsci den Staat als »Erzieher«, der die Einzelnen an neue gesellschaftliche Anforderungen anpasst und zwar sowohl durch Unterdrückung als auch mittels der Eröffnung von Möglichkeitsräumen für die individuelle Interessensverfolgung. 49 Wie Marx plädiert auch Gramsci somit für eine Konzeption des modernen bürgerlichen Staates als »Erzieher«, der jedoch weniger mittels Zwang als vielmehr durch Konsens die Zivilgesellschaft hegemonial einrahmt und sich so gleichzeitig die Zustimmung seiner Herrschaftsunter46 | L ENIN, W LADIMIR I LLJITSCH . Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution (1918). In: D ERS. Lenin Werke. Band 25. Berlin: Dietz 1972. S. 400. 47 | Ibid. 48 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 14, S. 1637. 49 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 13, S. 1548f.
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worfenen garantiert. Was die Menschen formt, sind gemäss Marx und Gramsci die ökonomischen, sozialen und politischen Umstände, die aber in ihrer alltäglichen Praxis auch verändert werden können. Dadurch kommt es – mit Marx und Engels gesprochen –, dass der »Erzieher selbst erzogen werden muss«.50 Die damit verbundenen Kämpfe beschränken sich in Gramscis Augen jedoch keineswegs nur auf den Staat im engeren Sinne, also auf das, was er die »politische Gesellschaft« nennt, sondern müssen, da hinter diesem eine »robuste Struktur der Zivilgesellschaft«51 erscheint, vor allem auch diese Sphäre einnehmen. Damit bietet Gramsci ein erweitertes Verständnis von Politik an. Diese lässt sich nicht einfach auf Gewalt und Recht beschränken, sondern meint eben auch den Prozess der Willensbildung und die Schaffung von Bündnissen durch geteilte Überzeugungen, Diskussion, Verhandlung und Kompromiss in der Zivilgesellschaft. Politik als Ort, an dem allgemeinverbindliche Entscheidungen getroffen werden, bedarf einerseits des Konsenses, damit ihre Inhalte mit legitimer Kraft bestätigt und so andererseits auch mit rechtmässigem Zwang durchgesetzt werden können. Dem würden auch liberale Theoretiker zustimmen. Bei Gramsci jedoch erweitert sich der Begriff der Politik mit dem Ort, an dem sich diese manifestiert. Politik ist nicht nur Sache des Staates. Während in der bürgerlichen Gesellschaft zwar über Politik gesprochen werden kann, es hier jedoch nach liberaler Auffassung prinzipiell darum geht, möglichst unbehelligt vom Staat und innerhalb sanktionierter rechtlicher Rahmen seine Interessen zu verfolgen, verschiebt sich mit Gramsci die Politik in die Niederungen der Zivilgesellschaft (società civile). Diese wird von ihm analytisch von der bürgerlichen Gesellschaft (società borghese) getrennt: »Zwischen der ökonomischen Struktur und dem Staat mit seiner Gesetzgebung und seinem Zwang steht die Zivilgesellschaft.«52 Sie ist somit eine Sphäre, die zwischen der bürgerlichen Gesellschaft, als Sphäre des ökonomischen Tausches, und dem Staat im engeren Sinne steht. Analytisch, wie Gramsci betont, lässt sich die Zivilgesellschaft methodologisch zwar vom Staat trennen, nicht aber in organischer Hinsicht. In seiner Kritik am Liberalismus betont Gramsci, dass dieser »auf einem theoretischen Irrtum« beruhe, »dessen praktischer Ursprung unschwer zu erkennen ist: nämlich auf der Unterscheidung von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft, die aus einer methodischen Unterscheidung zu einer organischen gemacht und als solche dargestellt wird. So wird behauptet, die ökonomische Tätigkeit gehöre in die Zivilgesellschaft und der Staat dürfe nicht in ihre Regulierung eingreifen. Aber da in 50 | M ARX , K ARL . E NGELS, F RIEDRICH. Die deutsche Ideologie. (1854-1856). Band I: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner. MEW 3. Berlin: Dietz 1958. S. 534. 51 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 4, Heft 7, S. 874. 52 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 10, S. 1267.
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der Wirklichkeit der Tatsachen Zivilgesellschaft und Staat ein und dasselbe sind, ist festzuhalten, dass auch der Liberalismus eine ›Regulierung‹ staatlicher Natur ist, eingeführt und aufrechterhalten auf dem Wege der Gesetzgebung und des Zwanges: er ist eine Tatsache des sich der eigenen Ziele bewussten Willens und nicht der spontane, automatische Ausdruck der ökonomischen Tatsache.«53 Die Zivilgesellschaft wird im liberalen Diskurs als freie, neutrale Sphäre dargestellt, wohingegen, so Gramsci, sie integraler Bestandteil des Staates und damit durch und durch politisch geprägt ist. Gramscis Staatskonzept ist somit umfassender als das neutral-liberale oder repressiv-marxistische, da er den Staat um eine Sphäre erweitert, die nicht nur in der liberalen Tradition bisher gar nicht vorgesehen war, sondern auch den Aspekt der Repression in anderen Termini fasst. Mit seinem Begriff der Zivilgesellschaft skizziert Gramsci eine Sphäre, die zwischen den einzelnen, ihre Interessen verfolgenden Bürgern (società borghese) und der Instanz der rechtsetzenden und gewaltausübenden Souveränität (Staat im engen Sinne) steht. Vor allem im Gegensatz zu liberalen Theorien ist Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft fruchtbar. Diese können die Idee der Zivilgesellschaft nämlich nur dann akzeptieren, wenn es sich um eine private Sphäre der Interessensvermittlungen handelt, in der die Individuen ihre Interessen diskutieren, aggregieren und durch Verbände und Parteien in einen politischen Willen transformieren. Mit Gramsci bekommt sie hingegen einen eminent politischen und staatlichen Charakter. Für ihn ist diese Sphäre, weit davon entfernt, einen privat geltenden Bereich der Interessensvermittlung darzustellen, ein integraler Bestandteil moderner staatlicher Herrschaft. In der Zivilgesellschaft, wie sie Gramsci konzipiert, geht es also nicht primär um Recht, Gewalt oder Zwang, sondern um eine andere Form der Herrschaftsausübung – um Hegemonie. Zur souveränen Gewalt des Staates, so führt Gramsci aus, gesellt sich die hegemoniale Herrschaft der Zivilgesellschaft, die ihrerseits Teil des »integralen Staates« ist. »In dem Sinne könnte man sagen, dass Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heisst, Hegemonie, gepanzert mit Zwang«54 ist. Für Gramsci liegt das vorrangige Merkmal moderner Staaten also in der Zivilgesellschaft und in der darin gefestigten Hegemonie, während der Zwang als ein die Zivilgesellschaft gegen Angriffe schützender Panzer vorgestellt wird. Dieser »integrale Staat« reduziert sich somit nicht auf die staatlichen Institutionen im engeren Sinn – wie Gericht, Parlament, Regierung, Polizei oder Armee –, vielmehr schliesst er neben dieser »politischen Gesellschaft« eben auch die Institutionen der Zivilgesellschaft mit ein. Es ist sogar die »robuste Struktur der Zivilgesellschaft«, die alle Diskurse und Institutionen, von der Schule über 53 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 13, S. 1566. 54 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 4, Heft 6, S. 783.
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die Universität bis hin zu den Medien wie auch den privaten Organisationen – Verbände der Wirtschaft, Gewerkschaften, Interessenverbände, Vereine etc. – einschliesst und die dem Staat überhaupt erst das Fundament bereitstellt, auf dem er seine souveränen Aufgaben ausüben kann. Die Stabilität eines Staatswesens und der hierfür notwendige gesellschaftliche Rückhalt lässt sich nicht nur mittels Zwang herstellen, sondern bedarf einer hegemonialen Politik, in und durch welche in den zivilgesellschaftlichen Institutionen – in den Hegemonialapparaten, wie sie Gramsci auch nennt – derjenige Konsens erarbeitet werden kann, der dann mit legitimem, weil auf Konsens basiertem Zwang auch verteidigt wird. Der Staat bedarf somit einer »gemeinschaftlichen Ausarbeitung«55 des kulturellen und ökonomischen Lebens, einer kulturellen Hegemonie, auf die er Sinn und Dauer seiner Existenz stützen kann. Diese kann nicht einfach repressiv aufgezwungen werden, sondern bedarf der Zustimmung seitens der hiervon Betroffenen, um sie mit legitimem Zwang durchsetzen zu können. Sie wird auch nicht von oben nach unten durchgesetzt, sondern formt sich in der Zivilgesellschaft. In ihren Institutionen, in Vereinen und Clubs, in der Gliederung des gesamten Bildungssystems, im Zeitungs- und Zeitschriftenwesen in seiner Gesamtheit, in der Philosophie und den Wissenschaften, im Musik- und Theaterleben, in Literatur und Sprache, Verlagswesen, Bibliotheken und Strassennamen, Folklore und Alltagsgewohnheiten, Religionen, Kirche und Sekten wird Hegemonie praktiziert.56 Hier kreuzen sich die unzähligen Diskurse von Politikern, Richtern, Lehrern, Psychiatern, Journalisten, Wissenschaftlern etc. und hier, in den zivilgesellschaftlichen Institutionen, wird auch ein spezifisches Wissen produziert, mittels Konsens hegemonial gesetzt und zwangsförmig institutionalisiert – ein Wissen, das normiert und definiert, welche Diskurse, welche Sag- und Machbarkeiten als legitim anerkannt werden dürfen und welche nicht. Es sind Diskurse, die zugleich spezifische Öffentlichkeiten konstituieren, und die, indem sie von den Massenmedien aufgenommen, wiederholt, bestätigt und so ins kollektive Bewusstsein gedrängt werden – hier also ein weiteres Mal durch einen normalisierenden ›Trichter‹ gehen – gleichzeitig auch gesellschaftliche Konformität erzeugen. In diesem Sinne sind die zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparate weder neutral, wie sie die liberale Theorie konzipiert, noch blosse »Transmissionsriemen«, die im Sinne Lenins eine bestimmte Politik in die Gesellschaft tragen57; vielmehr stellen sie ein komplexes Ensemble von Institu55 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 12, S. 1512. 56 | D EMIROVIC, A LEX . Politische Gesellschaft – zivile Gesellschaft. Zur Theorie des integralen Staates bei Antonio Gramsci. In: B UCKEL , S ONJA . F ISCHER-L ESCANO, A NDREAS (Hg.). Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis. Baden-Baden: Nomos 2007. S. 21-41. Hier S. 25. 57 | L ENIN, W LADIMIR I LLJITSCH . Reden Lenins: Dezember 1920 – August 1021. In: D ERS. Lenin Werke. Band 32. Berlin: Dietz 1961. S. 5.
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tionen, Praxen und Ideologien dar, in welchem gesellschaftlicher Konsens nicht bloss weitergereicht wird, sondern zu allererst erkämpft und immer wieder auch reproduziert und so auch gleichzeitig mit sichtbarem oder unsichtbarem Zwang gefestigt werden muss. In den zivilgesellschaftlichen Apparaten werden somit auch Selbst- und Weltverständnisse immer wieder mit der hegemonial gefestigten ›Wahrheit‹ verschränkt, öffentlich kommuniziert und kollektiv reproduziert. Auch »was öffentliche Meinung genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen ›Zivilgesellschaft‹ und ›politischer Gesellschaft‹, zwischen Konsens und Zwang.«58
7.3.2 Zivilgesellschaft Die Zivilgesellschaft ist also nicht vom Staat zu trennen. Sie vereinigt zwar andere Institutionen als die politische Gesellschaft, bleibt jedoch in »organischer« Hinsicht zentraler Bestandteil des »integralen Staates«. Anders als die liberale Konzeption der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ ist die Zivilgesellschaft somit kein Ort des friedlichen Zusammenseins, wo jeder und jede unter Beachtung der geltenden Rechtsnormen die eigenen Interessen verfolgen kann, sondern politisch vermachtet und herrschaftsförmig organisiert, nicht nur weil die politische Gesellschaft – der Staat im engeren Sinne – mittels öffentlicher Kampagnen, der Organisation zivilgesellschaftlicher Apparate oder der einfachen Sanktionsgewalt in die Zivilgesellschaft eingreift, sondern auch, weil sich in den Hegemonialapparaten selbst Konsense erzeugen, die wiederum eine bestimmte Sicht der materiellen Verhältnisse, der legitimen Kommunikationsräume, der zu verteidigenden Institutionen und der zu bewahrenden Erinnerungen eines kollektiven Gemeinwesens mittels Konsens und Zwang durchsetzen. Entsprechend weist Gramsci diese Apparate dem Überbau zu. In seiner Auseinandersetzung mit Marxens Unterscheidung zwischen Basis und Überbau, konzentriert sich Gramsci auf die Zusammenhänge zwischen der ökonomischen Basis und den ideologischen Formen, in denen die Menschen Bewusstsein ihrer Lage gewinnen. Erinnert sei daran, dass der Überbau, so Marx, aus den »juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin die Menschen«59 sich ihrer Konflikte bewusst werden und sie ausfechten, bestehe. Gramsci fragt hierbei nach der »konkreten (geschichtlichen) Bedeutung der Superstrukturen«. »Wenn« nämlich, so Gramsci, »die Menschen sich ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Aufgaben auf dem Terrain der Superstrukturen bewusst werden, dann bedeutet das, dass zwischen Struktur und Superstruktur ein notwendiger und lebenswichtiger Nexus 58 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 4, Heft 7, S. 916f. 59 | M ARX , K ARL . Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie (1859). MEW 13. 7. Auflage. Berlin: Dietz 1971. S. 9.
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existiert.«60 Diesen Nexus, den Gramsci aus dem Marxschen Bild von Basis und Überbau herausliest und das ihn interessiert, gibt er seinerseits mit einer einleuchtenden Metapher wider und wendet sich gleichzeitig gegen die ökonomische Fehldeutung, es gehe Marx einzig darum, die Gesellschaft auf die Ökonomie als einen selbstbezüglichen Bereich zu reduzieren. Vielmehr, so Gramscis Interpretation, weise Marx darauf hin, dass die Kritik der politischen Ökonomie sehr wohl grundlegend für das Leben und Denken in bürgerlichen kapitalistischen Staaten sei, dass die Ökonomie jedoch für die Gesellschaft das sei, »was die Anatomie in den biologischen Wissenschaften ist«.61 Diese Metapher der Analyse der Ökonomie als Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft besagt in Gramscis Augen nichts anderes, als dass, genauso wie ein Individuum ohne Muskelgewebe und Haut nicht lebensfähig wäre, auch der bürgerliche Staat nicht bloss durch sein ökonomisches ›Knochengerüst‹ bestehen kann. »Beim menschlichen Körper kann man gewiss nicht sagen, die Haut (und auch der historisch vorherrschende Typus körperlicher Schönheit) seien blosse Illusionen, und das Knochengerüst und die Anatomie seien die einzige Realität, dennoch hat man lange Zeit etwas Ähnliches gesagt. Bei der Bewertung der Anatomie und der Funktion des Knochengerüsts hat niemand behaupten wollen, der Mensch (und nicht weniger die Frau 62) könnten ohne es leben. Um bei der Metapher zu bleiben, kann man sagen, dass es nicht das Knochengerüst (im engen Sinn) ist, das einen dazu bringt, sich in eine Frau zu verlieben, man jedoch begreift, wie das Knochengerüst zur Anmut der Bewegungen beiträgt.« 63
Gramsci stellt hiermit fest, dass genauso, wie die Kenntnis der Anatomie für das Verständnis der Komplexität eines Körpers nur eine Bedingung ist, so auch der Prozess der bürgerlichen Herrschaft allein durch eine ökonomische Analyse nicht verstanden werden kann. Sein Interesse kreist also vielmehr um die konkrete Analyse, wie Ideen in bestimmten historischen Situationen »die Menschenmassen (›organisieren‹ und das Terrain) bilden …, auf dem die Menschen sich bewegen, Bewusstsein von ihrer Stellung erwerben, kämpfen usw.« 64 Grundlegend hierfür sind die Superstrukturen, in denen sich Deutungen, Interpretationen und plausibilisierte ›Wahrheiten‹ über den ökonomischen Prozess bilden, im praktischen Alltag reproduzieren und so auch das Selbst- und Weltverständnis der Men60 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 10, S. 1326. 61 | Ibid. 62 | Im italienischen heisst »uomo« zugleich »Mensch« und »Mann«, daher der ironische Einschub. 63 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 10, S. 1327. 64 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 4, Heft 7, S. 876.
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schen prägen. Damit gewinnen die Superstrukturen für Gramsci ein besonderes Gewicht für das materialistische Erkenntnisprogramm. Hier erlangen die Menschen das Bewusstsein ihrer Lebensweise und hier fechten sie ihre Kämpfe aus. Für Gramscis Philosophie der Praxis, die er als Weiterentwicklung der marxschen Theorie65 versteht, sind die »Superstrukturen eine objektive und wirksame Realität (oder sie werden es, wenn sie nicht bloss individuell ausgedacht sind); sie sagt ausdrücklich, dass die Menschen auf dem Terrain der Ideologien ein Bewusstsein von ihrer gesellschaftlichen Stellung und somit von ihren Aufgaben gewinnen, was keine geringfügige Aussage über die Wirklichkeit ist; die Philosophie der Praxis ist selbst eine Superstruktur, ist das Terrain, auf dem bestimmte gesellschaftliche Gruppen Bewusstsein von ihrem eigenen gesellschaftlichen Sein, ihrer eigenen Stärke, ihren eigenen Aufgaben, ihrem eigenen Werden erlangen.« 66
Gramsci spricht hier zwei Dinge an, die für das Verständnis seiner marxistischen Theorie und seiner Gesellschaftskritik ausschlaggebend sind. Einerseits stellt er die Philosophie der Praxis selbst als ein Überbau-Phänomen dar und andererseits gibt er wichtige Hinweise zur Klärung dessen, was zu den Überbauten gehört und was nicht. Zum ersten Punkt gilt es zu sagen, dass Gramsci entgegen einer orthodoxen, strukturalistischen oder objektivistischen Auslegung des Marxismus, die in dieser Theorie eine unverrückbare Wahrheit sichtet, gewissermassen eine ›relativistische‹ Position einnimmt. Als historizistischer Marxist, der immer auch nach der historischen Bedeutung von Aussagen und den hiervon erläuterten sozialen Praktiken fragt, glaubt Gramsci, dass Wahrheit, bezogen auf das Bewusstsein der progressiven Gesellschaftsklasse einer Epoche, eine geschichtliche Variable ist. Für ihn bedeutet Objektivität immer eine ›menschliche Objektivität‹, die ihrerseits als historisch oder allgemein subjektiv dechiffriert werden kann. Ideen sind in Gramscis Augen insoweit wahr, als sie dazu dienen, jene Bewusst65 | In Anlehnung an die Erstausgabe von Palmiro Togliatti wird ›Philosophie der Praxis‹ gemeinhin als Synonym für Marxismus gebraucht und hat sich als solche auch in der Rezeption der Gramsci-Schriften weitgehend durchgesetzt. Die zugrunde liegende These ist folgende: Aufgrund der faschistischen Zensur musste Gramsci das Wort ›Marxismus‹ vermeiden, wofür er als Tarnbegriff ›Philosophie der Praxis‹ gebraucht hätte. Diese Tarnwortthese greift meiner Ansicht nach jedoch zu kurz und verwässert auch das Verständnis des gramscianischen Projekts. Natürlich meint Gramsci mit ›Philosophie der Praxis‹ die marxistische Theorie, jedoch in einer bestimmten Lesart und somit als Akzentuierung und Neuinterpretation des Marxismus. Insofern ist ›Philosophie der Praxis‹ nicht einfach gleichzusetzen mit Marxismus und vor allem nicht mit der damals vorherrschenden Interpretation, sondern muss als Inbegriff der gramscianischen Aneignung, Kritik und Weiterführung der marxistischen Theorie verstanden werden. 66 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 10, S. 1325.
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seinsformen, die mit den wichtigsten Tendenzen einer Epoche in Einklang stehen, zusammenzuhalten und zu fördern.67 Damit legt er das analytische Augenmerk auf eine Konzeption von Geschichte und Gesellschaft, die fern davon, eine wie auch immer geartete geschlossen Totalität zu implizieren oder in sich zu tragen, vielmehr im Fluss der Kontingenz sich befindet und hier auch kontingente, veränderbare Interpretationen hervorbringt. Eine davon ist der Marxismus, der in Gramscis Augen, eine, wenn auch die wissenschaftlich am weitesten entwickelte und vernünftigste Interpretation der historisch gewordenen kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft ist und nicht das Siegel der Wahrheit, das unverrückbar den Lauf der Zeit vorspurt. Bei Gramsci ist nichts ewig und statisch, nichts gut oder schlecht, letzteres ist immer abhängig von der konkreten Form oder Artikulation in einer spezifischen historischen Konstellation, von der hegemonialen Formation also, die sich in einer Gesellschaft mit ihren dominanten Deutungen der Welt und des Selbst durchsetzt. Wie Raymond Williams in dieser Hinsicht zu Recht betonte, ist Hegemonie nichts, das man für immer und ewig erreicht hat, sie muss vielmehr »ständig wiederhergestellt, erneuert, verteidigt und modifiziert werden«68. Der Ort, an dem dies geschieht, ist die Zivilgesellschaft, womit nach diesen wissenschaftstheoretischen Ausführungen zu Gramscis Philosophie der Praxis sich dem zweiten oben erwähnten Punkt zugewandt werden kann. Mit der Anatomie-Metapher hat Gramsci also den Nexus zwischen ökonomischen Verhältnissen und den Deutungen, die sich um diese ranken und die in den Superstrukturen generiert, durchgesetzt und reproduziert werden und so das Bewusstsein der Menschen prägen, aufgezeigt. Diese Superstrukturen werden von ihm wiederum in zwei Ebenen eingeteilt und zwar in »diejenige, die man die Ebene der ›Zivilgesellschaft‹ nennen kann, d.h. des Ensembles der gemeinhin ›privat‹ genannten Organisationen, und diejenige der ›politischen Gesellschaft oder des Staates‹, die der Funktion der ›Hegemonie‹, welche die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft ausübt, und der Funktion der ›direkten Herrschaft‹ oder des Kommandos, die sich im Staat und in der ›formellen‹ Regierung ausdrückt.« 69
Diese Ausführungen eröffnen neue Erkenntnisse zu Gramscis Verständnis der Zivilgesellschaft und der darin umkämpften Hegemonie. Als erstes wird nämlich die Grenzlinie zwischen privat und öffentlich dekonstruiert. Gramsci geht weder von einer Neutralität noch von einer Identität zwischen den vielen ›priva67 | Vgl. E AGLETON, TERRY. Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart. Weimar: Metzler 2000. S. 143. 68 | W ILLIAMS, R AYMOND. Marxism and Literature. Oxford: Oxford University Press 1977. S. 112. Zitiert in E AGLETON, TERRY. Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart. Weimar: Metzler 2000. S. 136. 69 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 12, S. 1502.
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ten‹ Teilen der Zivilgesellschaft und dem Staat aus. Was Gramsci interessiert, ist der Nexus zwischen zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparaten und dem Staat – die Artikulation dieses Verhältnisses, die er mit dem Begriff der Hegemonie zu fassen sucht. Gerade deshalb hat Gramsci Schwierigkeiten, die Grenze zwischen Staat und Zivilgesellschaft genau zu ziehen, weil das weder eine einfache noch unbestrittene Sache ist. »Eine schwer wiegende Frage in entwickelten liberalen Demokratien besteht gerade darin, wie Ideologie in den so genannten privaten Institutionen der Zivilgesellschaft reproduziert wird, im Theater der Zustimmung, augenscheinlich ausserhalb des direkten Einflussbereichs des Staates.«70
Wenn alles unter der Aufsicht des Staates geschieht, dann wäre es einfach einzusehen, warum die herrschende Ideologie reproduziert wird, und dann würde sich eben auch die Rede von der Hegemonie erübrigen, da jede Möglichkeit des Konsenses von Beginn an ausgeschlossen wäre. In liberalen Demokratien ist dies aber nicht der Fall. Darum stellt sich mit Gramsci die wiewohl schwierigere Frage, warum eine Gesellschaft den zivilen Institutionen mit ihren relativen Freiheiten erlaubt, im ideologischen Feld zu spielen, Tag für Tag, ohne Anleitung oder Zwang durch den Staat, und weshalb dieses mehr oder weniger freie Spiel der Zivilgesellschaft ständig eine bestimmten Denkart reproduziert. Mit Gramsci lässt sich verstehen, dass die hierfür zugrunde gelegte Konzeption einer Trennung zwischen privatem und staatlichem Bereich nicht nur nicht so gegeben ist, wie sie von der liberalen Theorie propagiert wird, sondern vielmehr, dass die Plausibilisierung einer solchen Grenzlinie gerade zur Herrschaftsausübung selbst gehört. Dadurch lassen sich nämlich bestimmte Interessen als bloss partikularistische zurückweisen, wohingegen andere als allgemein verbindliche definiert werden, da sie angeblich der gesamten Gesellschaft zuträglich sind. Diese Trennlinie, so lässt sich mit Gramsci argumentieren, dient dem Vorspuren einer bestimmten Denkart über die bürgerliche Gesellschaft. Ein ›Vorverständnis‹ im heideggerschen Sinne, das eben vorgefunden wird, in das man sozialisiert wird und das man unhinterfragt übernimmt, so als bilde es das kognitive und unreflektierte Fundament, auf dem sich die Selbst- und Weltverständnisse erst herausbilden. Es ist eine Trennung zwischen privat und öffentlich, die von Beginn an ein bestimmtes, und zwar bürgerliches Selbstverständnis generiert, in welchem nicht nur das Konzept des privaten Eigentums als »ökonomische
70 | H ALL , S TUART. Bedeutung, Repräsentation, Ideologie. Althusser und die poststrukturalistischen Debatten. In: D ERS. Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Herausgegeben von J UHA K OIVISTO und A NDREAS M ERKENS. Hamburg: Argument 2004. S. 34-65. Hier S. 46.
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Zellenform«71 die bürgerliche Gesellschaft zusammenhält und mit Sinn behaftet, sondern die Trennung von privat und öffentlich als unhintergehbare ›heilige‹ Grenzlinie des modernen menschlichen Daseins verstanden wird. Gramsci verwirft nun weder die politische Notwendigkeit einer funktionierenden liberalen Öffentlichkeit noch die Idee eines privaten Rückzugsraumes, in den man sich von der Gesellschaft zurückziehen kann; was er kritisiert, ist die hegemoniale Deutung, die diese privaten Sphären als neutrale und scharf von den öffentlichen Zwängen, Regeln und kommunizierten, erinnerten und praktizierten Selbst- und Weltbildern getrennte plausibilisieren wollen. Als jemand, der sich intensiv mit dem italienischen Kronerben des Hegelianismus, mit Benedetto Croce, kritisch auseinandergesetzt hatte, wusste Gramsci, dass das Bekannte eben deshalb bekannt ist, weil es nicht erkannt ist. Die vorgefundenen Ideen, Konzepte, Begriffe und Kategorien, mit denen das bekannte und vorgefundene politische System, seine Grundelemente, Institutionen und ›sakralen‹ Räume definiert werden, erscheinen in diesem selbstbezüglichen Diskurs als ewige und unverrückbare, während sie historisch geworden sind und machtförmig durchgesetzt wurden. Gerade dieses Erkennen der Kontingenz der liberalen bürgerlichen Kategorien und Prinzipien macht das Feld sichtbar, auf dem die verborgenen Macht- und Kräfteverhältnisse wirksam sind, und eröffnet so die Sicht auf die Orte, an denen sie sich perpetuieren, um gleichzeitig ihr Bestehen habituell zu sichern. Für den bürgerlichen Staat ist es charakteristisch, dass darüber gestritten wird, was als privat und was als öffentlich gilt, so dass er dann als Ausdruck des allgemeinen Wohls diese Sphären entsprechend schützt, stärkt oder ›freiheitlich‹ gestaltet – ein Streit, der gemäss Gramsci weitgehend in den zivilgesellschaftlichen Räumen und ihren Hegemonialapparaten ausgeführt wird. Hier wird mittels Konsens und Zwang eine bestimmte Deutung der Welt und des Selbst hegemonial gesetzt, in den sozialen Praktiken reproduziert und so im kollektiven und singulären Bewusstsein gefestigt. Es ist mithin eine Herrschaftsform, die insofern den Superstrukturen zuzuordnen ist, als sie eben durch die Festigung einer bestimmten Denkart in allen zivilgesellschaftlichen Räumen wirkmächtig wird. In Schulen, Universitäten, Rechtsinstitutionen, aber auch in den Vereinen oder den Unterhaltungsmedien wie Film und Fernsehen kann die einmal erreichte Hegemonie, gerade weil sie auf Konsens auf baut und diesen immer wieder reproduzieren muss, um überhaupt bestehen zu können, ihre Deutungshoheit durchsetzen und so zugleich ihr entsprechende Denk- und Handlungsweisen fördern.
71 | Im Kapital bestimmt Marx das Bürgerliche vom Privateigentum her: »Für die bürgerliche Gesellschaft ist aber die Warenform des Arbeitsprodukts [...] die ökonomische Zellenform.« Siehe: M ARX , K ARL . Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23. Berlin: Dietz 2007. S. 12.
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Gramsci zeigt dies am Beispiel des damals aufkommenden Fordismus.72 Mit seinen Produktionstechniken, die insbesondere mit der neuen Fliessbandmontage die Beschleunigung der Produktion ermöglichten, hängen auch die »neuen Arbeitsmethoden untrennbar mit einer bestimmten Weise zusammen …, zu leben, zu denken und das Leben zu empfinden.«73 Dies führte zu tiefgreifenden Veränderungen in den traditionellen Sozialmilieus, in den Familienstrukturen und Subsistenzformen, wie sie insbesondere in den USA während der so genannten roaring twenties manifest wurden. Die damit verbundenen Freiheiten verleiteten viele Menschen dazu, ihren Lohn für Alkohol, Vergnügungen, Libertinage und Mode auszugeben, was wiederum ihre Leistungsfähigkeit in den Fabriken schmälerte, wenn sie der Arbeit nicht sogar ganz fernblieben, eine Entwicklung, die den Industriellen und konservativen Gruppen der damaligen Zeit ein Dorn im Auge war, weshalb es notwendig wurde, den Arbeiter wieder arbeitstüchtig zu machen, so dass er sein Geld »rational« verwendet, »um seine muskulär-nervliche Leistungsfähigkeit zu erneuern«74. Mit dem Puritanismus und dem Prohibitionismus werden neue Formen privater Lebensführung durchgesetzt, die einerseits auf staatlichen Zwang, andererseits, damit eng verflochten, auf einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung, die über zivilgesellschaftliche und staatliche Moralkampagnen in Vereinen, Schulen, Partei- und Gewerkschaftsversammlungen sowie durch mediale Resonanz gewonnen wird, auf bauen. »Der arbeitende Mensch«, so das Ziel dieser hegemonialen Politik, dürfe »seine Nervenkräfte nicht bei der krampfhaften und ungeordneten Suche nach sexueller Befriedigung verschwenden.«75 Damit werden auch die familiäre Struktur und die Geschlechterrollen neu kodiert. Damit die Männer ihren Ausschweifungen Einhalt gebieten, bedarf es der Einsetzung von Hausfrauen, die über Disziplin, Lebensführung, Gesundheit, Ernährung der Familie, also über das Wie des Konsums wachen und entsprechend tätig sind.76 Eine neue weibliche Persönlichkeit wird herausgebildet, inklusive einer ideologisch-moralischen Überhöhung der weiblichen Tugenden, die zugleich die Zustimmung der Frauen zur Unterordnung unter männliche Herrschaft und unbezahlte Ausbeutung ihrer Arbeitskraft organisiert. 72 | Die Ausführungen folgen: C ANDEIAS, M ARIO. Gramscianische Konstellationen. Hegemonie und die Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensweisen. In: M ERKENS, A NDREAS. D IAZ , V ICTOR R EGO (Hg.). Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis. Hamburg: Argument 2007. S. 15-32. 73 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 9, Heft 22, S. 2086. 74 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 3, Heft 4, S. 530. 75 | Ibid. S. 531. 76 | H AUG, F RIGGA . Hausfrau. In: H ISTORISCH -K RITISCHES WÖRTERBUCH D ES M ARXISMUS. Band 5. Herausgegeben von WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 2001. S. 1196-1209.
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Die neue fordistische Produktionsweise ist somit abhängig »von einer bestimmten politischen, moralischen, juristischen Superstruktur« 77, in welcher diejenigen Deutungen, die dem Produktionsprozess entsprechen und diesen als wünschenswerten plausibilisieren, mittels Konsens und Zwang durchgesetzt werden. Der Ort, an dem dies geschieht, sind die zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparate. Hier wird also der Konsens erzeugt, der einer bestimmten Deutung der ökonomischen Produktionsprozesse, der moralischen Lebensformen und der individuellen Verhaltensweisen zum Durchbruch verhilft und sich in den sozialen Praktiken niederschlägt und reproduziert. Die Hegemonie wird aber auch staatlich erzeugt. Mit der Einführung kollektiver sozialer Sicherungssysteme, also mit dem Auf bau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, der die individuellen Risiken – Krankheit, Arbeitslosigkeit, Fehlen einer Einkommensmöglichkeit im Alter –, die mit der neuen Produktionsweise entstehen, mildert, wird zugleich die Unterstützung der arbeitenden Massen gewonnen. So werden die Arbeitskräfte physisch erhalten, der Massenkonsum als Motor der neuen Produktionsweise legitimiert und der Konsens der arbeitenden Massen stabilisiert. Dies ist eine Artikulation unterschiedlicher Strategien und Praktiken, die in der Zivilgesellschaft Anklang finden, mittels staatlichem Zwang ›gepanzert‹ werden und so die hegemoniale Führung der besitzenden Klassen garantiert und die mit dem Keynesianismus nach dem Zweiten Weltkrieg für einige Jahrzehnte zur dominanten Deutungsmatrize für Politik, Ökonomie und Gesellschaft wurde. Bereits Gramsci sah, dass mit der amerikanischen Kultur und der fordistischen Produktionsweise die Träger einer neuen Hegemonie am geschichtlichen Horizont aufleuchteten, die die verstärkte Unterordnung der Arbeitskräfte und ihrer Lebensweise unter das Kapitalverhältnis, bei realer Verbesserung ihrer unmittelbaren Lebenssituation, organisieren. Damit wird aber gleichzeitig die hegemoniale Herrschaftsform von Gefahren heimgesucht, die sie selber erst zu generieren half. Durch die Rationalisierung von Produktion und Lebensführung sowie der politischen und gesellschaftlichen Markierung ihrer Grenzen und aus den daraus sich entwickelnden Widersprüchen werden, wie Gramsci78 hellsichtig analysierte, immer wieder die Bedingungen für die Entwicklung von Widerstand geschaffen, wie sie sich spätestens während der 1968er Revolte in den hochindustrialisierten Länder gegen diese Produktionssysteme entluden. Hegemonie verortet Gramsci somit in der Zivilgesellschaft. Ihre Hegemonialapparate dienen als Vehikel, um in der Zivilgesellschaft eine bestimmte Deutung der Welt und des Selbst dominant zu machen, und zwar eher durch Zustimmung als durch Zwang. Und so, wie diese Apparate immer wieder andere Akteure beinhalten, die allenfalls auch andere Interessen als die dominanten artikulieren, 77 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 11, S. 1465. 78 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 9, Heft 22, S. 2090ff.
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ist nicht nur der Konsens immer gefährdet, sondern auch die Hegemonie muss immer wieder erneuert, stabilisiert oder gar neu konstruiert werden. Hegemonie zu erlangen, bedeutet somit nach Gramsci, eine moralische, politische und intellektuelle Führung im gesellschaftlichen Leben zu etablieren, indem eine bestimmte ›Weltanschauung‹ im ganzen Gewebe der Gesellschaft mittels der Hegemonialapparate verbreitet wird und so die partikularen Interessen einer Klasse oder Gruppe mit denen der ganzen Gesellschaft gleichgesetzt werden. In der Reproduktion von Hegemonie sind also kulturell produzierende, somit auch verändernde Prozesse inkorporiert, die auf Institutionen und politische Deutungs- und Handlungsrahmen einer Gesellschaft einwirken. Hegemonie ist somit nicht strukturell determiniert und wird auch nicht von einer einzigen Klasse ›beherrscht‹. Vielmehr setzt sich kulturelle Hegemonie über verschiedene zivilgesellschaftliche Positionen durch, indem sie auch angeblich gegnerische Klassen unter derselben Deutungshoheit vereint und so ihre Herrschaft perpetuiert. Eine hegemoniale Formation kann also in Anlehnung an Antonio Gramsci weder auf blosse ›Vorherrschaft‹ noch auf die besondere Logik einer einzigen sozialen Kraft zurückgeführt werden, wohl aber auf eine dominante ›Weltanschauung‹, die verschiedene, anscheinend gegensätzliche Subjektpositionen vereint. Wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihrem Werk »Hegemonie und radikale Demokratie« zu Recht betonten, wird »jede hegemoniale Formation durch eine Regelmässigkeit in der Verstreuung konstruiert, und diese Verstreuung schliesst eine Vermehrung ganz verschiedener Elemente ein. [...] Das Problem der Macht kann deswegen nicht im Sinne einer Suche nach der Klasse oder dem dominanten Sektor gestellt werden, die oder der das Zentrum einer hegemonialen Formation bildet, da sich uns ein solches Zentrum definitionsgemäss immer entziehen wird.« 79
Diese Erkenntnisse sind wichtig, weil sie das Feld der gesellschaftlichen Interaktion und der sie rechtlich und normativ fundierenden politischen Kultur als eines darstellen, in welchem eine bestimmte Ideologie dadurch hegemonial wird, dass sie von unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Gruppen gefestigt und perpetuiert wird. Es sind hierbei vor allem die Institutionen der Zivilgesellschaft – die Schulen, Familien, Kirchen, Medien, Universitäten, Vereine etc. –, die die zentrale Rolle in den Prozessen sozialer Kontrolle und hegemonialer Konsensetablierung ausüben. Der ›spontane Konsens‹ der nämlich den Lauf und die bestehende Ordnung der Dinge gutheisst, erzeugt zugleich einen Zwang, der nunmehr als legitimer in den Ritzen der zwischenmenschlichen Beziehungen in Form von Verhaltenskodes, Zielvorgaben für Karrieren oder Erziehungsmassnahmen, Ge- und Verboten mitsamt ihren erlaubten und unerlaubten Aufenthaltsräumen, gesellschaftlichen 79 | L ACLAU, E RNESTO. M OUFFE, C HANTAL . Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen 2000. S. 184-185.
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Grenzlinien wie diejenige zwischen privat und öffentlich, aber vor allem in Form von Sprache den Alltagsverstand und damit die Selbst- und Weltverständnisse der Menschen formen, prägen und mit dem Anschein des ›Richtigen‹ auf Dauer halten. Dass hierbei auch politische Systeme, Institutionen oder Massnahmen sowie Interventionen in zivilgesellschaftlichen Feldern auf einer kulturellen Hegemonie auf bauen müssen, die sich gerade nicht primär in den ökonomischen oder politischen Apparaten herstellt, sondern in den kulturell-zivilgesellschaftlichen, ist nach diesen detaillierten Ausführungen naheliegend. Die Zivilgesellschaft als der Ort, an welchem sich die kulturelle Hegemonie manifestiert und die sozialen Praktiken, kulturellen Kodes, Selbst- und Weltverständnisse sowie Vorstellungen über ›gute‹ und ›gerechte‹ Politik nach Massgabe ihrer ideologischen ›Wahrheiten‹ formt, wird von Gramsci nicht der wirtschaftlichen Basis zugeordnet, sondern der des ideologischen Überbaus, insofern alle ideologischen und kulturellen Verhältnisse und nicht die materiellen Bedingungen per se ihr angehören. Für Gramsci sind es nämlich nicht die kruden ökonomischen Bedingungen, die das politische Handeln determinieren, sondern die Interpretationen derselben.
7.3.3 Materialität der Ideen Wenn Interpretationen und Deutungen die ausschlaggebenden Momente einer hegemonialen Formation sind, dann muss sich die Analyse auch auf die sprachlichen Mechanismen ausdehnen, durch welche Sinn und Bedeutung und somit Interpretationen der Welt und des Selbst erst artikulierbar werden. Gramsci erweitert die Ideologiekritik gewissermassen um eine ›linguistische‹ Dimension. Seine Hegemonietheorie geht davon aus, dass politische Macht nicht durch die blossen materiellen Verhältnisse in einer Zivilgesellschaft geformt wird, sondern vielmehr von den Interpretationen dieser Verhältnisse, von den Diskursen, die zur Plausibilisierung dieser Verhältnisse – mittels Konsens und Zwang – dominant geworden sind und diese so in den Ritzen der Zivilgesellschaft nach Massgabe ihrer ›Wahrheiten‹ kodieren. Nun mag es paradox erscheinen, dass eine materialistische Theorie hingebungsvoll Sprache, ihre Zeichen und die damit etablierten Bedeutungen untersucht. Wohl hat es mit Gramscis linguistischer und philosophischer Ausbildung80 zu tun, dass er der Kommunikation eine zentrale 80 | Im Jahre 1911 schreibt sich der junge Antonio Gramsci, von Armut und schlechtem Gesundheitszustand geplagt, an der Fakultät für Literaturwissenschaft der Universität Turin ein. Das Studium hat er aufgrund seiner misslichen Lebensbedingungen und der wiederkehrenden körperlichen und auch geistigen Beeinträchtigungen immer wieder unterbrechen müssen und auch nie beendet. In dieser Studienzeit peinigten ihn auch Einsamkeit, Hunger und Kälte, die Halluzinationen und Ohnmachtsanfälle auslösten. In einem Brief an seine Eltern schreibt er, dass ihm Durchblutungsstörungen des Gehirns das Gedächtnis raubten, ihn nahezu wahnsinnig werden liessen und ihm keine Ruhe gäben. (»una forma di anemia
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Rolle in der Formierung der Hegemonie zuweist, aber auch seine marxistische Ausrichtung veranlasst ihn, eine genaue Analyse, eine »›Aufwertung‹ des kulturellen Faktums, der kulturellen Tätigkeit … neben den bloss ökonomischen und bloss politischen« 81 zu vollziehen – eine Tätigkeit, die ohne sprachliche Vermittlung, ohne die Verwendung von Begriffen und Kategorien auch nicht gedanklich erfasst und artikuliert werden kann. Sprache ist in diesem Sinne das Medium par excellence, durch das Dinge, Tätigkeiten und Gegebenheiten im Denken ›repräsentiert‹ werden, und deshalb das Medium ist, in dem Ideologie erzeugt und transformiert wird. Das Problematische an der Sprache ist aber, dass sie gesellschaftliche Verhältnisse unterschiedlich repräsentieren und konstruieren kann. Sie ist ihrer Natur nach multireferentiell, das heisst, dass sie zu ihrem Referenten nicht in einer eindeutigen Relation fixiert ist. Daher kann sie unterschiedliche Bedeutungen dessen konstruieren, was offenbar dasselbe gesellschaftliche Verhältnis oder Phänomen ist. Gerade Marxens Kritik der politischen Ökonomie lässt sich in diesem Sinne auch als eine Kritik an der Sprache der liberalen Ökonomen seiner Zeit verstehen. Das wirklich erfahrbare Phänomen ›Markt‹, dieses Fundament einer ganzen ökonomischen und politischen Freiheitstheorie, das spätestens dann in seiner materiellen Auswirkung erfahrbar wird, wenn jemand kein Geld hat, um sich etwas zu essen zu kaufen, bleibt in einem bestimmten Sprachregister konserviert, in welchem die Bedeutung der Produktion weder sprachlich noch konzeptionell in ihrer tragenden Funktion gedanklich erfasst noch sprachlich artikuliert wird. Das erste Band des »Kapitals« versucht ja gerade die Begriffe der bürgerlichliberalen Ökonomiekonzeption so zu dekonstruieren, dass auch das zur Sprache gebracht werden kann, was sie verbergen, um dadurch eine Kritik der bestehenden Theorien zu leisten, aber zugleich auch eine adäquatere Sprache zur Klärung des kapitalistischen Produktionskreislaufes zu konstruieren. Der Begriff des ›Marktes‹ hat somit in der bürgerlichen politischen Ökonomie und im spontanen Bewusstsein der praktischen Bürger – die die Zirkulationssphäre zu Gesicht, während sie die Produktionsmechanismen bloss zu spüren bekommen – eine, in der marxistischen ökonomischen Analyse, eine ganz andere Bedeutung. Stuart Hall bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt, wenn er betont, dass »derselbe Prozess – Produktion und Austausch im Kapitalismus – … innerhalb unterschiedlicher ideologischer Rahmen mit Hilfe verschiedener ›Repräsentationssysteme‹ ausgedrückt werden [kann]. Es gibt den Diskurs über ›den Markt‹, den Diskurs der ›Produkcerebrale che mi toglie la memoria, che mi devasta il cervello, che mi fa impazzire ora per ora, senza che mi riesca di trovare requie né passeggiando, né disteso sul letto, né disteso per terra a rotolarmi in certi momenti come un furibondo«.) Siehe: F IORI, G IUSEPPE . Vita di Antonio Gramsci. Bari: Laterza 1989. S. 105. 81 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 10, S. 1239.
7. Ideologische Konstellationen tion‹, den Diskurs der ›Kreisläufe‹: jeder produziert eine unterschiedliche Definition des Systems. Jeder verortet uns auch unterschiedlich – als Arbeiter, Kapitalist, Lohnarbeiter, Lohnsklave, Produzent, Konsument usw. Jeder platziert uns als gesellschaftliche Akteure oder als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe in einem besonderen Verhältnis zu dem Prozess und schreibt uns bestimmte gesellschaftliche Identitäten vor. Mit anderen Worten: die verwendeten ideologischen Kategorien positionieren uns in Bezug auf die Darstellung des Prozesses, wie sie im Diskurs geschildert wird. [...] Alle diese Einschreibungen haben Effekte, die real sind. Sie produzieren eine materielle Differenz, da unsere Handlungsweise in bestimmten Situationen davon abhängt, wie wir die Situation definieren.« 82
Sprache, Begriffe, Konzepte und Symbole sind gemäss Hall ideologische Instrumente, die die mentalen Rahmen formieren, die verschiedene Gruppen und Klassen entwickeln, um der Funktionsweise der Gesellschaft Sinn zu geben, sie zu definieren, auszugestalten und verständlich zu machen. Gramscis Einsatz ist nun, dass er diese kommunikativen Mechanismen als solche versteht, die auf einem hegemonialen Fundament auf bauen müssen. Das heisst, sie sind weder ein für alle Mal in ihrer Bedeutung fixiert noch fungieren sie als blosse Verblendungsinstrumente, durch welche sowohl die Arbeiter als auch die Kapitaleigner wie erklärte Deppen ausschauen würden. Vielmehr müssen die Begriffe und die Bedeutungen, die sie für den praktischen Alltag haben, einen Konsens erheischen, damit der Sinn einer Aussage und einer Tätigkeit auch ›richtig‹, und das heisst, gemäss der hegemonialen Deutungsschablone der Welt und des Selbst dekodiert werden kann. Wenn der ›Markt‹ nur innerhalb einer bürgerlich-liberalen Dechiffrierungsmatrix erklärt und plausibilisiert wird, dann hat das auch Auswirkungen auf die praktischen Tätigkeiten der Menschen. Bleibt beispielsweise die Zirkulationssphäre die dominante Erklärungskategorie des Alltags, dann wird entsprechend auch jede Bewegung, die auf dem ›Markt‹ geschieht, als Tausch von Waren betrachtet, deren Wert sich aus dem Gesetz von Angebot und Nachfrage und dem Erzielen eines möglichst hohen Verkaufspreises ergibt. Das ist nicht ganz falsch, aber eben nicht die ganze Wahrheit, weil der Wert nämlich schon in der Produktion vorgespurt wird. Was sich jedoch durchsetzt, ist ein bestimmtes Verständnis des ›Marktes‹, welches die praktischen Tätigkeiten der Menschen mit einer bestimmten, der dominanten Deutung entsprechenden Dekodierung der Welt und des Selbst prägt und ausrichtet. Die damit plausibilisierten Bewegungen auf dem Markt sind dann auch diejenigen, die mittels Konsens und Zwang den Menschen nahegelegt werden. Lebenserfolg wird mit Markterfolg hegemonial verschränkt, Arbeitslosigkeit als unvermeidbarer Kollateralschaden des Systems und zugleich als Ansporn zur Verbesserung der eigenen Angebotsposition auf dem Arbeitsmarkt verstanden. Das ist zwar nicht 82 | H ALL , S TUART. Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr. In: D ERS. Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Herausgegeben von JUHA K OIVISTO und A NDREAS M ERKENS. Hamburg: Argument 2004. S. 8-33. Hier S. 26.
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falsch innerhalb der hegemonialen liberalen Deutung des ›Marktes‹, aber es verhindert – gerade aufgrund ihrer Hegemonialsetzung in der Zivilgesellschaft – andere Erklärungsdiskurse für das Phänomen ›Markt‹. Es ist hierbei wichtig, auf den Aspekt der Hegemonie aufmerksam zu machen. Dieser besagt ja gerade, dass Deutungen dominant sind, weil sie auf Konsens beruhen und gleichzeitig den hierfür notwendigen Zwang erzeugen. Dominant heisst gerade nicht ›determinierend‹, sondern eröffnet das Feld, auf dem bestimmte Bedeutungen und Praktiken auch anders klassifiziert, geordnet und erklärt werden können, auf dem also die ›bevorzugte Lesart‹ eines sozialen Verhältnisses immer auch anders ›gelesen‹ werden kann. Ideologien operieren also mittels Bedeutungen, die sie in die Position der Ausschliesslichkeit setzen wollen, um dadurch Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Es sind jedoch Bedeutungen, die auf einem Konsens auf bauen müssen, damit sie ihre Sanktionskraft in der Praxis auch durchsetzen können. Der Wert von Gramscis Hegemoniebegriff liegt gerade darin, dass er den Ideologiebegriff erweitert und bereichert, indem er diesem ansonsten recht abstrakten Begriff eine materielle Form und politische Schärfe verleiht. Es findet bei ihm somit ein zentraler Übergang von Ideologie als ›System von Vorstellungen‹ zu Ideologie als gelebter, gewohnheitsmässig reproduzierter Praxis statt. Sprache dient zwar der Vorstellung von Dingen im Geist, sie ist aber selbst schon Bestandteil eines praktischen Vollzugs, weil ihre Begriffe und Kategorien mit einer konsensuell etablierten Bedeutung das, was in der Praxis geschieht, innerhalb einer bestimmten Interpretationsmatrix bewerten. Damit eine Ideologie erfolgreich sein kann, muss sie mehr sein als nur eine verordnete Illusion. Sie muss ihren Adressaten eine Version der gesellschaftlichen Verhältnisse und Wirklichkeiten liefern, die so real und nachvollziehbar ist, dass sie nicht gleich verworfen wird. Sie muss also die postulierten Bedeutungen in der Praxis mit realen Vorteilen für ihre Adressaten verbinden, sie muss Konsens nicht nur im Sinne einer dominanten Interpretationsleistung erzeugen, sondern auch, indem die von ihr plausibilisierte Welt- und Selbstdeutung praktische Vorteile erzeugt. Der jahrzehntelange keynesianische Konsens beruhte letztlich nicht nur auf einer bestimmten Deutung des Kapitalismus und des Sozialstaates, sondern auf der tatsächlichen Verbesserung der Lage der arbeitenden Massen. Hegemonie ist also auf die Verschränkung von Wort und Tat angewiesen. Ihre Deutungshoheit bedarf einer bestimmten Erklärung der Welt, eines ›Bedeutsam-Machens‹ dessen, was in dieser geschieht, und zwar durch praktischen Vollzug. Es hat für Gramsci insbesondere mit den Konzepten und Sprachen des praktischen Denkens zu tun, das eine bestimmte Form von Macht und Herrschaft stabilisiert oder das die Volksmassen an ihren untergeordneten Platz in der Gesellschaftsformation anpasst und sie mit ihm versöhnt. Hegemonie bedeutet ja gerade ein ständiges Arbeiten an der Konsolidierung der bestehenden Deutungshoheit, die mitunter eben auch Konzessionen an die Gegner machen muss, also einen Konsens erheischen muss, den sie dann ›legitimerweise‹ mit Zwang panzern kann. Ihre ›Sprache‹ und die damit vermittelten Bedeutungen können somit nicht einfach
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Lügen oder offensichtlichen Unsinn verbreiten; ohne dass sie die strukturellen Begebenheiten der wirtschaftlichen, politischen und sozialen ›Wirklichkeit‹ so reflektieren, dass diese plausibel und ›wahr‹ erscheinen, findet sie keinen Konsens und somit auch keine Legitimationsbasis für den panzernden Zwang. Die kommunikative Plausibilisierung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse muss also, damit sie Konsens finden kann, solche Bedeutungen generieren, die als nachvollziehbare Erklärung dienen und die auch eine Entsprechung im praktischen Alltag finden. Ideen werden – mit Gramsci gesprochen – dadurch materiell, dass die Bedeutungen und Interpretationen der Welt und des Selbst, die sie sprachlich offenbaren, einen materiellen Ausdruck finden, der für die Akteure in eine plausible Verbindung mit der hierfür verwendeten Sprache gesetzt werden kann. Es ist jedoch eine Sprache, die nie frei von Interessen und Machtambitionen ist, die also ein gegebenes soziales Verhältnis in einem bestimmten Bedeutungsraster und nicht in einen anderen positioniert und die die Praxis so wiedergeben muss, dass sie für die hiervon Betroffenen als sinnvoll dechiffriert werden kann. Bedeutung ist somit von Beginn an umkämpft und, worauf Gramsci mit seiner Hegemonietheorie hinweist, impliziert, dass Bedeutungen nicht nur auf Konsens auf bauen müssen, indem sie im praktischen Alltag auch als plausible Dechiffrierungsschablonen der Realität fungieren, sondern dass dieser Konsens in der Zivilgesellschaft etabliert wird, dass hier die Kämpfe um die ›richtige‹ Deutung der Welt und des Selbst in den Hegemonialapparaten ausgefochten werden, um eine einmal erzeugte und konsensuell gefestigte dominante ›Deutung‹ in den Schulen, Universitäten, Vereinen, Kirchen, Medien etc. zu reproduzieren und so im öffentlichen Bewusstsein zu festigen. Bedeutungen haben somit eine Geschichte und eine Machtfunktion. Sie müssen immer wieder in Erinnerung gerufen, stabilisiert und in der sozialen Praxis reproduziert werden. Das ideologische Terrain, auf dem sie wirksam werden, ist dasjenige des »Alltagsverstandes«. Gramsci verstand darunter eine historische und keine natürliche, universelle oder spontane Form geläufigen Denkens. Dieses ist aus widersprüchlichen ideologischen Formen zusammengesetzt: man findet in ihm »Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten, geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wird.« 83 Der Alltagsverstand bildet in Gramscis Augen das Terrain, auf dem der ideologische Kampf um Bedeutung stattfindet. In ihm konstituiert sich so ein Netzwerk von prä-existierenden Spuren und Elementen des gesunden Menschenverstandes, das die Bereiche des praktischen Denkens für die Masse des Volkes einrahmt, mithin ein ideologischer Kampf, der in den zivilgesellschaftlichen Institutionen stattfindet und hier mittels Konsens und Zwang eine bestimmte Deutung der Welt und 83 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 6, Heft 11, S. 1376.
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des Selbst durchsetzt, so dass sich dieses im kollektiven Bewusstsein, also im Alltagsverstand, sedimentieren kann. Dabei sedimentiert sich nicht, wie Gramsci ausdrücklich betont, eine einzige kohärente Erklärung der Welt, sondern vielmehr eine Artikulation verschiedener Interpretationen und Deutungen der Welt und des Selbst, die in einer hegemonialen Formation ein disparates Ganzes bilden. Der Alltagsverstand enthält, was Gramsci die Spuren einer Ideologie »ohne Inventar« nannte, »eine chaotische Ansammlung disparater Auffassungen.«84 Erzkonservative Anschauungen über die Rolle der Frau in einer Gesellschaft müssen sich nicht mit einer avancierten wissenschaftlichen Anschauung der Welt beissen. Man muss, wie Marx im »achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« meinte, sein Geld nicht als Mitglied des Kleinbürgertums ausgeben, um kleinbürgerliche Ideen anziehend zu finden. Diese disparaten Vorstellungen im Alltagsverstand können in ein hegemoniales Projekt Eingang finden und es sogar festigen. Hegemonie ist ja nicht die Propagierung einer einzigen und in sich schlüssigen Weltsicht, sondern gerade die Vereinigung des Verschiedenen unter einem politischen Projekt, das einigen grössere Vorteile bringt, ohne den Rest hiervon völlig auszuschliessen. Was Gramsci mit dem Begriff des »Alltagsverstands« also aufzeigen möchte, ist, dass sich in diesem bestimmte und sogar unterschiedliche Bedeutungen der Welt und des Selbst herauskristallisieren, deren historische Spuren kaum mehr verfolgt werden, da sie in einem hegemonialen Projekt so artikuliert werden, dass sie einen Konsens finden, der unhinterfragt in der alltäglichen Praxis materiell reproduziert wird. Alte, vergangene Kämpfe um Bedeutung haben sich in diesem sedimentiert, und genauso, wie die »Tradition aller todten Geschlechter« wie ein Alptraum »auf dem Gehirne der Lebenden« lastet, so bleiben die unmittelbar »vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umstände«85, die tradierten Deutungen, die sich um diese ranken, und die Begriffe, die diesen Sinn verleihen, geradezu konstitutiv für den Alltagsverstand. Bedeutungen sind ja gerade dann am wirksamsten, wenn sie unhinterfragt übernommen werden, wenn sie sich in der alltäglichen Sprache zu Vehikeln der Sinngebung transformieren, deren Geschichte, Wege und Spuren nicht mehr verfolgt werden. Sprache und das hierdurch bedeutsam gemachte Verhalten sind also die Mittel zur materiellen Festschreibung von Ideologien, die Modalitäten ihres Funktionierens. Gerade Gramscis Hegemoniebegriff legt das Augenmerk auf diese Verflechtung von Sprache und Praxis. Ideologie manifestiert sich als sprachlicher Ausdruck und zugleich als praktische und materielle Entsprechung hiervon. Sprache ist somit nichts anderes als ein System, das wir brauchen, um uns und anderen, das, was wir für das ›Wirkliche‹ halten, zu repräsentieren. Wir tun das, indem wir eine Sprache verwenden, die wir vorfinden und deren Bedeutungen 84 | Ibid. S. 1396. 85 | M ARX , K ARL . Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. S. 9.
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schon umkämpft wurden und sich so im alltäglichen Sprachgebrauch, aber auch in ihrer materiellen praktischen Entsprechung niederschlagen, was nicht heisst, dass die vorhandenen Bedeutungen nicht umkodiert werden könnten, sondern bloss, dass sie in ihrer machtförmigen und historischen Konstituiertheit erkannt werden müssen, bevor sie überhaupt verändert werden können. Gramsci plädiert ja gerade dafür, die Bedeutung eines Begriffs, die in den Hegemonialapparaten gefestigt, praktisch umgesetzt und reproduziert wird und so im Alltagsverstand eine Sedimentierung findet, aus diesem Bereich des öffentlichen Bewusstsein herauszulösen und sie in die Logik eines anderen politischen Diskurses zu verpflanzen. Damit will Gramsci aber nicht behaupten, dass unsere Köpfe voller falscher Ideen stecken. Gerade der hegemoniale Konsens muss ja etwas Wahres über die Wirklichkeit mitteilen, damit er Zustimmung finden kann. Auch will er nicht behaupten, dass wir uns dem ›Wirklichen‹ in einem Akt absoluter Authentisierung öffnen können. Dies würde die Eroberung einer unideologischen Sprache und das Verschwinden der Tatsache implizieren, dass Bedeutung immer umkämpft und hegemonial durchgesetzt wird, und uns so die Illusion der Sicherheit in einer naturalistischen Haltung geben. Wenn wir aber die Einsicht in die Tatsache verlieren, dass Bedeutung durch Sprache umkämpft wird, dass sie immer unter Einsatz von Machtmitteln durchgesetzt wird, dann stehen wir am nächsten im Bann der hochideologischen Struktur des ›common sense‹, des Alltagsverstandes: kurz, des ›sicher Gewussten‹. Auch der Marxismus, für den Gramsci eintritt, öffnet kein Fenster zur unmittelbaren Wirklichkeit und Wahrheit. Denn wenn der Marxismus historische Widersprüche festmacht, dann begreift er sich selber auch als Produkt dieser Widersprüche, wenn auch als ihr bewusstester Ausdruck. Gerade Gramscis ›Philosophie der Praxis‹ nimmt die Behauptung des Marxismus ernst, dass alle vermeintlich ewigen Wahrheiten praktische historische Ursachen haben, und überträgt diesen Standpunkt auf den Marxismus selbst. Im Gefolge der marxistischen Ideologiekritik versteht auch er das menschliche Bewusstsein als eines, das gesellschaftlich determiniert ist. Menschen sind in vorgefundene, selbst gesponnene Bedeutungsnetze eingebunden, die nach bestimmten Regeln funktionieren und ihr Überleben wie auch ihre Reproduktion an bestimmten Bedingungen materieller Hervorbringung knüpfen. Die Interpretation dieser Bedingungen ist von denselben zwar beeinflusst, kann sie aber immer auch verändern, sobald eine kritische Deutung der Welt und des Selbst sich ihrer Konstitutionsbedingungen bewusst wird und sie verändern möchte. Gerade das macht ja die Hegemonie aus. Sie ist nicht ein für alle Mal gegeben, sondern muss immer wieder reproduziert werden, damit sie drohende Brüche im Konsens wieder schliessen kann. Sie muss plausible Bedeutungen der politischen, ökonomischen und sozialen Welt und das Versprechen materieller Vorteile anbieten können, damit sie Konsens finden kann, der zugleich den panzernden Zwang legitimiert. Es verbleibt zu fragen, was dies nun für das Verständnis von politischer Kultur bedeutet. Wenn politische Kultur, wie mehrmals betont wurde, den Raum
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des Sag- und Machbaren absteckt, dann muss sie unweigerlich Bedeutungen generieren und so stabilisieren, damit Menschen daran anknüpfend auch ihrem Selbst und der sie umgebenden Welt Sinn geben und entnehmen können. Was das Tier ›Mensch‹ also ausmacht, ist, dass es sich in einer Welt der Bedeutungen bewegt. Diese sind für seine Tätigkeiten konstitutiv und nicht bloss sekundär. Ideen und die damit artikulierten Bedeutungen fallen nicht vom Himmel und sie sind auch keine blossen Nebenprodukte einer gesellschaftlichen Praxis, sie sind ihnen immanent. Bedeutung ist jedoch keine durchsichtige Spiegelung der Welt in der Sprache. Sie erwächst vielmehr aus den Differenzen zwischen Begriffen und Kategorien, den Bezugssystemen, die die Welt klassifizieren und auf diese Weise erlauben, dass sie vom sozialen Denken, vom ›common sense‹ angeeignet werden.86 Die Sprache, durch welche Selbst- und Weltbilder vermittelt werden, ist kein aseptisch neutrales Medium der Verbalisierung, sondern ist vielmehr schon in ihrer Funktion als bedeutungsgebendes Medium präformiert und machtdurchsetzt, so wie auch das Bewusstsein sich immer in vorgefundenen sozialen Netzen mit ihren jeweiligen Tabus und Geboten herauskristalliert. Bereits Marx machte auf diesen nicht unwesentlichen Zustand aufmerksam: »Der ›Geist‹ hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie ›behaftet‹ zu sein, die hier in Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewusstsein – die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen. Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es für mich, das Tier ›verhält‹ sich zu Nichts und überhaupt nicht. Für das Tier existiert sein Verhältnis zu andern nicht als Verhältnis. Das Bewusstsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.« 87
Wir erleben unser Denken zwar, als ob es frei und spontan in uns entstehe, als wären wir sein freies Subjekt. Tatsächlich aber sind wir in ideologischen Diskursen gefangen, die uns bereits bei der Geburt erwarten und in die wir hineingeboren werden und in denen wir unseren Platz vorfinden. In einer modernen Gesellschaft sind natürlich verschiedene Diskurse mit unterschiedlichen Vorstellungen und thematischen Schwerpunkten im Gang. So kreuzen sich Diskurse 86 | Vgl. H ALL , S TUART. Bedeutung, Repräsentation, Ideologie. Althusser und die poststrukturalistischen Debatten. In: D ERS. Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Herausgegeben von J UHA K OIVISTO und A NDREAS M ERKENS. Hamburg: Argument 2004. S. 34-65. Hier S. 58. 87 | M ARX , K ARL . E NGELS, F RIEDRICH. Die deutsche Ideologie. (1854-1856). Band I: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner. MEW 3. Berlin: Dietz 1958. S. 30.
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über das politische System, die unterschiedliche Ordnungsvorstellungen artikulieren, über Geschlechterverhältnisse und soziale Fragmentierungen – von den Migrationsdebatten bis hin zu den Gemeinwohl- und Wohlstandsdiskussionen –, die wiederum unterschiedliche Überzeugungen, Gerechtigkeitsvorstellungen und Kollektivitätsideale zum Vorschein bringen. Wir sind somit zwar ›geworfen‹, jedoch in ein diskursives Feld, in dem verschiedene Positionen ergriffen und sogar neu konstituiert werden können. Wir sind nicht ein für alle Mal in den vorgefundenen, familiären, sozialen und politischen Diskursen gefangen, die als dominant Gewordene unsere je spezifische Lebenswelt prägen. Vielmehr können wir uns von diesen vorgefundenen, hineinsozialisierten und oktroyierten ideologischen ›Gefängnissen‹ befreien, indem wir uns etwa weigern, nach den festgelegten Regeln mitzuspielen. Das Ideologische an der politischen Kultur betrifft gerade diesen Sachverhalt. Politische Kultur ist kein geschlossenes Denk- und Deutungssystem der Welt und des Selbst, wodurch politische Systeme, Apparate und Institutionen ein für alle Mal stabilisiert und gestützt werden. Sie ist aber auch nicht dem freien Flottieren von Bedeutungen ausgeliefert. Diese Interpretation entspräche einer poststrukturalistischen Erklärung, die im Gefolge von Michel Foucault und Jacques Derrida davon ausgeht, dass soziale Praktiken erst als sprachlich vermittelte oder als Diskursphänomene Bedeutung gewinnen und somit erst wahrnehmbar sind, und die vor allem in Anlehnung an Foucaults Diskursanalyse auf jegliche Bezugnahme auf Begriff und Sinn von ›Ideologie‹ verzichtet. Wenn in der Sprache aber, wie Derrida behauptet, das Bedeutete – das Signifikat – ständig verrutscht, in ständigem ›Aufschub‹ ist, dann bedarf es konsequenterweise einer willkürlichen ›Festlegung‹, damit eine Bezeichnung – ein Signifikant – Bedeutung erhält – wobei die rhetorische Frage lauten müsste, ob Ideologie etwas anderes als genau diese Festlegung von Bedeutung durch Verschleierung und Marginalisierung anderer möglicher Bedeutungen ist. Marx und Engels, wie auch Gramsci nach ihnen, weisen gerade auf diesen Verschleierungszusammenhang hin. Der alltäglich sichtbare und erfahrbare Bereich der kapitalistischen Produktion, der Markt, kann in verschiedenen Diskursen repräsentiert werden und somit mit verschiedenen Bedeutungen behaftet sein. Die Autoren der »Deutschen Ideologie« kritisieren ja gerade, dass dieses Phänomen von den bürgerlichen Ökonomen als der ›heilige Gral‹ der kapitalistischen Produktion entschleiert und gefeiert wird, wo er doch nur einen Teilbereich – den sichtbaren – des gesamten Kreislaufes darstellt. Was sie also kritisieren, ist gerade der ideologische Einsatz der bürgerlichen Ökonomen, einen durchaus wahren und realen Aspekt der kapitalistischen Produktion fälschlicherweise als einzigen ›Motor‹ dieser Produktion zu plausibilisieren. Fern davon, die Unwahrheit zu sagen, sagen sie vielmehr nur die halbe Wahrheit und weigern sich, die andere verborgene Hälfte überhaupt zu thematisieren. In der politischen Kultur können sich gerade solche ideologischen Momente festigen, die aus einer ›halben‹ Sicht auf die Produktionsweisen und auf die je-
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weils subjektiv wahrgenommene, aber aus einem kollektiven Sinnkontext plausibilisierte Position im gesellschaftlichen Produktionsprozess die Welt der wirtschaftlichen Abläufe erklären wollen. Mit Marx und Engels gesprochen bedeutet dies, dass dadurch nicht nur die ideologischen Formen generiert werden, in denen die Menschen Bewusstsein ihrer selbst, der Welt und der darin herrschenden Konflikte gewinnen, sondern auch, und mit Gramsci ergänzt, dass politische Kultur als eine hegemoniale Formation zu verstehen ist, die, je nachdem, wie der gesellschaftlich geführte Kampf um Bedeutung ausgeht, auch andere Deutungen der ökonomischen, politischen und sozialen Welt und des darin verwickelten Selbst hervorbringen kann. Politische Kultur müsste also als ein kognitives Bewusstseinsfeld verstanden werden, das die praktischen Abläufe in einer Gesellschaft mit Sinn panzert, und in dem bestimmte Deutungen der Welt und des Selbst hegemonial, und das heisst ideell und durch praktischen Vollzug – also mittels Konsens und Zwang – eine Sedimentierung erfahren.
8. Fazit »Jede politische Konstruktion findet vor dem Hintergrund einer Bandbreite sedimentierter Praktiken statt.« E RNESTO L ACLAU
Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der politischen Kultur begann mit den Begründern der Political-Culture-Forschung Gabriel Almond und Sidney Verba. Ihre These, wonach jedes politische System auf einem kulturellen Fundament aufruht, wurde insofern kritisiert, als die Zusammensetzung, Geschichte und Machtförmigkeit dieses Fundaments kaum oder nur in voreingenommener Hinsicht Beachtung fand. Die Untersuchung musste somit auf die Konstitutionsbedingungen von politischen Einstellungen gelenkt werden, die im Almond/Verba-Modell als Hauptreferent für politische Kultur und das darauf aufruhende politische System verstanden wurden. Politische Kultur wurde hierbei als Denkund Handlungsraster analysiert, das kollektive Verbindlichkeit aufweist und hierdurch dem jeweiligen politischen System Sinn, Wert und Zustimmung verleiht. Sie produziert und stützt Einstellungen zum politischen System, die ihren Entstehungsort in der allgemeinen Kultur haben und sich hier in Form von dominanten – und somit umkämpften – Deutungen der Welt und des Selbst erst herauskristallisieren. Die vorgeschlagene Methode, eine politische Theorie der Kultur zu schreiben, um dem ›puddinghaften‹ Konzept der politischen Kultur näher zu kommen, lenkte das Augenmerk auf die verborgenen Konstitutionsmechanismen und -momente kollektiv geteilter Deutungsmuster, die wiederum in der Sphäre der allgemeinen Kultur generiert und stabilisiert werden. Damit wurde dem Umstand Nachdruck verliehen, dass politische Kultur nicht nur von der allgemeinen Kultur untrennbar ist, sondern auch, dass Einstellungen und Wertpräferenzen das Resultat vergangener politischer Interventionen auf dem Feld der allgemeinen Kultur sind. Zwar lässt sich insoweit eine methodologische Trennung vollziehen, als man politische Kultur als diejenige bedeutungsgebende Praxis verstehen kann, die sich auf das politische System konzentriert. Als bedeutungsgebende Praxis ist sie aber organisch mit der allgemeinen Kultur verflochten, weil sich
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hier diejenigen Selbst- und Weltverständnisse sowie dominanten Deutungen der Welt und des Selbst bilden, auf deren Basis erst die methodologisch spezifischen Einstellungen zum politischen System entstehen können. Als kognitiv-normative Landkarte, die der Verortung des Einzelnen im politischen Gemeinwesen dient, ist politische Kultur somit schon ›vorgezeichnet‹ und ›vorgefunden‹. Die gangbaren Wege und verbotenen Gebiete, die auf dieser Landkarte erscheinen, sind also einerseits das Ergebnis vergangener politisch umkämpfter Einkreisungen des Sag- und Machbaren in einem Gemeinwesen und andererseits die richtungs- und orientierungsweisenden kognitiven Rahmen, die das Denken und die Bewegungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder prägen: ein Raum der Sag- und Machbarkeiten, der in seiner Funktion der Sinnstiftung für das Selbst und die es umgebende Welt als politisch durchgesetzter auch wieder politisch verändert, respektive umkodiert werden kann. Politische Kultur ist somit eine bedeutungsgebende Praxis des Politischen, die kontingent in der allgemeinen Kultur verankert ist. Es sind vergangene, immer wieder in Erinnerung gerufene und wiederholte politische Interventionen und Kämpfe um die ›richtige‹ Bedeutung eines gesellschaftlichen Sachverhalts, die diese Kontingenz aufhalten und stabilisieren, so dass die gemeinsam geteilten Vorstellungen und Orientierungen sowie Selbst- und Weltverständnisse einer Kollektivität bis zu ihrer Infragestellung stabil und für das ungehinderte Funktionieren der dominanten politisch-kulturellen Deutungsmuster bestenfalls unhinterfragt beibehalten werden. Gerade die Untersuchung der Dimensionen, in welchen sich politische Kultur manifestiert, hat auf diesen verborgenen politisch umkämpften Konstitutionsprozess aufmerksam gemacht. So wie die Kommunikation, ihre Sprachspiele, Zeichen und semiologischen Felder gesellschaftliche Phänomene sind, die auf gemeinsam geteilten Bedeutungsreservoirs auf bauen müssen, um ihre Verständigungsfunktion erfüllen zu können, sind sie auch in dieser ihrer Kodierungsfunktion der Welt und des Selbst in einen permanenten Fluss der Veränderung eingebunden, dessen Lauf, je nachdem, wie fest und stabil dominante Deutungen im kollektiven Bewusstsein verankert sind, kurz- oder langfristig verändert werden kann. Politische Kultur manifestiert sich also in der Dimension der Kommunikation und der politisch umkämpften, weil konflikthaften Festlegung von Bedeutung und generiert hier Überzeugungssysteme, die nach ausschliessendem Muster kodiert sind. Nicht alles wird innerhalb dieser Systeme als wünschens- und erstrebenswert kommuniziert und taxiert und nicht alles findet entsprechend Niedergang in den Institutionen, die den dominanten, politisch-kulturellen Deutungsmustern ihren praktischen Vollzug ermöglichen. Entsprechend manifestiert sich politische Kultur auch in den Institutionen einer Gesellschaft. Hier werden ihre Kodierungen der Welt und des Selbst durch geschriebene oder ungeschriebene Gesetze sanktioniert, stabilisiert und über die Zeit transportiert. Hier finden die kommunikativ umkämpften Bedeutungen der Welt und des Selbst ihre Sedimentierung und hier fungieren sie als sichtbare und unsichtbare Imperative für das Erlaubte und Verbotene. Hier nehmen sie auch praktische Form an, zu-
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mal in einer Familie, in einer öffentlichen Institution oder in einem politischen Kollektiv das Mach- und Sagbare am ›Sprechen‹ und Verhalten des Einzelnen ablesbar und somit auch sanktionierbar wird: eine kommunikativ umkämpfte Kodierung des ›Richtigen‹ und ›Falschen‹, die mittels der Institutionen, in denen diese Kodierungen Niederschlag finden, auch eine bestimmte ›Ordnung der Dinge‹ generiert, aus welcher das Erlaubte und Verbotene mit Bedeutung versehen und identifiziert werden kann; eine kollektiv geteilte kognitive Sinnmatrix der Welt und des Selbst also, die auf Dauer angewiesen ist, damit sie der umliegenden politischen, sozialen und ökonomischen Lebenswelt auch verlässliche Bedeutung zuschreiben kann. Mit der Dimension der Erinnerung wurde zudem darauf hingewiesen, dass dominante Deutungen der Welt und des Selbst, die kommunikativ generiert und institutionell sanktionierbar gemacht werden, zu ihrer Plausibilisierung des in die Geschichte getauchten Lotes bedürfen. Durch Narrative und Erinnerungspolitiken, die das Gegenwärtige und Zukünftige mit dem Vergangenen verbinden und so legitimieren, geht nicht nur die Herstellung von Mythen einher, sondern auch die Natürlich-Setzung der politisch-kulturellen Selbst- und Weltverständnisse eines Gemeinwesens, womit die Spuren der politischen Kämpfe um Bedeutung und der damit sanktionierbaren gesellschaftlichen Konformität in Vergessenheit geraten. Ein partikulares, interessiertes und politisch angereiztes Geschichtsnarrativ findet sich so als Natur wieder und dient hinter diesem Schleier als Schicksalserzählung einer Gemeinschaft, deren Selbstverständnis mit der fatalistischen Verankerung der Unveränderlichkeit verknüpft wird. Damit jedoch die dominanten Deutungsmuster einer politischen Kultur Geltung und Zustimmung finden können, müssen sie nicht nur im kollektiven und subjektiven Bewusstsein verinnerlicht, sondern zu allererst auch veräusserlicht werden. Sie müssen öffentlich kommuniziert, ritualisiert und in den habituellen Praktiken des Alltags hör-, sicht- und spürbar sein. Sie müssen also vor einem Publikum Sinn und Geltung erlangen, um über die Zeit bestenfalls unhinterfragt reproduziert zu werden. Gerade dieses konstitutive Öffentlichwerden der politisch-kulturellen Kodes, die sie erst durchsetz- und sanktionierbar macht, bildet aber zugleich die Möglichkeit ihrer Infragestellung und ihrer Umkodierung. Bedeutungen und Sinnvorstellungen eines Gemeinwesens, wie sie in der politischen Kultur gespeichert und über ihre Manifestationsformen sedimentiert sind, sind weder in Stein gemeisselt noch ein für alle Mal gültig, vielmehr unterliegen sie einer ständigen potentiellen Veränderbarkeit. Politische Kultur als integraler Bestandteil der allgemeinen Kultur und darin als bedeutungsgebender Modus der politischen Ordnung fungierend, operiert somit über verschiedene Dimensionen, in denen sie mittels sichtbaren und unsichtbaren Imperativen bestimmte, in Kontingenz getauchte Deutungsmuster der Welt und des Selbst öffentlich plausibilisiert und als zeitüberdauernde konserviert. So, wie die zur Stabilisierung eines politischen Systems dominant gewordenen Deutungsmuster des Selbst und der Welt das Ensemble politisch umkämpfter
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Sinnvorstellungen über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensräume sind, die ihre Geltung mittels Konsens und Zwang in den Hegemonialapparaten der Zivilgesellschaft etablieren und ritualisieren, so ist politische Kultur als Ort, an dem diese Deutungen eine ideelle und zugleich praktisch-habitualisierte Sedimentierung finden, unweigerlich ideologisch geformt. Gerade die Ausführungen zu Marx’, Engels’ und vor allem Gramscis Denken über die Art und Weise, wie ökonomische Produktionsverhältnisse das Denken und Handeln der Menschen prägen, verschränkt das Konzept der politischen Kultur mit einer materialistischen Erkenntnistheorie, welche die materiellen Bedingungen, in denen die Menschen ihr Dasein fristen, als grundlegende Konstituente ihres Denkens und Handelns versteht. Einstellungen zur politischen Welt sind demnach das Resultat der historisch gewordenen, politisch und machtförmig durchgesetzten Deutungen, die in der politischen Kultur kommunikativ und medial etabliert, institutionell konserviert und mnemotechnisch erinnert werden; Vorgänge, die nicht ohne Berücksichtigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der politischen Strukturen, die sich in Form von staatlichen, aber vor allem zivilgesellschaftlichen Institutionen um diese gruppieren und sie hegemonial stabilisieren, sowie der darin vollzogenen Sprachspiele verstanden werden können. Gerade Gramscis Theorie zur kulturellen Hegemonie eröffnet diese Perspektive und taucht das Konzept der politischen Kultur in ein analytisches Feld, aus welchem die Selbst- und Weltverständnisse eines Gemeinwesens und so letztlich auch des einzelnen Subjekts nicht nur in letzter Instanz eine Verknüpfung mit den dominanten Interpretationen der ökonomischen Produktionsverhältnisse eingehen, die in den Hegemonialapparaten mittels Konsens und Zwang erzeugt und reproduziert werden, sondern vor allem auch in ihrem praktischen, alltäglichen Vollzug im ›Alltagsverstand‹ eine Sedimentierung finden. Gramscis Hegemoniekonzept ermöglicht zudem, politische Kultur als eine Verknüpfung verschiedener Diskurse und ideologischer Plausibilisierungssemantiken zu verstehen. So wie der Alltagsverstand in Gramscis Sinne verschiedene und teils widersprüchliche Überzeugungen und Wertorientierungen versammeln kann, ist auch politische Kultur kein einheitlich geschlossenes und in sich kohärentes Deutungsraster der politischen, ökonomischen und sozialen Welt. Vielmehr zeigte gerade die Applikation von Gramscis Hegemonietheorie auf das Konzept der politischen Kultur, dass in ihr nicht nur unterschiedliche, öffentlich vermittelte und mittels Konsens und Zwang in den Hegemonialapparaten erzeugte und reproduzierte Diskursergebnisse über normative Fragen des Rechts, der Wirtschaftsordnung oder der politischen und sozialen Teilhabe Eingang finden, sondern auch, dass bereits ihr kommunikativer Vollzug sowie die Orte, an dem dieser stattfindet, hegemonial durchsetzt sind, und zwar nicht nur deshalb, weil der Sozialisierungs- und Habitualisierungsprozess uns in schon vorgefundene und bereits institutionalisierte soziale Praktiken mit ihren festgelegten Bedeutungen, Rollen und Ge- und Verboten einbringt und uns damit erst zu gesellschaftlichen Subjekten formt, sondern auch, weil die vorgefundene Spra-
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che, ihre Begriffe und Kategorien bereits eine Bedeutungsspur vorlegen, in der wir erst ein Verständnis vom politischen und wirtschaftlichen System, von der kulturellen Identität eines Gemeinwesens und seinen Wert- und Tugendvorstellungen gewinnen, die wir aber immer auch durch Dekonstruktion dieser Begriffe und Veränderung der von ihnen und durch sie mit Bedeutung kodierten sozialen Handlungen umwerten, und so gleichzeitig auch neue Bedeutungen und Weltund Selbsterklärungen konstruieren können. Politische Kultur erscheint somit als eine reflexive ›Maschine‹, in welcher die hegemonial stabilisierten Deutungen im Alltag und im praktischen Bewusstsein der Menschen gewisse Denk- und Handlungsweisen als ›richtige‹ sanktionierbar erscheinen lassen und andere nicht. Zugleich wirkt die Praxis, in welcher sich diese Verhaltensweisen manifestieren und hier machtförmig sanktioniert werden, auf die politisch-kulturellen Deutungen zurück. Sofern in den Hegemonialapparaten des »integralen Staates«, also in den staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen keine Dissonanz zwischen sozialen Praktiken und den sie mit dem Etikett des ›Richtigen‹ und ›Normalen‹ plausibilisierenden Bedeutungssemantiken entstehen, wirkt sich die Reflexivität stabilisierend aus. Bleibt die Kongruenz aber aus, indem beispielsweise soziale Praktiken auftauchen, die im dominanten politisch-kulturellen Deutungsradar nicht vorgesehen waren, führt dies zu Irritationen und gegebenenfalls auch zu Widerständen im praktischen Bewusstsein und Handeln der Menschen, was wiederum eine destabilisierende Rückkoppelung auf die einst hegemonial durchgesetzten politisch-kulturellen Kodes und auf die hiervon mit Bedeutung sanktionierte soziale Praxis hat und so letztlich über kurz oder lang auch das politische Gefüge verändern wird. Sofern der bestehende Konsens zwischen dominanten und subalternen Gruppen diese Risse wieder schliessen kann, indem etwa die Ursachen und Gründe der Irritationen und Widerstände behoben oder zumindest gemildert werden, bleibt die hegemoniale politisch-kulturelle Deutungshoheit und die damit stabilisierte politische, ökonomische und soziale Ordnung gewahrt. Generiert der reflexive Vorgang jedoch derart starke und tiefgreifende Widerstände im sozialen Gewebe, die auch nicht mehr mittels Zwang domestiziert werden können, verlieren die bis anhin geltenden politisch-kulturellen Deutungsmuster ihre Legitimation und gegenhegemoniale Projekte treten auf den Plan. Die hier unternommene politisch-theoretische Analyse des Konzepts von politischer Kultur wollte also auf folgende Definitionsschritte aufmerksam machen: • •
Politische Kultur kann als Analysekategorie methodologisch, nicht aber organisch von der allgemeinen Kultur eines Gemeinwesens getrennt werden. Gerade die in dieser allgemeinen Kultur verlautbarten und bedeutungsgebenden Kommunikations-, Konflikt- und Erinnerungssemantiken formieren politische Kultur als Deutungskultur, indem ihre Kodes und die damit festgelegten Mach- und Sagbarkeiten mit exklusiven Bedeutungen gefestigt werden.
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Diese Sinndeutungen werden hegemonial hergestellt und dienen als Schablone des ›Richtigen‹ und ›Falschen‹ für die Sichtbarmachung und Legitimierung kollektiver Beurteilung des politischen Systems, der sozialen Handlungen, der ihnen zugrundeliegenden Selbst- und Weltverständnisse, der damit verbundenen Wir-Identitäten und nicht zuletzt der ökonomischen Produktionsverhältnisse. Die dadurch mit Bedeutung belegten sozialen Praktiken und Sprechweisen des Alltags haben einen Rückkoppelungseffekt auf die politisch-kulturellen Deutungsmuster der politischen, ökonomischen und sozialen Ordnung. Politische Kultur erweist sich somit als eine hegemoniale Formation, deren sinntragende Deutungsmuster öffentlich artikuliert, ritualisiert und im praktischen Vollzug habitualisiert werden müssen, damit der permanent drohende Konsens- und Legitimitätsverlust möglichst ohne gewalttätigen Zwang seitens der Regierenden verhindert werden kann. Zuletzt ist politische Kultur, damit sie der politischen Ordnung mittels ihrer Deutungsmuster Sinn und Legitimität zuschreiben kann, auf eine hegemoniale Artikulation der ökonomischen Produktionsverhältnisse angewiesen, damit die Menschen, die darin ihr Dasein fristen, ihrer Lage und ihrem Status einen positiven Sinn abgewinnen können und so die bestehende Ordnung, mit ihrer Zustimmung stabilisieren.
Die hegemonial gewordenen Interpretationen dieser ökonomischen Prozesse und der Akteursrollen, die den Menschen darin zugeschrieben werden, haben somit eine konstitutive Funktion in der Herausbildung politisch-kultureller Sinn-, Wertund Ordnungsvorstellungen. Damit wird das Konzept der politischen Kultur von einer engen Anlehnung an das traditionelle politische System – mit seinen Institutionen der Regierung, des Parlaments und des Rechts – losgelöst und in einen erweiterten Kontext gestellt, in dem der gesamte soziale Prozess mit seinen zivilgesellschaftlichen Institutionen und den darin stattfindenden sozialen Praktiken eingeschlossen ist. Damit werden, entgegen der überkommenen Konzeption von Politik, auch solche Handlungen, Praktiken und Symbole, aber vor allem auch die sozialen Räume, in denen diese Interaktionen und Zeichen sprachlich vermittelt, mit Bedeutung versetzt und im praktischen Vollzug stabilisiert und plausibilisiert werden, als politische verstanden. Das Politische an der politischen Kultur ist somit nicht nur ihre Stabilisierungsfunktion für ein politisches System, sondern liegt vielmehr schon im kommunikativen, symbolischen und praktischen Konstitutionsprozess verborgen, in welchem sich die Deutungs-, Sinn- und Orientierungsmuster für ein Kollektiv mittels Konsens und Zwang herauskristallisieren und so eine Sedimentierung im kollektiven Bewusstsein, in den alltäglichen sozialen Praktiken und ›Sprachen‹ finden. Es ist nämlich schon die verwendete Sprache selbst, mit welcher wir über Transformationen im politischen, ökonomischen und sozialen Leben informiert werden, die dazu tendiert, die hegemoniale Deutungshoheit und ihre Auswirkungen im alltäglichen Denken und Handeln zu reproduzieren.
8. Fazit
Begriffe, Ideen, Terminologien, Kategorien, aber auch Bilder und Symbole erlauben uns, einen bestimmten Aspekt des gesellschaftlichen Prozesses oder Ordnungssystems im Denken zu erfassen und ermöglichen uns damit, uns und anderen vorzustellen, wie diese Prozesse oder das System arbeiten, funktionieren und wie sie auf uns einwirken. Mittels Sprache erklären wir etwas, stellen es uns in Gedanken vor und formen es zugleich in seinem Bedeutungsinhalt, was wiederum die praktischen Tätigkeiten prägt, die abermals durch eine sprachlich vermittelte hegemoniale Deutung beurteilt werden. Sprache dient hierbei der Festigung der hegemonialen Kodierung, indem sie gesellschaftliche Phänomene aus der Perspektive des hegemonialen Bedeutungsreservoirs artikuliert und so von Beginn an die kommunikative Auseinandersetzung vorspurt. Damit wird auch eine privilegierte, weil hegemonial sanktionierte ›Lesart‹ der sozialen Interaktion und der Begriffe, die zur Erläuterung dieser dienen, im kollektiven und subjektiven Bewusstsein sedimentiert. Das bedeutet nicht, dass keine anders kodierte Lesart möglich ist, sondern bloss, dass jede Lesart immer schon vorgespurt ist und mittels Konsens und Zwang ihre Kodes im alltäglichen Sprachgebrauch und in der alltäglichen Praxis repetiert, ritualisiert und so eben auch im Alltagsverstand sedimentiert. Sie wird zur privilegierten Lesart, nicht weil es keine anders kodierten Deutungsmuster gäbe, sondern weil in ihr und durch sie die plausibelsten, da mit dem ›common sense‹ konform gehenden Bedeutungen der Welt und des Selbst dechiffriert werden können. Dadurch werden andere ›Lesarten‹ nicht etwa von Beginn an ausgeschaltet oder verunmöglicht, aber sehr wohl marginalisiert. Sobald eine ›Lesart‹ hegemonialen Status erreicht hat, zumal ihre Kodes mittels Konsens und Zwang in der Kommunikation als legitime anerkannt und in der sozialen Praxis habituell reproduziert werden und so im ›common sense‹ sedimentieren, bleibt diese konforme Deutung der Welt und des Selbst nicht immun, aber resistent gegenüber anderen ›Lesarten‹. Sobald also hegemoniale Deutungen eine Sedimentierung im kollektiven Bewusstsein erfahren und so auch das subjektive Denken und Handeln nach Massgabe ihrer Kodes hör- und sichtbar werden lassen, schreiben sie den dadurch hervorgebrachten Selbst- und Weltverständnissen den Status des ›Normalen‹ und ›Wahren‹ zu. Politische Kultur verstanden als Sediment, welches hegemoniale Deutungen speichert, weist gerade auf diesen Verflechtungs- und Reflexivitätsvorgang zwischen sprachlich vermittelter und umkämpfter Bedeutung und ihr entsprechender und sie reproduzierender Praxis hin, womit eben eine bestimmte hegemoniale Formation der Selbst- und Weltdeutung Sedimentierung im Alltagsverstand findet, so eine bestimmte Vorstellung von politischer Ordnung bevorzugt und zugleich andere Deutungsangebote und -muster verdrängt. Sedimentierung ist ja, wie Edmund Husserl betonte, gerade der Name für die Routinisierung und das Vergessen von Ursprüngen.1 Es ist ein Prozess, der auf1 | Vgl. M ARCHART, O LIVER . Die politische Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. S. 204.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
zutreten beginnt, sobald ein bestimmtes Ensemble von Sinnvorstellungen über die politischen, ökonomischen und sozialen Begebenheiten einer Gesellschaft zu einem hegemonialen Erfolg führt. Sofern ein solcher Institutionsakt, wie Ernesto Laclau dies nennt, von Erfolg gekrönt ist, »kommt es zu einem tendenziellen ›Vergessen der Ursprünge‹, das System möglicher Alternativen beginnt zu verschwinden und die Spuren der originären Kontingenz verwischen. Auf diese Weise tendiert das Instituierte dazu, die Form reiner objektiver Präsenz anzunehmen. Dies ist das Moment der Sedimentierung.«2 Wenn also die bestehenden politischkulturellen Deutungsmuster und die hiervon mit dem Prädikat des ›Richtigen‹ oder ›Falschen‹ taxierten sozialen Praktiken unhinterfragt übernommen und im habitualisierten alltäglichen Handeln reproduziert werden, ›versteinern‹ sie sich im kollektiven Bewusstsein und verwischen dadurch die historischen und machtdurchsetzten Spuren, denen sie ihr Bestehen verdanken. Es ist ein Prozess, der mit Gramsci als hegemonialer verstanden werden kann, weil der Kampf ums ›Vergessen‹ dieser Spuren in den zivilgesellschaftlichen Apparaten stattfindet, wo in den routinisierten Praktiken und Diskursen der Akteure ein habitualisierter Modus der Interaktion, der sprachlichen Bedeutungsgebung und somit auch des Verständnisses für die eigene und kollektive Lebensführung und -ausrichtung, die hierfür konstitutiven ideologischen Formen, politischen Kämpfe und ökonomischen Zwänge zunehmend ins Vergessen verdrängt. Hegemonial ist er auch deshalb, weil gerade Gramscis Überlegungen zur Art und Weise, wie eine hegemoniale Macht funktioniert, die Tür weisen, aus welcher ein Austritt, um einen neuen Eintritt ins Geschehen zu vollziehen, möglich ist. Wenn diese Sedimentierungen von einem hegemonialen Prozess abhängig sind, dann beruht das ›Selbstverständliche‹, ›Richtige‹, ›Wahre‹ und ›Normale‹ immer auch auf instabilen Fundamenten, deren Stützpfeiler des Konsenses und Zwangs aus dem Verborgenen immer wieder auch durch eine Gegenartikulation und -erinnerung mittels anders kodierter Deutungen und subversiver sozialer Praktiken ›sichtbar‹ gemacht werden können. Dies wäre ein Moment der ›Reaktivierung‹ des kollektiv Verdrängten und der verborgenen Spuren, die bis anhin den Konsens und den unsichtbaren und unfühlbaren Zwang, der sich in die ritualisierten und habitualisierten Praktiken einschleicht, hervorbrachten und stabilisierten; ein Prozess der Defixierung von Bedeutung also, wodurch mehr und mehr Elemente, Ebenen und Orte im Sozialen als kontingent erfahren und somit auch umkodiert werden können. Das Politische durchzieht somit nicht nur die Konstitutions-, sondern auch die immer möglichen Dekonstitutionsprozesse der hegemonial formierten politischen Kultur. Politische Kultur ist somit das erodierbare Sediment politisch umkämpfter und hegemonial gefestigter Deutungen der
2 | L ACLAU, E RNESTO. New Reflections on the Revolution of Our Time. London. New York: Verso 1990. S. 34. Zitiert in M ARCHART, O LIVER . Die politische Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. S. 204.
8. Fazit
politischen, ökonomischen und sozialen Lebenssphären und des darin sich befindlichen Selbst. Es stellt sich somit die Frage, wie in unserer Zeit, politische Kultur geformt, stabilisiert und hegemonial reproduziert wird, mithin welche Deutungsmuster der Welt und des Selbst, also welche Semantiken, Praktiken und Diskurse heute die dominanten Konstituenten von politischer Kultur sind. Was sich also heute in Bezug auf die real existierenden Demokratien stellt, ist erneut die Hegemoniefrage. Die im zweiten Teil folgende Untersuchung soll die These erhärten, dass eine bestimmte wirtschaftstheoretische Doktrin, die längst zur politischen Macht geworden ist, in hegemonialer Weise die Kodierungen, Funktionen und Reproduktionen einer letztlich demokratiefeindlichen politischen Kultur bestimmt. Mit der Überschrift »Ökonomisierung des Sozialen« wird auch gleich ein Hinweis auf die Strategie dieser hegemonialen Einkreisung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ordnung gegeben, die unter dem diffusen Titel ›Neoliberalismus‹ firmiert.
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II. Ökonomisierung des Sozialen »Get rich, or die tryin« 50 C ENT »Die Ideen von Nationalökonomen und politischen Philosophen sind, ob sie wahr sind oder falsch, wirkungsmächtiger, als man gemeinhin glaubt. Tatsächlich wird die Welt von wenig mehr beherrscht. Praktiker, die sich selbst ganz frei von irgendwelchen intellektuellen Einflüssen wähnen, sind meistens die Sklaven irgendwelcher überholter Ökonomen.« J OHN M AYNARD K EYNES
Der bisherige Verlauf der Untersuchung hat einen begriffsanalytischen Zugang zum Konzept der politischen Kultur formuliert. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Konstitution von politischer Kultur immer auch politisch umkämpft ist. Politische Kultur konnte somit in hegemonietheoretischer Perspektive als Sediment hegemonialer Deutungen definiert werden, deren Effekte sich im Denken und Handeln der Menschen manifestieren, in zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparaten ideologisch gefestigt, praktisch umgesetzt und so reproduziert werden, dass auch eine stabilisierende Rückkoppelung auf die hegemonialen politisch-kulturellen Deutungen stattfindet. Als Sediment hegemonialer Deutungen ist politische Kultur somit erodierbar und in ihrer Formation nie ein für alle Mal festgesetzt. Nachfolgend geht es nun darum, die gegenwärtigen kapitalistischen Dynamiken, die unter dem Label ›Neoliberalismus‹ politisch durchgesetzt und zu rechtfertigen versucht werden, und ihre Konsequenzen für Politik, Gesellschaft und Individuum aus einer gesellschaftskritischen Perspektive im Zusammenhang mit dem erarbeiteten Konzept der politischen Kultur zu untersuchen. Dabei wird davon ausgegangen, dass politische Kultur nicht nur in konstitutiver Hinsicht
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
mit einer seit den 1970er Jahren global dominant gewordenen wirtschaftspolitischen Umgestaltung der staatlichen Funktionen und der davon betroffenen Gesellschaften verflochten ist, sondern auch, dass aus dieser Verflechtung demokratieentleerende Effekte resultieren, die, wie einige Autoren1 unlängst betonten, die heutigen Demokratien zunehmend zu Postdemokratien mutieren lassen: zu Regierungsformen also, die nur noch in formaler Hinsicht als demokratisch bezeichnet werden können, während sie in inhaltlicher Hinsicht sowohl von apathischen Erscheinungen auf Seiten ihrer Bürger bestimmt sind, die sich oftmals nur noch über nationalkonservative und rassistische Politiken aktivieren lassen, als auch von einer zunehmenden Entfremdung und einem grassierenden Misstrauen zwischen politischer Elite und politischem Wahlvolk. Diesen Entwicklungen, so die hier vertretene These, liegt eine politische Kultur zugrunde, deren Wertvorstellungen, Deutungsmuster und Orientierungshorizonte nicht nur exkludierende und korrumpierende Politiken des Sozialen und des Selbst forcieren, sondern durch und durch von dem, was im Folgenden als neoliberale Hegemonie bezeichnet wird, geformt, kodiert und reproduziert werden. Im Sinne der hier postulierten ›Ökonomisierung des Sozialen‹, die die kulturellen Fundamente des Sozialen und die hierfür grundlegenden zivilgesellschaftlichen Institutionen nach marktwirtschaftlichen Kriterien ausrichtet und so politische Kultur ›umwertet‹, bedeutet dies konkret, dass bspw. die Gesetze des neoliberalen Marktliberalismus eben nicht nur den Unternehmungen zugrunde liegen, sondern auch Bildungsstätten, Stiftungen, Vereine sowie die Medien, die Wissenschaften samt ihrer Institute und letztlich das Denken und Fühlen der Individuen vereinnahmen. Damit werden nicht nur neue Produktionsformen, sondern auch neue Lebensformen erzeugt. Die hier verfolgte Herangehensweise konzentriert sich somit auf eine ideologiekritische Analyse des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Terrains, auf dem wir uns bewegen. Es ist zu untersuchen, wie dieser beschaffen, konstruiert, strukturiert ist und wovon er dominiert wird. Bei der Beantwortung solcher Fragen geht es darum herauszufinden, wie, respektive wovon politische Kultur geprägt wird und wie sie rückkoppelnd auf das politische System einwirkt. Viele hierauf bezogene Diagnosen2 stellen eine Verschmelzung von politischer Kultur mit der jeweiligen Mehrheitskultur fest, die ihren öffentlichen Ausdruck in einer nationalistisch gefärbten Semantik findet, die von exkludierenden sozialen 1 | C ROUCH, C OLIN . Postdemokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. D AHRENDORF, R ALF. Die Krisen der Demokratie. München: C.H. Beck 2002. 2 | Siehe u.a.: C ROUCH, C OLIN . Postdemokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. M ARTI, U RS. Demokratie. Das uneingelöste Versprechen. Zürich: Rotpunktverlag 2006. DAHRENDORF, R ALF. Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. München: C.H. Beck 2003. DAHRENDORF, R ALF. Die Krisen der Demokratie. München: C.H. Beck 2002. B AUMAN, Z YGMUNT. Die Krise der Politik. Hamburg: Hamburger Edition 2000. H ABERMAS, J ÜRGEN . Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998.
II. Ökonomisierung des Sozialen
Praktiken begleitetet wird. Es soll aufgezeigt werden, dass dieser Verschmelzung eine Politik zugrunde liegt, die im Namen von Standortkonkurrenz, freien Märkten und der damit einhergehenden Umkodierung von Arbeit nicht nur die Regierungshandlungen von einer Intervention im Bereich der Ökonomie zunehmend auf denjenigen der Sicherheit und Kontrolle der Bevölkerung verlagert, sondern überdies auch die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, die Felder und Instrumente der kollektiven Kommunikation und Meinungsfindung sowie das einzelne Individuum nach Massgaben der ökonomischen Effizienz, Flexibilität und Konkurrenz rekodiert. Das damit einhergehende »Driften« des Marktsubjekts verunmöglicht nicht nur die Planung einer gesicherten individuellen Biografie,3 sondern offenbart sich auch in einer Abnahme der Bürgerloyalität und der kollektiven Sorge um das Gemeinwesen. Die politische Gegenreaktion hierzu äussert sich vielfach in der Propagierung eines künstlichen Narrativs der ›Gemeinschaft‹, welches Loyalität stiften und dem ziellosen subjektiven Driften Kohärenz verleihen soll. Es handelt sich dabei jedoch um ein Narrativ, das nicht nur den ›Verführungen‹ der Demokratie Tür und Tor öffnet, als es auf einer nationalistischen und exklusivistischen Semantik auf baut, sondern nicht selten auch mit der postmodernen a-nationalen Privatidentität der Globalisierungsgewinner kollidiert, die nach dem Motto ›ubi bene ibi patria‹ leben. Das aber sind Entwicklungen, die unweigerlich die Fundamente der politischen Kultur tangieren und diese in die Nähe der Mehrheitskultur verschieben. Die nationalstaatlich verfasste Demokratie überlebt dann angesichts dieser Dynamiken nur noch als äusseres Erscheinungsbild einer Gesellschaft, die sich längst von den Prinzipien der freien und selbstbestimmten Lebensentfaltung und der kollektiven Sorge verabschiedet hat. Die hierfür verantwortliche und sich längst schon global ausweitende Regierungsrationalität ist deshalb hegemonial, weil sie einerseits in den verschiedenen Ländern trotz der differierenden politisch-kulturellen Traditionen ihre politischen Eckpfeiler durchsetzt und sie sich andererseits in erster Linie über eine bestimmte Wirtschafts- und Sozialpolitik definiert. Die Bedeutung dessen ist in technischer Hinsicht das Näherrücken der Welt zu einem Dorf durch technologische Innovationen und damit verbundener Beschleunigung von Wissen, Kapital und menschlichen Kontakten, aber auch von internationalen, nationalen oder regionalen Konflikten und Ausbeutungsverhältnissen, in ideologischer Hinsicht die Verlagerung der politischen Rationalität auf die ökonomische Betrachtungsweise und in politischer Hinsicht die Krise der Nationalstaaten, die ihren Verlust an wirtschaftspolitischer Souveränität mit sicherheitspolitischen Programmen wettzumachen versuchen. Mit der Parole ›Krise des Sozialstaates‹ nahm diese neoliberale Hegemonie ihren nationalstaatlichen Beginn und hat mittlerweile längst globale Dimensio3 | Vgl. S ENNET T, R ICHARD. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 3. Aufl. Berlin: BvT 2007.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
nen erreicht. Ausgangspunkt war die Kritik an der wohlfahrtsstaatlichen Politik der Nachkriegsjahre, die in der fordistischen Produktionsform, in der keynesianischen Wirtschafts- und Sozialpolitik und im sozialen Frieden zwischen Kapitaleignern und arbeitenden Massen die Basis einer liberalen demokratisch verfassten Gesellschaft feststellen zu können glaubte. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren wurde diese Kritik machtpolitisch durchgesetzt und unter dem Label ›Neoliberalismus‹ global diffundiert. Vor allem auf Druck der USA und der internationalen Wirtschaftsorganisationen wie IWF, Weltbank oder WTO wurden zu dieser Zeit lateinamerikanische, afrikanische und ostasiatische Länder unter den neuen neoliberalen Spielregeln versammelt. Nach der historischen Zäsur von 1989 wurden nicht nur in der OECD-Welt, sondern auch in den in ihren Sog geratenen ehemaligen Ostblockstaaten neoliberale Ideen einer angebots- und wachstumsorientierten Finanz- und Wirtschaftspolitik benutzt, um den forcierten Rückbau der sozialen Sicherungssysteme zu legitimieren. Damit wurden nicht nur die ›Betten‹ der Kapitalflüsse so verbreitert, dass sie nationalpolitisch nicht mehr gelenkt werden konnten und entsprechend global mäandrierten, auch die globale Finanzwirtschaft mit ihrer Aristokratie mutierte dadurch zum neuen Vorbild für Kapitalakkumulation und Rendite. Die Welt wurde zum Dorf, aber zu einem solchen, in dem einige Wenige über die Geschicke aller Anderen entscheiden, die sich mit einer Realität konfrontiert sehen, in welcher das Versprechen der Selbstbestimmung und der freien persönlichen Entwicklung nur noch im Register der Marktsouveränität formuliert wird. Demokratische Wahlen finden in diesem globalen Dorf zwar statt und nehmen sogar zu, sind aber vielfach vor die lähmende Aussicht gestellt, diejenigen Entscheidungen zu produzieren, die den transnationalen Kapitalflüssen dienlich sind. Unter dem Stichwort des Standortwettkampfes und der Attraktivität für den eigenen nationalen Investitions- und Finanzplatz werden demokratische Entscheidungen in eine kapitalfreundliche Richtung gelenkt, indem das Schreckensszenario des Arbeitsplatzverlustes und der Wohlstandsminderung politisch und medial aufgebauscht wird, wodurch ein mögliches Ausscheren von Beginn an verhindern werden soll. Das aber bedeutet einen Paradigmenwechsel, der in der Liberalisierung und Privatisierung aller möglichen staatlichen Aufgaben – von der Sozialfürsorge über die Bildung bis zum öffentlichen Dienst – zugunsten der Marktkräfte das neue Firmament am Himmel des gesellschaftlichen Wohlstandes und der individuellen Entfaltung propagierte. Sofern er auch als Stern bezeichnet sein will, dann ist er aber nicht unbedingt ein empfehlenswerter Wegweiser auf dem unruhigen Meer der gesellschaftlichen Ordnung. Demokratien geraten durch eine solche Orientierung vielmehr in Seenot. Zunehmend ausgehöhlt in ihrer souveränen Kompetenz der Kapitalsteuerung, die sie nur noch in Termini von Steuerprivilegien für multinationale Unternehmungen und zugunsten eines destruktiven Standortnationalismus artikulieren, sehen sie sich darauf reduziert, ihre Legitimation zunehmend über die ›Aktivierung‹ der Bevölkerung als Anpassung an die neuen neoliberalen Produktionsverhältnisse und über Sicherheitspolitiken zu
II. Ökonomisierung des Sozialen
gewinnen. Sie sind somit weiterhin auf die Verflechtung von Konsens und Zwang – auf den hegemonialen Modus von Regierungsmacht angewiesen, ein Modus, der über politisch-kulturelle Deutungen etabliert wird, die wiederum von einer spezifischen Rationalität getragen werden. Doch muss gefragt werden, was für eine Rationalität das ist, die alle Felder des Sozialen einnimmt und so auch das einzelne Individuum mittels Konsens und Zwang nach Massgaben ihrer ›Wahrheiten‹ subjektiviert. Gramscis Hegemonietheorie macht darauf aufmerksam, dass der moderne liberale Staat, damit er seine Herrschaftsstrukturen, -klassen und -mechanismen aufrechterhalten kann, vor allem auf Konsens angewiesen ist, der sich in den zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparaten habituell und mittels Zwang reproduziert. Die bürgerlich-liberale Herrschaft, so Gramsci, verzichtet nicht primär auf Zwang, verbirgt diesen jedoch unter dem Deckmantel des Konsenses. Sie funktioniert im Modus der »passiven Revolution« – und das heisst, dass sie den permanent prekären Status des Konsenses in den jeweiligen Apparaten des »integralen Staates«, also in den typischen staatlichen Institutionen und den zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparaten immer wieder aufs Neue reproduzieren, panzern und somit stabilisieren muss. Hier verflechten sich die Veränderungen im kapitalistischen Produktionsverhältnis mit der Entwicklung von Produktivkräften und der Hervorbringung von Subjekten, die diesen neuen Verhältnissen und Kräften entsprechen und sie mit Konsens und konsensuell legitimiertem Zwang rechtfertigen. Christine Buci-Glucksmann nennt in Anlehnung an Gramscis Konzept der »passiven Revolution« dieses Zusammenspiel von Produktionsform und der ihr entsprechenden und sie stabilisierenden Lebensform die »Morphologie des entwickelten Kapitalismus«. Dies ist »ein bestimmtes Anpassungsvermögen, welches der Entwicklung der Produktivkräfte eigen ist, eine bestimmte Plastizität, die es ihnen in Krisenzeiten ermöglicht, ihre eigene Neustrukturierung zu leisten.« 4 Kapitalistische Produktionsverhältnisse sind auf die Herausbildung von produktionskonformem Denken und Handeln angewiesen, damit sie ihre zyklischen Krisen wieder domestizieren können. Werden diese Produktionsverhältnisse von der führenden Klasse nur mit Zwang durchgesetzt, ist ein Bruch der gesellschaftlichen Kohäsion und der Funktionsweise der Produktion früher oder später zu erwarten. Beruhen sie aber auf Konsens und auf einem Denken und Handeln, das diesen Verhältnissen entspricht, können sich die Produktions- und Herrschaftsverhältnisse im ganzen sozialen Gewebe ausbreiten, konsensuell reproduzieren und so den jeweiligen Zwang in den Hegemonialapparaten ohne Widerstand legitimieren. Sie entwickeln und stabilisieren sich dadurch auf passive Art und Weise. Mit dem Begriff der »passiven Revolution« möchte Gramsci gerade auf diesen Umstand und letztlich auf das Problem der Führung, auf das Verhältnis 4 | B UCI -G LUCKSMANN, C HRISTINE . Über die politischen Probleme des Übergangs: Arbeiterklasse, Staat und passive Revolution. In: SOPO. Sozialistische Politik. Vol. 41. September 1977. S. 13-35, Hier S. 15.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
von Führenden und Geführten aufmerksam machen. Führung ist unter hegemonialen Bedingungen somit nicht das einfache Verhältnis von Befehl und Gehorsam, sondern ein komplexes Gefüge von Aktivierung und Passivierung. Der Konsens muss immer wieder etabliert werden, womit auch allfällige Widerstände gegen diesen passiv gehalten werden können. Will man also das Problem der Führung nicht auf physischen Zwang einerseits und blosse ideologische Täuschung andererseits reduzieren, gilt es, die Praktiken von Selbst- und Fremdführung und deren Verbindung miteinander in den Blick zu nehmen. Es sollte nicht vergessen werden, dass Gramsci ja gerade betont, dass moderne liberale kapitalistische Staaten den für sie unentbehrlichen Konsens nicht nur mittels Verbesserung der Lage der Subalternen, sondern eben auch durch die Herausbildung konformer Lebensformen etablieren, damit der panzernde Zwang auch legitimiert werden kann. Auch für die gegenwärtige neoliberale Hegemonie, wie sie im Folgenden untersucht wird, steht das Problem der Führung des Selbst und anderer, die damit einhergehenden Selbst- und Weltverständnisse und ihre Rückkoppelungen auf die politische Kultur und die hiervon getragenen demokratischen Ordnungen an oberster Stelle. Insbesondere das Heranziehen von Michel Foucaults Theorie der Gouvernementalität ist aus Sicht der hier unternommenen Analyse äusserst fruchtbar, um die gegenwärtige neoliberale Hegemonie, ihre politisch-kulturellen Kodierungen und die damit einhergehende Aushöhlung der Demokratie fassen zu können. Regierung beziehungsweise Führung gewinnt mit Foucaults theoretischen Ansätzen eine zusätzliche Dimension, die auch schon bei Gramsci hervorscheint und die sie beide mit Machttechnologien verbinden, zu denen Selbstverhältnisse hinzutreten, die als relativ unabhängig von den Regierungstechnologien angesehen werden. Mit Gramsci und Foucault lassen sich somit die Führungstaktiken und -semantiken herausarbeiten, die neoliberalen Politiken eigen sind und die sowohl auf der Ebene der politischen Gesellschaft wie auch in der Zivilgesellschaft insbesondere auf die Konstitution einer bestimmten marktkonformen Lebensform abzielen, während zugleich Widerstände und alternative Modelle des Politischen und Sozialen passiv gehalten werden. Mit Gramscis und Foucaults Ansatz können also die passivierenden und aktivierenden Technologien des Selbst und anderer erfasst werden, die nicht zuletzt für eine politische Kultur des ›Undemokratischen‹ konstitutiv sind. Konsens wird innerhalb dieser neoliberalen Hegemonie also nicht primär dadurch erreicht, dass den Subalternen materielle Vorteile zugesprochen werden, damit sie die dominanten Wirtschafts- und Sozialpolitiken gutheissen. Vielmehr erfolgt eine Neukodierung der Lebensform sowie der damit verbundenen und versprochenen individuellen Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, die politisch mittels Konsens und Zwang als alternativlose Herrschafts- und Produktionsverhältnisse auszugeben versucht werden. Im Folgenden wird es also darum gehen, aus einer ideologiekritischen Perspektive, den Entstehungsspuren dieser neoliberalen Hegemonie zu folgen, die hierfür grundlegenden ideologischen
II. Ökonomisierung des Sozialen
Strategien und politischen Interventionen nachzuzeichnen, die im Modus der ›Ökonomisierung des Sozialen‹ zu ihrer politisch-kulturellen Sedimentierung und Hegemonialwerdung beigetragen haben, um so die gesellschaftspolitischen und demokratietheoretischen Konsequenzen diskutieren zu können, die letztlich die Sicht auf den Zustand der politischen Kultur in Zeiten des Neoliberalismus öffnen.
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1. Neoliberaler Paradigmenwechsel
Das Wort Paradigma (griechisch: parádeigma) bedeutet ›Beispiel‹, ›Vorbild‹, ›Muster‹ oder ›Abgrenzung‹, ›Vorurteil‹ und in allgemeiner Form auch ›Weltsicht‹ oder ›Weltanschauung‹. Seit dem späten 18. Jahrhundert dient der Begriff zur Bezeichnung einer bestimmten wissenschaftlichen Denkweise oder einer bestimmten Weltanschauung. Die gebräuchlichste Verwendung des Begriffs hat sich mit den wissenschaftstheoretischen Untersuchungen von Thomas S. Kuhn eingebürgert. Für den amerikanischen Wissenschaftler steht der Begriff einerseits »für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden. Andererseits bezeichnet er ein Element in dieser Konstellation, die konkreten Problemlösungen, die, als Vorbilder oder Beispiele gebraucht, explizite Regeln als Basis für die Lösung der übrigen Probleme der ›normalen Wissenschaft‹ ersetzen können.«1
Damit wird also ein vorherrschendes Denkmuster in einer bestimmten Zeit verstanden, welches einen allgemein anerkannten Konsens über Annahmen und Vorstellungen widerspiegelt, die es ermöglichen, für eine Vielzahl von Fragestellungen Lösungen anzubieten. Probleme werden im Register der theoretischen und wissenschaftlichen Instrumente und ›Gewissheiten‹ des vorherrschenden Paradigmas überhaupt erst erkennbar, beleuchtet, erklärt und bestenfalls auch gelöst. Sie haben eine Halbwertszeit, zumal ihre theoretischen und wissenschaftlichen Instrumente und Gewissheiten nur solange anerkannt bleiben, bis Phänomene auftreten, die mit der bis anhin gültigen Lehrmeinung nicht vereinbar sich. In diesem Moment werden neue Theorien aufgestellt, die zwischen den Verfechtern der konkurrierenden Lehrmeinungen, also zwischen denjenigen, die noch am alten Paradigma festhalten und solchen, die schon mit den neu aufgekommenen Lehrmeinungen die Welt erklären, ausgefochten werden. Ein Paradigmenwechsel erfolgt dann, wenn eine ›grundlegende Weltansicht‹ von einer 1 | K UHN, THOMAS S. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Mit einem Postskriptum von 1969. 5. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. S. 186.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
anderen ersetzt wird, wie dies beispielsweise mit dem ›heliozentrischen Weltbild‹ von Kopernikus geschah, welches das bis dahin geltende ptolemäische Paradigma des ›geozentrischen‹ Denkens ersetzte. Es geht in diesem Kapitel darum aufzuzeigen, wie und anhand welcher Denkmuster sich das neoliberale Paradigma durchsetzen konnte – eine Weltdeutung, die, wie bereits erwähnt, das fordistische Produktions- und das Politikparadigma herausforderte und mit einer neu kodierten Version von liberaler Wirtschaftspolitik nicht nur eine neue hegemoniale Regierungsrationalität durchsetzte, sondern auch neue Subjektivierungsweisen implementierte. Das bis dahin geltende fordistische Modell beruhte auf der standardisierten Massenproduktion und -konsumtion, die mittels neuer Produktionsabläufe (Fliessband) und Verbesserung der Konsumkraft durch Lohnsteigerungen, Wirtschaftswachstum und hohe Beschäftigungszahlen den gesellschaftlichen Konsens garantieren sollte. Mit der keynesianischen Wirtschafstheorie wurde dieses Modell zudem in ein politisches Gesamtkonzept zur Regierung der Gesellschaft eingefügt. Der Staat interveniert in den Wirtschaftskreislauf, indem er durch Staatsausgaben und fiskalische Massnahmen konjunkturelle Schocks und Krisen aufzufangen sucht, mit dem Ziel, die Arbeitslosigkeit gering zu halten. Dabei handelt es sich um ein politisch-ökonomisches Paradigma, das in der Verschmelzung von fordistischer Produktionsweise, keynesianischer Volkswirtschaft und wohlfahrtsstaatlichem Ausbau des Nationalstaates nicht nur die Zustimmung der arbeitenden Massen gewinnen konnte, die überdies politischen Einfluss durch ihre gewerkschaftlichen und politischen Organisationen geltend machen konnten, sondern das vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Mitte der 1970er Jahre in allen westlichen Staaten hegemonial wurde. Dieses keynesianische Paradigma erlebte in den späten 1960er Jahren erste Erschütterungen mit den Jugend- und Arbeiterprotesten der ›68er‹, die sich gegen die staatlichen Bevormundungspolitiken, standardisierte Produktionsformen, die damit einhergehenden Einschränkungen der Lebensentfaltung, der Kreativität und der freien Gestaltung des Selbst und der Gesellschaft auflehnten. In gesellschaftspolitischer Hinsicht wurde dieses System von linken und sozialistischen Kreisen der damaligen neuen sozialen Bewegungen und ausserparlamentarischen Organisationen herausgefordert, in wirtschaftspolitischer Hinsicht hingegen von einer Dogmatik, die sich in liberalen Tönen und konservativen Politiken durchsetzte. Die keynesianische Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg ruft in wirtschaftspolitischer Hinsicht konterrevolutionäre Kräfte auf den Plan, die mit dem »Mut zur Utopie«, wie von ihrem führenden Wissenschaftler Friedrich August Hayek gefordert, den Einfluss des Staates in das Marktgeschehen rückgängig machen wollen. In den frühen 1970er Jahren nimmt das neoliberale Projekt in Grossbritannien und den USA wirtschaftliche und politische Form an, breitete sich zunehmend auf dem ganzen Globus aus und formte auch neue Lebensformen und -verständnisse, die unweigerlich die bestehenden politisch-kulturellen Deutungen
1. Neoliberaler Paradigmenwechsel
des Politischen und Sozialen neu ausrichten. Mit dem Aufkommen der neoliberalen Wirtschaftspolitik wurde ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Projekt eingeläutet, das unweigerlich auf die politische Kultur einwirkte und noch einwirkt. Um das Aufkommen und die gesamte Komplexität dieser Wirtschaftspolitik begreifen zu können, ist es aber notwendig, mehrere Spuren zu verfolgen, die einerseits die linke Kritik am keynesianischen Modell und andererseits die wirtschaftspolitischen Veränderungen, die sie stützenden ideologischen Diskurse und ihre Promotoren – die das postfordistische und neoliberale Paradigma erst einläuteten – aufzeigen. Die neoliberale Wende konnte tatsächlich auf Widerständen auf bauen, die einerseits aus linken Kreisen und andererseits von Wirtschaftswissenschaftlern, die ein neues liberales Wirtschaftsdenken vertraten, formuliert wurden. Die fordistische Produktionsweise und der keynesianisch inspirierte Wohlfahrtsstaat der 1950er und 1960er Jahre beruhte auf einer kapitalistischen Ordnung, die dem Menschen Disziplin, Anstrengung und Verzicht mit dem Versprechen abverlangte, ihm dafür soziale Sicherheit, einen sicheren Arbeitsplatz und Massenkonsum zu garantieren. Damit konnte der gesellschaftliche Konsens, der für die Stabilität der keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Hegemonie notwendig war, gesichert werden. Mit dem zunehmenden Konsum und dem damit gekoppelten Wohlstand wachsen zu dieser Zeit auch wirtschaftliche Organisationen und staatliche Apparate, die auch jenen gesellschaftlichen Klassen den sozialen Aufstieg ermöglichen, die bis anhin davon ausgeschlossen waren. Mitgliedsstarke Gewerkschaften und linke Parteien stehen sich dem bürgerlichen Staat und den Grossindustrien gegenüber und protestieren gegen die Ausbeutung in der kapitalistischen Ökonomie, womit sie dem ›herrschenden Block‹ bessere Arbeitsbedingungen, die Stärkung des Sozialstaates und höhere Löhne abringen. Aber auch Arbeiteraktionen, die sich von den üblichen Streiks unterschieden, brachten das fordistische Produktionsparadigma in Legitimationsschwierigkeiten. Diese Aktionen, die ab dem Ende der 1960er Jahre bis in die Mitte der siebziger Jahre in den hochindustrialisierten Ländern und in Italien mit der neomarxistischen sozialen Bewegung des ›Operaismus‹ sogar bis in die achtziger Jahre andauerten, äusserten sich als Kämpfe gegen die festgefahrenen Arbeitszeiten und Arbeitsplatzeinstufungen, als Gehorsamsverweigerung in den Fabriken, aber auch in der eigenständigen Verlangsamung der Taktzeiten am Fliessband, durch längere Werkbesetzungen einschliesslich der Festsetzung von Firmenchefs oder Managern und nicht zuletzt als Weigerung, Vollmachten an die legal gewählten Repräsentanten der Belegschaft zu delegieren oder schlicht als Arbeitsverweigerung.2 Auch ausserhalb der grossen Fabriken, Büros oder Geschäfte entwickeln sich vielfältige Weisen, sich der gewohnten, beinahe institutionellen Pflege des Klassenkompromisses – der Grundlage des ›fordistischen Kompromisses‹ – zu wi2 | G ORZ , A NDRÉ . Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 19.
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dersetzen. Diese Kritik wird weniger von etablierten politischen Organisationen getragen als vielmehr von sozialen Bewegungen, die gegen die fordistische Ordnung Sturm laufen. Die normativen Fluchtpunkte dieser Proteste sind persönliche Autonomie und Authentizität. Die Konsumgesellschaft und die daraus resultierende »Eindimensionalität des Menschen«, wie sie Herbert Marcuse3 nennen wird, werden zum bevorzugten Gegenstand dieser Kritik. Marcuse betonte gerade den Entfremdungseffekt des Konsums. Mit der kapitalistisch geprägten Notion der Freiheit wird seiner Ansicht nach ausschliesslich die Freiheit des Konsumierens verstanden, was Konsequenzen für das Bewusstsein des Einzelnen hat, da er nur zwischen denjenigen Gütern wählen kann, die ihm auf dem Markt präsentiert werden, und diese Wahl auch nur dann realisieren kann, wenn er genügend Kaufkraft besitzt. Der Widerstand gegen die Konsumgesellschaft speiste sich aus einem Unbehagen an der disziplinären Produktionsweise des Fordismus, die den Menschen, wie dies Gramsci schon in Zusammenhang mit dem Aufkommen des Fordismus zynisch betonte, zu einem »dressierten Gorilla« 4 heranzüchte, der seine Unfreiheit in der Fabrik mit der illusionären Freiheit des Konsums wiederherzustellen glauben könne. Der Massenkonsum, der dem fordistischen Kapitalismus zu Konsens und Dauer verhalf, bildet in den Augen Marcuses nichts anderes als eine Form der Kontrolle, die aber gerade nicht als Kontrolle empfunden wird. In einer kapitalistischen Konsumgesellschaft identifizieren sich die Menschen mit ihren Gütern, so dass soziale Kontrolle in und durch die neuen Bedürfnisse, die die kapitalistische Wirtschaft generiert, verankert ist. Kurz: durch die Kultivierung von Bedürfnissen und der Bereitstellung der Mittel zu ihrer Befriedigung, wird Konsum zu einem konstitutiven und bedeutenden Mittel der sozialen Kontrolle. Marcuse betont, dass über den Prozess der Produktion und Konsumtion – die für ihn wie schon für Marx gleichläufig sind – bestimmte Haltungen, Lebensweisen und Gewohnheiten vermittelt werden, die mit bestimmten intellektuellen und emotionalen Erwartungen verbunden sind, so dass Zweitere Erstere stützen und stärken. Aufgrund dieses Kreislaufes der Normalisierung des eigenen Konsumverhaltens wird es zunehmend schwierig, sich alternative Formen des sozialen und ökonomischen Lebens vorzustellen. Der akquirierte Wohlstand ›verblendet‹ die Menschen und lässt sie die Prozesse, die zu seiner Herstellung notwendig sind, und die alternativen Produktionsformen, die möglich wären, nicht erblicken. Als Konsequenz, so Marcuse, werden Denken und Verhalten eindimensional. Die Perspektive einer alternativen Form des sozialen und wirtschaftlichen Lebens schwindet und das politische Universum tendiert dazu, sich zu schliessen. Marcuse folgert daraus, dass es keinen Grund mehr gibt, auf Selbstbestimmung zu 3 | M ARCUSE, H ERBERT. Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1967). München: dtv 2004. 4 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 3, Heft 4, S. 529.
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insistieren, wenn das administrierte Leben das gemütliche und sogar gute Leben zu sein scheint. Nun lassen sich bestimmt Kritikpunkte an Marcuses Analyse der Konsumgesellschaft anbringen, wie etwa für seine Tendenz der Totalisierung und für seinen Begriff der Verblendung. Wichtig für die hier unternommene Analyse ist jedoch nicht Marcuses Analyse als solche, sondern seine Relevanz für die Kritik der sozialen Bewegungen an dem fordistischen Kapitalismus. Marcuse bildete mit seinen Theorien eine wichtige Inspiration für diese Bewegungen, die im fordistischen Kapitalismus die Negation der Selbstbestimmung, der Freiheit, der Kreativität und der Authentizität sichteten. Diese ›Eindimensionalität‹ des Kapitalismus sollte durchbrochen und neue Freiheits- und Entwicklungsräume für die menschliche Aktivität und Interaktion sollten geöffnet werden. Statt Ansprüche und Forderungen an den politischen und wirtschaftlichen Apparat zu stellen, versuchten diese Bewegungen, ›das Leben‹ selbst samt seiner Bedingtheiten und Inhalte zu verändern. Die eigene Lebensentfaltung sollte nicht mehr der Logik der Produktivität, der Standardisierung, des Massenkonsums, der Normalisierung, Quantifizierung und Synchronisierung unterworfen werden. Stattdessen sollten solche Bedürfnisse und Wünsche ins Bewusstsein gehoben sowie befriedigt und erfüllt werden, die sich nicht durch Waren oder Geld befriedigen lassen. Die politischen, gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Protestformen gegen den Fordismus zeigten, dass die Annahmen der Begründer des Wohlfahrtsstaates, mittels Sozialleistungen die Bevölkerungen mit der kapitalistischen Gesellschaft zu versöhnen, brüchig wurden. Die gesellschaftlichen Antagonismen liessen sich auch nicht durch die ständigen Verhandlungs- und Schlichtungsverfahren entschärfen. Was hingegen ins Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit geriet, war der Staat. Durch seine Reglementierungen, Schutzvorkehrungen und Schlichtungsfunktionen, die alle auf die Etablierung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung ausgerichtet waren, stand er an vorderster Front der Kritik. Er wurde für alles oder fast alles verantwortlich gemacht, von allen Seiten angegriffen oder beansprucht und war so gerade wegen der Wichtigkeit seiner Funktionen verwundbar geworden.5 Diese Kritiken wurden vom neuen postfordistischen Kapitalismus zu endogenisieren versucht. Dieser inkorporiert die Forderungen nach Freiheit und Kreativität, indem er die starren Strukturen der Fabrikwelt mit neuen Arbeits- und Arbeitszeitmodellen zerschlägt, die kollektiven Tarifabschlüsse, Betriebsvereinbarungen und Sozialgesetzgebung als vermeintlich eingebürgerte und für die selbstbestimmte Entwicklung hemmende ›Verkrustungen‹ deklariert und aufbricht und so neue produktive und kreative Felder ermöglicht. Zu untersuchen ist jedoch, wie sich diese wirtschaftspolitische Wende durchsetzen konnte. Letztlich durch Herrschaft, aber nicht nur. Gerade die gesellschaft5 | G ORZ , A NDRÉ . Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 20.
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lichen, politischen und vor allem wirtschaftlichen Krisen des Keynesianismus gaben den Anstoss für diese Wende. Seit dem Beginn der siebziger Jahre stiess die Expansion der Wirtschaft an Grenzen, die eine antizyklische Wirtschaftspolitik zur Förderung und Ankurbelung des Wachstums nicht mehr überwinden konnte. Neben der Sättigung der Binnenmärkte, die keine Erweiterungsinvestitionen mehr rechtfertigten, ging auch die ›Grenzproduktivität des Kapitals‹, also die Gewinnsteigerung durch eine zusätzliche Investition, gegen Null. Dieser Rückgang bedeutete das Ende einer Epoche, in der die Produktion, die Nachfrage, die Produktivität und die Profite in einem ausgewogenen Verhältnis wachsen konnten. Spätestens seit den Erdölkrisen Mitte der siebziger Jahre zeichnete sich der Zusammenbruch der keynesianischen Formel ab, wonach eine hohe Inflationsrate mit einer niedrigen Arbeitslosigkeit einherging. John Maynard Keynes ging in seinen ökonomischen Überlegungen, die er vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise von 1929 und des bis dahin vorherrschenden ›Laissez-faire‹-Prinzips des Marktliberalismus entwickelte, davon aus, dass die Staaten vor allem Finanzpolitik betreiben müssten, also interventionistisch – etwa durch öffentliche Aufträge zur Förderung der Beschäftigung und somit durch Erhöhung der Staatsausgaben, die unweigerlich die Inflation tangieren würden – gegenüber dem Markt auftreten müssten. Die gestiegenen Preise würden einerseits durch eine grössere Menge an kaufkräftiger Klientel, die jetzt Beschäftigung und somit Einkommen hatte, sowie durch eine schritthaltende Erhöhung der Löhne absorbiert. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Vertreter der neoliberalen Schule, Milton Friedman, sah im Zusammenbruch des keynesianischen Denkmodells die Bestätigung seiner bereits 1967 in einer Rede vor der American Economic Association vertretenen These, dass die Wechselbeziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, obwohl sie in den Daten erkennbar war, keine langfristige, sondern höchstens eine kurzfristige Wechselwirkung darstellte. Friedman argumentierte, dass die Menschen nach einer anhaltenden Periode der Inflation die Erwartung künftiger Inflation in ihre Entscheidungen einbeziehen und so jegliche positive Auswirkung der Inflation auf die Beschäftigung zunichte machen würden. Ein Grund, warum die Inflation zu höherer Beschäftigung führen kann, besteht – so Friedman – zum Beispiel darin, dass die Einstellung von mehr Arbeitern profitabel wird, wenn die Preise schneller steigen als die Löhne. Haben die Arbeiter aber erst einmal erkannt, dass die Kaufkraft ihrer Löhne durch die Inflation geschwächt wird, werden sie im Voraus höhere Tarifabkommen verlangen, so dass die Löhne mit den Preisen Schritt halten. Folglich wird die Inflation nach einer Weile nicht mehr für Beschäftigungswachstum sorgen. Vielmehr wird die Arbeitslosigkeit zunehmen, wenn die Inflation hinter den Erwartungen zurückbleibt. In den siebziger Jahren brach dann die historische Wechselbeziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit so zusammen, wie Friedman dies 1967 prognostiziert hatte. In den 1980er Jahren, als die zeitweilig zweistellige Inflationsrate nach einer schmerzhaften Periode extrem hoher Arbeitslosigkeit in den USA – der bis dahin
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schlimmsten seit der Weltwirtschaftskrise – unter Kontrolle gebracht wurde, verfestigten sich Friedmans wirtschaftswissenschaftliche und -politische Gedanken zunehmend im Laufe der aufeinander folgenden US-Regierungen. Friedmans Rezept lautete, dass der Staat, vorzugsweise aber eine vom Staat unabhängige Zentralbank, sich ausschliesslich auf Geldpolitik beschränken – also nur dafür zu sorgen habe, dass die Geldmenge jährlich um maximal 3% steige – und dem Markt freien Lauf geben solle sowie staatliche Apparate und Institutionen, die kostenintensiv und in Friedmans Logik entsprechend ineffizient waren, privatisiert werden müssten. Dass Friedmans Konzept der Geldpolitik, die nach ihrer – unter dem Begriff ›Monetarismus‹ erfolgten – Einführung in der amerikanischen wie auch der britischen Zentralbank nach kurzer Zeit wieder fallengelassen wurde, da eine konstante, aber nur minimale Erhöhung der Geldmenge massive Rezessionen nicht zu verhindern vermochte, änderte nichts daran, dass seine Doktrin der freien Märkte und der möglichst flächendeckenden Deregulierung und Privatisierung des bestehenden Sozialstaates nicht nur beharrlich verfolgt wurde, sondern auch unter dem Laienpublikum – vor allem auch dank Friedmans Popularität und Fähigkeit, komplexe ökonomische Sachverhalte in einer witzigen und unterhaltsamen Sprache in den Medien zu vermitteln – meinungsbildend wirkte.6 Friedmans Theorie7 beruht auf der Gegenüberstellung von Regierung und Markt, wobei die Erste auf Kosten des Zweiten ausgespielt wird. Friedman sieht in der Marktsouveränität, die nur mittels eines Verbotes von Regierungsinterventionen aufrechterhalten werden kann, den einzigartigen Vorteil, dass sie Autonomie und Sicherheit für alle Akteure ermöglicht und zugleich politischen Machtmissbrauch verhindert. Nur durch die Sicherung eines freien Marktes werden auch die staatlichen Eingriffe in die persönliche Sphäre vermieden. So sieht Friedman in der Anwesenheit anderer Verkäufer auf einem von staatlichen Interventionen befreiten Markt, dass ein solcher Markt die Konsumenten von Zwängen und Druckversuchen seitens der Verkäufer schützt; angesichts des multiplen Angebotes können sie nämlich ›frei‹ wählen. Die Annahme ist letztlich die, dass man dann wortwörtlich und ungehindert auf ›shopping tour‹ gehen kann. Des Weiteren betont Friedman, dass auch die Verkäufer durch einen solchen freien Markt geschützt werden, weil sie aufgrund der Existenz nahezu unbegrenzt vieler Kaufwilliger nicht auf Zwänge und Bedingungen einzelner zu handeln versuchender Käufer einzugehen haben. Sogar die Arbeiter finden in diesem friedmanschen Marktidyll paradiesische Zustände vor. Der Markt schützt sie vor den Zwängen des Staates, aber auch der Unternehmer, da sie unter mehreren Arbeitgebern auswählen können. Das Problem ist aber, dass sich mit der neoliberalen Entfesselung der Kapitalflüsse die Arbeitswelt so verändert hat, dass zugunsten besserer Allo6 | Ganzer Absatz nach K RUGMAN, PAUL . Auf eine Reformation folgt eine Gegenreformation. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 61, Nr. 6. (2007). S. 509-521. 7 | Ich beziehe mich hier insbesondere auf: F RIEDMAN, M ILTON . Capitalism and Freedom (1962). Chicago: University of Chicago Press 1982.
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kationsbedingungen für das Kapital die rechtlichen Schutzvorkehrungen für die Arbeitnehmenden eingeschränkt wurden. Es gibt zwar mehr Unternehmer, die Arbeit anbieten, aber da diese zueinander in Konkurrenz stehen und die legislativen Rechtsrahmen zuungunsten der Arbeiter gelockert wurden, bieten sie Löhne an, die sehr niedrig sind, oder exportieren ihre Produktionsstandorte dorthin, wo die Arbeitskosten noch geringer sind. Zu Recht betont der Soziologe Barry Smart, dass »in such circumstances, rather than being protected from employer coercion by the market, those in work and those seeking work have increasingly found themselves subject to the coercion of the market.«8 Bezüglich des Politischen betont Friedman hingegen, dass der freie Markt nicht nur die politischen Interventionen verhindert, als er die bessere und einzig effektive Form der Allokation ist, weil der Markt und nur der Markt »simply gives people what they want«9, sondern auch zu einer Streuung von politischer (wegen des Interventionsverbots) und ökonomischer (wegen der Konkurrenzund Wettbewerbssituation, in der die verschiedenen Akteure gefangen sind) Macht führt. Deregulierung des Arbeitsrechts und Privatisierung der öffentlichen Hand, kurz, die Verschlankung des Staates und die Durchsetzung des Prinzips des freien Marktes sollten fortan die einzigen Kriterien sein, an denen sich staatliche Politik messen lassen solle. Damit zielte diese wirtschaftspolitische Konterrevolution darauf ab, jegliche Einmischung des Staates in das Marktgeschehen rückgängig zu machen, öffentliche Güter, Dienstleistungen und Unternehmen zu privatisieren und durch eine Vielzahl von ›think tanks‹ und deren mehr oder minder verdeckte Lobbyarbeit (von Finanz-, Versicherungs- und Medienunternehmen) dafür zu sorgen, dass der Staat selbst zunehmend wie ein Marktakteur agiert, also auf Effizienzsteigerung achtet und weniger auf einen sozialen Ausgleich.10 Aber auch auf internationaler und überstaatlicher Ebene wurde die neoliberale Wende kräftig befördert. Die deutsch-amerikanische Soziologin Saskia Sassen 11 hat die strukturellen Ursachen und Grundzüge für den internationalen Siegeszug der neoliberalen Wirtschaftspolitik und -doktrin anschaulich analysiert. Die zerstörerische Wirkung des Neoliberalismus für das keynesianische 8 | S MART, B ARRY. Economy, Culture and Society. A Sociological Critique of NeoLiberalism. Buckingham. Philadelphia: Open University Press 2003. S. 115. 9 | F RIEDMAN, M ILTON . Capitalism and Freedom (1962). Chicago: University of Chicago Press 1982. S. 15. 10 | Vgl. M AHNKOPF, B IRGIT. Die ›Satansmühle‹ der kapitalistischen Ökonomie oder: Der kapitalistische Realismus in der Krise. In: N ECKEL , S IGHARD (Hg.). Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M.: Campus 2010. S. 93-116. Hier S. 97. 11 | Die folgenden Ausführungen beruhen auf: SASKIA SASSEN. The Mobility of Labour and Capital. A Study in International Investment and Labour Flow. Cambridge 1998.
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System lässt sich von einem bestimmten Zeitpunkt an verfolgen. Es ist der Zusammenbruch des Ende der 1970er Jahre in Bretton Woods geschaffenen Weltwährungssystems, welches weltweit eine gewaltige Menge an Kapital für Investitionen freigesetzt hat und dadurch der neoliberalen Zerstörungswut gegenüber dem Keynesianismus sowie den neoliberalen Theorien eine materielle Grundlage bieten konnte. Der Reichtum, der bis anhin noch auf lokale oder nationale Unternehmen beschränkt war und in den Nationalbanken gehortet wurde, konnte sich nun sehr viel leichter durch die ganze Welt bewegen, zumal, vor allem in den ölreichen Staaten des Mittleren Ostens, in amerikanischen, japanischen und deutschen Banken sowie bei der chinesischstämmigen Bevölkerung des Pazifikraums ein gewaltiges Bedürfnis nach Investitionen von Geldern bestand. In den 1980er und 1990er Jahren folgten gigantische Pensionsfonds und kleine private Investoren diesem Strom und suchten rund um den Erdball nach neuen Möglichkeiten der Geldanlage. Aber auch das Bankgeschäft veränderte sich. Um mit dieser neuen Situation umgehen zu können, verwandelten die Banken sich zunehmend in Investitionsinstitute, die international tätig waren. Was also verloren ging, war das nationale Interesse. Das Kapital, welches unter dem Regime von Bretton Woods noch vorwiegend innerhalb der eigenen Grenzen alloziert werden musste, gewann nun insofern an Geschwindigkeit, als es sich dort platzierte, wo die Märkte ihm möglichst viel Rendite versprachen und die politischen Strukturen es möglichst in Ruhe liessen. Hierfür waren also nicht nur freie Märkte nötig, sondern auch ein politisches Umfeld, das die Märkte zwar kultivierte, aber nicht intervenierte. Um also den Wünschen dieses neu gekleideten Kapitals zu entsprechen, ihm also einen ihn willkommen heißenden und zufriedenstellenden Standort anzubieten, mussten entweder die politische Laufstege so konstruiert sein, dass keine störenden Akteure wie etwa Gewerkschaften darauf laufen würden, oder – was auf dasselbe hinausläuft – die Politik musste zur Dienerin der neoliberalen Ausweitung des Finanzkapitalismus degenerieren. Ist der erste Fall noch eher in undemokratischen Regimen anzutreffen, wo jegliche politische Opposition im wahrsten Sinne des Wortes vom Weg des ankommenden Kapitals geräumt wird,12 lässt sich die zweite Variante in ›demokratischen‹ Staaten beobachten, in welchen 12 | So beispielsweise in Chile nach 1973 während der Pinochet-Diktatur und in den anderen lateinamerikanischen Ländern, die in den 1970er Jahren der von Milton Friedman propagierten Schock-Strategie folgten, die darin bestand, Notstandsmassnahmen zu schaffen, um die Regeln der Demokratie ausser Kraft zu setzen und die wirtschaftliche Kontrolle einer technokratischen Elite von Ökonomen aus den Chicagoer Hörsälen Milton Friedmans zu überlassen. Das Ziel dieser Strategie lag darin, die bis anhin wachstumsorientierten und nach keynesianischen Prinzipien aufgebauten Märkte ausländischen Investoren zu ›öffnen‹ und gleichzeitig die heftigen Widerstandsversuche der Gewerkschaften mit brutaler Gewalt zu unterdrücken. Siehe: K LEIN, N AOMI. Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des KatastrophenKapitalismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2007. Vor allem Kapitel 8, »Krisen leisten ganze
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sich eine neoliberal konfigurierte politische Plattform – ein so genannter ›Grundkonsens‹ – zwischen den rechten und linken Volksparteien herausgebildet hat und in welchen, wie etwa mit New Labour in Grossbritannien oder mit Schröders Agenda 2010 in der Bundesrepublik Deutschland, die Bedenken der Gewerkschaften einfach ignoriert wurden.13 Die nationale Politik musste sich also den internationalen Geschwindigkeitskoeffizienten des Kapitals anpassen. Diese politische Ausrichtung, die unter dem Begriff des ›Standortwettkampfes oder -debatte‹ Eingang in die öffentliche Wahrnehmung gefunden hat, führte also nicht nur zu einer Erosion des Klassenkompromisses oder Sozialpaktes und des damit gekoppelten politisch-partizipativen Eingriffs in die ökonomische Sphäre, sondern hat auch die stabilen Räume der Arbeitswelt von ihrer auf Langfristigkeit und Sicherheit ausgerichteten Zeitdimension gelöst. Diese stehen nunmehr in direkter Abhängigkeit von der Attraktivität und Anziehungskraft der jeweiligen Standorte. Sie müssen also frei sein von jeglicher politisch-korrigierender Intervention und nur noch den Prinzipien der neoliberalen Markttheorie, die entsprechend ihrer politischen Durchsetzung auch als Indikator für die Attraktivität des Kapital- und Finanzplatzes dient, gehorchen. Was also während dieser politischen Fixierung auf den Standort und seiner neoliberalen kosmetischen Verschönerung für das frei flottierende und ›ungeduldige Kapital‹ verloren ging, ist der Aspekt einer solchen politischen Partizipation, die auf Korrekturen und Regulationen der Marktmechanismen zielt. Mit dem Zerfall des sozialistischen Blocks zu Beginn der 1990er Jahre gewann diese Internationalisierung der neoliberalen Doktrin zusätzlich an Fahrt. Das Verschwinden des realsozialistischen Blocks hatte in der Tat mehrere Auswirkungen. Einerseits lagen in diesen hochverschuldeten Ländern natürliche und industrielle Ressourcen brach, die von den neuen Regierungen unter dem Begriff der ›Privatisierung‹ regelrecht verscherbelt wurden. Andererseits verschwand mit diesem politischen Antagonisten im Osten auch im Westen die Bereitschaft, den Wohlfahrtsstaat aufrechtzuerhalten. Dieser hatte neben der Stabilisierung der hegemonialen Konstellation unter keynesianischen Produktionsbedingungen letztlich auch die Funktion, die eigene Arbeiterschaft zu befrieden und ihr damit den revolutionären Wind, der im Osten allenfalls einen mächtigen politischen Alliierten finden konnte, aus den Segeln zu nehmen. An der politischen Oberfläche wurden nun Argumente laut, die eine Verschlankung des Sozialstaates verlangten, um so Kapitalien freizusetzen, die in einer freien und ungestörten Marktumgebung neue und ungeahnte Kapitalakkumulationen generieren konnten. Dies waren ›Argumente‹, die eine wirtschaftliche und letztlich auch politische StrukturverändeArbeit: Das Paket der Schocktherapie« S. 218-236, sowie der komplette Teil IV, »Verloren im Niemandsland: Als wir weinten, als wir zitterten, als wir tanzten«, S. 237-389. 13 | Zum Begriff der »politischen Plattform« und der sie fundierenden neoliberalen Konsenspolitik siehe: S ENNET T, R ICHARD. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 2. Aufl. Berlin: BvT 2007. S. 116-119 und 129f.
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rung verlangten. Alan Friedman14, Korrespondent der International Herald Tribune in Sachen Weltwirtschaft, brachte die Inhalte dieser Strukturveränderungen, die seit den 1970er Jahren von seinem Namensvetter Milton Friedman postuliert wurden, im Zusammenhang mit der Frage, wie ökonomisches Wachstum erzeugt werden könne, auf den Punkt. Die strukturellen Veränderungen seien das »fehlende Element, das Politiker noch beizusteuern haben«, sie seien »das Codewort, um Einstellungen und Entlassungen zu erleichtern, um die öffentlichen Ausgaben für Renten und andere Zuwendungen des Wohlfahrtsstaates zu kürzen und hohe Lohnkosten und Sozialabgaben in Zentraleuropa zu senken.« Friedman benennt hier also politische Interventionen, die wesentlich das Rechtssystem und insbesondere das Arbeitsrecht tangieren sollten, um dem Kapitalfluss einen möglichst hindernisfreien Operationsrahmen zur Verfügung zu stellen, ein Postulat, das nicht in die leere Wüste geschrien wurde, sondern vielmehr aus einem soliden Resonanzkörper in der ganze Welt verlautbart wurde– und wehe dem, der nicht zuhörte. Zu diesem amplifizierenden Resonanzkörper gehörten neben denjenigen Ländern, die bereits seit den 1970er Jahren das neoliberale Experiment eingeführt und missioniert hatten, insbesondere auch internationale Wirtschaftsorganisationen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF). Beide Institutionen wurden zur Zeit ihrer Entstehung aus einem Denken postuliert, welches in der Tradition von Kants »Ewigem Frieden« stand. Die aggressive politische Sphäre sollte diesem Denken nach von einer befriedenden ökonomischen Sphäre gebremst und pazifiziert werden. Die Stärkung des globalen Handelns und die Verbreitung der Bedingungen zur Möglichkeit von Wirtschaftswachstum und Wohlstand sollten die politischen Exzesse, wie sie vor und während des Zweiten Weltkrieges zum Vorschein gekommen waren, eindämmen. Wie die Vereinten Nationen wurden also auch die Weltbank und der IWF als Antwort auf die Schrecken der Kriegsjahre geschaffen. Mit dem erklärten und erhofften Ziel, niemals wieder die Fehler zu begehen, die im Herzen Europas zum Faschismus geführt hatten, kamen die Weltmächte 1944 in Bretton Woods zusammen, um eine neue Wirtschaftsordnung zu entwickeln. Die hierfür zuständigen und frisch aus der Taufe gehobenen internationalen Wirtschaftsinstitutionen, die sich durch Beiträge ihrer 43 Gründungsländer finanzierten, bekamen den expliziten Auftrag, in Zukunft wirtschaftliche Zusammenbrüche wie jene, die die Weimarer Republik in den wirtschaftlichen und politischen Ruin getrieben hatten, zu vermeiden. Hierfür sollte die Weltbank langfristig in die wirtschaftliche Entwicklung investieren, um Länder aus der Armut zu holen, während der IWF eine Wirtschaftspolitik fördern sollte, um die Finanzspekulationen und Marktinstabilitäten zu reduzieren. Diese zweispurige Strategie sollte, sobald ein Land erste Anzeichen einer Wirtschaftskrise zeigte, mittels stabilisierender 14 | F RIEDMAN, A LAN. ›Without structural changes, experts cautious on economic growth‹. In: International Herald Tribune vom 2./3. Mai 1998.
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Zuschüsse und Kredite eingreifen, um die sich anbahnende Krise im Keim zu ersticken.15 John Maynard Keynes, welcher die britische Delegation leitete und massgeblich an der Etablierung dieser Institutionen beteiligt war, ging von der Überzeugung aus, dass die Welt endlich erkannt hätte, wie gefährlich es politisch sei, wenn es dem Markt überlasse würde, sich selbst zu regulieren. Keynes plädierte also für eine überstaatliche Organisation, die mittels demokratischer Legitimierung die globalen Kapitalflüsse so koordinieren könne, dass sie dadurch nicht nur wirtschaftliche Krisen verhinderte, sondern zugleich auch wirtschaftliche Prosperität und damit den weltweiten Frieden vorantrieb. Wenn die Institutionen ihren Grundsätzen treu blieben, so Keynes Schlussnote an die Konferenz von Bretton Woods, dann »wird es mehr als eine Phrase sein, dass alle Menschen Brüder werden.« 16 Dieser universellen Vision wurden der IWF und die Weltbank jedoch nicht gerecht, und tatsächlich würde sich Keynes, wie das Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, in seinem Buch »Die Schatten der Globalisierung« treffend ausdrückt, »im Grabe umdrehen, könnte er sehen, was auch seinem Kind geworden ist.« 17 Im Gegensatz zur Vollversammlung der Vereinten Nationen wurde nämlich innerhalb der Weltbank und des IWF von Anfang an die Macht nicht auf der Basis ›ein Land, eine Stimme‹ verteilt, sondern nach dem wirtschaftlichen Rang der Länder – wodurch Wirtschaftsmächte wie die USA, Europa und Japan alle wichtigen Entscheidungen zu ihren Gunsten aushandeln konnten. Diese machtpolitische Unterwanderung der beiden Institutionen nahm während der Regierungszeit von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Grossbritannien auch eine zunehmend neoliberale Prägung an, die 1989 offiziell unter dem Begriff ›Washington Consensus‹ vorgestellt wurde. Dieser war eine Liste von wirtschaftlichen Strategien, die gemäss John Williamson, der den Begriff auch geprägt hatte, beide Institutionen für das absolute Minimum wirtschaftlicher Gesundheit erachteten. Zu den Grundsätzen dieser Strategien zählte Williamson die Privatisierung von Staatsunternehmen und die Abschaffung derjenigen Barrieren, die den Marktzugang für ausländische Firmen behinderten.18 Die komplettierte Liste lief letztlich also auf eine ›Strukturanpassung‹ durch die 15 | I NTERNATIONAL M ONETARY F UND. ›Article I – Purposes‹. Articles of Agreement of the International Monetary Fund. Einzusehen unter www.imf.org. 16 | ›Speech by Lord Keynes in Moving to Accept the Final Act at the Closing Plenary Session, Bretton Woods, 22 July, 1944‹. In: D ONALD M OGGRIDGE (Hg.). Collected Writings of John Maynard Keynes. Bd. 26. London: Macmillan 1980. S. 103. 17 | S TIGLITZ, J OSEPH. Die Schatten der Globalisierung. Berlin: Siedler 2002. S. 27. 18 | W ILLIAMSON, J OHN . In Search of a Manual for Technopoles In: D ERS. (Hg.). The Political Economy of Policy Reform. Washington, DC: Institute for International Economics 1994. S. 26f.
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neoliberalen Dogmen wie Privatisierung, Deregulierung/Freihandel und drastische Einschnitte bei den Staatsausgaben hinaus. Das erste Vollprogramm zur ›Strukturanpassung‹ hatte der IWF bereits 1983 aufgelegt und in den folgenden Jahren wurde jedes Land, das sich wegen eines grösseren Kredits an den Fonds wandte, davon in Kenntnis gesetzt, dass es seine Wirtschaft von der Spitze bis zur Basis auf Vordermann bringen müsse. In einem Brief an den damaligen Generaldirektor des IWF Michel Camdessus, konstatierte Davison Budhoo, ein leitender IWF-Ökonom, der in den gesamten achtziger Jahren Strukturanpassungsprogramme für Lateinamerika und Afrika entwarf und der Ende der 1980er Jahre auf diese Zeit zurückblickte, dass »alles, was wir von 1983 an taten, auf unserer neuen Mission [basierte], dass der Süden ›privatisiert‹ werden oder sterben müsse; im Hinblick darauf haben wir in den Jahren 1983 bis 1988 schändlicherweise in Lateinamerika und Afrika das totale Chaos angerichtet.« 19 Diese Mission von der Budhoo sprach, war gemäss Michel Camdessus die »methodische Liberalisierung von Kapitalbewegungen«,20 die mittels des ›Washington Consensus‹ forciert werden sollte – eine Liberalisierung, die jedoch nicht als Empfehlung vorgetragen, sondern den KreditnehmerLändern vielmehr aufgezwungen wurde. Die politischen Empfehlungen, die die Vertreter der Weltbank und des IWF seit Bestehen ihrer Institutionen den Schuldner-Ländern unterbreiteten, verwandelten sich seit den frühen achtziger Jahren, begünstigt durch die Verzweiflung der Entwicklungs- und Schwellenländer, in radikale Forderungen hinsichtlich des freien Marktes. Wenn krisengeschüttelte Länder sich wegen Schuldenerlassen und Notkrediten an den IWF wandten, antwortete dieser mit seiner neoliberalen Standardverordnung: Entlassungen, höhere Zinssätze und die Öffnung der lokalen Wirtschaft für internationale Investoren. So wurden etwa die finanziellen Rettungsmassnahmen zur Milderung der tiefen Wirtschaftskrise der ostasiatischen Gesellschaften in den 1990er Jahren von der Einwilligung in diese Verordnung abhängig gemacht. Die Folge dieser Einwilligung war eine Welle von Bankzusammenbrüchen in Korea und der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit in den ehemaligen Tiger-Staaten Ostasiens.21 Als der ›Washington Consensus‹ 1989 formuliert wurde, nahm die Geschichte eine aufregende Wende, die diesem ›Strukturanpassungsprogramm‹ eine Aura der Alternativlosigkeit gab. Der Zerfall der sowjetischen Machtsphäre zeichnete sich immer stärker ab und der Kapitalismus amerikanischer Prägung erschien 19 | B UDHOO, DAVISON L. Enough is Enough. Dear Mr. Camdessus … Open Letter of Resignation to the Managing Director of the International Monetary Fund. New York: New Horizons Press 1990. S. 102. 20 | So Michel Camdessus im Gespräch mit Babette Stern. Siehe: Nous avons changé de siècle. In: L E M ONDE vom 24. April 1998. 21 | Eine detailliertere Version dieser ostasiatischen Episode bietet: K LEIN, N AOMI. Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2007. S. 364-391.
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als dasjenige System, welches aus dem dialektischen Streit mit seinem sozialistischen Antagonisten als Sieger hervortrat und sich somit auch die historische Legitimation anmassen konnte, das Buch der Geschichte zuzuschlagen. In den höchsten internationalen Machtzentren der Wirtschaftspolitik stiessen also, angesichts dieser Entwicklung, alle Diskussionen und Debatten über irgendwelche wirtschaftlichen Ideen, die nicht in die Schublade des freien Marktes und der neoliberalen Dogmatik passten, auf taube Ohren. Die neue unverrückbare und alternativlose Weltordnung war eine des freien Marktes, in welchem die Kapitalflüsse ungehindert strömen sollten, so dass, gemäss Camdessus, dank einer »Zusammenlegung sämtlicher weltweiter Sparguthaben, die eine bessere Allokation der Ressourcen ermöglichte«, sich auch neue Entwicklungschancen eröffneten. Camdessus, der die damaligen Überzeugungen auf den Punkt brachte, räumte zwar ein, dass mit diesen Entwicklungschancen auch das Risiko »der Marginalisierung der ärmsten Länder« einhergehe.22 Die möglichen Auswirkungen auf den Lebensunterhalt der ärmsten Mitglieder der wohlhabenderen Länder wurden von Camdessus nicht einmal erwähnt. Worauf er vielmehr seinen Optimismus gründen liess, war der Glaube daran, dass die Chancen die Risiken überwiegen würden, so dass eine Abkehr von der Deregulierung, Privatisierung und Öffnung der Märkte nicht in Frage kommen konnte. Voller Stolz verkündete der Lobredner der weltweiten ›Liberalisierung der Kapitalbewegungen‹, dass der IWF das Jahrhundert verändert habe. In der Tat, das ausgehende Jahrhundert hatte sich verändert und die Veränderungen setzten sich im anbrechenden 21. Jahrhundert fort. Der weltweit politisch durchgesetzte ›common sense‹ der Liberalisierung der Kapitalbewegungen und der damit einhergehende Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems veränderte nicht nur die machtpolitischen Konstellationen, so dass die Wirtschaftsmächte ihre anschwellende ökonomische Macht in zunehmende politische Macht ummünzen konnten, sondern auch die politische Rolle staatlicher Regierungen. Der sich herauskristallisiert habende neoliberale ›common sense‹ führte entsprechend zu einer Beschneidung im Bereich der Wirtschaftspolitik. Die westlichen Regierungen, angesichts des Fehlens eines Systemfeindes, der bis anhin noch die eigene Sozialpolitik legitimiert hatte, und in Anbetracht der neuen Chancen, die das sich anbahnende neoliberale Weltwirtschaftssystem versprach, rückten vermehrt von einer nationalen Wirtschaftspolitik ab und überliessen ehemals staatlich geführte Institutionen den Kräften des freien Marktes, von denen sie sich mehr Effizienz und vor allem weniger Staatsschulden erhofften. Dieser »transnationalisierte Marktverkehr«,23 so Jürgen Habermas, minimiert die wirtschaftspolitischen Bewegungsmöglichkeiten der Nationalstaaten. 22 | Siehe: Nous avons changé de siècle. In : L E M ONDE vom 24. April 1998. 23 | H ABERMAS, J ÜRGEN . Jenseits des Nationalstaates? Zu einigen Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung. In: U LRICH B ECK (Hg.). Politik der Globalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 67-84.
1. Neoliberaler Paradigmenwechsel
Weder können sie innerhalb dieses neoliberalen Paradigmas protektionistische Massnahmen ergreifen noch eine Rückkehr zur nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik wagen. Soweit sich die entfesselten Kapitalbewegungen nämlich überhaupt noch kontrollieren lassen, würden die Kosten für eine protektionistische Abschottung der einheimischen Wirtschaft unter gegebenen neoliberalen weltwirtschaftlichen Bedingungen schnell eine inakzeptable Grössenordnung annehmen. Zudem würden staatliche Beschäftigungsprogramme nicht nur an den hohen Staatsschulden scheitern, sondern sie wären in einer Welt der mobilen und mobilisierten Arbeitskraft auch nicht mehr so effektiv wie erhofft. Als Erfolgsgarantie wird nun eine Politik plausibilisiert und global durchgesetzt, die sich der vorauseilenden Anpassung der nationalen Verhältnisse an den globalen Wettbewerb, also dem, was unter dem Stichwort des ›Standortwettkampfes‹ bekannt wurde, verschreibt. Die Staaten sollen mittels einer ›Flexibilisierung‹ des Arbeitsmarktes, Deregulierung der Märkte und Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe nicht nur die Staatskosten und somit auch die Steuersätze senken, sondern ihr eigenes nationales Territorium vor allem als fertilen Boden für ausländische Investoren präsentieren. Nationalstaatliche Politiken verlieren somit nicht nur die Kontrolle über die eigenen Kapitalflüsse, sondern sie sehen sich zunehmend gezwungen, sich den angeblich alternativlosen Dynamiken der globalen Wirtschaftskreisläufe, -funktionen und -gesetze zu unterwerfen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die neoliberale Wende eine ›Vision‹ des Kapitalismus forcierte, die das althergebrachte fordistische Modell abschaffte, und dieses mit einer Rhetorik der Kreativitäts- und Entfaltungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt bei gleichzeitiger Abnahme ihrer rechtlichen Absicherung und einer Verlagerung des Kapitals von der produktiven Tätigkeit in die Finanzwelt überwand. Diese postfordistische Produktionsform erzwang aber auch neue Anpassungsbedingungen für Staat, Zivilgesellschaft und Subjekt. Die staatspolitische und demokratisch legitimierte Kontrolle der Wirtschaftsflüsse nahm auf Kosten der Macht transnationaler Kapitalakteure wie multinationaler Unternehmungen und weltweit vernetzter Finanzinstitute ab, die mit einer Abwanderung ihrer Produktionsstandorte drohten, sollte eine ihnen abträgliche Politik etwa im Steuerbereich formuliert werden. Neben den neuen Arbeitsmodellen sowie Freiheits- und Kreativitätsräumen der Produktion, die dieser Kapitalismus generierte, war es gerade auch die neoliberale Austeritätspolitik, die den Staat zum ökonomischen Akteur degradierte und dennoch den politischen Konsens der Massen erheischen konnte. Im Namen neuer Entfaltungsmöglichkeiten in der Produktion, der zunehmenden Kreativität im individuellen Arbeitsbereich sowie im Versprechen hoher Wachstumsraten, geringer Arbeitslosigkeit und prosperierender Märkte im wirtschaftspolitischen Bereich wurde der disziplinierende, aufgeblähte und kostspielige Sozialstaat bekämpft. Die hierfür verwendeten Parolen – wie die Privatisierung öffentlicher Dienste, die Deregulierung des Arbeitsrechts und das Primat der Geldpolitik –, aber auch die marktradikalen Dogmen – wie die Selbstheilungs-
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kraft des Marktes – und die Glorifizierung des ökonomischen Nutzenkalküls – an dem sich nun Staaten, zivilgesellschaftliche Institutionen und auch das einzelne Individuum zu orientieren haben – wurden politisch mehrheitsfähig und fanden – in gramscianischen Termini ausgedrückt – einen hegemonialen Konsens. Die einzelnen Bürger erhofften sich von der Entmantelung des Sozialstaates und der damit versprochenen ›Steuersenkungen für alle‹ finanzielle Vorteile, von der Deregulierung des Arbeitsmarktes neue Lebens- und Arbeitschancen und nicht zuletzt effizientere, weil nun privat geführte Dienste im öffentlichen Sektor.
2. Ideologische Elemente
Das Aufkommen der neoliberalen Wirtschaftspolitik beruhte also einerseits auf Zwang, wie er von den internationalen Wirtschaftsorganisationen ausgeübt wurde, andererseits aber auch auf einem gesellschaftlichen Konsens, der dieser Politik letztlich zu Mehrheitsfähigkeit verhalf. In der Tat absorbiert die neoliberale Konzeption von Staat, Zivilgesellschaft und Individuum die Sorgen und Wünsche der Subalternen, gibt sie aber in verzerrter und veränderter Form wider. Die öffentliche Hand wird zunehmend amputiert und durch halbstaatliche oder private Prothesen ersetzt. Damit geht auch eine Umgestaltung der zivilgesellschaftlichen Apparate einher. Diese werden vermehrt dem ökonomischen Nutzenkalkül und nicht dem Prinzip der freien Zugänglichkeit für alle unterworfen. Im Zuge dieser Ökonomisierung wurden nicht nur Bildungsinstitutionen nach marktspezifischen Richtlinien ausgerichtet, die Arbeitswelt, die eine immer grösser werdende Anzahl von Menschen mit einer permanenten Unsicherheitsrhetorik an den Zügeln hält, kapitalfreundlich dereguliert, und auch andere Bereiche des sozialen Lebens wurden zunehmend warenförmig und warenästhetisch organisiert: vom Alltagsleben über öffentliche Dienste, Gesundheit, Körper und Genen bis hin zur Psyche und zur natürlichen Umwelt. Damit wird aber auch das Individuum im privaten und öffentlichen Leben neu eingekreist und vor neue Selbst- und Weltdeutungen gestellt. Diese Ökonomisierung des Sozialen, die im Kern des neoliberalen Projektes liegt, wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchung näher betrachtet und einer Kritik unterzogen. Zuvor ist jedoch eine Auseinandersetzung mit den ideologischen Komponenten, die dieser neoliberalen Wende zugrunde liegen nötig, damit auch ihre Effekte auf politischer, gesellschaftlicher und individueller Ebene sichtbar werden, die letztlich für die hegemoniale Sedimentierung demokratiefeindlicher politisch-kultureller Deutungen verantwortlich sind.
2.1 M ARK T Die Doktrin des freien Marktes und der Glaube an die selbstregulierenden Kräfte eines solchen Marktes sowie die in den 1980er Jahren parallel erfolgte Verlage-
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
rung der wirtschaftlichen Dynamik vom sekundären zum tertiären Wirtschaftssektor, also vom Massenkonsum zu den Aktienmärkten, bilden den ideologischen Dreh- und Angelpunkt, nach dem die wirtschaftliche und politische Sphäre innerstaatlich und global verändert werden konnte. Vor allem die Regierung Reagan, die auch im Zusammenhang mit der damaligen Dichotomie der zwei Weltimperien für die meisten westlichen Länder Vorbildcharakter hatte, läutete diese grosse Zäsur und Konterrevolution ein. Politisch bedeutete dies die Etablierung eines neuen Demokratie-Konzepts – das hauptsächlich in der Begrenzung bis Abschaffung der Regierungsmacht in Bezug auf Marktinterventionen besteht – und eine neue Gestaltung des Ökonomischen – und zwar als unbegrenzte Ausweitung des freien Marktprinzips. Die Regierung wurde nun angehalten, ihre Handlungen und Interventionen am Prinzip ›Markt‹, an dieser Art von »ständigem ökonomischen Tribunal«,1 zu messen. Die Regierungsrationalität musste sich entsprechend der neoliberalen Devise auf die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs, des freien Marktes und auf eine sicherheitspolitische Spezialisierung beschränken, und dies alles im Namen der individuellen Freiheit. Ein interventionistischer Staat nämlich, wie ihn die Neoliberalen im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit sichteten, würde nicht nur Ungerechtigkeiten generieren, indem er einige Bürger bevorzuge und andere nicht, sondern zudem die Entfaltung der individuellen Kreativität und des persönlichen Unternehmergeistes einschränken. Ein solcher Staat sei im Kern ein sozialistischer Staat, da er das einzelne Individuum für das Gedeihen des »Termitenstaates«2 opfere. Die einzige Form der Regulierung der Gesellschaft könne innerhalb des neoliberalen Denkens nicht von einer Regierung durchgeführt werden, da eine solche Regulierung unweigerlich eine Minderheit benachteiligen würde und sich letztlich auf ideologische oder utopische Vorstellungen beziehen müsse, die im Namen eines zukünftig zu erreichenden Stadiums heutige Ungerechtigkeiten – im Bereich der persönlichen Freiheit und des persönlichen Eigentums – rechtfertigt. Die einzige valide Matrix, auf welcher so etwas wie eine freie Gesellschaft sich entfalten könne und jedes einzelne Mitglied sich auch frei und nach seinen individuellen Möglichkeiten und Zielen entwickeln könne, sei der Markt. Nur dieser könne, ohne den Anspruch auf die Reali-
1 | F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 342. 2 | Der Ausdruck »Termitenstaat« wurde 1944 von Wilhelm Röpke in Bezug auf die »Gefahr der Kollektivierung« verwendet: »Ebenso darf ich auf die allgemeine Einsicht vertrauen, das dieser Termitenstaat, der da heraufkommt, nicht nur alle Werte und Einrichtungen vernichtet, die nach einer Entwicklung von drei Jahrtausenden alles ausmachen, was wir mit Stolz und mit dem Bewusstsein ihrer Unersetzlichkeit und Unübertrefflichkeit die abendländische Zivilisation nennen, [...] sondern vor allem auch dem Leben des Individuums seinen nur in der Freiheit zu findenden eigentlichen Sinn nimmt [...].« In: R ÖPKE, W ILHELM . Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform. Erlenbach/Zürich 1944. S. 26.
2. Ideologische Elemente
sierung eines gewünschten gesellschaftlichen Zustands zu stellen, allen dieselbe Freiheit der Marktteilnahme und der eigenen Lebensentfaltung garantieren. Der Markt selbst fungiert darin als derjenige Ort, an dem die Gesellschaft und die Regierung ihre Wahrheiten wie auch ihre Unzulänglichkeiten entdecken. »Insofern der Markt durch den Tausch ermöglicht, die Produktion, den Bedarf, das Angebot, die Nachfrage, den Wert, den Preis usw. miteinander zu verknüpfen«, so Foucault, »stellt er in diesem Sinne einen Ort der Entscheidung über die Wahrheit dar, ich meine einen Ort der Verifikation und Falsifikation der Regierungspraxis.«3 Der Markt wird innerhalb der neoliberalen Theorie zum Kriterium der Wahrheit der Regierungspraxis. Aufgabe der Regierung ist aus der Sicht der Neoliberalen also nicht die Zähmung der teilweise destruktiven Marktkräfte, sondern die ›Kultivierung‹ der Marktsphäre, welche sich überdies durch einen Rückzug des Wohlfahrtstaates auch auf bis anhin nicht-ökonomische Gebiete ausweiten soll. Die Regierung verändert innerhalb einer solchen Konzeption des Marktes, in welcher dieser und die sich aus ihm ergebenden Resultate der vermeintlichen Wohlstandssteigerung zugleich die Legitimationsgrundlage für die Regierungstätigkeit darstellen, also nicht nur ihre Haltung gegenüber der Sphäre des Tausches – den sie nun wie eine fragile Pflanze zu kultivieren hat, ohne jedoch in den Wachstumsverlauf dieser ›Pflanze‹ direkt einzugreifen –, sondern vor allem auch ihre Operationssphäre. Diese konzentriert sich nun auf die Gesellschaft. Eine neoliberale Regierungspraxis muss ihren Handlungsspielraum in die Sphäre der Gesellschaft verlagern, welche im Namen eines frei fluktuierenden Marktes aktiviert werden muss. Die Mitglieder der Gesellschaft dürfen sich innerhalb einer solch politisch durchtränkten Wirtschafssphäre nicht mehr auf die ›schützende Hand‹ des Wohlfahrtstaates, welcher vormals seine Kompetenz des aktiven Eingreifens in den Markt aus einer mithilfe politischer Kämpfe institutionalisierten gemeinwohlorientierten Gesellschaftspolitik speiste und diese nun verloren hat, verlassen, sondern sie müssen neuerdings durch Regierungsinterventionen für die Begegnung mit dem undurchschaubaren Markt aktiviert werden. Da der Markt aus Sicht der Neoliberalen als prinzipiell unregierbar gilt, wird die Regierungstätigkeit und -macht zunehmend auf die Regierbarkeit der Gesellschaft verlagert. Es ist also nicht mehr die ›schützende Hand‹ des Sozialstaates, die aufgrund einer wirtschaftspolitischen Konstellation, aus welcher die konkurrierenden politischen Kräfte die Bewegungen dieser Hand institutionalisierten, die das Leben der Gesellschaftsmitglieder bestimmt, lenkt und einbezieht, sondern die ›unsichtbare Hand‹ eines fragilen Marktes, der als einzige Relaisstation des Sozialen gilt und dessen Freiheit ständig von Regierungsinterventionen ›bedroht‹ wird. Im Namen einer freien und freiheitsgarantierenden Tauschsphäre müssen sich also Regierung, Gesellschaft und Individuum an das ›Wissen‹ des 3 | F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 55.
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Marktes anpassen und von jeglicher Intervention in die Wettbewerbs- und Konkurrenzmechanismen dieser Tauschsphäre absehen. Im Gegensatz zum Markt, der nach Friedrich August Hayeks Auffassung die unzähligen, unterschiedlichen und untereinander unbekannten Bedürfnisse und Wünsche als einzige Sphäre zu verarbeiten vermag und das von ihr zusammengefasste ›Wissen‹ durch den Preismechanismus artikuliert, kann eine menschlich konstruierte Ordnung aufgrund ihrer Wissensbeschränkung niemals eine solche Koordinationsleistung vollbringen. Fern davon, ein Wissen zu produzieren, das die Tauschprozesse, -mechanismen und -informationen, die darin von einem Ort zum anderen wandern, widerspiegeln kann, ist jede menschliche Ordnung nur eine »Wissensanmassung«. Je mehr also die prinzipielle Unwissenheit des Einzelnen angesichts der Organisationsfähigkeit und Komplexität der Gesamtgesellschaft anwächst, desto deutlicher wird für Hayek, dass diese Unübersichtlichkeit unhintergehbar bleiben muss, da sonst das Prinzip der Gesellschaft selbst in Frage gestellt ist. Für Hayek beruhte also das Eintreten »für die individuelle Freiheit hauptsächlich auf (die) Erkenntnis …, dass sich jeder von uns unvermeidlich in Unkenntnis eines sehr grossen Teils der Faktoren befindet, von denen die Erreichung unserer Ziele und unserer Wohlfahrt abhängt.« 4 Es sei dies eine Unkenntnis, die weder die Regierung noch der Einzelne wettmachen und die nur innerhalb einer freien Marktsphäre zu Wissen verarbeitet werden könne. In Bezug auf die Regierungspraxis zeugt die ›unsichtbare Hand‹ aus neoliberaler Perspektive nicht nur von der Unmöglichkeit des Eingriffs in den Markt, sondern vor allem von der unmöglichen Einsicht in diesen. Wesentlich ist hierbei der Aspekt der ›Unsichtbarkeit‹. Was sich bei Hayek nämlich artikuliert, ist letztlich ein radikalisierter Ethos der Unberührbarkeit, der ausserdem über den Markt hinausweist. Die ›unsichtbare Hand‹ dient nicht allein der Erklärung eines sozialwissenschaftlichen Objektes. Sie fungiert zugleich als erkenntniskritisches Raster für jegliches soziale und kulturelle Phänomen. Das ursprünglich von Adam Smith geprägte Bild der »unsichtbaren Hand« erfährt demnach bei Hayek eine Bedeutungsverschiebung, die den Schwerpunkt vom Moment der Hand auf das Element der Unsichtbarkeit verlagert. Während bei Smith und dem klassischen Liberalismus die ›unsichtbare Hand‹ als prominenteste Umschreibung des ›Laissez-faire‹-Prinzips galt, worin eben die ›Hand‹ in erster Linie als selbsttätiger Mechanismus des Marktes die Güter ohne Wissen des einzelnen Marktakteurs so verteile, dass sie zum Allgemeinwohl beitrage und dieses vermehre5, verdichtet sich der zuvor unterrepräsentierte Aspekt des 4 | H AYEK , F RIEDRICH AUGUST. Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. S. 39. 5 | In seinem berühmtesten Werk »Der Wohlstand der Nationen« schreibt Smith: »Tatsächlich fördert er [jeder Einzelne, A.M.] in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiss er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit und
2. Ideologische Elemente
›Unsichtbaren‹ bei Hayek hingegen zum ethisch-politischen Prinzip und zur alleinigen Interventionslogik einer jeglichen Regierungshandlung. Diese Invisibilisierung wird so zum konstitutiven Element des Neoliberalismus, gerade weil die Marktordnung durch diese Unsichtbarkeit definiert ist. Hayek betont diesbezüglich, dass »so in der marktlichen Ordnung jeder durch den sichtbaren Gewinn für sich angehalten [wird], Bedürfnissen zu dienen, die für ihn unsichtbar sind.«6 Hayeks Konzept des freien Marktes spielt somit auf verschiedenen Klaviaturen, die er alle in die eintönige Harmonie der Marktfreiheit münden lässt. Die Kritik an der staatlichen oder auch nur menschlichen Wissensanmassung paart sich mit einem Plädoyer für Freiheit und Gleichheit, die einzig im Markt generiert und einzig durch ihn garantiert werden können. So wirft Hayek der Idee einer »vernünftigen Gestaltung der Gesellschaft«, die sowohl dem planwirtschaftlich orientierten Kommunismus als auch dem sozialreformerischen Ruf nach »sozialer Gerechtigkeit« unterliege, eine »Anmassung von Wissen«, das heisst eine erhebliche Überschätzung der subjektiven Vernunft vor.7 Da Individuen immer nur ein lokal sehr beschränktes, subjektives Wissen besitzen, auf das keine planmässige Gestaltung der Gesellschaft rekurrieren kann, ist dieses Argument für Hayek zugleich der Beweis für die Überlegenheit des Marktes, der aufgrund des Preismechanismus das lokal verstreute Wissen zu verarbeiten vermag.8 Den Markt konzipiert Hayek dabei als spontane Ordnung. Um diese spontane Ordnung zu verstehen, ist es wichtig, wie er sagt, uns selbst von den verwirrenden Assoziationen zu befreien, die üblicherweise den Markt an die Deskription der Wirtschaft verbinden.9 Für Hayek suggeriert der Begriff ›Wirtschaft‹ nämlich eine vorsätzlich organisierte Allokation von Zwecken durch eine institutionelle Stelle mit der Absicht, ein partikulares Ziel oder partikulare Effekte hervorzurufen, die im Gegensatz zu anderen Zielen und Effekten aufgrund von spezifischen Wertekriterien bevorzugt werden. Während – so Hayek wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, dass ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.« S MITH, A DAM . Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Vollst. Ausgabe nach der 5. Auflage (1789), 3. Auflage aus dem Englischen von Horst Claus Recktenwald. München: dtv 1983. S. 371. 6 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Recht, Gesetz und Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. S. 267. 7 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Missbrauch und Verfall der Vernunft. Tübingen: Mohr Siebeck 2004. S. 92. 8 | Ibid. S. 93. 9 | »Zum richtigen Verständnis des Charakters dieser Ordnung ist es wesentlich, dass wir uns von den irreführenden Assoziationen frei machen, die ihre übliche Bezeichnung als ›Wirtschaft‹ mit sich bringt.« In: H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Recht, Gesetz und Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. S. 258.
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– eine solche Verwendung des Begriffes ›Wirtschaft‹ für Haushalte, Bauernhöfe oder Fabriken Sinn macht, ist sie irreführend, wenn sie für die komplexen und unterschiedlichen ökonomischen Aktivitäten einer Gesellschaft verwendet wird. Für Hayek impliziert jeder Verweis auf die Wirtschaft eines Landes oder der Volkswirtschaft als solcher, notwendigerweise eine Form von sozialer Organisation, eine partikulare Anordnung von Zielen in Anlehnung an einen einheitlichen Plan. Entsprechend kann die Marktordnung nicht mit einem solchen System von Zielen in Verbindung gebracht werden. Hayek schlägt deshalb vor, einen neuen Begriff – Katallaxie – für die Beschreibung jener Ordnung zu verwenden, die »durch die wechselseitige Anpassung vieler einzelner Wirtschaften in einem Markt entsteht. Eine Katallaxie ist also die besondere Art spontaner Ordnung, die vom Markt erzeugt wird, wenn sich die Leute an die Regeln des Eigentums-, Haftungs- und Vertragsrechts halten.«10 Der Markt wird in den Augen des österreichischen Wirtschaftstheoretikers nicht von einzelnen hierarchisch gegliederten Zielen regiert. Vielmehr dient er der Multiplizität verschiedener und inkommensurabler Ziele seiner separaten Mitglieder. In dieser Qualität lässt sich der Markt als einzige und konstitutive Ermöglichungsbedingung der ›great society‹ verstehen, die als einzige die persönliche Freiheit schützen kann. Diese ›society‹ erhält Kohärenz nicht durch ein vorgegebenes menschliches Design, sondern durch den Markt und seinen nicht prognostizierbaren Tauschprozessen. Sie ist somit auf die verschiedenen partikularen und egoistischen Absichten ihrer Mitglieder und nicht auf Zielen aufgebaut, welche die darin lebenden Menschen im demokratischen Meinungsaustausch definieren könnten. Für Hayek ist somit auch die Idee, dass eine moderne Gesellschaft Solidarität benötigen könnte, die von einem Set gemeinsam ausgehandelter und geteilter Werte und Ziele geformt wird, von Beginn an unbrauchbar. Sein ›philosophisches‹ Konzept, auf dem er die Verteidigung seiner Argumente für die spontane Ordnung des Marktes auf baut, ist weder Solidarität noch Gerechtigkeit noch demokratische Selbstbestimmung, sondern ein streng negatives Verständnis von Freiheit. Für Hayek, wie auch für Friedman und die neoliberale Theorielinie, die diesen beiden Theoretikern folgt, ist nur diese spontane Ordnung fähig, Freiheit zu garantieren, Zwänge zu beseitigen und Eingriffe in die persönliche Sphäre zu verhindern. Freiheit wird dabei als ein Zustand verstanden, der von äusseren Zwängen befreit ist – als negative Freiheit also. Sie ist dann gegeben, wenn die Zwänge und der Wille des Einen die Ziele und den eigenen Willen des Anderen nicht beeinträchtigen. Diese Freiheitsauffassung wird von Hayek jedoch strikt von materiellen Vorbedingungen oder Zugängen zu Ressourcen getrennt, die die Realisierung der eigenen Wünsche erst ermöglichen könnten. Eine solche positive Freiheitsauffassung, die ja gerade die Ermöglichungsbedingungen frei gewählter Lebensweisen von materiellen und rechtlichen Ressourcen abhängig macht, bedeutet in Hayeks Augen bloss die Verwechslung von Freiheit mit Macht, wie 10 | Ibid. S. 260.
2. Ideologische Elemente
sie für den Sozialismus typisch ist. Sie impliziert ja gerade eine staatliche Intervention in die Marktsphäre und eine Umverteilung der Reichtümer, was nicht nur die Realisierung der spontanen Ordnung und der damit gekoppelten negativen Freiheit in weite Ferne rückt, sondern vor allem auch die Besteuerung des Privateigentums bedeutet, was letztlich aus Sicht der neoliberalen Theorie staatlichem Diebstahl gleichkommt. In der spontanen Ordnung hingegen wird die einzig mögliche Schaltfläche gesichtet, die Freiheit und Autonomie, gerade weil sie hier von keinen äusseren Zwängen gehemmt werden, als Vorbedingungen für die Verfolgung der eigenen Version des guten Lebens ermöglicht. Sie kann aber nicht garantieren, dass die vom einzelnen Menschen definierte Zielhierarchie auch wirklich realisiert wird. Gerade diese Unfähigkeit des Marktes, die Realisierung eines Zieles zu garantieren, erklärt gemäss Hayek, weshalb die Menschen sich dagegen auflehnen.11 Der ungleich grössere Vorteil dieser Ordnung aber, der sie in Hayeks Sicht auch legitimiert, liegt jedoch in ihrer Garantie der individuellen Freiheit. Nur innerhalb einer solchen Ordnung können sich die individuellen Interessen wirklich ungehindert entfalten und kann das Individuum sich als Autor seines eigenen Lebens ohne jegliche äussere Interferenzen verstehen. Die dahinter liegende Implikation ist die, dass gesellschaftliche und politische Institutionen so organisiert und gestaltet sein sollen, dass sie diese individuelle Verfolgung der eigenen Ziele ermöglichen, fördern und stärken. Hayek verteidigt also das Konzept der negativen Freiheit, indem er sie als notwendige und hinreichende Bedingung zur Verfolgung individueller Ziele in einer Marktsphäre, die entsprechend auch von äusseren Zwängen frei sein soll, definiert. Der freie Markt bedingt negative Freiheit und ermöglicht einerseits die Verfolgung selbstbestimmter Ziele, andererseits stärkt es den moralischen und tugendhaften Charakter der Menschen. Weil diese, so die Implikation, in einem freien Markt autonom handeln und auch die von äusseren Zwängen befreite Möglichkeit haben, Wahlentscheidungen nach eigenem Gutdünken zu treffen, stärkt der freie Markt ihren Freiheitssinn und das damit einhergehende moralische Selbstverständnis, dass jeder in der glücklichen Position ist, Schmied seines eigenen Schicksals zu sein. Die Menschen sind in Hayeks Verständnis der ›Katallaxie‹, dieser spontanen Tauschordnung, also nicht nur frei, sondern auch gleich. Alle sind aufgrund der Unvoreingenommenheit und der unmöglichen Planbarkeit dieser spontanen Ordnung gleich gestellt, das heisst, niemand wird von einer politisch mächtigen Instanz künstlich gefördert, finanziell unterstützt oder gar privilegiert. Der freie Markt ist blind und somit auch die einzige wahrhaft gerechte Sphäre, die niemanden auf Kosten der anderen von Beginn an bevorzugt oder bestraft. Ob die Menschen aber insofern gleich sind, als keiner von anderen gezwungen werden kann, einen Teil seines Eigentums beispielsweise für soziale Dienstleistungen der öffentlichen Hand ab-
11 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Freiburger Studien. Tübingen: Mohr Siebeck 1969. S. 254.
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zugeben oder aber, ob sie alle die gleiche Möglichkeit haben, ihre frei gewählten Lebensläufe zu verwirklichen, ist bei weitem nicht dasselbe. Das philosophische Problem dieser Freiheits- und Gleichheitskonzeption liegt also darin, dass Hayek und andere Exponenten der neoliberalen Theorie freier Märkte die Tatsache, dass man Wahlmöglichkeiten hat oder in der Position ist, einen selbstgewählten Weg zu verfolgen, mit dem Besitz der nötigen Fähigkeiten oder Eigenschaften, die für Autonomie und Selbstbestimmung konstitutiv sind, gleichsetzen. Der erste ist zwar vom zweiten abhängig, schliesst ihn aber nicht schon mit ein. Zudem ist die Freiheit von äusseren Zwängen nicht gleichbedeutend mit dem Besitz der finanziellen und materiellen Dispositionen, die es einem erst ermöglichen, Autor eines selbstbestimmten Lebens zu sein. Bei Hayek wird so die Frage nach den materiellen und rechtlichen Ermöglichungsbedingungen von Autonomie und Selbstbestimmung implizit unbeantwortet gelassen und auf die prozedurale Fähigkeit, Wahlen und Entscheidungen zu treffen, reduziert. Aber die blosse Fähigkeit, frei wählen zu können, bedeutet nicht, dass Individuen wie autonome Agenten handeln. Der Favelas-Bewohner kann sich ja auch ›autonom‹ und ›frei‹ für ein Studium an einer Eliteuniversität entscheiden, niemand hindert ihn daran oder zwingt ihn mit Gewalt, eine andere Entscheidung zu treffen. Was diesem talentierten Studenten jedoch fehlt, sind die materiellen und finanziellen Möglichkeiten, die diese Entscheidung überhaupt realisierbar machen könnten. Die Bedingungen also, unter welchen ›frei‹ und ›autonom‹ gewählte Zielvorstellungen überhaupt realisierbar sind – die faktische Kaufkraft –, haben in Hayeks Markt- und Freiheitskonzept keinen Platz. Dies erinnert an das berühmte Wort von Anatole France,12 wonach das Gesetz den Reichen wie den Armen das Schlafen unter der Brücke, das Betteln auf der Strasse und das Stehlen von Brot verbiete. Alle sind vor dem Gesetz gleich, bloss übersieht eine solche formale Gleichheit, dass die Chancen, den durch das Gesetz gewährten Freiraum auch faktisch zu nutzen, ungleich verteilt sind. Die Armen sind nicht gleich frei wie die Reichen, nicht unter der Brücke zu schlafen oder auf das Betteln zu verzichten. Bereits Marx betonte in seinen »Grundrissen«, dass, während früher Menschen von anderen Menschen auf ihre jeweilige ständische Position gezwungen wurden, sie unter kapitalistischen Bedingungen von Abstraktionen, deren stärkste der ›Markt‹ ist, unterjocht und gezwungen werden, auch das zu tun, was sie nicht wollen, und es so erscheinen zu lassen, als sei diese Wahl eine freie – als würde der Favelas-Bewohner also aus freien, selbstbestimmten und autonomen Stücken heraus auf ein Studium an der Eliteuniversität verzichten. »Die Individuen scheinen unabhängig (diese Unabhängigkeit, die überhaupt bloß eine Illusion ist und richtiger Gleichgültigkeit – im Sinn der Indifferenz – hieße), frei aufeinander zu stoßen und in dieser Freiheit auszutauschen; sie scheinen so aber nur für den, der von den 12 | F RANCE, A NATOLE . Die rote Lilie. Zürich: Manesse 2003. S. 147.
2. Ideologische Elemente Bedingungen, den Existenzbedingungen (und diese sind wieder von Individuen unabhängige und erscheinen, obgleich von der Gesellschaft erzeugt, gleichsam als Naturbedingungen, d.h. von den Individuen unkontrollierbare), abstrahiert, unter denen diese Individuen in Berührung treten.«13
Aus Marx’ Standpunkt ist die Illusion der Autonomie eine notwendige logische Folge der Entwicklung des kapitalistischen Marktsystems und seiner objektiven Abhängigkeitsverhältnisse. Fern davon, die Entwicklung der Autonomie zu fördern, konstituiert der Markt eine Abstraktion, die als Mechanismus der sozialen Regulation dient. Die angebliche Freiheit in der spontanen Tauschsphäre ›Markt‹ entpuppt sich so als struktureller Zwang, der, wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, die Subalternen an ihre Position festbindet. Diese Sphäre und die Freiheitskonzeption, die sie als konstitutives Element benötigt und zugleich zu produzieren vorgibt, stellt ein ideologisches Element dar, welches Autonomie, Selbstbestimmung und Befreiung von jeglicher Bevormundung verspricht, tatsächlich aber eine ›spontane Regulation‹ durchsetzt, die aufgrund der selbstläufigen und vom Staat unangetasteten Marktprinzipien über das Verhalten der Individuen waltet. Das neoliberale Dogma der freien und freiheitsversprechenden Märkte zeigt aber auch näherliegende, empirische Schwachstellen. So kann der Markt Gesichtspunkte vernachlässigen, die bei der Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Gut relevant sein könnten. Externalitäten und verdeckte Kosten wie Umweltschäden, die im Preis eines Gutes nicht enthalten sind, werden vom Markt nicht umgehend korrigiert. Es ist zwar denkbar, dass sich in der Marktsphäre eine umweltbewusste Konsumentenschaft herauskristallisiert, die ihre Nachfrage auf solche Anbieter lenkt, die diese Externalitäten zu minimieren oder zumindest im Preis zu quantifizieren suchen, aber dies müsste die Bereitschaft einer grossen Anzahl von Konsumenten voraussetzen, die angesichts mehrerer Alternativgüter auf das teurere umsteigen würden – was zumindest mit der klassischen und neoklassischen wirtschaftsliberalen Annahme eines auf die Maximierung des eigenen Nutzens unter Verminderung der Kosten ausgerichteten Akteurs in Konflikt geraten müsste. Zudem wäre wohl die Zeitspanne, bis sich der Markt auf diese Externalitäten eingestellt und diese korrigiert oder sich eine tragfähige und marktbestimmende Nachfrage gebildet hätte, für Umwelt, Mensch und Tier schon längst unerträglich geworden. Des Weiteren lässt sich fragen, ob der Markt in seinem freien Flottieren auch wirklich die Qualität eines Gutes so mitberücksichtigt, dass diese zunimmt. Die Empirie zeigt aber eher das Gegenteil. Güter, die von der öffentlichen Hand den Kräften des Marktes ausgesetzt wurden, mussten vielfach einen Qualitätsverlust hinnehmen. Neben der misslungenen Erfahrung der Privatisierung der Eisen13 | M ARX , K ARL . Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW 42. Berlin: Dietz 1983. S. 111.
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bahnen in Grossbritannien ist auch die Privatisierung der Flughafensicherheit in einigen amerikanischen Bundesstaaten zu erwähnen. Der Marktdruck – respektive die ›vitalisierende‹ Konkurrenz innerhalb einer unregulierten Wettbewerbssphäre – manifestiert sich unweigerlich im Preismechanismus. Je tiefer die Ebene ist, auf welcher dieser Mechanismus arretiert werden kann, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit eines konkurrierenden Akteurs, das Rennen für die jeweilige Auftragsvergabe zu machen. Die tragische Erfahrung dieser Privatisierungen, die in den USA etwa seit der Reagan-Regierung auf allen ehemaligen Ebenen der öffentlichen Hand forciert wurden, kulminierte – so Naomi Klein – in den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 – auch Folge einer seit mehr als zwanzig Jahren betriebenen Beschneidung des staatlichen Sektors und einer Auslagerung staatlicher Aufgaben an profitorientierte Privatunternehmen, die massive Sicherheitsmängel produzierten. Die Sicherheit auf den Flughäfen wurde einer dezimierten Schar von Hilfskräften überlassen, die mit einem Stundenlohn von sechs Dollar abgespeist wurden.14 Zudem hat sich auch die hayeksche und friedmansche Argumentation, dass ein freier Markt die ökonomischen und politischen Machtungleichgewichte nivellieren könnte, als Irrglaube erwiesen. De facto sieht die Realität anders aus. Im Gegensatz zur neoliberalen Argumentation gewinnt nämlich die ökonomische Macht, die sich auf einige wenige multinationale Firmen konzentriert, mehr Gewicht als die nationale politische Macht. Zudem ist heute weniger von einer Streuung der politischen Macht die Rede als vielmehr von einer Erosion der politischen nationalen Einflussmöglichkeiten auf die Marktvorgänge. Abgesehen von der Entstehung einer »vierten Welt«,15 in welcher exzessive Ausbeutung, Armut und Exklusion aus den globalen Wohlstandsgesellschaften herrschen, und im Gegenteil zu dem, was Friedman machttheoretisch postulierte, hat der deregulierte Markt zu wirtschaftlichen Körperschaften geführt, die machtvolle politische Kräfte geworden sind. In vielen Fällen übersteigen die Budgets von multinationalen Unternehmungen das Bruttosozialprodukt von Nationalstaaten und verlagern so auch die machtpolitischen Kompetenzen von einer demokratischen Entscheidungsfindung in die privaten Räume der glänzenden Sitzungszimmer transnational operierender Finanzinstitute und multinationaler Grosskonzerne.16 Ihr Einfluss 14 | K LEIN, N AOMI. Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2007. S. 411. 15 | Der Begriff, welcher Subpopulationen meint, die sozial von der globalen Gesellschaft ausgeschlossen sind, wurde vom spanischen Soziologen Manuel Castells geprägt. Vgl. C ASTELLS, M ANUEL . End of Millenium. Oxford: Blackwell 1998. (Band 3 von The Information Age: Economy, Society, Culture) 16 | Für das Jahr 2001 hat Naomi Klein nachgewiesen, dass von den 100 stärksten Wirtschaften der Welt 51 multinationale Firmen waren und nur 49 Nationalstaaten. Gemäss der Foundation for Gaia ist die Zahl der privaten Akteure im Jahr 2009 auf 53 gestiegen. Im Jahre 2006 war der Umsatz der 200 stärksten multinationalen Firmen der Welt grös-
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auf nationale Politiken ist aus finanzieller Sicht somit ungleich grösser als dasjenige zivilgesellschaftlicher politischer Akteure, und zwar nicht nur in Bezug auf die Lobbyarbeit, die hinter den Kulissen tatkräftig betrieben wird, sondern auch und gerade in Bezug auf die Rechtssetzung. Kapitalstarke Unternehmen können mit der Androhung einer allfälligen Abwanderung, sofern nicht ihnen genehme Gesetzgebungen im Bereich des Arbeits-, Steuer- oder Finanzrechts durchgeführt werden, nationalstaatlich verfasste Gemeinwesen in Geiselhaft nehmen. Letztere sehen sich zunehmend gezwungen, den Wünschen ihrer finanzstarken ›Big Player‹ zu entsprechen, geben so aber gleichzeitig auch ihr demokratisches Selbstbestimmungspotential auf. Die Deregulierung der Märkte hat also nicht zu einer Nivellierung der Macht geführt, sondern diese vielmehr von der demokratischen Kontrolle losgelöst und zunehmend auf die Seite partikularer privater Interessensvertreter verschoben. Fern davon, Einschränkungen im Leben der Menschen zu vermeiden, ist der Markt also selbst zur Zwangsgewalt geworden, der alle Menschen zunehmend und unfreiwillig ausgesetzt sind. Auf die neoliberale Apologie also, dass der Markt die von den Menschen wahrgenommenen Mängel und Machtunterschiede selber korrigiert, sofern man ihn nur machen lässt, kann angesichts solcher Beispiele gerne verzichtet werden. Es ist also nicht sinnvoll, den Markt zu einem absoluten Prinzip oder kategorischen Imperativ hochzustilisieren, da er lediglich ein Mittel darstellt, um gewisse Ziele zu erreichen, jedoch keinen Zweck an sich bzw., in materialistischer Perspektive formuliert, keinen darüber hinausgehenden und auf das ›Gemeinwohl‹ bezogenen Zweck. Dennoch bildet diese Kategorie den Dreh- und Angelpunkt für nationalstaatliche und globale Politiken, wie sie seit Ende der 1970er Jahren dominant wurden. Mit diesem ideologischen Einsatz, der Freiheit, Wohlstand und Wachstum verspricht, die Früchte seiner politischen und ökonomischen Veränderungen aber ungleich verteilt, wird auch das Individuum mit einer marktgerechten Anthropologie neu ausgerichtet. Der Mensch wird in der neoliberalen Theorie als ›homo oeconomicus‹ und genauer als ›Unternehmer seiner selbst‹ neu kodiert.
2.2 H OMO O ECONOMICUS In den Wirtschaftswissenschaften bildet der ›homo oeconomicus‹ das theoretische Modell eines nutzenmaximierenden Wesens, das zur Abstraktion und Erklärung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhänge dient. Damit wird ein Wesen charakterisiert, das eigeninteressiert und rational handelt, seinen eigeser als das gesamte Bruttoinlandprodukt von 187 Ländern, betrug also mehr als 30% der Weltproduktion Siehe: K LEIN, N AOMI . No Logo. London: Flamingo 2001. S. 340, sowie den Report der F OUNDATION F OR G AIA auf www.foundation-for gaia.org/index.php?option=com _content&view=article&id=59&Itemid=85
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nen Nutzen zu maximieren trachtet, entsprechend auch auf seine Umweltbegebenheiten reagiert, feststehende Präferenzen hat und über – so zumindest die Theorie – vollständige Information verfügt. Er bildet den Idealtypus des zweckrational agierenden Individuums. Kosten werden Nutzen gegenübergestellt und die Einnahmen mit den Ausgaben verglichen. »Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist also derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensführung.«17 Diese vom Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger 1914 formulierte Definition kreist ziemlich genau das ein, was dieses Modell für die theoretische und politische Gesellschaftsgestaltung nach neoliberalem Muster darstellt. Nicht nur dient das Modell als kleinste und zentrale Einheit des methodologischen Individualismus, der als methodischer Zugang für die ökonomische Theoriebildung und die davon abgeleitete politische Gestaltung der Gesellschaft hier anknüpft, sondern auch als Erklärungsmodus für die gesellschaftliche Lebenswelt des Menschen und seines Verhaltens. Dabei wird vorausgesetzt, dass Individuen per se immer schon Nutzenmaximierer sind und die Umwelt, in der sie ihre Ziele verfolgen, immer schon von Konkurrenz, Wettbewerb und knappen Gütern beherrscht ist. Die Individuen sind kurz gesagt immer schon als ›homini oeconomici‹ da, sie wurden weder geboren noch erzogen oder sozialisiert. Wie Pilze, die im Spätsommer nach einer regnerischen Nacht aus dem Waldboden schiessen, sind sie plötzlich da – und sofort rational und erwachsen. In der politischen Ökonomie hat dieses Modell, das mit dem Erscheinen von Vilfredo Paretos »Manuale d’economia politica«18 im Jahre 1906 erstmals als lateinische Wendung vorkommt, eine konstante analytische Kategorie dargestellt. Spätestens mit der sogenannten marginalistischen Wende der Grenznutzenschule, die für die österreichische Schule und ihren Hauptvertreter Friedrich August Hayek wegbereitend war, wird die politische Ökonomie auf das Handeln des Individuums zurückgeworfen, so dass alle ökonomischen Grössen im Sinne einer Rückführung auf einen rational handelnden ›homo oeconomicus‹ operationalisierbar gemacht werden. Damit werden das Modell und seine Eigenschaften – wie das Kalkül der Optimierung und unternehmerisches Handeln – vom ökonomischen Bereich auf alle Felder menschlichen Handelns übertragen. Krankheit, Gesundheit, Bildung, Solidarität oder Freizeit werden im Spannungsfeld von Nutzen und Kosten, Optimierung und Effizienz nach ökonomischen Kriterien neu ausgerichtet. Ob in Sambia Hilfsgelder für Herzoperationen oder für eine neue Universität ausgegeben, in Europa die Bildung durch Privatisierungen effizienter gemacht werden oder Krankheiten dem Risikokalkül und den finanziellen Ausga17 | S PRANGER, E DUARD. Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. 8. Auflage. Tübingen: Niemeyer 1950. S. 148. 18 | Vgl. PARETO, V ILFREDO. Manuale di Economia Politica: Faksimile der 1906 in Mailand erschienenen Erstausgabe. Düsseldorf: Wirtschaft und Finanzen 1992.
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bemöglichkeiten der Menschen überlassen werden sollen, bestimmt das Modell des nutzenmaximierenden ökonomischen Wesens. Insbesondere die neoliberale Theorie erhebt dieses Prinzip zur allgemeingültigen Dechiffrierungsschablone menschlichen Lebens. Nicht nur die gesellschaftlichen, politischen oder privaten Felder, in denen Menschen ihr Dasein fristen, werden dieser Logik unterworfen, auch und vor allem die Rekodierung ihrer Tätigkeiten bildet den theoretischen Unterbau dieses Erklärungsmusters. Gerade die Arbeit wird in der neoliberalen Theorie neu konzeptionalisiert und mit dem Modell des ›homo oeconomicus‹ verflochten. Bildete sie für den klassischen Liberalismus noch eine im Wesentlichen statische ökonomische Grösse, die sich auf den Wert der erzeugten Ware überträgt, begannen neoliberale Denker, den Arbeiter als produktives und vor allem sich selber produzierendes Subjekt neu zu zeichnen. Entgegen der marxistischen Analyse, die Arbeitskraft als ein Handelsgut versteht, das auf dem Markt entsprechend der jeweiligen Preissituation einen bestimmten Lohn erzielt, und entgegen der Auffassung, dass die vom Arbeiter geleistete Arbeit einen Mehrwert schöpft, welcher ihm vom Kapitalisten entrissen wird, kehren die Neoliberalen diese marxistische Analyse um und beginnen den Arbeiter nicht als entfremdetes Wesen der kapitalistischen Produktionsweise, sondern als aktives Wirtschaftssubjekt zu begreifen. Die tatsächlich verrichtete Arbeit, das, was gemäss Marx also die verkaufte Arbeitskraft darstellt, erscheint dabei nicht mehr zwangläufig in seiner monetären Spiegelung des Lohnes, sondern vielmehr als persönliches Eigentum. Während der Lohn nämlich in die Vergangenheit weist und seine Entsprechung in den geleisteten Arbeitsstunden hat, dekonstruieren die Neoliberalen diesen Zusammenhang mit der Einführung des Begriffes ›Einkommen‹. Einkommen wird von ihnen als eine Grösse verstanden, die auf die Kaufkraft anspielt und strukturell auf die Zukunft gerichtet ist. Vom Standpunkt des Arbeiters ist der Lohn nicht der Preis für den Verkauf seiner Arbeitskraft, sondern ein Einkommen. Irving Fisher, auf den sich amerikanische Neoliberale wie Gary Becker oder Theodore Schulz berufen, die ihrerseits das Konzept des ›homo oeconomicus‹ als erkenntnistheoretisches Raster innerhalb der neoliberalen Schule gefestigt haben, betonte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass das Einkommen letztlich nichts anderes sei, als das Ergebnis oder der Ertrag eines Kapitals. Entsprechend sei Kapital alles, was eine Quelle zukünftigen Einkommens sein kann. Irving Fisher verstand unter Kapital »die Gesamtheit der Dinge, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt im Besitz von Individuen oder Gesellschaften befinden, Forderungen beziehungsweise Kaufkraft darstellen und imstande sind, Zins zu tragen.«19
19 | P RIBRAM, K ARL . Geschichte des ökonomischen Denkens. Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 614.
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Der Lohn, welcher bei Marx noch die marktgebundene Entschädigung für den Verkauf von Arbeitskraft darstellte, wird somit zum Einkommen eines Kapitals umdefiniert. Insofern also jedes Einkommen an eine spezifische Form des Kapitals zurückgebunden werden kann, erscheint die Arbeitskraft als eine besondere, mit der jeweiligen Person verbundene Kapitalform. Durch diesen semantischen Zaubertrick wird die Arbeitskraft, die im marxistischen Vokabular noch als ein Gut verstanden wird, das der Arbeiter unter für ihn ungünstigen Bedingungen auf den Arbeitsmarkt tragen muss, um überleben zu können, nun zu einer Kompetenz. Arbeitskraft ist unter neoliberaler Deutung Fähigkeit, Kompetenz, Transformationsmatrix und somit ein Kapital, das Einkommen evoziert und nicht bloss Lohn empfängt. In der Folge wird der Arbeiter also in eine entsprechende Struktur der Zukünftigkeit und Unsicherheit geworfen, die ihre paradigmatische Ausformung in der unternehmerischen Rationalität erfährt. Der Arbeiter wird auf diese Weise als ein bestimmtes Unternehmen konzipiert, das nicht nur für das Kapital oder den Unternehmer-Boss arbeitet, respektive arbeiten muss, wenn er überleben will, sondern ein Unternehmen, das in erster Linie durch seine Verausgabungen in sich selbst investiert. Die Figur, die an der Oberfläche dieser Neukonzeptualisierung des Arbeiters erscheint, ist diejenige des Arbeitskraftunternehmers: ein Wesen, das das eigene Handeln nur als unternehmerisches Handeln begreifen soll, ein Wesen also, das die Personifizierung »von Funktionen im Ablauf der Marktvorgänge«20 ist. Der Mensch wird somit als ein ›unternehmerisches Selbst‹ verstanden. Dieses ist er aus Sicht der neoliberalen Theorie sowohl in ontologischer als auch in handlungslogischer Hinsicht. Ontologisch ist der Mensch ein ›Unternehmer seiner selbst‹ weil er als rationales Subjekt seine Umwelt beobachtet und dechiffriert, handlungslogisch, weil er als innovatives Subjekt auf ebendiese Umwelt reagiert. In dieser Dualität steckt aber zugleich das zentrale Paradox dieser neoliberalen Figur und ihrer zugrundeliegenden unternehmerischen Anforderung. Auf der einen Seite ist das Subjekt der Struktur nach immer unternehmerisches Selbst, sofern dies die wesentliche Struktur seines Verhaltens ausmacht. Andererseits aber ist die Anforderung, ein unternehmerisches Selbst zu sein, unmöglich universal, da dieses an den erfolgreichen Abschluss einer innovativen Handlung gebunden ist. »If the entrepreneur does not act on an opportunity, he has not ›discovered‹ it at all.«21 Wenn jeder ein ›unternehmerisches Selbst‹ ist, dann ist es keiner, denn die Anzahl an realisierbaren »opportunities« ist nicht nur beschränkt, sondern auch das unternehmerische Handeln ist von anderen Faktoren als der eigenen Innovationskraft und der eigenen rationalen Dechiffrierung einer 20 | M ISES, L UDWIG VON . Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens. München: Philosophie 1980 (Faksimile der Erstausgabe von 1940, erschienen in Genf: Editions union). S. 245. 21 | K OPPL, R OGER . M INNITI, M ARIA . Market Processes and Enterpreneurial Studies. In: Z OLTAN J. ACS/DAVID B. AUDRETSCH (Hg.). Handbook of Entrepreneurship Research. An interdisciplinary Survey and Introduction. New York: Springer 2003. S. 81-102. Hier: S. 88.
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ebensolchen Innovationsmöglichkeit abhängig. Notwendig ist nämlich vor allem Innovationsfähigkeit, Kalkulation und Risikobereitschaft, die nicht nur von kognitiven, sondern vor allem auch von finanziellen Bedingungen abhängen. Diese Paradoxie weist auf einen wichtigen Aspekt der neoliberalen anthropologischen Konzeption hin. Der Mensch als unternehmerisches Subjekt ist nämlich weder ein universal-anthropologischer Status noch eine einfache Deskription. Vielmehr wird diese Figur in einem appellativen Modus verwendet, die unter dem Deckmantel einer angeblich wissenschaftlich gesicherten anthropologischen Theorie ihre Wirkung ausfaltet: »Ein unternehmerisches Selbst ist man nicht, man soll es werden.«22 Diese vehement individualisierende Dimension der neoliberalen Ideologie findet sich auch bei Friedrich August Hayek wieder. Wie schon gezeigt wurde, konzipiert Hayek den Markt als eine spontane Ordnung, die dann verzerrt wird, sobald eine staatliche Intervention ihre Kreisläufe und Mechanismen bestimmt. Die Unvorhersehbarkeit der Marktresultate ist für den Menschen jedoch nicht nur eine mögliche Bedrohung, sondern fungiert vor allem als permanente Aufforderung, sich marktkonform zu verhalten. Aus diesem Grund ist die neoliberale ökonomische Theorie auf ein Verhaltensmodell angewiesen, das auf die Rationalität des selbständigen Unternehmers hinweist. So ist für Hayek »die dank ihrer Mittel unabhängige Persönlichkeit, der Mann, der es sich leisten kann, viel zu versuchen, was die herrschende Meinung als unnötig empfindet, der nicht einen schon bestehenden Bedarf befriedigt, sondern mit neuen Ideen oder mit neuen Wünschen experimentiert, … wahrscheinlich auf ausserwirtschaftlichem Gebiet noch wichtiger als auf dem wirtschaftlichen.« 23
Diese neoliberale Lehre des ›entrepreneurship‹ liefert aber nicht nur ein theoretisches Modell zur Erklärung des Markterfolges oder dessen Prozessualität. »Indem sie den wirtschaftlichen Erfolg auf spezifische Handlungstypen zurückführt, präsentiert sie zugleich ein normatives Modell der Lebensführung.«24 Der Unternehmer wird so – von seinem funktionalen Status befreit – zum Existenzmodus der neoliberalen Gesellschaft, die darin zugleich den Weg zu einer ›Kultur des Unternehmens‹ beschreitet.
22 | B RÖCKLING, U LRICH. Unternehmer. In: U LRICH B RÖCKLING/S USANNE K RASMANN/ THOMAS L EMKE (Hg.). Glossar der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 272. Siehe auch B RÖCKLING, U LRICH. Das unternehmerische Selbst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 23 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Das Individuum im Wandel der Wirtschaftsordnung. In: D ERS. Rechtsordnung und Handelsordnung. Aufsätze zur Ordnungsökonomik Tübingen: Mohr Siebeck 2003. S. 162 – 167. Hier S. 167. 24 | BRÖCKLING, U LRICH. Unternehmer. In: ULRICH BRÖCKLING/SUSANNE K RASMANN/THOMAS L EMKE (Hg.). Glossar der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 274.
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Um also das Konzept des ›homo oeconomicus‹, wie es in der neoliberalen Wirtschaftstheorie als analytisches Raster für die Entzifferung der Realität gebraucht wird, behandeln zu können, ist es notwendig, auf einen anderen Stützpfeiler dieser Konzeption hinzuweisen, und zwar auf einen Stützpfeiler, der mit dem Konzept des ›Unternehmers seiner selbst‹ erkenntnistheoretisch konvergiert und so dem ›homo oeconomicus‹ ein scheinbar stabiles theoretisches Fundament sichern soll: das Humankapital. Dieses taucht als theoretisches Element in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Umkreis der Chicagoer Schule auf. Er bildet, diskursanalytisch gesprochen, ein ›diskursives Ereignis‹, das auf die historisch-diskursiven Gründe seines In-Erscheinung-Tretens und seines Wahr-Sagens verweist. Die Verfolgung dieses Pfades ermöglicht aufschlussreiche Informationen sowohl über das neoliberale Verständnis des ›homo oeconomicus‹ als auch über seine ideologische und machttheoretische Verwendung, um in Politik, Ökonomie, Kultur und Gesellschaft ein neues Paradigma hegemonial etablieren zu können. Nicht nur die Kategorie des ›Kapitals‹, wird dabei einem modifizierten Verständnis unterstellt, auch die Klassen verschwinden in einer Unübersichtlichkeit der Begriffe. Unternehmer ist nicht nur, wer über Produktionsmittel verfügt, sondern jeder einzelne Mensch wird nun, insofern er über ihm eigenes Kapital – Kompetenzen, Fähigkeiten, Kreativität – verfügt, zum Unternehmer seiner selbst, zum ›Arbeitskraftunternehmer‹. Die Konzeption des Humankapitals basiert also zunächst auf einer Erweiterung des klassischen Kapitalbegriffs. Erst mit dessen Ersetzen durch die einfache Relation auf Einkommen ist es überhaupt möglich, die Arbeitskraft selbst als eine Form des Kapitals zu betrachten. Diese theoretischen Umbrüche und semantischen Modifikationen tauchen erst innerhalb der neoliberalen Theorie auf und können als genuin neoliberale Konzepte25 verstanden werden. Ausser dem Kapitalbegriff verändert sich die gesamte Betrachtung des ökonomischen Prozesses und insbesondere das Verhältnis von Arbeit und Konsum. Wie bereits erwähnt, wird Arbeit im neoliberalen Diskurs nicht als eine abstrakte Grösse begriffen, die sich in Konzepten der Abschöpfung (von Kraft und Zeit) oder der Übertragung (von Wert) analysieren lässt. Vielmehr wird mithilfe des ›Humankapital‹-Konzepts der Faktor Arbeit nicht mehr passiv registriert, sondern als konkret produzierte Entität verstanden, die selbst Folge eines weitgreifenden Investitionsprozesses ist. Jede Handlung und jede Entscheidung, die jemand trifft, sind innerhalb dieser neoliberalen Optik immer nur Investitionstätigkeiten für sein Humankapital. Entsprechend sollen sie auch den Anforderungen des 25 | Vor allem in den Arbeiten von Theodore W. Schultz und Gary S. Becker erfahren diese Umbrüche und Modifikationen eine theoretische Fundierung. Siehe hierzu: S CHULTZ, THEODORE W. In Menschen investieren. Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität. Tübingen: Mohr Siebeck 1986. B ECKER, G ARY S. Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Tübingen: Mohr Siebeck 1993.
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Marktes angepasst werden, damit das Humankapital über die Arbeit, respektive die dadurch verbesserten Kompetenzen auch ein grösseres Einkommen erzielen kann, welches wiederum als Investitionskapital ins eigene Selbst verwendet werden soll. Die Arbeit wird somit als ein »praktiziertes ökonomisches Verhalten«26 untersucht und theoretisiert. Mit der veränderten Perspektive auf die Arbeit wandelt sich also zugleich auch das Verständnis des Konsums. Ermöglichte dieser für den klassischen Liberalismus noch die Rehabilitierung des Vergangenen und manifestierte sich entsprechend im Begriff der ›Reproduktionskosten‹, erscheint er nun nicht mehr als Sinnbild der Erneuerung entäusserter Kräfte, sondern als produktive Grösse. Er wird zu einem Produktionsfaktor des Subjekts, zu einer Investition in das eigene ›Humankapital‹. Der Konsum ist somit nicht nur ein Verbindungskanal des Subjekts mit seiner Aussenwelt, sondern hauptsächlich eine Verhaltensweise, die auf die Vitalität und Produktivität des Humankapitals ausgerichtet ist. Die Menschen sollen gemäss der neoliberalen Sichtweise nicht nur als Unternehmer ihrer selbst subjektiviert werden, sondern sie sollen zugleich ihr Verhalten dem ›ökonomischen Tribunal‹ unterordnen, indem sie ihr Humankapital verwalten und es nach (Markt-)Möglichkeiten verbessern. Das Politische an dieser Konstellation liegt gerade in dieser Absicht, die Menschen als ›eigenkapitaldeckende‹ Konsumenten und Arbeitskraftunternehmer zu subjektivieren. Dies geschieht weniger durch die Produktion von gehorsamen und gelehrig-disziplinierten Individuen, sondern hauptsächlich durch die indirekte Aktivierung des Subjektes, sich als rationaler und kalkulatorisch agierender Unternehmer zu verhalten und so zum Manager seines eigenen Humankapitals werden. In den nach ökonomischen Prinzipien umgestalteten Feldern der menschlichen Interaktion und Sorge wird das einzelne Individuum daran ausgerichtet, sich unternehmerisch zu verhalten und so sein Leben und die Risiken, die es beinhaltet, nach nutzenmaximierenden und ökonomischen Kriterien zu kommodifizieren. Kommodifizierung benennt ja gerade den Prozess des ›Zur-Ware-Werdens‹ von Dingen. Mit der neoliberalen Umgestaltung des Sozialen nach ökonomischen Prinzipien und den hierfür politisch durchgesetzten Privatisierungs- und Deregulierungsmassnahmen staatlicher Leistungen und Rechtsfelder wird also die Warenform zur alleinigen Analysekategorie des Lebens, auch weil zunehmend alle möglichen gesellschaftlichen Felder und sogar das einzelne Individuum in unternehmerische Organisationen transformiert werden. Aus Menschen werden Unternehmer ihrer selbst, aus Universitäten Bildungskonzerne, aus Spitälern Gesundheitsanbieter und aus staatlichen Verwaltungen New Public Managements, die es nun nicht mehr mit Arbeitslosen, Rentnern oder Invaliden zu tun haben, sondern nur noch mit Klienten und Kunden. Diese neue Sprache von Angebot und Nachfrage, die sich in den Ritzen der gesellschaftlichen Interaktion einnistet, und die strukturelle Umgestaltung des Sozialen nach öko26 | F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 311.
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nomischen Kriterien beeinflussen notwendigerweise auch die Selbst- und Weltverständnisse der Menschen. Marktkonformes Denken und Handeln wird in der alltäglichen Praxis, in den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Apparaten und sogar in der Sprache angetroffen, verinnerlicht und so auch reproduziert. Der Markt und seine Logik sind allgegenwärtig und was die Menschen erblicken, ist seine offensichtliche Erscheinung: die Tauschsphäre. Hier gilt es, sich permanent als möglichst attraktives und knappes Gut zu präsentieren, um den unvorhersehbaren Marktdynamiken auch möglichst gerecht werden zu können. Ohne sich selbst aber, und zwar ohne sichtbaren äusseren Zwang, sondern vielmehr in Form der Selbstführung und -disziplinierung zu einer unternehmerischen Organisation zu verwandeln, droht der persönliche Bankrott. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass im Subjektmodell des neoliberal konzipierten ›homo oeconomicus‹ die Momente der ›Unsichtbarkeit‹ der Marktprozesse sowie die Figur des ›Unternehmer seiner selbst‹ und die damit verbundene Theorie des ›Humankapitals‹, die den Menschen als marktaktiven und marktbestimmten Manager seiner Kompetenzen verstehen, konvergieren. Das Spezifische an diesem Modell ist erneut ein paradoxes Spiel, das in der Möglichkeitsform schon das Präsens und den Imperfekt sichten will. Einerseits nämlich tritt das Modell als sozialer Imperativ auf und andererseits zielt es darauf ab, die proklamierte Realität erst herzustellen und beständig zu aktualisieren. Im Gegensatz zum klassischen Liberalismus, der den ›homo oeconomicus‹ als ein theoretisches Modell für die zugrundeliegende Konzeption eines Menschen des Tausches verstand, eines Menschen also, der aufgrund der Disparität zwischen seinen Wunscherfüllungen und seinen hierfür knappen Mitteln zur Realisierung all dieser Wünsche Interaktionen mit anderen Menschen eingeht, um so seine Ressourcen mittels des Tausches möglichst nutzenbringend allozieren zu können, verstehen die Neoliberalen den ›homo oeconomicus‹ nicht bloss als ein theoretisches Modell, sondern als die Verhaltensweise des Menschen, welcher nun nicht mehr als Aussenstehender in die Marktprozesse einschreitet, um bspw. etwas zu tauschen, sondern die Marktprozesse verinnerlicht haben muss, um sich selbst, also sein Humankapital entsprechend den Marktsituationen möglichst ideal managen zu können. Diese Konzeption beruht nicht mehr auf dem rein ökonomischen Prinzip der Maximierung, wie es die klassischen Liberalen verstanden, vielmehr integriert sie eine soziologisch-normative Dimension in das Verhalten der Subjekte, das dadurch zwingend auf die normative Konstruktion der Gesellschaft verweist: »Nicht ihr Zweck-gebundener [die Maximierung des eigenen Nutzens; A.M.], sondern ihr Regel-gebundener [Mensch als aktives Wirtschaftssubjekt, als ›Unternehmer seiner selbst‹; A.M.] Aspekt verbindet die individuellen Handlungen zu der Ordnung, auf der die Zivilisation beruht.« 27 27 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Die Sprachverwirrung im politischen Denken. In: D ERS. Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung. Aufsätze zur Politischen Philosophie und
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Die Komplexität der Realität reduziert sich also dadurch, dass der Mensch als ›homo oeconomicus‹, als Subjekt, das die Marktgesetze verinnerlicht hat, inmitten der Marktordnung, dessen Bestandteil er ist, nur ebendiesem Markt seine Aufmerksamkeit schenken soll, da in dieser Matrix auch alle gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen Aspekte des Lebens konvergieren. Der Markt als einzige Wahrheits-sagende Instanz bietet dem ›homo oeconomicus‹, seinem privilegierten Bewohner, nicht nur Informationen, die er aufgrund des Preismechanismus problemlos verstehen kann, sondern befreit ihn auch von Komplexitätsverdichtungen, die, wenn sie auch ausserökonomische Gebiete tangieren, über eine Territorialisierung des Marktes, über eine Ökonomisierung dieser Gebiete also, wieder in die Wahrheitsmatrix ›Markt‹ integriert werden und mittels seiner Sprechakte – über den Preismechanismus artikuliert – als verständliche Informationen wiedergegeben werden können. Das neoliberale Konzept des ›homo oeconomicus‹ überspannt aber auch diesen soziologischen Bogen. Indem die Perspektive des individuellen Subjekts übernommen wird, dessen Motive und Wahlakte untersucht werden, und indem sich die neoliberale Theorie nicht allein auf ein präskriptives Modell des rationalen Nutzenmaximierers verlässt, eröffnet sie zugleich einen Interventionsbereich zur Modellierung dieses Verhaltens und zur Einwirkung in dessen strukturierende Umgebung. Erst mit der neoliberalen Theorie, so Foucault, wird der homo oeconomicus zur »Schnittstelle zwischen der Regierung und dem Individuum«;28 er bildet also ein Modell, über das effektiv regiert werden kann, da es auf die neoliberale Regierungsrationalität, die als Führungs- und Selbstführungsmatrix funktioniert, und auf die Ökonomisierung des Sozialen und ihrer Felder der menschlichen Interaktion und Sorge, in denen diese Selbstregierung nach Marktprinzipien permanent angereizt wird, zugeschnitten ist. Das Verhalten der Individuen wird so in einem weit grösseren Masse der Umgebung zugeschrieben, als dies das Bild des klassischen ›homo oeconomicus‹ suggerierte. War der klassisch liberale ›homo oeconomicus‹ noch auf eine soziologisch-deskriptive Dimension des Tausches und der Maximierung des eigenen Nutzens reduziert, gewinnt der neoliberale Avatar seine Bedeutung in einer Situationsumgebung, die dem Wettbewerb nachgeordnet ist. »Wettbewerb ist … nicht zuletzt eine Methode, einen bestimmten Geistestyp zu erzeugen: die Geistesart der grossen Unternehmer würde nicht existieren, hätte es nicht die Umgebung gegeben, in der sie ihre Fähigkeit entwickelt haben.«29 Dieser Typ muss als AufTheorie. Tübingen: Mohr Siebeck 2002. S. 150 – 177. Hier S. 164. 28 | F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 349. 29 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Recht, Gesetzgebung, Freiheit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie. Bd. III.: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen. Landsberg am Lech: Verlag moderne Industrie 1981. S. 109.
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forderung verstanden werden, und zugleich – als ›Unternehmer seiner selbst‹ – ist er ein Rationalitätstyp, der nicht ist, sondern sein wird. Der neoliberale ›homo oeconomicus‹ ist damit nicht mehr tauschender Mensch, also Konsument, sondern hauptsächlich Unternehmer, und das heisst Produzent seiner selbst. Gefragt werden muss nun aber nach den gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen einer solchen theoretischen Repositionierung und Rekonzeptualisierung der Arbeit, die in der Figur des neoliberalen ›Unternehmers seiner selbst‹ münden. Wie aus den bisherigen Ausführungen ersichtlich, ist die Figur des Unternehmers eine zentrale Kategorie dieser neoliberalen theoretischen Anstrengung. Nicht nur soll mittels dieser Figur eine klassenkämpferische Semantik, in der gesagt wird, dass eine grosse Masse von Lohnabhängigen von einer dünnen und mächtigen Klasse von Kapitaleignern dem Preisdiktat des Marktwertes der Arbeitskraft unterworfen wird, unterbunden werden, auch gesellschaftspolitisch sollen durch Einschärfung eines unternehmerischen Bewusstseins in eigener Sache, durch eine ›Kultur des Unternehmers‹, grundlegende Veränderungen für das individuelle Selbstbewusstsein sowie gesellschaftspolitische Umstrukturierungen herbeigeführt werden. In der Figur des Unternehmers und der damit gekoppelten ›Kultur‹, respektive ›Gesellschaft der Unternehmen‹ manifestiert sich die Gestalt der neoliberalen Regierungsrationalität. Denn letztlich ist »das unternehmerische Selbst … nicht real und kein empirisch generierter Idealtypus. [...] Die Rhetorik, die sich mit ihm verbindet, zeigt die Richtung an, in welche die gesellschaftliche Realität verändert werden soll.«30 Das ›unternehmerische Selbst‹ ist eine Realfiktion, anhand welcher eine Politik ausgeübt werden kann, die sowohl auf das einzelne Individuum als auch auf das Ganze der Gesellschaft zielt. Dieser regierungstechnische Bezug auf das »omnes et singulatim«,31 diese neoliberal gefärbte pastorale Betrachtungsweise der Bevölkerung vollzieht sich auf zwei Ebenen. Mithilfe einer spezifischen Applikation des Machttypus ›(Selbst-)Regierung‹, die weniger mittels Zwang als mittels Selbstdisziplinierung und selbstauferlegter Zustimmung zur herrschenden Ordnung der Dinge funktioniert, werden die Menschen auf der einen Seite als ›Unternehmer ihrer selbst‹, als ›homini oeconomici‹ im neoliberalen Sinne, subjektiviert – als aktive Marktsubjekte für einen Marktkosmos also, der als schon bestehend impliziert wird, welcher aber erst durch die Produktion von ›Unternehmern‹ vollends realisiert und gestärkt werden kann. Die theoretischen Grund30 | K RASMANN, S USANNE . Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart. Konstanz: UVK 2003. S. 187ff. 31 | F OUCAULT, M ICHEL . Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Vorlesung 5 (Sitzung vom 8. Februar 1978) S. 173-201. Vor allem S. 191ff. Siehe auch F OUCAULT, M ICHEL . Die ›Gouvernementalität‹. In: U LRICH B RÖCKLING/S USANNE K RASMANN/THOMAS L EMKE (Hg.). Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 41-67.
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pfeiler des neoliberalen Weltverständnisses, der ›Unternehmer seiner Selbst‹ und der freie Markt, erweisen sich beide als Realfiktionen32. Auf der anderen Seite versucht die neoliberale Regierungsrationalität über die Matrix der ›Kultur der Unternehmer‹, eine grundlegende politische Reformatierung zu ermöglichen. Diese Reformatierung findet über eine Art indirekter Intervention auf die Umweltgegebenheiten der zu regierenden Entitäten – sei es das Subjekt oder der Markt – statt. Die neoliberale Regierungsrationalität mündet also nicht in den oftmals proklamierten ›Rückzug des Staates‹ oder in einen ›Anarchokapitalismus‹, sondern in eine aktive bzw. aktivistische Politik. Prima ratio dieser Regierungsrationalität ist ein Regieren im Namen der ›Kultivierung‹ des Marktes. Denn insofern weder der Unternehmer noch der Markt als natürliche Gegebenheiten wahrgenommen werden, ist deren Status immer ein prekärer und somit einem permanenten Umsorgen unterstellt. Unternehmer und Markt bilden somit eine unerreichbare Projektionsfläche des Regierungshandelns, indem sie als Erfolgsgaranten deren Wahrheit bezeugen. Die neoliberalen Regierungseingriffe verfolgen also nicht eine punktuelle Politik, wie das etwa die wohlfahrtsstaatlichen Regierungen bis in die 1970er Jahre hinein mit einer keynesianisch geprägten antizyklischen Regierungslogik verfolgten, sondern vielmehr eine allgemeine und dauerhafte Regierbarmachung der Gesellschaft. Auch im Vergleich mit der klassischen liberalen Konzeption der Regierung geht es der neoliberalen Regierungsrationalität also nicht mehr darum, zwischen Feldern der Intervention und der Nicht-Intervention zu unterscheiden, die den Staat in der Funktion eines Nachtwächters konzipierten, welcher bloss die Zonen der Sicherheit abstecken und garantieren musste, um die wirtschaftliche Sphäre einem ungehinderten ›Laissez-faire‹ zu überlassen, sondern um eine permanente Regierungstätigkeit, die permanent ›produziert‹. Während also die klassische liberale Konzeption von einer irreduziblen Beschränkung der Regierungsmacht ausging, um die Freiheit des Menschen vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht unangetastet zu lassen, definiert sich die neoliberale Regierungsweise durch das Regieren über ein gewisses Moment an Freiheit. Fern davon, Freiheit durch Einschränkung der Regierungsmacht zu garantieren, will eine neoliberale Regierungsform Freiheit unablässig produzieren. Das Problem für den Neoliberalismus besteht also im Unterschied zum Liberalismus vom Typ Adam Smiths nicht darin, wie man innerhalb einer schon gegebenen politischen Gesellschaft einen Freiraum des Marktes abgrenzen und einrichten könnte. Vielmehr dreht sich die neoliberale Sorge um das Problem, wie man die globale Ausübung politischer Macht anhand von marktwirtschaftlichen Prinzipien regeln kann. »Es geht also nicht darum, einen freien Raum zu schaffen, sondern die formalen Prinzipien einer Marktwirtschaft auf die allgemeine Regierungskunst zu beziehen oder abzubilden. 32 | Siehe auch B RÖCKLING, U LRICH . Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. S. 35-38.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus [...] Der Neoliberalismus stellt sich also nicht unter das Zeichen des Laissez-faire, sondern im Gegenteil unter das Zeichen einer Wachsamkeit, einer Aktivität, einer permanenten Intervention.« 33
Was sich hier also zeigt, ist Wilhelm Röpkes Konzeption eines »positiven Liberalismus«, eines Liberalismus der interveniert. Ihm zufolge macht die Freiheit des Marktes und die hierfür notwendige Bedingung der Freiheit der Marktteilnehmer eine aktive und äusserst wachsame Politik notwendig.34 Beide Freiheiten müssen also permanent durch Regierungstätigkeiten, die aber nicht als auferlegte Zwangsdiktate, also direkt auf die zu regierenden Sphären wirken, sondern als Anreize und Aufforderungen und somit über indirekte Regierungsinterventionen aktiviert werden sollen, produziert werden. Das, was also noch nicht in seiner Vollständigkeit realisiert ist – der freie Markt etwa oder das ›unternehmerische Selbst‹ –, muss, damit es politisch durchgesetzt werden kann, als Gegebenes vorausgesetzt werden, so dass sich alles andere ihm füge. Der Operationsmodus der neoliberalen Regierungsweise ist also eine Form der indirekten Einflussnahme, eine ›Führung der Führungen‹, deren vereinzelte Interventionen auf resonanzfähige, d.h. rationalisierbare Subjekte, also ›homini oeconomici‹, angewiesen sind. Ihre Wirksamkeit hängt zugleich von dem ab, was von ihr als gesellschaftliche Norm proklamiert wird – eine Norm, die aufgrund ihrer Unabdingbarkeit für die neoliberale Regierungsweise von einer aktiven politischen Tätigkeit permanent plausibilisiert werden muss. Wenn der Markt also, wie Hayek immer wieder betont, die einzige Instanz des Wahr-Sagens ist und die Menschen sich entsprechend dieser Wahrheitsmatrix als Produzenten ihrer selbst verstehen und verhalten sollen, dann verändert sich auch der Begriff der Norm. Dieser ist nicht mehr ein von einer souveränen politischen Gewalt vorformuliertes Ideal, das zur Messung von Abweichungen und zur »disziplinarischen Normalisierung«35, respektive ›Dressur‹ von Subjekten herangezogen wird. Vielmehr ist es ein unstabiler und fragiler Zustand, der vom wahr-sagenden Markt immer wieder neu ›gesprochen‹ wird. Diese Sprache findet also ihren Anknüpfungspunkt nicht mehr in der souveränen Macht einer menschlich konstruierten Institution wie Regierung oder Parlament, sondern in den undurchschaubaren Niederungen des Marktes. Während die erste Sprache 33 | F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 187, 188. 34 | RÖPKE, W ILHELM . Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. Erlenbach/Zürich: Rentsch 1942. 2. Teil, Kap. 3. S. 358. »Gerade die Freiheit des Marktes erfordert also eine äusserst wachsame Wirtschaftspolitik, freilich auch eine solche, die sich dieses Ziels und der sich daraus ergebenden Beschränkungen ihres Wirkungsfeldes wohl bewusst ist, mithin nicht die Grenzen überschreitet, die einem konformen Interventionismus gesetzt sind.« 35 | F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 89.
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ihre Grammatik an vorgesetzten Verhaltensmassregeln konstruierte und phonetisch hörbar machte, bezieht sich die zweite Sprache nicht mehr auf eine Grammatik der Normierung von Individuen, sondern auf eine Konzeption von Norm als das ›Normale‹. Erst was vom Markt mittels des Preismechanismus als wiederkehrende Regelhaftigkeit deklariert wird, wird auch als Norm, respektive als das ›Normale‹ definiert. Während eine Norm von einer Herrschaftsinstanz als Unterscheidungsschablone von Beginn an über die Bevölkerung gelegt werden kann, um dann disziplinarisch diejenigen, die aus den Leerräumen dieser Schablone fallen, identifizieren und der Norm entsprechend disziplinieren zu können, ist das marktspezifische Raster der Normalität etwas, das nicht von Beginn an – weil der Markt und seine Entwicklungen nicht vorhersehbar sind – von der Regierung auf die Bevölkerung gelegt werden kann, sondern ein Raster, das sich immer ex post zeigt und in seiner Dauerhaftigkeit auch als Instanz des ›Normalen‹ gilt. Die neoliberale Regierungsrationalität geht also nicht von einem von vornherein feststehenden Raster aus, an welchem sie ihre Bevölkerungen messen und mittels disziplinarischer Interventionen anpasst. Im Gegenteil, sie hält permanent ihr Ohr für das unverständliche Rauschen des Marktes offen, um das erste hiervon verstandene Wort alsbald als das ›Normale‹ zu suggerieren und mittels indirekter Regierungsinterventionen für die einzelnen Subjekte auch als solches zu definieren. Im Glauben an eine zunehmende Prosperität durch freie Marktdynamiken interveniert eine neoliberale Politik also in die Gesellschaft, indem sie die Felder der menschlichen Interaktion durch Privatisierung und Deregulierung den ökonomischen Prinzipien von Angebot und Nachfrage, Effizienz und Profitstreben anpasst. Dass damit aber auch das menschlichen Zusammensein, der Sinn für die kollektive Sorge und die politischen Konzepte der Demokratie und des Rechts, die hierfür als Deckmantel dienen, eine Umkodierung verlangen, ist naheliegend.
2.3 D EMOKR ATIE UND R ECHT Die neoliberale Reformulierung und Rekonzeptualisierung der Begriffe Arbeit und Kapital einschliesslich der dahinter liegenden Intentionen, das politische Geschehen auf die ›Kultivierung‹ des Marktes zu eichen, positionieren nicht nur den Menschen auf eine ausschliesslich von ökonomischen Denkmustern tarierte Subjektivierungswaage, sondern operieren auch mit einer dem neoliberalen Paradigma entsprechenden Rechts- und Demokratiekonzeption. Während sich im demokratischen Selbstverständnis der Moderne die Überzeugung durchgesetzt hat, dass nur diejenigen Gesetze legitim sind, die aus der Entscheidung der von ihnen Betroffenen resultieren, gibt die neoliberale Theorie andere Kriterien an die Hand, um Recht und Demokratie definieren zu können. Die Regeln und Normen des menschlichen Zusammenlebens werden dabei nicht – wie es der modernen Auffassung entspricht – von der Sphäre der gemeinsamen politischen
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Entscheidungsfindung, also von einer menschlich etablierten Ordnung abhängig gemacht, sondern von einer Sphäre, die nicht aus bewusstem menschlichen Handeln hervorgeht: vom Markt. Zur Illustration dieser ideologischen Neupositionierung von Demokratie und Recht ist eine Gegenüberstellung mit einer klassischen Vision des Demokratischen, wie sie Jean Jacques Rousseau vorschlug, hilfreich. Damit werden nicht nur die Unterschiede zwischen einer auf menschlicher Vernunft basierenden politischen Ordnung und ihrer neoliberalen Gegenkonzeption deutlich, sondern auch die grundlegende Neukodierung und Aushöhlung moderner demokratischer Grundwerte. Das, was Rousseau die »volonté génerale« nannte, wird in der neoliberalen Theorie aus der Sphäre der bürgerlichen politischen Auseinandersetzung in die selbstläufige Sphäre des Marktes verschoben. Rousseau ging von der Prämisse aus, dass »kein Mensch natürliche Herrschaft über einen anderen besitzt und weil Stärke kein Recht schafft, bleiben also die Übereinkünfte als Grundlage aller rechtmäßigen Autorität zwischen den Menschen.«36 Für Rousseau ist also die einzig wahre und der menschlichen Natur angemessene Regierungsform eine, die auf die Selbstgesetzgebung ihrer Mitglieder auf baut. Der Mensch, so Rousseau, besitze nicht nur Vernunftfähigkeit, sondern auch natürliche Rechte, die ihm von keinem Menschen genommen werden dürfen und die der Einzelne auch nicht freiwillig abtreten dürfe, da dies nicht nur der menschlichen Natur widerspräche, sondern er in der Folge auch nicht mehr ein Mensch wäre. »Auf seine Freiheit zu verzichten bedeutet, die menschlichen Eigenschaften, die Menschenrechte und sogar -pflichten aufzugeben. Für den, der auf alles verzichtet, ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist mit der Natur des Menschen unvereinbar.«37 Wenn der Mensch also frei geboren wird, aber überall in Ketten liegt,38 dann widerspricht diese Situation nicht nur der menschlichen Natur, sondern der Natur der menschenspezifischen Regierungsform. Erst wenn der Mensch also im Besitze seiner Freiheit ebendiese durch seine Beteiligung an der kollektiven Selbstgesetzgebung der Gemeinschaft, deren gleichberechtigter Mitglied er von Natur aus ist, verteidigt, gewinnt der Mensch nicht nur seine bürgerliche Freiheit, sondern wird auch Element einer ihn übersteigenden, aber von ihm geprägten und somit ihn einschliessenden Kollektivität. Zwar darf er nicht mehr seine natürliche Freiheit, also das unbeschränkte Recht auf alles, was er anstrebt und erreichen kann, ausüben, dafür gewinnt er aber die qualitativ höherwertige bürgerliche Freiheit. Sein egoistischer Wille wird dadurch in einen qualitativ höheren und kollektiven Willen eingespeist. Qualitativ höher ist der so entstehende Gemeinwille dadurch, 36 | R OUSSEAU, J EAN JACQUES. Vom Gesellschaftsvertrag oder Die Grundlage des politischen Rechts. Frankfurt a.M. Leipzig: Insel 2000. S. 17. 37 | Ibid. S. 19. 38 | Ibid. S. 12.
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dass der Mensch nicht nur Bürger wird, sondern, indem er denjenigen Gesetzen Folge leistet, die er sich selber gegeben hat oder an denen er aktiv mitgewirkt hat, auch die sittliche Freiheit gewinnt, welche »allein den Menschen wirklich zum Herren seiner selbst macht, denn der Antrieb des blossen Begehrens ist Sklaverei.«39 Der Gemeinwille, dieser politische Modus operandi, der auf einem Vernunftprinzip basiert, aus welchem die dadurch formulierten Gesetze befolgt werden, weil sie als vernünftig einsichtig erscheinen und somit befolgt werden wollen, als bloss mit Gehorsam begegnet werden müssen, ist also ein kollektiver Wille, der auf das gemeinsame Interesse achtet. Somit ist er von der »volonté de tous«, vom Willen aller zu unterscheiden, welcher den Willen aller bezeichnet, das eigene private Interesse zu verfolgen, und somit nichts anderes wäre als die Summe der individuellen Wünsche. 40 Diese Übereinkunft aller gleichberechtigten Mitglieder zu Gesetzesaussagen, die sie alle als einsichtige und vernünftige Individuen wollen, dieser gesellschaftliche Vertrag zwischen Freien, die ihre Freiheit qualitativ stärken wollen, dient auch als Grundlage von Gleichheit. Fern davon, die natürliche Gleichheit der Menschen zu zerstören, »setzt der grundlegende Vertrag im Gegenteil eine sittliche und gesetzmässige Gleichheit an die Stelle dessen, was die Natur an dinglicher Ungleichheit zwischen die Menschen gelegt hat, und wo diese an Kräften oder Begabung ungleich sein können, werden sie durch Übereinkunft und Recht alle gleich.« 41
Für Rousseau ist also die Gleichheit, die die Menschen schon von Natur aus haben, da sie von Natur aus alle frei sind, eine, die mittels des Gesellschaftsvertrages, also mittels der vernunftgeleiteten und -sanktionierten selbstgesetzgeberischen Übereinkunft zwischen freien Gleichen, eine höhere Qualität erreicht. Nicht nur die Resultate der Selbstgesetzgebung kleiden die Menschen mit einer qualitativ höheren Gleichheit aus, die nun eben von einem Gemeinwillen sanktioniert und veredelt ist und nicht bloss im fragilen Naturzustand den Menschen anhaftet, auch der Prozess dieser Gesetzgebung lässt die politisch interagierenden Bürger in actu sozusagen sich ihrer jeweils anderen und nächsten als Gleiche bewusst werden. Der neoliberale Paradigmenwechsel scheint nun auch dieses rousseausche Konzept zu verwenden, es aber grundlegend neu zu kodieren und so auch zu verfälschen und in letzter Absicht auch abzuschaffen. Die Freiheit des Menschen ist gemäss den Neoliberalen weiterhin die Freiheit, seine Wünsche und Ziele mittels der je eigenen Willensausrichtung zu erreichen. Der latente Kriegszustand, der mit dieser Freiheit einhergeht und der von Rousseau mittels einer übergeordne39 | Ibid. S. 33. 40 | Ibid. S. 43. 41 | Ibid. S. 37.
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ten und qualitativ hochwertigeren Freiheit pazifiziert wurde, wird nun auf einer anderen, nicht vom Menschen konstruierten Ebene entschärft. Es ist der Markt, welcher die Wünsche und Ziele der je einzelnen Personen realisiert oder auf eine ferne Zukunft vertröstet. Entsprechend haben also diejenigen Personen die besseren Chancen zur Realisierung ihrer Wünsche, die ihre Kapazitäten und Fähigkeiten, ihr Humankapital also, so ausbauen, respektive managen, dass es vom Markt auch einen positiven Rückkopplungseffekt produziert. Einzig auf der Ebene der Marktakteure sichten Neoliberale also, um weiterhin das rousseausche Vokabular zu verwenden, die »volonté de tous«. Die Menschen sind rationale Akteure, die auf ihre Umgebung achten und diese nach Möglichkeit zu ihrem eigenen Vorteil verändern. Sie verfolgen also immer nur einen egoistischen und auf Nutzenmaximierung ausgerichteten Willen. Der rousseausche Gemeinwille hingegen, die »volonté génerale« wird im Wahrheits-sagenden Orakel Markt gesehen. Hier verdichtet sich in den Augen der Neoliberalen der Gemeinwille, derjenige Wille also, der über den Köpfen der einzelnen Individuen waltet, ihnen ihren Platz in der Gemeinschaft zuweist und sie ständig zur Teilnahme auffordert. Nur sind diese Teilnehmer nicht darauf bedacht, einen Gesetzeskorpus durch Selbstgesetzgebung zu errichten und aufgrund des Vernunftprinzips auch zu wollen. Vielmehr sind die Gesetze schon im Markt enthalten, für den Menschen undurchschaubar und somit auch nicht veränderbar – und einzig über den Preismechanismus für das beschränkte menschliche Wesen einsehbar. Es ist also der Markt, welcher in der Konzeption der Neoliberalen so etwas wie einen nicht sanktionierbaren und -fähigen Gemeinwillen darstellt, der allen sowohl die Freiheit zu partizipieren – als marktaktive Subjekte, die sich als personifizierte Unternehmen verstehen sollen, um überhaupt erfolgreich teilnehmen zu können – als auch die Gleichheit der Teilnahme garantiert. Die Regierung soll diesem Gemeinwillen entsprechend auch nicht in seine Mechanik eingreifen, denn das wäre nicht nur die Anmassung eines besseren Wissens, sondern die unlogische Einrichtung eines ›gemeineren‹ Willens. Zudem soll sie den Willen aller, also die individuellen Willensausrichtungen, so stimulieren und anreizen, dass diese sich dem Gemeinwillen fügen. Alle haben also das Recht, ihren Einzelwillen in die grosse allgemeingültige Transformations- und Rechenmaschine ›Markt‹ hineinzuwerfen. Alle partizipieren somit am anonymen Gemeinwillen, der sich durch die Preisansagen manifestiert und dadurch auch bestraft, sanktioniert oder belohnt. Zu fragen ist jedoch, wie die Rechtsverfassung eines solchen Staates im Sinne der Neoliberalen aussieht und wer für den Fall, dass die Selbstgesetzgebung und die damit einhergehende ›Anmassung von Wissen‹ auch gegenüber der ökonomischen Sphäre des Tausches und der Investition von den Neoliberalen nicht gutgeheissen wird, dann das Recht definieren und woraus es sich schöpfen soll, wenn die rousseausche Variante einer Gemeinschaft von freien Gleichen, die als vernünftige und einsichtige Bürger sich diejenigen Gesetze geben, die sie auch gewillt sind zu befolgen, weil sie diese Gesetze aus vernünftiger Einsicht auch wollen, von den Neolibe-
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ralen mit dem Argument der Wissensanmassung über die undurchschaubaren Verläufe des Marktes niedergeschmettert wird, wie der Rechtsstaat also in den Augen der Neoliberalen aussieht und was dies mit der wiederkehrenden Notion von Wissen zu tun hat. Erneut ist es Friedrich August Hayek, der dieser Thematik die grösste Aufmerksamkeit innerhalb der neoliberalen Gilde schenkt. Wie aus den Ausführungen deutlich wurde, ist das Grundmotiv für die Ausgestaltung von ›law and order‹ der Konflikt zwischen zwei Ordnungen. Der Markt als spontane Ordnung lässt sich nicht konstruieren, vielmehr ist er schon oder, um genauer zu sein, soll seine Wesenheit als gegeben vorausgesetzt werden, damit sie auch wirklich von den Regierungen und den Individuen als solche akzeptiert und ihm entsprechend mit marktkonformen Handlungen begegnet und er in diesem Vollzug auch realisiert wird. Die zweite Ordnung hingegen, eine von gleichberechtigten Individuen durch Selbstgesetzgebung etablierte, ist eine menschliche Schöpfung, ein Produkt menschlicher Vernunft, letztlich das, was epistemologisch unter dem Begriff der ›demokratía‹ verstanden wird. Hayek schlägt sich aber offenbar auf die Seite der ersten übermenschlichen Konzeption, womit auch die Verankerung seines Denkens in vormodernen und vordemokratischen Traditionen offenbar wird. Seiner Meinung nach ist der Allmachtsanspruch des modernen demokratischen Staates illegitim. Seine in der Aufklärung wurzelnden philosophischen Grundlagen kritisiert der österreichische Denker als konstruktivistischen Rationalismus. Unter diesem Begriff versteht Hayek die seiner Auffassung zufolge falsche Überzeugung, dass Institutionen, die das menschliche Zusammenleben regeln, im klaren Wissen um ihre Wirkungen so konstruiert werden könnten, dass diese Wirkungen den zugrunde gelegten Absichten entsprechen, sowie die daran anknüpfende und aus Hayeks Sicht ebenso falsche Überzeugung, dass diejenigen Institutionen, die die gewählten Ziele nicht erreicht hätten, durch andere ersetzt werden könnten. Hayek glaubt schlichtweg nicht an den durch das Vernunftprinzip strukturierten rechtlichen Rückkoppelungseffekt der Selbstgesetzgebung, wie er etwa von Rousseau dargestellt wurde. Vielmehr setzt er sein Vertrauen in eine höhere Weisheit als in die Vernunft der Menschen. Zu klären ist, ob dies nun heisst, dass Hayek die Demokratie schlechthin ablehnt. Das kann so nicht bejaht werden, denn was er ablehnt, ist nur deren ›Dekadenz‹. Hierfür operiert er mit einem engen Liberalismusbegriff, den er im Sinne der Beschränkung von Regierungsgewalt als eine Lehre über den zulässigen Inhalt der Gesetze bezeichnet. Demokratie hingegen wird von Hayek als dasjenige Verfahren verstanden, in dem bestimmt wird, was als Gesetz zu gelten hat. 42 Weil Demokratie in Hayeks Verständnis kein hinreichendes Kriterium für gute Politik ist, kann auch ihre Expansion, sowohl hinsichtlich der wahlberechtigten Teile der 42 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. S. 138f.
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Bevölkerung als auch hinsichtlich der Angelegenheit über die demokratisch entschieden wird, nicht als erstrebenswertes Prinzip erachtet werden. Die Gleichheit vor dem Gesetz erfordert nicht, dass alle Erwachsenen auch wahlberechtigt sind, so dass zu klären ist, wer und anhand welcher Kriterien nun aber an der eingeschränkten kollektiven Entscheidung teilnehmen dürfen soll, wer über zulässige und unzulässige Gesetze entscheiden und wer dem Liberalismus als der hierfür zuständigen Lehre in der Demokratie zum Durchbruch verhelfen soll. Hayek liebäugelt diesbezüglich mit einer Elitenherrschaft. Es sollen Menschen sein, deren Weisheit höher ist als die Weisheit, die in Mehrheitsentscheidungen zum Ausdruck kommt. Konkret schlägt Hayek ein exklusives Wahlrecht für Menschen über vierzig, Haushaltsvorstände und Landbesitzer vor, also nur solche Leute, die wohlhabend und zugleich reiferen Alters sind. Diese Vertreter einer höheren Weisheit sollen sich nicht mit der Lösung spezifisch politischer Probleme befassen, sondern vielmehr allgemeine Prinzipien formulieren, die dazu bestimmt sind, die Grenzen zu definieren, die die Politik bei der Lösung ihrer Aufgaben nicht überschreiten darf – die also, kurz gesagt, dafür sorgen, dass die Politik nicht in die Marktmechanismen eingreift. 43 Offensichtlich sollen solche Menschen diese ›Weisen‹ wählen, die angeblich auch über ein höheres Wissen verfügen und sozusagen aus ihren eigenen Reihen die Geeignetsten aussuchen können. Die restliche Bevölkerung, da eine Demokratie auf Mehrheitsentscheiden beruhen muss, dürfe sich dann mit der Wahl der Regierung befassen. Unklar ist dabei jedoch noch, weshalb die Weisen, die nur von einem ›wissenderen‹ Teil der Bevölkerung gewählt werden dürfen, aufgrund der offensichtlichen Relevanz die ihnen zukommt, nicht gleichzeitig die Regierung bilden sollen, welche wiederum vom Rest der Bevölkerung gewählt wird. Hayek löst die anscheinende Paradoxie mit einer Umstrukturierung der Gewaltenteilung. Die Elite, welche eine eigene Kammer bildet, soll sich mit der »echten Gesetzgebung« befassen, derjenigen also, die dafür sorgt, dass der Liberalismus im hayekschen Sinne in der Demokratie nicht nur gewahrt, sondern mittels einer entsprechend ›zugeschneiderten‹ Gesetzgebung auch in Einklang mit der ›höheren Weisheit‹ des Marktes gebracht wird. Diese Kammer bildet dann einerseits sozusagen die Gilde der Siegelwächter über die neoliberale Demokratie und somit auch – obwohl sie nicht die Regierung darstellt – die einflussreichste exekutive Entscheidungsgewalt. Das restliche Volk andererseits dürfe eine Kammer wählen, die sich um die »eigentliche Regierungsaufgabe« kümmert und sich an den vorübergehenden Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert, die also, ohne die grundlegende Ordnungsstruktur der so errichteten Demokratie zu tangieren, politische Tagesgeschäfte betreiben würde. Die echte Legislative, die wahre gesetzgebende Gewalt also, dürfe, damit diese Demokratie auch funktions-
43 | Ganzer Absatz nach: H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. S. 135-151.
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fähig wäre, in den Augen Hayeks nur von einem Teil der Bevölkerung gewählt werden. 44 Hayeks politisches Ziel dieser Demokratietheorie ist wiederum von seinem Skeptizismus gegenüber dem, was er konstruktivistischen Rationalismus nennt, und von der Gegenüberstellung von Liberalismus und Demokratie geprägt. Die von Menschen geschaffene Ordnung, die Demokratie im herkömmlichen Sinne, soll in Schranken gehalten werden, so dass die nicht von Menschen geschaffene Ordnung – der Markt und der sich nach ihm richtende Liberalismus – ihre Wirkung auf Mensch und Gesellschaft entfalten kann. Die erste Ordnung wird durch menschliche Selbstbestimmung errichtet und ist somit in Hayeks Augen fehlerhaft, weil sie ein Wissen um die Gestaltung der Marktkreisläufe vorauszusetzen vorgibt, die sie gar nicht haben kann. Die zweite hingegen bildet eine Ordnung, die den freien Markt garantiert, stabilisiert und ihn vor Interventionen schützt. Damit ist auch Hayeks politisches Spektrum erkennbar, das nicht auf der Dichotomie links/rechts auf baut, sondern einzig im Gegensatz liberal/antiliberal seinen Ausdruck findet. Die Unterscheidung links/ rechts bezeichnet für Hayek nichts anderes als einen internen sozialistischen Konflikt und macht für ihn entsprechend auch keinen Sinn. »Wie wir zu zeigen hoffen, ist der Konflikt zwischen der ›Linken‹ und der ›Rechten‹ … in Deutschland von jener Art, wie er immer zwischen rivalisierenden sozialistischen Parteien ausbrechen wird.« 45 Und weiter betont er, dass »der Gegensatz zwischen den Faschisten oder Nationalsozialisten und den älteren sozialistischen Parteien in der Tat weitgehend als ein Gegensatz aufgefasst werden [muss], wie er sich zwischen rivalisierenden sozialistischen Parteien einstellen muss.« 46 Nicht umsonst widmet Hayek sein Werk »Weg zur Knechtschaft« auch den »Sozialisten aller Parteien«. Was diese, ob sie nun links oder rechts stehen, auszeichnet, ist nichts anderes als ihre Respektlosigkeit vor dem Markt, weil sie zu wissen vorgeben, wie dieser einem vorgegebenen Ziel entsprechend gestaltet werden müsse. Liberal ist eine Ordnung also nur dann, wenn ihre Regierung nicht in die Marktdynamiken eingreift und nur so Freiheit ermöglichen kann. Jeder menschliche Eingriff in die Sphäre des Marktes kommt somit einer Zerstörung seiner Dynamik und Entfaltung – letztlich seiner freiheitsgarantierenden Funktion – und somit auch einer Zerstörung des Liberalismus, wie ihn Hayek versteht, gleich. Insofern der Markt also von niemandem gelenkt werden kann und auch von niemandem kontrolliert werden kann, kann er auch niemanden be44 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Recht, Gesetzgebung, Freiheit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie. Bd. III.: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen. Landsberg am Lech: Verlag moderne Industrie 1981. S. 111-117. 45 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Der Weg zur Knechtschaft, Tübingen: Mohr Siebeck 2004. S. 11. 46 | Ibid. S. 104.
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vorzugen und nur so für gleiche Freiheit garantieren. Ungerechtigkeit wäre somit ein Begriff, der nicht nur nichts mit Liberalismus zu tun hat, sondern auch mit den Marktresultaten nicht in Einklang zu bringen wäre, denn Ungerechtigkeit würde nur dann vorliegen, wenn den Marktresultaten und den damit verbundenen Verteilungsergebnissen eine Absicht zugrunde liegen würde, was aber nicht der Fall ist. Nur insofern also der Markt keine Absichten hegt, und das kann er nur, wenn keine menschlichen Interventionen ihn verändern, kann von ihm auch keine Gerechtigkeit erwartet werden. Die Ordnung, die Hayek vorschwebt, lässt sich also nicht erhalten, wenn sie im Namen der sozialen Gerechtigkeit den Menschen die Möglichkeit gibt, ausgehend von einem Meinungsbildungsprozess und durch Selbstgesetzgebung bspw. Umverteilungspolitiken im Entlohnungssystem einzuführen und so aufgrund der Bewertung der Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder einer politischen Autorität die Macht zur Umgestaltung der Marktmechanismen zu erteilen. 47 Hayeks Plädoyer gegen einen vom Prinzip der sozialen Gerechtigkeit motivierten politischen Eingriff in die Marktmechanismen beruht auf der allgemeinen Regel der Gleichheit und Gleichbehandlung aller Menschen. Dass durch die entfesselten Kräfte der Marktmechanismen aber auch krasse Ungleichheiten entstehen können, verneint Hayek nicht, dennoch beharrt er darauf, dass eine solche unbestreitbare Ungleichbehandlung der Menschen durch den Markt keineswegs einen Rechtsanspruch auf ein menschliches Gesetz rechtfertigt, das die Lage der Benachteiligten verbessert. Es ist für Hayek schlechthin absurd, vom Marktprozess Gerechtigkeit zu verlangen oder gar zu erwarten. Genauso ungerecht ist es aber auch, in einer Marktgesellschaft einigen Menschen einen Rechtsanspruch auf besondere Anteile zu billigen. Nur wenn der Markt auch wirklich von äusseren Einflüssen unbehelligt bleibt, kann er gemäss dieser Logik auch alle als gleiche Rechtssubjekte behandeln. Entsprechend ist es für Hayek auch sinnlos, den Begriff der sozialen Gerechtigkeit in einer Marktordnung anzuwenden. Denn sobald diese Ordnung im Namen einer sozialen Gerechtigkeit, also im Namen eines menschlichen Konstrukts – einem politisch ausgehandelten Entlohnungssystem etwa – unterworfen wird, das auf der Bewertung von Leistung oder Bedürfnissen durch eine politische Autorität beruht, lässt sie sich auch nicht mehr erhalten, im Gegenteil, sie führt gemäss Hayek zu Totalitarismus und Verarmung. 48 47 | H AYEK, FRIEDRICH AUGUST. Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit. In: D ERS. Wissenschaft und Sozialismus. Aufsätze zur Sozialismuskritik. Tübingen: Mohr Siebeck 2004. S. 186-197. Hier S. 190ff. 48 | »Der Versuch, durch eine Umverteilung der Einkommen eine ›gerechte‹ Verteilung der Einkommen zu erzielen, muss darum aus drei Gründen scheitern: Niemand weiss, und kaum zwei Menschen könnten sich darüber einigen, was eine gerechte Verteilung der Einkommen wäre; keine solche der Wirtschaft von Aussen auferlegte Einkommensskala könnte ohne totalitäre Beherrschung aller wirtschaftlichen Tätigkeit durchgesetzt werden; und die
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Hayeks Plädoyer gegen jeglichen politischen Eingriff in die Marktsphäre beruht also offenbar auf der allgemeinen Regel der Gleichheit und Gleichbehandlung aller Menschen, eine Gleichheit, die sie wohlverstanden nicht in ihrer Qualität als partizipierende Bürger innerhalb eines selbstgesetzgeberischen Prozesses gewinnen, sondern, sofern der Markt eben seinem freien Lauf überlassen wird, von Beginn an schon haben und die entsprechend auch keinen Qualitätszuwachs in einem rousseauschen Sinne benötigt, da dies nicht nur einen politischen Eingriff in die Marktsphäre bedeuten, sondern durch einen solchen Eingriff gerade auch die primordiale Gleichheit vor dem Markt zerstören würde. Somit lässt sich gemäss Hayek aus der unbestreitbaren Ungleichbehandlung der Menschen durch den Markt auch kein Rechtsanspruch auf eine die Benachteiligten bevorzugende Ungleichbehandlung durch das Gesetz herleiten. »Ungleichheit ist«, so Hayek, »nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig. Leider Gottes ist das Sozialprodukt nur da, weil Menschen nach ihrer Produktivität entlohnt und dorthin gelockt werden, wo sie am meisten leisten. Gerade die Unterschiede in der Entlohnung sind es, die den einzelnen dazu bringen, das zu tun, was das Sozialprodukt erst entstehen lässt.« 49 Die Ungleichheit, insofern sie für alle gleich ist, ist nicht nur ein konstitutiver Zug der neoliberalen Ideologie, sondern eine notwendige Antriebskraft zur angeblichen Wohlstandsvermehrung. Nicht nur spiegelt sich damit die Unparteilichkeit des Marktes wider, sondern auch seine gleichmachende Funktion. Alle können aufgrund ihrer Interessen und Wünsche am Markt partizipieren, aber nicht alle werden zur gleichen Zeit vom Markt mit den erwarteten Resultaten und Wunscherfüllungen belohnt. Die Idee einer solchen Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz des Marktes irritiert, weil sie nicht nur mit den modernen Prinzipien gleicher Rechte und individueller Autonomie kollidiert, sondern auch, weil sie bisher noch keine wissenschaftliche Bestätigung der These erbracht hat, dass nur ein von politischen Zugriffen freier Markt den Wohlstand für alle oder doch die meisten garantieren könne. Müssen überdies diejenigen, die aufgrund der ungleichen Verteilung von Wohltaten und Lasten durch den Markt zu den Verlierern zählen, ebendiesen performativen Sprechakt des Marktes als einzigem Garanten von Wahrheit, als einzigem vom Menschen unbefleckten Verteilungssystem, das der Mehrheit nützt, und somit dessen verheerende Ergebnisse akzeptieren, so kommt dies der Aufforderung gleich, sich selbst zum Mittel für die Zwecke anderer herabzustufen, was dem Gleichheitsprinzip widerspricht. Wenn der Markt zudem blind ist gegenüber seinen Teilnehmern, dann lässt sich auch das Argument nicht aufrechterhalten, dass der Markt mit seiner ungleichen Verteilung diejenigen belohnt, die sich Folge müsste eine starke und progressiv zunehmende Verminderung der Produktivität der Wirtschaft, das heisst Verarmung sein.« In: Ibid. S. 190. 49 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Ungleichheit ist nötig. Interview in Wirtschaftswoche. 6. März 1981. S. 36-40, hier S. 37f.
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mehr anstrengen, und die Faulen bestraft. Leistung wird innerhalb dieser Optik also nicht belohnt, was auch Hayek zugibt, wenn er betont, dass die Verteidiger der Marktordnung sich mit einem solchen Argument in eine Sackgasse begeben. Doch moniert er zugleich, dass es fraglich sei, ob die Menschen die vom Markt erzeugten Ungleichheiten auch dann akzeptieren würden, falls sie wüssten, dass sie nicht Verdienst und Versagen widerspiegeln.50 Das Belohnungsargument würde nur dann funktionieren, wenn von Beginn an das Wissen über die Anforderungen und Belohnungsprinzipien des Marktes bestehen würde und entsprechend nur diejenigen aus diesen Prinzipien Profit schlagen, die sich ihnen durch Leistung und Hingabe auch unterwerfen. Dies würde aber wiederum einer Anmassung von Wissen gleichkommen und das Marktkonzept so verändern, dass es eben nicht mehr einer höheren Weisheit entsprechen würde, sondern bloss ein menschliches Konstrukt wäre. Wenn aber der einzige für die Menschen verständliche Sprechakt des Marktes derjenige des Preismechanismus ist, welcher sich aus der Dynamik von Angebot und Nachfrage zusammensetzt, dann kann die effektive Leistung der Menschen ebenso wenig eine Bemessungsgrundlage sein wie ihr Bedürfnis. Über den marktwirtschaftlichen Erfolg eines Informatikers etwa entscheidet nicht primär seine Leistung, sondern die undurchschaubare Entwicklung der Nachfrage nach und des Angebotes an solchen Spezialisten auf dem Markt. Wenn keine Nachfrage da ist, kann sich dieser noch so sehr anstrengen, den Marktentscheid bezüglich seiner momentanen Unbrauchbarkeit wird er nicht umgehen können. Steht also fest, dass das Wohlergehen der Individuen nicht von ihren eigenen Leistungen und Entscheidungen abhängt, dann kann eine Korrektur der Marktordnung gerade im Namen ihres Anspruchs auf Autonomie gefordert werden.51 Hayeks Ausführungen verstricken sich auch andernorts in paradoxe Widersprüche. Wie bereits erwähnt, plädiert Hayek für einen Liberalismus, der allen Menschen die Freiheit, am Markt teilzunehmen, garantiert. Gemäss Hayek ist der Mensch als Marktakteur also berechtigt, Rechte zu haben. Darüber hinaus sollen die Menschen aber ebendiese Marktsphäre nicht durch positive, also selbstgesetzgeberische Prozesse und Entscheide tangieren, da die Freiheit des Einzelnen nämlich durch solche Eingriffe – etwa durch die von einer Gemeinschaft beschlossenen Umverteilungskoeffizienten – nicht mehr gewährt werde. Nur der Markt, welcher unparteiisch gegenüber seinen Teilnehmern auftritt, entsprechend auch keine Form der bewussten Bevorzugung bestimmter Bevölkerungsschichten gegenüber anderen ermöglicht, kann ein neutrales Feld darstellen, auf welchem alle gleich frei sind. Nicht nur erscheint hier aber Hayeks Votum zu50 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit. In: D ERS. Wissenschaft und Sozialismus. Aufsätze zur Sozialismuskritik. Tübingen: Mohr Siebeck 2004. S. 190. 51 | M ARTI, U RS. Demokratie. Das uneingelöste Versprechen. Zürich: Rotpunktverlag 2006. S. 210.
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gunsten des Marktes weltfremd zu sein, auch die impliziten Konsequenzen einer solchen Marktkonzeption widersprechen Hayeks liberalen Gleichheitsforderungen. Weltfremd ist die Konzeption, weil nicht alle aus denselben Startblöcken dem Markt zusteuern können. Die Ausgangsbedingungen sind nicht von der neutralen Marktsphäre gesetzt, sondern vielmehr vom akkumulierten Startkapital, das je nach Grösse, Eintritt und Aufenthalt in der Marktsphäre von Beginn an für die einen vorteilhafter sein kann als für die anderen. Der Marktakteur-Mensch hat somit Rechte, die ihm vom blinden und neutralen Markt garantiert werden, aber de facto ist es nur eine bestimmte ›Subspezies‹, die diese Rechte auch verwirklichen kann. Nur als Eigentümer, als jemand also, der Güter besitzt, die er auf dem Markt anbieten kann, und der über genügend Kaufkraft verfügt, um sich auf dem Markt neue Güter anzueignen, kann ein Marktakteur wirklich von Rechten Gebrauch machen, die in Hayeks Konzeption niemanden bevorzugen würden, weil sie sich bloss auf die Sphäre des neutralen Marktes und nicht auf die Sphäre der menschlichen vernünftigen Selbstgesetzgebung beziehen würden. Wer also ausser seiner Arbeitskraft über kein Eigentum verfügt, hat im politisch-rechtlichen Kosmos von Hayek bestenfalls geringe Chancen der Partizipation und der autonomen Lebensgestaltung und gilt kaum als vollwertiges Rechtssubjekt. Nicht nur die Eintrittsbedingungen, sondern auch die damit konstitutiv verbundenen Ausgangsbedingungen auf den Märkten sind ungleich. Es handelt sich dabei um Ungleichheiten, die zudem nur zu einem geringen Teil die Folge eigenen Verdienstes oder Verschuldens sind, denn, wenn der Markt nicht durchschaubar ist und seine Effekte somit auch nicht vorhersehbar sind, dann mag eine Karriereplanung, die heute sinnvoll erscheint und die finanzielle wie seelische Kosten oder gar Opfer verlangt, morgen auf dem Markt schon wieder unnütz sein. Wird dann aber, wie Hayek dies tut, von den Menschen verlangt, sowohl die ungleichen Ausgangsbedingungen als auch die Ungleichheit oder gar Unnützlichkeit generierenden Marktprozesse demütig hinzunehmen, da ihre Veränderung mit politischen Mitteln der Freiheit abträglich wäre, so ist dies doch eins mit der Aufforderung, eine Privilegienordnung als gut, gerecht und für alle segensreich anzuerkennen, was offensichtlich mit der primären hayekschen Freiheitsforderung nicht mehr im Einklang stehen kann. Festzuhalten ist an dieser Stelle also die neoliberale Neukodierung eines Gesellschaftsvertrages, der insofern keiner mehr ist, als er nicht mehr auf der selbstgesetzgeberischen Fähigkeit von vernünftigen Menschen beruht, sondern seine Legitimation und Rechtfertigung in der theoretischen Konzeption eines freiheits-, und allgemein-wohlstandsversprechenden – weil freien und unberührten – Marktes, findet. Die rousseausche Welt also, die zu Beginn dieses Kapitel als Gegenfolie herangezogen wurde und in der Menschen leben, die sich gegenseitig Rechte zugestehen und zusprechen und die sich zwecks Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten und der Einrichtung von ›law and order‹ demokratisch organisieren – diese auf Anwendung der menschlichen Vernunft und konsequen-
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terweise auf das Vernunftrecht aufgebaute Welt – reduziert sich innerhalb des hayekschen Kosmos auf die Dimension des Marktes. Auf diese Dimension soll sich also auch das Recht zurückziehen. Die Ausrichtung von ›law and order‹ soll sich nicht auf das vernunftrechtliche Fundament, wie es Rousseau vorschwebte, erheben, sondern vielmehr auf die Dimension des Marktes niederlassen. Rechte finden nur dann ihre Rechtfertigung, wenn sie zu effizienter Ressourcenallokation beitragen, also eine Situation herbeiführen, die dem hypothetischen Marktzustand nahe kommt. ›Justitia ancilla mercatus est‹, so liesse sich das alte scholastische Dogma über das Verhältnis von Philosophie und Theologie mit anderen Konzepten, aber mit derselben Funktionslogik auf die Gegenwart übertragen. Die Aufgabe des Staates ist in diesem Sinne also, Garantie von Vertragsrechten sowie Tausch- und Investitionssicherheit herzustellen, Transaktionskosten zu mindern und die Individuen so zu regieren, dass sie sich nicht nur dieser minimalistischen Rechtsauffassung beugen, sondern diese auch gar nicht ändern wollen dürfen, weil eine Änderung eine Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit bedeuten würde. Um es in den Worten Urs Martis zusammenzufassen, bezieht sich die Frage der Legitimität eines Rechts innerhalb dieser neoliberalen Konzeption von ›law and order‹ also »nicht auf die Rechtmässigkeit der Aneignung, auf Verfassungskonformität, auf Verteilungsgerechtigkeit, Gleichverteilung von Handlungsmöglichkeiten oder auf die mit der Nutzung eines Gutes verbundene Verantwortung etwa bei der Verursachung von Schaden für andere, sondern ausschliesslich auf seine Effizienz, seine Eignung zur optimalen Ressourcenallokation.«52 An der Basis des neoliberalen Rechtsverständnisses steht somit die normative Begründung, dass ein Recht, welches sich dem Markt anpasst, anstatt diesen zu regieren, eine für alle optimale Allokation der Ressourcen ermöglicht und somit wohlstandsvermehrend wirkt. Der Mensch soll die Chancen, seine Präferenzen und Wünsche erfüllen zu können, also nicht von einer menschlich konstruierten Gesetzesgewalt, die in den Augen Hayeks eben immer gewisse Gruppen privilegiert, um andere zu schädigen, gewährt bekommen, sondern aufgrund eines Rechts, das die Marktsphäre untangiert lässt und dem Menschen somit die ungestörte Realisierung seiner Wünsche ermöglicht. Indikator eines solchen Realisierungsversuches der eigenen Präferenzen auf der Marktebene kann nur die Zahlungsbereitschaft sein. Wenn die dem Menschen einzig verständliche Sprache des Marktes der Preismechanismus ist, dann ist es folgerichtig, dass er seine Teilnahme am Markt auch nur innerhalb dieser Grammatik, also mittels Kaufkraft, wahrnehmen kann. Was von den Neoliberalen also ausgeblendet wird, ist das Faktum der ungleichen Kaufkraftverteilung.
52 | M ARTI, U RS. Freiheit, Recht und Revolution. In: B EAT R INGGER (Hg.). Zukunft der Demokratie. Das postkapitalistische Projekt. Zürich: Rotpunktverlag 2008. S. 13-48. Hier S. 39.
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Der Rechtsstaat also, dieses Konstrukt, welches sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der politischen Theorie zu etablieren beginnt und gegen Ende desselben Jahrhunderts eine Festigung in ganz Europa und den USA erhält, findet innerhalb der neoliberalen Theorie eine fundamentale Neuausrichtung. Die Fundamente des Rechtsstaates zu Zeiten seiner Entwicklung und zunehmenden Durchsetzung waren diejenigen der Beschränkung des Willens und der Macht des Souveräns mittels eines Gesetzesrahmens, der nicht nur die Handlungen des Souveräns und der öffentlichen Macht einschränkte, sondern den Bürgern des Staates zunehmend auch die Möglichkeit gab, wirksam gegen diese Handlungen vorzugehen. Der Staat ist innerhalb dieser Konzeption also nicht mehr Rechtsschöpfer, sondern selber Rechtssubjekt, das an einen Gesetzesrahmen gebunden ist und deshalb seine öffentliche Gewalt nicht nach eigenem Willen durchsetzen kann. Überdies, und das ist der zweite wichtige Grundzug des Rechtsstaates, ist der Ursprung dieses Gesetzesrahmens nicht mehr der Staat, sondern das Volk. Der Staat ist also aufgrund des ihn in seinen Handlungen einschränkenden Gesetzesrahmens, der wiederum von den Bürgern etabliert wird, ein Instrument des Volkswillens. Er ist an die Regel des Gesetzes gebunden, an die rule of law. Innerhalb der neoliberalen Theorie wird nun prima facie die Disposition der Machtrelationen innerhalb des Rechtsstaats zwar beibehalten, nur die Akteure sind nun andere. Die öffentliche Gewalt soll nicht mehr durch ein von Bürgern etabliertes Gesetzessystem eingeschränkt werden, sondern sich auf eine andere Legitimationsgrundlage beziehen: auf den Markt. Wie diese Umgestaltung des Rechtsstaates geschehen soll, bringt Hayek in seiner »Verfassung der Freiheit«53 auf den Punkt. Wenn der Staat ein Rechtssubjekt ist und somit einem Gesetzesrahmen unterworfen sein soll, dann darf er auch nicht als ein Subjekt auftreten, das beispielsweise in die Marktordnung eingreift, die als höhere Weisheitsinstanz ein eigenes Regelwerk besitzt, wovon die Gesetze von Angebot und Nachfrage, der freie Wettbewerb und der Preismechanismus die einzigen für den Menschen erkennbaren Regeln sind. Ein solches Eingreifen würde einen Plan und einen durch diesen verfolgten Zweck, beispielsweise das Anstreben von Wachstum oder die Förderung von Konsum, unterstellen. Dies müsste aber bedeuten, dass der Staat nicht nur über ein Wissen verfügen würde, das die Gesamtheit der wirtschaftliche Prozesse erfasst, diese somit nach staatlichen Gutdünken so lenken kann, dass sie die erwarteten Zwecke erfüllen; ein solcher Staat, der in das Regelwerk des Marktes eingreift, würde sich auch in die Rolle eines Entscheidungsträgers verwandeln, der sich nicht mehr an ein bestehendes, wenn auch nicht ganz durchsichtiges Regelwerk – dasjenige des Marktes – hält, sondern sich anmasst, selber Regeln und Recht zu schöpfen. Die Kritik zielt also offenbar auf staatliche Marktinterventionen, wie sie mit dem New Deal in den USA und später unter dem Begriff des Keynesianismus oder der antizyklischen Wirtschaftspolitik in der westlichen Welt und darüber hinaus getätigt wurden. 53 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2005.
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Wenn aber, wie Hayek dies mehrmals betont, nur der Markt als einzige Wahrheitsinstanz gelten soll, dann muss auch der Rechtsstaat nach wirtschaftlichen Massstäben funktionieren. »Das heisst, dass der Rechtsstaat die Möglichkeit haben wird, eine Reihe von allgemeinen Massnahmen zu formulieren, die jedoch vollkommen formal bleiben sollen, d.h. dass sie niemals einen besonderen Zweck anstreben sollen.«54 Der Staat darf also nicht nur nicht in die Marktsphäre eingreifen, vielmehr soll er Regeln definieren, die a priori in Form fester Regeln entworfen werden und nie durch die hervorgebrachten Wirkungen korrigierbar sein dürfen – Regeln also, die als formale und somit nicht nach Situation änderbare sich nur auf etwas beziehen können, das in seiner Funktionslogik stets gleich bleiben wird, das also eine eigene Dynamik der Permanenz entwickelt, die sich an feste Gesetze hält. Die menschliche Vernunft, zu sehr von äusseren Einflüssen und eigenen Sehnsüchten geplagt, kann gemäss Hayek nicht eine solche Bezugsfläche bieten. Einzig der Markt, der sich nach eigenen Prinzipien und Gesetzen perpetuiert, kann den Regeln des Rechtsstaates auch als einziges unverrückbares Fundament und als einziger Bezugspunkt dienen. Zudem kann auch nur ein solcher Rechtsstaat, der seine Gesetze an die Sphäre des unparteiischen Marktes anpasst, auch einen Rahmen festlegen, »innerhalb dessen jeder ökonomische Akteur in voller Freiheit entscheiden kann, und zwar gerade insofern jeder Akteur weiss, dass der gesetzliche Rahmen, der für sein Handeln festgelegt ist, sind nicht ändern wird.«55 Nur Gesetze also, die auf die freie Entfaltung der Marktprozesse ausgerichtet werden, können gemäss Hayek, da der Markt in seinen Augen auch keine Bevorzugungen kennt, einen Rechtsstaat ermöglichen, der in seinem Zugriff auf die Bevölkerung nicht nur unparteiisch ist und alle als gleiche Freie behandelt, sondern überdies auch seine Rolle als Rechtssubjekt und eben nicht als anmassender Rechtsschöpfer erfüllt. Der Staat muss also gegenüber den Wirtschaftsprozessen blind sein, sonst ist er in den Augen Hayeks kein Rechtsstaat mehr. Fluchtpunkt dieser Rechtsstaatsauffassung ist die ›geordnete Anarchie‹ des Marktes. James M. Buchanan, der in seinen Schriften eine ökonomische Herleitung politischer Institutionen unternimmt und dabei die Lehre vom Gesellschaftsvertrag neu fasst,56 ist davon überzeugt, dass die neoliberale Konzeption einer Regierung, die der Marktsphäre nicht nur freien Lauf lässt, sondern vielmehr ihre Interventionen ausschliesslich zugunsten dieses freien Laufes ordnet, 54 | F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 242f. 55 | Ibid. S. 243. 56 | Siehe bspw. B UCHANAN, JAMES M. A Contractarian Paradigm for Applying Economic Theory. In: The American Economic Review, LXV (1975), S. 225-230. B UCHANAN, JAMES M. Politische Ökonomie als Verfassungstheorie. Zürich: Bank Hofmann 1990., B UCHANAN, JAMES M. Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan. Tübingen: Mohr Siebeck 1984.
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den »maximalen Spielraum für private oder persönliche Exzentrizitäten, für individuelle Freiheit in ihrer elementaren Bedeutung«57 sichert. Gemäss Buchanan können Individuen, sofern sie in einem solchermassen konfigurierten Rechtsstaat leben, aufgrund freiwilliger Entscheidungen ohne Zwang oder Drohung miteinander Handel treiben. Sie können Tauschhandlungen anbahnen und durchführen, ohne Näheres über ihren Tauschpartner wissen zu müssen. Obwohl die Tauschpartner sich möglicherweise in vieler Hinsicht unterscheiden, treten sie beim Tausch jedoch einander als gleichberechtigte Partner gegenüber. »Jeder wird in einer solchen Beziehung gerade so behandelt, wie er ist und wie er vermutlich sein möchte. Der Händler am Obststand verdrischt vielleicht sein Pferd, erschiesst Hunde und verspeist Ratten. Doch keine dieser Eigenschaften braucht meinen Tausch mit ihm, der sich ja nur auf das Ökonomische bezieht, zu beeinflussen.«58 Wenn die individuelle Freiheit das oberste Ziel ist und die Institution des Marktes das optimale und einzige Mittel, sie zu verwirklichen, dann müssen von der Regierung die hierfür notwendigen Voraussetzungen geschaffen und Hemmnisse, die der marktförmigen Kooperation entgegenstehen, beseitigt werden. Die Regierung muss also bloss Verfügungsrechte für Eigentum sowie Handels- und Vertragsfreiheit garantieren, den Rest besorgt der Markt. Das impliziert aber auch, dass der Bürger von der Regierung keine Intervention verlangen darf, die die Marktoperationen und ihre Resultate beeinflussen. Der Operationsmodus der Regierung muss sich also auf die Form einer indirekten Einflussnahme beschränken. Worum es letztlich geht, ist die Gestaltung der Gesellschaft nach marktkonformen Prinzipien, so dass auch das Individuum sich ökonomischen Prinzipien entsprechend verhalten muss. Die neoliberale Rechts- und Demokratiekonzeption verschiebt also nicht nur das Bestimmungsverfahren allgemeingültiger Gesetze und Normen von der menschlichen Entscheidungsgewalt in diejenige des Marktes, sondern erzeugt auch eine Gesellschaftsordnung, deren Mitglieder nicht mehr politische, sondern Marktsubjekte sind. Eine politische Ordnung aber, die die Marktprinzipien zu ihrem heiligen Gral erklärt, unterhöhlt nicht nur die im modernen Denken herausgearbeitete und erkämpfte menschliche Kompetenz der Selbstgesetzgebung und reduziert Demokratie so zu einer inhaltsleeren Worthülse, sondern verunmöglicht auch die von ihr versprochenen Freiheitspotentiale. Wenn die spontane Ordnung nämlich nach eigenen Regeln funktioniert und nur dann realisiert ist, wenn auf jede menschliche Intervention zur Gestaltung der Marktmechanismen verzichtet wird, kann von Freiheit wohl kaum mehr die Rede sein. Wenn der Markt nach eigenen ›natürlichen‹ Gesetzen funktioniert, so wie es natürlich ist, dass ein Gegenstand, der vom Dach eines Hauses geworfen wird, mit einer 57 | B UCHANAN, JAMES M. Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan. Tübingen: Mohr Siebeck 1984. S. 25. 58 | Ibid. S. 25.
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bestimmten Fallgeschwindigkeit unbedingt zu Boden fallen muss, dann ist zu fragen, wie sich dann von Freiheit sprechen lässt. Freiheit ist ja nur dort möglich, wo eine Handlung und eine Form des Verhaltens denkbar und ausführbar sind, die sich gegen aufgezwungene Lebensweisen richten, wo also die Alternative gegeben ist, das Leben, die Ökonomie und die Gesellschaft nach eigenen, durch einen öffentlichen Meinungsbildungsprozess definierten Kriterien zu gestalten und diese, falls erforderlich, wieder zu revidieren. Hingegen erweist sich die neoliberale Doktrin mit ihren ideologischen Kategorien des Marktes, des ›Unternehmers seiner selbst‹, der entleerten Demokratie und des entmenschlichten Rechts, die alle eine totalisierende Tendenz aufweisen, weil sie keine Alternativen neben sich dulden, als eine Lehre, die letztlich nichts geringeres als ein geistiges ›Autodafé‹ – die innerliche Verbrennung einer anderen Zukunft, einer möglichen Alternative – verlangt. Nur wenn die Menschen ihren Wunsch und ihre Forderung nach einer anderen Lebensweise, einer anderen wirtschaftlichen Ordnung und einer anderen Gestaltung des Sozialen aufgeben, das heisst ›verbrennen‹ und sich dadurch ›purifizieren‹ – dies war ja gerade die zynische Funktion des ›Autodafé‹ während der spanischen Inquisition im 15. Jahrhundert –, können sie zumindest auf die Markterfordernisse aufmerksam werden und ihre ganze Energie diesem System und seinen Imperativen widmen. Verlangt wird also die totale Befreiung von alternativen Lebensvorstellungen, um im neoliberalen System überhaupt erfolgreich bestehen zu können. Alles und jeder muss sich dem Gesetz des Marktes unterwerfen, und wehe dem, der es nicht tut. Was ihm droht, ist Armut, sozialer Ausschluss und persönlicher Bankrott. Diese zersetzenden und zerstörerischen Kräfte des Marktes werden in der neoliberalen Theorie aber nicht etwa verdrängt, sondern mit einer konservativen und reaktionären Weltanschauung kommodifiziert und buchstäblich ›domestiziert‹.
2.4 V ITALPOLITIK Bereits die deutschen Neoliberalen, die unter dem Titel ›Ordoliberalismus‹ eine neue Version liberaler Wirtschafts-, aber vor allem Sozialpolitik forderten, berücksichtigten die verheerenden Folgen des Laissez-faire-Kapitalismus, der in die Wirtschaftskrise von 1929 mündete und die Anzahl der Armen auf der ganzen Welt exponentiell ansteigen liess, in ihrem theoretisches Gerüst. Aber auch die darauf folgende Generation von Neoliberalen, die sich im Umkreis der ›Chicago School of Economics‹ formte und die unter dem Namen ›Chicago Boys‹ berühmt wurden, integriert – wenn auch in dezidiert veränderter Manier – das Problem der Armut in ihr Konzept. Beiden ist jedoch gemein, dass keine staatliche Politik mit der Absicht, Umverteilungseffekte zu generieren oder gar gezielte Einkommensdisparitäten zu bekämpfen, in die Marktsphäre eingreifen darf. Beiden ist auch die Befürchtung gemein, dass zunehmende Armut zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen könnte, die in die Marktmechanismen intervenierende Politiken
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fordern. Verarmung wird als Konsequenz kapitalistischer Dynamiken also nicht etwa ausgeblendet, sondern in eine neue ideologische Konstellation getaucht und so auch kommodifiziert. Gehen die Ordoliberalen noch vom Konzept der »Entproletarisierung« aus, um die Benachteiligten der Marktdynamiken in einem konservativ-reaktionären Weltbild wieder einholen zu können, verfolgt die amerikanisch inspirierte neoliberale Theorie das Prinzip der Selbstverantwortung und der privaten vorsorglichen Investition zur Minderung individueller Rückschläge auf dem Markt. Beide ideologische Muster konvergieren jedoch nicht nur in der vehementen Verteidigung des Marktes gegen jegliche staatliche Intervention, sondern auch im Konzept der »Vitalpolitik«. Alexander Rüstow – ein Wirtschaftswissenschaftler der Freiburger ordoliberalen Schule, der auch diesen Begriff geprägt hat – verstand darunter eine Politik, die über die Sphäre des ökonomischen Tausches hinausgehend »Verhältnisse zu schaffen [hat], in denen der Mensch sich wohl, geborgen und glücklich fühlen kann.«59 Er fordert also eine Politik, die sich nicht nur darauf beschränkt, die Marktsphäre und somit das Ökonomische vor äusseren Interventionen zu schützen, sondern auch aktiv in die Gesellschaft eingreift, um diese so zu gestalten, dass sie einerseits den Marktanforderungen nicht in die Quere kommt, sondern ihnen vielmehr angepasst wird, und andererseits so eingerichtet ist, dass sie den Menschen einen Ausgleich zum kalten, kalkulierenden und gefühllosen Spiel des wirtschaftlichen Wettbewerbs gibt. Letztlich so Rüstow, lebt der Mensch nicht vom Brot, respektive von Lohn allein.60 »Über den Quantitäten stehen die Qualitäten. Daraus ergibt sich die Forderung einer Vitalpolitik, einer Politik, die bewusst alles einbezieht, wovon das wirkliche Sichfühlen des Menschen, seine Zufriedenheit und sein Glück abhängen, und die es sich zum Ziel setzt, die Voraussetzungen für ein lebenswertes und verteidigungswürdiges
59 | RÜSTOW, A LEXANDER . Ortsbestimmung der Gegenwart. Vortrag, gehalten im Radio Bern am 26. Oktober 1952. Erlenbach-Zürich: Rentsch 1952. S. 7f. 60 | In seinem Aufsatz »Vitalpolitik gegen Vermassung« plädiert Rüstow dafür, dass der Mensch nicht nur auf seine Arbeitstätigkeit, die er als Investition für sein Leben verstehen soll, reduziert werden dürfe, sondern dass gerade die materielle und moralische Hygiene, das Bewusstsein des Eigentums, das Gefühl einer sozialen Eingebundenheit usw. berücksichtigt werden müssten, die genauso wichtige Elemente seines Selbstbewusstseins darstellen wie Lohn und Arbeitszeit. Die Regierung, so Rüstow weiter, müsse entsprechend eine Vitalpolitik – eine Politik des Lebens – betreiben, die nicht auf die Erhöhung der Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit ihr zentrales Augenmerk richte, sondern die gesamte Lebenssituation des Arbeiters, seine konkrete Situation von morgens bis abends miteinschliesse. Siehe: R ÜSTOW, A LEXANDER . Vitalpolitik gegen Vermassung. In: H UNOLD, A LBERT (Hg.). Masse und Demokratie, Volkswirtschaftliche Studien für das Schweizer Institut für Auslandsforschung. Erlenbach. Zürich: Rentsch 1957. S. 215-238.
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Leben zu schaffen.«61 Dieser »soziologische Liberalismus«,62 wie ihn Rüstow zu definieren vorschlägt, ist ein solcher, der in die Lebenswelt der Menschen einzugreifen hat, um sie immer wieder so auszurichten, dass die freien Spiele des Marktes und ihre unausweichlichen Folgen für die jeweiligen Individuen dort absorbiert werden können – eine Politik also, deren primärer Einsatz darin besteht, eine Biopolitik zu sein, eine Politik, die sich um die ›richtige‹, und das heisst – im Sinne der neoliberalen Position – marktkonforme Regierung der Menschen und ihres Lebens dreht.
2.4.1 Entproletarisierung In seiner polemischen Anklageschrift gegen den Beveridge-Plan, welcher vom gleichnamigen Ökonomen 1942 unter der Regierung Churchill veröffentlicht wurde und die Schaffung eines Systems der verallgemeinerten und zentralisierten Sozialhilfe sowie eines kostenlosen und allen zugänglichen Gesundheitssystem empfahl, schrieb Wilhelm Röpke, ein weiterer wichtiger und einflussreicher Exponent der ordoliberalen Freiburger Schule, dass dieser englische Plan nicht nur eine Freiheitsvermindernde Kollektivierung verfolge, sondern durch die planmässige Ausrichtung des Marktes auf staatliche Ziele auch einen wirtschaftlichen und folglich politischen Sozialismus einführe.63 Die sozialistischen Regierungsformen, seien diese nun vom Sowjet-Typ oder faschistischer Prägung, zeichnen sich gemäss diesem ordoliberalen Denker dadurch aus, dass die Regierungen eine Politik der ökonomischen Intervention verfolgen. Insofern war auch der wohlfahrtsstaatlich inspirierte Beveridge-Plan in den Augen Röpkes bloss eine weitere Spielart der sozialistischen Regierungsweise. Angesichts des Debakels der Weltwirtschaftskrise von 1929, in die der Manchester-Liberalismus mit seinem Dogma des ›Laissez-faire‹ geführt hatte, und in Anbetracht der daraus folgenden ›sozialistischen‹ Regierungen in Sowjetrussland, Nazideutschland, aber auch im sozialstaatlichen England müsse der ›neue‹ Liberalismus eine Regierungsform finden, welche jegliche ›sozialistische‹ Färbung abstreife, um so nicht nur die Freiheit des Einzelnen garantieren, sondern auch einen stabilen und freiheitlichen Staat fundieren zu können. Erneut ist es der Markt, welcher diese Freiheit und Stabilität des Staates und seiner Mitglieder 61 | RÜSTOW, A LEXANDER . Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik. Band 3: Herrschaft oder Freiheit? Erlenbach-Zürich: Rentsch 1957. S. 520. 62 | »Der Liberalismus, zu dem wir so gelangen, könnte als ein soziologischer gekennzeichnet werden, und gegen ihn bleiben die Waffen stumpf, die gegen den alten, rein wirtschaftlichen Liberalismus geschmiedet worden sind.« In: R ÜSTOW, A LEXANDER . Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsform. Erlenbach-Zürich: Rentsch 1944. S. 50f. 63 | R ÖPKE, W ILHELM . Der Beveridgeplan. In: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur. Heft 3/4. 23. Jahrgang. Juni/Juli 1943. S. 159-178.
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garantieren soll. Während nämlich die totalitären Systeme dadurch entstanden sind, dass ihre Wortführer im Namen einer eigenen Auffassung des ›guten und gerechten Lebens‹ grosse Teile der Bevölkerung gegen den Rest mobilisierten und so die politische wie ökonomische Macht an sich reissen konnten oder die wohlfahrtsstaatlich geprägten Regierungen den Graben zwischen den Klassen der Kapitaleigner und Proletarier zu schliessen suchten, müsse der »positive« Liberalismus64 auf einer Rationalität ruhen und auf einer Operationsbasis agieren, welche nicht von Beginn an eine spezifische Gruppe privilegiere, sondern objektiv und unvoreingenommen alle Mitglieder des Staates gleich behandle und ihnen mit der gleichen Ehrfurcht vor deren Freiheit begegne. Röpkes Verdikt gegen die seiner Meinung nach unfreiheitgenerierenden und kollektivierenden Regierungsformen zielte also auf deren Funktionslogik. Solange nämlich diese Regierungen auf einer Logik der Differenz aufruhen würden, also einen Gegner – sei dieser klassenkämpferisch, rassisch oder völkisch konstituiert – für die Legitimation ihrer Regierungstätigkeit brauchen würden, würden sie immer in Exzesse münden. Auch sein Verdikt gegenüber dem ManchesterLiberalismus und seinem ›Laissez-faire‹-Prinzip fiel nicht minder scharf aus. Dieser, fern davon, Wohlstand für alle zu generieren, habe kleine ökonomische Machteliten erzeugt, die wiederum den Markt für ihre eigenen Interessen eingespannt hätten und diesen somit in seiner Entwicklung und Funktionsweise limitierten.65 Was die deutschen Neoliberalen also von Beginn an in ihrer Konzeption des »neuen«, »positiven« Liberalismus einführten, war der Kampf gegen jegliche Form der Intervention in den Markt oder gar noch dessen Aneignung für die Verfolgung eigener politischer Zwecke. Ziel und zugleich Mantra ihrer liberalen Neuauflage war also nicht nur das Verbot einer jeglichen Regierungsintervention in den Markt, sondern auch die empfohlene Ausrichtung der Regierungsrationalität nach den Marktkriterien und zugunsten der Marktfunktionen. Aber angesichts einer historischen und politischen Situation, die von Klassenantagonismen geprägt war und in der die Regierungen immer wieder zu korrigierenden Interventionen in die Marktsphäre gezwungen waren, stellte sich die Frage, wie die Einrichtung dieses »neuen« Liberalismus erreicht werden sollte. Röpke ging dieser Frage nach und identifizierte die Antwort im Konzept der Ent64 | Die Begriffe »positiver«, »intervenierender« sowie »neuer« Liberalismus wurden während des Walter Lippmann Symposiums, welches vom 26. bis 30. August 1938 in Paris stattfand, vor allem von Louis Rougier (1889-1982) geprägt. Siehe: F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 188-190, 216. 65 | Dieses Verdikt wurde auch von Walter Eucken, Vater der deutschen »sozialen Marktwirtschaft« und weiterer Vertreter des Ordoliberalismus und der Freiburger Schule vertreten: »Ein Zurück zum Laissez-faire kommt nicht in Frage.« In: E UCKEN, WALTER . Unser Zeitalter der Misserfolge. Fünf Vorträge zur Wirtschaftspolitik. Tübingen: Mohr Siebeck 1951. S. 69.
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proletarisierung. Seiner Meinung nach lag nämlich die Wurzel eines jeden Unheils, das durch Regierungsinterventionen in den Markt verursacht wurde, im dichotomischen und antagonistischen Klassendenken. Entsprechend sah er das wahre Endziel66 eines »neuen« Liberalismus, der dem Beveridgeplan entgegengesetzt werden sollte, in der Entproletarisierung. Das grundlegende und virulente Problem, das die Regierungen zu »sozialistischen« Interventionen in den Markt motivierten, war nämlich gemäss Röpke dasjenige der Proletarisierung. Ein modernes System der Massenfürsorge, sei dieses keynesianisch, faschistisch oder kommunistisch geprägt, kann gemäss Röpke keinen Ersatz bieten für »die Existenzverkümmerung, die die Proletarisierung mit sich bringt, für die Eigentumslosigkeit, den Mangel an Reserven und die materielle wie immaterielle Entwurzelung.«67 Vielmehr führe ein solches System, da es im Namen einer Umverteilung von Geldern eine bestimmte Gruppe zum Nachteil einer anderen privilegiere und somit von Beginn an die persönliche Freiheit einschränke, zu einem aufgeblähten Bürokratieapparat, der analog zum Bismarckschen Sozialstaat nur »noch mehr Konzentration an Macht, Nationaleinkommen und Verantwortung in den Händen des ohnehin alles erfassenden, regulierenden, konzentrierenden und kontrollierenden Staates [vereint], mit dem einzig sicheren Ergebnis, ohne Lösung des Problems des Proletariates noch mehr zentralisierend, mittelstandszerstörend, proletarisierend und verstaatlichend zu wirken.«68 Röpkes Verdikt lautet also, dass ein Staat, welcher auch mit ›guten‹ Absichten in die Marktsphäre eingreift, letztlich nicht nur seine eigene Macht maximiert, sondern vor allem die Ursache der Staatsinterventionen – die Proletarisierung – anstatt sie auszutilgen, unabwendbar verstärke. Zur Lösung dieses Problems, das für Röpke an der Basis einer jeglichen Umverteilungspolitik steht, bleibt »nur die Wahl zwischen zwei Wegen: 1. entweder lassen wir es geschehen, dass alle zu Proletariern werden, sei es revolutionär von heute auf morgen (wie in Russland), sei es schrittweise (wie in den meisten übrigen Ländern), oder aber 2. wir machen die Proletarier zu Eigentümern und bewirken das, was die päpstliche Enzyklika ›Quadragesimo Anno‹ treffend als ›redemptio proletariorum‹ bezeichnet.«69 Der erste Weg, welcher gemäss Röpke vom Beveridge-Plan verfolgt wird, lässt sich in den Augen des deutschen Ökonomen nur mittels einer grundlegenden Umkodierung des Arbeiterdaseins erreichen. Dieser dürfe nicht mehr als Arbeitskraftverkäufer verstanden werden, sondern müsse vielmehr als Eigentümer seiner Arbeitskraft konzipiert werden, was die späteren Neoliberalen dann den Arbeitskraftunternehmer nennen wer66 | RÖPKE, W ILHELM . Der Beveridgeplan. In: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur . Heft 3/4. 23. Jahrgang. Juni/Juli 1943. Das letzte Kapitel trägt den Titel »Das wahre Endziel: Entproletarisierung«. S. 170. 67 | Ibid. 68 | Ibid. S. 170, 171. 69 | Ibid. S. 171.
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den. Wie dieser argumentative Strang letztlich zum neoliberalen ›homo oeconomicus‹ führt, welcher als Eigentümer seines Humankapitals nicht einen Teil seiner Arbeit verkauft, sondern vielmehr in Arbeit investiert, um daraus Investitionskapital für sich selbst zu schlagen, wurde bereits ausgeführt. Interessant ist an dieser Stelle vielmehr der Bezug zur päpstlichen Enzyklika, insbesondere auch deshalb, weil diese Erwähnung von dem Nicht-Katholiken Röpke stammt. Der Gedankengang des deutschen Ordoliberalen konzentriert sich nämlich auf zwei Fährten, die zugleich auch die unheilige Allianz zwischen Neoliberalismus und Konservatismus in ein helleres Licht tauchen. Die Umkodierung des Arbeiters zum Eigentümer soll diesem zwar ein anderes Bewusstsein von sich selbst sowie von der ihn umgebenden Aktionssphäre vermitteln, birgt aber gewisse Gefahren. Der ›Unternehmer seiner selbst‹, auf den der röpkesche entproletarisierte Arbeiter zuläuft, operiert zwar marktkonform und somit auf die Optimierung seines Humankapitals ausgerichtet, läuft aber auch Gefahr, gerade durch dieses selbstzentrierte Operationsdenken den Anschluss an eine kollektive Identität, an eine Gemeinschaft, der er sich loyal und solidarisch verpflichtet fühlt, zu verlieren. Wenn der Mensch als Eigentümer seines Humankapitals nur noch darauf bedacht ist, ebendieses auf der ›wertfreien‹ Sphäre des Marktes zu maximieren, dann sind solidarische und loyale Verbindungen zu einer Kollektivität entweder hinderlich oder bloss zur Erreichung der selbstgesetzten Ziele aufrechtzuerhalten. In beiden Fällen aber verliert der entproletarisierte Arbeiter den emotionalen Bezug zu einer Kollektivität. Um die Rettung dieses emotionalen Fundamentes geht es Röpke, wenn er die »redemptio proletariorum« bemüht. Obwohl er dieses Konzept in seinem Aufsatz nicht weiter ausführt, stellt es doch ein grundlegendes Fundament für das neoliberale Denken und für die hieraus alimentierte Sozialpolitik dar. Wie aus Röpkes Einwänden gegen den BeveridgePlan ersichtlich, kann eine neoliberal motivierte Sozialpolitik nicht als Gegengewicht zum Wirtschaftsprozess konzipiert werden. Dies würde bedeuten, dass eine solche Sozialpolitik nicht nur auf eine Egalisierung hinzielen, sondern vielmehr die wirtschaftliche Regulation, die über einen Preismechanismus alimentiert wird, zerstören würde. Röpkes kritische Reflexionen zum Beveridge-Plan zielen implizit auf eine Sozialpolitik, deren konstitutive Ausgestaltung gerade nicht die Erreichung einer Gleichheit sein soll. Umverteilungen und Übertragungen von Einkommen, wie sie vom Beveridge-Plan vorgesehen waren, sind in Röpkes Augen des Teufels. Die ›Heilung‹ für die in ihrer Existenz »verkümmerten« und »entwurzelten« Proletarier ist so einfach wie banal: in einer ›Verwurzelung‹, die die Proletarier erlöst – eine Erlösung also, die einerseits die materiellen Aspekte des Arbeiterdaseins mittels einer Umdefinition vom Proletarier zum Eigentümer, die dem Arbeiter als ›Unternehmer seiner selbst‹ und in Abwesenheit einer staatlichen Fürsorge auch die Investition in die eigene private Fürsorge abverlangt; andererseits aber soll die Erlösung auch die immateriellen Befindlichkeiten der »verkümmerten« und »entwurzelten« Arbeiter aufheben. Neben dem finanziellen Aspekt
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sollen also auch die psychische und seelische Konstitution der Arbeiter berücksichtigt werden. In »Die Ausrichtung der deutschen Wirtschaftspolitik«70 aus dem Jahre 1950 nimmt Röpke konkreter Bezug auf diesen Erlösungsgedanken. Die Regierung, so Röpke, soll drei Ziele verfolgen, ohne hierfür in die Marktmechanismen einzugreifen. Neben der Ermöglichung eines Zuganges zu Privateigentum für alle und einer Förderung von Kleingewerbe sollen sie die Auswirkungen der grossindustriellen Spezialisierung und der Arbeitsteilung durch einen organischen Wiederaufbau der Gesellschaft auf der Grundlage natürlicher Gemeinschaften, Familien und Nachbarschaften vermindern. Während die ersten beiden Punkte mittels einer semantischen Umkodierung des Arbeiters zum Eigentümer und mittels eines Regierungshandelns, das den Schwerpunkt nach unten verlegt 71, also auf das individuelle Privateigentum aufbaut, erzielt werden sollen, beruht der dritte Punkt auf einer Politik, die den Menschen, sein Leben und die Führung seiner selbst in ein soziales Geflecht positioniert, das ihm als organisch gewachsene natürliche Ordnung Identität, Halt und Trost spendet. Dieses Geflecht ist die traditionelle, patriarchalisch geprägte und natürlich heterosexuell kodierte Hausgemeinschaft, in welche das Individuum hineingeboren und in der es aufgewachsen ist: ein schützender, weil organisch gewordener und für das einzelne Individuum als natürlich empfundener Kokon, der zudem die Form eines Unternehmens hat. An dieser Stelle wird also auch Röpkes Bezug zur päpstlichen Enzyklika verständlich. Der römische Bischof Pacelli, als Papst Pius XI. in die Annalen eingegangen, hielt in seiner Schrift fest, dass die von den marxistischen Bolschewisten ausgelösten Klassenkämpfe zwischen Brüdern nur dann überwunden werden könnten, wenn alle Christen den Gesellschaftskörper auf Basis der berufsständischen Volksordnung restrukturieren und vereinheitlichen würden. Dieses reaktionäre und konservative Konzept impliziert eine natürliche, weil gottgewollte Ordnung, in der ein jedes Mitglied aufgrund seiner natürlichen Fähigkeiten und der jeweiligen gemeinschaftlichen Realität, der er sich als Mitglied verpflichten muss, die seinem jeweiligen Stand auferlegte Rolle bestmöglich erfüllt, ohne auf einen sozialen Aufstieg hoffen zu dürfen.72 Was die ordoliberale Konzeption der Häusergemeinschaft von dieser aristotelisch-tomistisch geprägten päpstlichen Erlösungslehre für Proletarier unterscheidet, ist nicht der beiden Theorien zugrundeliegende organische Korporatismus, sondern die Konzeption der Basiseinheit als Unternehmen. Der aus Opportu70 | RÖPKE, W ILHELM . Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig? Analyse und Kritik. In: WOLFGANG S TÜTZEL , E T. A L . (Hg.). Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft. Zeugnisse aus zweihundert Jahren ordnungspolitischer Diskussion. Bonn. Stuttgart. New York: Gustav Fischer 1981. S. 49-62. 71 | Ibid. S. 59. 72 | Vgl. PAPST P IUS XI. Enzyklika Quadragesimo Anno. In: www.uibk.ac.at/theol/leseraum/ texte/319.html. §§. 81-87.
2. Ideologische Elemente
nismus oder kühlem diplomatischen Kalkül mit den Nazis kooperierende Papst Pius XI.73 verstand die konservative ständische Ordnung als eine gottgegebene, die vom Menschen nicht verändert werden dürfe und in welcher das Individuum als Bestandteil einer Gemeinschaft sein Heil im Angesicht der von ihm, entsprechend seinem zugehörigen Stand, erwarteten Arbeitsanstrengungen und -opfer finden solle.74 Die ordoliberale Adaption dieser Lehre bezieht sich jedoch ausschliesslich auf ihre trostspendende und identitätsstiftende Konnotation. Die Ökonomisierung dieser psychologisch und emotional schützenden Basiseinheit ist nämlich vielmehr das Resultat der ordoliberalen Anstrengung zur Vervielfachung der Unternehmensform innerhalb des Gesellschaftskörpers. War also in Pacellis Lehre die Konzeption einer politisch-zivilen Sphäre vorherrschend, die sich innerhalb der göttlichen Schöpfung an die religiöse und übernatürliche Ordnung anpassen würde, so mutierte diese Konzeption in den Augen Röpkes und Rüstows75 nicht hinsichtlich der Hierarchiestruktur, sondern im Hinblick auf die Platzhalter dieser Hierarchien. Die politisch-zivile Ordnung, die Regierung eines jeglichen Staates müsse sich nämlich nicht mehr an die göttliche ›civitas dei‹ anpassen, sondern vielmehr an eine andere, in den Augen der Ordoliberalen ebenfalls übernatürliche Ordnung: an den Markt. Die ordoliberale Erlösungslehre positioniert sich also auf einer Ebene, die zwar keine göttliche, aber nichtsdestoweniger eine übernatürliche ist. Wenn die Unternehmensform im Gesellschaftskörper bis zur untersten individuellen Einheit eingenistet werden soll und der Marktmechanismus die einzige Instanz ist, welche mittels des Preismechanismus eine von Privilegien ungetrübte und jeweils spontane Wahrheit ausspricht, dann müssen sich die Individuen nicht nur an die Sprechakte dieser Instanz anpassen, sondern sich selber als Unternehmer begreifen. Die Einsetzung des eigenen Kapitals kann sich also nur nach den ›neutralen‹ und ›blinden‹ Prozessen des Marktes richten und darf somit nicht anderen Strukturen sowie ihren Werten und Gesetzen gehorchen. Einzig die über die Sprache des Preises erkennbaren Gesetze und ›privilegienfreien‹ Werte können auf einer solchen Operationsebene für das Individuum richtungsweisend sein. Da die Marktresultate aber nicht vorhersehbar sind und aufgrund der Blindheit des Marktes auch nicht von Leistungs- oder Faulheitsskalen abhängen, sind Misserfolge und Entgleisungen für das Individuum unvermeidlich. Diese gilt es 73 | Zu den politischen Verstrickungen zwischen der vatikanischen Kurie und dem nationalsozialistischen Regime sowie zu dessen harzig verlaufenden historischen Aufarbeitung, vgl. PAT TI, M ARTINO. Il Führer e il prelato. Cattolici con la svastica. In: Il Manifesto. 06.10.2006. 74 | Vgl. PAPST PIUS XI. Enzyklika Quadragesimo Anno. In: www.uibk.ac.at/theol/lese raum/texte/319.html. §§. 59-63. 75 | R ÜSTOW, A LEXANDER . Vitalpolitik gegen Vermassung. In: A LBERT H UNOLD (Hg.). Masse und Demokratie, Volkswirtschaftliche Studien für das Schweizer Institut für Auslandforschung. Erlenbach. Zürich: Rentsch 1957. S. 215-238.
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mittels einer reaktionär-konservativen Rückkehr zu traditionell-christlichen Lebensentwürfen in die heile Welt der kleinen gemeinschaftlichen Einheiten zu kommodifizieren. Auf dem Markt von allen sonstigen Werten und Tugenden, ausser denjenigen, die der Markt gerade verlangt, losgelöst, findet das Individuum in der organisch gewachsenen, aber weiterhin unternehmerisch aufgebauten Hausgemeinschaft das Auffangnetz für seine wirtschaftlichen Misserfolge und den solidarisch wärmenden Balsam für die auf dem Markt erkältete Seele. Die rücksichtslose kalte Konsumbestie, die auf dem ebenso kalten Markt nur die Maximierung seines eigenen Nutzens sucht, kehrt als zahmes Schäflein in eine kleine wärmende Welt zurück, die von Strukturen, Werten und Tugenden bestimmt ist, die dem ›blinden‹ Marktmechanismus einen identitätsstiftenden Gemeinschaftskörper gegenüberstellt. Auch die von Friedrich August Hayek geprägte neoliberale Theorielinie, die zum amerikanischen Neoliberalismus der Chicago School führen wird, integriert, wenn auch aus einer anderen Warte, die verheerenden Effekte des Marktes in ihr Theoriegerüst. Zentraler Aspekt dieser Auseinandersetzung mit den Tatsachen der Armut und der Anwesenheit von Menschen, die auf dem Markt kein Auskommen finden, ist die Privatisierung des Risikos und der Sorge.
2.4.2 Privatisierung der Sorge Hayek betont in seinen Schriften immer wieder, dass die spontane Tauschordnung, also das, was er unter ›Markt‹ versteht, unweigerlich Ungleichheiten erzeugen wird und für die jeweiligen Teilnehmer mit Risiken verbunden ist. Entsprechend erkennt er eine prinzipielle Notwendigkeit sozialer Vorsorge an, steht dieser aber, als marktradikaler Denker, skeptisch gegenüber. Einerseits betont er, dass die Notwendigkeit der öffentlichen Fürsorge und Unterstützung in einer Industriegesellschaft unbestritten sein mag, »sei es auch nur im Interesse jener, die Schutz gegen Verzweiflungsakte der Bedürftigen verlangen«,76 andererseits ist ihm bewusst, dass gerade diese staatlichen Einrichtungen seine Idee der ›Katallaxie‹ unterlaufen. Weiter macht Hayek darauf aufmerksam, dass die Vorsorge eine unumgängliche gesellschaftliche Einrichtung darstellt, die sich schon aus der Rationalität der Akteure ergibt und als solche zu akzeptieren ist. Menschen wägen ihre Möglichkeiten auf dem Markt ab, versuchen die Risiken ihrer Handlungen abzuschätzen und schützen sich so gut wie möglich davor oder sorgen eben vor. Was Hayek also stört, ist nicht die Vorsorge als solche, sondern das Prinzip einer staatlichen Vorsorge im Sinne eines »Anspruchs auf Unterstützung.« 77 Dies würde nämlich 76 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. S. 386. 77 | Ibid. S. 387.
2. Ideologische Elemente
nicht nur Umverteilungspolitiken verstärken, um den staatlichen Vorsorgeapparat überhaupt finanzieren zu können, sondern und ungleich schwerwiegender auch zur ›Entmündigung‹ des Menschen führen, der dann keine Anreize mehr hätte, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen und sich anzustrengen, eine bessere soziale Position zu erlangen. Für Hayek stellt sich also nicht die Frage, ob Vorsorge nötig ist oder nicht, sondern vielmehr, wie sie organisiert und von wem sie durchgesetzt wird. Solange der Staat diese Aufgabe übernimmt, wird die Fürsorge negative Effekte auf die Marktmechanismen und auf die Individuen zeitigen, die ihrer Rationalität und ihrer Verantwortung entbunden werden. Zudem ist für Hayek eine staatliche Vorsorgestruktur wesentlich ineffizienter als eine, die über den Markt und die Rationalität des Einzelnen operiert. Sie wäre nicht nur dysfunktional in Bezug auf den Markt, weil sie diesen durch Eingriffe verzerren würde, sondern auch insofern ineffizient, als sie irrationale Verhaltensweisen bei den Individuen hervorrufen würde. Es ist nämlich zu erwarten, so Hayek, dass die Verfügbarkeit der staatlichen Unterstützung »manche verleiten wird, solche Vorsorge gegen Notfälle, die sie hätten treffen sollen, zu verabsäumen.«78 Die Menschen würden dazu angehalten, auf der faulen Haut zu liegen, im Wissen, dass der Staat sie auffängt. Im Sinne seiner Theorie, nach der jegliches gesellschaftliche Phänomen nach seiner Beziehung zum Markt zu beurteilen ist, ergeben sich für Hayek nur zwei Möglichkeiten, um das Problem der Vorsorge in sein Theoriegerüst einbauen zu können: Entweder gelingt es, die Vorsorge marktförmig zu organisieren und sie so dem Markt zu überlassen, oder, falls dies nicht gelingen sollte, muss sie unter dem Aspekt betrachtet werden, »in welcher Form sie am wenigsten das Funktionieren des Marktes behindert.«79 Die Vorsorge soll also einerseits so organisiert sein, dass sie die Marktmechanismen nicht beeinträchtigt, sondern vielmehr Bestandteil ihrer Kreisläufe wird, und andererseits auch die pädagogische Funktion ausüben, die Menschen zur Selbstverantwortung zu erziehen. Gerade der zweite Aspekt, die martkförmige ›Erziehung‹ des Menschen macht sich bei Hayek immer wieder bemerkbar. Obwohl er gegen jegliche staatliche Vorsorgeeinrichtung argumentiert, räumt er ein, dass eine private Form der Vorsorge mit einer minimalen sozialen Unterstützung gekoppelt werden kann. Diese müsse aber weiterhin aktivierende Funktionen ausüben und das Individuum dazu anspornen, auf solche Unterstützungsleistungen möglichst zu verzichten. Erneut ist es sein Argument gegen jegliche Konzeption von sozialer Gerechtigkeit, die ihn zu dieser Konzession verleitet. Denn »in einer freien Gesellschaft kann es kein Gerechtigkeitsprinzip geben, das ein Recht auf Unterstützung verleiht, die nicht ›abschreckend‹ und nicht ›ermessensabhängig‹ ist, und nicht an den Be78 | Ibid. S. 387. 79 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. ›Freie Wirtschaft‹ und Wettbewerbsordnung (1947). In: D ERS. Rechtsordnung und Handelsordnung. Aufsätze zur Ordnungsökonomik. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. S. 121-131. Hier S. 126.
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weis von Bedürftigkeit gebunden ist.«80 Wer also im hayekschen Vorsorgekosmos beim Staat Hilfe sucht, muss einen regelrechten Leidensweg durchlaufen, seine Misere in erniedrigender Weise beweisen und sich entsprechend als Versager klassifizieren lassen. Die minimale staatliche Unterstützung muss den Einzelnen davon »abschrecken«, sie zu beantragen, und damit den Effekt erzeugen, dass er sich seiner selbst annimmt, und das heisst, ein finanzielles Auskommen zu welchen Bedingungen auch immer sucht, was wiederum die Anzahl günstiger Arbeitskräfte vermehrt, die Marx als ›industrielle Reservearmee‹ bezeichnete. Gerade das Insistieren auf der privaten, persönlichen und selbstverantwortlichen Vorsorge verschiebt die Folgen kapitalistischer Wirtschaftsdynamiken nicht in ein Aussen der neoliberalen Theorie, sondern integriert und kommodifiziert sie innerhalb des eigenen theoretischen Gerüsts. Die Ansicht, dass eine staatlich gesicherte Vorsorge und kontinuierliche Absicherung gegen die Unsicherheiten des Lebens eine Friktion im ökonomischen Kreislauf darstellt und ein kontraproduktives Element in die Arbeitsmoral und die Selbstverantwortung des Einzelnen einpflanzt, mündet letztlich in eine vehement individualisierende Sicht der Dinge, aus der das Subjekt als rationaler, selbstverantwortlicher Agent konzipiert wird – und das heisst, dass er seine Misserfolge auf dem Markt auch als selbstverschuldete zu verstehen hat und entsprechend privat vorsorgen muss. Die Problematik der Vorsorge und des Risikos wird von der neoliberalen Theorie also dadurch integriert, dass diese Phänomene auf der Ebene des einzelnen Individuums angesiedelt werden, als Folge falscher, also nicht marktkonformer Verhaltensweisen klassifiziert und durch ihre Ökonomisierung auch kommodifiziert – also warenförmig gemacht – werden. Im Zentrum des neoliberalen Regierungsmodus steht, wie dies Stephan Lessenich auf den Punkt brachte, »der tendenzielle Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit, vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement, von der Sozialversicherung zur Eigenverantwortung, von der Staatsversorgung zur Selbstsorge.«81 Die Verlagerung des erkenntnistheoretischen Blickwinkels auf die Ebene des Individuums erlaubt der neoliberalen Theorie, alle möglichen Aspekte der gesellschaftlichen Interaktion in Termini der Selbstverantwortung und der Selbstsorge zu dechiffrieren. Auch das Phänomen der Armut wird in ein solches individualistisches Setting eingetaucht und hieraus erklärt. So wie die Vorsorge im privaten Bereich abgewickelt werden soll, gilt es auch, die Armut aus diesem Bereich zu entziffern. Gerade die Theorie des Humankapitals erlaubt, die Relation zwischen Arbeit und Armut so zu koppeln, dass das Problem gleichzeitig in einer sozialen, kollektiven Dimension betrachtet wie auch im individuellen Verhalten verankert 80 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. S. 411. 81 | L ESSENICH, S TEPHAN . Soziale Subjektivität. Die neue Regierung der Gesellschaft. In: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 2003, Heft 4, S. 8093. Hier S. 86.
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wird. Armut wird so einerseits als unumgängliche Folge kapitalistischer Dynamiken verstanden, andererseits aber auch als ein Phänomen, dessen Vorbeugung in der privaten individuellen Sphäre stattfinden muss. Sie ist also insofern totalisierend, als sie konstitutiver Bestandteil des Kapitalismus ist, und zugleich soweit individualisiert, als ihre Bekämpfung nicht durch soziale Einrichtungen, sondern durch marktgerechtes Selbstmanagement zu betreiben ist. Hayek plädiert für eine Argumentation, die Armut vor allem in den Bereich der individuellen Rationalität und Handlungen verlagert und entsprechend erklärt. Damit kritisiert er zugleich die keynesianische Demokratieform, die Armut gezielt durch staatliche Programme zu bekämpfen suchte und sie stärker der wirtschaftlichen Dynamik als der individuellen Irrationalität zuschrieb. »Mit der Parole ›du kannst ja nichts dafür‹ ist die Demagogie der unbeschränkten Demokratie, unterstützt von einer szientistischen Psychologie, denen zu Hilfe gekommen, die einen Anteil am Reichtum unserer Gesellschaft fordern, ohne sich der Disziplin zu beugen, auf die dieser zurückgeht.«82 Fern davon also, die Armen für ihre Misere in die Verantwortung zu ziehen, so Hayeks Verdikt, verteilt der Wohlfahrtsstaat die mühsam erarbeiteten Reichtümer der Arbeitsamen an diejenigen, die keine Lust haben, sich dem Arbeitsmarkt zu unterwerfen. Für Hayek ist Armut also weniger eine Folge der Industrialisierung oder der Arbeit als solcher, sondern vielmehr eine Folge des individuellen Verhaltens – kurz: eine Folge der schlechten Qualität des Humankapitals. Arbeit wird bei Hayek als eine abstrakte Grösse konzipiert. Sie ist eine Form der Übertragung von Wert und nicht selbst ursächlicher Grund für Armut. Das Argument beruht auf einem Konzept von Arbeit, durch welche hohe wie auch niedrige Einkommen erzielt werden können. Die Frage nach der Höhe des Einkommens wird jedoch nicht im Zusammenhang mit den ungleichen Vertragsbedingungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beantwortet, sondern einzig und allein in Verbindung mit dem Wert des Kapitals, der wiederum in der Person des Arbeiters verankert ist. Hohes Humankapital, so Hayeks Argument, erzeugt hohes Einkommen, tiefes Kapital hingegen potenziert die Möglichkeit zu verarmen. Entsprechend kann die Ursache von Misere und Perspektivlosigkeit nicht durch eine gesellschaftlich unterstützte Umverteilungspolitik, sondern einzig und allein auf der individuellen Ebene des Humankapitals bekämpft werden. Armut wird so mit dem Konzept des ›homo oeconomicus‹ verschränkt, was konsequenterweise eine entsprechende staatliche Politik hervorruft. Diese soll »abschreckend« auf diejenigen wirken, die auf den Sozialstaat hoffen, dadurch auf das rationale Verhalten der Individuen einwirken und Armut als Folge von fehlerhaftem oder nichtrationalem Verhalten sanktionieren. Ihre mahnende Stimme soll diejenige sein, die den Individuen klar macht, dass sie für ihr finanzielles Auskommen, ihr Leben und ihre soziale 82 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Recht, Gesetz und Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. S. 479.
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Lage selber verantwortlich sind, unter vorgehaltener Hand aber eben auch für die Schattenseiten dieser Dynamik, also für Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit. In diesem Zusammenhang operiert Hayek mit einer folgenreichen Unterscheidung zwischen »relativer« und »absoluter« Armut. Die »absolute« Armut wird dabei mit Verelendung gleichgesetzt, während die »relative« ein wesentliches Moment des prozessierenden Marktes darstellt, also konstitutiver Bestandteil der »spontanen Ordnung« ist.83 Genauso wie ein Meeresufer nicht ohne das Meer, das es umspült, gedacht werden kann, kann auch in Hayeks Sicht die spontane Ordnung nicht ohne »relative Armut« konzipiert werden. So aber, wie am Meeresufer die Einkerbungen des menschlichen Ganges von den Wellen weggespült werden, so verliert sich auch bei Hayek die soziale Kausalität, die Armut erzeugt, im Dunst seiner individualistischen Marktphilosophie. Während also die ›relative‹ Armut ein Verhältnis innerhalb der Einkommensverteilung einer Gesellschaft anzeigt, markiert die ›absolute‹ Armut die Schwelle, die sich unterhalb des Existenzminimums befindet. Der argumentative Trick liegt darin, dass zwischen der ›relativen‹ und der ›absoluten‹ Armut eine prinzipiell verschiebbare und beidseitig permeable Schwelle installiert wird. »Armut im relativen Sinne muss natürlich fortdauern (ausser in einer völlig egalitären Gesellschaft): Solange es Ungleichheit gibt, muss einer ganz unten sein.«84 Armut stellt für Hayek somit eine funktionale gesellschaftliche Notwendigkeit dar. Nicht alle Armen sind aber auf der untersten Stufe angesiedelt. Vielmehr ist es so, dass einige Armen dies nur in Relation zum Reichtum der anderen sind, während andere dies in absoluter Hinsicht sind. Verelendung stellt hierbei die tiefste Armutsstufe dar, die denjenigen, die in der ›relativen‹ Armut verharren, zugleich die permanente Bedrohung ihres sozialen Abstiegs zeigt. Während Armut also jeden treffen kann, da sie zum konstitutiven Element des Marktprozesses gehört, und schlimmstenfalls in ›absolute‹ Armut übergehen kann, ist Letztere wiederum diejenige Position, aus welcher ein Aufsteigen in die ›relative‹ Armut erfolgen soll. Beide Sphären sind insofern komplementär, als eine Verlagerung zwischen den zwei Armutstypen immer möglich ist, aber nur von der individuellen Anstrengung abhängig gemacht wird. Während Armut nämlich einen Mangel signifiziert, der im kapitalistischen Kreislauf als »natürlicher« Zustand klassifiziert wird, ist Reichtum – so das liberale und neoliberale Mantra – das Ergebnis individueller Anstrengung oder Leistung. Bei ungenügender individueller Anstrengung und Investition in das eigene Humankapital bleibt der Reichtum aus und Armut wird als Zustand reproduziert. Armut wird somit als ein Zustand plausibilisiert, der wesentlich selbstverschuldet ist. Die neoliberale Politik, wie sie Hayek vorschwebt, will entsprechend nicht Armut als solche überwinden, sondern darauf zielen, dass die Anreize oder vielmehr die Frustrationen so gestaltet werden, dass sich »absolute« Armut in »relative« Armut ver83 | Ibid. S. 290-292. 84 | Ibid. S. 290.
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wandelt, Erstere aber als permanentes Drohpotential erhalten bleibt. In diesem Sinne lässt sich Hayeks Zitat verstehen, dass ›relative‹ Armut, also die Kluft zwischen Reichen und solchen, die im Vergleich mit diesen wenig Einkommen erzielen, fortdauern muss – sie gehört konstitutiv zur Marktordnung –, dass aber, um die Anreize zur Verbesserung der eigene Lage stärken zu können, jemand »ganz unten sein« muss. Die argumentative Konstruktion dieser zwei Armutskategorien dient somit einer aktivierenden Politik, die beim Individuum ansetzt, es dazu anleitet, sein Humankapital zu verbessern und vor allem im freien Marktspiel die Bedingungen zur Möglichkeit der Verbesserung seiner Situation zu erkennen. In der Einkommenskluft zwischen Arm und Reich und in der permanent aufscheinenden Drohkulisse der ›absoluten‹ Armut sichtet Hayek die Anreize zu ihrer Verringerung. Der einfache Gedanke, den Hayek verfolgt, beruht darauf, dass die Ungleichheit der Verteilung als Wachstumsmotor dienen würde, so dass das damit einhergehenden Wirtschaftswachstum schrittweise auch die Armut vermindern würde. Darin ist auch der neoliberale Trost für die Armen impliziert: Langfristig würden nämlich auch sie reich werden, sofern sie in ihr Humankapital investieren, die Schwelle zur ›absoluten‹ Armut vermeiden, und vor allem den gegenwärtigen Reichtum der Reichen als Bedingung ihrer künftigen Wohlfahrt sehen und somit keine Politiken der Umverteilung und der Eingriffe in die Marktmechanismen fordern. Mit ihrer individualistischen Armutspolitik, die das Phänomen im privaten Bereich der individuellen Vorsorge und in die Thematik der Investition ins eigene Humankapital rückt, blendet die neoliberale Theorie nicht nur das mandevillesche Theorem aus, wonach Reichtum auf der Armut der Armen beruhe und »der sicherste Reichtum in einer grossen Menge schwer arbeitender Armer besteht«,85 sondern vernachlässigt auch die soziale Kausalität, die Armut generiert, und bekämpft hingegen die gesellschaftlich motivierte Politik, die zu ihrer Verminderung mittels Eingriffen in den Markt beitragen könnte. Gerade Hayek macht auf diesen Zusammenhang aufmerksam, wenn er einerseits soziale Kausalität anspricht, diese andererseits aber im Namen des freien Marktes einfach aus seinem Theoriekonzept wegstreicht: »so leid uns auch diejenigen tun mögen, die sich nicht durch eigenes Verschulden, sondern als Folge unvorhersehbarer Entwicklungen in schlechterer Position finden, heisst das noch nicht, dass wir beides haben könnten: sowohl den zunehmenden Anstieg des allgemeinen Wohlstandsniveaus [...] als auch keine solche immer wieder eintretenden Verschlechterungen der Positionen einzelner Gruppen.« 86 Hayek konzediert also, dass es unverschuldetes Elend gibt, eine staatliche Unterstützung, um das Leiden der am Markt Beteiligten zu mindern, kann er aber nicht gutheissen, da eine solche Fürsorge einzelne Gruppen in eine schlechtere Position bezüglich ihrer Chancen auf 85 | M ANDEVILLE, B ERNARD. Die Bienenfabel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. S. 319. 86 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Recht, Gesetz und Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. S. 292.
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dem Markt stellen würde. Dieses Dilemma, das die neoliberale Theorie seit ihren Anfängen beschäftigt, wird aber weder mit dem ordoliberalen Rückzug in die häusliche Idylle noch mit der privaten Form der Vorsorge und der Privatisierung des Risikos und der Armut gelöst. Geleistet wird hierbei einzig die Kaschierung der Erkenntnis, dass diese Phänomene sozial bedingt sind. Der einzige Modus, durch den das Thema der Armut konzipiert und politisch auf bereitet werden kann, ist für die neoliberale Theorie der individualistische. Damit verfehlt sie aber gerade die wesentliche Dimension der Armut, nämlich ihre Ursache aus sozialen und wirtschaftlichen Machtverhältnissen, die unter dem Vorwand der rechtlichen Gleichbehandlung aller im privaten Bereich der Arbeitssphäre Menschen mit ungleichen Ellen misst und viele davon in Armut, Prekarität und Elend stürzt. Das konservative Element bei Hayek rekurriert zwar auch – ähnlich wie bei den Ordoliberalen – auf die traditionelle Familie und die überlieferten, hoch angesehenen Statusgruppen – die Eliten, die für die Bewahrung des Liberalismus zuständig sind – mit ihrer »natürlichen« Resistenz gegen die Einmischung des Staates,87 beruht aber verstärkt auf strukturellen und epistemologischen Züge, die um sein Konzept der »Katallaxie« drehen. Was mit der spontanen Tauschordnung und dem daran gekoppelten Vorsorge- und Armutskonzept anvisiert wird, ist genau genommen der Versuch, eine Ordnung herbeizubeschwören, in welcher jede Form gesellschaftlicher Kooperation zur Veränderung der Marktmechanismen mit dem Argument ihrer Unantastbarkeit und dem Vorwurf des konstruktivistischen Rationalismus zum Sakrileg erklärt wird. Der Markt, diese spontane Tauschordnung, die nur als spontane ihre Wahrheit ausstrahlt, fungiert hierbei als diejenige Instanz, die über die Zeiten zu konservieren ist, weil nur sie Freiheit, Recht und Ordnung garantieren kann. Der konservative Zug liegt also darin, den Menschen die Fähigkeit, die ökonomischen Verhältnisse zu regulieren, abzusprechen und sie mittels Politiken, die in die Gesellschaft eingreifen und alle möglichen Felder nach Marktkriterien ausrichten, auch an der undurchschaubaren Marktordnung auszurichten. Gott bleibt weiterhin ein Mysterium, aber für die neoliberale, pseudooffene und -freie Gesellschaft ist nicht mehr die Ehrfurcht vor seiner Ordnung nötig, sondern diejenige vor dem Markt. Dieser bildet sich gemeinsam mit dem Wettbewerb der Marktteilnehmer als Resultat einer Selektionsmechanik, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzt. Die Menschen sind also dazu angehalten, sich Geboten zu unterwerfen, die sie selber nicht bestimmt und legitimiert haben. Waren es früher die Monarchen, die sich als von Gott eingesetzte Herrscher verstanden und sich mit ihren Geboten den Willen der Menschen unterjochten, ist es für die neoliberale Theorie der Markt. Seine Ratio ist gerade nicht Ergebnis, sondern vielmehr Antriebskraft der menschlichen Vernunft. Er allein entscheidet 87 | Vgl. H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Recht, Gesetz und Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. Kapitel 2: Kosmos und Taxis. S. 37-56.
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über Erfolg, Misserfolg, Misere und Reichtum. Folglich sind auch die Verhältnisse, die er hervorbringt, solche, die einige privilegieren und andere benachteiligen – eine bittere Pille, die aber von denjenigen, die vom Markt mit Misserfolg, Armut oder Perspektivlosigkeit bestraft werden, klaglos und stumm geschluckt werden muss. Damit wird aber auch gesagt, dass die Verlierer der Marktmechanismen die Privilegien der Gewinner still erdulden müssen, in der Hoffnung, selber einmal einen Platz an der Sonne ergattern zu können. Dafür müssen sie aber härter arbeiten, Gewohnheiten ändern, ihr Humankapital verbessern und ihr Leben an die Anforderungen des Marktes anpassen. Wie im Konservatismus des 18. Jahrhunderts wird so eine bestehende Ordnung, die einigen Wenigen Privilegien ermöglicht, während Andere diese zu tragen und ertragen haben, legitimiert und als unausweichliche und alternativlose Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens gepriesen. Was zudem hervorschimmert, ist eine Biopolitik, die das Individuum seiner souveränen Entscheidungen über das eigene Leben entledigen will, indem es sein Augenmerk auf eine Instanz richtet, die ausserhalb und unabhängig von ihm ihre eigenen ›Wahrheiten‹ spricht. Der konservative Zug bei Hayek liegt also darin, dass eine Ordnung, in der die Freiheiten und Privilegien der Einen sich als Unterwerfung der Anderen realisieren, als einzige Wahrheit postuliert und legitimiert wird. Gerade diese ideologische Anstrengung, die neoliberale und marktradikale Theorie zur universalen und einzig möglichen Wahrheit zu erheben, dient dazu, andere Deutungsmöglichkeiten, Theorien und alternative Konzepte des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Wirtschaftens zu desavouieren, womit gleichzeitig ein ›autoritärer Kapitalismus‹ mit dem Zusatz seiner Alternativlosigkeit ideologisch hervorgebracht und politisch-praktisch durchgesetzt wird.
2.5 A LTERNATIVLOSIGKEIT Der ideologische Einsatz der neoliberalen Theorie besteht also darin, die politische und gesellschaftliche Karte nach Massgabe ihrer ideologischen Kategorien so zu kartographieren, dass jede Alternative hierzu von Beginn an als freiheitszerstörende, wohlstandsgefährdende, aber vor allem als wissensanmassende und somit falsche ausgeschlossen wird. Indem die vom Menschen nicht in ihrer ganzen Komplexität und Mechanik erkennbare Sphäre des Marktes zum einzig möglichen Kriterium der ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung erklärt wird, erübrigen sich auch jegliche politischen Alternativen, die die Menschen gemeinsam ausarbeiten und der Marktordnung entgegenstellen können. Letztere ist in den Augen der neoliberalen Propheten alternativlos, womit sie auch die kapitalistischen Zersetzungsprozesse für Politik, Gesellschaft und Individuum mit einem uninteressierten Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Die ökonomische Ordnung, die sich aus einem solchen Denken, das die hegemoniale Matrix des politischen Handelns und Kalküls – kurz, der Regierung der Bevölkerung – darstellt,
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ist nicht anderes als ein ›autoritärer Kapitalismus‹, der seinen Autoritarismus hinter der Maske der Alternativlosigkeit versteckt und ihn so verbannen möchte. Es ist ein Kapitalismus, der in imperativer und autoritärer Manier immerzu von sich behauptet, nicht autoritär zu sein. In diesem Kapitel wird auf den Begriff der Autorität eingegangen, um anschliessend den autoritären Kapitalismus, seine Zusammensetzung und ideologische Basis sowie seine territorialisierenden Machteffekte für Politik und Gesellschaft diskutieren zu können. Autorität geht auf das lateinische ›auctoritas‹ zurück, das seinerseits von ›auctor‹ (Schöpfer, Stifter, Urheber, Verfasser) abgeleitet ist. Im Wort Autorität ist also die Bedeutung von »erzeugen, hervorbringen« implizit vorhanden. Derjenige, der über Autorität verfügt, bringt etwas hervor, das über längere Zeit seine Werthaftigkeit erhalten kann. Das Hervorgebrachte wird dabei nur deshalb von denjenigen, die davon betroffen sind, anerkannt, weil dahinter eine verbürgende Autorität steht. Nur dank dieser stabilisierenden Kraft, die im Hintergrund wirkt, kann sich etwas – sei es ein politisches System, eine Institution oder eine Person – in seiner eigenen Daseinsweise über längere Zeit behaupten. Somit ist Autorität ein Interpretationsvorgang, der die Festigkeit des Hervorgebrachten anstrebt. Gleichzeitig ist Autorität aber auch mit Macht und Stärke gekoppelt. Jemand der Autorität hat, verfügt gleichzeitig auch über eine bestimmte Stärke und Macht, um andere zu einem Handeln anzuleiten, das die Stabilisierung des Erzeugten garantieren soll. Autorität als Deutungsschablone von Macht und Stärke muss somit auch die Perspektive der davon Betroffenen berücksichtigen, um überhaupt funktionsfähig zu sein, das heisst, um überhaupt auf die gewünschte Resonanz des Gehorsams stossen zu können, in dessen Qualität und Intensität sich auch ihr Manifestationsgrad zeigt. Je nach Konstitution des Machtsubstrats, auf dem Autorität ruht, manifestiert sie sich als legitime Autorität, die kaum sichtbar in Erscheinung tritt und auf freiwillige Folgebereitschaft auf bauen kann, oder als repressive Autorität, die Gehorsam nur noch mittels Zwang und Unterdrückung auf bieten kann und permanent in den hierfür benötigten Institutionen und Apparate sichtund spürbar bleibt. Sobald eine Autorität auf einem Machtsubstrat aufruht, das die Meinungen der hiervon Betroffenen nicht berücksichtigt und sozusagen über ihre Köpfe hinweg wirkt, wird sie als Zwang wahrgenommen und für illegitim erachtet. Diese Form von Autorität entspricht dann dem, was ›Autoritarismus‹ genannt wird, also eine Autoritätsform, die Gehorsam ›autoritär‹, also ohne freiwillige Zustimmungsbereitschaft, erzwingt. Eine Autorität hingegen, die ihr Machtpotential aus der kritischen und gleichberechtigten Diskussion und somit auch Reflexion über ihre Daseinsberechtigung bei den hiervon Betroffenen schöpft, wird auf Zustimmung stossen, weil sie nichts anderes als den Willen der ihr Unterworfenen befolgt. Nur aus einer solchen Konstellation werden die Betroffenen – seien das Mitglieder eines politischen Gemeinwesens, einer nicht-politischen Vereinigung, einer privaten Gesellschaft, einer Unternehmung oder auch einer Familie – dem
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Herrschenden freiwillig gehorchen. Diese Autoritätsform benötigt, um freiwillige Folgebereitschaft zu generieren, also keine blinde Macht, sondern vielmehr eine Macht, die grundlegenden Elementen – wie Integrität und Vertrauen – entspringt, diese sichert und zudem sichtbar den Betroffenen zeigt, Elemente also, die den Betroffenen letztlich die Garantie zusichern, dass sowohl der Prozess der Autoritätsbildung als auch die von den Betroffenen akzeptierten, weil mitgestalteten Autoritätsinhalte verbindlich respektiert werden. Eine Autorität, die auf freiwillige Folgebereitschaft bauen und ihr Hervorgebrachtes auf eine Machtbasis stützen will, die von den Betroffenen geteilt und respektiert wird, muss mit diesen also eine Interaktion eingehen, die nicht nur ihre Willensäusserungen und Meinungen einschliesst und getreu durchsetzt, sondern auch das darin gesteckte Vertrauen nachweislich bestätigt, indem sie nur nach dieser Prozedur operiert. Zerbricht diese kommunikative Basis der Interaktion zwischen der Sphäre der Autorität und derjenigen der Betroffenen, werden nicht nur die Verbindlichkeitskonstellationen zerstört, sondern auch die Machtbasis mutiert von einer legitimen zu einer autoritären. Der ›autoritäre Kapitalismus‹ markiert den äussersten Punkt dieser gegenwärtigen Entwicklung in modernen demokratischen Gesellschaften. Der Begriff des ›autoritären Kapitalismus‹ soll in diesen Ausführungen jedoch nicht einen historischen Wandel anzeigen, etwa in dem Sinne, dass der Kapitalismus im Vergleich zu heute weniger oder gar nicht autoritär war. Der Kapitalismus als Funktionsprinzip des Marktes sowie als hierfür grundlegende Ideologie beruhte und beruht weiterhin auf einem autoritären Kern, der sich entweder in Ausbeutungsverhältnissen über institutionalisierte Rahmenbedingungen seines Wirkens und Funktionierens oder aber auch über die Sedimentierung seiner Existenzbedingungen in den Institutionen der politischen und zivilgesellschaftlichen Sphäre und somit im Bewusstsein des Einzelnen mal stärker, mal schwächer manifestiert. Es soll hier nicht auf die unterschiedlichen Manifestationsformen des Autoritarismus in der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus eingegangen werden. Vielmehr soll eine qualitative und insofern auch inhaltliche Verschiebung der Autorität diskutiert werden. Das Autoritäre am ›neuen‹ Kapitalismus speist sich nicht mehr aus einer freiwilligen, wenn auch umkämpften Folgebereitschaft innerhalb eines ›stahlharten Gehäuses‹, wie dies noch im Zeitalter des Keynesianismus der Fall war, sondern aus einer imperativen Logik, die mit kaschierter Macht und Gewalt verbunden ist und ihre Legitimation aus dem Glauben an ihre eigene Alternativlosigkeit speist – eine Autorität also, die weder im altrömischen Sinne von ›auctoritas‹ mit ›wirksamem Ansehen‹ auftritt noch ihre Wirksamkeit auf die Macht bezieht, durch die ein guter Rat, sollte er ausgeschlagen werden, gedeckt ist, sich also darauf bezieht, was im römischen Verfassungsrecht dem ›senatus consultum‹ entsprach, aber auch keine Autorität, die im hobbeschen Sinne einfach mit platter und für alle sichtbarer Gewalt Wahrheit zu setzen versucht. Vielmehr handelt es sich bei dieser neokapitalistischen Form von Autorität um eine, die gar nicht als solche erscheinen möchte, die weder direkt
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bestrafend noch gar disziplinierend auftritt, dafür aber unter dem Deckmantel einer angeblich autoritätslosen Freiheit sehr wohl nach eigenen Kriterien bestraft, diszipliniert und ausschliesst. Untersucht werden muss daher, wie nun aber diese bestrafende Unsichtbarkeit des autoritären Kapitalismus zu verstehen ist. Die hier zur Diskussion stehende Autorität ist eng an die theoretischen Prämissen des ›neuen Kapitalismus‹ geknüpft. Das Prinzip der liberalisierten und sich auf alle nicht-ökonomischen Bereiche ausdehnenden Marktsphäre erlaubt nicht nur keine autoritäre Einmischung, sondern eben auch eine Regierungstätigkeit, die diese Einmischung verunmöglicht. Hierfür muss diese Regierungsarbeit die libertären Grundsätze eines nach eigenen Logiken funktionierenden Marktes in die Gesellschaft hineintragen und darin die Prinzipien des angeblich freien und selbstgewählten Austausches jeglicher materieller sowie immaterieller Güter durchsetzen. Dies ist aber eine Durchsetzung, die ohne autoritären Kredit nicht vollbracht werden kann. Die neoliberale Regierungsform benötigt also Autorität, um die Gesellschaft nach den Prinzipien und Erfordernissen des Marktes zu gestalten, aber auch, um die Marktsphäre und die hierfür assimilierte Gesellschaft vor allfälligen Störfaktoren zu schützen. Offensichtlich kann nun in einer solcherart konzipierten und politisch durchgesetzten Marktsphäre, die sich einzig am freien Austausch und am daraus resultierenden Preismechanismus orientiert, nur derjenige partizipieren, der auch über den monetären Zugangscode verfügt. Ausgeschlossen bleibt somit eine Gesellschaftsschicht, die schwerlich in dieser Marktsphäre erscheinen kann, weil sie die nötige Kaufkraft schlichtweg nicht besitzt, die aber im Namen einer Verteidigung des marktrelevanten und -aktiven Teils der Gesellschaft dennoch ins Zentrum des politischen Interesses rückt. Diese Autorität spielt also auf einer dreifachen Klaviatur. Minimiert sie sich nahezu bis zur Unkenntlichkeit, wenn es um die Selbständigkeit der Marktsphäre geht, und operiert sie als Anreizmechanismus für die libertäre Durchdringung aller möglichen gesellschaftlichen Felder – vom Bildungswesen über die Gesundheitsversorgung bis zur individualisierten Partikel des ›Unternehmers seiner selbst‹ –, erscheint sie als imperatives Ordnungsprinzip, um die von der Marktsphäre Ausgeschlossenen zu verwalten. Im späteren Verlauf dieses Kapitels wird noch auf den genauen Funktionsmodus dieser Autorität und ihrer zugrundeliegenden Legitimationsbasis eingegangen. Wichtig an dieser Stelle ist vorerst der Hinweis auf den qualitativen Wandel und die chamäleonartige Erscheinungsform dieser Autorität. Die Frage, die sich hier nun aufdrängt, betrifft das ideologische Fundament, auf welchem diese polyvalente und mit verschiedenen Masken auftretende Autorität überhaupt erst sichtbar und operationalisierbar gemacht werden konnte. Es ist die neoliberale Doxa – bestehend aus Lehrsätzen und Prinzipien des Urteilens und Bewertens, die eigentlich nicht hinterfragt und so zu Glaubenssätzen, zu Dogmen werden können –, die das ideologische Fundament bereitstellt, auf dem dieser ›autoritäre Kapitalismus‹ global in Erscheinung treten konnte. Nicht nur in bürgerlichen politischen Kreisen wurde der Neoliberalismus
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als eine Art Dogma, geradezu als Staatsreligion akzeptiert, auch unter Sozialdemokraten und Grünen genoss er Verehrung. Die stimmigste Botschaft, die der Neoliberalismus über seine Think Tanks, Regierungsvertreter, Spitzenleute in nationalen sowie transnationalen politischen und gesellschaftlichen Institutionen, aber auch in Universitäten und Unternehmungen äusserst effizient verbreitete, war, dass eine freie Wettbewerbsordnung am ehesten das Beste für die Menschen gewährleisten könne und dass die Versuche einer wie auch immer gearteten Planung nicht nur ineffizient, sondern auch ein Ausdruck von Sozialismus seien und somit geradewegs den ›Weg in die Knechtschaft‹ weisen würden. Zudem gehörte zum neoliberalen Dogma die Annahme einer grundsätzlichen Stabilität des privaten Sektors. Sollten sich dennoch Instabilitäten oder sogar Krisentendenzen zeigen, so seien dafür einzig die politischen Institutionen verantwortlich, da diese offensichtlich die Gesetze des Marktes durch ungerechtfertigte Eingriffe verletzt hätten. Die Fixierung auf die freien Märkte fand zudem ihre Rechtfertigung im anderen, vor allem von Friedrich August von Hayek88 unermüdlich wiederholtem Dogma, dass die Märkte das beste verfügbare Entdeckungsverfahren für Problemlösungen seien. Nach neoliberalem Verständnis lassen sich nämlich mithilfe des Marktmechanismus alle Probleme lösen, denen die Menschheit ausgesetzt ist. Aus der neoliberalen Dogmatik spricht also, wenn auch an die moderne Zeit angepasst, das alte liberale Mantra: Konkurrenz auf freien Märkten erzeugt obendrein ein makroökonomisches Gleichgewicht – vielleicht sogar ein solches Gleichgewicht, das als sozialer, politischer und ökonomischer Stillstand verstanden werden dürfe, was gleichzeitig das berechtigte Zuklappen des Buches der Geschichte erlaube. Neben Francis Fukuyama, auf dessen »Ende der Geschichte«89 anschliessend eingegangen wird, hatte schon Antoine-Augustin Cournot, wie von Perry Anderson in seiner »Zone of Engagement«90 dargelegt wurde, diese Idee. Cournot zufolge lassen ökonomische Prozesse, die ein Optimum und ein Gleichgewicht zum Ergebnis haben, jeden Grund, einen anderen Zustand anzustreben oder gar die ökonomische und politische Ordnung sowie ihre Regulationsweise zu wechseln, als obsolet erscheinen. Das heisst, dass jede Alternative nicht nur unnötig, sondern auch unmöglich ist, da der Idealzustand ja schon erreicht wurde. Francis Fukuyamas Werk reiht sich in diese Logik der Alternativlosigkeit ein, die neben der wirtschaftlichen auch und vor allem eine politische sei. Der lange Marsch des Neoliberalismus zu globalem Ruhm fand seine Vollendung in den 1990er Jahren, als die ›samtenen Revolutionen‹ in Mittel- und Osteuropa und 1991 88 | H AYEK, F RIEDRICH AUGUST. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. In: D ERS. Rechtsordnung und Handelsordnung. Aufsätze zur Ordnungsökonomik. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. S. 132-149. 89 | F UKUYAMA, F RANCIS. Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler 1992. 90 | Siehe: A NDERSON, P ERRY. A Zone of Engagement. London. New York: Verso 1992.
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das Ende von Gorbatschows Politik von ›Glasnost‹ und ›Perestroika‹ dem ›Realsozialismus‹ den Todesstoss gaben. Triumphiert hatten die Hasardeure des Neoliberalismus, vor allem Ronald Reagan mit seiner Politik, die Sowjetunion ›totzurüsten‹, und es war Margaret Thatcher, die diesem Triumph das semantische Kleid mit dem berühmten TINA-Satz verpasste: »There is no alternative!« Anspruchsvoller und in wissenschaftlicher und intellektueller Hinsicht ehrgeiziger als das Getöse der ›eisernen Lady‹ war die Interpretation des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus durch Fukuyamas »Ende der Geschichte«, die eine viel diskutierte Debatte auslöste und zugleich den totalitären Denkgestus der neoliberal-neokonservativen Schule exemplarisch aufzeigt. Sowohl Fukuyamas Narrativ als auch Thatchers Slogan sind wesentliche ideologische Sedimente auf denen eine Autorität gedeihen konnte, die ihre wahre Legitimation nicht mehr aus einem politischen Kampf um Meinungen und Repräsentationen speist, sondern aus einer Ideologie, die den Glauben an die Alternativlosigkeit des neoliberalen Finanzkapitalismus zu einer unumstösslichen Wahrheit umwandeln möchte. Natürlich versuchen die Vertreter dieser Ideologie, die ihr eigene Autorität und letztlich auch ihre Position innerhalb des Rahmens einer demokratisch partizipierenden Öffentlichkeit durch Wahlergebnisse oder Meinungsumfragen zu legitimieren und zu sichern. Jedoch wird der weitere Verlauf zeigen, dass diese Legitimation aus einem medialisierten und tendenziell inhaltsleeren politischen Diskurs erfolgt, der eine Auseinandersetzung um eine mögliche Veränderung der marktliberalen Grundsätze scheut, sich dafür aber durch ein Agenda-Setting, das um das Thema Sicherheit kreist, auszeichnet. Diese erfolg- und machtversprechende Sorge um Sicherheit steht ihrerseits nicht nur in einem direkten Zusammenhang mit dem politisch durchgesetzten diskursiven Ausschluss von alternativen Wirtschaftsmodellen in der Öffentlichkeit, sondern sie bildet in Verbindung mit deren Vermarktungsqualität auch einen konstitutiven Bestandteil neoliberaler Regierungstechniken. Geklärt werden muss dabei, womit oder vor allem wogegen sich dieser dogmatische Glaube an eine Alternativlosigkeit, die angeblich das Erreichen des Endstadiums der Geschichte markiert, begründet. Fukuyamas Plädoyer von 1992 postulierte eine politische Weltkarte, die angesichts des Zerfalls des sogenannten kommunistischen Blocks und einer implizit herrschenden Geschichtslogik nunmehr den Siegeszug der liberalen Demokratien erleben müsste. Der Niedergang des einen Antagonisten müsste nämlich nach dieser geschichtsteleologischen Auslegeschablone das Verbleiben und somit den ultimativen Sieg des anderen Antagonisten ›bewahrheiten‹. Fukuyama ist davon überzeugt, dass ein »kohärente[r] und zielgerichtete[r] Verlauf der Menschheitsgeschichte« damit enden werde, dass dieser »den grössten Teil der Menschheit« in die »liberale Demokratie« führt.91 Gleichzeit ist er 91 | F UKUYAMA, F RANCIS. Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler 1992. S. 25.
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sich aber dessen bewusst, dass die beiden Weltkriege, die Schrecken des Totalitarismus, Pol Pots Massaker und vergleichbare Schreckensereignisse mögliche Einwände gegen seine Überzeugung darstellen. Zu untersuchen ist daher, wie Fukuyama nun sein Argument angesichts dieser »Ereignisse« organisiert, damit es kohärent und schlüssig bleibt. Er operiert auf zwei Ebenen, einer empirischen und einer idealistischen. All die Kataklysmen – wie Terror, Unterdrückung, Repression, Vernichtung, Genozid –, die gegen das Argument sprechen, sind »Fakten«, die dem Bereich des Empirischen zugesprochen werden, der »Fülle von Ereignissen in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts.« 92 Diese ›empirischen‹ Phänomene, die durch »empirische Zeugnisse«93 belegt sind, dementieren jedoch in keiner Weise die ideale Ausrichtung des »grössten Teils der Menschheit« auf die liberale Demokratie. Die Orientierung auf diese Demokratieform habe nämlich als solche, als telos eines Fortschritts, die Form einer idealen Finalität. Was ihr zu widersprechen scheint, gehört der historischen Empirizität an, die von der idealen Finalität, also von der geschichtsdeterminierten Zielvorgabe der liberalen Demokratie, von dieser »guten Nachricht«94, mit Hoffnung überstrahlt wird. Aber auch wenn Fukuyamas summarische Unterscheidung zwischen empirischer Realität und idealer Finalität in ihrer Einfachheit akzeptiert würde, bleibt weiterhin die Frage ungeklärt, weshalb diese absolute Ausrichtung auf die ideale Finalität, dieses ahistorische Telos der Geschichte sich ausgerechnet in der »bemerkenswerte[n] Entwicklung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts«95 manifestiert. Fukuyama erkennt ohne weiteres an, dass das, was er als Zusammenbruch der linken oder rechten Diktaturen überall in der Welt beschreibt, nicht immer »stabilen Demokratien Platz gemacht« hat. Dennoch glaubt er, bejahen zu können, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt »die liberale Demokratie … das einzige klar umrissene politische Ziel [bleibt], das den unterschiedlichen Regionen und Kulturen rund um die Welt gemeinsam vor Augen steht.«96 Dass er später im Text jedoch die islamische Welt von diesem angeblichen Konsens über die liberale Demokratie als vernünftigste Form der Regierung ausschliesst,97 offenbart nicht nur die Legierung aus Intoleranz und Verwirrung, die Fukuyamas Narrativ 92 | Ibid. S. 111. 93 | Ibid. S. 23, 199, 384. 94 | Ibid. S. 14. 95 | Ibid. S. 14. 96 | Ibid. S. 14. 97 | »Heute jedoch besteht zumindest ausserhalb der islamischen Welt ein allgemeiner Konsens darüber, dass die liberale Demokratie die vernünftigste Form der Regierung ist.« (S. 291) Das politische Problem islamischer Gesellschaften und ihrer despotischen Regimes wird somit einfach aus einem dominant gesetzten Diskurs – demjenigen der eschatologischen liberalen Demokratie – heraus interpretiert, und überdies mit einer religiösen These unterfüttert. Denn, wenn es »der Gang Gottes in der Welt (ist), dass der Staat ist«, wie Fu-
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untermauert, sondern auch das implizite Wesen des »Endes der Geschichte« als eine christliche Eschatologie. Er insistiert also auf einer Argumentationsstrategie, die, nachdem sie die »Fakten« zynisch ins Reich der bloss empirischen Realität verschoben hat, nunmehr auf einer idealen Basis ihr semantisches Instrumentarium ausbreitet. Die »globale Entwicklung zu mehr politischer Freiheit« nämlich wurde gemäss Fukuyama immer von einer »liberale[n] Revolution des ökonomischen Denkens« begleitet oder, wie es im englischen Original ›präzisiert‹ wird: »sometimes followed sometimes preceeded.«98 Darin liegt die »gute Nachricht« begraben, die nunmehr an die Oberfläche geholt werden muss: »Allerdings haben wir uns inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass die Zukunft immer neue Bedrohungen für eine moralische, liberale und demokratische politische Praxis bringt, dass wir gute Nachtrichten kaum noch zur Kenntnis nehmen, wenn es sie tatsächlich einmal gibt. Und es sind gute Nachrichten zu vermelden.«99 Die ›guten Nachrichten‹ des letzten Viertels des Jahrhunderts manifestieren sich als Allianz von liberaler Demokratie und ›freiem Markt‹, die sich nolens volens, als ideale Finalität also, über den ganzen Globus ausbreiten wird. Das Insistieren auf der idealen Ebene der Argumentation muss aber auf die empirische Ebene rekurrieren. Erst das historisch-empirische Zusammenbrechen des kommunistischen Blocks ermöglicht dem Autor die Erhärtung der geschichtsteleologischen These. Was über die blosse Tatsache, dass der kalte Krieg und somit auch die letzte Stufe der antagonistischen Geschichtsentwicklung mit dem Niedergang des einzig anderen Systemkonkurrenten ein Ende fand, hinaus von Fukuyama intendiert wird, ist auch das Ende einer bestimmten politisch-philosophischen Deutung der Welt, nämlich das der marxistischen. Die Rede von der »guten Nachricht« lässt sich also auf zweierlei Weise interpretieren. Einerseits bezeichnet der empirische Niedergang des realen Sozialismus eine gute zu vermeldende Nachricht. Der Westen hat faktisch über den Osten gesiegt. Andererseits weist die christlich anmutende Wendung der »guten Nachricht« auf den Sieg über das marxistische Denksystem, welches auch ein Ende der Geschichte voraussah, aber eben nicht dasjenige, das gemäss Fukuyama und seiner Analyse der Empirizität faktisch eingetroffen ist. Dass die eingetretene Faktizität jedoch nicht oder gemäss Fukuyama noch nicht die globale Ausbreitung des siegreichen und einzig verbliebenen Systems der liberalen Demokratie bezeugen kann, ist für den amerikanischen Politikwissenschaftler kein Problem der logischen Stringenz. Er macht schlicht aus allem ein Argument, sowohl aus der »guten Nachricht« als empirisch und angeblich feststellbarem Ereignis (Ende des kommunistischen Blocks) als auch aus der »guten Nachricht« als schlichter Verkündigung eines noch unerreichbaren, aber trotzdem unentrinnbaren regukuyama Hegels Rechtsphilosophie zitiert, dann hat dieser Gang den Sinn eines christlichen Ereignisses. (S. 277). 98 | Ibid. S. 14. 99 | Ibid.
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lativen Ideals, das an keinem historischen Ereignis und schon gar nicht am offensichtlichen empirischen Scheitern, wie es sich in den zunehmenden militärischen Konflikten weltweit abzeichnet, messbar wäre. Die liberale Demokratie hat bei Fukuyama ein Janusgesicht, entweder zeigt er sie in ihrer empirisch fassbaren Maske oder in ihrer bloss überhistorischen Idealität. In völliger Beliebigkeit ist das empirische Ereignis der liberalen Demokratie bald die Verwirklichung, bald die Verheissung der Verwirklichung. Fukuyamas Narrativ gibt jegliche Logik auf, indem er die (unvollendete) Wirklichkeit an einer (angeblich vollendeten) Idealität spiegeln lässt und sie daran bindet. Der Verkündigung der faktischen »guten Nachricht«, ihrem historischen und empirisch feststellbaren Ereignis, substituiert er die Verkündigung einer idealen guten Nachricht, die jeder Empirizität inadäquat ist. Das historisch Feststellbare wird enthistorisiert, aber aus einem anderen Diskurs, aus einer anderen Argumentationsebene heraus. Die Enthistorisierung der faktischen Unvollendetheit des Verkündeten speist sich also nicht aus Argumenten, die auf dieser phänomenalen Ebene liegen, sondern wird vielmehr mit einem Argumentationsduktus überstülpt, der keinen logischen Anhaltspunkt mehr im Phänomenalen findet. Unter Verweis auf seinen ersten Artikel von 1989 »Das Ende der Geschichte?«, expliziert Fukuyama diesen Duktus, indem er Folgendes schreibt: »Es mag zwar heute durchaus Länder geben, wo es nicht gelingt, eine stabile liberale Demokratie zu errichten, andere Länder mögen in primitivere Herrschaftsformen wie Theokratie oder Militärdiktatur zurückfallen, aber das Ideal der liberalen Demokratie ist nicht verbesserungsbedürftig.«100 Es ist dieses ›aber‹ welches den Übergang von einer Argumentationsebene zur anderen, dominierenden, offenbart. Das Ideal speist sich aus einem anderen Diskurs, in welchem es um Theorien des Demokratischen geht und nicht um die faktische Einrichtung von liberalen Demokratien, die vom idealen Diskurs überschattet werden. Das geheime Ziel dieser Strategie ist die Nihilierung des Marxismus, denn die überstülpende Argumentation funktioniert nur, wenn jegliche andere Theorie des Demokratischen als von der Geschichte überholt betrachtet werden kann. Überdies sagt dieser dominante Diskurs auch etwas über die Art der liberalen Demokratie aus, die Fukuyama als eschatologische Realisierung vor Augen schwebt. Nicht nur die schon erwähnte Allianz zwischen liberaler Demokratie und ›freiem Markt‹ weist auf Fukuyamas ideale Demokratiekonzeption hin, sondern auch eine komplexe Passage seines Werkes, in der er in Anlehnung an Platons Theorie des thymos und an Hegels Dialektik von Herr und Knecht eine Tradition der wechselseitigen Aufhebung der widersprüchlichen Konstellation zwischen Begierde und Bewusstsein zu sichten glaubt, die trotz vieler Differenzen und Debatten zwischen politischen Denkern ihren Weg über Machiavelli, Hobbes, Locke usw. genommen habe. 101 Es sei eine Tradition, die sich fortschreibe, bis am Ende der Geschichte der universale und 100 | Ibid. S. 11. Hervorhebung des »aber« von A.M. 101 | Ibid. S. 204-265.
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homogene Staat erscheine, der auf den »beiden Säulen der Ökonomie und der Anerkennung«102 ruhen werde. Exemplarisch in dieser Hinsicht ist gemäss Fukuyama die angelsächsische Konzeption des modernen Liberalismus. Sie habe nämlich die Megalothymia – wie sie den Tyrannen Hitler, Stalin und Saddam Hussein eigen sei – 103 wirksam auszuschliessen versucht, auch wenn »das Verlangen nach Anerkennung … in der Form der Isothymia überall in der Welt nach wie vor vorhanden (ist).« 104 Jeder Widerspruch, so Fukuyama, sei also nur dann aufgehoben, wenn ein Staat die beiden Säulen der ökonomischen Rationalität und des Thymos, respektive der Begierde nach Anerkennung zu verbinden verstehe. Diese Bindungsfähigkeit sieht Fukuyama in der idealen liberalen Demokratie angelsächsischen Typs. Diese ist aber nicht nur ein Ideal, sondern auch ein Ereignis, weil sie schon angekommen, also schon faktisch präsent ist. Weil das Ideal sich also bereits in seiner Form als Ideal präsentiert hat, soll das Ereignis seines Schon-angekommen-Seins von jetzt an das Ende einer endlichen Geschichte bezeichnen. Es handelt sich also um ein Ideal, das gleichzeitig unendlich und endlich ist: unendlich, weil es sich von jeder determinierten empirischen Faktizität unterscheidet oder eine langfristige Tendenz anzeigt (liberale Demokratie als ideale Finalität), endlich, weil es als Ideal schon eingetroffen ist und die Geschichte von da an vollendet ist (liberale Demokratie als Siegerin über die sozialistischen Demokratien). Fukuyama schliesst das Buch der Geschichte, indem er nicht nur das Empirische mit dem Idealen überdeterminiert, sondern auch, indem er sein Augenmerk auf »transhistorische Massstäbe« 105 richtet, nach denen er beurteilen will, ob ein Regime oder Sozialsystem gut oder schlecht ist. Damit aber schreibt er eine bestimmte geschichtsteleologische Narration weiter und lässt eine andere fallen. »Weder Hegel noch Marx glaubten, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften unendlich weitergehen würde. Sie nahmen vielmehr an, dass sie enden würde, wenn die Menschheit eine Gesellschaftsform erreicht hätte, die ihren tiefsten Sehnsüchten entspräche. Beide Denker postulierten also ein ›Ende der Geschichte‹, für Hegel war es der liberale Staat, für Marx die kommunistische Gesellschaft.«106 Fukuyamas Positionierung ist offensichtlich. Doch bleibt zu fragen, inwiefern diese Positionierung auch den Ausschluss des anderen Narrativs bedeutet. Der faktische Zerfall der Sowjetunion und des darin von Fukuyama gesichteten Marxismus, lässt für ihn auch die diesem inhärente Geschichtsteleologie nichtig werden. Was bleibt, ist ein Zustand der Alternativlosigkeit sowohl in em102 | Ibid. S. 283. 103 | Ibid. S. 264. 104 | Ibid. S. 265. 105 | Ibid. S. 199. An anderer Stelle spricht er synonym auch vom »überhistorischen Massstab«. S. 384. 106 | Ibid. S. 11-12.
2. Ideologische Elemente
pirischer als auch in idealer Hinsicht, die Fukuyama in der Realisierung der liberalen Demokratie als letzte vernünftige, weil ›wahr- und vernünftiggewordene‹ Regierungsform sichtet. Dennoch entspricht Fukuyamas Narrativ mehr einem Glauben als einer philosophisch-theoretischen stringent abgesicherten Argumentation. Sein Oszillieren zwischen der Faktizität einiger sogenannter liberaler Demokratien und der idealen Geltung der liberalen Demokratie als alternativlose Regierungsform zeigt dies an. Es ist der Glaube an eine Alternativlosigkeit, der als Wahrheit ausgegeben wird. Das Wahre ist somit nicht das Vernünftige, da das Wahre nicht die globale Ausbreitung der liberalen Demokratie bezeugen kann. Zudem wird die liberale Demokratie angelsächsischen Typs von einer bestimmten Rationalität bezüglich des Spannungsfeldes zwischen Markt und Staat und der damit gekoppelten wirtschaftspolitischen Sachzwänge für Politik und Gesellschaft durchgesetzt. Der ›Washington Consensus‹ bildete hierbei nur die Spitze des Eisbergs. Fukuyamas Diskurs arbeitet mit einem Taschenspielertrick und desavouiert sich damit zugleich. Mit der einen Hand macht er eine Logik des empirischen Ereignisses geltend, die er braucht, um die endgültige Niederlage der sogenannten realsozialistischen Staaten zu konstatieren, die bis dahin den Zugang zum gelobten Land der ökonomischen und politischen Liberalismen versperrt hatten. Mit der anderen Hand diskreditiert er die Logik des empirisch genannten Ereignisses im Namen eines transhistorischen Ideals. Der Taschenspielertrick zeigt sich darin, dass er die empirische Faktizität suspendieren muss, um nicht dem Ideal das anlasten zu müssen, was ihm in der Realität widerspricht; also all das Unheil und alles das, was in den kapitalistischen Staaten und in den Liberalismen nicht gut geht, all das, was in einer Welt nicht gut geht, die von Kräften dominiert ist, deren Hegemonie an dieses vorgeblich überhistorische und naturalisierte Ideal gebunden ist. Der Taschenspielertrick zwischen historischer Empirizität und teleologischer Transzendenz, zwischen der empirischen Realität des Ereignisses und der absoluten Idealität des liberalen telos, kann jedoch nur dann funktionieren, wenn daneben keine andere teleologisch fundierte ›grosse Erzählung‹ mehr existiert. Fukuyamas Narrativ, das letztlich ein neoliberales ist, findet seine triumphierende Euphorie erst dann, wenn sie die empirische Ereignishaftigkeit, also den Zerfall des kommunistischen Blocks, aus einer idealistischen Perspektive befragt, die nunmehr, gerade dank der historischen Faktizität, alternativlos erscheint. Dieses Narrativ verzerrt und unterhöhlt durch das Insistieren auf der eigenen Alternativlosigkeit die politische Philosophie und selbst die gängigen liberalen Konzepte der Demokratie. So betonte bereits 1995 Immanuel Wallerstein, 107 dass der mit der Zäsur von 1989 angezeigte definitive Triumph des Liberalismus über die Ideologie des Marxismus-Leninismus zugleich auch den Kollaps des Liberalismus selbst darstelle. Die Welt sei ab 1989, so Wallerstein, in eine Phase des After Liberalism eingetreten, wie der Titel seines Buches die neoliberale Zerstörung des 107 | Vgl. WALLERSTEIN, I MMANUEL . After Liberalism. New York: The New Press 1995.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
politischen Liberalismus auf den Punkt brachte. Die neoliberale Regierungsweise zwingt tatsächlich dazu, alle Beziehungen zwischen Staat und Nation, Mensch und Bürger, Privatem und Öffentlichem etc. neu zu überdenken. Darin liegt auch Thatchers Virulenz, als sie behauptete, dass es zur angelsächsischen und neoliberalen Regierungsform keine Alternative gäbe. Genauso wie Thatchers berühmte Formel ist auch Fukuyamas Plädoyer letztlich als eine performative Interpretation zu verstehen, eine Interpretation also, die das, was sie interpretiert, zugleich verändert will. Die Veränderung zielt auf ein philosophisch und demokratietheoretisch unterfüttertes Szenario einer politischen und ökonomischen Alternativlosigkeit. Das diskursive Ringen um die Plausibilisierung dieses Szenarios muss sich aber ständig des Feindes bewusst sein, den es zu neutralisieren gilt. Fukuyamas Szenario kann nämlich nur dann Gültigkeit erlangen, wenn auf der Weltbühne der marxistische Akteur verschwunden ist. Intoniert wird also unaufhörlich die gleiche Leier, 108 nämlich die, dass Marx tot ist, dass der Kommunismus tot ist, und mit ihm all seine Hoffnungen, seine Theorien, Diskurse sowie Praktiken, und dass nunmehr der Kapitalismus gesiegt habe und lebe, dass der Markt lebe und dass der ökonomische und politische (Neo-)Liberalismus überlebe. Sein Diskurs, den er als herrschenden, weil ›wahrgewordenen‹ etablieren will, kann nur über das Herauf beschwören des – allerdings gleich wieder exorzierten – marxistischen Gespenstes Gültigkeit erlangen. Aber gerade das schweigende, doch unhörbar laute Insistieren auf dem Gespenst des Marxismus, um sein Verschwinden bezeugen zu können, erweist sich nicht nur als konstitutives Aussen von Fukuyamas Plädoyer, sondern auch als eine phantasmatische Entität, die offenbar weiterhin spukt. Der französische Philosoph Jacques Derrida, dessen Dekonstruktion des »Endes der Geschichte« hier in groben Zügen gefolgt wurde, macht darauf aufmerksam, dass gerade in dieser phantasmatischen Spektralität, mit der sich der Marxismus als konstitutiv für die gegen ihn gerichtete Kritik manifestiert, die neoliberale Phrase der Alternativlosigkeit all ihren Anspruch auf Universalität verliert und sich vielmehr als das präsentiert, was in ihrem Verborgenen lauert – als partikulare Ideologie, die eine neue Hierarchie etablieren will. Nachdem das ideologische Fundament der Alternativlosigkeit des neoliberalen Systems dargelegt wurde, soll nun auf die Funktionsmechanismen des daraus entstandenen ›autoritären Kapitalismus‹ und seiner demokratie-entleerenden Wirkung eingegangen werden. Die These ist die, dass auf diesem ideologischen Fundament, das angeblich alternativlos ist, das neoliberale kapitalistische System autoritär eine globale Ausweitung erlebt und gleichzeitig die Rückentwicklung liberaler demokratischer Prozesse forciert. Dies ist eine Stellungnahme, die auf den ersten Blick überrascht, wenn man bedenkt, dass seit 1988, also dem ›Vorabend‹ des Zusammenbruchs des Ost108 | D ERRIDA, JACQUES. Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 78.
2. Ideologische Elemente
blocks, die Anzahl der Länder weltweit, in denen einigermassen freie Wahlen abgehalten werden, von 147 auf 164 im Jahr 1995 und auf 191 im Jahr 1999 gestiegen ist. Geht man von einer strengeren Definition von umfassenden und freien Wahlen aus, ergibt sich ein anderes, aber für die These dennoch überraschendes Bild: Kam es in den Jahren 1988 bis 1995 zu einem realen Rückgang von 65 auf 43, konnte die Weltkarte bis 1999 einen Anstieg auf 88 Demokratien verzeichnen, 109 so dass die Frage gestellt werden könnte, ob Fukuyama doch recht behalten hat, als er die alternativlose Universalisierung der westlichen liberalen Demokratien als endgültige Regierungsformen des Menschen postulierte. Es kommt darauf an, wie man Demokratie und Liberalismus definiert. Fukuyama kann unter Demokratie offensichtlich nicht die wohlfahrtsstaatlich entstandenen Regierungsformen nach dem Zweiten Weltkrieg verstehen, da diese bewusst das Phantasma des Marxismus zu domestizieren versuchten und gleichzeitig die beiden Säulen der Ökonomie und der Anerkennung als umkämpfte und somit weiterhin widersprüchliche konzipierten. Fukuyama plädiert vielmehr für eine Demokratieform, in der es keine Widersprüche mehr aufzuheben gibt, weil die sozialistische Antithese inexistent geworden ist und nunmehr allein das Prinzip ›Markt‹ bedeutungsstiftend ist. Auch was den Liberalismus als politisches Projekt angeht, reiht sich Fukuyama unter die Apologeten des neoliberalen Wirtschaftsliberalismus. Während für politische Liberale, deren wohl herausragendster Vertreter John Rawls war, der Liberalismus als politische Doktrin sich darum bemüht, die Frage zu beantworten, wie soziale Einheit verstanden und hergestellt werden kann angesichts unterschiedlicher Meinungen und Überzeugungen hierzu,110 verstehen die Neoliberalen die freie Marktsphäre als einzig möglichen Ort einer für alle freien und vorteilhaften Interaktion. Ihr Liberalismus ist keiner, der gleichzeitig politische Partizipationsrechte durchsetzt und durch dieselben gesichert wird, sondern einer, der sich ausschliesslich in negativer Weise definiert, also als Fehlen jeglichen äusseren Zwanges, damit die Menschen ungestört die Marktsphäre betreten können, die von diesem Liberalismus zugleich in ihrer eigenen freien Entwicklung permanent stabilisiert wird. Der Unterschied liegt also darin, dass politische Liberale des rawlschen Typs auf liberale Institutionen setzen, welche für die hiervon betroffenen Menschen Bedingungen, etwa in Form von demokratischer Partizipation, herstellen, damit ein System von ›checks and balances‹ entstehen kann, welches dafür sorgt, dass partikulare Interessen nicht alternativlos durchgesetzt werden können und 109 | Vgl. C ROUCH, C OLIN . Postdemokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 7. 110 | »One task of liberalism as a political doctrine is to answer the question: how is social unity to be understood, given that there can be no public agreement on the one rational good, and a plurality of opposing and incommensurable conceptions must be taken as given? And granted that social unity is conceivable in some definite way, under what conditions is it actually possible?« R AWLS, J OHN . Justice as Fairness: Political not Metaphysical. In: Philosophy and Public Affairs. Vol. 14. No. 3. S. 223-251. Hier S. 249.
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weiterhin die von den Institutionen tangierten Personen auch die rechtmässigen Urheber ihrer eigene Gesetze und Gestalter der diese durchsetzenden Institutionen sind: Institutionen also, die über demokratische Partizipation der Bürger und Bürgerinnen mitunter auch alternativlos erscheinende wirtschaftliche Ordnungen verändern können. Fukuyamas Prognose hat also insofern eine Bestätigung erfahren, als er Demokratien des angelsächsischen Typs, wie sie von Reagan oder Thatcher durchgesetzt wurden, meinte, und nicht etwa die sozialstaatlich orientierten Demokratien der europäischen Nachkriegszeit. Letztere werden zunehmend verdrängt und auf der globalen Bühne durch Erstere ersetzt. Was ersetzt wurde, war das für den politischen Liberalismus à la John Rawls grundlegende System von ›checks and balances‹, und zwar durch die Dominanz ökonomischer Institutionen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen. Das ist eine Dominanz, die nur dadurch erfolgreich werden konnte, dass sie ihre autoritäre Herrschaft mit dem Glauben an die eigene Alternativlosigkeit verhüllen konnte. Das ist also ein »neuer Kapitalismus« 111, wie Richard Sennett ihn nennt, der sich einerseits durch hohe Flexibilität wie Mobilität auszeichnet und andererseits einen autoritären Charakter annimmt. Er weist einen Charakter auf, der sich darin manifestiert, dass aus eigener Machtvollkommenheit heraus, die unumschränkte Gültigkeit der nunmehr angeblich alternativlosen neoliberalen Prinzipien gegenüber Individuen, dem sozialen Gefüge moderner Gesellschaften sowie der Demokratie durchgesetzt werden kann. Erhöht werden damit die Spannungen zwischen den Prinzipien der neoliberalen kapitalistischen Ökonomie und der Demokratie: Während Demokratie auf Gleichheit basiert, setzen die neoliberalen Prinzipien auf den Stärkeren und betrachten die Ungleichheit als Antriebsmechanismus des kapitalistischen Systems. Robert J. Samuelson, ein amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, brachte diese Funktionslogik gut auf den Punkt, als er sich über die schleichende Anpassung der kontinentaleuropäischen Ländern an die neoliberale Alternativlosigkeit beklagte: »Something … needs to happen in the rest of Europe. If workers never fear losing their jobs, there’s a little reason to restrain wages. Some uncertainty, anxiety and fear are essential.« 112 Zum Charakter des autoritären Kapitalismus gehört also nicht nur die alternativlose Durchsetzung eines Flexibilisierungszwanges, der eingelebte soziale Lebens- und sozialisatorische Entwicklungsrhythmen seinen neuen Dynamiken und Rationalitäten unterwirft und so zerstört, sowie auf die Verletzung menschlicher Integrität zielt, sondern auch die Durchsetzung der Marktorthodoxie auf Kosten der Demokratie. Das als alternativlos signifizierte und hegemonial durchgesetzte uneingeschränkte Marktmodell als Handlungs- und (Selbst-)Regierungsprinzip des Einzelnen sowie der Regierungen hat eine ihm innewohnende Tendenz »alle Gebiete der Gesellschaft zu invadieren und eine Marktwirtschaft mit ihren begrenzten Funktionen in eine Marktgesellschaft zu verwandeln, wo111 | S ENNET T, R ICHARD. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 2. Aufl. Berlin: BvT 2007. 112 | S AMUELSON, R OBERT J. A New Start for Europe? In: Newsweek. August 25/1997. S. 36.
2. Ideologische Elemente
bei seine Wertungen und Handlungsmuster alternative Wertungen und Handlungsmuster ausser Kraft setzten.« 113 Was auf dem Spiel steht, ist also nicht das »Ende der Geschichte«, sondern eher das Ende einer auf Partizipation geeichten demokratischen politischen Kultur, und damit auch das »Ende der Politik«, wie sie vom britischen Demokratietheoretiker David Held114 postuliert wurde. Helds »Ende der Politik« zeichnet sich dadurch aus, dass demokratische Regierungen die absolute Anpassung an bestimmte Wirtschaftsinteressen verfolgen und ein sehr enges Verständnis des öffentlichen Nutzens vertreten. Er richtet seine Kritik insbesondere an die sozialdemokratische Idee des »dritten Weges«,115 welche, fern davon, das von ihr verlautbarte Ende der Ideologien als das Ende von neoliberalem Marktfundamentalismus und sozialistischem Denken zu realisieren, vielmehr auf Kosten der Demokratie den Siegeszug einer als alternativlos sich gebärenden marktorthodoxen ›Wahrheit‹ forciert hat. Was hier also interessiert und was anschliessend zu diskutieren sein wird, ist vielmehr die bei David Held implizit und bei Norman Birnbaum 116 explizit vertretene These, dass dort, wo die Marktorthodoxie siegt, die Demokratie stirbt. Aber es ist angesichts einer kurzsichtigen empirischen Sicht auf den politischen Flickenteppich der Welt der Frage nachzugehen, ob es nicht vielmehr so ist, dass nach 1989 die Weltkarte dank der sogenannten Globalisierung nicht nur eine Anhäufung von Demokratien, sondern vorderhand auch eine Zunahme an demokratischen Beteiligungsprozessen erlebt hat. Die Beantwortung dieser Frage und damit auch die kurz- oder weitsichtige Perspektive, in der man sie stellt, hängt nicht nur von der Definition von Demokratie und Globalisierung ab, sondern auch von der Art und Weise, wie das Spannungsverhältnis zwischen diesen zwei Phänomenen verstanden wird. Begnügt man sich mit einem minimalen Verständnis von Demokratie, in welchem eine Ansammlung von Staatsbürgern alle paar Jahre ihre legislativen Vertreter wählt, um dann weiterhin im möglichst unangetasteten und ausgeweiteten Bereich des Privaten, also der Wirtschaftssphäre weiter wirken zu können, und begreift man Globalisierung einzig als weltweiten Relaismechanismus zur schnelleren und effizienteren Bewegung von Ka113 | I SRAEL, JOACHIM . Neo-liberaler Kapitalismus gegen soziale Marktwirtschaft und Wohlfahrtstaat. In: S TEFAN H RADIL (Hg.). Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996. Frankfurt a.M.: Campus 1997. S. 73-93. Hier S. 81. 114 | Vgl. H ELD, DAVID. Jenseits des Dritten Weges, In: Die Zeit. Nr. 3/2000. S. 7 und 9. Siehe auch: H ELD, DAVID. E T A L . Global Transformations: Politics, Economics and Culture. Oxford. Stanford: Standford University Press 1999. 115 | Vgl. S CHRÖDER, G ERHARD. B LAIR, TONI. Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. In: Frankfurter Rundschau (Dokumentation). Nr. 131/1999. S. 18. 116 | B IRNBAUM, N ORMAN . Siegt die Marktorthodoxie, stirbt die Demokratie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 12/1997. S. 1443-1456.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
pital weltweit, dann gibt es in der Tat nicht viel an der Behauptung auszusetzen, dass nach dem Fall der Sowjetunion und mit der darauf folgenden Ausbreitung der ökonomischen Globalisierung die liberale Demokratie einen weltweiten Siegeszug angetreten hat. Jedoch gibt es viel daran auszusetzen, sobald man sich Gedanken über die Qualität dieser liberalen Demokratien macht. Hierfür ist eine genauere Analyse der sogenannten Globalisierung notwendig, die auch als Antriebsfeder und zugleich Begleiterscheinung dieser neuen demokratischen Weltkarte verstanden wird. Der Globalisierungsprozess, wie er nach 1989 weltweit manifest wurde, lässt sich an drei konstitutiven Elementen festmachen: einerseits an der Geschwindigkeit der technologischen Innovationen und ihrer weltweiten Verbreitung, andererseits der Verlagerung der politischen Rationalität auf die ökonomische Betrachtungsweise mit dem Hauptaugenmerk auf die Deregulierung und Integration der Kapitalmärkte und zuletzt der damit einhergehenden Krise des Nationalstaates oder um es mit Jürgen Habermas zu sagen, die postnationale Konstellation. 117 Alle drei Elemente charakterisieren das Neue am gegenwärtigen Globalisierungsprozess und schwächen zugleich das Kräftepotential politischer Demokratien. Um das Neue an der »wirkungsreichsten Bestimmungsmacht«118 Globalisierung herausschälen zu können, ist ein historischer Vergleich notwendig. Die heutigen Veränderungen werden nämlich nur dann verständlich, wenn sie mit früheren Globalisierungsprozessen in Verbindung gebracht werden. Immanuel Wallerstein 119 betont diesbezüglich, dass die ökonomische Globalisierung in ihrer anfänglichen historischen Phase wesentlich zur Herausbildung von souveränen Nationalstaaten beigetragen und zudem im Rahmen einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft auch die Demokratieentwicklung gefördert hat. Diese Globalisierung I, wie Dietmar Brock sie nennt, unterscheidet sich nun von einer Globalisierung II, also derjenigen, die spätestens seit 1989 die Welt umspannt. Die wichtigste und tiefgreifendste Unterscheidung, die auch das Demokratieverständnis sowie die Demokratieentwicklung verändert hat, liegt darin, dass es zwischen diesen beiden Globalisierungsformen zu einer »Umkehrung im Abhängigkeitsverhältnis zwischen Weltwirtschaft und Nationalstaaten« 120 gekommen ist. Gemäss Brock führt nämlich der Vernetzungsgrad wirtschaftlicher Akteure zu einem Zugewinn an Selektionsmacht des Kapitals gegenüber 117 | Vgl. H ABERMAS, J ÜRGEN . Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 118 | Vgl. A LTVATER, E LMAR . M AHNKOPF, B IRGIT. Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot 1996. 119 | Vgl. WALLERSTEIN, I MMANUEL . The Modern World-System. Band 1: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century. San Diego u.a.: Academic Press 1974. 120 | B ROCK, D IETMAR . Wirtschaft und Staat im Zeitalter der Globalisierung. Von nationalen Volkswirtschaften zur globalisierten Weltwirtschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B. 33-34/1997. S. 12-19. Hier S. 17.
2. Ideologische Elemente
nationalen Wirtschaftsstandorten, während den Nationalstaaten nur noch Standortkonkurrenz und -sicherung bleibe, die zugleich noch durch den neuen Mechanismus des beschäftigungslosen Wachstums entwertet würden. In diesem neuen Abhängigkeitsverhältnis zwischen einer als alternativlos plausibilisierten »unkontrollierbaren Weltwirtschaft« und nationalstaatlicher Politik reduzieren sich auf der einen Seite also die nationalstaatlichen Interventionsmöglichkeiten, während auf der anderen Seite die Selektionsmacht des Kapitals steigt: »Kurz gesagt, der Nationalstaat beendet das Jahrhundert, welches ihm zu seiner grössten Macht verhalf, unter dreifachem Druck. Von oben droht ihm eine unkontrollierbare und globalisierte Weltwirtschaft sowie auch übernationale Gebilde wie die Europäische Union. Von unten höhlen ihn separatistische und (praktisch von der EU unterstützte) regionalistische Bewegungen aus sowie der heutige Drang zur Dezentralisierung. Unsicher, dunkel und gefährlich, bedroht ihn von aussen die internationale Lage seit dem Kalten Krieg. Innerhalb seiner Grenzen schwindet die Macht und die Schwächung der Beziehungen zu seinen Bürgern, die z.B. in der fallenden Wahlbeteiligung Ausdruck findet.« 121 Es ist insbesondere das glaubhaft plausibilisierte Drohpotential des Kapitals, welches nun, angesichts einer angeblich alternativlos gewordenen neuen neoliberalen Weltordnung ausreicht, um weitreichende Folgen für innergesellschaftliche Veränderungen und staatliche Politik nach sich zu ziehen. Dies ist ein Drohpotential, das in seiner totalitären, autoritären und alternativlosen Semantik Regierungen jeglicher Couleur einspannt – bürgerliche, konservative und sozialdemokratische. Zudem hat dieses Drohpotential ein politisches Szenario ermöglicht, in welchem die Zunahme der globalen ökonomischen Integration mit der Abnahme der innergesellschaftlichen sozialen Integration über den Arbeitsmarkt einhergeht, die für unterschiedlich umfangreiche Gruppen von Bedeutung ist. Das Ziel der Vollbeschäftigung wurde vollends ins Reich der Illusionen verabschiedet und die Arbeitswelt nach alleinigen Prinzipien der Profitabilität und des kurzfristigen ›return on investment‹ neu abgesteckt. Hierbei versteht es sich von selbst, dass auch die Beschäftigungspopulation und -verhältnisse eine tiefgreifende Desintegration erlebt haben. Gemäss Alain Touraine122 entwickeln sich europäische Gesellschaften diesbezüglich in einer Relation von 30:30:40. 30% der jeweiligen Arbeitsbevölkerung sind völlig desintegriert, 30% sind prekär beschäftigt und nur 40% leben in gesicherten Verhältnissen. Diese Dreiteilung spiegelt sich auch in Robert Castels »Zonen der Unsicherheit«. 123 Er geht dabei vom Begriff des 121 | H OBSBAWM, E RIC. Eine gespaltene Welt geht ins 21. Jahrhundert. In: Frankfurter Rundschau (Dokumentation) 283/1999. S. 19. 122 | Alain Touraines Studie ist zitiert in S CHNEIDER, M ICHAEL . Globalisierung. Mythos und Wirklichkeit. In: Gewerkschaftliche Monatshefte. 3/1997. S. 158-168. Hier S. 159. 123 | Vgl. C ASTEL, R OBERT. Das Verschwimmen der sozialen Klassen. In: JOACHIM B ISCHOFF E T A L . (Hg.). Klassen und soziale Bewegungen. Strukturen im modernen Kapitalismus. Hamburg: VSA 2003. S. 7-17. Sowie C ASTEL, R OBERT. Jenseits der Lohnarbeit und unterhalb
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
Sozialeigentums124 aus. Dieses wird als ein Eigentum verstanden, das im Wohlfahrtsstaat den zuvor besitzlosen Lohnabhängigen die kollektive Existenzsicherung garantierte und welches aus Kündigungsschutz, tariflichen Normen, Mitbestimmung, sozialen Sicherungssystemen etc. zusammengesetzt war. Unter den Bedingungen einer neuen kapitalistischen Landnahme, die sich zudem als alternativlos gebärdet und durchsetzt sowie auf eine Beschneidung oder gar auf die Enteignung von Sozialeigentum zielt, wird die Verfügung über Sozialeigentum zu einem Strukturprinzip sozialer Ungleichheit, das manche Beschäftigtengruppen privilegiert und andere ausschliesst. Die so erzeugten Ungleichheitsstrukturen bezeichnet Castel als Zonen unterschiedlicher Sicherheitsniveaus. Gemeint sind die »Zone der Integration« mit noch immer gesicherten Normalarbeitsverhältnissen, die »Zone der Entkoppelung« mit Gruppen, die vollständig von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind, und die »Zone der Prekarität«, in der sich alle befinden, die zur Reproduktion auf unsichere, weil befristete und/oder nicht dauerhaft oberhalb eines Existenzminimums vergütete Beschäftigungsverhältnisse angewiesen sind. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Nach 1989 steht also das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie in einer veränderten Qualität auf der Tagesordnung, da die marktradikalen Dogmen – wie die Selbstheilungskraft des Marktes, der schlanke aber starke Staat oder das Primat der neoliberalen Deregulierung – politisch mehrheitsfähig und gleichzeitig die gesellschaftlichen Gegenkräfte – wie etwa die Gewerkschaften – schwächer geworden sind. Die Chancen zur Zähmung eines rabiaten Kapitalismus werden dadurch innergesellschaftlich geringer und die Hoffnung verlagert sich auf transnationale Gremien. Problematisch hierbei ist einerseits das derzeitige Fehlen empirisch fundierter Nachweise darüber, dass die transnationalen Gremien in der Lage sind, koordiniert zu funktionieren, statt die jeweils eigenen Standards durchzusetzen, andererseits und damit eng verflochten, die mit diesen Gremien einhergehende Anonymisierung. Diese Tendenz zur Namenlosigkeit der Akteure findet sich nicht nur im sogenannten »Kapitalismus ohne Gesicht«, 125 der deshalb gesichtslos bleibt, weil die Kontrolleure von grossen Konzernen anonym werden, sondern auch die politischen (Kontroll-)Institutionen zumindest aus der Perspektive der Bürger zunehmend anonymisiert werden. Die These einer wechselseitigen Zähmung von Kapitalismus und nationalstaatlich verfasster Demokratie scheint somit in die Annalen der Geschichtsschreibung verdrängt worden zu sein. Was bleibt, ist ein autoritärer Kapitalismus, der sich ideologisch und auf globaler Ebene durchsetzt und das Regierungshandeln nach eigenen Prinzipien diktiert, anstatt selbst von der Politik gezähmt zu der Beschäftigung? Die Institutionalisierung des Prekariats. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie. Nr. 52. 1/1007. S. 6-15. 124 | Vgl. C ASTEL, R OBERT. Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg: Hamburger Edition 2005. 125 | D ER S PIEGEL . Kapitalismus ohne Gesicht. 7/1999. S. 84-89.
2. Ideologische Elemente
werden. Die Taktik dieser Ideologie zielt auf die Verringerung der demokratischen Kontrollfähigkeit kapitalistischer Dynamiken. Dieser Kontrollverlust unterminiert nicht nur die nationalstaatliche Souveränität, sondern bremst auch den Einfluss politischer Kollektive, die jahrelang für die Zähmung des Kapitalismus verantwortlich waren. In ihrer Allianz mit der Anonymisierung verursacht diese Taktik aber auch Kontrollverluste auf sozialer Ebene, weil der Flexibilisierungszwang und die Reorganisation des Arbeitsmarktes nach rein kapitalistischen Prinzipien Bedrohungsgefühle bei den Lohnangestellten hinterlassen haben, die ihrerseits nicht wissen, wie lange sie in ihrer Unsicherheitszone ausharren können. Letztlich ist die kapillare Macht dieser Taktik auch auf individueller Ebene wirksam, sei es, weil die Planung der eigenen Biographie in ein zielloses Dahintreiben driftet oder weil angesichts der Anonymität von transnationalen Institutionen, die den neuen Kapitalismus auf globaler Ebene regulieren sollen, die demokratische Willensbildung wie die politische Identifikation auf individueller Ebene erschwert wird.
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3. Ein vorläufiges Fazit
Worauf die neoliberale Ideologie also zielt und was ihren verdeckten Utopismus ausmacht, ist einerseits die Schliessung des politischen Raumes, in welchem Menschen um unterschiedliche Deutungen der Welt und des Selbst streiten und nach selbstgesetzgeberischen Prozessen eine Ordnung etablieren, deren letzte Urheber sie und nicht die abstrakte Sphäre des Marktes sind. Andererseits enthält er die Konzeption eines ›neuen Menschen‹, welcher mittels einer ›Als-ob‹-Strategie als schon bestehend gesprochen und bedeutet wird, um überhaupt erst angereizt werden zu können. Ein neuer Mensch ist damit angedacht, der sich nicht mehr als souveräner politischer Gestalter seiner gesamten Umwelt verstehen soll, sondern als jemand, der sich der angeblichen Unausweichlichkeit des Marktes als einzigem Wahrheitsverwalter der menschlichen Gesellschaft bewusst werden soll. Seine politische Souveränität zur Selbstgesetzgebung, die er als freier Gleicher bei Rousseau noch erhielt, ist im neoliberalen Wirtschaftsvertrag, der einzig vom Markt sanktioniert wird, eingeschränkt und muss vor Letzterem Halt machen. Was eine neoliberalen Politik also ausmacht, da sie in die Marktsphäre nicht intervenieren darf, ist die Intervention auf die Gesellschaft oder besser gesagt auf die Individuen in der Bevölkerung, um sie zur Marktfähigkeit anzureizen. Max Webers Aussage etwa, dass der Kapitalismus nicht auf einer widersprüchlichen Logik basiere, sondern sich vielmehr mittels einer ihn alimentierenden irrationalen Rationalität der kapitalistischen Gesellschaft weiterentwickle, wurde in den Augen der deutschen und später amerikanischen Neoliberalen so gedeutet, dass die Irrationalität nicht im Wesen des Kapitalismus liege, sondern im partizipierenden Umfeld, in der Gesellschaft, respektive im einzelnen Individuum also. Entgegen der Kritischen Theorie eines Adorno oder Horkheimer 1, die den Kapitalismus aus einer psychoanalytisch angereicherten marxistischen Sicht kritisierten und weiterhin im Kapitalismus selbst die Ursache seiner menschenverachten1 | Vgl. A DORNO, THEODO R W. H ORKHEIMER, M AX . Dialektik der Aufklärung (1944). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Hier vor allem das Kapitel »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug«. S. 128-177.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
den Exzesse sahen, verstanden die Vertreter der Freiburger Schule die bisherigen wirtschaftlichen Krisen mit ihren politischen Exzessen als Resultate bestimmter, politisch falsch ausgerichteter, historisch-kontingenter Kapitalismen. Für sie gibt es keinen Kapitalismus als solchen, sondern nur Formen von Kapitalismen, die aufgrund der ihr innewohnenden Prämissen richtig oder falsch sein können. Einzig ein solcher Kapitalismus, der sich am nunmehr als universale Kategorie geadelten Markt orientiere und hierfür eine wachsame und markt-kultivierende Politik benötige, könne auch wirklich als legitime Tauschsphäre, weil eben ›blind‹ gegenüber seinen Teilnehmern, verstanden werden. Während die Vertreter der Frankfurter Schule den irrationalen Teil in der wirtschaftlichen Sphäre sahen, und diesen zugunsten der gesellschaftlichen Rationalität verändern wollten, beschritten die Freiburger den diametral entgegengesetzten Weg. Im Gegensatz zur irrationalen Gesellschaft, die aus vielerlei partikularen und sich widersprechenden Interessen geprägt und durchdrungen sei, wie Röpke dies am Beispiel der Proletarisierung zu zeigen versuchte, sei die einzige rationale Sphäre, nach der nun eben auch die Gesellschaft ausgerichtet werden müsse, die ›blinde‹, ›spontane‹ und ›freiheitsgarantierende‹ Marktsphäre. Die Freiburger wollten also nicht »die Form der gesellschaftlichen Rationalität wiederfinden, erfinden oder definieren, sondern die ökonomische Rationalität definieren oder neu definieren oder wiederfinden, die es gestattet, die gesellschaftliche Irrationalität des Kapitalismus aufzuheben.«2 Im Unterschied zur Frankfurter Schule bestand für die deutschen Neoliberalen aus dem Freiburger Umkreis die entscheidende Alternative also nicht im Dualismus von Kapitalismus und Sozialismus, sondern in der Differenz zwischen Liberalismus und den verschiedenen Formen von Staatsinterventionismus, sei dieser von sowjetischem, nationalsozialistischem oder keynesianischem Gepräge, denen allen gemein sei, dass sie – wenn auch mit unterschiedlichen Skalierungen – eine Bedrohung der Freiheit darstellten. Wesentlicher ideologischer Stützpfeiler der Neoliberalen war und ist also der Markt. Die Theoretisierung dieses Prinzips, auf den die Neoliberalen ihr politisches Gerüst auf bauen, ist es, die diesem ›neuen‹, ›positiven‹ Liberalismus überhaupt den Glanz einer revolutionären Innovation verleiht. Dieser stellt keine natürliche ökonomische Realität dar, deren Eigengesetzlichkeit die Regierung wie im alten Liberalismus beachten und respektieren muss, sondern der Markt kann im Gegensatz dazu überhaupt nur kraft politischer Interventionen stabilisiert werden. Das sind aber Interventionen, die nicht in den Markt eingreifen, sondern sich vielmehr um den Markt herum positionieren. Die deutschen Neoliberalen verabschieden sich also von dem Konzept, dass die Ökonomie ein Bereich autonomer Regeln und abzuleitender Gesetze sei, und etablieren den Begriff der »Wirtschaftsordnung«, nach dem die Ökonomie Gegenstand sozialer Interventionen 2 | F OUCAULT, M ICHEL . Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 154.
3. Ein vorläufiges Fazit
und politischer Regulationen ist.3 Wenn der Markt also das unantastbare und handlungsleitende Prinzip jeglicher Regierungstätigkeit sein soll, dann muss letztere die angebliche Irrationalität der Gesellschaft und vor allem der sie bevölkernden Individuen auf die Rationalität des Marktes umkodieren. Ihre spezifische Regierungsweise ist die gouvernementale, eine Machttechnik also, die sich dadurch auszeichnet, dass sie den Individuen die grösste Freiheit garantiert, sich den Marktmechanismen zu unterwerfen. Es ist eine Führung der Führungen als politische Rationalität, in der die Individuen ohne Zwang zum Markt geführt werden, zumal alle zivilgesellschaftlichen Sphären zunehmend eine Marktförmigkeit entwickeln, in denen und durch die sie sich selbst markkonform führen müssen, um einen Platz in dieser neuen Welt der Märkte finden zu können. Sie werden also so geführt, dass sie sich selbst entsprechend den Marktanforderungen führen. In den Augen der neoliberalen Theoretiker gibt es nicht nur keine Proletarier mehr, respektive hat es sie nie gegeben, sondern blosse Arbeitskraftunternehmer, also Unternehmer ihrer selbst, auch ihre politische Rolle nimmt andere Inhalte an. Die Regierung soll diese nämlich nicht als Subjekte ansprechen, die mittels politischer kollektiver Entscheidungsprozesse die Instrumente der Gesellschaftsbildung – worunter der Markt eine privilegiert Rolle spielt –, ausgehend von einem selbstgesetzgeberischen Akt, verändern, vielmehr soll den Menschen die angeblich einzig mögliche Wahrheitsschablone bewusst gemacht werden und sollen sie zur Teilnahme an ebendieser permanenten, aber undurchschaubaren Transformationsmaschine befähigt werden. Die Generalisierung der ökonomischen Form hat also zwei wichtige Aufgaben: Einerseits fungiert sie als Analyseprinzip, indem sie nicht-ökonomische Bereiche und Handlungsformen mittels ökonomischer Kategorien untersucht. Andererseits werden soziale Beziehungen und individuelles Verhalten nach ökonomischen Kriterien und innerhalb eines ökonomischen Intelligibilitätshorizonts dechiffriert. Fern davon, mittels direkter Herrschaftsinterventionen auf die Individuen einzuwirken, liegt es im Kern der neoliberalen Regierungsrationalität auf die gesellschaftlichen Prozesse und ihren Institutionen einzuwirken, in denen das Individuum dann auf sich selbst einwirkt. Mittels einer politischen Intervention auf das Lebensumfeld, auf die gesellschaftlichen Strukturen, in die das Individuum eingebettet ist, mittels einer ›Ökonomisierung des Sozialen‹ also, wird das Individuum nicht nur permanent mit den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage, Preismechanismus und Wettbewerb konfrontiert, sondern es bleibt ihm auch keine andere Wahl, als sich diesem Spielfluss zu unterwerfen. Damit werden aber auch die Selbst- und Weltverständnisse der Menschen verändert. In einer Lebenswelt, die zunehmend alles in Warenform taucht, wird nicht nur das 3 | L EMKE, THOMAS. »Die Ungleichheit ist für alle gleich« – Michel Foucaults Analyse der neoliberalen Gouvernementalität. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 2, 2001. S. 99-115. Hier S. 103.
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Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus
Individuum selbst zur Ware, sondern es soll dies wollen und im Namen seiner eigenen Glückseligkeit auch anstreben. Gesellschaftliche Interaktion findet dann zunehmend in Form des Warentausches statt, womit das Individuum auf seine eigenen, egoistischen Interessen, auf seine Rationalität als Nutzenmaximierer bereits im alltäglichen Vollzug der Beschreitung seiner Arbeits- und Lebenswege reduziert wird. Damit wird eine Deutung des Sozialen dominant, die nur noch das Fragmentarische sichtet und sowohl das Allgemeine als auch das Gemeinsame verdrängt und so eben auch politische Kultur nach Massgabe dieser eindimensionalen Sicht kodiert. Das Individuum, permanent mit den Marktgesetzen und mit dem positiv konnotierten und idealisierten Unternehmermodell konfrontiert, wird also nicht bloss ›dualisiert‹, in dem Sinne, dass es auf dem Markt nach den ›wertfreien‹ Gesetzen dieser Sphäre agieren soll, um seine persönlichen Misserfolge in einem ›wertbeladenen‹ Kokon heilen zu können, sondern es wird auch auf einen einzigen Zeitmodus auszurichten versucht. Wenn der Markt keine Vorhersehbarkeit ermöglicht, ist sein einziger temporaler Funktionsmodus die Gegenwart. Entsprechend würde jede Ausrichtung des eigenen Lebens, der eigenen Anstrengungen und Handlungen auf zukünftige Ziele innerhalb eines solchen Zeitmodus völlig absurd erscheinen. Da die Möglichkeit der Realisierung der in die Zukunft projizierten Wünsche nicht nur nicht vom Markt garantiert werden können, sondern überdies auch nicht von der jetzigen Responsivität des Marktes auf die gegenwärtigen Handlungen und Investitionen abhängt, bleibt den Individuen nichts anderes übrig, als sich dem ›Jetzt‹ der Marktaussagen vollends zu unterwerfen. Die Ausgestaltung der eigenen Biographie findet auf einem solchen Operationsboden, der nur noch den Modus der Gegenwart als Richtlinie des Handelns und Denkens vorgibt, keine brauchbaren Instrumente. Da die Biographie nämlich nicht nur rückwärts- und gegenwartsgerichtet, sondern, solange man lebt und sich im ›Werden‹ befindet, eben auch zukunftsbezogen ist, kann ihre Modellierung innerhalb eines Handlungsrahmes, das von den Prinzipien der Marktmechanismen getragen wird, auch nicht gedeihen. Die Akteure innerhalb dieses Rahmens müssen sich also den jeweils gegenwärtigen Aussagen des Marktes anpassen, und da diese weder vorhersehbar noch gestaltbar sind, bleibt den Marktteilnehmern nichts anderes, als ihren Existenzmodus demjenigen des Marktes anzupassen und somit »flexibel« zu werden. Richard Sennett betonte in seinem Buch »Der flexible Mensch«, dass der moderne Kapitalismus den Menschen nicht nur jeglichen festen Orientierungsrahmen, an dem er seine Zukunftspläne ausrichten konnte, vorenthalte, sondern überdies die grundlegenden Festen seiner Charakterbildung korrodiere. 4
4 | Sinngemäss lautet der originale englische Titel »The Corrosion of Character«. S ENNET T, R ICHARD. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 3. Aufl. Berlin: BvT 2007.
3. Ein vorläufiges Fazit
Charakter, so Sennett in Anlehnung an die stoische Philosophie, sei nämlich »der ethische Wert, den wir unseren eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen.«5 Der Begriff enthält also eine Zeitkonnotation, die unweigerlich über das Gegenwärtige hinaus geht, da er so etwas wie ein langfristiges emotional ausgerichtetes Lebensprojekt impliziert, weil ein ethischer Wert nur dann bestimmt und angewendet werden kann, wenn er eine gewisse Konstanz über die Zeit hinaus beibehält und so auf die Zukunft projiziert. Ansonsten wäre es eine blosse instinktive Reaktion auf die jeweilige Situation. Dass aber auf eine bestimmte Art reagiert wird, und zwar so, wie man es für richtig und gut hält, weil damit auch die Selbstreflexion und somit auch das eigene Selbstbewusstsein aktiviert, respektive bestätigt werden, spricht gerade für die ethische und zeitüberwindende Aktion. Überdies impliziert der Begriff des Charakters, so wie ihn Sennett verwendet, auch eine konstitutive Verbindung zwischen Mensch und Welt. Erst in Beziehung zu anderen, und vor allem in den Entscheidungen, die jemand jeweils aufgrund seiner nicht unverrückbaren, aber sicherlich langfristigen ethischen Überzeugungen für oder gegen diese Beziehungen trifft, kann er so etwas wie Loyalität, Solidarität oder aber auch Abscheu und Missmut gegenüber einem anderen ausdrücken. »Charakter drückt sich durch Treue und gegenseitige Verpflichtung aus oder durch die Verfolgung langfristiger Ziele und den Aufschub von Befriedigung um zukünftiger Zwecke willen.«6 Wenn die neoliberale Spielfläche der Existenzgestaltung aber eine Instanz ist, die ihre für die teilnehmenden Spieler (über-)lebensnotwendigen Aussagen nur im Präsens formuliert, dann ist der Charakter nicht nur ein unnötiger, sondern vielmehr noch ein schädlicher Wesenszug für die eigene Lebensgestaltung. Die neoliberal-konservative Politik zur Ausrichtung der Gesellschaft ist also eine solche, die das Individuum dazu anreizt, seine Lebenswelt und die darin enthaltenen Werte zugunsten einer optimalen Marktperformanz über Bord zu werfen, um sie – freilich neu kodiert und entschärft – auf einer mit Traditionen und konservativen Wertvorstellungen angereicherten Ebene wiederzufinden, die überdies und im Gegensatz vor allem zu klassenkämpferischen Kollektivitätskategorien eine angeblich natürliche und menschenspezifische ist. Zudem wirkt diese Politik darauf hin, dass sie den Menschen in eine temporale Selbstverständnisschablone zwängt, aus welcher jegliche Handlung und jegliche Entscheidung immer nur im Namen des ›Jetzt‹ stattfinden kann. Autonome Lebensentwürfe werden somit von einer ökonomischen Rationalität überlagert, so dass Autonomie nicht mehr ein Wesenszug und ein Ziel von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ist, sondern vielmehr, wie Saccharin nur das Surrogat von Zucker ist, zu einem zweitrangigen Ziel wird, das unter der Ägide einer marktkonformen Lebensweise steht, entsprechend dieser Logik auch niemals erreicht werden kann 5 | S ENNET T, R ICHARD. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 3. Aufl. Berlin: BvT 2007. S. 11. 6 | Ibid. S. 11.
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und nur noch aufgrund ökonomischer Dechiffrierungsraster Gültigkeit erlangen kann. Resultat dieser Revolution ist ein Subjekt, das nicht nur als ›Unternehmer seiner selbst‹ angerufen wird, sondern überdies dem permanenten Zwang der Flexibilisierung unterliegt und dadurch nicht nur seinen Charakter aushöhlt, sondern seine Existenzweise, einem unaufhörlichen Driften7 gleich, der Dynamik eines Surfers,8 der niemals stehen bleiben darf, um nicht von einer Welle heruntergerissen zu werden, ausrichten muss. Die neoliberale Ideologie gruppiert ihre Kategorien des ›Marktes‹, des ›Unternehmers seiner selbst‹ und des ›Humankapitals‹, der ›Demokratie‹ und des ›Rechts‹ sowie des ›Lebens als solchem‹ um das Ideal der Marktsouveränität, das trotz seiner ›liberalen‹ und ›freiheitsfördernden‹ Rhetorik gerade keine Ergänzung zur liberalen Demokratie ist, sondern eine Alternative dazu. »Es ist sogar eine Alternative zu jeglicher Form von Politik, denn es leugnet die Notwendigkeit politischer Entscheidungen, die ja gerade Entscheidungen über allgemeine oder Gruppeninteressen sind im Unterschied zur Summe der – ob rational oder sonst wie – getroffenen Entscheidungen von Individuen, die ihre persönlichen Präferenzen im Auge haben«, so Eric Hobsbawm.9 Die Partizipation am Markt ersetzt also die Partizipation an der Politik und an der Gestaltung der Gesellschaft, von denen auch die Ausrichtung des eigenen Lebens, Denkens und Fühlens abhängig ist, nicht. Was im Zuge dieser Ideologie und des damit genährten dominanten Diskurses über die Marktsouveränität hervorbricht, ist die Entpolitisierung des Bürgers, an dessen Stelle der Konsument tritt. Es stellt eine Entwicklung dar, die dahin strebt, bestimmte, exklusive Deutungen der Welt und des Selbst mittels Konsens und Zwang in der Gesellschaft salonfähig zu machen. Die marktkonforme Ausrichtung der zivilgesellschaftlichen Felder positionieren das Individuum in ein Selbstverhältnis, aus welchem seine Erfolge und Misserfolge nur noch vom Kriterium seiner marktkonformen Lebensweise erklärbar werden. Diese Selbstführung beruht gerade nicht auf dem brachialen Zwang einer Institution oder Disziplinargewalt, sondern nistet sich im Alltag, seinen öffentlichen, kommerziellen und privaten Felder ein, die nach ökonomischen Prinzipien umgestaltet werden. Hier kristallisieren sich die Gewinner und Verlierer heraus und während sich die Erfolgreichen in der moralische Gewissheit sonnen, dass sie sich richtig, 7 | Zum Begriff des »Driftens« siehe: S ENNET T, R ICHARD. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 3. Aufl. Berlin: BvT 2007. S. 15-38. 8 | Es erstaunt an dieser Stelle nicht, dass Deleuze in einer kritischen Schrift zum modernen Kapitalismus das Surfen als die moderne und diesem Kapitalismus entsprechende Sport- und wie aus dem Kontext des kritischen Artikels herauszulesen ist, auch Seinsart kennzeichnete: »Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst.« Siehe: D ELEUZE, G ILLES. Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (1990). In: D ERS. Unterhandlungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. S. 254-262. Hier S. 258. 9 | H OBSBAWM, E RIC. Globalisierung, Demokratie und Terrorismus. München: dtv 2009. S. 105-106.
3. Ein vorläufiges Fazit
also marktkonform ›geführt‹ haben, müssen diejenigen, die von Misserfolge geplagt werden, die Schmach erdulden, sich den Anforderungen des Wettbewerbs und den Wünschen des Marktes nicht gewachsen gezeigt zu haben. Ihr Misserfolg wird als Beweis geführt, dass das, was sie getan haben, nicht das war, was sie hätten tun sollen. Damit schleicht sich der Zwang in den Köpfen der Individuen in Form induzierter Angst ein, den Markterfordernissen nicht zu genügen. Diese Rekodierung des Individuums zum ›Unternehmer seiner selbst‹, die Umpolung der gesellschaftlichen Interaktionen im Modus des Wettbewerbs und unter der Ägide des Marktes, die Aushöhlung der Demokratie mit einem marktradikalen Begriff von Liberalismus und die Reduktion des Rechts auf das alleinige Sichern der freien Marktmechanismen sind ideologische Elemente, die zwar auf Zwang, wenn auch unsichtbaren, zugleich aber auch auf Konsens beruhen. Nicht nur haben diese neoliberalen Dogmen seit den 1980er Jahren politischen Konsens gefunden, auch im Zwischenbereich der zivilgesellschaftlichen Institutionen stossen sie auf Konsens und stärken so die neoliberale Hegemonie.
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4. Neoliberale Hegemonie »Der heimtückischste Feind ist nicht derjenige, der dir alles wegnimmt, sondern der, der dich langsam daran gewöhnt, nichts mehr zu haben.« B EOWULF
Die bisherigen Ausführungen haben sich vordergründig auf die ideologischen Komponenten des Neoliberalismus konzentriert. Die Subjektivierung des Individuums zum ›Unternehmer seiner selbst‹ – da es zur Marktordnung und einer Gesellschaft, die ihre gesamten Felder der menschlichen Interaktion danach auszurichten hat, keine Alternative geben soll – bildet hierbei den wichtigsten Einsatz dieser Ideologie. Es ist eine Subjektivierung, die über die Ökonomisierung des Sozialen stattfindet. Das heisst, indem die zivilgesellschaftlichen Räume oder Hegemonialapparate, wie sie Gramsci nennt, nach Marktprinzipien ausgerichtet und so von einer staatlichen Regulation losgelöst werden, reproduzieren sie in ihrer je eigenen Funktionslogik nicht nur die marktradikale Ideologie, sondern kreisen auch das darin sich befindende Individuum nach diesen Kriterien ein. Was lange Zeit von einem, durch politischen Kompromiss zwischen gegnerischen Klassen etablierten, Sozialstaat zur Verfügung gestellt wurde, bricht nun zunehmend ein und verlagert sich auf das Gebiet des Marktes. Mit dem Konzept des New Public Management wurde – unter Anleitung durch Inter- und Transnationale Organisationen wie die EU oder die OECD – die Neujustierung von Zielen und Mittel wohlfahrtsstaatlicher Politik propagiert. Der Staat solle sich selbst mit betriebswirtschaftlichen Mitteln ertüchtigen und »mit weniger Geld mehr erreichen.«1 Damit orientieren sich nicht nur ehemals staatliche Institutionen nach den Gesetzen des Marktes, sondern auch die darin sich befindenden Menschen sind von einem undurchschaubaren systemischen Zwang gezwungen, sich entsprechend der neuen Operationsschablone ›Markt‹ auszurichten. Nicht 1 | R ADTKE, F RANK-O LAF. After Neo-Liberalism? In: S IEGHARD N ECKEL (Hg.). Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M.: Campus 2010. S. 138-161. Hier S. 148.
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Politische Kultur im Zeiten des Neoliberalismus
nur zivilgesellschaftliche Institutionen wie Bildungseinrichtungen, Medien oder Interessensgruppierungen werden dem Diktat von Effizienz und Profiterzielung unterworfen, auch Staaten müssen sich auf dem globalen Markt der zwischenstaatlichen Konkurrenz nach diesen Richtlinien ausrichten. Mit dem neoliberalen Paradigmenwechsel, wie er zuvor dargestellt wurde, handelt es sich nicht nur um einen Politikwechsel von Keynes zu Friedman oder Hayek, sondern um einen veritablen Wechsel in der Art und Weise der Regierungstätigkeit, da sowohl das Ziel als auch die Instrumente der Steuerung ausgewechselt wurden. Damit geht nicht nur eine Rekodierung der Demokratie und des Rechtsstaates einher, sondern auch eine unheilige Allianz zwischen neoliberalen Freiheitsversprechen und reaktionär-(neo)konservativen Denkmustern. Der Taschenspielertrick dieses neuen politischen und wirtschaftlichen Paradigmas ist das Vorspiegeln einer noch nicht realisierten ›Tatsache‹, also etwas, das als gegeben propagiert wird – wie der freie Markt – das aber aufgrund unaufhörlich falscher, und das heisst nicht-marktkonformer Politiken, seine volle Entfaltung (noch) nicht realisieren kann. Die ›Tatsache‹ erscheint im Spiegel der Ideologie, damit sie auch in der Realität fassbar werden soll. Mit der Plausibilisierung einer ›ökonomischen‹ individuellen Haltung, die in der Figur des ›Unternehmers seiner selbst‹ die einzige Erfolgsgarantie in der Welt der Märkte garantiert und mit der Propagierung einer marktvermittelten Produktion aller möglichen ehemals staatlichen Aufgaben wird eine Welt vorgespiegelt, die noch nicht ist, die aber in der bestehenden, immer defizitären Welt schon angelegt ist, und die es vollends zu realisieren gilt. Bei näherem Hinschauen entpuppt sich dieser Taschenspielertrick natürlich als der Versuch, hinter vorgehaltener Hand eine Hypothese zu immunisieren. Wenn der ersehnte und in der Ideologie gespiegelte Ort des freien Marktes noch keine allumfassende Realität gewonnen hat oder dort, wo er sie erobert hat, krasse menschenunwürdige Szenarien produziert, dann ist nach der immanenten Logik dieser Ideologie auch klar, weshalb das so ist. Es gibt weiterhin zu viele staatliche Regulationen und Interventionen in den Markt, die diesem seine glückverheissende freie Entfaltung verunmöglichen oder seine Funktion verzerren. Jede politische Intervention steht so von Beginn an unter dem Verdacht, falsch zu sein, weil sie nicht marktradikal genug ist. Damit wird eine idealisierte Kategorie wie der Markt zum Henker der alltäglichen Politik und der gesellschaftlichen Interaktion. Solange das anvisierte Ziel nicht erreicht ist, liegt der Fehler immer in den Politiken, die diesem Ziel dienen sollen. Der noch unentwickelte und in den Augen neoliberaler Theoretiker auch einzig mögliche Zweck des menschlichen Daseins – der freie Markt – legitimiert somit alle möglichen Mittel. Diese Immunisierung einer Hypothese fragt gerade nicht nach der Fallibilität ihrer Prämissen, sondern bloss danach, weshalb ihr Ziel noch nicht erreicht wurde. Wenn die Realität sich mit der Theorie beisst, dann liegt der Fehler immer an der Realität, nie an der Theorie. Dies ist die Devise derjenigen, die im Namen einer unbedingten Zukunft die Schrecken des Moments mit einem ruhigen Lächeln ignorieren.
4. Neoliberale Hegemonie
Obwohl sie allen anderen eine Wissensanmassung vorwerfen, sobald es darum geht, mittels vernünftiger oder zumindest politisch ausgehandelter Massnahmen in die Marktsphäre einzugreifen, um so die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums oder die Beschäftigungsrate egalitärer zu gestalten, vergessen sie, dieselben Kriterien auf ihre eigenen Theorien anzuwenden. Es liesse sich nämlich fragen, ob die hartnäckige Forderung nach einem unberührten Markt nicht schon selbst eine Wissensanmassung darstellt. Woher wissen Neoliberale, dass der freie Markt den einzigen Weg aus der Knechtschaft anzeigt und nicht vielmehr einen in die Knechtschaft herauf beschwört? Ist denn der sogenannte ›freie Markt‹ nicht selbst schon ein Wissenskonstrukt, das mit dem ebenso menschlichen und kognitiven Zusatz der ›Natürlichkeit‹ als eigenständiges ›Wesen‹ plausibilisiert wird? Wenn eine Hypothese nicht zugleich die Bedingungen ihrer Falsifikation artikulieren kann, dann ist sie keine, wie Raymund Popper gelehrt hat. Für die neoliberalen Theoretiker, die hier diskutiert werden, ist aber dies gerade nicht der Fall. Der in seiner angeblichen Wesenheit schon anwesende, aber aufgrund der menschlichen Wissensanmassung noch nicht realisierte ›freie Markt‹ hat keine Fehler; es gibt in dieser Konzeption schlichtweg keine Bedingungen die ihn falsifizieren würden. Wie lässt sich dann aber noch von Wissenschaft sprechen? Was macht das Wissen der Neoliberalen so viel weiser als dasjenige anderer Theoretiker, wenn erstere ihre Hypothesen nicht einmal falsifizieren können? Wo Wissen mit Wissen streitet, ist es vielfach die machtpolitische Durchsetzung eines Wissens, das dieses als einzig wahres glorifiziert. Das ist aber eine machtvolle Durchsetzung, die nicht nur mittels internationaler Organisationen ihren Lauf nahm, sondern in den einzelnen Staaten auch eine bestimmte Regierungsrationalität hervorbrachte, nach welcher sich Staat, Politik, Zivilgesellschaft und Individuen auszurichten haben. Diese Regierungsrationalität operiert über dominant gewordene Deutungen der Welt und des Selbst, die fest verankert im neoliberalen Dogma der Marktradikalität und -wahrheit unweigerlich auf Staat, Gesellschaft und Individuum einwirken. Es ist eine Rationalität, deren Regierungsstil und -kunst eine der Führung und der Selbstführung ist. Disziplinärer Zwang, wie er noch während des Keynesianismus in den Fabriken und den Köpfen der Familienväter, Mütter, Kinder, Lehrer oder Schüler vorhanden war, mildert sich nun zu einem angeblich segensreichen Versprechen von Freiheit durch Selbstregulierung und -führung. Es handelt sich dabei jedoch um ein Versprechen, das bald an die harte und korrupte Realität der Märkte stösst und hier seine Ideale nur unter Vorhalten moralischer oder chauvinistischer Erklärungen derjenigen, die in Gramscis Sinne den historischen Block bilden, rechtfertigen können wird. Es ist diese Ausdehnung ökonomischer Rationalitätsmuster über ihren bisherigen Geltungsbereich hinaus, die der Ökonomisierung des Sozialen Vorschub leistet.
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Politische Kultur im Zeiten des Neoliberalismus
4.1 F R AGMENTARISIERUNGEN Die Anpassung nationaler Politiken an neoliberale Prinzipien hat nicht nur überkommene Wirtschafts- und Sozialstrukturen erodiert, sondern auch Fragmentarisierungen durchgesetzt. Es sind Zerstückelungen, die global auftreten und innerhalb der jeweiligen Länder neue Arbeits-, Lebens- und Sicherheitszonen schaffen. Auf empirischer Stufe lassen sich diese Fragmentarisierungen anhand der durchaus offensichtlichen Tatsache festhalten, dass die sich nach neoliberalen Prinzipien expandierende Globalisierung, nicht bloss Räume von Gewinnern und Verlierern generiert hat – wie die Zunahme der ›Gated Communities‹ und ihrer Gegenräume, den Slums auf dem gesamten Globus zeigen –, sondern auch Zonen des Wohlstands als generelle Skalierung menschlicher Lebensräume von der globalen bis hinunter zur lokalen Ebene hervorgebracht hat: eine Fragmentarisierung im globalen Dorf, die nicht nur Resultat, sondern zugleich konstitutives Element der neoliberalen Umgestaltung von Politik und Gesellschaft ist. Im Namen freier Marktdynamiken werden hierbei insbesondere die Räume der Arbeit und der gesellschaftlichen Interaktion fragmentarisiert und damit einhergehend auch die kognitiven Rahmen, innerhalb derer Menschen Bewusstsein ihrer selbst und der Welt gewinnen, rekodiert. Die politische Durchsetzung neoliberaler Rezepte zur Sanierung der Staatskassen und zur Dynamisierung der Wirtschaft zerstört das ›stahlharte Gehäuse‹ eines bürokratisierten Kapitalismus und verführt die Individuen mit dem Versprechen, ihnen neue Räume der Freiheit und der kreativen Entfaltung anzubieten. Der neoliberale Siegeszug beruhte ja gerade auf der Inkorporierung verschiedenster Kritik an Staat und Arbeitswelt, die von diesem reguliert, stabilisiert und nach festen Mustern ausgerichtet wurden. Gerade die linke Kritik der 1970er Jahre an dem hierarchischen Fabrikregime, das auch seine internen wie externen Kooperationen regelte, wurde vom neoliberalen Projekt absorbiert. Im Namen der ›Arbeiterselbstverwaltung‹ und einer ›neuen Selbständigkeit‹ formulierten linksradikale Gruppierungen einen Angriff gegen den Typus des fordistischen Massenarbeiters. Das Ziel war die Befreiung der monotonen und kreativitätshemmenden Arbeitsstrukturen, die den Arbeiter in der Fabrik einschlossen, ihn zur Verrichtung einer Tätigkeit zwangen, die ihm keine freie Entfaltung und keine Selbstbestimmung ermöglichte und letztlich sein Leben an den Rhythmen der Fabrik ausrichtete. Der Mailänder Soziologe Sergio Bologna, ein damals führender Aktivist der linksradikalen Bewegung des ›Operaismus‹, die die Zerschlagung des Fabrikregimes und der fordistischen Produktionsweise anstrebte, betont, dass in den 1970er und 1980er Jahren der Weg in die Selbständigkeit vielfach nicht aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern aus freien Stücken gewählt wurde.2 Damit versuchte man dem Disziplinarzwang der Fabrikordnung zu entkommen, 2 | Vgl. B OLOGNA , S ERGIO. Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit. Graz. Wien: Nausner & Nausner 2006.
4. Neoliberale Hegemonie
neue Arbeits- und Lebensformen zu entwickeln und letztlich die Versöhnung von Arbeit und Leben zu erlangen. Der Weg vom Fordismus zum Postfordismus wurde in dieser krisenhaften Zeit, als die Produktivitäts- und Wachstumsraten des Keynesianismus im Sinken waren und die sozialen Bewegungen auf verschiedenen Feldern – von der operaistischen bis zur feministischen – Kritik an den überkommenen Staats- und Arbeitsstrukturen übten, innerhalb des Verhältnisses von Arbeit und Kapital und ohne dieses umzuwerten beschritten. Die kapitalistischen Strukturen passten sich diesen Kritiken an, und veränderten ihre Produktionsabläufe, indem sie durch technologische Innovationen die Strapazen der Muskelarbeit minderten, mit neuen Produktionsformen wie dem »Toyotismus«3 das Wissen der Angestellten integrierten, kreative und spontane Mitarbeit förderten sowie ein hohes Mass an Selbstverwaltung des Produktionsablaufs ermöglichten. Darüber hinaus wurde die Selbständigkeit durch neue Arbeitsfelder im Bereich der kreativen Arbeit, in Werbung und Dienstleistung gestärkt und der immateriellen Arbeit und dem Faktor Wissen wurden neue Absatzmärkte geschaffen. Diese neuen Freiheiten und Kreativitätspotentiale waren eine Reaktion auf die gegenkulturellen Bewegungen der 1970er Jahre, entsprachen zugleich aber auch einer tiefgreifenden Rekodierung des Arbeiters. Was dieser nämlich an neuen Möglichkeiten gewann, gewann er im Rahmen der neoliberalen Wende auf Kosten gesicherter Arbeitsverhältnisse und einer Umkodierung seiner selbst zum Unternehmer. Der ›Selbständige‹ wurde zum neuen Leitstern am Himmel des postfordistischen Kapitalismus. Wohnraum und Arbeitsplatz, Freizeit und Arbeitszeit gehen nun ineinander über. Die Arbeit greift in alle Lebensbereiche ein; überall, so das Verlangen dieses neuen Kapitalismus, muss man Flexibilität, Produktivität und Leistung in den Dienst der produktiven und profitsichernden Arbeit stellen. Im Gegensatz zu den Fabrik-Angestellten, die das Gros der fordistischen Arbeitermasse ausmachten, und die den Markt verlassen, sobald sie die Fabrik betreten, befinden sich die neuen Arbeitskraftunternehmer, die durch die neue Produktionsform der ›immateriellen Arbeit‹ in der gegenwärtigen ›Wissensgesellschaft‹ die dominante produktive Grösse darstellen, permanent auf dem Markt. Das Mehr an Selbstbestimmung und Autonomie, so erneut Sergio Bologna, erkaufen sie mit einem Weniger an sozialer Absicherung: »Sie können lange Zeit ohne Einkünfte bleiben und leben von ständig zu schaffenden Rücklagen, um den ›Leerzeiten‹ in der Arbeit zu begegnen. Der Begriff ›Risiko‹ ist der 3 | Der »Toyotismus« oder auch »Ohnismus« – nach seinem Erfinder Ohno – genannt, beruht auf ein hohes Mass an Selbstverwaltung des Produktionsablaufs durch die Arbeiter. Damit sollen ein Maximum an Flexibilität, Produktivität und Schnelligkeit erreicht werden, um so die Anpassung der Produktion an die Nachfrage besser ausrichten zu können. Das Wissen der Angestellten und ihre Erfahrungen, die sie im Produktionsablauf gewonnen haben, sollen in die Produktionsstrategie einbezogen werden, um so eine fortlaufende Gestaltung und Optimierung der Abläufe durch den Arbeiter selbst zu erreichen. Siehe G ORZ , A NDRÉ . Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 44f.
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Mentalität der unabhängigen Arbeit eingeschrieben, weshalb die Leistung immer auch einen Werbeaspekt enthält, über den die unabhängig Arbeitenden entweder die Fortsetzung des geschäftlichen Verhältnisses zum Auftraggeber oder die Erschliessung neuer Geschäftsbeziehungen zu gewährleisten versuchen. [...] Die Angst vor der ›Leere‹ hindert die selbständig Arbeitenden daran, die Früchte ihrer Arbeit zu geniessen.« 4 Während also der postfordistische Kapitalismus einerseits die linksradikalen Kritiken am Fordismus in gewandelter Form aufnimmt und damit auch den Konsens eines Teils der arbeitenden Klassen erheischt, erodiert er andererseits die sozialen Sicherungssysteme und prägt das Selbst- und Weltverständnis der neuen Klasse »immaterieller« Arbeiter. Fern davon, die Forderungen der linksradikalen Gruppierung zu realisieren, operiert der neue Kapitalismus bloss mit dem Versprechen ihrer Realisierung, um gleichzeitig ein neues Arbeitsregime durchzusetzen, das nunmehr alle Lebensbereiche einnimmt. Das kollektive Begehren nach Autonomie, Selbstverwirklichung und nichtentfremdeter Arbeit kulminiert in der Figur eines Arbeitnehmers, der in ständiger Angst, aus dem Marktkreislauf hinauszufallen, alle seine Energien und Potentiale in möglichst allen Lebenslagen dem Marktdiktat unterwerfen muss. Die Herrschaft des Kapitals wird nun, wie André Gorz dies richtig analysiert hat, nicht mehr direkt durch hierarchischen Druck auf die lebendige Arbeit ausgeübt, sondern vielmehr in indirekter Weise. Sie verlagert sich auf Gebiete ausser- und oberhalb des Betriebs und konditioniert das Subjekt so, dass es genau das akzeptiert oder wählt, was man ihm aufzuzwingen beabsichtigt. »Die Front wird dann überall dort verlaufen, wo Information, Sprache, Lebensweise, Geschmack und Moden durch Kapital, Handel, Staat oder Medien erzeugt und gestaltet werden. Anders gesagt, überall dort, wo die Subjektivität oder die ›Identität‹ der Individuen, ihre Wertvorstellungen, ihre Selbstbilder oder die der Welt fortwährend strukturiert, fabriziert und geformt werden.«5 Um es mit Gramsci zu sagen, operiert die neue Herrschaft dieses neuen postfordistischen Kapitalismus durch die zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparate hindurch, indem es diese nach Massgabe seiner eigenen Logik umformt, also markttauglich macht und so das Individuum gleichsam zum neuen ›Selbständigen‹, zum ›Unternehmer seiner selbst‹ sozialisiert und erzieht. In der Bildung, Ausbildung, Stadtentwicklung und -gestaltung, in der Freizeit und in der dominanten Lebensweise, die von denjenigen vorgelebt wird, die zu den Gewinnern dieses neuen Kapitalismus gehören, verläuft die Konfliktlinie zwischen ›richtiger‹, und das heisst marktkonformer, und ›falscher‹ Verhaltensweise. Es ist hierbei der Markt, der über die ›Richtigkeit‹ der Verhaltensweisen bestimmt, diese 4 | B OLOGNA , S ERGIO. Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit. Graz. Wien: Nausner & Nausner 2006. S. 38. 5 | G ORZ , A NDRÉ . Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 62.
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belohnt und mit Erfolg und Einkommen segnet, und keine demokratische, von menschlichen Meinungsfindungsprozessen gestaltete Arbeitswelt. Damit gehen aber auch neue Selbst- und Weltverständnisse einher, die unweigerlich eine Sedimentation auf der politisch-kulturellen Deutungsebene hervorrufen. Der Raum des Sag- und Machbaren wird so von der ökonomischen Betrachtungsweise dominiert, die Kategorien des Erfolgs und Misserfolgs werden von ihrer sozialen Kausalität losgelöst und in die individuelle Sphäre verlagert und so immer weniger im Rahmen eines kollektiven politischen Selbstbestimmungsprozesse dechiffriert. In den zivilgesellschaftlichen Apparaten, die sich nach Marktprinzipien auszurichten haben, auch weil der Staat seine Finanzierung zurückfährt, wird im alltäglichen Vollzug die neue ›Normalität‹ der Marktherrschaft reproduziert. In den institutionellen und kommunikativen Strukturen, die diese Apparate für ihre Bewohner und die Aussenstehenden fassbar machen und in Rankings, wie dies für Universitäten und Hochschulen etwa der Fall ist, die in der Öffentlichkeit damit ihren Ruf zementieren, bilden sich auch die dominanten Deutungsmuster des Selbst und der Welt, die unweigerlich die politische Kultur tangieren. Fortan gilt es, sich an dem Lauf der Dinge, an dieser neuen Ordnung des Diskurses auszurichten und Anstrengungen zu unternehmen, um in den jeweiligen Märkten – von der Bildung zur Ausbildung bis hin zur Arbeitswelt – bestehen zu können. Das neoliberale Versprechen der Freiheit und Selbstentfaltung will erkämpft sein und zwar einzig im Modus der individuellen Ausrichtung am Markt. Solidarität, kollektive Projekte und gemeinschaftliche Initiativen zur Veränderung der herrschenden Ordnung erweisen sich in einem solchen Setting als zunehmend sinnlose und zeitraubende Unterfangen. Die politisch-kulturelle Rekodierung positioniert das Individuum im Status einer Monade, die für sich selbst schauen muss, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen. So verkümmert auch die Lebenswelt zur blossen Variable der eigenen Markttauglichkeit. Fern davon also, die soziale Karte so zu strukturieren, dass allen Menschen selbstbestimmte Freiheit und Kreativität garantiert wird, ist es vielmehr so, dass der neoliberale Siegeszug mit seiner postfordistischen Produktionsweise diese beiden menschlichen Grundeigenschaften zwar allen verspricht, aber nur für diejenigen realisierbar macht, die vor dem permanenten ökonomischen Tribunal Markt auch die notwendigen monetären ›Argumente‹ bereithalten, um die momentane, aber nicht ewige Absolution zu erhalten. Denn wem das Geld fehlt, kann nicht nur nicht am Konsumkreislauf teilnehmen, sondern auch die Kompetenzen nicht erwerben, die seine ›Markttauglichkeit‹ verbessern würden, und auch nicht die sich herauskristallisierten Machtverhältnisse zwischen denjenigen, die das ›monetäre‹ Argument haufenweise zur Verfügung haben und denjenigen, die dagegen keine oder fast keine Erwiderung leisten können, auf brechen. Mit dem aus neoliberaler Seite herbeigeführten Ende des Keynesianismus, der aufgrund seiner wirtschaftlich-politischen Aufstellung in Grossunternehmer, staatliche Verwaltung und aufgeblähten bürokratischen Apparat auch von der radikalen Linke der 1970er Jahre als ›bürokratisches Gefängnis‹ heftig kritisiert
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wurde, ging also nicht nur ein sozialpolitischer Kompromiss verloren, sondern auch eine Rekodierung von Politik und Kultur trat ein, die gleichzeitig den Startschuss in die »flüchtige Moderne«6 gab. Verloren ging also eine politische und ökonomische Konstellation, die dem Einzelnen das Gefühl vermittelte, aktiv an der Gestaltung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums beteiligt zu sein. Die politische Ausgestaltung und Intervention in der wirtschaftlichen Sphäre, motiviert durch politische Kämpfe zwischen entgegengesetzten Interessensgruppierungen, ermöglichte also nicht nur die partizipative Einbeziehung grosser Teile der Bevölkerung, sondern auch die Ausgestaltung der Arbeitssphäre zu einem stabilen, langfristigen und überblickbaren Raum, in welchem die eigene Lebensgestaltung und die eigenen Projekte auf eine eintretende belohnende Zukunft ausgerichtet werden konnten. Die Arbeitssphäre glich somit einer Institution, in welcher eine lebenslange Lauf bahn unternommen werden konnte und die von einem politischen Überbau, der seinerseits auf einem zukunftsgerichteten und stabilen Kompromiss zwischen antagonistischen Sozialpartnern beruhte, garantiert wurde. Eingebettet in diesen politisch-ökonomischen Komplex, der die Anzeichen eines ›stahlharten Gehäuses‹ aufwies, da die Strukturierung letztlich auf starren Hierarchien, festgefahrenen Pflichtenheften und somit auch auf kontrollierenden Disziplinarmechanismen auf baute, was ihm den Zug einer »Militarisierung der Zivilgesellschaft«7 gab, konnte aber der Einzelne immerhin die Fähigkeiten und Ressourcen für eine kontinuierliche Lebensführung ausbilden, für ein Lebensprojekt, das ihm realisierbar und insofern lohnenswert erschien, als er Sicherheit und Stabilität für den weiteren individuellen, familiären oder gar gemeinschaftlichen Lebensweg garantierte. Was im Gegensatz hierzu eintrat, ist eine politische Konfiguration der Ökonomie, die auf Interventionen, politisch-partizipative Ausgestaltung dieser Eingriffe und auf den Aspekt von politisch durchgesetzten Umverteilungspolitiken zunehmend verzichtet. Die neoliberale Zerstörung des ›stahlharten Gehäuses‹ hat also nicht nur die lähmende Bürokratie, die langen Wege der politischen Kompromissbildung, die patriarchalische Disziplin am Arbeitsplatz und das militärisch organisierte Feld der Sozialpartnerschaft bis zu seiner Unkenntlichkeit korrodiert, sondern auch die Arbeitssphäre als eines der zentralsten politisch durchsetzten Kampffelder sowohl in ihrer zeitlichen als auch räumlichen Dimension neu chiffriert. Die neuen Räume der Arbeitswelt unterliegen gegenwärtig einem Konstitutionsmodus, der immer weniger von demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen und immer mehr von der freien Spontaneität des Marktes und der Grösse seines Schmiermittels – des Kapitals – getragen wird. Beide – so das immer wiederkehrende Argument der Neoliberalen – können nur dann eine prosperie6 | B AUMAN, Z YGMUNT. Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 7 | W EBER, M AX . Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. München: Duncker & Humblot 1918. S. 13.
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rende, freiheits- und kreativitätsfördernde Arbeitswelt konstituieren, wenn sie in ihren Mechanismen, Geschwindigkeiten und Effekten nicht von der Politik gestört, sondern vielmehr wie eine fragile Pflanze umgarnt, gepflegt und kultiviert werden. Demokratische Wahlen finden zwar statt, aber der Wählerschaft wird ans Herz gelegt, diejenigen Entscheidung zu fällen, die den Interessen der grossen Marktakteure zugute kommen, da diese ansonsten das Weite suchen und so Arbeitsplätze in günstigere, ihnen genehmere Standorte verlagern. Bei einer genauen Betrachtung dieser neuen Räume der Arbeitswelt fällt zuerst ihre Fragmentierung auf. Der keynesianische Wohlfahrtsstaat hatte über die Definition, Bearbeitung und Zuweisung sozialer Risiken für eine Pazifizierung des Klassenkonflikts gesorgt und so die Erfahrbarkeit von Klassengegensätzen in eine ›zivilisierte‹ Konstellation gefügt und sie gleichsam abgemildert. Mit Kündigungsschutz, tariflichen Normen, Mitbestimmung, sozialen Sicherungssystemen etc. stellte er den zuvor besitzlosen Lohnabhängigen ›Sozialeigentum‹, ein Eigentum also, das zur kollektiven Existenzsicherung bedacht war, zur Verfügung. Unter den Bedingungen einer neuen kapitalistischen Landnahme, die jegliche politische Reflexion im Namen des Standortwettkampfes einnimmt und zugunsten einer Attraktivitätssteigerung des eigenen Finanz- und Investitionsplatzes auf die Beschneidung oder gar Enteignung von Sozialeigentum zielt, wird die Verfügung über Sozialeigentum zu einem Strukturprinzip sozialer Ungleichheit, das manche Beschäftigtengruppen privilegiert und andere ausschliesst. Dass die Ungleichheit für alle gleich ist und dass hiermit innerhalb des neoliberalen Denkens keine moralische Irritation auftritt, da der Markt in seiner Performanz ›blind‹ ist und somit nur spontane und ›neutrale‹ Sprechakte formuliert, die immer eine bestimmte Nachfrage definieren und somit auch diejenigen, die dieser Nachfrage entsprechen, privilegieren, wurde schon erwähnt. Was vielmehr irritiert, ist aber das neoliberale Versprechen, dass eine Umkodierung von Politik und Gesellschaft, die sich an den Prinzipien der Marktrationalität ausrichtet, Wohlstand, Freiheit und Prosperität garantieren soll. In der Tat aber hat die neoliberale Zerschlagung des keynesianischen politökonomischen Apparates zu Ungleichheitsstrukturen geführt, die im Gegensatz zu den keynesianischen eine neue Qualität aufweisen, und zwar diejenige der Angst. Robert Castel hat diese neuen Ungleichheitsstrukturen treffend als Zonen unterschiedlicher Sicherheitsniveaus bezeichnet. Zur Erinnerung: Gemäss Castel ist die neue neoliberal geprägte Arbeitswelt dadurch gekennzeichnet, dass in ihr gleichzeitig verschiedene, ineinander übergehende und sich teils überlappende Zonen mit unterschiedlichen Risiko- und Sicherheitsstrukturen vorherrschen. Gemeint sind die ›Zonen der Integration‹, mit noch immer gesicherten Normalarbeitsverhältnissen, die ›Zone der Enkoppelung‹ mit Gruppen, die vollständig von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind, und die ›Zone der Prekarität‹, in der sich alle befinden, die zur Existenzsicherung, respektive Reproduktion auf
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unsichere, weil befristete und/oder nicht dauerhaft oberhalb des kulturellen Minimums vergütete Beschäftigungsverhältnisse angewiesen sind.8 Die castelschen Zonen bilden also im Grunde eine soziale Realität ab, die gewissermassen zwischen der zerfallenden Klassengesellschaft des keynesianischen Systems und dem aus einer »kollektiven Situation der Entkollektivierung«9 – die neoliberale Verminderung bis Enteignung des Sozialeigentums – resultierenden »Individualismus des Mangels«10 angesiedelt ist. Hierbei ist der Prekaritätsbegriff zentral. Nicht nur erlaubt er, empirisch unterscheidbare Aggregatszustände von Prekarität zu fassen, die mit der Angst vor sozialem Abstieg, der Verstetigung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse und dem vollständigen Ausschluss von regulärer Erwerbsarbeit operieren, sondern er lenkt zugleich die Aufmerksamkeit auf die Überlagerung klassenspezifischer Verteilungskonflikte durch Auseinandersetzungen um soziale Exklusion und Partizipation11. Während nämlich geschützte Erwerbsarbeit als ein Privileg erscheint, das nur mittels Zugehörigkeit zur schrumpfenden ›Zone der Integration‹ zu verteidigen ist, zeichnet sich alles, was jenseits dieser Zone angesiedelt ist, durch Grade des Ausschlusses von materiellem Wohlstand, sozialer Sicherheit, reichen Sozialbeziehungen und politischer Teilhabe aus. Selbst der »interne Arbeitsmarkt«, so Castel, also die auf die nationale Ebene begrenzte Arbeitssphäre »ist inzwischen auf breiter Front von der Segmentierung und Prekarisierung erfasst, mit der Folge einer Destabilisierung fester und einer Herabstufung früher als sicher geltender Stellen.«12 Es lässt sich sehr wohl einwenden, dass die internen Arbeitsmärkte – in Deutschland beispielsweise – noch immer vergleichsweise stabil sind, dass »gesicherte Beschäftigungen weiterexistieren und sogar neue geschaffen werden« 13, am Grundsachverhalt, an der Angst vor der ständig lauernden Gefahr des Abstiegs in die untere Zone, ändert das aber nichts. Vielmehr zeugen die Unsicherheitserfahrungen von der Wiederkehr einer längst überwunden geglaubten Proletari8 | Zum vorangegangenen Absatz siehe: C ASTEL, R OBERT. Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg: Hamburger Edition 2005. 9 | C ASTEL, R OBERT. Das Verschwimmen der sozialen Klassen. In: J OACHIM B ISCHOFF E T A L . (Hg.). Klassen und soziale Bewegungen. Strukturen im modernen Kapitalismus. Hamburg: VSA 2003. S. 7-17. 10 | C ASTEL, R OBERT. Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK 2000. S. 404. 11 | Siehe: K RONAUER, M ARTIN . Exklusion als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Vorschläge für die anstehende Debatte. In: H EINZ B UDE . A NDREAS W ILLISCH (Hg.). Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg: Hamburger Edition 2006. S. 27-45. Hier S. 44. 12 | CASTEL, ROBERT. Jenseits der Lohnarbeit und unterhalb der Beschäftigung? Die Institutionalisierung des Prekariats. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie. Nr. 52. 1/1007. S. 12. 13 | Ibid. S. 12.
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tät. Sie sind ein Strukturmerkmal ungeschützter Lohn- und Erwerbsarbeit. So ist ›Hartz IV‹ das Schreckgespenst der permanenten Gefahr für Arbeitnehmer aus der Mittelschicht, die in Normalarbeitsverhältnissen sind, für Prekäre ist es der auf alle möglichen und erdenklichen Arten zu umgehende Eingang in die soziale Marginalisierung, für die Marginalisierten erzeugt sein tatsächliches Erscheinen nicht nur Resignation und Apathie, sondern auch die Unmöglichkeit einer selbstbestimmten Arbeitswahl und einer selbstbestimmten Biographie. »Hartz IV ist Symbol des jederzeit möglichen Abstiegs ohne soziale, berufs- und einkommensbezogene Auffanglinie. Es wird für jedermann vorstellbar, innerhalb kurzer Zeit ›durchgereicht‹ zu werden von einer herkömmlichen Mittelschichtposition zu einer sozialhilfeanalogen Transferabhängigkeit mit der Verpflichtung, jegliche Arbeit annehmen zu müssen.« 14 Dagegen entpuppen sich alle neoliberalen und neokonservativen Diskurse zugunsten einer Entproletarisierung und einer Festigung traditioneller Werte oder der Privatisierung der Sorge als Scheingefechte, da sie die auf Fragmentarisierung ausgerichteten Fundamente ihrer ›schönen neuen Welt‹ nicht reflektieren. Solange nämlich die Marktsphäre von staatlichen Regulierungen verschont bleibt, ist sie für alle gleichermassen frei zugänglich. Dass dieser Zugang aber insbesondere von der jeweiligen Kaufkraft sowie von einem Bedürfnis nach finanzieller Sicherheit und Kontinuität geprägt ist, wird von den Neoliberalen entweder ignoriert oder aber mittels einer Politik des ›billigen Geldes‹ zu beheben versucht. Dass der damit verbundene und angereizte Run auf billige Kredite, damit der Konsumappetit gestillt und die Teilnahme am Marktgeschehen garantiert werden kann, zu verheerenden Folgen für das globale Wirtschaftssystem und für die meisten Volkswirtschaften dieser Welt führen kann, hat die im Jahre 2008 ausgebrochene Hypothekarkrise gezeigt. Diese hat nicht nur, wie ein Dominostein den anderen umwirft, die Finanzwelt zum Kollabieren gebracht und deren zerstörerische Auswirkungen auf die sogenannte Realwirtschaft gezeigt, sondern sie hat auch die Beschäftigungsraten weltweit erfasst, und zwar in einem solchen Ausmass, dass die Auf blähung der Arbeitslosigkeits-, aber vor allem der Prekaritätsfälle – die, obwohl sie kein ausreichendes Einkommen generieren, trotzdem als arbeitende Bevölkerung gezählt werden und damit in keinen Arbeitslosigkeitsstatistiken auftauchen – bis auf den heutigen Tag noch nicht überblickbar ist.15
14 | N OLTE, PAUL . Riskante Moderne. Die Deutschen und der Neue Kapitalismus. München: C.H. Beck 2006. S. 11f. 15 | Nach Berechnungen der OECD, wird die weltweite Wirtschaftskrise bis zum Jahre 2020 die Zahl ungeregelter Arbeitsverhältnisse so weit in die Höhe treiben, dass dann drei Viertel der globalen Arbeitskräfte ohne Arbeitsverträge und ohne soziale Absicherung beschäftigt sein werden. Nicht anders als heute dürfte die übergrosse Mehrheit von ihnen ein Einkommen erzielen, das unter der Armutsgrenze von 2 US-Dollar pro Tag liegt. Zitiert in: M AHNKOPF, B IRGIT. Die ›Satansmühle‹ der kapitalistischen Ökonomie oder: Der kapitalistische Realis-
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Die Verkürzung der Zeit und die Fragmentarisierung des Raumes, in welchem das Individuum losgelöst von Langfristigkeit und Stabilität des Lebens- und Arbeitsortes gefangen bleibt, generieren zudem die Herausbildung einer neuen Kultur, einer neuen bedeutungsgebenden Praxis, die sich in individualistischen Modi ausdrückt und Werte wie Loyalität oder soziale Beziehungen, die Gemeinschaft zwischen Fremden etabliert, desavouiert. Eine jede Kultur, da sie immer eine Praxis der Bedeutungsgebung ist, baut in erster Linie auf Werten und Praktiken auf, die den Zusammenhalt der Menschen, ihre kommunikativen Kodes, ihre geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze institutionalisieren und sanktionieren und die Räume des Sag- und Machbaren abstecken, so dass Menschen sich als Angehörige einer grösseren Gemeinschaft von anonymen Fremden identifizieren können. Nun lässt sich einwenden, dass Gemeinschaft, die auf Nähe, Sichtbarkeit und Tradition aufruht, nicht das einzig mögliche Bindemittel einer Kultur ist. Denn gerade Menschen in den Weltmetropolen leben offensichtlich in einer gemeinsamen Kultur, obwohl der Grad der Anonymität in diesen Räumen dermassen gross ist, dass sie eher einem riesigen Archipel von unzähligen Individual-Inseln gleichen als einem gemeinsamen Lebensraum. Es geht also darum herauszufinden, wie und wodurch Gemeinschaft im globalen Dorf gestiftet wird. Dass der weiträumige Archipel ›Grossstadt‹ nämlich trotzdem so etwas wie Gemeinsamkeit zwischen seinen ›Inseln‹ stiftet, lässt sich wohl kaum verneinen. Der deutsche Denker Ralf Dahrendorf 16 sichtete in dem, was er die ›globale Klasse‹ nannte, den dominanten Akteur einer transnationalen Kultur, dessen Lebensweise und schillernder Wohlstand in die nationalen Kulturen eindringe und hier Nachahmungseffekte erzeuge, die wiederum der demokratischen politischen Auseinandersetzung abträglich seien. Es ist eine Klasse, die die drei »C’s«, wie das Dahrendorf in Anlehnung an Rosabelle Moss Kantner nennt, also »competence«, »concepts« und »connections« zu den neuen dominanten Produktionsmittel erkoren haben und diese in Macht ummünzen. Für diese neue Klasse sind die traditionellen Institutionen hinderlich für ihre Entfaltung, so dass sie ihrer Meinung nach entweder zerschlagen oder ignoriert werden müssen. Es handelt sich um »eine neue Kategorie von Personen, die eine neue Welt schaffen wollen und dabei sehr reich werden.«17 Sie sind auf der ganzen Welt zu Hause, überqueren ständig Grenzen, verabschieden sich von nationalen Borniertheiten und preisen sich als neue Vertreter eines kosmopolitischen Lebens an – ein Leben aber, das bei genauem Hinsehen sich einerseits durch seine schillernde Oberfläche, durch die Ansammlung positionaler Güter und Status-Symbole manifestiert, mus in der Krise. In: N ECKEL , S IGHARD (Hg.). Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M.: Campus 2010. S. 93-116. Hier S. 104. 16 | Vgl. DAHRENDORF, R ALF. Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch. München: Beck 2002. S. 21ff. 17 | Ibid. S. 21.
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andererseits und im Schatten dieser spektakulären Erscheinung mit einer finanziellen Macht ausgestattet ist, die es ihr erlaubt, nationale Politiken zu umgehen oder gar zu beeinflussen. Heute, so Dahrendorf, ist es kaum mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung, das dieser globalen Klasse im engeren – macht- und finanzpolitischen – Sinne, angehört. Entscheidend ist aber, dass es eine »grosse Anzahl von Personen« gibt, »die um diese globale Klasse kreist, in ihren wirtschaftlichen und kulturellen Verhaltensweisen von dieser Klasse beeinflusst wird und deren Moden, Vorlieben und Verhaltensweisen nachahmt.«18 Es sind dies also Menschen, die nicht nur das Personal dieser globalen Players darstellen, sondern auch von ihren Tätigkeiten abhängig sind, also alle Arbeitnehmer, die in den Fabriken oder Dienstleistungsbetrieben der globalen Klasse arbeiten, aber auch diejenigen, die in den Medien, in der Theater- und Filmwelt, in Kunst und Sport tätig sind und deren Arbeitsbereiche von der globalen Klasse mitunter mäzenatisch finanziert werden und die selber »danach streben, früher oder später ebenfalls Teil der globalen Klasse zu werden. Denn diese bestimmt die Trends, weist die Richtung, übt kulturelle Hegemonie aus.«19 Gerade dieser letzte Punkt, den Dahrendorf anspricht, ist im Zusammenhang mit den Fragmentarisierungen, die neoliberale Politiken nach sich ziehen, und der daraus folgenden Generierung einer neuen Kultur der ›Oberflächlichkeit‹ wesentlich, denn »kulturelle Hegemonie« bedeutet, auch im Sinne Dahrendorfs, dass eine bestimmte Selbst- und Weltdeutung dominant geworden ist und sich in möglichst allen zivilgesellschaftlichen Feldern durchgesetzt hat, dass sie uns alle also, ob wir es wollen oder nicht, in unserem Alltag einholt, unser Verhalten und unsere Selbst- und Weltbilder – ob durch zustimmende oder ablehnende Haltung – beeinflusst, uns alle so in dieses Spiel, das von einigen wenigen globalen Akteuren dominiert wird, einspannt und sich damit auch eine neue Kultur global ausbreitet. So flösst das anonyme Schlendern durch die Strassen New Yorks, Paris, Shanghais, Tokios oder Roms auch denjenigen, die nicht zu dieser globalen Klasse gehören, aber dennoch hinreichend wohlhabend sind, um die Welt zu bereisen, nicht das Gefühl ein, an einem völlig fremden Ort zu sein. Ein Fremdheitsgefühl würde sich allenfalls dann einschleichen, wenn der Städtebesucher nachts Orte wie Harlem, Clichy-sous-bois20 oder den ›Serpentone‹21 in Rom besuchen, wenn 18 | Ibid. S. 22. 19 | Ibid. S. 22. 20 | Die Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois war 2005 Schauplatz gewalttätiger Proteste. Nachdem am 27. Oktober 2005 zwei junge Franzosen auf der Flucht vor der Polizei in einem Stromhäuschen sterben, machen die jungen Bewohner dieser Vorstadt, meist Kinder von Einwanderern, mit Gewalt und brennenden Autos auf sich und ihre Lebensverhältnisse aufmerksam. 21 | Das in der römischen Alltagssprache genannte ›Serpentone‹ – offiziell ›Corviale‹, womit eine urbane Teilzone des ›Municipio XV‹ von Rom bezeichnet wird – ist eine in den 1970er
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er sich also von den hochpolierten Attraktionszentren der jeweiligen Städte wegbewegen würde. Aber wahrscheinlich würde auch eine solche ›Exkursion‹ keine allzu grosse fasziniert-ängstliche Wahrnehmungsveränderung bei den Reisenden hervorrufen, denn letztlich hat doch wohl jede noch so ›provinzielle‹ Grossstadt seine eigenen ›Harlems‹, ›Banlieus‹ und auf das wohlhabende Zentrum furchteinflössende ›Schlangenquartiere‹. Es stellt sich somit die Frage, was diese globalen Zentren, diese Grossstädte, die die Borniertheit des Nationalen abgestreift haben und den kosmopolitischen Wanderern zur jeweiligen Heimat werden, zusammenhält und welche Werte und Praktiken Gemeinsamkeit stiften und das Gefühl der Fremdheit reduzieren. Naheliegend ist natürlich eine Erklärung, die in den neuen Informationstechnologien, in der Vernetzung der Weltwirtschaft und des Handelns sowie im ›Näherrücken‹ der Welt zu einem globalen Dorf und in der Anhebung der Bildung und der Intensivierung des Wissensaustausches um die jeweiligen Bräuche und Sitten die wesentlichen Faktoren für den Zusammenhalt dieser kosmopolitischen Zentren sichtet. Diese Erläuterung trifft ohne weiteres zu. Das Internet und die günstigen Flugtarife haben die Distanzen gekappt, die Welt ins Haus gebracht oder sie zumindest hinter der nächsten Ecke greif bar gemacht. Daneben ist aber auch die Entwicklung einer Kultur relevant, die sich in der Geschwindigkeit der Informationsflüsse, der Handelsströme und der Distanzüberwindungen einnistet und entsprechend der rasanten Welt, aus der sie entsteht, sich selber auch nur oberflächlich und schillernd in ihrer Äusserlichkeit zeigt. Eine solche globale Kultur lässt sich aber am besten fassen, wenn sie von der fragmentarisierten Welt, in der sie zu Hause ist, aus der Perspektive eines umgrenzten Raums, wie ihn eine Grossstadt darstellt und in welchem sie sich manifestiert, betrachtet wird. Der Funktionsmodus, mit welchem diese Kultur Gemeinsamkeit zwischen Fremden stiftet, ist ein industrieller und konsumistischer, der auf dem Prinzip der Imitation beruht. In der Grossstadt, wie das bereits Georg Simmel erkannte hatte, herrscht ein Geist, welcher sich durch Blasiertheit, Reserviertheit und Indifferenz auszeichnet. Als Sitz der Geldwirtschaft und der industriellen wie gesellschaftlichen Innovation funktioniert die Grossstadt nach dem Geldprinzip. »Denn das Geld fragt nur nach dem, was ihnen gemeinsam ist, nach dem Tauschwert, der alle Qualität und Eigenart auf die Frage nach dem blossen Wieviel nivelliert.«22 Der Funktionsmodus einer Grossstadt ist also insofern ein industrieller, als er die Menschen und Dinge, die in der Grossstadt verkehren, in ihrer reinen Sachlichkeit behandelt. Der Mensch als Produzent, Anbieter und Käufer einer Ware verJahren in der römischen Peripherie aus dem Boden gestampfte Plattenbausiedlung, deren unwirtliche Wohnblöcke ununterbrochen aneinandergereiht wurden, so dass die Siedlung den Eindruck einer Betonschlange macht, welche bewegt von inneren Unruhen um das römische Ballungszentrum kriecht und ihre Kinder dorthin auswirft. 22 | S IMMEL, G EORG . Die Grossstädte und das Geistesleben (1903). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 13.
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liert in diesem unübersichtlichen Milieu nicht nur den persönlichen Kontakt zu seinem Kunden, Anbieter oder Lieferanten, sondern er stellt seine Kreativität und Arbeitskraft in den Dienst einer produktiven Tätigkeit, die nunmehr auf einen anonymen Markt gerichtet ist. Es geht an dieser Stelle aber nicht darum, das Loblied auf ein kleinbürgerliches Idyll samt seinen übersichtlichen und in direktem Kontakt zueinander stehenden Kleinbetriebe oder gar Manufakturen zu singen. Eine solche Nostalgie wäre nicht nur ein Zugeständnis an einen romantischen Konservatismus, der die Vergangenheit humaner darzustellen pflegt, als sie tatsächlich war – denn nicht vergessen werden sollte Marx’ Lektion,23 dass gerade in der frühbürgerlichen Phase sich auch die Produktionsverhältnisse und die damit verbundenen gesellschaftlichen Machtpositionen derart veränderten, dass eine zunehmende Schicht der Bevölkerung zur Sicherung ihrer prekären Subsistenzmittel in die entfremdende Arbeit gedrängt wurde –, so dass sie auch blind gegenüber den aktuellen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen bleibt, die sich im Gleichschritt auf dem ganzen Globus ihren Weg bahnen. Worum es geht, ist die Darstellung – und hierfür ist der Rekurs auf Simmel auch gedacht – einer für die Grossstädter gemeinschaftsstiftenden Matrix, die, fern davon, auf vernünftig ausgehandelte und durchgesetzte Werte und Praktiken aufzubauen, ebendiese aus der Welt des Geld- und Warenumlaufs adoptiert, Werte und Praktiken also, die nicht mehr von Menschen, die sich real oder dank der neuen Medien virtuell von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und so das kulturelle Fundament, auf dem sie sich selbst und ihren jeweils anderen verstehen und auch sein Verhalten entziffern können, gemeinsam konstruieren, sondern Werte und Praktiken, die im anonymen Raum des Geld- und Warenflusses, über die Köpfe der einzelnen Grossstadtbewohner sozusagen, generiert werden und letztere wie »in einem Strome tragen, in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf.«24 Damit der Einzelne in diesem Archipel, der auf einer Kultur ruht, die aus der Anonymität des Geld- und Warenhandels hervorwächst, auch als Bestandteil der Inselgruppe anerkannt werden kann, muss er sich die vorgegebenen Werte und Praktiken einverleiben oder sie zumindest imitieren. Erneut ist es Simmel, der dem Begriff »Imitation« die für diesen Zusammenhang notwendige Würze verleiht. In seinem Artikel über die Mode25 betont Simmel, dass die Imitation das Prinzip der Geborgenheit des Einzelnen in etwas 23 | »Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.« Siehe: M ARX, K ARL . E NGELS, F RIEDRICH. Das kommunistische Manifest (1848). Eine moderne Edition mit einer Einleitung von Eric Hobsbawm. Hamburg. Berlin: Argument 1999. S. 44. 24 | S IMMEL, G EORG . Die Grossstädte und das Geistesleben (1903). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 41. 25 | SIMMEL, G EORG. La Moda (1911). (Piccola Enciclopedia 117) Milano: Se 1996. S. 13ff.
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Grösserem ist. Zudem ist die Imitation auch zutiefst konservativ, da sich nur dasjenige imitieren und somit im Vollzug der Imitation auch bewahren lässt, was schon da ist. Was Simmel also zu seiner Zeit schon analysiert und gegenwärtig zu einem globalen Prinzip der Gesellschaftsformung zu werden droht, ist eine Kultur, die in ihrer industriellen Funktionsweise und ihrem Imperativ der Imitation Gemeinschaft mittels Werten und Praktiken stiftet, die den einzelnen Menschen zum blossen Empfänger degradieren. Was ihm übrig bleibt, ist der permanente Versuch, vom Empfänger zum Sender zu werden, der Versuch also, mittels »ein[es] Äusserste[n] an Eigenart und Besonderung«26 doch noch gehört und gesehen zu werden. Aber auch für diesen Kampf um 15 Minuten Anerkennung stellt der Archipel der Konsumkultur die geeigneten Instrumente und Mittel zur Verfügung. Man muss sie bloss kaufen und so kombinieren können, dass sie zumindest für den Hauch eines Augenblicks Einzigartigkeit, Nonkonformität und Originalität ausstrahlen – denn länger dauert es nicht, bis die Imitation eintritt. Es handelt sich dabei um eine Zur-Schau-Stellung des Selbst also, die nicht bloss im Funktionsmodus der Konsumkultur verharrt, sondern auch nur äusserlich in Erscheinung treten kann, um gleich wieder zu verglühen. Es ist dieser Tanz mit einem zu ästhetisierenden Selbst, welcher von der Konsumkultur aufgegriffen, geschliffen, veredelt und kommerzialisiert wird, so dass die Ästhetisierung nicht nur immer wieder in den Konsummechanismus eingegliedert wird, sondern auch bloss oberflächlich bleiben kann, also eine ›danse macabre‹, die dem Einzelnen das Versprechen auf Einzigartigkeit und das Hervor-Treten aus der Masse garantiert, in Wirklichkeit aber dieses Versprechen immer nur transitiv belässt, um die minimierte Zeit der Selbstdarstellung in eine maximierte der profitsteigernden Absatzsicherung zu transformieren. Sie kann als regelrechte Kulturindustrie bezeichnet werden, wie sie schon Adorno und Horkheimer in den 1940er Jahre skizziert hatten, sie greift um sich und »schlägt nicht nur alles mit Ähnlichkeit«27, etwa die ›McDonaldisierung‹ der Städte auf der ganzen Welt, sondern sie produziert sich auch, als Teil ihrer Funktionslogik, das Publikum, das nach ihr verlangt. Die Grammatik dieser Kultur funktioniert nach den Regeln des Konsums. Ihre Werte und Praktiken kennen nur eine Semantik – diejenige des Konsum-Imperativs. Diese unheilige Allianz zwischen einer Kultur, die sich bloss noch in der Grammatik des Konsums ausdrücken kann und die uns das Versprechen auf Individualität mit immer neuen Produkten und Ideen schmackhaft machen will, ist das untergründige Sediment, auf dem wir uns wandelnd durch die Grossstädte der Welt heimisch und einer Gemeinschaft zugehörig fühlen. Natürlich ist es nicht das einzige, aber sicherlich das ertragreichste, und seine 26 | S IMMEL, G EORG . Die Grossstädte und das Geistesleben (1903). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. S. 41. 27 | A DORNO, THEODOR W. H ORKHEIMER, M AX . Dialektik der Aufklärung (1944). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Hier S. 128.
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Allgegenwärtigkeit zeigt sich durch den konformen Zwang, nicht konform sein zu müssen. Die Kritik spitzt sich also auf die Qualität der Grundfesten sowie auf den Prozess zur Gestaltung einer Kultur zu. Unüberblickbare Räume, wie sie Grossstädte darstellen, können also sehr wohl Gemeinsamkeit stiften, wenn auch über eine Kultur, die sich vornehmlich in der Sprache des Konsums und der Selbststilisierung ausdrückt. Dass dabei aber weiterhin eine individuelle Fremdheit gegenüber dem anderen bleibt, der in der Konsumkultur entsprechend seinem äusserlichen Erscheinen kurz durchgescannt wird, um seine potentielle Interessantheit evaluieren zu können, lässt sich nicht ausreden. Dass überdies der Grad der Vereinsamung, nicht nur in Grossstädten, wie es schon Georg Simmel beobachtet hatte, zunimmt und dass Phänomene wie ›Hikikomoris‹28 in Japan oder regelrechte Dating-Industrien29 in Europa und Nordamerika wie Pilze aus dem Boden schiessen, zur Tagesordnung gehören, sind wohl Indizien dafür, dass die Fremdheit und Distanz zwischen den individualisierten und sich selbst individualisierenden Inseln im Gesellschaftsarchipel zunimmt. Entsprechend drängt sich die Frage auf, wie sich diese Fremdheit abmildern und wie sich Brücken zwischen den einzelnen Inseln schlagen liessen. Wesentlich für die Beantwortung solcher Fragen ist die Berücksichtigung der temporalen Qualität. Diese muss, damit die Funktion der Identifikation und der Einbettung in ein Netzwerk, das Orientierung, Richtlinien von ›Normalitäten‹ sowie moralisch gute oder verwerfliche Verhaltensweisen zu dechiffrieren erlaubt und letztlich Kohärenz in der Ausgestaltung des eigenen Lebens und der eigenen Identität ermöglicht, einen gewissen Kontinuitätshorizont aufweisen, damit die Menschen, die darin leben, die soziale Realität auch begreifen und für ihr eigenes Lebensprojekt interpretieren können. Zudem ermöglicht erst eine solche Langzeitigkeit die Herausbildung sozialer Beziehungen, die auf Loyalität und nicht auf Opportunismus aufbauen. Soziale Beziehungen brauchen Zeit zu ihrer Entwicklung, d.h. sie benötigen, um nicht bloss im Moment der Nützlichkeit aufzugehen, eine organisierte Zeit, die den Verhandlungs- und Vermittlungsspielräumen der Individuen eine langfristige Kontinuität garantiert. Eine soziale Beziehung lässt sich nämlich kaum aufbauen, wenn von Beginn an nicht sicher ist, ob die getroffenen Vereinbarungen, die abgemachten Versprechen und die ausgehandelten Rollen zwischen zwei Personen, auch am nächsten Tag noch ihre Gültigkeit haben. Anstelle einer sozialen Beziehung, die in ihrer Terminologie schon auf den Aspekt der Langfristigkeit hinweist, würde 28 | Hikikomori bedeutet im Japanischen »sich einschliessen« oder »gesellschaftlicher Rückzug«. In Japan werden Menschen, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschliessen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum beschränken ›Hikikomori‹ bezeichnet. Der Begriff bezieht sich sowohl auf die Betroffenen wie auch auf das soziologische Phänomen. 29 | Vgl. I LLOUZ , E VA . Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.
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dann, wie das der Wall-Street-Gewinner George Soros treffend formuliert hat, vielmehr eine »Transaktion«30 zwischen zwei Menschen stattfinden. Erst wenn eine temporale Basis garantiert werden kann, die auf Langfristigkeit, Kohärenz und Stabilität auf baut und dank welcher Menschen ihren Lebensmodus als eine überschaubare Geschichte dechiffrieren und sie auch selbstbestimmt gestalten können, erst dann lässt sich auch eine soziale Beziehung auf bauen, die eben zwischen zwei oder mehreren Menschen eine Relation ausmacht, deren Verhältnis dank einer temporalen Stabilität die Erfahrung und die Festigung von Erwartungshorizonten ermöglicht, auch überblickt, verstanden und gepflegt werden kann. Das Resultat dieses auf einer Basis der stabilen Langfristigkeit aufgebauten Projektes namens ›soziale Beziehung‹ ist Loyalität. Eine Kultur, die letztlich immer aus einem Geflecht von sozialen Beziehungen besteht, benötigt also den Kitt ›Loyalität‹, welcher aber ohne einen Zeithorizont, der eine für die einzelnen Mitglieder noch erkennbare Kohärenz und Stabilität und somit auch ein Vertrauen dafür vermittelt, dass die heutigen als richtig empfundenen Handlungen und Verhaltensweisen morgen nicht schon zu den ›falschen‹ gehören, nicht möglich ist. Natürlich kann sich innerhalb einer Kultur ein Streit darüber entfachen, ob die als ›richtig‹ dechiffrierten Handlungsweisen auch tatsächlich weiterhin als ›richtige‹ betrachtet werden sollen. Aber auch ein solcher Streit benötigt eine Auseinandersetzungsfläche, die den Teilnehmenden einen stabilen, langfristig ausgerichteten Ort des Sprechens ermöglichen. Eine in ihrem Gestus sicherlich wünschenswerte Infragestellung der angeblich ›richtigen‹ Verhaltensweisen ist nicht nur auf die Gegenwart gerichtet und auf den festen Raum, in welchem man steht und spricht, sondern in ihrer dekonstruktiven Haltung auch auf eine kommende Zeit projiziert, die aber letztlich ihren Startblock immer in der Gegenwart findet. Auch eine Dekonstruktion des Bestehenden ist also auf Kohärenz angewiesen, darauf also, dass bestimmte Elemente des kritisierenden-kritisierten Ortes des Sprechens – wie etwa Respekt, Toleranz, eine zivile Diskussionsebene auf öffentlicher oder auch privater Basis –, aber vor allem die faktische materielle Ermöglichung, um Rechte und Freiheiten in Anspruch nehmen zu können, bestehen bleiben. Eine Kritik des Bestehenden muss sich also nicht nur auf einer Ebene bewegen, die einen stabilen und kohärenten Rahmen der Auseinandersetzung ermöglicht, sondern sie muss auch, damit Meinungsverschiedenheiten überhaupt einen politischen und rechtlichen Ausgang finden können, auf gegensätzlichen Positionen des Sprechens, auf Kollektivitäten auf bauen können, die ihre Weltsicht und ihre Veränderungswünsche in die Waagschale des öffentlichen politischen Streitdiskurses legen können. Solche Kollektivitäten brauchen aber Zeit, um innerhalb der eigenen Interessens- und Mitgliedersphäre eine für alle akzeptable Ansicht und Meinung formulieren zu können, die sie 30 | Soros Bemerkung, dass im Umgang der Menschen heute Transaktionen an die Stelle von Beziehungen getreten seien, findet sich in D ER S PIEGEL . Die Märkte sind amoralisch. 51/1998. S. 100-104. Hier S. 104.
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dann im Wettkampf um die Gewinnung von politischer Macht und Definitionshoheit über das jeweils ›Richtige‹ auch öffentlich einsetzen können. Ohne eine stabile und auf Langfristigkeit ausgerichtete Zeit- und Raumebene wird weder innerhalb der einzelnen Kollektivitäten noch zwischen diesen eine auf Partizipation, diskursive Auseinandersetzung und Entscheidungsbildungsprozesse ausgerichteter Streit um das jeweils ›Richtige‹ und ›Falsche‹ sich entwickeln können: Elemente der kollektiven Identitätsbildung, der Kritik und der Entscheidungsfindungsprozesse also, die nur im Laufe der Zeit herausgebildet werden können und entsprechend auch auf Loyalität auf bauen müssen. Ein ›anything goes‹ wäre für ein solches Unterfangen kaum dienlich. Gerade dieses scheint aber die grundlegende Prämisse des Neoliberalismus zu sein. Wenn der Markt die einzige wahrheitssagende und -spiegelnde Instanz sein soll, dann entpuppen sich nicht nur alle kollektiven Bemühungen und langwierigen Identitäts- und Meinungsbildungsprozesse über eine Umgestaltung der Wirtschaftspolitik als hinderliche Zeitverschwendung, sondern erscheinen insbesondere auch als grundlegend konzeptionell falsche Anstrengungen. Anstatt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie die Marktsphäre zugunsten einer Idee von sozialer Gerechtigkeit und damit gekoppelten Umverteilungsrichtlinien gestaltet werden soll, sollten die Menschen vielmehr die alternativlose Wahrheit akzeptieren, dass der Markt nur in seiner totalen freien Ausformung und Entfaltung Wohlstand und Freiheit für alle sichern kann, und ihr Leben anlehnend an diese und angetrieben von dieser Wahrheit gestalten. So würde wohl eine neoliberale Apologie der zeitverkürzenden und raumfragmentierenden Marktsphäre lauten. Die neoliberale theoretische und politische Anstrengung läuft also darauf hinaus, den Menschen das Bewusstsein zu schärfen, dass es zu einem freien und deshalb Prosperität und Freiheit garantierenden Markt keine Alternative gibt. Sobald eine solche neoliberale Konstellation politisch durchgesetzt und dem Menschen als einzig mögliche Wahrheit in Form einer einzunehmenden, aber letztlich doch unverdaulichen Mahlzeit verabreicht wird, dann verlieren nicht nur Kollektivitäten, die um eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik kämpfen, an Attraktivität, sondern auch jegliche nach jahrelangen Kämpfen ausgehandelten Richtlinien zum Schutze der Arbeitswelt erscheinen obsolet. Was angesichts dieser Erosion von politisch durchgesetzten, auf kollektiven Identitäten auf bauenden und von einer nur im Laufe der Jahre sich herausbildenden Loyalität getragenen Schutzmechanismen vor den Exzessen der Marktmechanismen bleibt, ist dann tatsächlich ein nicht mehr hinterfragbarer Appell zum ›anything goes‹. Was bleibt, ist ein Oszillieren zwischen den Scheinwelten der Marktdynamik und des Wertekonservatismus, der als einzige Konstante für die biographische Ausrichtung des neoliberal kodierten Menschen – angereichert mit einer gehörigen Portion religiöser Transzendenz – ebendiesen wie ein Opiat in einem permanenten moralischen Schlummer belässt. Eingepfercht also in fragmentarisierte Räume, die keine Aufschiebung noch sonst irgendwelche korrigierende Eingriffe dulden, verlieren die individuellen
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Lebensentwürfe und die Bildung von demokratischen selbstbestimmten Kollektivitäten zur Sicherung dieser Lebensprojekte jeglichen Halt und jegliche Stabilität. Das Projekt der Moderne, das auf einer selbstgesetzgeberischen Ausgestaltung der Lebensräume im Lichte menschlicher Vernunft beruht, verflüchtigt sich. Wenn die Zeit auf ihren simultanen Modus geeicht wird und der Raum nur noch von den jeweils kurzfristigen Sprechakten des Marktes gestaltet und fragmentarisiert wird, dann verharrt jegliches Projekt für eine zu gestaltende Zukunft in einem flüssigen und nicht fassbaren Zustand. Die Fundamente, die diesen Projekten noch Festigkeit und Stabilität verleihen konnten, werden zunehmend obsolet und mit ihrem fortwährenden Verschwinden hat sich auch der Glaube an eine selbstbestimmte und kohärente Lebensgestaltung verflüchtigt. Losgebunden von politisch durchgesetzten Schutzmechanismen und angesichts einer Arbeitswelt, die nunmehr den kapriziösen und unvorhersehbaren Marktverläufen ausgeliefert ist, bleibt dem Einzelnen nichts anderes übrig, als mit den simultanen Marktanforderungen mitzudriften. Seine permanente Ausrichtung des eigenen Lebens hat sich auf den ›Jetzt‹-Modus eingestellt, und seine ihn ständig begleitende Einstellung zur und Wahrnehmung der Arbeitswelt, ist die beklemmende und bestenfalls nur für eine kurze Zeitspanne abflauende Angst, in die untere Unsicherheitszone zu fallen. Sein hoffnungsvolles Lebensprojekt verflüchtigt sich so zu einem von Existenzängsten geprägten gegenwärtigen Lebensmoment. Eine solche Verflüchtigung der Lebensausrichtung bringt aber auch politische Konsequenzen mit sich. Nicht nur ist der Einzelne gezwungen, seine ganze Aufmerksamkeit den Marktverläufen zu widmen, um dadurch die permanente Angst des Abstiegs nicht als »unheimliche«31 Realität erfahren zu müssen, sondern auch sein politisches Engagement und seine Bereitschaft, in Kollektivitäten mitzuwirken, die dem ›common sense‹ des Marktliberalismus die Spitze zu brechen versuchen, verflüchtigt sich.
4.2 P OLITAINMENT Mit der neoliberalen Neukodierung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik und ihrer Hegemonialwerdung mittels der Durchsetzung des ökonomischen Kalküls in möglichst allen zivilgesellschaftlichen Feldern sowie der damit ent31 | Gemäss Friedrich Schelling ist das Unheimliche »alles was im Geheimnis und im Verborgenen … gehalten werden soll und hervorbricht.« Aber auch Sigmund Freuds Begriff des Un-Heimlichen zielt auf dasselbe, da gerade das Präfix »un« die Verdrängung des in sich Heimlichen, das nun – da eben un-heimlich – hervortritt, markiert. Freuds Darstellung des »Unheimlichen« sowie Schellings darauf bezogene Definition finden sich in: F REUD, S IGMUND. Das Unheimliche. In: D ERS. Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler. Frankfurt a.M.: Fischer 2004. S. 137-172.
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stehenden Fragmentarisierungen, die das Individuum in neue Lebensräume positionieren und ihn danach ausrichten, stellt sich gleichsam die Frage, wie die hiervon betroffenen Menschen mit den sie einkreisenden neoliberalen Politiken interagieren und wie – wenn es letztlich ja weiterhin die Bürger der jeweiligen Länder sind, die ›demokratisch‹ die Politik gestalten – diese Interaktion funktioniert und welche Art von Politik dabei herauskommt. Antworten auf solche Fragen lassen sich ausgehend von einer Untersuchung finden, die um das Konzept der ›Ökonomisierung der Politik‹ kreist – ein sicherlich zu klärender Begriff. Einerseits soll damit auf die Wechselwirkung von Politik und Ökonomie, andererseits auf die Gestaltung und ›Produktion‹ von Politik nach ökonomischen Kriterien hingewiesen werden. Wie bereits erwähnt, deklariert der neoliberale Paradigmenwechsel die Politik zur Magd der Ökonomie. Obwohl es weiterhin die Politik ist, die die ökonomische Sphäre einschliesst, ist ihre Funktion insofern umgekehrt worden, als sie immer weniger aus einem systemimmanenten Prozess der demokratischen Kontrolle der Marktmechanismen die ökonomische Sphäre verändern kann. Was ihr übrig bleibt, und das ist die Funktion der Politik innerhalb des neoliberalen Paradigmas, ist die ›Kultivierung‹ der ökonomischen Sphäre, aber vor allem die Sorge um einen freien Verlauf der Marktmechanismen. Nicht mehr die demokratische Kontrolle bestimmt in der neoliberalen schönen Welt die Wege des Marktes, sondern die ökonomische Macht determiniert die Irrwege der Politik. Der zweite Aspekt der ›Ökonomisierung der Politik‹, und dieser ist im hier verfolgten Kontext relevant, versteht die Sphäre des Politischen als eine, die nach den Funktionsprinzipien des Marktes funktioniert, die also den Imperativen des Wettbewerbs, der Konkurrenz, des Angebots und der Nachfrage, aber vor allem der Unterhaltung, respektive des Konsums Folge leistet. Nun ist es sicherlich so, dass Politik, als dasjenige Instrument zur Etablierung einer wie auch immer geordneten und rechtlich durchtränkten sowie klar definierten Gemeinschaft von Menschen, als dasjenige Feld also, in welchem Entscheidungen über das richtige und gute Leben innerhalb eines territorial begrenzten Raumes gefällt werden, immer schon von Positionen durchdrungen ist, die in Konkurrenz zueinander stehen, eine möglichst grosse Gefolgschaft einbeziehen möchten und schliesslich ihren politischen Einfluss sowie ihre politische Macht auch im Wettbewerb um die Deutungshoheit der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Prozesse erkämpfen müssen. Befremdend wirkt einzig der Begriff des Konsums in diesem Zusammenhang. Um die Frage beantworten zu können, wie Politik sich als Konsumgegenstand verstehen lässt, ist ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Begriffe ›Politik‹ und ›Ökonomie‹ unerlässlich. Nicht nur erlaubt diese historische Zuwendung eine Analyse der jeweiligen Konzeptionen und Verflechtungen dieser beiden Sphären, sondern sie ermöglicht auch den Blick auf die gegenwärtige ›Ökonomisierung der Politik‹, in welcher Politik zunehmend die Form eines Konsumgegenstands annimmt und nach dem Modus des ›Entertainments‹ ausgerichtet wird.
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Historisch betrachtet wurde Politik schon seit der Antike im Zusammenhang mit Ökonomie gedacht. Als Sphären, die sich gegenüberstanden oder gegenseitig konstituierten, wurden sie auch als grundlegende Fundamente einer jeden gesellschaftlichen Ordnung konzipiert. So basierte die Ökonomie für Platon32 auf egoistischer Bedürfnisbefriedigung und Habgier. Politik hingegen orientierte sich an Recht und Gerechtigkeit. Es erstaunt nicht, dass die Ökonomie für Sokrates’ Schüler auch wie ein roter Faden die Dekadenz der Regierungsformen und der darin lebenden Menschen nachzeichnet. Die Aristokratie, dieses utopische Ideal einer gerechten Stadt, die vom Philosophenkönig regiert wird und auf gemeinsamem Besitz beruht, zerfällt, sobald die Philosophenherrscher die Anzahl der Stadtbewohner nicht mehr kontrollieren können, so dass die Gemeinschaft ökonomisch destabilisiert wird. Resultat einer solchen Entwicklung sind Regierende, die Recht des Ansehens willen walten lassen und hierfür ökonomische und materielle Privilegien verlangen. Was sich auch verändert, ist die Seele der Menschen. Waren diese noch gerechte und aristokratische, mutieren sie nun zu timokratischen. Nicht mehr das Prinzip der Gerechtigkeit und dasjenige ihrer Verfolgung durchdringt die Seelen, sondern die Eitelkeit des Ansehens und der materiellen Auszeichnung. Die Dekadenzlinie liesse sich nach demselben Muster verfolgen. So zerfällt die Timokratie ihrerseits aufgrund der wichtiger werdenden pekuniären Grundlage des Ansehens und wird zur Oligarchie, womit auch der timokratische Mensch seinen noch verbliebenen Gerechtigkeitswillen vollends abstreift, um Ansehen bloss noch am materiellen Besitz erkennbar zu machen. Für Platon war die Ökonomie also ein Prinzip, das, sofern es nicht von der gerechten Politik des Philosophenkönigs zum Wohle der Allgemeinheit dirigiert wurde, Regierungsformen und menschliche Selbst- und Weltverständnisse in die Dekadenz trieb. Einen anderen Ansatz verfolgte Aristoteles. Oikonomia war für Aristoteles33 die Verwaltung des Hauses (oikos) – eine Betriebswirtschaft, um das materielle Überleben der eigenen Mitglieder zu sichern. Politik hingegen betraf das Allgemeinwohl der Polis, also der überpartikularen Gemeinschaft und sollte nur von denjenigen ausgeübt werden, die sorgenfrei bezüglich der materiellen Absicherung ihrer Hausgemeinschaft sich auch im öffentlichen Raum selbstlos für das Wohl der Polis einsetzen konnten. Die für eine Polis schädliche Wirtschaftsaktivität sah Aristoteles in der Chrematistik. Sorgt die Ökonomik (oikonomia), also die Wirtschaft in einem Haus dafür, dass Güter beschafft und hergestellt werden, zielt die Chrematistik auf ein anderes Ziel. Sie ist für Aristoteles eine andere Erwerbskunst, »die man vorzugsweise und mit Recht als die Kunst des Gelderwerbs bezeichnet; im Hinblick auf sie scheint keine Grenze des Reich32 | Vgl. P LATON . Der Staat. München: dtv 2004. Siehe vor allem Buch 8, 543a-576b. (S. 342-385) 33 | Vgl. A RISTOTELES. Politik. München: dtv 2006. Siehe vor allem Buch 1, 1251a-1260b. (S. 47-68).
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tums und des Erwerbs zu bestehen.«34 Hätte der Gelderwerb der Chrematistik nur eine Grenze, so wäre sie für die Polis zuträglich. Aber da sie im Gegensatz zur Ökonomik nicht natürlich ist, sondern sich »eher aus einer Art von Erfahrung und Kunst ergibt«,35 verlangt sie auch nach einem permanenten Mehr. Sie ist die »Kunst, Geld zu machen«,36 weshalb sie auch nicht wie die Ökonomik etwas vom Gelde selbst Verschiedenes bezweckt, sondern nur seine Vermehrung. Es ist aber gerade diese Grenzenlosigkeit, die nach dem Kommando des »Mehr!«37 funktioniert, die Aristoteles fürchtet. Die Dekadenz und die Gefahr für die Polis wird somit auch bei Aristoteles in einer wild gewordenen und unbegrenzten Wirtschaftstätigkeit gesehen, die, fern davon, die ihr angemessenen und begrenzten Zwecke zu verfolgen, nur noch in einer autopoietischen Bewegung ihr eigenes Verkehrsmittel – das Geld – zu vermehren trachtet. Die Dichotomie zwischen einer gerechten Sphäre der Politik und einer gierigen Sphäre der Ökonomie fand im 16. und 17. Jahrhundert einen markanten Bedeutungswandel. Nicht nur wurde die Ökonomie als Lebenselixier der damals aufkommenden intereuropäischen und teils auch internationalen Wirtschaftsräume mit ihren Bank-, Versicherungs- und Exportgesellschaften gesehen, sondern auch als ein Mittel, das zwischen den Völkern befriedend wirken konnte. Im Gegensatz zur Wahrnehmung der Politik, die untrennbar mit Leidenschaft und Gewalt verbunden wurde, sichteten die Menschen der Renaissance und der frühen Neuzeit im Handel ein friedliches und massvolleres Prinzip für den Umgang zwischen den Völkern. Dies war eine Ansicht, die einige Jahrzehnte später eine systematische und theoretische Fundierung in Immanuel Kants »Ewigem Frieden«38 fand. Der Handel würde nicht nur den Wohlstand länderübergreifend vermehren, sondern auch für eine Pazifizierung der politischen Interessen und der damit verbundenen machtpolitischen Gewaltakte und Leidenschaften sorgen. Durch eine epistemologische Verschiebung, die nun die freie Marktsphäre mit eigennützigen Akteuren und losgelöst von obrigkeitlichen Gestaltungsversuchen der Marktmechanismen zur einzig möglichen Freiheits- und wohlstandssichernden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung deklariert, werden die bis dahin als moralisch verwerflich geltenden Leidenschaften – Gier, Geiz oder Egoismus, wie
34 | Ibid. 1257a. (S. 59). 35 | Ibid. 1257a. (S. 59). 36 | M ARX , K ARL . Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23. Berlin: Dietz 2007. S. 167. 37 | »Geld gibt ein Kommando. Seine Order lautet ›Mehr!‹. Denn Geld zählt. Zählen aber hat eine Richtung. Wir zählen nicht 0-1-0-1, sondern 1-2-3-4 … Das Zählen verlangt ganz von selbst nach Mehr.« Siehe: H EIDENREICH, R ALPH . H EIDENREICH, S TEFAN . Mehr Geld. Berlin: Merve 2008. S. 7. 38 | K ANT, I MMANUEL . Zum ewigen Frieden (1795). In: D ERS. Werke in 12 Bände. Band XI. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.
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Albert O. Hirschmann39 dies detailliert aufgezeigt hat – durch den jetzigen ›doux commerce‹, wie ihn Montesquieu 40 nennt, und durch eine ›unsichtbare Hand‹, wie sie von Adam Smith beschworen wird, zu legitimen und erstrebenswerten Interessen umkodiert. Dieser Glaube an den Vorrang der Ökonomie vor der Politik, an die heilende, wohlstandssichernde und moralisierende Kraft des Handels gegenüber der kriegerischen, weiterhin von Leidenschaften und Korruption durchsetzten Sphäre der Politik wurde spätestens während des Industriezeitalters kritisiert. Die systematischste und theoretisch fundierteste Kritik lieferte Karl Marx. Seiner Ansicht nach entzieht die Ökonomie der Politik die notwendige Energie. Die körperliche Auszehrung und seelische Abstumpfung der Fabrikarbeit zwinge den Arbeiter, sich auf das blosse Überleben zu konzentrieren, so dass ihm kein geistiger Raum mehr bleibe, sich andere Formen kollektiven Lebens vorzustellen, geschweige denn eine emanzipatorische und selbstbewusste Politik zur Umkehrung der Produktionsverhältnisse zu formulieren. Gemäss Marx würde die widersprüchliche Logik des Kapitalismus dazu führen, dass sie die Masse der arbeitenden Bevölkerung perpetuierlich vermehrt, bis diese das Bewusstsein ihrer historischen Rolle erlange und Ökonomie und Politik revolutioniere. Lenin hingegen vertrat die Ansicht, dass die Definition und Ausführung einer emanzipatorischen Politik nicht vom Proletariat alleine bewältigt werden könne, sondern stellvertretend für es von einer revolutionären Avantgarde ausgeführt werden müsse. Unabhängig davon, wie die Widerstandspunkte definiert wurden, lässt sich jedoch sagen, dass die Politik erneut als diejenige Sphäre betrachtet wurde, aus welcher heraus die Produktionsverhältnisse revolutioniert werden sollten. Das Bewusstsein des historischen Subjekts, des Proletariats, sollte nicht ein ökonomisches sein, sondern ein politisches, so wie auch ihre Aufgabe eine politische sein würde. Denn jeder Kampf um Emanzipation, der für Marx nichts anderes als Klassenkampf bedeuten kann, »ist ein politischer Kampf«. 41 Der Untergang der Bourgeoisie, die im Proletariat »vor allem ihren eigene Totengräber« 42 produziert, und der »unvermeidliche«43 Sieg des Proletariats, wie sie Marx und Engels im »Manifest« prophezeit hatten, ist nach mehr als 150 Jah39 | Siehe: H IRSCHMANN, A LBERT O. Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. 40 | »… es ist beinahe eine allgemeine Regel, dass überall dort, wo die Sitten der Menschen angenehm sind (moeurs douces), Handel getrieben wird; und wo immer Handel getrieben wird, sind die Sitten der Menschen angenehm.« M ONTESQUIEU. De l’esprit des lois. XX, 1. Zitiert in H IRSCHMANN, A LBERT O. Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. S. 69. 41 | M ARX, K ARL . E NGELS, F RIEDRICH . Das kommunistische Manifest (1848). Eine moderne Edition mit einer Einleitung von Eric Hobsbawm Hamburg. Berlin: Argument 1999. S. 55. 42 | Ibid. S. 59. 43 | Ibid. S. 59.
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ren aber erklärungsbedürftiger als zur Zeit des Erscheinens des Pamphlets. Die zähe Resistenz des Kapitalismus angesichts der vielen Krisen, die er verursacht und in ›schöpferischer Zerstörung‹ überlebt hat, haben den historischen Verlauf, wie er noch im »Manifest« verteidigt wird, Lügen gestraft. Anstelle einer länderübergreifenden Revolution, angeführt von den proletarischen Parteien, hatte sich zumindest in der sogenannten westlichen Welt eine politische Konstellation durchgesetzt, die zwischen einem kapitalismusfreundlichen und einem vorwiegend kapitalismuskritischen Parteienblock in den jeweiligen Ländern so etwas wie einen sozialpolitischen Kompromiss zum Vorschein brachte. Vor allem nach der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die ›soziale Frage‹ für die meisten industrialisierten Länder akut wurde, konnte die unzufriedene Arbeiterschaft mittels einer Politik, die der arbeitenden Bevölkerung auch mehr Bürgerrechte – wie etwa die Versammlungsfreiheit oder die Sozialversicherungsgesetze unter Bismarck in Deutschland – zusicherte und überdies die Ökonomie so weit eindämmte, dass sie auch einen entstehenden Sozialstaat mitfinanzieren musste, pazifiziert werden. Die Politik wurde also nicht nur auf Seiten der revolutionären Linken als diejenige Sphäre betrachtet, aus welcher die ökonomische Basis revolutioniert werden sollte, sondern auch auf Seiten der bürgerlichen Interessensbewahrer wurde die Politik als Präventionsinstrument zur Eindämmung einer proletarischen Revolution verstanden. Diese, wenn man so will, vorletzte Phase der Verflechtung von Politik und Ökonomie fand nach dem desaströsen Ende des ›Laissez-faire‹Kapitalismus in der Weltwirtschaftskrise von 1929 erneut eine Hochblüte. Die historische Phase der Wohlfahrtsstaaten, die von den ökonomischen Theorien Keynes’ untermauert wurde, bekräftigte diesen Klassenkompromiss, der mittels einer politischen Auseinandersetzung zwischen den gegnerischen Lagern einen stabilen sozialen Frieden generieren konnte. Im Namen einer kapitalistischen Systemsicherung gewährten die Kapitalisten den Arbeitern Rechte sowie die Zusicherung wohlstandssichernder Arbeitsbedingungen. Im Gegenzug sollte die Arbeiterschaft auf ihre profitgefährdenden Kampfmittel und auf die Revolutionierung des wirtschaftlichen Systems verzichten. Die Politik bildete also erneut diejenige Kampffläche, auf welcher gegensätzliche Interessen durch die Einschränkung und selbstbestimmte Gestaltung der ökonomischen Sphäre in einen Kompromiss münden konnten. Diese Konstellation tritt ab den 1970er Jahren in eine neue Phase ein, die zugleich die letzte und gegenwärtige darstellt. Mit der neoliberalen Theoretisierung des Marktes als einziger wahrheitssprechender und -spiegelnder Instanz zur Gestaltung der Politik, aber auch aufgrund des Zerfalls der Sowjetunion und der anderen ›realsozialistischen‹ Länder in Europa verlor nicht nur die keynesianische politische Ökonomie an Zustimmung, sondern auch die Notwendigkeit, den westlichen Wohlfahrtsstaat weiterhin aufrechtzuerhalten, erwies sich zunehmend als obsolet. Der sogenannte ›Ostblock‹ diente nämlich, solange er noch existent war, auch zur Legitimation des westlichen Wohlfahrtstaates, welcher die
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revolutionären Energien der Arbeiterschaft auffangen sollte. Analog zu Jacques Derridas Konzept des »supplement« 44 fungierte also der sozialistisch organisierte ›Osten‹ als nicht sichtbares, aber immer schon präsentes Element und »konstituierendes Aussen« 45 des westlichen Sozialstaates. Spätestens der Zusammenbruch des ›realsozialistischen‹ Blocks hat somit dem neoliberalen Paradigmenwechsel Auftrieb gegeben. »Das Ende der Geschichte«, wie es Francis Fukuyama in seinem gleichnamigen Werk postulierte, schien nicht nur die Dialektik zwischen einer kapitalistischen These und einer sozialistischen Antithese überwunden zu haben, auch der westliche Sozialstaat, der als zwischenzeitliche Synthese dieser zwei konkurrierenden Weltanschauungen gedient hatte, schien mit dem Zerfall des sozialistischen Blocks auch keine valide Notwendigkeit mehr darzustellen, um die westlichen Staaten vor der revolutionären Bedrohung zu schützen. Die Politik wird nun angehalten, sich an den Marktmechanismen auszurichten, den Sozialstaat zu entmanteln, die Effizienz der Verwaltung zu steigern sowie Güter, Dienstleistungen und Kapital ihre eigenen selbstgewählten Wege beschreiten zu lassen. Von der Politik wird also erwartet, dass sie sich nicht in die Marktsphäre einmischt, sondern sich darum kümmert, eine Ordnung herzustellen, die den freien Marktverläufen keine Hindernisse in den Weg stellt. In dieser Neuorientierung der politischen Aufgaben gerät sie aber selber in den Sog des ökonomischen Kalküls und muss sich zunehmend nach Marktkriterien ausrichten. Ihre Prozesse und Verfahren bleiben in der äusseren Form zwar erhalten, aber ihre Inhalte und Akteure, die notwendigerweise eine öffentliche Artikulation benötigen, um Kon44 | Vgl. D ERRIDA, JACQUES. ›Dieses gefährliche Supplement .‹. In: D ERS. Grammatologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. S. 244-282. Hier S. 250: »Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert, die Überfülle der Präsenz. Es kumuliert und akkumuliert die Präsenz. [...] Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von.« Und gesellte sich der »realsozialistische« Osten nicht auch dem Westen zu, der mit dem Wohlfahrtsstaat die unerwünschte Präsenz der proletarischen Revolution zu ersetzen suchte? War dieser Osten nicht auch eine Fülle, die die schon bestehende Fülle des Westens bereicherte und die unmerklich an die Stelle der westlichen proletarischen Revolution hinzukam, um diese aus westlicher Sicht überhaupt abwenden zu können? 45 | Vgl. D ERRIDA, JACQUES. Linguistik und Grammatologie. In: D ERS. Grammatologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. S. 49-129. Hier S. 62: »Das Draussen unterhält mit dem Drinnen eine Beziehung, die wie immer alles andere als bloss äusserlich ist. Der Sinn des Aussen hat sich seit jeher im Innen befunden, war ausserhalb des Aussen gefangen und umgekehrt.« Und war der sozialistische Osten als das vom Westen markierte Aussen nicht immer schon im Westen drin? War er nicht gerade auch das konstitutive Element für den sogenannten »freien« Westen und somit immer schon konstitutiver Bestandteil dieser Erzählung? Und war der Wohlfahrtstaat letztlich nicht der Versuch diesen unheimlichen Anwesend-Seienden, diese innere phantasmatische Präsenz des »Ostens« zu exorzieren?
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sens und Wahlerfolge zu sichern, folgen immer mehr den Prinzipien des ›Entertainments‹ und immer weniger den Wegen der kritischen Reflexion. Wenn wir also von Politiken sprechen, die in demokratischen Ländern ausgearbeitet werden und ihre Legitimation in einem partizipatorischen Prozess der bürgerlichen Selbstgesetzgebung finden sollen, dann muss auch der hierfür zentrale Aspekt der Öffentlichkeit in die Analyse miteinbezogen werden. Erst durch die kritische Einbeziehung dieser Sphäre des »öffentlichen Räsonnements«46 lässt sich auch das konsumistische Fundament zeitgenössischer Politik in seiner ganze Entfaltung verstehen. Es geht an dieser Stelle jedoch nicht darum, Habermas’ Argument, wie es in »Strukturwandel der Öffentlichkeit« verteidigt wird, auszuführen, sondern vielmehr auf eine zentrale Prämisse dieses Arguments einzugehen, die Habermas trotz der Revision seiner These des Strukturwandels beibehalten hat. 1990 revidiert Habermas in einem Nachwort zum »Strukturwandel« und angesichts der sozialen und politischen Veränderungen der 1960er Jahre erstens den Ausgangspunkt seiner Analyse von 1962, also den Idealtypus der bürgerlichen Öffentlichkeit, den er als normative Spiegelfläche zur Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen der ›real existierenden‹ Öffentlichkeit und der sie generierenden Gesellschaft mit den in ihr angelegten Freiheitspotentialen verwendet, womit er eine analytische und normative Ausgangsbasis gewinnt, um die Veränderung der Bedingungen der öffentlichen Kommunikation – und somit die Veränderung der Gesellschaft insgesamt – beschreiben zu können. Als zweite Revision berücksichtigt der deutsche Philosoph neuerdings auch die in den 1960er Jahren evident gewordene Bedeutung »meinungsbildender Assoziationen« 47 ausserhalb der institutionalisierten Räume der offiziellen Politik. Was aber in ausdifferenzierter Manier bei Habermas den Bogen zwischen der Habilitationsschrift von 1962 und dem Nachwort von 1990 zu schlagen vermag, ist der Aspekt des Vermachtungsprozesses von Öffentlichkeit durch Kommunikation. Anlehnend an Stuart Halls berühmten Aufsatz »Kodieren/Dekodieren« 48 und der hier erarbeiteten These, dass Kommunikation kontextabhängig untersucht werden muss und von hegemonialen Interpretationsstrategien abhängig ist, verabschiedet sich Habermas zwar von einem Erklärungsmodell, das noch mit linearen Wirkungsketten rechnete, 46 | H ABERMAS, J ÜRGEN . Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). 2. Ausgabe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. S. 86. Habermas begreift Öffentlichkeit als diejenige Sphäre, die zwischen dem Privatbereich und der Sphäre der öffentlichen Gewalt nicht nur vermittelt, sondern die egoistischen Forderungen aus dem privaten Bereich zu verallgemeinerungsfähigen verdichtet und über Publizität und den dadurch gewonnenen Anspruch auf politische Durchsetzung in die staatliche Ebene übersetzt. 47 | Ibid. S. 46. 48 | Siehe H ALL , S TUART. Kodieren/Dekodieren. In: D ERS. Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Herausgegeben von J UHA K OIVISTO und A NDREAS M ERKENS. Hamburg: Argument 2004. S. 66-80.
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nicht aber vom pessimistisch konnotierten Modell einer durch Massenmedien beherrschten Arena 49, respektive der optimistisch konnotierten »Produktivkraft Kommunikation«.50 Beruhte dieser Vermachtungsprozess auf den neokorporativen Strukturen des sozialwirtschaftlichen Gesellschaftsmodells und generierte so eine refeudalisierte51, weil massenmedial durch die korporatistisch organisierten Privatinteressen der Wirtschaft hergestellte Öffentlichkeit, überwiegt heute, auch angesichts des Bedeutungsverlusts, den die arbeitsrechtlich ausgerichteten Korporationen (Gewerkschaften, Parteien, Verbände) durch den globalen neoliberalen Siegeszug erfahren haben, ein Differenzierungsprozess zwischen politischem System, Mediensystem und ökonomischem System. Was bei Habermas im Kern also bestehen bleibt, ist die These, dass die Öffentlichkeit aufgrund von politischen Funktionen, die ihrerseits von wirtschaftlichen Partikularinteressen genährt werden, gewandelt wird. Bloss drücken sich diese Funktionen nicht mehr innerhalb eines korporatistischen Settings unterschiedlicher Interessen aus, sondern vielmehr über das System der Medien selbst. Das kulturräsonierende Publikum wird nicht, wie das Habermas in seiner Habilitationsschrift diagnostiziert hatte, zu einem kulturkonsumierenden Publikum aufgrund verdichteter ökonomischer Privatinteressen in Korporationen, sondern vielmehr scheint heute das Konsumieren zum alleinigen Funktionsmodus von Öffentlichkeit geworden zu sein, auch weil es diese vollends kolonisiert hat. Dieser »neue« Strukturwandel der Öffentlichkeit beruht also auf der Ausdifferenzierung des Mediensystems vom politischen System und auf der Kopplung der Medien an die Marktlogik.52 Was mit diesem gegenwärtigen Strukturwandel neu organisiert wird, ist die Allokation von Aufmerksamkeit, Definitionsmacht und Sozialprestige in modernen Gesellschaften. Der Soziologe Kurt Imhof53 konstatiert diese Neuorganisation
49 | H ABERMAS, J ÜRGEN . Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). 2. Ausgabe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. S. 32. 50 | Ibid. S. 38. 51 | Ibid. S. 292, 337. 52 | JARREN, O TFRIED. Mediengewinne und Institutionenverluste? – Zum Wandel des intermediären Systems in der Mediengesellschaft. Theoretische Anmerkungen zum Bedeutungszuwachs elektronischer Medien in der politischen Kommunikation. In: D ERS (Hg.). Politische Kommunikation in Hörfunk und Fernsehen. Elektronische Medien in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + Budrich 1994. S. 23-34. Sowie J ARREN, O TFRIED. Mediengesellschaft – Risiken für politische Kommunikation. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. 5. Oktober 2001, B 41-42, S. 10-19. 53 | I MHOF, K URT. Politik im »neuen« Strukturwandel der Öffentlichkeit. In: A RMIN N ASSEHI. M ARKUS S CHROER (Hg.). Der Begriff des Politischen. Baden-Baden: Nomos 2003. S. 401419. Hier S. 405f.
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ausgehend von fünf Indikatoren, die er aus einem historischen Vergleich mit den 1960er Jahren gewinnt: Nicht-etablierte politische Akteure konnten ab den 1960er Jahren in der Öffentlichkeit erscheinen, weil sie sich in ihren Kommunikationsformen den Selektions- und Interpretationslogiken der Medien angepasst haben und so einen Vorteil im Wettbewerb um mediale und öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen konnten, was aber von den etablierten Akteuren durch dieselbe Strategie wieder ausgeglichen werden konnte. Die Skandalkommunikation hat nicht nur seit den 1960er Jahren eine Intensivierung erlebt, sondern ab den 1980er Jahren sogar eine effiziente Expertenkultur der Skandalisierung hervorgebracht, die im Kampf um Aufmerksamkeit die Position der eigenen Kommunikationsgruppe stärken soll. Damit wurden nicht zuletzt moralische Verfehlungen, die der privaten Sphäre entstammen, öffentlichkeitsfähig. Die Privatisierung des Öffentlichen und die Personalisierung der politischen Kommunikation haben zunehmend zu dem geführt, was Richard Sennett die »Tyrannei der Intimität«54 nennt. Politikdarstellung gleicht sich also nicht nur strukturell der Unterhaltung an, indem es im Fernsehen sein wichtigstes Medium – heute müsste wohl auch das Internet dazu gezählt werden – findet, sondern die politischen Argumente werden durch Charakterdarstellungen im privaten Lebensraum und medienattraktive Konfliktszenarien ergänzt. Politische Prominenz wird so durch telegene Inszenierung privater Lebensstile und Selbstdarstellungskompetenzen medial kreiert. Entsprechend werden auch politische Positionen kommunikativ immer mehr den Individuen und nicht den Parteien oder Verbänden zugeordnet. Die intermediale Themen- und Meinungsresonanz, die typischerweise in der parteinahen Presse oder gar in der offiziellen Parteipresse verlautbart wurde, hat eine deutliche Verschiebung erfahren. Wurde der Kampf um öffentliche Meinung also noch durch Weltanschauungsorgane bestritten, hat sich mit der Erosion dieses publikumsoffenen Streits die Themen- und Meinungsresonanz auf eine blosse Themenresonanz verkürzt. Der Meinungsstreit in und zwischen profilierten politischen Medien, der für die Etablierung eines deliberativen Prozesses von der öffentlichen auf die legislative Ebene zentral war, ist nicht nur erodiert, sondern hat den Fokus auf diejenige Gewalt gelenkt, die den medienwirksamen Topos ›Macht‹ auch am besten bedienen kann, die Exekutive. Diese soll immer weniger einem parlamentarischen deliberativen Akt unterstehen und Themen, die gesellschaftliche Empörung hervorrufen, immer mehr durch direkte Interventionen lösen. An den zuvor genannten Punkt anschliessend, wird auch die Definition politischer Probleme zunehmend den Selektionsregeln des Mediensystems unterwor54 | Vgl. S ENNET T, R ICHARD. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. (1977). Frankfurt a.M.: S. Fischer 2004.
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fen. Problematisch ist dann das, was von den Medien als solches herauskristallisiert und definiert wird. Somit erzielen die Medien selbst – und das politische Personal über diese – Einfluss auf die Agenda des politischen Systems. Ein weiterer sechster Punkt, der von Imhof nicht explizit angesprochen wird, ist auch die Veränderung der sprachlichen Semantik. Angesichts der Geschwindigkeit des Informationsflusses im Mediensystem und angesichts der Langsamkeit der politischen Entscheidungsprozesse, die meist den nunmehr selbstläufigen Marktprozessen nachhinken, kristallisiert sich auf der politischen Ebene nicht nur ein personifizierter Konkurrenzkampf um mediale Sympathiequoten heraus, sondern, und im direkten Zusammenhang hiermit, auch eine Semantik der kurzen, aber medialitätserheischenden Syntax. Im Geschwindigkeitsrausch des medialen Systems entfällt nicht nur die gedehnte Zeitspanne für eine in der Öffentlichkeit auszutragende kritische Auseinandersetzung über politische Inhalte zwischen Privatpersonen oder Gruppen und politischer Sphäre, vielmehr muss die anvisierte medialisierte Öffentlichkeit seitens eines Akteurs mit kurzen prägnanten und einfach zu verstehenden Slogans aus ihrem Informationsrausch herauskatapultiert und mit Aufmerksamkeit bedient werden. Diese neue politische Syntax passt sich also den Erfordernissen des Mediensystems an, indem es nach dem Prinzip des ›Marketings‹ ein Publikum mittels einprägsamer Slogans anspricht. Interne wie externe räsonierende Kommunikationsstrukturen verlieren auf Seiten der politischen Akteure an Relevanz, wohingegen ihre mediale Präsenz, die sie durch provokante Slogans gewinnen und untermauern, wichtiger wird. Dieser neue Strukturwandel der Öffentlichkeit zeichnet sich also durch einen verschärften Wettbewerb um Aufmerksamkeit aus. Dadurch werden hauptsächlich politische Organisationen einer Medialisierung ausgesetzt, die sowohl interne als auch externe strukturverändernde Wirkungen zeitigt. Die interne integrationsstiftende Diskussion weicht einer Zweckrationalität des schnellen Entscheids, der gerade nicht den besten Argumenten entspringen soll, sondern vielmehr mit den Entscheidungen und Ideen der ›besten‹ politischen Persönlichkeit zusammenfällt. Gegen Aussen hingegen zeichnet sich die jeweilige politische Gruppierung nicht durch einen öffentlichen Meinungsstreit aus, sondern durch die Vermarktung ihres medial zurechtgemachten Vorzeigekandidaten samt eines auf prägnante Slogans zusammengeschrumpften politischen Programms. Diese Veränderungen innerhalb der Sphäre des Politischen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nur dann einen signifikanten Niederschlag finden und ein Funktionieren marketingwirksamer Politik ermöglichen, wenn auch die die Öffentlichkeit bevölkernde Gesellschaft von denselben Veränderungen betroffen und im individuellen Handeln auch affiziert ist. Folgerichtig sichtet Imhof55 in der Dominanz eines nach Marktlogik funktionierenden Mediensystems einen grundsätzlichen Wandel der Sozialintegration 55 | I MHOF, K URT. Politik im »neuen« Strukturwandel der Öffentlichkeit. In: A RMIN N ASSEHI. M ARKUS S CHROER (Hg.). Der Begriff des Politischen. Baden-Baden: Nomos 2003. S. 407ff.
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moderner Gesellschaften, »in dessen Verlauf die klassischen, norm- und wertsetzenden, sowie Zugehörigkeit definierenden Institutionen (Schule, Religion, Armee, Parteien, soziokulturelle Milieus) im Zuge der funktionalen Differenzierung und Individualisierung an Bedeutung verlieren und durch sinn(re)produzierende Medien überformt werden.« Was sich also grundlegend verändert hat, sind die integrations- und gemeinschaftsbildenden Strukturen. Waren diese noch von lebensweltlichen Räumen bestimmt, in denen Gemeinschaft gebildet werden konnte, muss diese Integrationsfunktion nun über den Umweg medialer Orientierungsangebote substituiert werden. »Die Medien sind in dieser Perspektive beides: Mitursache wie Lösung des Problems der Sozialintegration.« Was an Bedeutung gewonnen hat, ist somit die medienvermittelte Kommunikation. Diese Medialisierung dient nicht nur als Substrat, welches die Verbindungslinien zwischen Öffentlichkeit und politischer Sphäre sowie auch die jeweils internen Bahnen der Kommunikation bestimmt, sondern auch als privilegierter kommunikativer Resonanzkörper, um für ein Publikum artikulier- und sichtbar sein zu können. Wie im Zusammenhang mit dem sechsten Punkt weiter oben schon angedeutet, erschwert Medialisierung die intersubjektive oder auch nur gruppenspezifische Auseinandersetzung über gesellschaftsrelevante Themen. Ihre Geschwindigkeit und die hierfür verantwortliche Marktlogik erlauben keine langwierigen Kommunikationsprozesse, die ein räsonierendes Publikum voraussetzen, aber auch herausbilden. Ihr Sprachmodus ist dasjenige der ›word bits‹; kurze, einprägsame Sätze, die eher ein Gefühl und eine Einstellung vermitteln wollen als eine reflektierte politische Programmatik. Das aber ist ein Sprachmodus, der analog zu den Werbebotschaften auf Assoziationen und nicht auf das Wecken kritischen Potentials aus ist. Die einzige Entschleunigung dieser Medialisierungsmaschine ist im Zusammenhang mit Skandalen zu sichten – Ereignissen also, die das moralische Empfinden des öffentlichen Publikums tangieren und vernehmbar werden lassen, auch weil sie medienwirksam, also getreu der profitorientierten Marktlogik ausgeschlachtet werden können. Die Merkmale dieser entschleunigten Kommunikation sind vielfach die Zentrierung auf moralische Verfehlungen einzelner Personen, die entweder schon in der Öffentlichkeit ihren Platz an der Sonne haben oder diesen aufgrund ihrer ›Anormalität‹ medienwirksam einnehmen. Ein weiteres Merkmal betrifft die öffentliche Empörung über gesellschaftliche Phänomene, die nicht einzelne Personen betreffen, sondern einen Teil der Gesellschaft. Es ist eine Empörung, die von einer Mehrheit auf eine Minderheit gerichtet wird, die sich nicht entsprechend der medial propagierten Norm verhält und die, je nach Veränderung der Norm, in immer wieder anderen Personengruppen identifiziert wird. Medial aufgeheizte Phänomene wie das Rauchverbot in öffentlich zugänglichen Lokalen oder die Sicherheit auf den Strassen, die mittels einer letztlich profitorientierten Überwachungsapparatur gewährleistet werden soll und nach welcher das medialisiert dargestellte ›Volk‹ angeblich schreit, erlauben die Einkreisung verschiedener Bevölkerungsschichten, die wiederum durch
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eine mediales Echo als ›problematische‹ Gruppen indiziert werden. Die medialisierte Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen operiert dabei nach einem einfachen Schema, das über ein moralisches Raster, welches die Gesellschaft in ›Gute‹ und ›Böse‹ einteilt, Aufmerksamkeit, hohe Absatzzahlen und Gewinne für die mitspielenden Medienunternehmen garantiert. Es ist ein medial inszeniertes Raster des Moralischen, in das sich alle einordnen können und das zudem keine hohen intellektuellen Ansprüche stellt, auch weil die Berichterstattung eine einfache und platte Sprache wählt und jegliche fundierte Analyse vermissen lässt oder diese sogar ins Reich der Langeweile verbannt. In beiden Fällen lässt sich also eine ›Boulevardisierung‹ der Medienlandschaft, aber auch der Mediensprache feststellen, deren Konsequenz in der Erosion der klassischen Parteimilieus mit ihren auf Kommunikation und Diskussion und somit auf Langfristigkeit angelegten Räumen der Entscheidung und der politischen Richtungswahl sowie in der zunehmenden Bedeutung des medialen Aktualitätsdrucks auf die temporale Ordnung des politischen Systems zu finden ist. Diese Ausweitung der Medialisierung und ihres inhärenten markt- und profitlogischen Funktionsmodus definiert somit die semantischen und auf ein resonanzwirksames Minimum ausgerichteten Inputerfordernisse des Mediensystems – kurze, knappe, prägnante und aufmerksamkeitserheischende Aussagen –, denen sich u.a. politische Akteure unterwerfen müssen, wollen sie artikulier- und sichtbar in der Öffentlichkeit erscheinen. Politiker müssen ihre eigene Person und ihre politischen Programme, um erfolgreich zu sein, an die Ereignisproduktion des modernen Mediensystems anpassen, von dem sie auch bewertet werden. So dienen die rasch sich ablösenden Beliebtheitsskalen der Regierungen oder einzelner Politiker, ihre quantitative Präsenz in den Medien, wobei vielfach das blosse Erscheinen wichtiger als das Gesprochene ist, sowie das medienwirksame und medial produzierte Charisma einer politischen Persönlichkeit, die ihres blossen Namens oder ihrer blossen Erscheinung wegen mehr Leute bei einem Auftritt mobilisieren kann als ein konkurrierender Superstar aus der Musik- oder Filmbranche, dazu, den politischen Kredit eines Politikers oder einer Regierung in der Öffentlichkeit festigen zu können. Von einer diskursiven, räsonierenden und an gruppenspezifischen Forderungen oder basisdemokratischen Repräsentationsmechanismen sich speisenden Legitimität der politischen Macht eines politischen Akteurs lässt sich in diesem Zusammenhang kaum sprechen. Aber nicht nur Politiker, auch Unternehmungen wetteifern um Publizität und Prominenz. Innerhalb der Matrix eines ›neuen‹ Strukturwandels der Öffentlichkeit ist die Währung, mit welcher diese aufmerksamkeitserheischenden Güter bezahlt werden können, der Erfolg und die Moral oder zumindest die Plausibilisierung hiervon. Unternehmungen wie politische Parteien sind auf ihre Führungsriegen reduziert und funktionieren nicht mehr nach dem Modus der Selbstverantwortung; der ›shareholder-value‹ bemisst sich nicht nur an dem medialen Glanz, den die Unternehmung durch ihre Führungsriege erhält, sondern schielt auch nach der kurzfristigen Realisierung einer immer höheren Rendite.
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Die schnelleren Kapitalflüsse korrumpieren die neu strukturierten Finanzmärkte dadurch, dass sie auch schnellere und höhere Renditen postulieren. Spekulative Derivationen aus bestehenden Wertanlagen sollen diesen Wunsch nach ›Mehr!‹ stillen. Verloren geht also nicht nur eine Selbstverantwortungsethik auf Seiten der Unternehmen, die, fern davon, in langfristigen Zeitabständen zu denken – damit auch eine Verschränkung von geleisteter Arbeit, wahrgenommener Verantwortung für den Standort und nachvollziehbarer Geschäftstätigkeit publikumswirksam vermittelt werden kann –, nur noch auf die schnelle Rendite und Bereicherung setzen, die sich medientechnisch auch besser als Erfolgsmeldung inszenieren lassen. Es lässt sich also sagen, dass der neoliberale Siegeszug nicht nur die nationalen Politiken vor die lähmende Aussicht stellt, »in Zukunft auf das mehr oder weniger intelligente Management einer erzwungenen Anpassung an Imperative der ›Standortsicherung‹ reduziert«56 zu werden, es entzieht den politischen Auseinandersetzungen auch den letzten Rest an Substanz, indem es den Modus der Medialität und den Kampf um Aufmerksamkeit an ihre Stelle setzt. Politik wird so zu einem Konsumgegenstand degradiert, weil sie sich der Markt- und Profitlogik dieses ›neuen‹ Strukturwandels der Öffentlichkeit unterwerfen muss, um innerhalb dieses Raumes des rauschenden Informationsflusses publizitätswirksam um die Aufmerksamkeitsgunst einer möglichst grossen Wählerschaft buhlen zu können. Insofern besteht die ›Ökonomisierung der Politik‹, ihr Warencharakter darin, dass sie sich im Stile eines Konsumgutes medienwirksam vermarkten muss. Die Repräsentativität einer intensiven vorausgegangenen politischen Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedern einer politischen Gruppierung nämlich, die letztlich auch das Subtext und die Legitimation der Repräsentation stellt, wird nicht mehr im Raum einer ›privaten Öffentlichkeit‹ vollzogen, sondern nach medialen Aufmerksamkeitskriterien einer ›konsumierenden Öffentlichkeit‹ unterbreitet, die als Kundschaft angesprochen wird. Die Wege zur Repräsentation und Legitimation dieser Klientel haben sich umgekehrt. Während noch bis zu Beginn der 1980er Jahre politische Parteien mittels eigener publizistischer Organe die Öffentlichkeit dominierten und hier auch den Raum sichteten, in welchem der politische Kampf um Meinungen, Deutungen und Interpretation des ›Guten‹ und ›Gerechten‹ mit dem jeweiligen Gegner und seinen Parteiblättern ausgetragen wurde, um dadurch auch Mitglieder gewinnen zu können, die dann in publikumsscheuen Räumen den politischen Streit um die Ausrichtung der eigene Parteipolitik festlegten und zugleich die Wahl des am besten geeigneten politischen Repräsentanten vollzogen, scheint die Situation heute eine andere zu sein. Die politische Basis, die ihren Repräsentanten mit eigenen politischen Aufgaben und Zielen beauftragt und ihre Rolle dadurch auch legitimiert, wird immer weniger durch einen in der Öffentlichkeit ausgetragenen Meinungsbildungsprozess, in 56 | H ABERMAS, J ÜRGEN . Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 95.
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dem unterschiedliche politische Argumente abgewogen, kritisiert und erläutert werden und der auf vernünftiger Tarierung der verschiedenen Positionen beruht, gewonnen – was natürlich Zeit und Geduld beansprucht –, sondern vielmehr umworben, womit auf die Schnelle Leute ins eigene politische Boot geholt werden können. Die mediale Inszenierung des Politischen arbeitet immer weniger mit Argumenten, die eine mehr oder weniger intensive Auseinandersetzung mit ihren Inhalten verlangen, und immer mehr mit ›word bits‹: kurze, prägnante, einfach zu verstehende und vielfach banal daherkommende Aneinanderreihungen von Wörtern, die ein direktes, unmittelbares und emotionales Empfinden evozieren. Parteien und Regierungen müssen somit auf dieses schnelle Pferd der ›Informationsveredelung‹ setzen, wollen sie eine Mehrheit der Bürger gewinnen und so ihre politische Macht sichern. Entsprechend sollen die Regierungstätigkeiten Erfolg, Dynamik und Aktualität darstellen, Eigenschaften also, die sich bloss noch im zeitlichen Modus des ›Jetzt‹ widerspiegeln können. Was somit entsteht und sich permanent durchsetzt, ist eine Politikform, die nur noch auf ihren äusseren Schein achtet, ohne diesen mit einer inhaltlichen Gegenwährung aufrechterhalten zu können. Der mediale Glanz gewinnt somit nicht nur über die inhaltliche politische Auseinandersetzung und Programmatik an Relevanz und Selbstläufigkeit, sondern ordnet sich auch einer Logik unter, die nicht mehr diejenige des politischen Meinungsstreites ist, sondern diejenige der Input- und Output-Kriterien der Medienindustrie. Eine solche Politik entspricht dem Funktionsmodus eines Hochglanzmagazins, welches auch seine – zumeist nur angeblich fundierten – Inhalte hinter dem Schein eines glanzvollen Covers kaschiert. Aber bereits das Umblättern des glänzenden Deckblattes eröffnet die Sicht auf ein inhaltsleeres, von oberflächlichen Plattitüden aber dafür vermarktungswirksam hochpolierten Werbeseiten durchdrungenes ›Innenleben‹, welches das noch glanzvolle Versprechen in enttäuschte Ernüchterung taucht. Hochglanzmagazin-Politik, wie diese neue Form von Politik und von politischer Interaktion mit der Gesellschaft genannt werden kann, hat nicht nur die politische Auseinandersetzung in ein Kodifizierungsfeld des medienwirksamen Konsums verschoben, und sich somit das neoliberale Dogma der ›Ökonomisierung‹ einverleibt, sondern auch das Grundelement der politischen Kommunikation und den medialen öffentlichen Raum, in dem diese sich artikuliert, aufgegeben. Damit wird auch diejenige Dimension angesprochen, die als wichtigstes Konstitutionsmerkmal von politischer Kultur fungiert: die Kommunikation. Sie bildet für die politische Kultur die wichtigste Grundlage, weil auf dieser der Kampf um Bedeutungen und somit um die dominante Deutung der Welt und des Selbst artikuliert wird. Die privilegierten Instrumente dieser Dimension sind die Medien. Wie bereits aufgezeigt, werden diese aber unter neoliberalen Bedingungen marktförmig ausgerichtet, so dass die Massenmedien ihre Informationen und politischen Inhalten zunehmend nach marktspezifischen Kriterien auswählen und dadurch auch den Systeminput und -output strukturieren. Sie wählen nur
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noch das aus, was hohe Auflagen, Unterhaltungswert und zuletzt Information garantiert. Damit spuren sie die öffentliche Debatte vor, indem bestimmte publikumswirksame Themen von Beginn an als wichtige, während andere als unwichtige taxiert werden. Dadurch schaffen sie aber auch ›Pseudo-Ereignisse‹ und Realitätsfiktionen, die zum Politikum werden und so wiederum die Grundlage für das politische Handeln, Denken und Sprechen vorspuren. Diese ›Ereignisse‹ werden vorwiegend durch die Technik der Skandalisierung erzeugt, ungeachtet dessen, ob damit einzelne Politiker, fremde Mitbürger mit einer anderen Religion oder ›verzogene‹ Banker eingedeckt werden. Das Ziel der Skandalisierung ist die Erzeugung einer hohen Aufmerksamkeit. Dies kann durchaus geltende Normen und Deutungen in Frage stellen, aber auch der blossen Unterhaltung dienen. In einer Medienwelt aber, in der dasjenige, was heute ›Top‹ ist, morgen schon ›Flop‹ sein könnte, können sich nur ausgewählte Medienerzeugnisse qualitativ hochstehende Berichterstattungen erlauben, zumindest solange sie nicht selbst auch vom Marktdiktat auf die schnelle ›Informationsveredelung‹ umsteigen müssen. Gerade dieser Zeitaspekt hängt unmittelbar mit der neoliberalen Einrichtung der Medienwelt zusammen und richtet die Akteure nach ihrer aufmerksamkeitserheischenden Geschwindigkeit aus. Die Verschmelzung von Politik und Unterhaltung, also das, was hier unter dem Begriff ›Politainment‹ diskutiert wird, zeigt dies an. Das wichtigste Kapital eines Politikers oder einer sonstigen Person, die Öffentlichkeit und Prominenz anstrebt, ist nun der mediale Unterhaltungs- und Darstellungswert. Dies löst nicht nur die Grenzen der Privacy auf, weil gerade das Privatleben öffentlicher Personen medienwirksam ausgeschlachtet wird, sondern verstärkt auch den Skandalisierungseffekt. Zugleich kann diese Grenzverschiebung auch gezielt eingesetzt werden, wenn Prominente durch den von ihnen gewährten und bis ins kleinste Detail inszenierten ›Einblick ins Private‹ Bürgernähe darstellen und somit Vertrauen auf bauen wollen. Da Prominenz das privilegierte Selektionskriterium der Medien ist, müssen sich Politiker an den Unterhaltungswert der Medien anpassen, respektive sich an ihm messen lassen. Das betrifft ihre Person, aber auch ihre politischen Themen, die aufgrund der Medienlogik umso mehr Relevanz gewinnen, je mehr sie in der Öffentlichkeit erscheinen. Diese Wiederholung bedarf aber wiederum einer Akzeptanz bei den Rezipienten. Hochkomplexe Ausführungen werden nur ein geringes, spezialisiertes Publikum finden, wohingegen eine simple und kurze Verpackung der Botschaften die Aufmerksamkeit steigert. Genau besehen findet mit dieser marktkonformen Ausrichtung der medialen Kommunikation eine doppelte Disziplinierung statt. Einerseits müssen Politiker komplexe Sachverhalte in möglichst kurzen Sätzen oder besser noch in ›word bits‹ und einprägsamen Slogans verkaufen können. Andererseits wird dadurch der Wähler zum Ignoranten diszipliniert, dem man keine Komplexität zutrauen möchte, weil ansonsten die Aufmerksamkeit in der schnelllebigen Welt der Medien und des politischen Geschäfts verloren geht. Hinter diesen farbenfrohen und glänzenden Medienku-
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lissen verbirgt sich so die Tendenz zur Refeudalisierung der Gesellschaft durch eine zunehmend technokratisch werdende politische Elite, die das langwierige, energieaufreibende und kostenintensive öffentliche Räsonnement scheut, sich jedoch aufgrund der periodischen Wahlen berechtigt fühlt, die Zügel selber in die Hand zu nehmen und sich diejenigen Partner zu suchen, mit denen Entscheidungen hinter verschlossen Türen gefällt werden können. Dass hierbei Lobbies der Finanzwirtschaft die grösseren Chancen einer Teilhabe finden als nicht-profitorientierte zivilgesellschaftliche Organisationen, liegt an ihrer wirtschaftspolitischen Relevanz und der finanziellen Stärke, mit der sie die Nähe zur Politik finden, indem sie beispielsweise Wahlkämpfe finanzieren und hierfür politische Resultate – sprich Begünstigungen wie etwa Steuererleichterungen oder laschere Umweltgesetze – erwarten, während zivilgesellschaftliche Organisationen mit ihrer Lobbyarbeit kaum einen solchen finanziellen ›return‹ erzielen können. Ihr Einfluss zahlt sich vielmehr für das allgemeine Wohl aus – etwa in Form verbesserter Umweltschutzrichtlinien – bringt aber aus dieser Transaktion keine direkten Einnahmen für das verausgabte Geld ein. Damit etabliert sich nicht nur eine ›Hochglanzmagazin-Politik‹, die bloss noch auf die Erscheinungen und weniger auf die Inhalte achtet, auch die demokratische Kontrolle der Bürger gegenüber ihren politischen Eliten verliert so zunehmend ihre Anknüpfungspunkte, zumal sie von den komplexen politischen Sachverhalte gezielt verschont werden, dafür aber mit medienwirksamen Slogans, die nach einfachen ›In-Out‹- oder ›Freund-Feind‹-Mustern funktionieren, für ihre politische Beteiligung reaktiviert werden. Einen ungleich wesentlicheren Einfluss auf politisch-kulturelle Deutungen haben die Medien zudem aufgrund ihrer ›Konsonanzbildung‹, womit gerade auch solche Muster wiederholt und gefestigt werden, die ein klares ›Innen‹ von einem ›Aussen‹ trennen. Vor allem in der Unterhaltungsöffentlichkeit findet diese Konsonanzbildung am stärksten statt. Hier werden Orientierungen vermittelt, wiederholt und mit dem Anstrich des Selbstverständlichen markiert und stiften so einen Grundkonsens über angemessenes und ›richtiges‹ Verhalten. Film und Fernsehen, diese alltäglichen, allerweltstauglichen und allgegenwärtigen Medien, führen den Menschen so durch bewusste oder unbewusste Techniken der musikalischen Atmosphäre und der Bild- und Zeichensprache die Bereiche des politisch und gesellschaftlich Selbstverständlichen und des moralisch ›Richtigen‹ immer wieder vor Augen. Das beste Beispiel ist hierfür natürlich die Medialisierung des amerikanischen Traums, wie er in Kinofilmen, Soap Operas oder publikumswirksamen Talkshow- und Reality-Formaten in privaten wie auch öffentlich-rechtlichen Anstalten mit dem permanent wiederkehrenden Muster des ›you can get it, if you really want‹ erscheint. Damit wird ein bestimmtes Lebensmodell ad absolutum gesetzt und gleichzeitig auch das ökonomische System, welches auf dieses Modell angewiesen ist, als alternativlos suggeriert. »Das Fernsehen erreicht die meisten Menschen, und zwar längst bevor sie lesen lernen. Weltverständnis, Sinngebung und Standards für ›Normalität‹ werden weitgehend vom
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Fernseher geprägt. In dieser Hinsicht ist es vermutlich schon einflussreicher als Familie und Schule.«57 Der langjährige deutsche Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, der für den Bereich des Medienrechts zuständig war, betont damit einen der wesentlichsten Einflussfaktoren für politisch-kulturelle Selbst- und Weltverständnisse. In den Unterhaltungsmedien werden heute die sozialen Erwartungen formuliert und Identitätsvorstellungen vorgeführt. Diese Unterhaltungsöffentlichkeit, die auf schnellen und genussvollen Konsum ausgerichtet ist, fungiert als sozialer und politischer Integrator, womit eine dominante ›richtige‹ Form des Bürgers, Konsumenten, Gewinners oder Verlierers gefestigt und so zugleich das ›Deviante‹ markierbar wird. Damit werden aber auch passivierende und aktivierende Führungsanreize produziert. Die tatsächlichen Verlierer der neoliberalen Globalisierung werden in den nachmittäglichen Talkshows mit Schicksalen konfrontiert, die den ihren gleichen oder gar als schlimmer empfunden werden, oder mit Geschichten von Menschen, die es ›geschafft‹ haben, die also durch eine mit Musik, Glanz und Gloria inszenierte Narration der persönlichen Anstrengung den Aufstieg auf der sozialen Leiter begonnen haben. Zwischen den Zeilen findet eine Aktivierung insofern statt, als den Zuschauern permanent suggeriert wird, dass sie auf sich selbst gestellt sind, ihre jetzige Lage selbst zu verantworten haben und somit gefälligst ihre Faulheit bekämpfen sollen, damit auch sie den glänzenden Aufstieg schaffen. Wenn das alles nichts nutzt, dann bleibt immerhin die passivierende Funktion, den Verlierern zu zeigen, dass sie nicht die Einzigen sind, die aufgrund falscher Lebensentscheidungen oder ungenügender Anstrengungen in diese missliche Lage geraten sind. Das Phantasma des ›Unternehmers seiner selbst‹ und der angeblich alternativlosen neoliberalen Welt, nach welcher jeder auf sich allein gestellt ist, sickert so in das öffentliche Bewusstsein hinein. Aber nicht nur das, auch die Kriminalisierung der ›Anderen‹, die zugleich als greif bares Problem für die nationalen Verlierer dient, findet in der Medienwelt regen Zulauf. Die Boulevardisierung der Printmedien findet in den Ausländern, Flüchtlingen und Asylanten eine willkommen Strohpuppe, die zugunsten der Verkaufszahlen und der Alimentierung öffentlicher Debatten auf dem Scheiterhaufen der Solidarität verbrannt werden kann. Die Unterhaltungsindustrie dient somit der Bewahrung politisch-kultureller Traditionsbestände, sie festigt gemeinsame Deutungsmuster der politischen, ökonomischen und national-gemeinschaftlichen Welt und produziert so gleichzeitig auch erklärende Narrative für das persönliche Scheitern, die aufgrund ihrer Wiederholung im Alltagsverstand Eingang finden. Werte, Normen sowie Selbst- und Weltdeutungen werden so gefestigt und fortgeschrieben, was diese scheinbar un57 | G RIMM, D IETER . Die Marktwirtschaft wird’s nicht richten. Interview in D IE Z EIT, Nr. 47, 15. November 1996. S. 59. Zitiert in S CHUPPERT, G UNNAR F OLKE . Politische Kultur. BadenBaden: Nomos 2008. S. 336.
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politischen Elemente zu eminent politischen macht. Damit wird auch eine ›Ordnung des Diskurses‹ durchgesetzt, die von der dominanten politischen Kultur getragen wird, deren Werte, Orientierungen, ›public codes‹ und Deutungsmuster medial immer wieder inszeniert und reproduziert werden, und aus der gewisse Konflikte thematisiert werden und andere nicht. Kommunikation wird somit von hegemonialen Deutungen geprägt und operationalisiert. Alles kann zwar gesagt werden, aber innerhalb dieser diskursiven Ordnung erscheint nicht alles als sinnvoll. Denn wenn Kommunikation von Konventionen, Erwartungen und Plausibilitätsschranken geprägt und funktionalisiert wird, wenn Verständigung also auf gemeinsam geteilten Bedeutungen aufruht und erst dadurch einen der hegemonial gesetzten Sinnvorstellungen entsprechenden Interpretationsausgang ermöglicht, dann bedeutet das auch, dass gewisse Selbst- und Weltverständnisse, gewisse Deutungen der Welt also, zum Kompass deklariert werden, an denen man sich zu orientieren hat. Sowohl in den Medien als auch im privaten Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion, sei es in der Familie, auf der Arbeitsstelle, im Verein oder in den Bildungsinstitutionen, etabliert sich im alltäglichen Sprachspielprozess und gleichsam im Rücken der Akteure ein Assoziationsraum der Umstände, des Zeitkolorits, des Habitus und der ›richtigen‹ und ›falschen‹ Verhaltensweisen, der an die hegemonialen Deutungsweisen gekoppelt und so auch entzifferbar wird. Damit werden im öffentlichen wie auch privaten Raum die hegemonialen Deutungsangebote en passant gefestigt, über die Zeit transportiert und reproduziert, was soviel bedeutet, dass hierfür hegemoniale Arbeit stattfinden muss. Deutungsangebote müssen immer wieder repetiert und plausibilisiert werden, damit sie Konsens erheischen, ihre Dichotomoie zwischen ›Normal‹ und ›Anormal‹ oder ›Richtig‹ und ›Falsch‹ festlegen und so auch den damit verbundenen unsichtbaren Zwang, seine Selbst- und Weltdeutung dieser hegemonialen Konstellation anzupassen, ausüben können. Es ist nämlich schon die verwendete Sprache an sich, mit welcher in den Medien und im zwischenmenschlichen Bereich über Transformationen im wirtschaftlichen Prozess und Leben informiert wird, die dazu tendiert, die dominanten Selbst- und Weltverständnisse, die hegemoniale politische und wirtschaftliche Ordnung des Neoliberalismus und seine Konsequenzen als etwas Positives und Wohltuendes zu präsentieren. Die Wiederholung, dass es zu diesem neuen Kapitalismus keine Alternative gibt, die damit einhergehende Weigerung, alternative Konzepte in den öffentlichen Mainstream einzugliedern, die selbstverständliche Selbstgewissheit, dass Leistung vom Markt belohnt wird und die Armen ihrer Faulheit oder ihrer Fehlinvestitionen in das eigene Humankapital wegen zu Recht leiden müssen, aber auch das Dogma, dass freie Märkte Prosperität garantieren und die demokratischen Entscheidungen sich entsprechend auszurichten haben, ansonsten das Kapital von Ort A nach Ort B auswandert, sind nur einige diskursive Muster, die im öffentlichen und privaten Bereich immer wieder auftreten. Rationalisierung, Restrukturierung, Modernisierung, Flexibilität und Deregulierung neben Privatisierung werden so
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als Diskurselemente verwendet, die, wie Pierre Bourdieu58 dies anmahnte, die Implikation stark machen, dass die neoliberale Botschaft eine universalistische Botschaft der Freiheit ist, die alle reich machen wird, vorausgesetzt, sie unterwerfen sich den Marktmechanismen. Damit werden alternative Deutungen nicht etwa verboten oder verhindert, jedoch übertönt. Die permanente Wiederholung derselben diskursiven Versatzstücke in den Medien und im privaten Bereich sowie die Ausrichtung der medialen Welt und der Politik an den wiederholten neoliberalen ›Wahrheiten‹ erzeugen eine Eintönigkeit, in welcher andere Harmonien fast ungehört bleiben. Bestimmte exkludierende Orientierungen, Vorstellungen und Deutungen der ökonomischen, politischen und sozialen Welt, in der man lebt, gerinnen so zu gemeinsam geteilten Ideen, die medial und im privaten Raum des Zwischenmenschlichen reproduziert und stabilisiert werden. Diese ›shared beliefs‹ oder »social ideas«, wie sie der Ökonom John Kennenth Galbraith59 nennt, erhalten so den Status von »conventional wisdom«, von einer Weisheit und einem Wissen also, die konventionell sind und somit als selbstverständliche übernommen werden. Dadurch, dass diese Ideen eine gewisse Familiarität aufweisen, im alltäglichen Leben also immer wieder strukturierend wirken, gewinnen sie Akzeptanz und Stabilität – kurz gesagt: sie werden hegemonial und sedimentieren sich im Selbst- und Weltverständnis der Menschen, ihrem persönlichen und politischen Urteilsvermögen und strukturieren so auch die dominante politische Kultur, respektive die kollektiv konstruierten, geteilten, alltäglich praktizierten und somit auch reproduzierten und tradierten Erwartungen, Vorstellungen und Normen, die die einzelnen Gesellschaftsmitglieder in zustimmender oder ablehnender Weise auch ihren politischen Systemen abverlangen. Galbraith bringt diesen Zusammenhang mit einer historischen Genealogie zum Vorschein. Seit dem 19. Jahrhundert, so Galbraith, hat es verlängerte Perioden gegeben, in denen das ›conventional wisdom‹ bezüglich wirtschaftlicher Aktivitäten die freien Marktkräfte favorisiert hat, und zwar wegen ihres angeblichen ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzens. Mit der 1930er Krise beginnt dieses ›conventional wisdom‹ zu zerbröckeln und ein anderes ›Paradigma‹ setzt sich durch. Andere Annahmen und Bedingungen des wirtschaftlichen Handelns finden eine Sedimentierung in der politischen Kultur, womit auch markthemmende Politiken Konsens erheischen und hegemonial werden. Mit dem Zusammenbruch des Keynesianismus während der 1970er Jahre haben aber die verschwunden geglaubten Elemente des libertären ›conventional wisdom‹ eine Renaissance unter dem Deckmantel des Neoliberalismus erfahren. Eine hegemoniale Konstellation, deren Politik auf eine sie stützende politische Kultur mit den darin sedimentier58 | B OURDIEU, P IERRE . Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK 1998. 59 | Vgl. G ALBRAITH, J OHN K ENNETH . Economics and the Public Purpose. Harmondworth: Penguin 1975.
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ten Werten, Orientierungen und Vorstellungen des Wohlfahrtsstaates trifft, wird von einer Gegenhegemonie herausgefordert, die sich politisch und medial inszeniert, die Gesellschaft neu kodiert und so auch neue dominante Deutungen des Selbst und der Welt durchsetzt, die in einem ihr entsprechenden politisch-kulturellen Horizont sedimentiert werden. Mit dem ›Politainement‹ geht also nicht nur eine Spektakularisierung des Politischen einher, die sich zunehmend in Begriffen der Aufmerksamkeitsökonomie und in der Warenförmigkeit ihrer Aussagen ausdrückt, auch eine Aura der ›Alternativlosigkeit‹ wird damit kommunikativ um die öffentlichen und privaten Institutionen gehüllt und so Politik zu einem Spiel degradiert, in welchem die grundlegende Währung das mediale Spektakel ist. Damit werden auch die politisch-kulturellen Deutungsmuster neu ausgerichtet und hegemoniale Selbst- und Weltverständnisse, die der Ökonomie den Vorrang vor der demokratischen politischen Kontrolle geben, in sie eingelagert. In medialer und öffentlicher Hinsicht findet damit auch eine Verschmelzung von Politik und ›Politainment‹ statt, die sich im politischen Alltag zu einer strategischen Ausrichtung zur Mitte herauskristallisiert, also zu dem, was Richard Sennett die Plattform-Politik60 nannte: eine Politik, die unabhängig davon, ob sie von einer rechten oder linken Mehrheit definiert wird, auf einem Grundkonsens beruht, nämlich demjenigen, dass sich die nationale Politik den alternativlosen Strukturzwängen des globalen Kapitalismus anpassen müsse und somit der eigene Standort als wichtigstes Kriterium und als Legitimationsgrund politischen Handelns zu betrachten ist. Die Mutation der Politik zu einer Hochglanzmagazin-Politik, in der es hauptsächlich um das mediale Marketing geht, ist nicht zuletzt ein weiteres Kennzeichen der hegemonialen Durchsetzung marktorthodoxer Prinzipien auf politischer und auf gesellschaftlicher Ebene. Robert Cox hat diese Entwicklungen treffend diagnostiziert: »All politicians move to the centre to compete on the basis of personality and of who is best able to manage the adjustment in economy and society necessary to sustain competitiveness in the global market … The concept of a possible alternative economy and society is excluded.«61 Damit wird den politischen Auseinandersetzungen der letzte Rest an Substanz entzogen und das politische Geschehen zunehmend in Kategorien des medialen Marketings und des ›Politainments‹ ausgehandelt. Der neoliberale Kapitalismus, der an der Wurzel dieser Entwicklung steht, operiert also nicht nur mittels einer Ideologie, die ihm die vollendete Macht der ›Alternativlosigkeit‹ zuspricht, sondern auch mittels einer Taktik des gesellschaftlichen Kontrollentzuges und der damit einhergehenden Demokratieentleerung. Die Autorität dieses Kapitalismus 60 | S ENNET T, R ICHARD. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 2. Aufl. Berlin: BvT 2007. S. 116-119 und 129f. 61 | C OX, R OBERT. Democracy in Hard Times. Economic Globalization and the Limits to Liberal Democracy. In: A NTHONY M C G REW (Hg.). The Transformation of Democracy? Globalization and territorial Democracy. Cambridge: Polity Press 1997. S. 55.
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und der ihn ermöglichenden Politiken beruht also weder ausschliesslich auf einer explizit freiwilligen Folgebereitschaft seitens der Herrschaftsunterworfenen noch auf der blossen Drohung purer Gewalt. Vielmehr versteht es dieser ›neue Kapitalismus‹, sich einerseits ideologisch so zu positionieren und sich durch die zunehmend auf Konsum ausgerichtete Medienwelt auch so darzustellen, dass er als einzige verbliebene Wahrheit erscheint. Die Effekte dieses Kapitalismus und der ihn ermöglichenden Politiken zeichnen sich andererseits vor allem in zunehmenden Einkommens- und Wohlstandsdisparitäten ab, die mittels einer öffentlichen, moralischen und medial inszenierten Rhetorik, die die Bevölkerung in wertvolle und weniger wertvolle Gruppen für das Gemeinwohl unterteilt, legitimiert werden.
4.3 D IE GUTEN R EICHEN UND DIE KOSTSPIELIGEN A RMEN Im Gegensatz zur keynesianischen Periode erzielen neoliberale Politiken die grössten Herrschaftseffekte gerade dadurch, dass sie diejenigen, die Gramsci die Subalternen nannte, also all diejenigen Gesellschaftsschichten, die von der politischen und ökonomischen Umwandlung kaum profitieren, damit konfrontieren, dass sie ihnen keine oder fast keine Zugeständnisse mehr machen. Sie bauen also nicht mehr auf einen Konsens, der mittels materieller Vorteile oder wohlfahrtsstaatlicher Programme, die Subalternen ›ins Boot‹ holt, im Gegenteil, sie höhlen diese aus. Alex Demirovic62 fasst diese Entwicklung treffend zusammen, wenn er betont, dass die Lohnabhängigen heute länger und intensiver arbeiten, dass sie auf Löhne, Gehälter und Zulagen verzichten und Einschnitte in ihre Rechte und sozialstaatliche Einschnitte bei Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge oder öffentlichen Dienstleistungen akzeptieren. Zugleich wird seit über zwanzig Jahren von Seiten der Unternehmer – auch dank der politisch flankierten Einschnitte in das Arbeitsrecht und der damit einhergehenden zunehmenden Prekarisierung – den Arbeitenden immer wieder die Notwendigkeit ihres Verzichts auf höhere Lohnforderungen gepredigt, während die Bereicherung der Reichen als Lohn für Verantwortung, Arbeit und Erfolg gepriesen wird, die Beschäftigten aber um die versprochenen Gegenleistungen in Gestalt von Arbeitsplätzen, Ausbildung, mehr Mitsprache und Demokratie oder ökologische Nachhaltigkeit gebracht werden. Die wiederkehrende Argumentation beruft sich auf die Überzeugung, dass niedrige Steuersätze für Unternehmen und für die Bestverdienenden das Investitionskapital für neue Produktionsstandorte und somit für neue Arbeitsplätze erhöhen. Diese Politik der Austerität, wie sie ab den 1980er Jahren in den hochentwickelten westlichen Staaten aufkam, betrachtete Steuersenkungen als Uni62 | D EMIROVIC, A LEX . Politische Gesellschaft – zivile Gesellschaft. Zur Theorie des integralen Staates bei Antonio Gramsci. In: S ONJA B UCKEL . A NDREAS F ISCHER-L ESCANO (Hg.). Hegemonie gepanzert mit Zwang – Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis. Baden-Baden 2007. S. 21-41. Hier S. 37.
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versalmittel zur Entfesselung wirtschaftlicher Dynamik. Im Sinne der neoliberalen Zauberformel sollten dank niedriger Steuern und weniger Staat Wachstum und Beschäftigung prosperieren. Eine Kehrtwende fand in der Tat statt. Mit dem Standortwettkampf wurde das Instrument der Steuereintreibung für die Staaten zum privilegierten politischen Schalthebel, um dem Kapital die besten Renditeaussichten zu garantieren. Einerseits unter dem Druck des internationalen Steuerwettbewerbs und andererseits belagert von Lobbies der Bestverdienenden, der Vermögensbesitzer und der Unternehmen senkten die Staaten in den OECD-Ländern fortwährend ihre Steuersätze für die finanzielle Elite. Seit mehr als drei Jahrzehnten werden vor allem die Unternehmenssteuern gesenkt, die Vermögenssteuer oftmals ganz abgeschafft und die Einkommenssteuer für Bestverdienende erleichtert. Betrugen die Unternehmenssteuersätze Anfang der 1980er Jahre im OECD-Durchschnitt noch rund 50%, waren sie bis auf 2003 auf rund 30% gesenkt worden und in einigen Ländern sogar noch weit darunter.63 Da die Unternehmenssteuern (Körperschaftssteuern) und Einkommenssteuern eng miteinander verzahnt sind, so Michael Krätke, müssen beide gesenkt werden. Konsequenz hiervon ist die Bildung von Steueroasen für Unternehmer und Grossverdiener im Innern aller Steuerstaaten. In Grossbritannien etwa beträgt der Steuersatz auf Kapitalerträge (einschliesslich Gewinnen aus Immobilienverkäufen) gerade noch 18%, der Spitzensatz der Einkommenssteuer 40%. Das ist schlicht eine Aufforderung an alle Gutverdienenden, ihr Einkommen in Kapital umzuwandeln, was ihnen massive Steuereinsparungen einbringt. Im Gegenzug werden die Mehrwert- oder Umsatzsteuern und die Belastung der Lohneinkommen erhöht. So machten im Jahre 1989 in der OECD Steuern auf Gewinne noch rund 15% des Steueraufkommens aus, 2002 hingegen bloss noch 11%, die Steuerlast für den Massenkonsum und für die Arbeitseinkommen stieg hingegen an. »Insgesamt hat der heutige Steuerstaat eine simple Struktur: 30% Verbrauchssteuern (davon 20% Umsatzsteuern), 25% Einkommenssteuer (weit überwiegend Lohnsteuern), 25% Sozialversicherungsbeiträge.«64 Gleichzeitig wurden der Niedriglohnsektor und die damit einhergehende Prekarität, wie dies Robert Castel65 aufgezeigt hat, ausgeweitet und sogar staatlich flankiert, indem mit der Durchsetzung neoliberaler Politiken der Arbeitsmarkt zunehmend liberalisiert wurde. Damit ging auch eine Rhetorik einher, die jegliche Konnotation gesellschaftlicher Einflüsse in den Markt von Beginn an desavouierte. Wenn einzig der Markt die bestimmende Grösse für Erfolg und 63 | O ECD. Revenue statistics. Paris 2008. Zitiert in: K RÄTKE, M ICHAEL R. Krise des Steuerstaats. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 58, 2010. S. 15-28, Hier S. 21. 64 | Ganzer Absatz nach: K RÄTKE, M ICHAEL R. Krise des Steuerstaats. In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 58, 2010. S. 15-28, Hier S. 21f. 65 | C ASTEL, R OBERT. Das Verschwimmen der sozialen Klassen. In: J OACHIM B ISCHOFF E T A L . (Hg.). Klassen und soziale Bewegungen. Strukturen im modernen Kapitalismus. Hamburg: VSA 2003. S. 7-17.
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Misserfolg für Staatswesen und Individuen darstellt, dann erübrigt sich jegliche Bezugnahme auf die Gesellschaft. Diese, so die britische Premierministerin Margaret Thatcher, existiert schlichtweg nicht.66 Die einzige gültige Variable, die auf diesem neoliberalen Reissbrett des Politischen und Ökonomischen erscheint, ist das nutzenmaximierende Subjekt. Jeder soll also für sich schauen und nicht auf den Staat vertrauen oder gar auf gemeinsame gesellschaftliche Projekte setzen. Und wer es schafft, schafft es, weil seine Investitionen ins eigene Humankapital, seine Leistungen – trotz der hayekschen Desavouierung dieses Arguments – zu Recht belohnt werden und seine angeblich raren Fähigkeiten – auch wenn gerade diejenigen, die mit diesen gesegnet sein sollen, die Hauptverantwortlichen der jüngsten Finanzkrise waren – die exorbitanten Löhne mit den anhängenden Boni rechtfertigen. Es gibt nur noch den Arbeitsmarkt, der belohnt oder bestraft. Keine Gesellschaft, kein Staat und keine sonstige kritische Gruppierung soll in diesen Mechanismus eingreifen. »Get rich or die tryin«, dieser Slogan des US-amerikanischen Rap-Musikers ›50 Cent‹ könnte für diesen entfesselten neoliberalen Kapitalismus Pate stehen. Da im neoliberalen Verständnis nämlich keine Gesellschaft existiert, sondern nur nutzenmaximierende und -verfolgende Individuen, ist auch jeder einzelne auf sich gestellt, und zwar im Kampf gegen alle anderen. Die ständige Wiederholung dieser angeblich alternativlosen Arbeits- und Lebenswelt ist gerade Teil des Willens, keine Kompromisse mit den schlecht bezahlten oder gar prekären Arbeitern mehr eingehen zu wollen. Dass im Gegenzug aber Instrumente und Taktiken der Korruption schnell überhandnehmen können, wenn es um die Bereicherung der Eliten geht, haben in den letzten Jahrzehnten die Fälle des Enron-Debakels und der südostasiatischen Krise von 1997 sowie – um die Aufzählung zu kürzen – die jüngste Finanzkrise von 2008 gezeigt, die dadurch ausgelöst wurde, dass nach bester mafioser Manier die angeblichen globalen Zensoren der Kreditwürdigkeit grosser Finanzinstitute von ebendiesen bestochen wurden, um falsche Tatsachen zu propagieren und so die für einige Finanzinstitute lukrativen Investitionen in ›toxische Wertpapiere‹ weiter anzukurbeln. 66 | In einem Interview brachte die »eiserne Lady« diese berühmt gewordene Aussage folgendermassen zum Ausdruck: »Ich denke, hinter uns liegt eine Periode, in der man zu vielen Menschen gesagt hat, wenn sie ein Problem hätten, sei es Sache der Regierung, dieses zu lösen. ›Ich habe ein Problem, ich werde Unterstützung bekommen.‹ ›Ich bin obdachlos, die Regierung wird mit eine Wohnung besorgen.‹ Sie schieben ihre Probleme auf die Gesellschaft. Aber, Sie wissen, so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt einzelne Männer und Frauen, und es gibt Familien. Und keine Regierung kann irgendetwas bewerkstelligen ausser mithilfe der Menschen, und die Menschen müssen zuallererst für sich selbst sorgen. Es ist unser Pflicht, für uns selbst zu sorgen und danach auch für unsern Nachbarn zu sorgen. Die Menschen denken zu viel an ihre Ansprüche, ohne auch an ihre Pflichten zu denken. Aber es gibt keine Ansprüche, wenn man zuvor nicht Pflichten erfüllt hat.« Siehe: Margaret Thatcher in einem Interview mit WOMENS’S O WN M AGAZINE, 31.10.1987.
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Staaten und Individuen werden somit vor vollendete Tatsachen gestellt und müssen sich den korrupten Strukturzwängen dieses Finanz-Kapitalismus anpassen. Die Diskrepanz zwischen der Macht des Kapitals und seiner demokratischen Kontrolle, die Intensivierung der Disziplin am Arbeitsplatz bei gleichzeitiger Prekarisierung und Marginalisierung von Arbeitsverhältnissen sowie die Ausdehnung der neoliberalen Prinzipien auf Bereiche, die früher vor dem Zugriff des Marktes geschützt waren, zeigen, gemäss dem neogramscianischen Denker Stephen Gill, das Bild eines disziplinierenden Neoliberalismus. »Whereas constitutional and legal arrangements have begun to redefine the relationship between state and civil society from a neo-liberal perspective, these developments are supplemented by new organizational and other innovations, backed by coercive as well as consensual mechanisms of power at the micro-level. Both macro- and micro-levels of power taken together help to explain the political form of disciplinary neo-liberalism.«67 Das Disziplinäre dieser Politik liegt auf makroskopischer Ebene in der Eindämmung des politischen Handlungsspielraumes zur Gestaltung der Kapitalflüsse, auf mikroskopischer Ebene in dem Einkreisen des Individuums durch strukturelle Zwänge, die es, ob es das will oder nicht, auf Marktförmigkeit ausrichten. Beide Entwicklungen beruhen auf der Propagierung einer qualitativen Unterscheidung zwischen Reichen und Armen. In der marktförmigen Ausrichtung gesellschaftlicher Institutionen, in der ›Ökonomisierung des Sozialen‹ also, die den Einzelnen vor die ›stummen Zwänge des Ökonomischen‹ stellt und ihn zudem in immer mehr Bereichen seines Lebens erwarten, gewinnt er ein Bewusstsein seiner Lage, seines Lebens und der ihn umgebenden Welt mit seinen dominanten Wertvorstellungen, Orientierung und erwünschten Verhaltens- und Denkweisen. Von der Bildung zum Arbeitsmarkt bis zur Alters- und Krankheitsvorsorge sieht sich der Einzelne einem einzigen Spiel von Angebot und Nachfrage ausgeliefert, deren zentrale Spielfigur er ist. Entsprechend muss er gut kalkulieren, die ›richtigen‹ marktkonformen Entscheidungen für seine berufliche Lauf bahn, seine Altersabsicherung oder für die Zukunft seiner Kinder treffen und im Namen des wirtschaftlichen Erfolges nie aufhören, an sich zu arbeiten, auch und vor allem in der Freizeit. Dieser politisch durchgesetzte neoliberale Kapitalismus erweist sich tatsächlich als eine alle Lebensbereiche einnehmende ausbeuterische Wirtschaftsform, die ihren Profit nicht nur während der Arbeitszeit schöpft, sondern auch die Freizeit zur produktiven Zeit deklariert, in welcher durch Weiterbildungsangebote, persönliche Anstrengungen zur ›Netzwerkbildung‹ in spezifisch hierfür gestalteten und mit Musik und Ausgelassenheit untermauerten ›After-work‹-Räumen sowie durch die Verlagerung des Arbeitsortes vom Büro ins eigene Heim die Investitionen 67 | G ILL , S TEPHEN . Theorizing the Interregnum. The Double Movement and Global Politics in the 1990s. In: B JÖRN H ET TNE . E T A L . (Hg.). International Political Economy. Understanding Global Disorder. London u.a.: Zed Books 1995. S. 65-99. Hier S. 82.
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ins eigene Humankapital erhöht werden sollen, bei gleichzeitiger Minderung der Mussezeit. Die neue Arbeitswelt dieses neuen Kapitalismus erzeugt, wie Richard Sennett dies gezielt analysiert hat, auch einen neuen Menschentyp: das flexible Individuum, das von einem Ort zum anderen rennt, seine Freizeit mit Arbeit verbringt und in der ständigen Furcht vor seiner Aussonderung lebt, die ihn zugleich von neuem immer wieder antreibt. Auf sich allein gestellt, soll das Individuum in dieser neoliberalen Welt sein Humankapital vergrössern, um so den Sprung in die einkommensstarken Sphären zu schaffen. Gelingt dies nicht, dann muss halt strenger, intensiver und ohne Rücksicht auf eigene gesundheitliche Beeinträchtigungen an der Optimierung des eigenen Kapitals gearbeitet werden. Gelingt der Sprung aber, dann werden die luftigen Höhen und die Privilegien der obersten Einkommensschicht vielfach als eigene Leistung gepriesen, unabhängig von den gesellschaftlich finanzierten Institutionen, die den Weg dahin mitgetragen haben, und von den Ausbeutungsverhältnissen, die den gewonnenen finanziellen Rückhalt überhaupt erst ermöglichen. Das so gewonnene Eigentum wird für heilig erklärt, mit selbstgerechter Zufriedenheit zum persönlichen Verdienst erklärt und von staatlichen Zugriffen mit allen möglichen Mitteln zu schützen versucht. Mit der neoliberalen Restrukturierung nationaler Politiken und Gesellschaften hat sich die Diskriminierung des öffentlichen, also staatlichen Sektors in der Tat mit der Zunahme einer Kultur der Zufriedenheit68 verstärkt. Das Aufkommen einer elektoralen Mehrheit, die jegliche Politik absegnet, die keine Interferenzen mit den freien Marktkräften, dafür Steuersenkungen für einkommensstarke Schichten und Liberalisierungen aller möglichen Arbeits- und Produktionsverhältnisse versprach, hatte signifikante Konsequenzen für die Rolle der Regierungen, insbesondere hinsichtlich des Sozialstaats. Die Entmantelung wohlfahrtstaatlicher Institutionen beruhte und beruht weiterhin auf demokratischen Entscheidungen. Der Neoliberalismus ist gerade keine apolitische oder unpolitisch durchgesetzte Wirtschaftsform, im Gegenteil: Er ist ein politisches Projekt, der auf demokratische Zustimmung angewiesen ist. In makroskopischer Hinsicht gewann diese Neuformatierung der nationalen Wirtschaftspolitik Auftrieb und Konsens dank der Neukodierung politisch-kultureller Selbstverständnisse. Der Sinn für das Gemeinsame wurde zugunsten der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten gemindert, der eigene Wohlstand als einzige Kategorie der politischen Aktivität propagiert und damit eine Trennung zwischen denjenigen, die angeblich die Staatsausgaben finanzieren, und solchen, die bloss davon profitieren, diskursiv etabliert. Die neoliberale Ausrichtung der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik beruht auf einer wirtschaftlichen und gesellschaftlich glücklichen Wählerschaft,69 die eine Mehrheit der faktischen Wählerschaft ausmacht, was nicht heisst, dass sie eine Mehrheit der Bevölkerung darstellt, von 68 | Vgl. G ALBRAITH, J OHN K ENNETH . The Culture of Contentment. Harmondsworth: Penguin 1993. 69 | Ibid. S. 17.
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der grosse Teile in politische Apathie versinken oder gegebenenfalls durch sicherheitspolitische Belange oder durch Wohlstandsversprechen wieder aktiviert werden können. Die hegemoniale Konsensbildung verschwindet nicht einfach vom Erdboden, sondern sie wird eine Ebene vorgeschaltet. Das heisst, die Zuweisung materieller Vorteile oder die Vermehrung des Wohlstandes, wie dies noch für die fordistische Produktion konsensbildend war, findet nicht faktisch, sondern im Modus des Versprechens statt. Die marktförmige Ausrichtung ehemals staatlich bedienter öffentlicher Leistungen – wie beispielsweise die Bildung – und ihrer zivilgesellschaftlichen Apparate – wie Schulen oder Universitäten – findet ihren demokratischen Konsens darin, dass auch denjenigen Klassen, die am wenigsten davon profitieren, dass Bildung nach Marktpreisen sich richten muss, versprochen wird, sie könnten damit ihren Wohlstand erhöhen. Mittels Wettbewerb der Schulen untereinander, so die neoliberale Argumentation, würden die Preise ohnehin sinken, so dass Bildung fast wieder so günstig wie vor der Privatisierung war, mit dem grossen Vorteil jedoch, weniger Steuern bezahlen zu müssen. De facto ist es aber eher so, dass die Preise ehemals öffentlicher Dienstleistungen kartellmässig hochgehalten werden und ehemals öffentliche Güter – wie Bildung, Kunst, Wissenschaft, Transport – zunehmend nur noch von denjenigen genutzt werden können, die ein entsprechendes Einkommen haben. Solche Politiken der Privatisierung fundieren also auf einer Logik, die das ›Eigene‹ vor das ›Gemeinsame‹ stellt. Wie unterschiedlich die Zusammensetzung der Wählerschichten bezüglich Einkommen und Arbeitskriterien auch immer ist, die diese Privatisierungen befürworten, eines eint sie, und zwar der gemeinsame und prononcierte Sinn für die Bewahrung eigener individueller Interessen. Gut nachvollziehbar ist dies am Beispiel der Aushöhlung des Arbeitsrechts, wie es seit den späten 1970er Jahren zunehmend stattfand. Neben der Chauvinisierung der arbeitenden Gesellschaftsschichten, die den Gegner nicht innerhalb eines ökonomischen, sondern kulturellen Settings des Sozialen sichten, ist sicherlich auch der ›Schulterschluss‹ zwischen konkurrierenden multinationalen Konzernen und kleinen und mittleren Betrieben zu erwähnen. Obwohl die neoliberale Wende aufgrund der Freisetzung von Kapitalien insbesondere die Grosskonzerne begünstigte, als diese die Reproduktion ihrer Gewinne zunehmend von der realen in die Finanzwirtschaft verlagerten, haben die Politiken, die diese ›Liberalisierung‹ des Kapitalmarktes ermöglicht haben, eben auch innenpolitische Felder wie das Arbeitsrecht oder die Steuerpolitik – um nur zwei zu nennen – dereguliert, was wiederum auch den kleineren Unternehmungen zum Vorteil gereichte und somit ihre Unterstützung für ebendiese Politiken garantieren konnte.70 Das Hauptanliegen, das diese unterschiedliche Klassen vertreten, ist die Verteidigung ihrer gegenwärtigen Lebenslage, also ihres Wohlstandes, und dafür zu sorgen, dass beide in Zukunft möglichst gleich bleiben. Die grösste Gefahr sich70 | S CHULMEISTER, S TEPHAN . New Deal für Europa. In: Le Monde Diplomatique. September 2010. S. 3.
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ten diese Wählerschichten »when government and the seemingly less deserving intrude or threaten to intrude their needs or demands. This is especially so if such action suggests higher taxes.«71 Die Steuerpolitik wird aber auch deswegen von diesen Wählerschichten diskriminiert, weil sie befürchten, dass hohe Steuern die Anreize für Investitionen und somit für Wirtschaftswachstum zerstören und somit dem ›Gemeinwohl‹ schaden würden. Die zugrundeliegende Prämisse ist auf der einen Seite, dass Reiche den Anreiz von zusätzlichem Einkommen in Form von weniger Steuern benötigen, um gesellschaftlich nützliche Aktivitäten – wie beispielsweise die Einrichtung neuer Arbeitsplätze, die aber unter den herrschenden Bedingungen ausgehöhlter Arbeitsrechte auf zunehmende Ausbeutung hinauslaufen, was wiederum den Profit der ›Investoren‹ vergrössert – durchzusetzen. Auf der anderen Seite und implizit in dieser Prämisse enthalten, ist die Ansicht, dass Arme ihre Armut auch verdienen.72 Deshalb müsse eine sparsame Sozialpolitik geführt werden, da ansonsten die Reichen wegziehen und die Armen noch fauler werden, kein Wunder, dass die zunehmende Indifferenz der obersten Einkommensschichten gegenüber den unteren ein Auswuchs ihres zunehmenden Wohlstandes ist. Damit geht aber eine Unterkühlung des gesellschaftlichen Klimas einher. Die neoliberal ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik produziert grosse Einkommensunterschiede und legitimiert sie über eine Rhetorik der Markteffizienz. Die dominante Rationalität ist diejenige, die davon ausgeht, dass die Reichen nicht arbeiten, wenn sie ein zu geringes Einkommen erzielen, und die Armen nicht arbeiten, wenn ihre (Transfer-)Einkommen zu hoch sind. Entsprechend gelte es, die Reichen mit Steuererleichterungen zu belohnen und den Armen klar zu machen, dass es kein moralisches Anrecht gibt, anderen auf der Tasche zu liegen. Was hingegen erneut das moralische Bewusstsein der Reichen stärkt, ist, wie bereits zu Zeiten des Hochliberalismus während des 19. Jahrhunderts, der ›charity‹-Gedanke. Nicht ein von allen mitfinanzierter Sozialstaat, in welchem die Probleme eines Gemeinwesens als Probleme betrachtet werden, die alle angehen und demnach als kollektive Sorge auch gesellschaftlich gelöst werden, bildet hierbei den Dreh- und Angelpunkt der Sozialpolitik, sondern die freiwillig Güte der Reichen gegenüber denjenigen, denen sie ihren Reichtum zu verdanken haben. Wer den Armen helfen will, mag es nach eigenem Gutdünken und mit eigenem Geld tun. Umverteilung von Staats wegen ist hingegen in der neoliberalen Argumentation zwangsweise Enteignung der Reichen. Nur der Markt setzt ein Glücksspiel in Bewegung, in welchem das Glück weder gerecht noch ungerecht, sondern einfach blind ist. Darin liegt sein besonderer Reiz für die wohlhabenden Neoliberalen dieser Welt. Wer somit vorschnell hilft, ist mit schuld daran, wenn auf Dauer mehr Elend existiert, als unbedingt sein müsste. »Das Vertrauen darauf, dass sich Hart71 | G ALBRAITH, J OHN K ENNETH . The Culture of Contentment. Harmondsworth: Penguin 1993. S. 17. 72 | Ibid. S. 145.
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herzigkeit in the long run sowie im grossen und ganzen gesehen rentiert, haben jene, die von Schicksalsschlägen verschont geblieben sind – anderer Leute Elend nervt.«73 Die Demolierung des Staates, als einzige Instanz, die imstande wäre, mit allgemeinen, also alle betreffenden Risiken umzugehen, kehrt sich jedoch um, sobald die Interessen der obersten Einkommensschichten bedroht werden: sei dies in sicherheitspolitischer Hinsicht, wenn es darum geht, die Sicherung des eigenen Eigentums staatlich zu garantieren, sei es, wenn es darum geht, marode Banken und exorbitante Gehälter mit Staatsgeldern zu retten. Die im Zuge der letzten Finanzkrise berühmt gewordene Parole, dass die Gewinne privatisiert, während die Verluste vergesellschaftet werden, bringt die Schizophrenie dieser neoliberalen Selbstbezüglichkeit präzise auf den Punkt. Wenn weiterhin staatliche Politiken durchgesetzt werden, die diese Krise hervorgebracht haben und die den Reichen günstige Bedingungen für ihre Investitionen anbieten, während sie den Armen mit immer weniger staatlichen Hilfeleistungen begegnen, dann ergibt sich stillschweigend eine Unterscheidung zwischen solchen Bevölkerungsgruppen, die dem allgemeinen Wohl zuträglich sind, und anderen, die dieses aushöhlen. Damit wird nämlich stillschweigend vorausgesetzt, dass das egoistische Verhalten derjenigen, die nicht auf staatliche Hilfeleistungen angewiesen sind, wertvoller sei als jenes der Abhängigen. Die politisch durchgesetzte und mittels hohen finanziellen Einsatzes in der Öffentlichkeit plausibilisierte Rhetorik, dass Steuerreduktionen für Unternehmern im Interesse der Volkswirtschaft notwendig sind, während höhere Löhne für Lohnabhängige nur Schaden anrichten, bringt stillschweigend eine unterschiedliche Bewertung des Verhaltens aufgrund der jeweiligen Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse mit sich. Die wertvollen Reichen sollen im Namen des Gemeinwohls möglichst unbehindert vom Steuer- und Arbeitsrecht ihre Investitionen tätigen können, während die kostspieligen Armen ebendieses Gemeinwohl angreifen und zunehmend den Staatshaushalt auffressen. Unter neoliberaler Hegemonie wird der Begriff des Gemeinwohls mit der Idee einer prosperierenden Volkswirtschaft verschränkt, die innerhalb dieser Logik wiederum nur durch marktkonforme Ausrichtung, Beschneidung des Sozialstaates und des Arbeitsrechts sowie die Implementierung einer für das Finanzkapital freundlichen Steuerpolitik garantiert werden kann. Damit werden zugleich die Handlungschancen ungleich verteilt. Jemand, der von Steuerreduktionen aufgrund seines bereits hohen Vermögens profitiert, wird unweigerlich andere Möglichkeiten zur Gestaltung seines Lebens und zur Realisierung seiner Bedürfnisse haben, als jemand, der vielleicht schon in der Mitte eines Monats jeden Cent dreimal herumdrehen muss, bevor er ihn ausgibt. »Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es uns allen gut«, so lautet oftmals das Argument zur Legitimierung und hegemonialen Stabilisierung neoliberaler Politiken. Verschwiegen wird hier73 | FACH, WOLFGANG . Das Verschwinden der Politik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 220.
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bei jedoch, wer mit diesem ›uns‹ gemeint ist. De facto werden die Einkommensunterschiede in den Ländern nämlich grösser, die Mittelschichten erodieren und die Zahl der ›working poors‹ nimmt zu.74 Offensichtlich ist es also ein ›uns‹, das nur diejenigen einbezieht, die die finanziellen Möglichkeiten haben, von einer deregulierten Wirtschaft auch wirklich zu profitieren. Um den gesellschaftlichen Konsens und die dadurch etablierte Hegemonie jedoch zu erheischen, bleibt der Spruch weiterhin zentral. Was sich somit aufdrängt, ist Claus Offes Frage, wessen Wohl das Gemeinwohl letztlich ist 75 – unter Bedingungen neoliberaler Hegemonie kaum dasjenige des gesamten Gemeinwesens, sondern vielmehr dasjenige der finanzkräftigen Vertreter partikularer Interessen. Solange die Handlungschancen einiger Weniger politisch gefördert, während Andere durch Kürzungen der staatlichen Hilfeleistungen konsequenterweise beeinträchtigt werden, ist jede Rede von Gemeinwohl sinnlos, nicht nur, weil es ein partikulares und nicht ein gemeines Wohl fördert, sondern vor allem, weil diese Rhetorik die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse ausser Acht lässt. Bereits Bernard Mandeville76 hegte den Verdacht, dass die Rede vom Gemeinwohl bloss partikulare Interessen verschleiere. Ihm zufolge beruht die Ökonomie nämlich nicht bloss auf eigennützigem, sondern vielmehr auf bewusst hinterlistig-betrügerischem Handeln, denn, so Mandeville, es werde sich nicht ein Gewerbetreibender finden, der nicht andere so behandelt, wie er selbst nie behandelt werden möchte. Das Ziel des Geschäftsmannes ist die Maximierung des Profits, weshalb morali74 | Die OECD-Studie mit dem Titel »Growing Income Inequality in OECD Countries: What drives it and how can Policy tackle it?«, die im Rahmen des Pariser Forums vom 2. Mai 2011 erstellt wurde, kommt zum Schluss, dass während der zwei Dekaden vor der Finanzkrise von 2008 die realen Haushaltseinkommen in allen OECD-Ländern im Durchschnitt um 1.7% zugenommen haben. In der Mehrzahl dieser Länder haben die Einkommen der reichsten 10% schneller zugenommen als diejenigen der ärmsten 10%, was zu einer Vergrösserung der Einkommensschere geführt hat. Gegenwärtig ist das Durchschnittseinkommen der 10% Reichsten in den OECD-Ländern neunmal grösser als dasjenige der 10% Ärmsten. Zudem stand der »Gini-Koeffizient«, – eine standardisierte Messvariable, um die Einkommensungleichheit, die vom Koeffizienten 0 (alle haben genau gleich viel Einkommen) zum Koeffizienten 1 (das gesamte Einkommen konzentriert sich auf eine Person) reicht, eruieren zu können – Mitte der 1980er Jahre auf 0.28 im Durchschnitt der OECD-Länder, in den späten 2000er Jahren hat er um 10% auf 0.31 zugenommen. Die Einkommensunterschiede sind also trotz zunehmenden Wirtschaftswachstums in den Jahren vor der Krise grösser und nicht kleiner geworden. Siehe: O ECD F ORUM O N TACKLING I NEQUALIT Y. Growing Income Inequality in OECD Countries: What drives it and how can Policy tackle it? Paris 2011. S. 5f. In: www.oecd.org/ dataoecd/32/20/47723414.pdf (Stand Mai 2011). 75 | Vgl. O FFE, C LAUS. Wessen Wohl ist das Gemeinwohl? In: L UTZ W INGERT. K LAUS G ÜNTHER (Hg.). Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. S. 459-488. 76 | M ANDEVILLE, B ERNARD. Die Bienenfabel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. S. 99, 110.
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sche Tugenden, Sinn fürs Gemeinwohl oder gar Empathie auf dem Markt nicht gefragt sein können, da sie den ersehnten Zuwachs an Renditen nur schmälern. Diese Pervertierung der ›goldenen Regel‹ – den anderen Handelspartner so zu behandeln, wie man selbst nicht behandelt werden möchte, also den eigenen Vorteil durch Benachteiligung des anderen zu erzielen – bildet nicht nur die Kernlogik der kapitalistischen Produktionsform, sondern hat sich gerade in der neoliberalen Auslegung des Kapitalismus zum festen Bestandteil der Wirtschaftsvorgänge etabliert. Wenn nämlich keine Gesellschaft existieren soll, nur der Markt die Reichtümer verteilt und jeder Einzelne auf sich gestellt ist, dann wird nicht nur der Mensch des anderen Menschen Wolf, sondern auch der Kampf um die vorteilhafte Kontrollen von Ressourcen und Marktanteile verschärft sich zu kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen der Stärkere und nicht der Markt die Machtverhältnisse koordiniert. Aber auch innerhalb des eigenen Landes und der eigenen Volkswirtschaft setzt sich dieses Prinzip mit anderen Mitteln durch. Durch die Privilegierung der Kapitaleigner mittels Steuererleichterungen und Einschnitten im Arbeitsrecht setzt sich unter der Rhetorik einer Wirtschaftsleistung, die nur durch diese Massnahme prosperieren und somit das Gemeinwohl fördern kann, die Bereicherung der Wenigen auf Kosten der Vielen durch. Wieder ist es Mandeville, der diesen Zusammenhang benennt. Ihm zufolge hängt der Bestand einer Volkswirtschaft nämlich zur Hauptsache von der Existenz einer grossen Klasse armer Arbeiter ab, die gerade genug verdienen, um überleben zu können. Das gelobte Gemeinwohl setzt sich gemäss dem französischen Denker also dadurch zusammen, dass der Müssiggang und der Genuss der wenigen auf der Bereitschaft der vielen beruhe, auf diese Tätigkeiten zu verzichten und sich für die wenigen zu opfern. Der sicherste Reichtum besteht, wie Mandeville darlegt, in einer grossen Menge schwer arbeitender Armer.77 Zur Legitimierung solcher Zustände war die Formel des Gemeinwohls also bereits im 18. Jahrhundert eine beliebte Wendung. Was sie aber verschleiert, ist nicht nur diese Gesetzmässigkeit der kapitalistischen Produktion, sondern vor allem die damit einhergehenden Abhängigkeitsverhältnisse, die den Vielen keine autonome Lebensentfaltung ermöglichen. Was sich auch heute nämlich im Schatten dieser Rhetorik tagein und tagaus abspielt, ist die ungleiche Verteilung der Möglichkeiten zur Realisierung selbstgewählter Lebensentwürfe. Diejenigen mit geringem Einkommen sind auf die materielle Sicherung ihrer physischen Existenz und somit auf Lohnarbeit angewiesen, die wiederum unter dem Druck derjenigen steht, die mit Investitionskapital winken und so staatliche Politiken beeinflussen können. In politischer Hinsicht hat diese Entwicklung einen Ethos hervorgebracht, den der amerikanische Soziologe Daniel Bell bereits in den 1970er Jahren als einen »individualistischen Ethos« zusammenfasste, welcher »at best defends the idea of personal liberty, and at worst evades the necessary social responsibilities
77 | Ibid. S. 231, 318f, 333.
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and social sacrificies which a communal society demands.«78 Bell betont hiermit, dass die Förderung privater Interessen und Laster zu einem »loss of civitas« geführt habe, zu einer Erosion des Respekts für die Rechte der weniger begüterten Mitbürger und zu einer »frequent unwillingness to compromise private end for the public interest.«79 Es wird zunehmend schwieriger, den Leuten klar zu machen, dass ein Teil ihres Einkommens in Form von Steuerabgaben für den Konsum von öffentlichen Gütern notwendig ist und weniger für ihren privaten Verbrauch, weil im Rahmen der neoliberalen Theorie und der hiervon durchgesetzten Politiken privater Konsum als Ausdruck von Wahlfreiheit betrachtet wird, während Zuwendungen für den öffentlichen Gebrauch als Freiheitseinschnitte definiert werden. Gemeinwohl bedeutet dann nichts anderes als dasjenige Wohl, das vom Markt und ohne staatliche Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums den einen zugesprochen wird und den anderen verwehrt bleibt. Dadurch wird aber das Gemeinwohl zum Wohl einer dominanten Gruppe, derjenigen nämlich, die die politische und kulturelle Hegemonie innehat und dadurch auch über die Definitionshoheit der Wirtschaftskreisläufe, der steuerlichen und arbeitsrechtlichen Politiken sowie der als alternativlos gepriesenen Lebensweise im neuen Kapitalismus verfügt, die also ihre Interessen und Definitionen von Gemeinwohl mit dem allgemeinen Interesse identifiziert und plausibilisiert. Dass hierbei ihr finanzieller und investitionstechnischer Beitrag zum allgemeinen Wohl höher bewertet wird als derjenige der Lohnempfänger oder sogar Armen, ist Teil der konsolidierenden Logik der Neoliberalen. Die Reichen werden darin als jene Gesellschaftsmitglieder kodiert, die finanzielle ›Opfergaben‹ in Form von Steuerabgaben und Investitionstätigkeiten leisten, womit sie implizit zum moralisch wertvolleren Teil der Gesellschaft deklariert werden, ohne jedoch zu fragen, woher denn genau dieser Reichtum kommt. Der Rest ist dann im moralischen Register dieser Gemeinwohlrhetorik mit dem permanenten Verdacht behaftet, bloss von diesem Gemeinwohl zu zehren, ohne hierfür etwas zu leisten. Damit können die herrschenden Klassen die Illusion aufrechterhalten, dass ihre Forderungen nach Steuersenkungen, Privatisierungen und Beschneidungen des Arbeitsrechts bloss im Namen des Gemeinwohls erfolgen, was nicht nur ihre Selbstachtung, sondern vor allem ihre Macht stützt. Das Problem mit diesem Begriff ist somit, dass er partikular vereinnahmt werden und so eine bestimmte gesellschaftliche Position als die tonangebende und allgemeine plausibilisieren und damit auch entsprechende Sedimentierungen in der politischen Kultur herbeiführen kann, die diese Rhetorik stützen und mit Konsens tragen. »Get rich or die tryin« entpuppt sich damit zum handlungsleitenden Prinzip einer Gesellschaft, deren Gemeinwohlüberzeugung mit den Interessen der obersten Einkommensschicht übersetzt wird und deren Lebensstil und Wohlstand als für alle erreichbar 78 | B ELL , DANIEL . The Cultural Contradictions of Capitalism. New York: Basic Books 1976. S. 248f. 79 | Ibid. S. 245.
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deklariert wird, wenn nur die staatlichen Eingriffe in die Marktsphäre und die steuerlichen Belastungen für die Reichen eingedämmt werden. Damit gehen nicht nur Überzeugungen verloren, die das individuelle Interesse transzendieren, auch Fragen nach Selbstbestimmung und freier Lebenswahl werden nur noch im Register der finanziellen Kaufkraft beantwortet. Mit dem Aufkommen eines autoritären Kapitalismus also, der im Namen der Standortkonkurrenz staatliche Politiken auf die Privilegierung des Kapitals und derjenigen, die dieses besitzen, ausrichtet, entwickelt sich ein moralischer Diskurs, der einige wenige als wertvoller für das allgemeine Wohl taxiert, während er andere diskreditiert. Dass hierbei das demokratische Potential einer Gesellschaft korrodiert, während gleichzeitig demokratische Konsensbildung über einen Diskurs der Bedrohung generiert wird, sind konstitutive Elemente dieser kapitalfreundlichen neoliberalen Politiken und Thema des folgenden Kapitels.
4.4 R EGIEREN AUF K OSTEN A NDERER Im Zentrum dieses Kapitels steht die Frage, wie dieser destruktive autoritäre Kapitalismus dennoch eine ›cohabitation‹ mit demokratischen Regierungsformen eingehen kann, ohne sein ideologisches Gerüst aufgeben zu müssen. Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, eine Analyse zu verfolgen, die gleichzeitig auch den demokratieentleerenden und latent xenophoben Zusammenhang zwischen autoritärem Kapitalismus und einer bestimmten Konzeption von Demokratie spiegelt. Die These, der nachgegangen werden soll, besagt, dass dieser ›neue‹ Kapitalismus dank seines ideologischen Fundaments und seiner alternativlosen Umsetzung durch die politischen Eliten seine demokratische Legitimation über ein ›Regieren auf Kosten Anderer‹ auf bieten kann, das sowohl öffentlichen Hochglanz für die regierenden Eliten erzeugt als auch über das Thema ›Sicherheit‹ den illiberalen Kern seines ideologischen Gerüsts offenbart. Das ›Regieren auf Kosten Anderer‹ wird verständlich, wenn man die weitreichenden Folgen reflektiert, die sich aus der ökonomisch unterfütterten politischen Diskussion um Standortvorteile und Standortsicherung zeigen. Standortvorteile sollen nämlich durch die Senkung von Lohnnebenkosten, Lockerung von Kündigungsfristen, Ausbreitung von Niedriglohnsektoren etc. gesichert werden, also durch eine nachlassende integrative Wohlfahrtspolitik. Neoliberale Apologeten weisen dieses Argument jedoch zurück, indem sie sagen, dass in den OECD-Ländern der Finanzetat für den Wohlfahrtsetat nicht wesentlich oder gar nicht verringert wurde und dieser Umstand somit gegen die These eines Politikwechsels spricht. Das Argument ist aber nicht stichhaltig, denn es wird nicht genügend differenziert berücksichtigt, wo und gegen wen gekürzt worden ist, oder welcher neue Bedarf insbesondere aufgrund von Arbeitslosigkeit und Prekarisierung entstanden ist. Deswegen ist es wichtig, Wohlfahrtspolitik als eine integrative Politik zu begreifen, damit einerseits klar angezeigt werden kann, dass diese Politik mittels der Zähmung der
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kapitalistischen Dynamik den Arbeitsmarkt als existenz- und zukunftssichernde Integrationssphäre für die gesamte Gesellschaft begreift, und andererseits eine analytische Unterscheidung ermöglicht wird zwischen dem so verstandenen integrativen Aspekt von Wohlfahrt, der auf Verteilungsgerechtigkeit beruht, und dem neoliberalen Kontroll- und Sicherheitsaspekt von aktivierender ›Sozialpolitik‹. Mit der Schrumpfung des integrativen Wohlfahrtsapparates erhöhen sich sowohl die sozialen Risiken der individuellen Statussicherung als auch die sozialen Desintegrationserscheinungen von Teilgruppen. Die sich daraus ergebenden sozialen Folgen sollen nun von einer Politik der Standortsicherung beherrscht werden. Zu diesen Folgen gehören nicht nur eine grösser werdende Anzahl von Überzähligen, von Menschen also, die aus dem produktiven Kreislauf gefallen sind und, da sie keinen Anschluss mehr finden, nur noch Kosten verursachen, sondern auch kriminelles oder gewalttätiges Verhalten. Die nationale Politik zur Herstellung von Attraktivität für das international flottierende Kapital hat somit ein Janusgesicht. Während das eine Gesicht durch die Zusicherung von Standortvorteilen internationale Anleger und Investoren anlacht und mit ihnen flirtet, richtet das andere Gesicht seinen grimmigen und spähenden Blick nach Innen, um die Störfaktoren eruieren und stilllegen zu können. Diese symbiotische Doppelpolitik erfordert jedoch nicht nur das Verlangen nach Sicherheit im öffentlichen Raum, sondern sie muss auch in der Logik der ökonomischen Interessen dafür Sorge tragen, dass der Standort nicht durch Unsicherheit beschädigt wird. Dies würde nämlich mit der ›Selektionsmacht‹ des Kapitals für Standortentscheidungen nicht kompatibel sein. Während einerseits also die neoliberale Globalisierung einen Begriff des Kapitals generiert hat, der nicht mehr auf der Logik einer national begrenzten Allokation beruht, sondern vielmehr der ›irrationalen Rationalität‹ des hindernisfreien Weges folgt und sich dort platziert, wo ihm die besten Bedingungen geboten werden, sind die nationalen Politiken, entkoppelt von der Macht über das Fliessen des Kapitals, zunehmend darauf bedacht, im Standortwettbewerb zu bestehen und innerhalb der eigenen Grenzen die politische Legitimation primär durch Sicherheitspolitiken sowie sekundär durch Kontroll- und Anreizmechanismen seiner Bürger zu stabilisieren. In dieser Konstellation, in welcher das lokale Kapital nicht mehr durch politische Überlegungen und Interventionen gebunden werden kann, bleibt der primäre Bereich der politischen Aktivität im Feld des Sozialen gefangen. Auf diesem kulturell fragmentierten Feld wird der Überzählige, der Fremde oder der je nach politischem Bedarf verschieden konnotierte Andere zu einer machtvollen Kategorie der politischen Intervention. Das Wiederaufflackern rechtspopulistischer Tendenzen und Semantiken in der westlichen Welt lässt sich ohne die Thematisierung des globalen neoliberalen Siegeszuges, der eine virulente Trennung zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung produziert, nicht in seiner ganzen Komplexität begreifen. Der Rückzug des integrativen Wohlfahrtsstaates auf der einen Seiten sowie auf der anderen Seite die Zunahme einer politischen
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Regierungstätigkeit, die sich zunehmend auf eine Kultivierung des Marktes und seiner Prinzipien beschränkt, bringt unweigerlich eine Menschenmasse hervor, die in den Worten Zygmunt Baumans »Abfall«80 oder die gemäss Heinz Bude die neue Kategorie der »Überflüssigen«81 darstellt. Aber nicht nur das; die unheilvollen politischen und sozialen Strategien und Techniken des Regierens, die die neoliberale Ökonomie forciert hat, reaktivieren neben Politiken des Ausschlusses auch Mythen nationaler geschlossener Identitäten, die unweigerlich auf ein konstitutives Aussen zurückgreifen müssen, das vom differenten Anderen bevölkert wird, und die überdies einer exklusivistischen Politik der Differenz den Vorrang geben. In dieser Neuordnung des Sozialen gewinnt der differente Andere eine ihm zugewiesene politische Relevanz. Nicht nur ist er eine Bedrohung für die Arbeitsplätze der Einheimischen geblieben, sondern – und das ist die wichtigere Komponente – er ist überdies zum primären negativen Identifikationsmerkmal einer nationalen Identität geworden, die dem einheimischen Verlierer die Illusion einer biographischen Kohärenz vermittelt, die schon weithin von den Umstellungen und nationalen Entbindungen der globalen Ökonomie zerstört wurde. Wichtig ist an dieser Stelle, auf die Dominanz der Kontrollpolitik hinzuweisen. Diese hat nämlich die Aufgabe, innergesellschaftliche Stabilität für die Wettbewerbs- und Standortpolitik zu sichern, was sie nur auf Kosten der nachlassenden Verteilungspolitik bewerkstelligen kann. Die Abnahme der Kontrolle wirtschaftlicher Vorgänge als Kennzeichen der Globalisierung und des Standortwettkampfes geht also einher mit der Zunahme von Kontrolle im gesellschaftlichen Bereich. Anders gesagt: die Neoliberalisierung im wirtschaftlichen Bereich stärkt die Starken und bürdet den Schwachen eine Entliberalisierung im gesellschaftlichen Bereich auf. »Der Polizeistaat kommt über die Arbeitslosigkeit«, so Ralf Dahrendorf 82, der damit sagen wollte, dass nachlassende individuelle Systemintegration zugleich neue und verschärfte Kontrollpolitik nach sich zieht. Für diese Vorgänge lassen sich zahlreiche Indizien finden. So soll beispielsweise mit dem ›Null-Toleranz‹-Ansatz in den Polizeistrategien die öffentliche Sichtbarkeit von Desintegration, insbesondere in den segregierten Vierteln ausserhalb der keimfreien und auf Hochglanz polierten Innenstädten, über autoritäre und teils gewaltsame Kontrollpolitik in Grenzen gehalten werden. Aber auch die Verschärfungen des Ausländer- und Asylrechts weist auf eine Kontrollpolitik hin, die Wohlverhalten nicht mehr über angemessene Integrationsangebote, sondern mittels drohender Repression und Abschiebung erzeugen will. Zudem ist Loic
80 | Vgl. B AUMAN, Z YGMUNT. Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg 2005. 81 | Vgl. B UDE, H EINZ . W ILLISCH, A NDREAS (Hg.). Exklusion. Die Debatte über die ›Überflüssigen‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 82 | R ALF DAHRENDORF in einem Interview. In: Frankfurter Rundschau. Nr. 78. 1996. S. 7.
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Wacquants Wendung »vom wohltätigen Staat zum strafenden Staat«83 paradigmatisch, der damit auf die Verschärfung der Kontrolldichte bei Sozialhilfeempfängern und auf ihre diskursive Kriminalisierung hinweisen möchte. Letztlich, aber nicht abschliessend können in diesem Zusammenhang die Vervielfachung privater Sicherheitsdienste und -unternehmen sowie die Wohlstandszitadellen der sich ausbreitenden ›gated communities‹, in welchen diese Sicherheitsfirmen neben anderen Schauplätzen84, an denen sie gefragt sind, ihre Dienste anbieten, oder auch die Videoüberwachung öffentlicher Räume genannt werden – Instrumente also, die eine repressive Kontrollpolitik anzeigen. Doch die Frage, wie diese Kontroll- und Sicherheitspolitik in demokratisch konfigurierten Staaten durchgesetzt werden kann, bleibt weiterhin offen. Zur Beantwortung dieser Frage muss der Vermarktungsaspekt dieser neuen Politik berücksichtigt werden. Die Logik des Hochglanzmagazins, die dieser Politik zugrunde liegt, verfolgt zwei zentrale Ziele. Analog zu einem Hochglanzmagazin zielt sie einerseits auf die Produktion einer hohen Dichte an Aufmerksamkeit – und somit an Konsumbereitschaft – in der Öffentlichkeit und andererseits auf die unmittelbare Befriedigung der Wünsche ihrer Konsumenten, also auf Benutzerfreundlichkeit. Hierfür muss sie mit Symbolen arbeiten, die schnell ins Bewusstsein der Ansprechpersonen fliessen. Dies hat zwei Gründe; nicht nur ist Politik angesichts der angeblich alternativlosen neoliberalen Globalisierung auf eine kurze Reaktionszeit gegenüber der globalen Markt- und Standortdiktate angewiesen, sie muss auch demokratische Legitimation innerhalb dieser Zeitspanne organisieren. Konkret bedeutet dies, dass sich die Politik nicht mehr auf einen langwierigen Austausch von Meinungen und Ursachenanalysen über die anstehenden Probleme verlassen kann, will sie nicht den markt- und investitionsrelevanten Zug verpassen. Hier zeigt sich auch das, was Jürgen Habermas »Demokratieermässigung«85 nennt: die Neigung seitens politischer Eliten, die komplizierten und deshalb auch zum Teil langwierigen Entscheidungsprozesse im Namen globaler ökonomischer Sachzwänge abkürzen zu wollen. Dennoch braucht eine solche Politik, um Massnahmen durchsetzen und weiterhin den Anschein von Demokratie wahren zu können, die legitimatorische Basis der politischen Repräsentation. Um diese herzustellen, müssen sich Parteien als Marken 83 | WACQUANT, L OIC. Vom wohltätigen zum strafenden Staat. Über den politischen Umgang mit dem Elend in Amerika. In: Leviathan. I/1997. S. 50-66. 84 | Einen guten Einblick zum Thema »Privatisierung von Sicherheitsdiensten«, ihrer Tätigkeitsfelder und dem zugrundeliegenden ökonomischen Prinzip des Outsourcings bieten: L ES J OHNSTON . C LIFFORD S HEARING . Governing Security. Explorations in Policing and Justice. London. New York: Routledge 2003. H ERFRIED M ÜNKLER . Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004. P ETER W. S INGER . Die Kriegs-AGs. Über den Aufstieg der privaten Militärfirmen. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2006. 85 | H ABERMAS, J ÜRGEN . Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik. In: Merkur. 11/1982. S. 1047-1061.
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verkaufen, das heisst sie müssen in den Köpfen der Leute präsent sein, aber nicht aufgrund einer intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte, den programmatischen Inhalten und den Qualitäten des ›Produkts‹, sondern als vergoldete Marke. In der Werbesprache bedeutet Vergoldung die am Grundprodukt vorgenommenen Veränderungen, die vor allem auf eine privilegierte Wahrnehmung zielen. Gerade die Werbung ist das geeignete Instrument, um diese Vergoldung herzustellen. Sie vergoldet, indem sie aus zwei Produkten mit denselben Grundausstattungen durch ein Narrativ des wertvollen Unterschiedes einzigartige Marken macht. Dieser Unterschied wird auch zur entscheidenden Voraussetzung für den Profit. Was beim Verbraucher also geweckt werden soll, ist nicht eine Identifikation mit der Sache selbst, sondern mit der Marke. Diese soll zudem wichtiger erscheinen als die Sache, die sie symbolisch verkleidet. Die Politik im neoliberalen Zeitalter funktioniert nach demselben Prinzip wie die Vermarktung von Konsumgütern. Entsprechend bewegt sich politisches Verhalten auch im logischen Rahmen des Konsums. Vielleicht ist uns diese Übereinstimmung inzwischen so vertraut geworden, dass wir die Folgen gar nicht mehr wahrnehmen. So verdeckt etwa das obsessive Interesse der Presse und der Öffentlichkeit an individuellen Charakterzügen von Politikern nicht nur die Realität der Konsensplattform zwischen Opposition und Regierungsmehrheit, sondern induziert durch den von ihr versprühten Sensationsduft, der wiederum kurzfristig hohe Aufmerksamkeit zu erwecken vermag, auch eine inhaltsleere und unkritische Diskussionskultur in der Öffentlichkeit, der wir alle mehr oder weniger ausgeliefert sind. Das Italien Berlusconis mit einer Öffentlichkeit, die medial mit erotischen Eskapaden des Cavalliere unterhalten wird, während das Land weiterhin eine der höchsten Raten an Arbeitslosigkeit und Prekariat in Europa aufweist, ist nur ein Beispiel unter vielen. Angesichts solcher vermarktungsstrategisch infizierter Strukturen der Öffentlichkeit konzentriert sich die Kommunikation und Profilierung politischer Parteien auf die Überbetonung von Symbolen mittels ›word bits‹, sowohl um die eigene Vorzüglichkeit gegenüber anderen Parteien, die letztlich aber dieselbe Politik betreiben, als auch, um gegenüber der eigenen ›Konsumentenschaft‹ angebliche Probleme und Gefahren höchster Stufe für die Gesellschaft in einer symbolischen Verkleidung zu thematisieren. Die bedeutendste Form der Vergoldung in der modernen Politik besteht in der Praxis, Tatsachen in einen anderen Kontext zu stellen. So lässt sich beispielsweise die Einwanderung in einen anderen Kontext stellen und dann gewinnbringend für die diskursleitenden politischen Eliten vermarkten. Das erfolgsversprechende Narrativ der Unterscheidung, das gemäss dem Prinzip der Vergoldung notwendig ist, um Profit – in diesem Fall politischen Wahlerfolg – generieren zu können, positioniert sich in diesem Fall um die Differenz zwischen ›Einheimischen‹ und ›Ausländern‹. Politisches Kapital lässt sich aus der Anwesenheit dieser fremden ›Anderen‹, die für die jeweiligen Volkswirtschaften als Arbeitskräfte und Steuerzahler unverzichtbar sind, schlagen, indem man sie in eine Symbolik der Bedrohung verpackt. Zumeist funktioniert diese Semantik des Ausschlusses
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über den Topos der ›Wir‹-Identität. Die Ausländer werden hierbei nicht nur in dieselbe kulturelle Kategorie wie die unproduktiven Asylsuchenden eingeordnet und somit als Bedrohung für eine wie auch immer definierte nationale Eigenart klassifiziert, sondern auch als hinterhältige Kolonisatoren von unten definiert, die nicht nur die Arbeitsplätze der Einheimischen, sondern auch den Wohlfahrtsstaat durch ihr Schmarotzertum bedrohen. Paradox an letzterer Klassifizierung ist, dass die einheimischen Arbeitsplätze de facto nicht von den anwesenden Ausländern verringert werden, sondern von der Verschiebung des Investitionskapitals ins Ausland und der damit einhergehenden Vernichtung von Arbeitsplätzen im eigenen Land. Vielmehr wären es also die Ausländer, die im Ausland leben und dort in den neueröffneten, weil mit billigeren Produktionskosten lockenden Arbeitsstätten zumeist ohne jegliche arbeitsrechtliche Schutzmassnahmen tätig sind, die die einheimischen Arbeitsplätze vernichten.86 Diese Ängste sind also unsinnig, wenn sie auf einheimische Arbeitskräfte gerichtet sind. Aber sie sind insofern relevant, als sie den individuellen Kontrollverlust symptomatisieren. Dies ist ein Kontrollverlust, der nach Linderung sucht und diese im politischen ›Meinungskarussell‹ auch findet. Das Aufflackern rechtpopulistischer Diskurse in der westlichen Welt bildet die politisch-praktische Spiegelfläche dieser Angstökonomie. Dabei ist jedoch zu betonen, dass rechtspopulistische Diskurse nicht mit rechtsextremen Parteien gleichzusetzen sind. Vielmehr haben letztere auf Kosten der sogenannten konservativen Volksparteien, deren Taktiken, wie das untenstehende Beispiel verdeutlichen soll, auch ›sozialdemokratische‹ Parteien übernommen haben, an Zulauf verloren. Der Grund hierfür liegt darin, dass die repressiven Forderungen der extremen Rechten von den konservativen rechtsbürgerlichen Parteien domestiziert und salonfähig gemacht wurden87 – nicht zuletzt im Namen der Standortsicherung. Offensichtlich lässt sich also über die symbolische Projektionsfläche ›einheimischer Ausländer‹ eine ausreichend hohes Mass an Angst produzieren, die nicht nur ein greif bares Ziel darstellt, sondern auch Politiken zur Therapierung dieser Ängste ermöglicht, die überdies medial angeheizt werden. Ein gutes Beispiel hierfür sowie für das Zusammenspiel von Angstökonomie, politischem Profit und medialer Macht sind die Protest- und Streikaktionen von 86 | Vielsagende Beispiele hierfür sind auf industrieller Ebene die Verlagerung der westlichen Produktionsstätten nach China oder Südostasien sowie für den tertiären Sektor die indischen Callcenters oder auch Software-Unternehmen, die ausgelagerte Dienste für Firmen übernehmen, die ihren Sitz weiterhin in den reichen Wohlstandsländern haben. Siehe hierfür bspw.: S ENNET T, R ICHARD. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 2. Aufl. Berlin: BvT 2007. Vor allem Kapitel 2: »Talent und das Gespenst der Nutzlosigkeit«, S. 67-103. 87 | Siehe hierzu: H EITMEYER, W ILHELM . L OCH, D IETMAR . (Hg.). Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Insbesondere die Aufsätze von Klaus Dörre, Hans-Georg Betz, Helmuth Berking und Wilhelm Heitmeyer.
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ein paar tausend Bauarbeitern, die Anfang 2009 in ganz Grossbritannien auf Baustellen, Ölraffinerien und Kraftwerken in den Ausstand getreten waren. Ihren medialen Glanz erhielten diese Proteste durch Bilder, auf denen man Demonstranten sah, die Plakate mit der Aufschrift »British jobs for British workers« trugen. Die politischen Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Im Le Monde vom 4. Februar 2009 beklagte der portugiesische Aussenminister Luis Amado, dass man »eine solche Diskriminierung nicht hinnehmen kann«. Zudem mahnte er, dass »die Regierungen das Abdriften in Protektionismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus verhindern müssen, denn das könnte uns in eine noch schwerere Krise hineinziehen.« Doch ist zu fragen, ob es bei diesen Protesten wirklich bloss um Xenophobie ging. Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich von der oberflächlichen Berichterstattung lösen und die Zusammenhänge aus einer näheren Perspektive betrachten. Die meisten Berichte stellten nämlich die tatsächlichen Ereignisse irreführend und falsch dar, und zudem schien es so, als ob die Presse durch ihre Darstellung der Wirtschaftskrise und ihrer Folgen die europaweit aufkommenden fremden- und migrantenfeindlichen Gefühle eher anheizte, als sie zu entschärfen. Seumas Milne, ein Journalist des Guardian, hat sich die Mühe gemacht, die damaligen Begebenheiten aus einer mikroskopischen Sicht zu betrachten.88 Seine Untersuchungen zeigen, dass der Protest nicht gegen ausländische Arbeiter gerichtet war, sondern gegen Regierung und Unternehmer. Der Streit entbrannte nämlich im Zusammenhang mit dem Bau einer 200 Millionen Pfund teuren Entschwefelungsanlage für Ölraffinerien im ostenglischen Lindsay, die dem Energieriesen Total gehört. Hierfür wurden Unteraufträge an Subunternehmen vergeben – insbesondere die in Sizilien ansässige ›Irem‹ konnte einen Grossteil dieser Aufträge übernehmen –, die bevorzugt nicht gewerkschaftlich organisierte italienische und portugiesische Arbeitskräfte einsetzten. Zudem waren diese Arbeiter in Herbergsschiffen untergebracht, so dass sie von Beginn an auch räumlich von ihren britischen Kollegen getrennt wurden. Solche baulichen Grossprojekte sind in ganz Grossbritannien verteilt und alle funktionieren nach demselben Prinzip: Subunternehmen übernehmen einen Grossteil der Auftragsarbeit und fliegen ausländische arbeitsrechtlich ungeschützte Arbeiter ein. Die Proteste in Lindsay weiteten sich im ganzen Land aus, wo sie wilde Streiks auslösten, so dass binnen weniger Tage mehr als zwanzig Kraftwerke und Ölraffinerien in ganz Grossbritannien lahmgelegt wurden. Nun ist es wichtig zu wissen, dass gemäss den gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen, die während der Thatcher-Ära durchgesetzt und von New Labour beibehalten wurden, all diese Aktionen illegal waren. Das Gesetz verbietet nämlich Solidaritätsstreiks. Die Situation hatte dadurch etwas Schizophrenes an sich. Einerseits wagten es die Unternehmen aufgrund des hohen Organisationsgrades der Arbeiter und der öffentlichkeitswirksamen 88 | Vgl. M ILNE, S EUMAS. »Solidarität in Lindsey. Die britischen Medien, die Bauarbeiter und die Fremden.« In: Le Monde diplomatique. Juni 2009. S. 10.
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Aktionen nicht, gegen die Gewerkschaften, die hinter den Arbeitsniederlegungen standen, gerichtlich vorzugehen. Andererseits konnten ebendiese Gewerkschaften auch nicht offen als Spitze dieser Streikbewegung auftreten, ohne Sanktionen zu riskieren. In diesem Vakuum schwenkten einige Streikende Plakate mit dem Slogan »British jobs for british workers«, was überdies auch eine Anspielung auf den Regierungschef Gordon Brown war, welcher sich diesen Spruch der extremen Rechten auf dem Labour-Parteitag von 2007 zynischerweise zu eigen gemacht hatte. Die Plakate verschwanden nach einigen Tagen und wurden durch solche ersetzt, die auf Italienisch die italienischen Kollegen zum Mitstreiken aufforderten. Ziel der Streikaktionen war eine rechtliche Grundlage, die alle Arbeiter, einheimische wie ausländische, gleich behandelt, so dass diese von den Unternehmen nicht gegeneinander ausgespielt werden konnten. Den Streikenden ging es also nicht um eine verschärfte Trennung zwischen britischen und nicht-britischen Arbeitern, sondern um bessere Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter. Es ging also nicht um Fragen der Herkunft, Rasse oder Zuwanderung, sondern um eine Klassenfrage, wie Derek Simpson, Vorsitzender der grössten britischen Gewerkschaft ›Unite‹, den Konflikt auf den Punkt brachte. In den Köpfen der britischen Meinungsmacher hatte sich aber das Vorurteil festgesetzt, dass die britische Arbeiterklasse nicht nur eine akute protektionistische Gefahr darstelle, sondern überdies auch von einem latenten Rassismus geprägt sei. Gemäss Milne entlarvte sich dieses Vorurteil nicht nur mit der medialen Emporstilisierung erwähnter Plakate, sondern auch durch eine gezielte und gefilterte Darstellung der Streikparolen. Die Abendnachrichten von BBC zeigten einen Streikposten, der über italienische und portugiesische Arbeiter sagte: »We can’t work alongside of them« (wir können nicht Seite an Seite mit denen arbeiten), was offensichtlich den Zusammenhang mit dem fremdenfeindlichen Potential der Arbeiterschaft medial inszenieren sollte. Der zweite Teil des Satzes wurde aber weggeschnitten und nicht ausgestrahlt. Dieser besagte: »Wir werden von ihnen getrennt gehalten«. Die Aussage der Streikenden war somit auf den Kopf gestellt, beklagt wurde nämlich nicht eine kulturelle Inkompatibilität, sondern die gezielte räumliche Trennung, die aus Sicht der Unternehmen keine Solidarität und keinen Austausch zwischen britischen und nicht-britischen Arbeitern ermöglichen sollte. Zudem versuchten Reporter von Boulevardzeitungen, die Streikposten dazu zu bewegen, mit dem ›Union Jack‹ abgelichtet zu werden. Der Streit in Lindsay endete letztlich mit einer Vereinbarung, die die Einflusssphäre der lokalen Gewerkschaftsvertreter stärkte, britische Subunternehmen mit solchen aus anderen Länder gleichstellte, wenn es um die Verteilung von Aufträgen ging, und die die Abschottung von ausländischen Arbeitern beendete. Der Streik hat also die Spannungen zwischen britischen und nicht-britischen Arbeitern nicht verschärft, sondern vielmehr dazu beigetragen, dass sie nun kommunizieren und sich so besser gegen die Unternehmen organisieren konnten. Während also der Streik de facto einige Siege für die Arbeiterschaft einfahren konnte,
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blieb der mediale Nachhall der Fremdenfeindlichkeit und des Protektionismus an diesem Arbeiterkampf haften. Diese diskursive Distorsion der Realität diente dabei nicht nur der Aufmerksamkeitsökonomie der Medien, sondern auch derjenigen der Politiker. Nicht nur zersetzen diese auf schnellen Profit ausgerichteten Informationsindustrien also den schon dünnen kritischen Sockel der Öffentlichkeit, sondern sie können aufgrund der reflexartig abgespulten Diskurse, die sie sehr schnell wieder zur Hand haben, auch die Gefahr herauf beschwören, dass sich ihre Prophezeiungen auch wirklich bewahrheiten. Aber nicht nur die ›einheimischen Ausländer‹ figurieren als privilegierte symbolische Fläche der medialen Aufmerksamkeitsökonomie, auch die Kategorie der ›Überflüssigen‹, in der die sogenannten Gastarbeiter eine nicht unwesentliche Grösse darstellen, bilden eine robuste Angriffsfläche zur medialen Inszenierung von politischer Effizienz. In der sozialwissenschaftlichen Debatte hat sich der Begriff der ›Überflüssigen‹ spätestens seit den neunziger Jahren, die im Zeichen der New Economy standen, längst eingebürgert und ist zu einer selbstverständlichen Redeweise geworden. Nicht nur wurden die Überflüssigen als »transversale Kategorie«89 definiert, sondern auch auf der anderen Seite des allseits geforderten und gefeierten »unternehmerischen Selbst« positioniert90, als Menschen, die einem »negativen Individualismus«91 anheimfallen, als Angehörige einer »geprellten Generation«92 oder als »radikale Verlierer«93 bezeichnet. Für den weiteren Verlauf der Untersuchungen ist es also wichtig, diesem Begriff eine Kontur zu geben, damit er auch im Zusammenhang mit seiner politischen Ausschlachtung gezeigt werden kann. Was die Überflüssigen auszeichnet, ist in erster Linie das Betroffensein von kontingenten Ausschlussmechanismen, die politisch durchgesetzt werden. Die Überflüssigen sind Menschen, die direkt oder indirekt in die Marginalisierung getrieben werden – direkt etwa durch eine Politik der Nicht-Anerkennung, wie sie den unzähligen ›Sans-Papiers‹ in den OECD-Ländern zugemutet wird. Diese 89 | B UDE, H EINZ . Die Überflüssigen als transversale Kategorie. In: P ETER B ERGER . M ICHAEL V ESTER . (Hg.). Alte Ungleichheiten – neue Spaltungen. Opladen: Leske + Budrich 1998. S. 363-382. 90 | Siehe hierzu neben B RÖCKLING, U LRICH. Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007., auch B OLTANSKI, L UC. C HIAPELLO, È VE . Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK 2003., oder L INK, J ÜRGEN . Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 91 | C ASTEL, R OBERT. Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK 2000. S. 401ff. 92 | B OURDIEU, P IERRE . Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. S. 241ff. 93 | E NZENSBERGER, H ANS M AGNUS. Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.
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Menschen geraten in die Überflüssigkeit, weil sie in den jeweiligen Einwanderungsgesellschaften untertauchen müssen. Ihre Marginalisierung, also dass sie über die Grenze der Legalität geschoben werden, findet innerhalb einer politisch durchgesetzten Aufenthaltslegislatur statt, die gewissen Menschen das Recht auf Sicht- und Artikulierbarkeit ermöglicht und anderen nicht. Des Weiteren sind diese Menschen aufgrund ihrer Unsichtbarkeit dazu verdammt, sich im informellen Arbeitssektor ein Überleben zu sichern, das immer nur provisorisch ist. Diese Formen informeller Beschäftigung sind definitionsgemäss durch das Fehlen von formellen Arbeitsverträgen, von Arbeitsrechten, Arbeitsschutzbestimmungen und kollektiver Verhandlungsmacht gekennzeichnet. Wer also die Schutzorgane der bürgerlichen Gesellschaft fürchten muss, ist auf Unsichtbarkeit angewiesen und muss somit auf die kleinteiligen Ausbeutungsverhältnisse zugreifen, die gerade in solchen Bereichen Tätigkeitsräume öffnen, die durch einfache Technologie, niedrige Kapitalinvestition und durch ein Übermass von Handarbeit charakterisiert sind. Neben dem dunklen Kapitel der »Haushaltssklavinnen«94 zählen auch die ungesicherte und unterbezahlte Beschäftigung im Baugewerbe oder als Erntehilfskraft sowie der halblegale Ausbeutungsbereich der Prostitution und der illegale des Drogenhandels zu den Tätigkeitsfeldern dieses informellen Proletariats. Der marginalisierende und ent-sorgende Effekt an diesem informellen Arbeitssektor, der überdies nur dann öffentliche Empörung oder gar politische Massnahmen hervorruft, wenn diese Marginalisierten als symbolische Bedrohungsfläche zur Organisation von öffentlicher Aufmerksamkeit seitens der politischen Eliten verwendet werden, ist die Tatsache, dass ein Arbeitsunfall für diese Menschen vielfach ein tatsächliches und buchstäbliches Verschwinden bedeutet. Die sogenannten ›Illegalen‹ befinden sich somit in einer doppelten Zwickmühle. Solange sie gesund, kräftig, mobil, schön, willig und billig sind, können sie die Ausbeutung für sich ›ausbeuten‹. Werden sie krank, schwach, weniger schön oder Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit, verlieren sie die Eigenschaft der illegalen Nützlichkeit und versinken vollständig jenseits der Grenzen der Sichtbarkeit. Neben diese ›unsichtbar-sichtbaren‹ Überflüssigen gesellen sich auch die ›sichtbaren‹, aber politisch als unerwünscht thematisierten Individuen, die aus den gesellschaftlichen Normalitätsrastern hinausfallen und so an den Rändern der Gesellschaft marginalisiert werden. Ihr Überflüssigsein hat im Gegensatz zu den Sans-Papiers einen komplexeren Werdegang, wenn auch einen identischen logischen Kern. Diese Individuen gehören zu den Verlierern der Globalisierung. Ihre Fähigkeiten und Ausbildungen werden auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt, sei es, weil die für sie bestimmten Tätigkeiten ins Ausland verlegt wurden, sei es, weil sie angesichts der grossen und günstigeren Konkurrenz durch ausländische Arbeiter im Inland zu viel kosten. Die soziale Mobilität von Auf- und Abstieg erleben sie aus der Perspektive des runterfahrenden ›Fahrstuh94 | Vgl. B ALES, K EVIN . Die neue Sklaverei. München: Verlag Antje Kunstmann 2001.
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les‹95. Die individuellen Bestrebungen des Vorankommens und der Besserstellung erweisen sich für diese Individuen als Illusionen. Im Gegensatz zur Generation ihrer Eltern oder Grosseltern haben sie zwar mehr Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und somit auch grössere Chancen zur Realisierung einer Karriere, aber nur, wenn sie diese den kurzfristigen Erfordernissen der Marktsphäre angleichen. Wer zu spät kommt, den bestraft nicht das Leben, sondern der Markt. Entsprechend richten sie zwar den Verlauf ihrer Karriere nach den Erfordernissen des Marktes, der jedoch nach eigenen Launen belohnt oder schlichtweg ignoriert. Die Karriere ist also nicht mehr innerhalb eines ›stahlharten Gehäuses‹ schon vorprogrammiert und mit dem Versprechen auf eine zukünftig grösser werdende Belohnung angereichert, vielmehr ist sie mit dem scharfen Beigeschmack der Bedrohung versetzt. Der Begriff der Karriere, der das Versprechen von ›rationiertem‹ sukzessivem Statuserwerb und fortschreitender Selbstverwirklichung enthielt und im Sinne Karl Mannheims eine Form des stabilen Erfolgs96 definiert, ist zu einem Begriff umkodiert worden, bei welchem die Eigenschaften von Stabilität und Versprechen mit denjenigen des Risikos und der Unmittelbarkeit vertauscht wurden. Der Mechanismus der Karriere funktionierte also nach einem Prinzip der späteren Belohnung. Der heute erbrachte Vorschuss würde in einer erwartbaren Zukunft eingelöst werden. Der Glaube an diese ›spätere Belohnung‹ konnte aufgrund der gleichförmigen Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung während der Nachkriegszeit die Form eines Wissens um die Zukunft annehmen. Dies ermöglichte die stabile Planung des eigenen Lebens und verstärkte somit auch das Gefühl, die eigene Biographie selber schreiben zu können. Mit dem Ende der keynesianischen Periode ging nicht nur dieser Karrieremechanismus verloren, sondern auch der hierfür konstitutive »Traum immerwährender Prosperität«97 wurde nur noch von einer dünn besiedelten Schicht von Topmanagern und Investmentban95 | In Italien wurde der Begriff »scala mobile« während der keynesianischen Periode des Wohlfahrtsstaates verwendet, um die periodischen Wohlstandsverbesserungen der arbeitenden Massen und die damit einhergehenden Möglichkeiten eines Aufstiegs in der sozialen Hierarchie anzuzeigen. 96 | Karl Mannheim definierte »Karriere« folgendermassen: »Die Karriere ist dadurch charakterisiert, dass die in ihr erreichbaren a) Verfügungsgewalten (in Gestalt des Einkommens, des Gehalts), b) Wirkungschancen (Wirkungsbereich, Befehlsgewalt), c) soziales Prestige des Erfolges a priori rationiert und gestaffelt sind. Das Charakteristische der Karriere ist m.a.W., dass in ihr die Erfolgsgrössen a priori rationiert sind.« Siehe: M ANNHEIM, K ARL . Über das Wesen und die Bedeutung des wirtschaftlichen Erfolgsstrebens. Ein Beitrag zur Wirtschaftssoziologie. (1930) In: D ERS. Wissenssoziologie. 2. Auflage. Neuwied am Rhein. Berlin: Luchterhand 1970. S. 625-687. Hier S. 650. 97 | Zur kurzen Episode des keynesianischen Traums fortwährender und wohlstandsvermehrender Produktivität, siehe: BURKART, L UTZ . Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt a.M.: Campus 1984.
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kern auf den Finanzmärkten mit dem auf Kurzfristigkeit angelegten lukrativen Tausch von undurchschaubaren und hochriskanten Derivaten, die ihrerseits in die seriös anmutende Hülle von unriskanten Wertpapieren verpackt wurden, geträumt. Die neoliberale Ausrichtung von Politik und Markt hat also nicht nur die Kapitalflüsse beschleunigt und von nationalen Erwägungen befreit, sondern auch das ›stahlharte Gehäuse‹ niedergerissen. Es ist also richtig, dass im Zuge dieser ›Neoliberalisierung‹ grössere und kreativere Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sowohl für die Kapitalanlagemöglichkeiten als auch für die Arbeits-, Produktions- und Konsumtionssphäre entstanden sind. Doch dieser ›Kultur der Wahl‹ ist – durch die politische Durchsetzung der Marktorthodoxie – eine ›Kultur des Zufalls‹ endemisch an die Seite getreten. Der damit einhergehende Imperativ einer flexiblen Anpassung an die vom Markt generierten Zufälle hat das Individuum insofern dezentriert, als innerhalb dieser neuen und auf die Marktbedürfnisse ausgerichteten Investitions-, Arbeitsund Produktionssphäre nicht nur seine erbrachten Vorleistungen am Horizont versinken, seine Bildungsabschlüsse veralten sowie die stabilitätssichernden Renten- oder Arbeitslosenbeiträge gekürzt wurden, sondern auch Loyalität nunmehr als antiquiert erscheint. Richard Sennett hat diese Dezentrierung als »Korrosion des Charakters« definiert. Seiner Meinung nach arbeitet der ›neue Kapitalismus‹ mit einer Bewusstseinsprägung, die dem Einzelnen, will er in diesem neu kodierten Feld der Arbeit und der Produktion bestehen, den Zwang auferlegt, ein »nachgiebiges Ich, eine Collage aus Fragmenten, die sich ständig immer neuen Erfahrungen öffnet«,98 zu werden. Die Korrosion, die Zersetzung des Charakters, ist die Konsequenz und die Kondition optimaler Einstellung zum System der neoliberal durchsetzen Marktwirtschaft. Denn ›Charakter‹ braucht, wie Horaz bereits wusste, die reale Verbindung zur Welt – er ist davon abhängig und entsteht mit der Art, wie wir uns langfristig gesehen sozial und emotional verhalten. Der Charakter will von anderen gebraucht werden. Ob treu und konstant in Bezug zu unseren Idealen und Mitmenschen, verpflichtungsbereit und verantwortungsbewusst oder auch nicht, solche Loyalitäten kennzeichnen den Charakter eines Menschen und machen ihn für andere auch ›lesbar‹. Aber solche Loyalitäten zu entwickeln und damit einen lesbaren Charakter auszuformen, braucht Zeit und muss an langfristigen Zielen ausgerichtet werden, und genau das kann man sich im Regime einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Marktwirtschaft und -gesellschaft bloss um den Preis des Scheiterns leisten. In einer dynamischen Gesellschaft, die von den Imperativen des Marktes beherrscht ist, kann der zur Ausformung des Charakters notwendige Stillstand den sozialen Tod bedeuten. Man verpasst den angeb98 | S ENNET T, R ICHARD. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 3. Aufl. Berlin: BvT 2007. S. 182. (Englische Originalausgabe: »The Corrosion of character«. New York: W.W. Norton 1998)
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lich erfolgsversprechenden Zug und driftet dadurch in die Nutzlosigkeit. Aber auch wenn man den Zug erwischt, heisst es nicht, dass das Erfolgsversprechen sich auch über längere Zeit hält. Die Erfordernisse des neoliberal programmierten Marktes sind nicht im Voraus prognostizierbar, womit beim Einsteigen in diesen Zug auch immer die Furcht, letztlich doch den falschen Zug genommen zu haben, mitreist. Die Karriereschritte lassen sich also nicht mehr planen. Ein Informatiker, der eine langjährige Ausbildung absolviert mit der Hoffnung, bei seinem Arbeitseintritt weiterhin mit der grossen Nachfrage nach IT-Spezialisten konfrontiert zu werden, kann eine herbe Enttäuschung erfahren, auch wenn er nach gelungener Einstellung und nach einigen Dienstjahren aufgrund von Restrukturierungsprogrammen oder Auslagerung der Abteilung in Billiglohnländer seine Arbeit verliert. Dieser ›neue Kapitalismus‹, der sich autoritär über eine Semantik der Alternativlosigkeit den Weg in die Gesellschaft bahnt, produziert also soziale Bruchzonen, in denen weder die erbrachten Vorleistungen Anspruch auf Kontinuitätssicherung des Lebensstils gewähren noch so etwas wie gemeinschaftsfördernde Loyalitätsbeziehungen prosperieren können. Es sind diese Orte der undurchschaubaren Veränderungen, wo heute Flexibilität und unternehmerisches Denken gefordert wird und wo gerade dies angesichts einer unsicheren Zukunft schwerfällt. In diesen sozialen Bruchzonen geht ein relevanter Teil der Bevölkerung als ein zurückgebliebener Rest an Menschen verloren, Menschen also, die entweder dem Imperativ der Flexibilität nicht oder ungenügend nachkommen oder von den raschen Wandlungen der Markterfordernisse aus dem Erwerbsleben herauskatapultiert werden. Ihr Herausfallen aus den Mühlen des Arbeitsmarktes wird von einem Wohlfahrtsstaat neuen Typs99 aufgefangen, der gesellschaftlich brachliegende Arbeitskraft nicht mehr bloss verwalten und stillstellen, sondern sie für die dynamischen Arbeitsmärkte befähigen und aktivieren will. Natürlich lässt sich sagen, dass ein solcher Wohlfahrtstaat, weit davon entfernt – durch seine ›Jobcenters‹ und seine Prinzipien des ›New Public Managements‹ –, die Passivität zu dulden und Hilflosigkeit zu lehren, vielmehr die Eigenaktivität und Selbstverantwortung prämiert. Der perverse Effekt dieses neuen Wohlfahrtsstaates entpuppt sich aber bei einem zweiten und genaueren Blick. Die Programme der Aktivierung, die den Grundstein dieser neuen Sozialpolitik bilden, erzeugen unweigerlich eine Residualkategorie, einen Rest an Menschen, der sich trotz aller institutionellen Angebote nicht aktivieren lässt. Das sind die ›Überflüssigen‹ des neuen Wohlfahrtsstaates, die diskursiv als eine Kategorie von Menschen definiert werden, denen ohne schlechtes Gewissen nachgesagt werden kann, dass sie trotz aller Aktivierungsversuche entweder in 99 | Zum neuen Typ des Wohlfahrtsstaates und seiner Durchsetzung in allen OECDLändern siehe: E SPING -A NDERSEN, G ÖSTA . Why we need a New Welfare State. Oxford: Oxford University Press 2002., sowie G ILBERT, N EIL . Transformation of the Welfare State. The Silent Surrender of Public Responsibility. Oxford. New York: New York University Press 2002.
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den Arbeitsmarkt nicht reintegriert werden können oder sich vielmehr nicht reintegrieren lassen wollen. An dieser Stelle lässt die integrativ-aktivierende Kraft dieses neuen Wohlfahrtsstaates nach und mutiert zu einer strafenden und beschuldigenden Institution. Diejenigen, die aus den Netzten dieses AktivierungsApparates fallen, sind nicht nur Verlierer im Spiel des Arbeitsmarktes, sondern überflüssig für das Spiel insgesamt. Entsprechend wird dieser Teil der Bevölkerung, der erstens nicht beschäftigt werden kann und für den zweitens die Verteilungsressourcen knapp werden, von demjenigen Teil der Bevölkerung, der in Lohn und Brot steht, sehr schnell für entbehrlich gehalten. Dazu benötigt dieser Teil natürlich Rechtfertigungen, die es in bestimmten Vorstellungen von Devianz findet. Die Überflüssigen werden als defizitäre Exemplare, denen es entweder an der notwendigen geistigen Ausstattung oder an der unabdingbaren moralischen Festigkeit fehlt, diskursiv konstruiert und entsprechend an den Rändern der Gesellschaft marginalisiert. Sie werden verdächtigt, soziale Parasiten zu sein. Diese diskursive Konstruktion, die den Überflüssigen nicht nur das Gefühl vermittelt, eine Last für die Gesellschaft, sondern an dieser Situation auch selber Schuld zu sein – schliesslich haben ja alle Aktivierungsmühen nichts gefruchtet –, hat seinen Ursprung in der Ideologie und im Autoritarismus des ›neuen Kapitalismus‹. Solange der integrative Wohlfahrtstaat über genügend Ressourcen verfügte, um die Heerscharen der Dauerarbeitslosen zu versorgen, herrschte Ruhe, und die Öffentlichkeit kümmerte sich wenig um Sozialbetrüger. Mit dem neuen auf Effizienz, Kurzfristigkeit und Rentabilität ausgerichteten Typus von Wohlfahrtsstaat ändert sich diese Optik. Die Strukturierungsprogramme neoliberaler Regierungen zur Attraktivitätssteigerung des eigenen Standortes gingen nämlich zulasten der Steuereinnahmen. Mit einem attraktiveren, d.h. niedrigeren Steuersatz sollen nicht nur Investoren angelockt werden, sondern auch der aufgeblähte Staatsapparat soll durch weniger Steuereinnahmen verschlankt und auf Effizienz getrimmt werden. Entsprechend musste die Wohlfahrt den finanziellen Möglichkeiten aber auch den Marktbedürfnissen angepasst werden. Mit dem aktivierenden Wohlfahrtsstaat glaubten Regierungen, beide Fliegen auf einen Schlag zu fangen. De facto haben sie eine Klasse der Entbehrlichen produziert, die angesichts der Finanzierungslasten, die sie für den reduzierten Wohlfahrtsetat bedeuten, als öffentlichkeitswirksame Population entdeckt wurde, deren Defizite an Bildung, Zivilisiertheit und Motivation schlagend waren. Die Überflüssigen sind also nicht einfach die Arbeitslosen. Wohl ist jede(r) Überflüssige jemand ohne reguläre und gesicherte Arbeit, aber nicht jeder Arbeitslose gehört zu den Überflüssigen. Während Arbeitslosigkeit einen Mangel beschreibt, ist der Status des Überflüssigseins ein permanenter Normalzustand. Der Zustand der Nicht-Erwerbstätigkeit kennzeichnet einen momentanen abnormalen Zustand. Die temporale Eigenschaft dieses Zustandes hat nicht nur mit der wohlfahrtstaatlichen keynesiansichen ›Sollenskonzeption‹ eines Staates zu tun, dessen dringendste – weil dadurch auch andere sozio-ökonomische Proble-
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me lösende – Sorge diejenige der Vollbeschäftigung war, auch aus Sicht des neuen aktivierenden Wohlfahrtsstaates wird Nicht-Erwerbstätigkeit als ein Zustand begriffen, der schnell zu beheben ist. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Typen der Problematisierung von Arbeitslosigkeit liegt darin, dass sowohl das Phänomen der Arbeitslosigkeit als auch die Arbeitslosen selbst im neuen Typus des Wohlfahrtsstaates nicht nur anders konzipiert, sondern konstitutiv mit der Produktion von ›Überflüssigkeit‹ verbunden sind. Arbeitslosigkeit wird vom aktivierenden Wohlfahrtsstaat als »ein Phänomen verstanden, auf das – sowohl auf der makroökonomischen Ebene als auch auf der Ebene des sozialen Verhaltens der Arbeitslosen selbst – regulierend einzuwirken ist, indem man die Bemühungen der Betroffenen forciert, Arbeit zu finden, und sie verpflichtet, unablässig und aktiv nach einem Arbeitsplatz zu suchen und ihre beruflichen Qualifikationen zu verbessern.«100 Das allgemeine Problem der Arbeitslosigkeit wird somit unter dem Gesichtspunkt einer rundum herrschenden Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften neu formuliert und zumindest teilweise als Frage ihrer psychischen Verfassung, ihrer Neigung und Motivation betrachtet. Dies ist eine Betrachtungsweise, welche die diskursive Produktion und die gesellschaftliche Marginalisierung der Überflüssigen ermöglicht. Auf der anderen Seite wird der einzelne Verkäufer von Arbeitskraft als Verbündeter des ökonomischen Erfolgs angesprochen, indem man dafür sorgt, dass er in das Management, die Präsentation, die Weiterentwicklung und Stärkung des eigenen ökonomischen Kapitals im Sinne eines persönlichen Vermögens und lebenslangen Projekts investiert, indem er also zu einem ›Unternehmer seiner selbst‹ wird. Wer diese Mutation auch nach mehrmaligem Versuch nicht vollbringt, gerät nicht nur aus dem Arbeitskreislauf, sondern wird vom aktivierenden Wohlfahrtsstaat auch neu kodiert. Dieser Überflüssige ist jemand, der für den schlankgetrimmten Wohlfahrtsstaat als finanzielles Problem gilt, da er keine Produktivität oder ökonomischen Gewinn mehr ausstösst, sondern nur noch Kosten verursacht. Die gängige von der rechten wie von der linken Seite propagierte Antwort auf die Frage, was man mit solchen Leuten macht, lautet: »Bildung, Bildung, Bildung!« Dahinter steckt aber bei genauer Betrachtung eine bestimmte Erziehungsphantasie, die nicht nur vor entsprechenden Sanktionen zurückschreckt – also die endgültige Ent-Sorgung der Nicht-wieder-Integrierbaren oder -Integrierwilligen –, sondern auch einen regelrechten Markt von Bildungsangeboten generiert. Innerhalb dieser Fortbildungsindustrie wird Arbeitslosigkeit erneut zu einem Problem gemacht, das auf einem Mangel an persönlichen und auf dem Markt vermittelbaren Fähigkeiten der Arbeitslosen selbst beruhe und das mit einer 100 | R OSE, N IKOLAS. Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens. In: U LRICH B RÖCKLING/S USANNE K RASMANN/THOMAS L EMKE (Hg.). Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 72-109. Hier S. 92f.
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Vielzahl von privat organisierten und um öffentliche Aufträge und Zuschüsse konkurrierenden Weiterbildungseinrichtungen angegangen werden soll. Durch diese neuen Praktiken der Ausschliessung macht die soziale Logik des alten integrativen Wohlfahrtsstaates das Feld frei für die neue Logik des Wettbewerbs, der Marktsegmentierung und des Leistungsmanagements. Das Management des Elends und der Rückschläge im Leben des Einzelnen erweist sich als ein profitträchtiges Unternehmen, das nicht nur der Ideologie des neoliberalen Kapitalismus entspricht, sondern aufgrund seines von der öffentlichen Hand abgekoppelten marktspezifischen Auftretens auch zur angeblichen Verschlankung des Wohlfahrtstaates beiträgt. Diejenigen Menschen nun, die trotz dieser unzähligen privaten ›Weiterbildungsfabriken‹ weiterhin keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, respektive zur finanziellen Selbstversorgung finden, können vom Staat nur noch auf die Sicherung des biologischen Überlebens hoffen. Das soziale Überleben, das der alleinigen Eigenverantwortung übertragen wird, wird hingegen nicht gesichert, sondern vom aktivierenden und auf finanzielle Profitabilität ausgerichteten Wohlfahrtsstaat einfach ignoriert. Die Konsequenz hiervon ist nicht nur eine Marginalisierung dieser Überflüssigen an den Grenzen der Gesellschaft, sondern ihre Positionierung in einen permanenten Normalzustand des Überflüssigseins. Die Überflüssigen sind aufgrund dieses Normalzustandes der Nicht-Wiedereingliederungsfähigkeit die Mitglieder einer problematischen Population, die, da sie wenig zur allgemeinen Wertschöpfung beiträgt, eine hohe Belastung für die von allen finanzierten Sozialsysteme darstellt, in der Terminologie Zygmunt Baumans zu einem »Wegwerfartikel« 101 wird, den niemand mehr haben möchte. Dieser Teil der Population ist aufgrund ihrer kostspieligen Unproduktivität bloss noch dem Abfall geweiht. Natürlich liesse sich nun sagen, dass die Binarität des ›Innen‹ und ›Aussen‹ immer schon eine konstitutive Eigenschaft der Vergemeinschaftung und der Bildung von gesellschaftlicher Konformität war. Die Ausschlussmechanismen des neuen autoritären Kapitalismus operieren aber auf einer ideologischen und praktischen Schablone, die den Ausschluss in die Nähe ihrer Unaufhebbarkeit stellt. Während nämlich zur Idee des integrativen Wohlfahrtsstaates die Absicht gehörte, individuelle Risiken zu ›vergesellschaften‹ und ihre Verminderung dem Verantwortungs- und Aufgabenbereich des Staates zuzuordnen, so dass private Unsicherheiten auf eine kollektive, öffentliche Ebene transportiert und dort vermindert werden sollten, operiert der aktivierende Wohlfahrtsstaat auf einer anderen, sozusagen entgegengesetzten Klaviatur. Einerseits wird die ständig lauernde Gefahr des Ausschlusses aus einer Zone des Wohlstandes in die unterliegende bis hin zu derjenigen der Entbehrlichkeit in den Bereich des privaten Sicherheitskalküls ›ent-vergesellschaftet‹. Andererseits werden die Bewohner der untersten Zone zu einem konstitutiven Regierungsein101 | B AUMAN, Z YGMUNT. Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition 2005. S. 21.
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satz. Nicht mehr ein integrativer Wohlfahrtsstaat positioniert sich um die vom Ausschluss Bedrohten, sondern eine ganze Sicherheitsindustrie, die über einen Risikodiskurs die Menschen zu einem marktspezifischen und marktkultivierenden Handeln verpflichtet. Um integraler Bestandteil einer Marktgesellschaft sein zu können, muss man das Potential des Konsums permanent realisieren, wofür eine gewisse monetäre Kaufkraft vonnöten ist. Um diese nun unter den Gesetzen des neuen Kapitalismus sichern zu können, muss der Einzelne sich bewusst entschliessen, sein Leben als ›Unternehmen‹ zu führen. Das Risiko, bei diesem Bewusstseinswandel zu scheitern, wird von einer »neuen Vorsorgerhetorik«102 sowohl angeheizt als auch mit dem Versprechen der Abhilfe gedämpft. Diese neue Rhetorik individualisiert gewissermassen die soziale Sicherheit. Der Einzelne soll selbst die Verantwortung für seine soziale Sicherheit und die seiner Familie übernehmen. Er oder sie soll sich also gegen die Kosten einer Erkrankung mit einer privaten Krankenversicherung schützen, zur Altersvorsorge eine private Rentenversicherung abschliessen und sich in Eigeninitiative gegen alle möglichen Gefährdungen der einmal erreichten Wohlstandszone absichern. Zudem arbeitet diese Rhetorik mit den aus der Konsumtionssphäre vertrauten Techniken. Dies offenbart auch ihren angsteinflössenden und zugleich tröstenden Diskurs. Mit den Instrumenten der Werbung, Marktforschung oder der Eruierung von Marktnischen schürt sie die Zukunftsängste des Einzelnen und bringt diesen dazu, durch den Erwerb einer für ihn und seine spezielle Situation massgeschneiderten Versicherung, die zuvor dargestellten Risiken unter Kontrolle zu halten. In den Warnungen über die Zukunft der Altersrenten oder der sozialen Sicherungssysteme heizt überdies eine Politik des Risikos diese Mechanismen an. Politiker appellieren hierbei an das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen, der das Management der Risiken, die sein Leben und das seiner Nächsten betreffen, in die eigene Hand nehmen soll und so das aktuelle Einkommen im Interesse eines künftigen Wohlstandes entsprechend zu investieren. Der autoritäre Kapitalismus verdeckt sich hier wieder hinter der Maske seiner Alternativlosigkeit und seiner angeblich neutralen Problembearbeitungssphäre ›Markt‹. Denn neben der Attraktivitätssteigerung des Standortes durch die Auslagerung der sozialen Sicherheit aus einem kollektiven Kalkül in ein privatwirtschaftliches, was das Einziehen niedriger Steuern für Unternehmen und Bestverdienende erlaubt, neben der Ermöglichung und Durchsetzung neuer Sicherheitsmärkte sowie der damit zusammenhängenden bewusstseinsmässigen Umkodierung des Einzelnen zu einem ›Unternehmer seiner selbst‹, produziert dieser neue autoritäre Kapitalismus neben dem Phänomen des permanent drohenden Ausschlusses eben auch Menschen, die tatsächlich einer endgültigen Marginalisierung geweiht sind, die aber geradezu ein konstitutives Element für seine politische Durchsetzung darstellen. 102 | Vgl. O’M ALLEY, PAT. Risk, power and crime prevention. In: Economy and Society. Vol, 21, No. 3., 1992. S. 252-275.
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Diese Mechanismen, durch die der Einzelne für das Management der ihn bedrohenden Risiken verantwortlich gemacht wird, eröffnen nämlich nicht nur ein Feld, dessen Kennzeichen Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Angst sind und das infolgedessen dazu einlädt, beständig neue Probleme zu konstruieren und neue Lösungen marktmässig zu präsentieren, sondern auch das Blickfeld auf eine Gruppe von Individuen, die sowohl die individuelle als auch die kollektive Sicherheit gefährden und entsprechend für ein ›Regieren auf Kosten Anderer‹ auch marktkonform ausgeschlachtet werden. Die von diesen Konsummechanismen Ausgeschlossen, die Überflüssigen an den marginalisierten Zonen der Gesellschaft, werden nicht nur als soziale Parasiten, sondern auch als regelrechte Bedrohung für die Inkludierten politisch konstruiert. Nun ist die Konstruktion von Ausgeschlossenen nichts Neues. Separationstendenzen gab es in der Geschichte und in den einzelnen Gesellschaften immer wieder. Je nach Taxonomien und Separationskriterien oder -praktiken konnten die Ausgeschlossene klar definiert und umgrenzt werden. So bezeugt etwa das Separieren von Armut und Pauperismus in der viktorianischen Zeit und die sich daraus ergebende rasante Ausbreitung von Fürsorgeeinrichtungen für ›gefallene‹ Frauen, Seeleute ohne Heuer oder blinde Kinder sowie die Reduktion der sozialen Frage im 19. Jahrhundert auf das Problem der ›angeborenen Entartung‹ und die hierfür tonangebende eugenische Wissenschaft das staatliche Einkreisen klar definierter Bevölkerungsgruppen. In all diesen Separationspraktiken ging es also darum, problematische Personen in exakt definierte Kategorien einzuteilen, für die jeweils eigens abgestimmte Sozialmassnahmen bereitzustellen waren, eine Tendenz, die ihre Kontinuität – insbesondere was die klassifikatorischen Imperative angeht – bis in die sozialpolitischen Apparate des integrativen Wohlfahrtsstaats durchgehalten hat. Somit liesse sich sagen, dass Max Webers Aussage über das Primäre des Ausschlusses für eine gegenwärtige Gesellschaftskritik keine grössere Irritation auslösen sollte. Worum es hier geht, ist jedoch nicht die Tatsache des Separierens, sondern es sind vielmehr die Kriterien, die hierfür verwendet werden, die eine nähere Betrachtung verdienen. Der analytisch interessante Wendepunkt liegt nämlich in der Unterscheidung zwischen einer quantitativen Abstufung von Konformität, wie sie das Problem der sozialen Frage bis zum integrativen Wohlfahrtsstaat begleitet hat, und einer qualitativen Separierung, wie sie heute gängig ist. Damit soll jedoch nicht gesagt werden, dass die Überflüssigen heute einfach innerhalb eines moralischen Registers klassifiziert und dadurch auch ausgeschlossen werden. Diese moralische Dechiffrierung der Marginalisierten ist sicherlich dominant, aber im Grunde nichts Neues. Die Anormalen oder Leute mit deviantem Verhalten wurden, wie das Foucault in seinen historischen Studien zum Wahnsinn, zur Strafpraxis oder zur Sexualität gezeigt hat, immer auch aus einem moralischen Register, das mit wissenschaftlichen Thesen unterfüttert wurde, in den Blick von Disziplinierungsapparaten genommen. Vielmehr geht es darum zu zeigen, dass die Überflüssigen insofern einer qualitativen Unterscheidungslogik unterliegen, als die sie umspannenden
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Wissensapparate und Machtdiskurse um einen bestimmten Aspekt der Integration kreisen, nämlich demjenigen der ökonomischen Effizienz. In einer Marktgesellschaft, wie sie sich uns heute präsentiert, ist ›anständiges‹ Verhalten eines, das mit der Integration qua Konsum zusammenfällt. Die ›verrufenen‹ Personen befinden sich gemäss dieser Unterscheidungsschablone in solchen Sektoren und Orten der Gesellschaft, in denen diese qualitative Integration nicht gelingt. Sie sind die ›schlechten Konsumenten‹, weil sie wenig ausgeben, dafür aber viel vom Staat erhalten. Das Spezifische an dieser qualitativen Unterscheidung ist somit ein Kriterium, das nicht mehr bloss am äusserlichen Kleid festgemacht werden kann, sondern vielmehr fluktuierend jeden Einzelnen treffen kann. Die Konsumunfähigkeit, also die ›Unanständigkeit‹ ergibt sich erst im Laufe des wirtschaftlichen Prozesses. Die hiervon Betroffenen sind somit nicht von vornherein klassifizier- und identifizierbar, vielmehr klassifizieren sie sich erst nach ihrem Fall als Personen, die den Markterfordernissen entweder nicht entsprechen konnten oder wollten. Das ›Qualitative‹ an diesem Separierungsprinzip ist also ein Kriterium, das nicht ein für alle Mal aus dem eigenen Lebensbereich ausgeschlossen werden kann und somit auch nicht die Garantie liefern kann, zu den ›Normalen‹ und Anständigen zu gehören. Der Ausschluss wird durch das qualitative Kriterium der Konsumfähigkeit also zu einem selbstverschuldeten definiert. Die Ausgeschlossenen sind somit diejenigen, die trotz der vielen Selbstentwicklungsmöglichkeiten, die der Markt anbietet, ihre Überflüssigkeit selbst verschuldet haben und erst dadurch als solche Individuen klassifiziert werden, die zwar anwesend sind, aber keinen Profit einbringen, weil ihre Anwesenheit eben eine ist, die als selbstverschuldete taxiert wird und ausserhalb des Marktspiels steht. Qualitative Separierung meint in diesem Zusammenhang also einen Ausschluss, der nicht von Beginn an durch staatliche Massnahmen definiert wird, der auch nicht über gemeinsame soziale Merkmale einer zusammenhängenden Bevölkerungsgruppe in Erscheinung tritt oder gar von einem einheitlichen Sozialdienst absorbiert wird. Vielmehr ist diese qualitative Unterscheidung eine, die sich nur noch über die qualitative Sichtbarkeit als Marktteilnehmer definiert und somit jeden mit der Angst befällt, in die Kategorie der Überflüssigen zu fallen. Was den Begriff der Überflüssigen also kennzeichnet, ist zum einen die aus einer inneren Dynamik des neoliberalen Kapitalismus und seiner politischen Durchsetzung entstehende Produktion eines Rests an Menschen, die aus dem rechtlichen oder ökonomischen Spiel fallen. Zum anderen ist es die Unverträglichkeit ihrer Lebenserfahrungen und Lebensbilanzen mit den herrschenden Normierungen und Idealisierungen einer rasch sich wandelnden Marktgesellschaft, die ihnen das Gefühl vermittelt, nicht mehr Schmied des eigenen Schicksals zu sein – denn für das was sie können, wissen und fühlen, fehlt ein anerkannter Adressat, so dass alle möglichen Leute überflüssig werden können, ohne deswegen in gleiche sichtbare soziale Lagen zu geraten, wohl aber in ähnliche existentielle Zustände. Darüber hinaus erzeugt diese Dynamik das Schuldgefühl der Nutzlosigkeit. Durch die diskursive und öffentlichkeitswirksame Konstruktion der
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sozialen Kategorie ›Parasiten‹, die angesichts der Aktivierungsbestrebungen des neuen Wohlfahrtsstaates immer noch keinen Anschluss an den Arbeitsmarkt gefunden haben, werden sie von den etablierten Schichten nun auch mit bestem Wissen und Gewissen kriminalisiert. Nicht zuletzt ist ihr Status also von der konzeptionelle Verbindung des Überflüssigseins mit einer aktiven Marginalisierung gekennzeichnet, in die sie sich entweder durch Resignation oder Passivität selber begeben oder durch Politiken des Ausschlusses und der sekundären Integration 103 – wobei das Erste vom Zweiten oft nicht zu trennen ist – gedrängt werden. Diese Überflüssigen werden aufgrund ihrer diskursiven Positionierung ins Feld des Schmarotzertums und der ›Unanständigkeit‹, als auch wegen ihrer persönlichen, moralischen oder kulturellen Devianz zum konstitutiven Dreh- und Angelpunkt einer Sicherheitspolitik, die Wahlerfolge und rasche Publizität für politische Eliten sichern soll. Wie gezeigt werden konnte, wird ihre Marginalität durch Mechanismen regiert, die sowohl auf Kontrolle als auch auf Disziplinierung ausgerichtet sind. Nicht nur werden sämtliche Bereiche individueller Lebensführung ständiger Kontrolle unterworfen, so dass sich auch die einzelnen Individuen angesichts der neu konfigurierten Mappe des Sozialen ständig einer Selbst-Kontrolle und -disziplinierung unterwerfen müssen, um überhaupt den Dogmen des ›lebenslangen Lernens‹, der ›Flexibilität‹ und des Konsums als ›anständige‹ Daueraktivität genügen zu können. Marginalität wird auch durch einen aufgeblähten Disziplinierungsapparat regiert. Neben der »Kontrollgesellschaft«104, die den einzelnen zu einem marktkonformen Subjekt erziehen will, werden die Entbehrlichen also auch über Zwangsmittel an die Ränder der Gesellschaft getrieben oder über Methoden des Wegsperrens für eine gewisse Zeit vollständig ent-sorgt, wie die Tatsache belegt, dass überall in Europa die Gefangenenzahlen steigen. Die ›Unanständigkeit‹ der Marginalisierten, dieser Gruppe, die nicht ein für alle Mal klar quantifizier- und definierbar ist, da ihre Anzahl und ihre Reaktionen auf die sie wartenden Ausschlussmechanismen dem kontingenten Verlauf der Marktsphäre entspringen, wird somit von einer Sicherheitspolitik umklammert 103 | Mit der sekundären Integration sind die Aktivierungsmassnahmen gemeint, denen sich Arbeitslose fügen müssen, um beispielsweise Arbeitslosengeld zu erhalten. Diese Massnahmen zielen zwar auf eine möglichst rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Für solche Menschen aber, die diese Reintegration nicht vollziehen können, entwickelt sich eine regelrechte Laufbahn sekundärer Integrationsversuche, an deren Horizont der misslungene Wiedereintritt in die Arbeitswelt als individuelles Versagen und als persönliches Defizit gedeutet wird. Siehe: L AND, R AINER . W ILLISCH, A NDREAS. Die Probleme mit der Integration. Das Konzept der sekundären Integration. In: H EINZ B UDE . A NDREAS W ILLISCH (Hg.). Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg: Hamburger Edition 2006. S. 70-93. 104 | D ELEUZE, G ILLES. Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (1990). In: D ERS. Unterhandlungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. S. 254-261.
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und für die Anständigen in den Zentren der Gesellschaft neutralisiert. Ihre politische Relevanz, ihre signifikante und konstitutive Rolle für eine Politik, die ihr Regieren nur noch auf Kosten Anderer bewerkstelligen kann, erhalten diese Marginalisierten aufgrund zweier Mechanismen, die sich wechselseitig bedingen: einerseits durch eine Politik um die Sorge des Standortes, andererseits durch eine Politik, die bei politischen Eliten um die Sorge der Wiederwahl kreist. Natürlich liesse sich sagen, dass Politik immer ein ›Regieren auf Kosten Anderer‹ darstellte, etwa dadurch, dass eine Mehrheit über eine Minderheit regiert. Was bei dieser neuen Konstellation aber auffällt, ist, dass das hierfür spezifischen Regieren gezielt auf die Minderheit der Marginalisierten ihr Interesses richtet, die weder einer klar definierten politischen Gegenmeinung angehören noch sonst irgendwie von Beginn an eindeutig gekennzeichnet werden können. Vielmehr stellen sie so etwas wie ›leere Signifikanten‹ dar, also ein semantisches Feld der Bedeutungsgebung – in diesem Fall für eine repressive Sicherheitspolitik –, das seinerseits nie vollständig mit Bedeutung ausgefüllt ist. Die Marginalisierten werden zu leeren Signifikanten, weil dasjenige, was sie signifizieren sollen, ihr Signifikat also, eine Sicherheitspolitik ist, die ihre Anwesenheit kontrolliert oder sie sogar ent-sorgt und schon von Beginn an klar ist, wohingegen dasjenige, was diesem Signifikat überhaupt erst Bedeutung geben kann, nur phantasmatisch vorhanden ist, d.h. die Marginalisierten stiften Bedeutung, obwohl ihr Gekennzeichnet-Sein permanent instabil und fluktuierend ist. Das gegenwärtige ›Regieren auf Kosten Anderer‹ tritt so hinter das Regieren des Sozialen unter Berufung auf die Ökonomie eines Landes. Es ist ein sorgenvolles Regieren, das hinter die Interessen der zwischen den Regionen und über die Grenzen des Einzelstaates sich hinwegsetzenden ökonomischen Kreisläufe zurücktritt. Das ökonomische Schicksal des Bürgers eines bestimmten Staatsgebietes wird von dem seiner Mitbürger abgekoppelt. Fortan erscheint es als Funktion des Masses an Unternehmungsbereitschaft, an Fertigkeiten, die der Kurzfristigkeit der Marktimperative angepasst werden sollen, an Erfindungsreichtum und Flexibilität, über das der Einzelne verfügt. Wer nicht über diese Elemente der Selbstkapitalisierung verfügt oder sie nicht aktivieren kann oder will, fällt in einer Marktgesellschaft aus dem Rahmen des Anständigen und wird so zu einem Objekt der Sorge für die Regierung. Die ›Unanständigen‹ haben wenig Grund, sich in der sie diskreditierenden und marginalisierenden Gesellschaft heimisch zu fühlen und ihr ihre Loyalität und Aufmerksamkeit zu bezeugen. Warum sollten diese plötzlich aus der Arbeitswelt Ausgeschlossenen die Regeln des politisch-demokratischen Spiels respektieren, wenn die Regeln der Arbeitswelt so offensichtlich missachtet werden? Der Mangel an Anerkennung für ihre in der Vergangenheit geleisteten Dienste und erworbenen Fertigkeiten wird ihnen nicht nur in den hochpolierten Job-Centers bewusst, sondern auch durch den Verlust an sozialem Prestige. Die aus der Selbstläufigkeit des Marktprozesses erzeugten Ausschliessungsmechanismen, lassen bei diesen Marginalisierten nicht nur das Gefühl der Selbstverschuldung aufkommen, sondern auch die Resignation,
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dass jeglicher Widerstand sinnlos ist. Was angesichts dieser Frustration und Wut bleibt, ist die Bereitschaft zu unkanalisiertem Gewaltausbruch, der wiederum ›gemanagt‹ werden muss. Auf individueller Ebene zeichnet sich dieses (Selbst-) Management durch ein Risikokalkül aus, das zugleich eine ganze Versicherungund Schutzindustrie aufrechterhält, und auf kollektiver Ebene manifestiert es sich durch eine Sicherheitspolitik zum Schutze der Nicht-Marginalisierten. Dieser Zustand wird dadurch verstärkt, dass die Notwendigkeit, die eigenen Lebensziele unter den Bedingungen akuter und nicht aufhebbarer Ungewissheit zu verfolgen, den Kräften des Marktes ausgesetzt wird. »Politische Macht muss sich nicht weiter einmischen, um eine ausreichende Menge und permanenten Nachschub von ›offizieller Furcht‹ sicherzustellen, es genügen die Einrichtungen, die Überwachungen und der Schutz des rechtlichen Rahmens für einen freien Markt.«105 In dieser Konstellation des ›Regierens auf Kosten Anderer‹ hat sich eine Qualitätsverschiebung in der monopolistischen Kraft des Staates, für Recht und Ordnung zu sorgen, eingeschlichen. Diese den Staat auszeichnende Komponente klammert die Ökonomie und die aus der Ökonomie sich ergebenden Unsicherheiten, also strukturelle Unsicherheiten aus. Was hingegen in den Mittelpunkt der staatlichen Sorge um Recht und Ordnung gerückt ist, ist die persönliche Sicherheit. Der Staat richtet seine Sorge und Aufmerksamkeit sowie sein finanzielles, politisches und polizeiliches Engagement auf all die (Un-)Sicherheitsfaktoren, die im Zusammenhang mit der persönlichen Unversehrtheit, mit dem persönlichen Eigentum, mit den Ängsten, die durch kriminelle Aktivitäten und durch antisoziales Verhalten der ›Marginalisierten‹ oder weltweit durch den Terrorismus ausgelöst werden. Die sozio-ökonomischen Wechselwirkungen, die diese Faktoren mitbeeinflussen, finden im staatlichen Kalkül keinen Platz mehr. Anstelle eines Kontrollregimes, das alle Aspekte der Gesellschaft miteinbezieht, also auch die ökonomischen, wandelt sich der Staat zu einem spezialisierten Kontrollregime, zu einem ›Sicherheitsregime‹, indem nunmehr das Gemeinwohl, für das er natura suae verantwortlich ist, auf die private und persönliche Sphäre der Sicherheit verschiebt. Was sich in diesem Zusammenhang durchsetzt, ist eine politische Kultur der Bedrohung, die ihre wesentlichen Definitionskriterien aus einem Sicherheitskalkül der persönlichen Unversehrtheit speist. Es ist eine Kultur der Bedrohung, die überdies von den politischen Eliten unter dem Aspekt einer unumgänglichen ›offiziellen Furcht‹, sei es im Hinblick auf den Finanzierungsschwierigkeiten der staatlichen Altersvorsorge oder bezüglich der gewalttätigen jugendlichen Delinquenten, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, entsprechend angeheizt und für Publizitätszwecke ausgeschlachtet wird. Es scheint also so, als gebe es ausserhalb des Gemeinwesens der Inkludierten eine Vielzahl von Mikrosektoren, in denen sich diejenigen aufhalten, die 105 | B AUMAN, Z YGMUNT. Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition 2005. S. 73f.
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angeblich unfähig oder nicht willens sind, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen oder Risikomanagement zu leisten, die also gemäss der dominanten Rhetorik nicht in der Lage sind, verantwortlich ein selbstbestimmtes Leben zu führen und entweder keiner Gesinnungsgemeinschaft oder einer Gemeinschaft mit Antigesinnung angehören. Auf diesen Gebieten kann sich die Macht und die eiserne Entschlossenheit der Regierenden sehr viel effektiver entfalten und zum Gegenstand öffentlicher Bewunderung werden. Die Sorgen um die letztlich ökonomisch bedingte und von einer bestimmten Marktkonzeption verursachte Spirale von Unsicherheit, Ausschluss, Resignation oder Gewalt werden durch mediale und politische Interventionen von der primär verantwortlichen Sphäre auf das tele- und fotogenere Gebiet der persönlichen Sicherheit und der Bedrohung durch den leeren Signifikanten des Anderen verlagert. Auf diese Gebieten kann der Nationalstaat seine sicherheitspolitischen und polizeilichen Anstrengungen konzentrieren, die überdies wenig Kosten verursachen, dafür aber einen schnellen Achtungssieg versprechen. Diese Gebiete sind nämlich nicht diejenigen der global operierenden mafiosen Netzwerke, die zu bekämpfen äusserst kosten- und ressourcenintensiv wäre, sondern Gebiete, die am Rande der Gesellschaft existieren und in denen sich die marginalisierten Anderen aufhalten – die Banlieus und Anti-Ghettos106 der modernen ›global cities‹ also, in denen Kleinkriminalität mit vergleichsweise geringen Mitteln bekämpft werden kann, wodurch ein rascher und medial gut zu inszenierender Achtungserfolg erzielt werden kann, der wiederum die Macht der Regierungen stützt. Zudem dienen diese Interventionszonen staatlicher Sicherheitspolitiken auch zur Durchsetzung einer politischen Strategie der Konsolidierung nationaler Eigenschaften. Die Bewohner dieser Zonen, unter denen die Einwanderer einen nicht geringen Anteil ausmachen, werden 106 | Zum Begriff des Anti-Ghettos siehe WACQUANT, L OIC. Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays. Basel: Birkhäuser-Verlag für Architektur 2006. Wacquant unterscheidet die Anti-Ghettos der modernen global cities vom Ghetto nach amerikanischem Muster, in welchem sich ethnisch geschlossene Gemeinschaften befinden, die aufgrund dieses für sie konstitutiven Identifikationsmerkmal auch eine gemeinsame Widerstandspolitik entwickeln können. Die Anti-Ghettos hingegen, die Wacquant hauptsächlich in den europäischen Grossstädten sichtet, sind gekennzeichnet von heterogenen Merkmalen. Es sind gemischte Gebiete, was Bevölkerung, Behausung und Beherrschung angeht, aber auch Gebiete, die gerade aufgrund dieser Heterogenität von ethno-rassistischen Spannungen charakterisiert sind, die sich teilweise in einer Stimmung schwelender Gewalttätigkeit äussern und die sich weniger durch die Bezugnahme auf einen äusseren Feind als durch unübersichtliche innere Feinderklärungen konsolidieren. Es handelt sich also hierbei um vielschichtige und kapriziöse Erscheinungen, wo ökonomische Entkoppelung, staatliche Intervention und gesellschaftliche Dissoziationen aufeinander wirken, ohne sich synchron zu entwickeln, Zonen also, in denen die ethnische Zugehörigkeit für die Definition von Teilhabechancen relevant ist und in denen keine übergeordnete, hegemoniale und regulierende Macht über deren Zuerkennung entscheiden würde.
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nicht nur aufgrund ihrer ›Unanständigkeit‹ als Belastung für den aktivierenden Wohlfahrtsstaat signifiziert, sie verkörpern zugleich die unausgesprochene und schmerzhafte Vorahnung des Scheiterns und der jederzeit möglichen Entbehrlichkeit für die Inkludierten und ›Anständigen‹. Damit ziehen sie den Hass letzterer auf sich. Aber gerade auch ihre Herkunft lässt sie für die Inkludierten wie für die einheimischen Exkludierten zu einem Objekt des Verdachts und der Bedrohung einer wie auch immer mythisch durchsetzten nationalen Eigenart werden. Sie sind das signifizierende physisch existente Phantasma der Mehrheitsgruppe, das dieser Gruppe ihr jederzeit mögliches Scheitern, aber auch ihre angebliche Andersheit vor Augen führt. Gäbe es sie nicht, müssten sie wohl erfunden werden, müssten sie als nichtphysische Phantasmen herauf beschworen werden. Sie sind in jeglicher Hinsicht, also sowohl eines plötzlichen ökonomischen Scheiterns als auch einer angeblichen Bedrohung der nationalen Eigenart das, was Bertolt Brecht 1941 in seinem Gedicht »Die Landschaft des Exils« die »Boten des Unglücks« nannte. Brecht meinte damit die Flüchtlinge, doch auch die Arbeitsmigranten lassen sich unter heutigen Umständen in diese Klassifikation einreihen. Obwohl sie zwar aus dem konstitutiven Gefäss des bedrohlichen Anderen vielfach mit dem pejorativ diskursivierten Begriff des »illegalen Flüchtlings« und des »Asylanten«107 ersetzt wurden, nützen ihnen ihre Qualitäten, die der vorherrschenden neoliberalen Gesinnung heilig sind – also das Streben nach Fortschritt und Wohlstand, Eigenverantwortung, Risikobereitschaft – auf der sozialen und kulturellen Ebene nicht viel. Auf dieser Ebene symbolisieren sie nämlich weiterhin einen Bedrohungsfaktor für die nationale Eigenart, die sich vielfach mit dem ökonomischen Bedrohungsfaktor für die Karrierechancen und Wohlstandssicherungen der Mehrheitsgruppe vermischt. »Flüchtlinge und Einwanderer, die von ›weit her‹ kommen, sich jedoch in der Nachbarschaft niederlassen wollen, eignen sich vorzüglich für die Rolle der Strohpuppe, die als Symbol für das Schreckgespenst der ›globalen Marktkräfte‹ 107 | Dieser Begriff hat tatsächlich eine markante Verschlechterung seiner semantischen Anwendung gefunden. Galt derjenige welcher Asyl beantragte, als ein Befreiungskämpfer oder politischer Dissident, welcher im eigenen Land verfolgt wurde, ist der Begriff – wie dies übrigens die verschärften Asylgesetze im EU- und OECD-Raum sowie ihre öffentliche Darstellung seitens der offiziellen Institutionen zeigen – pejorativ besetzt worden. Flüchtlinge werden semantisch mit dem Zusatz des »Illegalen« und somit »Kriminellen« behaftet, während Asylanten, also die »legalen Flüchtlinge«, von Beginn an des Sozialschmarotzertums, der Faulheit und der Wirtschaftsflucht – als wäre dies ein Delikt – verdächtigt werden: alles Elemente, die den Dogmen des Standortvorteils, der damit zusammenhängenden finanziellen Schlankheitskuren der Nationalstaaten und ihrer neokonservativen Einkreisung entsprechen. Einen guten Einblick zur Kriminalisierung der Flüchtlinge und Migranten bietet u.a.: S ASSEN, S ASKIA . Die Kriminalisierung von Migranten. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.). Der Sound des Sachzwangs. Der Globalisierungs-Reader. Bonn. Berlin: Blätter 2006. S. 125-132.
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verbrannt wird, denn sie treffen auf Furcht und Ablehnung, weil sie ihre Arbeit tun, ohne sich mit denen zu beraten, auf die sich ihre Präsenz auswirken wird.«108 Was mit dem Einbruch der neoliberalen globalen Marktwirtschaft in den westlichen wohlhabenden Staaten also eingetroffen ist, ist die Neubestimmung des staatlichen Aufgabengebietes. Diese Neuausrichtung der Staaten auf eine repressive Sicherheitspolitik hat Loic Wacquant so definiert, dass der Staat »sich aus der ökonomischen Arena zurück(zieht) und selber die Notwendigkeit (betont), seine sozialpolitische Rolle zu reduzieren und zugleich den Repressionsapparat zu verstärken.«109 Um diesem Wandel ein stärkeres Profil zu verleihen, liesse sich mit Henry Giroux sagen, dass der Sozialstaat im Zuge der Globalisierung zu einem Besatzungsstaat gewandelt wurde, der zunehmend die Interessen globaler und transnational operierender Unternehmen schützt, »während er zugleich den Grad der Repression und Militarisierung an der Heimatfront steigert.«110 Soziale Probleme werden in dieser neuen Konstellation zunehmend kriminalisiert. Was unter dem Zeichen der Globalisierung und der Standortkonkurrenz, dem die Staaten unterworfen sind, was sie auch zunehmend dazu zwingt ihre innere legitimatorische Kraft nicht mehr im Bereich der politischen Ökonomie, sondern im Feld des Sozialen zu suchen, salonfähig wird, sind politische Konzepte wie Disziplin, Eindämmung und Kontrolle. Politische ›Rezepte‹, die von denselben Instanzen gefordert werden, »die gestern noch – und mit sichtbarem Erfolg für ›weniger Staat‹ eintraten, wo es um die Vorrechte des Kapitals und die Ausnutzung der Arbeitskraft ging, heute mit ebensolchem Feuereifer ›mehr Staat‹ (fordern), um die verheerenden sozialen Folgen zu kaschieren und im Griff zu behalten, die in den unteren Regionen des sozialen Gefüges durch die Deregulierung des Lohnarbeitsverhältnisses und den Abbau der sozialen Sicherung entstanden sind.«111 Die Logik und Durchsetzung des ›autoritären Kapitalismus‹ verlagert also die öffentliche politische Auseinandersetzung über Aspekte der nationalen politischen Ökonomie auf die halbprivate und vom Staat forcierte Monologisierung der Sicherheitspolitik. Dadurch können sich die politischen Eliten medial inszenieren, also gemäss den Regeln der Hochglanzmagazin-Politik vordergründige Versprechen – wie das Eindämmen von Kleinkriminalität in den Vorstädten – einlösen und zugleich als benutzerfreundlich erscheinen. Die mediale Aufmerksamkeitsökonomie ermöglicht ihnen somit eine öffentliche Plattform, auf welcher sie sich über die Merkmale der Effizienz, Bürgernähe und des Verantwortungsbe108 | B AUMAN, Z YGMUNT. Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition 2005. S. 94. 109 | WACQUANT, L OIC. »Die Armen bekämpfen«. In: Le Monde diplomatique. April 1999. S. 1 und 12-13. Hier S. 1. 110 | H ENRY G IROUX zitiert in B AUMAN, Z YGMUNT. Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition 2005. S. 120. 111 | WACQUANT, L OIC. »Die Armen bekämpfen«. In: Le Monde diplomatique. April 1999. S. 12.
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wusstseins gegenüber den Sorgen der Bevölkerung – wobei natürlich immer nur der ›anständige‹ Teil hiervon angesprochen ist – profilieren und demokratische Legitimation erheischen können. Politik wird unter diesen Umständen zu einer Politik der Bedrohung, deren Grundpfeiler sich in der neoliberalen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik und in der neokonservativen Gestaltung der Innen- und Aussenpolitik finden. Gerade der Diskurs über die Standortvorteile und die damit einhergehende Politik der Standortsicherung beruht auf einem verbreiteten Bewusstsein, dass die eigene Nation auf den internationalen Märkten einer ›Welt von Feinden‹ gegenübersteht und nur durch den ›nationalen Erfindungsgeist‹, grösseren Fleiss und mehr Opferbereitschaft die strukturelle Überlegenheit des ›eigenen‹ Wirtschaftsstandortes behaupten kann. Dieser »Standortnationalismus«, wie ihn Christoph Butterwegge112 nennt, wird von einem Konkurrenzdenken angeheizt, das zum Dreh- und Angelpunkt nationaler Politiken avanciert und nicht ohne verheerende Konsequenzen für das gesellschaftliche Klima und die politische Kultur bleibt. Gerade die Betonung des ökonomischen Nutzenkalküls sieht nicht nur von schlichten mitmenschlichen Verpflichtungen ab, sie grenzt auch all jene aus, die uns tatsächlich oder vermeintlich zur Last fallen. Für diejenigen, die nicht zum erlesenen Kreis der Staatsangehörigen gehören, ergeben sich damit automatisch ungünstigere Aufenthaltsbedingungen. Gerade in einer Situation wie der gegenwärtigen, wo die Staatsdefizite in die Höhe schiessen, während die Banken, die die hierfür verantwortliche Krise verschuldet haben, weiterhin mit imperativen Forderung nach Steuererleichterungen und dem Verzicht auf Regulierungen auf dem Finanzmarkt an die Nationalstaaten treten, ihre Kapitalien weiterhin dort zu positionieren suchen, wo die hochriskanten Renditen locken, wird die politische Forderung an das eigene Volk, den Gürtel enger zu schnallen, immer lauter. Es liegt an den Stammtischen und an einem sich in der ganzen Gesellschaft durchziehenden ›common sense‹, dass ›Fremden‹, seien es nun Arbeitsmigranten, Asylbewerber, Flüchtlinge, faule Südeuropäer oder einfach ›Sozialschmarotzer‹, nicht auch noch mit den ohnehin knappen Mitteln bedient werden können. Die Zugehörigkeit zur Nationalität wird unter den Bedingungen des aktivierenden Wohlfahrtsstaates neoliberaler Prägung zur Kampfparole, um den eigenen Wohlstand zu verteidigen und Ansprüche anderer Gruppen zu delegitimieren und abzuwehren. Hierdurch eröffnen sich rechtspopulistischen Parteien und den Parolen, die sie auf ihren Kampfschilden führen, ideologische Anknüpfungspunkte. Ein mythisch-völkisches Verständnis der Nation vermischt sich hierbei mit einem neoliberal und marktradikal orientierten Nationalismus, der nicht
112 | Ganzer Absatz nach: B UT TERWEGGE, C HRISTOPH. Globalismus, Neoliberalismus und Rechtsextremismus. In: UTOPIEkreativ, Heft 135. (Januar 2002). S. 55-67. Hier S. 63ff.
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Politische Kultur im Zeiten des Neoliberalismus
nur die politische Landschaft in den westlichen Ländern113 zunehmend prägt, sondern auch die sie fundierende politische Kultur neu ausrichtet. Je enger die Verteilungsspielräume einer Gesellschaft werden, desto mehr wächst die Versuchung, sogenannte Randgruppen von bestimmten Ressourcen auszuschliessen. Butterwegge bringt die Verknüpfung dieser ethnisierten Politik mit den neoliberalen Umwälzungen auf den Punkt. Worum es nämlich vordergründig bei diesen Politiken der Bedrohung geht, ist die Wahrung der ›kulturellen Identität‹. Dahinter stecken aber meist handfeste Interessenkonflikte, die knappe – respektive von den marktradikalen Dogmen, die sich global ausweiten, verknappte – gesellschaftliche Ressourcen betreffen. Das, was noch an gesellschaftlichem Reichtum in den Händen des Staates bleibt, wird mittels eines Ethinisierungsprozesses, in welchem ideologisch diejenigen angesprochen werden, die zum Gemeinwesen gehören und solche, die dieses aufgrund ihrer ›fremdartigen‹ Anwesenheit bedrohen, die Bewahrung des Wohlstandes und die Verteilung noch verbliebener staatlicher Leistungen neu definiert. Dies ist ein Prozess, der Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre in den Ländern der südlichen Hemisphäre und den ostmitteleuropäischen Transformationsländern sowie in den meisten westeuropäischen Gesellschaften an Bedeutung gewann. Nicht nur brachte dieser Prozess Bürgerkriege hervor, wie sie zu dieser Zeit im Balkan und in vielen afrikanischen Ländern virulent wurden, sondern auch restriktive Sozialpolitiken, die in den westlichen Ländern angesichts des neoliberalen Dogmas von konservativen wie auch ›progressiven‹ Regierungen durchgesetzt wurden. Seine Funktionslogik hat zwei Seiten: zuerst erfolgt eine Stigmatisierung der ›Anderen‹, die zugleich zur Konstituierung einer nationalen beziehungsweise ›Volksgemeinschaft‹ führt, mit welcher weiter reichende politische und ökonomische Ziele verbunden sind. Der faktische oder der zumindest angedrohte Ausschluss der ›Anderen‹ vom gesellschaftlichen Wohlstand, seien dies nun Sans-Papiers, Asylbewerber oder einfach die ›Überflüssigen‹, führt nicht nur zu einer Ethnisierung der sozialen Beziehungen mit der Rückkehr des ›Nationalen‹ in allen möglichen Feldern der gesellschaftlichen Interaktion, sondern korrespondiert auch mit einer ›Kulturalisierung der Politik‹, die nicht mehr auf materielle Interessen zurückgeführt, sondern auf die Wahrung kollektiver Identitäten reduziert wird. Die von der neoliberalen Umwälzung betroffene Wirtschaftspolitik, deren Einschränkung staatlicher Wohlfahrtsaufgaben und steuerlicher Mittel, um diese zu finanzieren, verursacht Disparitäten in 113 | Als Beispiel genügt hier die Erwähnung der beeindruckenden Erfolge, die rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ in Österreich, die Lega Nord in Italien, die SVP in der Schweiz, die Fidesz in Ungarn, der Front National in Frankreich, aber auch die Tea PartyBewegung in den USA in den letzten zehn Jahren auf politischem Parkett erreicht haben. Ihre politischen Diskurse kreisen gerade um diese Rhetorik der Wohlstandssicherung für die »Eigenen«, dem selbstverständlichen Verdacht der Faulheit der »Anderen« und der Kriminalisierung der Fremden.
4. Neoliberale Hegemonie
der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes, die aber in einem kulturellen Register kodifiziert und ausgetragen werden. Ökonomische Ungleichheiten werden dadurch in eine neue kulturalistische Sprache verpackt und hier politisch bedient. Damit setzen sich auch national-partikulare Deutungen der Zugehörigkeit im Alltagsverstand durch, was unweigerlich mythisch-nationale Traditionsbestände reaktiviert und so entsprechende Sedimentierungen in der politischen Kultur generiert. Damit mutieren die demokratischen Verfahrensprozesse und Mitbestimmungsmöglichkeiten zur Farce, denn wenn das Kapital die Definitionshoheit über die politische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung einnimmt und Regierungen dazu zwingt, seine Mechanismen zu bevorzugen, um die daraus resultierenden Wohlstandsdisparitäten in eine kulturelle Sprache zu übersetzen, dann kommt es unweigerlich zu einem bedrohlich verführerischen hermetischen Zusammenschluss von partikularer Mehrheitskultur und dominanter politischer Kultur. Wenn nämlich für die Sedimentierungsvorgänge, die so etwas wie politische Kultur hervorbringen und die ihrerseits wiederum das politische System stützen, nur noch dasjenige relevant ist, was der Alltagsverstand als richtig und wahr erachtet, dann verkümmert Demokratie zu einem politischen Spiel, bei dem die Starken wie selbstverständlich über die Schwachen verfügen können.
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5. Fazit
Die in diesem zweiten Teil untersuchte ›Ökonomisierung des Sozialen‹ hat in wirtschaftspolitischer, philosophischer und soziologischer Hinsicht die Spuren aufgezeigt, die dem neoliberalen Paradigmenwechsel zu hegemonialer Macht verhalfen. In Kürze seien daher die wichtigsten Resultate rekapituliert. Aus einer spezifisch wissenschaftlichen Perspektive wurde das Aufkommen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und des damit einhergehenden Paradigmenwechsels diskutiert. Im globalen Wechselspiel zwischen internationalen Wirtschaftsregimes und nationalstaatlichen Akteuren wurden neoliberale Konzepte – wie diejenigen der Privatisierung und Deregulierung sowie der Privilegierung der Finanzwirtschaft – zur neuen Norm des globalisierten Handelns erkoren. Auf der Ebene der Weltordnung drückte sich die neoliberale Hegemonie, wie Robert Cox betonte, »in universelle[n] Normen, Institutionen und Mechanismen« aus, »die die generellen Verhaltensregeln für Staaten festlegen sowie für diejenigen zivilgesellschaftlichen Kräfte, die über nationale Grenzen hinweg agieren, Regeln, die die dominante Produktionsweise unterstützen.«1 Cox’ Aussage macht darauf aufmerksam, dass der neoliberale Paradigmenwechsel globale Ausmasse erreichte, indem er eine neue Deutung des globalen und damit zusammenhängend nationalen Handelns hegemonial durchsetzte. Auf transnationaler Stufe, und das heisst unter Vermeidung nationalstaatlicher demokratischer Verfahren wurde in internationalen Organisationen der neoliberale Konsens ermittelt und institutionalisiert. Die darin formulierten Richtlinien, die auf neoliberale Rezepte wie Privatisierung, Deregulierung oder Privilegierung der Finanzwirtschaft auf bauten, bildeten zugleich die gewaltlosen Zwangsmechanismen, um Schuldner-Länder zu einer neoliberalen Restrukturierung ihrer Volkswirtschaften zu zwingen. Internationale Organisationen wie der IWF konnten somit gewaltlos Funktionen erfüllen, die, wie Noam Chomsky dies auf den Punkt brachte, früher als ›covert
1 | C OX , R OBERT. Approaches to World Order. Cambridge: Cambridge University Press 1996. S. 137.
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Politische Kultur im Zeiten des Neoliberalismus
operations‹ der CIA oder als offene Interventionen der ›Marines‹ abliefen.2 Damit setzte ein Spiel von Konsens und Zwang ein, das auf globaler Ebene seine Spielfläche fand, und auf nationaler Basis entsprechende Politiken durchsetzte. Im Namen eines schlanken, aber starken Staates, der auf globaler Bühne als wirtschaftlicher Akteur zu fungieren habe, um seine Attraktivität für Investitionskapitalien zu steigern, wurden mittels Privatisierung, Deregulierung und Kommodifizierung zunehmend alle möglichen ehemaligen öffentlichen Dienste den Marktkräften überlassen. Die neoliberale Theorie, die diesen Politiken zugrunde liegt, glaubt, mit solchen Methoden der Ökonomisierung staatlicher Bereiche nicht nur ihre Effizienz zu steigern und die Kosten zu senken, sondern auch wirtschaftlichen Krisen beizukommen sowie Prosperität, Freiheit und Selbstbestimmung zu fördern. Jedoch fern davon, Krisen einzudämmen, haben diese im Laufe der letzten 40 Jahre mit zunehmend verheerenden Effekten zyklisch zugenommen, die Kapitalien vorwiegend in die virtuelle Sphäre der Finanzindustrie verlagert und so die Zahl der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten weltweit vergrössert. Aber auch die Früchte neoliberaler Politiken, die insbesondere die Arbeitssphäre tangierten und die zur Befreiung aus dem patriarchalischen, starren und muskelverzehrenden fordistischen Arbeitshaus führten, wurden ungleicher verteilt als je zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Konsequenz hiervon ist die Erosion der Mittelklassen. Obwohl einige aus dieser Klasse den Sprung zu den kapitalkräftigen Eliten schaffen, die global gesehen zunehmen und immer grössere Anteile der Volksvermögen unter sich verteilen, driftet eine ungleich grösse Masse an Menschen in die unteren Sicherheitszonen der prekären Beschäftigung, der Langzeitarbeitslosigkeit und schlimmstenfalls sogar in die unterste soziale Skala der ›Überflüssigen‹. Das Gros der Bevölkerung, die lange Zeit unter dem Begriff der Mittelschicht die Stützen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik ausmachten, fragmentarisiert zunehmend und zerstört so Solidaritäts- und Gemeinnützigkeitsvorstellungen, die lange Zeit für eine demokratische Kontrolle der Kapitalmacht verantwortlich waren, um sie dann reaktiviert dort wiederzufinden, wo es um die Konstruktion des Anderen geht, der mit seiner tatsächlichen oder bloss phantasmatischen Anwesenheit den noch verbliebenen ›eigenen‹ Wohlstand bedrohe. In politisch-philosophischer Hinsicht hingegen wurden die ideologischen Elemente des Neoliberalismus sowie seine Widersprüche und die Narrative untersucht, die das neoliberalen Projekt als einzig mögliche ›Wahrheit‹ plausibilisieren wollen. Diese werden in der neoliberalen Theorie argumentativ so untermauert, dass jede menschliche Vernunftintervention von Beginn an desavouiert wird. Mit der Taktik der Immunisierung einer Hypothese, die in der undurchschaubaren und deswegen auch nicht falsifizierbaren – aber deshalb auch jeglichen wissen2 | C HOMSKY, N OAM . The Struggle for Democracy in the New World Order. In: BARRY G ILLS/J OEL R OCAMORA /R ICHARD L. W ILSON (Hg.). Low Intensity Democracy. Political Power in the New World Order. London/Boulder: Pluto Press 1993. S. 80-99. Hier S. 96.
5. Fazit
schaftlichen Anspruchs entbehrenden – spontanen Ordnung des Marktes die einzige privilegierte Entscheidungs- und Sanktionssphäre sichtet, an der sich Mensch, Politik und Gesellschaft auszurichten haben, wird die Schliessung eines Diskurses vorangetrieben, der nicht nur keine alternativen Deutungen neben sich duldet, sondern auch zum alleinigen Richtmass politischen und menschlichen Handelns deklariert wird. Die Konzepte der Demokratie und des Rechts werden dadurch im Namen eines Liberalismus, der bei genauem Hinsehen alle Errungenschaften des politischen Liberalismus über Bord wirft, um sich als blosser Wirtschaftsliberalismus zu entpuppen und im Zeichen einer ausschliesslich negativ verstandenen Freiheit einzig zur Wahrung der Eigentums- und Vertragsrechte umkodiert und ihrer fundamentalen Grundsätze der Selbstgesetzgebung und der damit einhergehenden Möglichkeit, auch die ökonomischen Verhältnisse zu verändern, entleert. Wenn nur der Markt die Vorgabe zur Ordnung der Gesellschaft gibt, zudem als einzige Sphäre über Erfolg und Misserfolg, Glück und Leid, Chancen und Perspektiven entscheidet, dann wird auf der Kehrseite dieses Diskurses auch jede menschliche, kollektive und demokratische Kontrolle und Gestaltung des Marktes von Beginn an ins Reich der Lügen verbannt. So wie Gott weder für das Leid, das Böse oder aber auch den Erfolg und die Glückseligkeit verantwortlich gemacht noch vom Menschen nach seinen eigenen Wünschen verändert werden kann, so spielt es sich auch in der eschatologischen neoliberalen Konzeption des Marktes ab. Der Markt ist zwar kein Gott, aber beide verlangen den Glauben an ihren jeweils eigenen ›Willen‹, der von den Menschen nicht durchschaubar ist. Damit wird der Markt im Sinne der neoliberalen Theorie zu einem Wesen gekürt, das vom Menschen nicht beeinträchtigt werden kann und darf und dessen Resultate, wie die göttlichen Plagen des alten Testaments, von den Sterblichen geduldig ertragen werden müssen. Während aber Gottes Existenz weiterhin ein Mysterium bleibt, ist diejenige des Marktes allzu real. Fehlender Glaube an die göttliche Vorsehung mag für den Gläubigen Konsequenzen haben. Fehlende Kaufkraft – das heilige Äquivalent zur Erlangung der Absolution in der Marktsphäre – verursacht aber tatsächlich Leid, Hunger und Perspektivlosigkeit – und zwar unabhängig davon, ob jemand an den Markt glaubt oder nicht. Im neoliberalen Konstrukt des Marktes wird somit jede menschliche Gestaltungskraft von Beginn an denunziert, und zwar nicht aufgrund einer wissenschaftlichen Herleitung, sondern bei genauerem Hinsehen mittels einer dogmatischen Eschatologie. Dass der Markt bloss Mittel zum Zweck menschlicher Bedürfnisbefriedigung ist, eine bestimmte Geschichte hat, die von spezifischen Macht- und Deutungskonstellationen geprägt wurde und somit immer ein Konstrukt und ein Erzeugnis des Menschen ist, das in Form von politischen Regierungen oder internationalen Organisationen durchgesetzt wird, wollen die Verteidiger des neoliberalen Kapitalismus nicht einsehen und flüchten sich in ihr ewiges quasi-religiöses Mantra, dass der Markt eine spontane Ordnung sein muss und dies nur unter Verzicht aller planerischen Interventionen sein kann. De facto spricht hier eine Privilegienordnung dem Markt seine Funktionen zu. Nicht nur war die Durchsetzung des neoliberalen Paradigmenwechsels
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Politische Kultur im Zeiten des Neoliberalismus
das Resultat politischer Interventionen, die auf die Entmantelung des Sozialstaates und des Arbeitsrechts zielen und die zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparate mit ihrem ökonomischen Nutzenkalkül belagern, gerade der so verhasste Staat wird von den Privilegierten dann angerufen, wenn es darum geht, ihre Interessen durchzusetzen oder ihre Kapitalien vor den Marktkräften zu schützen. Der Staat ist den Privilegierten der neoliberalen Ordnung nur dann ein Dorn im Auge, wenn er Umverteilungspolitiken zugunsten der Subalternen formuliert. Dieser verhasste Staat verwandelt sich aber alsbald zum Lieblingskind, wenn von ihm verlangt wird, dass er mit seiner Macht rechtliche Normen für Patente, Handelsmarken, Urheberrechte oder ›geistiges Eigentum‹ durchsetzt und so Märkte generiert, die ohne solche Interventionen diese immateriellen Güter nicht angemessen berücksichtigen, so dass sie eine niedrigere Profitmarge erzeugen würden. Neben diesen Nutzungsrechten, die überdies auch der nationalstaatlichen demokratischen Kontrolle entzogen sind und in internationalen Welthandelsregimes definiert und etabliert werden, sind Staaten – gerade solche mit hoher finanzieller und militärischer Macht – in den Augen der globalen Players ein wertvolles Instrument, um den Staat dahin zu bringen, mithilfe politischen oder militärischen Drucks Märkte für den Absatz von Produkten und Dienstleistungen einheimischer Unternehmen zu sichern, zu vergrössern oder neu zu erschliessen. Diese Form der Sicherung rentabler Absatzmärkte zeigt sich zunehmend in bilateralen Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, was bspw. zur Bildung der Freihandelszone NAFTA zwischen Mexico und den USA geführt hat: ein Spiel zwischen ungleichen Partnern, bei denen die Mächtigen den Schwachen die Regeln diktieren. Die amerikanischen Investitionen fliessen in die mexikanischen ›Maquilladoras‹, wo ungesicherte und günstige Arbeitskräfte die Produktion abwickeln und zugleich den Profit für die Investoren vorspuren. »Die Funktion dieser Abkommen besteht darin, private Akteure – zumeist sind dies transnationale Unternehmen aus den Industrieländern, die in Ländern des globalen Südens Geschäfte machen – mit Rechten auszustatten, die den Handlungsspielraum für Regierungen weniger mächtiger Staaten vor allem im Hinblick auf alternative Entwicklungspfade deutlich einschränken.«3 Damit, so Mahnkopf weiter, »wird zugleich der Raum der Politik in den Zielregionen ihrer Investitionstätigkeit weit in die Zukunft hinein verengt. Daher sind bilaterale Investitionsschutzabkommen zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern, die sich seit Mitte der 1990er Jahren krebsartig vermehrt haben, bestens geeignet, den Neoliberalismus gleichsam ›auf Dauer‹ zu stellen, denn sie blockieren eine entwicklungsfreundliche Politik über jeden Regierungswechsel hinaus.« 4 Vor 3 | MAHNKOPF, BIRGIT. Die ›Satansmühle‹ der kapitalistischen Ökonomie oder: Der kapitalistischer Realismus in der Krise. In: NECKEL, SIGHARD (Hg.). Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M.: Campus 2010. S. 100. 4 | Ibid.
5. Fazit
allem aber wird der Staat von neoliberalen Apologeten in seiner Funktion als einzige Instanz, die Steuern erheben darf, dann angerufen, wenn die Reichtümer der Privilegierten aufgrund der Marktkräfte zu schwinden drohen und er dafür sorgen soll, dass die privaten Verluste sozialisiert werden. Fern davon, ihrer Marktgläubigkeit Treue zu schenken, begehen Neoliberale das Sakrileg der Staatsanrufung immer dann – und ohne schlechtes Gewissen –, wenn ihre ökonomische Macht von ihrem zornigen Gott ›Markt‹ bedroht wird. Nicht nur weist die ideologische Ausrichtung des Neoliberalismus theoretische Widersprüche auf, wenn es um Fragen der Freiheit, der Demokratie oder des Rechts geht, vielmehr zeigt sie sich in ihrem praktischen Vollzug als der reaktionäre Versuch, die Gesellschaft zu refeudalisieren und die Privilegienordnungen zu perpetuieren. Im Kapitalismus gab und gibt es also, wie dies Fernand Braudel5 pointiert formulierte, neben der Rationalität des Marktes, die sich durch spontanen, nicht gelenkten, der Konkurrenz ausgesetzten Güteraustausch manifestiert, immer auch andere – ungleich einflussreichere – Rationalitäten, nämlich diejenigen des Monopols, der Spekulation und als Krönung des Ganzen diejenige der Macht. Und gerade diese bildet den Subtext der schillernden neoliberalen Narration, die sich hinter einer Eschatologie des Marktes versteckt. Worum es den neoliberalen Apologeten und ihre Adepten letztlich geht, ist die Umwandlung von ökonomischer Macht in politische Macht, um dadurch ihre Reichtümer zu vergrössern und ihre Verluste zu kollektivieren. Der neoliberale Paradigmenwechsel beruht somit auf einer Ideologie und Verblendungstaktik, deren Versatzstücke an eine einzige alternativlose Wahrheit – die spontane Ordnung des Marktes – geknüpft werden, die wirtschaftspolitisch auf globaler und nationaler Ebene mit einer Rhetorik der Alternativlosigkeit legitimiert sowie mittels Konsens und Zwang durchgesetzt werden – und alles im Namen des allgemeinen Wohles, während de facto die globalen Wohlstandsdisparitäten stetig zunehmen. Mit dieser Ideologie geht aber auch eine soziologische Intervention in die Gesellschaft und ins Selbst- und Weltverständnis der Individuen einher. Mit der neoliberalen und marktradikalen Umformulierung und Umgestaltung der staatlichen und globalen Politiken wurden auch die zivilgesellschaftlichen Felder zunehmend nach ausschliesslich ökonomischen Kriterien ausgerichtet. Aus einer soziologisch inspirierten Analyse konnte die ›Ökonomisierung des Sozialen‹ insbesondere an der Soziologie einer neuen Subjektivierungsform, und zwar am ›unternehmerischen Selbst‹ gezeigt werden. Mit Rückgriff auf Foucaults Gouvernementalitäts-Theorie konnte gezeigt werden, wie das Individuum im Rahmen neoliberaler Politiken nicht mehr ausschliesslich einer Disziplinargewalt gegenübersteht, sondern vielmehr einem Regierungsmodus, der es vereinnahmt und den es seinerseits im alltäglichen Vollzug seines Lebens verinnerlicht. Mit der ›Führung der Führungen‹, wie Foucault diese neue 5 | B RAUDEL , F ERNAND. Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. München: Kindler 1986. S. 633ff.
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Regierungstechnologie ein wenig enigmatisch auf den Punkt bringt, ist eine Machttechnik gemeint, die mittels indirekter Interventionen in die Lebenswelt des Einzelnen, diesen dazu anreizt, sich selbst zu führen, und zwar gemäss den Logiken, die diesen Interventionen zugrunde liegen. In jeder Lebenslage soll er also unternehmerisch handeln, seine Arbeitskraft, seine Talente und Fähigkeiten nur noch im Register des Humankapitals verstehen und so als Ausbeuter und Ausgebeuteter seiner selbst die Messlatten des Erfolgs und Misserfolg auch nur bei sich selbst und nirgendwo sonst suchen. Damit sollen soziale Kausalitäten als Erklärungsmodelle für das persönliche Scheitern ausgelöscht und kollektive Projekte zur selbstbestimmten Veränderung der misslichen Lage von Beginn an ihrer kritischen Spitze entledigt werden. Lange vor Foucaults Konzept der ›Regierung‹, mit dem dieser die »Kunst des Führens« im Sinne einer alltäglichen Verhaltensführung und Regulation von Selbsttechnologien beschrieb,6 betonte bereits Gramsci, dass es nicht nur »tatsächlich Regierte und Regierende, Führer und Geführte gibt«, sondern auch, dass Politik auf der grundlegenden Tatsache beruht, auf der Kunst »wie man auf die wirksamste Weise führen kann … und wie man auf der anderen Seite die Linie des geringsten Widerstandes … erkennt, um den Gehorsam der Geführten oder Regierten zu erlangen.«7 Mit Foucault kann nachvollzogen werden, wie das neoliberale Programm das Subjekt neu zentriert und sein Verhalten an die gewandelten Lebensbedingungen anpasst, ohne von ihm den ›Imperativ des Gehorsams‹ zu verlangen, sondern Folgebereitschaft vielmehr durch das Versprechen zunehmender Freiheiten, also mittels eines ideologischen Beweises ihrer Notwendigkeit und Rationalität erheischt. Diese Subjektivierungsweise stellt ein fundamentales Gerüst der neoliberalen Hegemonie dar, und die neoliberale Reformulierung von Politik, Staat, Gesellschaft und Individuum ist immer das Resultat staatlicher Eingriffe und spezifischer Macht- und Kräfteverhältnisse, die eine – in diesem Fall die neoliberale – Deutung der Welt und des Selbst in den Alltagsverstand implementieren, so einen Kollektivwillen erzeugen und letztlich hegemoniale Macht annehmen. Es sind staatliche Politiken, die in die Zivilgesellschaft eingreifen, hier die Institutionen nach marktspezifischen Kriterien umformen, so dass sich die Menschen, wollen sie in dieser neuen kapitalistischen Konstellation bestehen, ›freiwillig‹ an die Gegebenheiten der ökonomischen Verhältnisse anpassen und hier auch die dominanten, weil hegemonialen Welt- und Selbstdeu6 | »›Führung‹ ist zugleich die Tätigkeit des ›Anführens‹ anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmassnahmen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht im ›Führen der Führungen‹ und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeit.« Siehe: F OUCAULT, M ICHEL . Das Subjekt und die Macht. In: D REYFUS, H UBERT L. R ABINOW, PAUL (Hg.). Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987. S. 243-261. Hier S. 255. 7 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 8, Heft 16, S. 1713.
5. Fazit
tungen reproduzieren und stabilisieren. In diesem Sinne übt der Staat also Druck aus, um, wie es Gramsci formulierte, einen bestimmten Typus von Zivilisation zum Verschwinden zu bringen und andere Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu schaffen und zu erhalten, die eine bestimmte Lebensweise, einen bestimmten Kollektivmenschen ermöglichen.8 Gerade seine Intervention in die Zivilgesellschaft, dort also, wo sich die kulturelle Hegemonie formiert und die Macht des Staates gestützt wird, bildet für Gramsci die privilegierte Taktik des modernen kapitalistischen Staates, um sich diejenigen Subjekte zu erziehen, die seiner Macht dienlich sind. Grundlegend hierbei sind für ihn nicht allein die faktischen wirtschaftlichen Kreisläufe, die unterschiedliche Macht- und Privilegienpositionen erzeugen, die wiederum umkämpft oder in einer hegemonialen Ordnung stabilisiert werden können, sondern vor allem die dominanten Interpretationen dieser Markt- und Machtverhältnisse, die Deutungen also, denen es gelingt, das Bestehende als einzig mögliche Form des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interagierens zu plausibilisieren. Die in der Zivilgesellschaft vorherrschenden Interpretationen des ökonomischen Kreislaufes prägen ihre Institutionen – wie Schulen, Universitäten, Medien etc. – und formen so auch eine Kultur, die der dominanten Weltsicht entspricht. Aber auch in anderen Institutionen – wie Familie, Freundeskreis, Kirche oder Sportverein – reproduzieren sich die hegemonialen Welt- und Selbstdeutungen in der alltäglichen Praxis und in der Kommunikation. Hier wird ›richtiges‹ von ›falschem‹ Handeln anhand des Alltagsverstandes, der sich im gemeinsamen, selbstverständlichen Normmassstab der anderen widerspiegelt, geschieden und so im individuellen, aber auch kollektiven Bewusstsein verankert. Hier werden Aussagen erst in Anlehnung an den ›common sense‹ der Mehrheit der Gruppenmitglieder zu ›unsinnigen‹ oder ›sinnvollen‹ gemacht. Hier also reproduzieren sich hinter dem Rücken der Akteure sozusagen die geltenden, hegemonialen Deutungen der Welt und des Selbst. Über kulturelle Institutionen – wie Medien, Parteien oder Bildungseinrichtungen – werden solche dominanten Deutungen der Welt und des Selbst wieder aufgenommen, wiederholt und gleichsam mit der Aura der institutionellen Autorität gefestigt. Sie sind alle nicht direkt mit der wirtschaftlichen Produktion an sich verbunden, üben aber nichtsdestoweniger die zentrale Funktion aus, Arbeit, Leben, Denken und Fühlen durch bestimmte Formen der Moral und Kultur zu ›kultivieren‹ und zwar nach Massgabe der dominanten wirtschaftspolitischen Doktrin. In den zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparaten, wie Gramsci diese Einrichtungen nennt, werden die technischen, intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten der Arbeit, die eine entwickelte kapitalistische Produktion verlangt, reproduziert. Hier wird jene Arbeitskraft kultiviert, die politisch sowie moralisch fähig und willig ist, sich der Disziplin, der Logik, der Kultur und den – sichtbaren wie unsichtbaren – Zwängen der kapitalistischen Produktions8 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 13, S. 1544, 1548.
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weise in jedem Stadium zu unterwerfen, den jene erreicht hat. Gegenwärtig ist die Taktik der neoliberalen Hegemonie eine Regierungspraxis, die weiterhin auf Konsens und Zwang aufruht, in der ›Führung der Führungen‹ ihre Macht ausspielen kann, ohne sichtbar werden zu müssen, und mit ihrer Gesamtstrategie der ›Ökonomisierung des Sozialen‹ die Vereinnahmung aller möglichen zivilgesellschaftlichen Felder und Akteure durch das ökonomische, eigennutzenorientierte Kalkül vollzieht. Die Hegemonialwerdung einer bestimmten Deutung der Welt und des Selbst, die sich an den Kriterien von Marktkonformität und ökonomischem Kalkül ausrichtet, vereinnahmt also gesellschaftliche Interaktionsfelder, die ehemals nicht nach ökonomischen Prinzipien funktionierten. Bildung, Medien, öffentliche Dienstleistungen, aber auch die politische Sphäre als solche mit ihren Akteuren und Behörden sowie die zwischenmenschlichen Bereiche des Privaten werden nach diesem Schema ausgerichtet. Die Zwangsaspekte hierfür liegen in der Tatsache, dass Staaten, da sie ihre Standorte für das global flottierende Kapital attraktiv gestalten, Steuerpolitiken zugunsten der grossen Finanzplayer formulieren und so Austeritätspolitik zu ihrem Markenzeichen machen müssen. Sie stellen immer weniger Geld für die öffentlichen Güter zur Verfügung und überlassen diese mit Politiken der Privatisierung und Deregulierung den Marktkräften. Die Basis des Konsenses wird hingegen mit Freiheits-, Kreativitäts-, Mobilitäts- und Wohlstandsversprechen eingelöst, aber auch mit dem stillschweigenden Konsens, der sich in den jeweiligen – nach Marktprinzipien ausgerichteten – zivilgesellschaftlichen Apparate unsicht- und unfühlbar ausdrückt. Der Arbeitskraftunternehmer wird zum selbstverständlichen Subjektivierungsmodell, an dem sich all diejenigen auszurichten haben, die auf dem Markt bestehen wollen. Diejenigen, die vom Markt nicht belohnt werden, repräsentieren dann einen Mangel an Engagement, Leistungsfähigkeit und Selbstinitiative, der sich in ihrer ›relativen Armut‹ niederschlägt und in der Schwelle zur ›absoluten Armut‹ die permanente Drohkulisse sichtet. Zugleich wird ein Disziplinierungsmechanismus in Gang setzt, damit die Verlierer der neoliberalen Globalisierung sich den Markterfordernissen anpassen – kurz: ein allfälliges Abrutschen in die Zone der ›Überflüssigen‹ als selbstverschuldetes wahrnehmen. Diese Menschen werden von der Lebenswelt, in der sie ein Auskommen suchen, Kontakte zu anderen Menschen pflegen, Familien gründen und wieder auflösen, ihre Talente und Fähigkeiten an den Markterfordernissen messen und sie erst im Bereich eines Arbeitsverhältnis als solche zugesprochen erhalten, während das Fehlen eines Arbeitsplatzes die Suggestion der Talentlosigkeit und fehlender Fähigkeiten verstärkt, die sie – so das dominante Erklärungsmuster – selbst verschuldet haben, insofern aktiviert, als sie auf dem Weiterbildungsmarkt alle möglichen Angebote finden, um sich für den Arbeitsmarkt wieder ›fit‹ zu machen, und gleichzeitig passiviert, als jede Anstrengung, die doch zu keinem Erfolg führt, in die innere Welt des Versagens verbannt wird. Die ›Ökonomisierung des Sozialen‹ eicht das Individuum zum egoistischen und selbstsüchtigen Marktsubjekt, das – solange es ihm gut geht – das Heraufkom-
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men der Sintflut mit einem müden Lächeln in Kauf nimmt. Die neoliberale Hegemonie manifestiert sich somit als ein widersprüchlicher Verallgemeinerungsprozess, der alle Bereiche menschlicher Aktivität umfasst, um die gesellschaftliche, also nicht nur ökonomische, sondern auch politische und ideologische Führung zu ermöglichen. Gerade in der Verknüpfung verschiedener, auch gegensätzlicher sozialer Positionen mit einer dominanten Welt- und Selbstdeutung, die sich auf möglichst allen Feldern der menschlichen Interaktion manifestiert, sichtet Gramsci den Herrschaftsmodus der Hegemonie. Zusammenfassend liesse sich somit sagen, dass sich unter neoliberaler Hegemonie transnational neue Produktionsweisen etablieren, die von nationalen Politiken durchgesetzt werden, ihre Dogmen in den zivilgesellschaftlichen Apparaten reproduzieren und mit der Rhetorik der Alternativlosigkeit ›naturalisiert‹ werden. Zugleich entwickeln sich im Sog dieser neoliberalen Rekodierung der Produktionsweisen und der sie ermöglichenden Politiken auch neue Lebensweisen, die medial inszeniert, von der globalen Klasse der Gewinner zelebriert und sogar im öffentlichen politischen Diskurs in Form des Politainments, der Prominenz und des politischen Marketings Eingang finden. Gesamtgesellschaftlich wird damit nicht nur der Idiotismus, im ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes ›idiotes‹ – womit eine Person gemeint ist, die sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und nicht um die des Gemeinwesens kümmert – gefördert, auch eine Abnahme der Kontrollmöglichkeiten der Bürger gegenüber ihrer Eliten geht damit einher. Diese Machteffekte der neoliberalen Hegemonie zeichnen sich gerade auf der Ebene der politischen Kultur ab. Indem nämlich zivilgesellschaftliche Apparate sowie der Staat selbst – also die Zivilgesellschaft und die politische Gesellschaft in Gramscis Termini – sich aufgrund der hegemonial gewordenen neoliberalen Doktrin an marktradikalen Prinzipien orientieren müssen, werden auch die Dimensionen politischer Kultur – also Kommunikation, Institution und Erinnerung – nach diesen Prinzipien ausgerichtet, womit sie im alltäglichen zwischenmenschlichen Vollzug die ideologischen Elemente des Neoliberalismus stabilisieren. Durch diese Dimensionen, die konstitutiv für jede politische Kultur sind, wird das Feld ausgebreitet, auf denen Menschen Bewusstsein ihrer Lage, ihrer Rollen und Möglichkeiten gewinnen. Damit dringt auch eine bestimmte Deutung der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in den ›common sense‹ ein, und die bestehenden Verhältnisse können so als ›alternativlose‹, ›normale‹ und sogar ›richtige‹ klassifiziert werden. In Rückkoppelung hierzu gewinnen neoliberale Politiken Konsens und Nachhall in der Öffentlichkeit, ihren Zwang verbergen sie hinter der Maske der Alternativlosigkeit, indem sie die Wählenden vor die lähmende Aussicht stellen, entweder kapitalfreundliche Politiken zu unterstützen oder Arbeitsplätze zu zerstören, und ihre Forderungen nach Deregulierung und Effizienzsteigerung durch Ausbreitung des ökonomischen Kalküls auf möglichst allen Feldern der menschlichen Aktivität umhüllen sie mit dem Glauben an ihre Unverrückbarkeit,
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den sie aber wohlwissentlich nicht als solchen deklarieren, sondern in ein wissenschaftlich anmutendes Kleid einhüllen. Wenn es nun – als Kernelement der neoliberalen Hegemonie – so ist, dass immer mehr politisch folgenreiche Entscheidungen dem Markt überlassen werden, dann reduzieren sich damit auch die Partizipationschancen der Bürger. Angesichts dieser angeblich alternativlos gewordenen schönen neuen Welt, wird politische Partizipation zunehmend nur noch im Register der nationalen Aufhebung gegen das Fremde und Andere, das als Bedrohung des schwindenden Wohlstandes identifiziert wird, reaktiviert. Das beobachtbare Erstarken konservativer Ideologien in den westlichen Industrieländern rückt nicht nur gleichstellungspolitische oder sozial- und arbeitsrechliche Anliegen ins Obsolete, sondern beschwört auch die Gefahr des Rechtsextremismus herauf. Dieser grassiert gegenwärtig in den USA (Tea Party), in Österreich (FPÖ), in Dänemark (dänische Volkspartei), in Finnland (Wahre Finnen), Ungarn (MIEP), Belgien (Vlaams Belang) und Holland (PVV), aber auch in Italien (Lega Nord, Alleanza Nazionale), Frankreich (Front National) und stark wie nie zuvor in der Schweiz (SVP).9 Seine Heimat findet er in rechtspopulistischen und -konservative Parteien der Vergangenheit, Gegenwart und so ist zu befürchten, auch der Zukunft. In allen Zeiten versucht dieser Extremismus paradoxerweise die Geschichte, die ihn erst hervorgebracht hat, zu naturalisieren und den Menschen zu entmündigen. Die rechten Parteien, die seinen Verführungen unterliegen, verstehen sich als »höchste Natürlichkeit«, wie dies der italienische Philosoph Gianni Vattimo10 ausdrückte. Sie sagen, dass die Menschen ungleich geboren werden und es richtig sei, dass sie die natürlichen Ungleichheiten dazu verwenden, um Konkurrenz und Entwicklung voranzutreiben, freilich zum Wohle der Wenigen und auf Kosten der Vielen, die das Pech haben, in ökonomischer Hinsicht ›ungleicher‹ als die Privilegierten zu sein.11 In politischer Hinsicht bedeutet dies, dass die Imperative des Konformismus, der Anpassung und Unterwerfung moralisch wie ökonomisch auf dem Vormarsch sind, und die ungleiche Verteilung von Macht, Chancen und Ressourcen als naturgegeben gerechtfertigt wird. Damit fällt, wie dies Urs Marti treffend bezeichnete, die Antwort auf die Frage, was Gegenstand der Politik sein kann und darf, immer bescheidener aus.12 Für den einzelnen Bürger steht die Gestaltung 9 | Vgl. B AUER, W ERNER T. Rechtsextreme und Rechtspopulistische Parteien in Europa. (Aktualisierte Studie der österreichischen Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung ÖGPP). Wien 2011. In: www.politikberatung.or.at/studien/rechtspopulismus/ rechtsextreme-und-rechtspopulistische-parteien-in-europa/ 10 | VAT TIMO, G IANNI. Wie werde ich Kommunist. Berlin: Rotbuch 2008. S. 39. 11 | Ganzer Absatz nach: M AIOLINO, A NGELO. Als die Italiener noch Tschinggen waren. Der Widerstand gegen die Schwarzenbach Initiative. Zürich: Rotpunktverlag 2011. S. 261f. 12 | Vgl. M ARTI, U RS. Demokratie. Das uneingelöste Versprechen. Zürich: Rotpunktverlag 2006. S. 114.
5. Fazit
seines Lebens, die Befriedigung seiner Bedürfnisse und die Erfüllung seiner Wünsche einer Situation gegenüber, die nur noch in der Kodierung der Konkurrenz erfahrbar wird. Der Mensch wird einer Welt gegenübergestellt, in der das Prinzip der Konkurrenz zur dominanten handlungsleitenden Maxime geworden ist. Das gesamte soziale Leben und die eigene darin verwickelte Existenz werden nun zunehmend im Rahmen dieser Kodierung dechiffriert und entsprechend ausgerichtet. Konkurrenz herrscht zwischen Unternehmen und innerhalb der Unternehmen, wo die einzelnen Mitarbeiter als personalisierte ›Profit Center‹ gegeneinander antreten, um am Ende des Monats die höchsten Vertragsabschlüsse oder Einkünfte für den Betrieb vorweisen, und so die eigene Stelle bis zur nächsten Feuerprobe behalten zu können. Auf gesellschaftlicher Ebene schaufelt die neoliberale Politik der Standortkonkurrenz Gräben zwischen soziale oder ethnische Gruppen, zwischen Geschlechter und sogar zwischen Angehörige einer Genus-Gruppe. Das neoliberale Versprechen, dass persönliche Tüchtigkeit und Leistungsbereitschaft am Markt zum Erfolg führen kann, wird medial durch die überrepräsentierte Figur der erfolgreichen Frau verstärkt und dieses Karrieremodell und die dahinterliegenden neoliberalen Umbauten werden so für viele Frauen zustimmungsfähig gemacht, was auf dem Arbeitsmarkt aber gleichzeitig zu neuen Disparitäten zwischen Mann und Frau führt, aber vor allem zwischen Frauen selbst. Neben der damit einhergehenden Zersetzung der Frauenbewegung wird unter Bedingungen neoliberaler Konkurrenzdominanz die dreifach freie Lohnarbeiterin generiert. Diese ist, um es mit Marx zu sagen, nicht nur frei von Produktionsmitteln und frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern auch frei von den notwendigen Reproduktionsarbeiten. In diese Lücke springt die billige, vielfach im rechtlichen Status der Illegalität verharrende weibliche Arbeitskraft von Migrantinnen, die die häusliche Reproduktionsarbeit übernehmen. Nicht nur wächst damit die Kluft zwischen hoch und niedrig qualifizierter Arbeit, es entstehen auch Mechanismen der Hyperausbeutung innerhalb der eigenen vier Wände. Die versprochenen Freiheiten des neoliberalen Marktes gehen damit nicht nur auf Kosten der arbeitswilligen Erfolgsfrau, die auf dem Arbeitsmarkt weiterhin mit der Dominanz und der besseren Entlohnung ihrer männlichen Kollegen – für dieselbe Arbeit – konfrontiert ist, sondern auch und ungleich schwerwiegender auf Kosten einer aus dieser Systemlogik neu generierten weiblichen Prekarität, die im Schatten der schillernden öffentlichen Diskurse über die neue Klasse der weiblichen Managerinnen ihr Dasein fristet. Mit dem Neoliberalismus wird also in ökonomischer und sozialethischer Sicht nicht nur ein »Kult des winner[s]« durchgesetzt, der, wie Pierre Bourdieu präzisierte, nicht nur in den oberen Etagen von Staat und Wirtschaft herrscht, sondern auch »den Kampf eines jeden gegen jeden … und den normativen Zynismus all seiner Praktiken« ins Recht setzt.13 Bourdieu macht hier auf einen wesentlichen 13 | B OURDIEU, P IERRE . Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK 1998. S. 116 (Hervorh. i. Orig.)
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Grundzug der neoliberalen Ideologie und seiner politisch-praktischen Umsetzung aufmerksam. Was sich nämlich mit der ›Ökonomisierung des Sozialen‹ ereignet, ist das politisch forcierte und zivilgesellschaftlich habitualisierte ›populare‹ Paradigma, dass jeder und jede bloss für sich selbst schauen soll, ohne Rücksicht auf die Verluste anderer. Das ist eine Individualisierung, die, fern davon, die Versprechen der Moderne mit ihrem Credo an eine selbstbestimmte, vernünftige und autonome Lebensführung und -entscheidung einzulösen, sich als ›Egomanisierung‹ manifestiert, die soziale Ent-Bindung als ›Qualität‹ neoliberal ›flexibler‹ Menschen preist. Der Neoliberalismus ist also nicht einfach die Anwendung einer bestimmten Wirtschaftspolitik, die schlicht umgedreht werden kann, um dort weiterzumachen, wo begonnen wurde, wie dies der venezolanische Soziologe Edgardo Lander 14 anmahnte. Er ist vielmehr eine hegemoniale Konstellation, die neben der Umstrukturierung des globalen und nationalen Güter- und Kapitalverkehrs die Gesellschaften tiefgreifend verwandelt und neue Formen des Denkens, Fühlens und Handelns ins Leben ruft. Er produziert tiefgreifende Transformationen, die nicht nur die Kräfteverhältnisse zwischen verschiedenen Kapital- und gesellschaftlichen Sektoren oder, allgemeiner noch, zwischen Staat und Markt verschiebt, sondern auch das Individuum neu kodiert, die sozialen Interaktionen zunehmend warenförmig gestaltet und die Prinzipien der Solidarität oder des Gemeinwohls nur noch in exklusive Termini des ›Eigenen‹ und in Absetzung zu den ›Anderen‹ – seien dies nun die faulen Nager am Gemeinwohl oder die bedrohlichen Fremden und Überflüssigen, die den nationalen Wohlstand erodieren und die nationale Eigenart beschmutzen – kleidet. Die neoliberale Hegemonie erzeugt so nicht nur eine Entpolitisierung und zugleich Ökonomisierung der Gesellschaft, zumal immer mehr Lebensbereiche im Register des Kosten-Nutzen-Kalküls dekodiert werden – von der eigenen Karriere, dem eigenen Humankapital, der Sorge, der Gesundheit und der Bildung, den Medien und öffentlichen Institutionen bis zum Staat, dem politischen Apparat und sogar zur eignen Nation, die im Kode des ›Eigentums‹ vor fremden ›Zugriffsversuchen‹ geschützt wird – auch die allgemeine Kultur als kollektiv geteilte und sprachlich vermittelte Praxis der Bedeutungsgebung erfährt eine analoge Verschiebung von einer räsonierten und zeitintensiven Auseinandersetzung über das ›Gute‹ und ›Gerechte‹ zur schnellläufigen und dem Dogma der Aufmerksamkeitserheischung verpflichteten Praxis, mit welcher das, was heute im medialen Diskurs als Empörungsmeldung auf blitzt, morgen schon in Vergessenheit zu geraten droht. Was sich aber perpetuiert, ist die Flüchtigkeit dieser Praktiken, die damit einhergehende Lahmlegung des individuellen und kollektiven Kritikpotentials und das Spektakel des in den zivilgesellschaftlichen Ritzen des Alltags ewig wiederkehrenden Konsenses und Zwangs, sich den dominanten und mit der Aura 14 | E DGARDO L ANDER zitiert in B ORIS, D IETER . TIT TOR, A NNE . Lateinamerika: Alternativen zur neoliberalen Politik? In: C HRISTOPH B UT TERWEGGE /B ET TINA L ÖSCH/R ALF P TAK (Hg.). Neoliberalismus. Analysen und Alternativen. Wiesbaden: VS 2008. S. 394-414. Hier S. 394.
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der Alternativlosigkeit plausibilisierten und in der Praxis habitualisierten Markt-, Lebens-, Verhaltens- und Denkstrukturen immer wieder von Neuem einzufügen. Der Neoliberalismus, der als wirtschaftliches Projekt unweigerlich auf seine politische Durchsetzung zählen muss und deshalb tiefgreifend in den Bereich des Sozialen eindringt, formt nicht nur die Soziokultur, also die Welt der zwischenmenschlichen Begegnungen und Interaktionen nach eigenen Massgaben, sondern und ungleich machtvoller auch die Deutungskultur, mit welcher ebendiese Welt und ihre Regeln als einzig mögliche und alternativlose plausibilisiert werden. Fern davon, politische Kultur zu erodieren oder zu zerstören, erschafft der Neoliberalismus seine eigene politische Kultur, die ihm auch dazu dient, diejenigen Deutungen der Welt und des Selbst zu generieren, im Alltagsverstand zu festigen und in der sozialen Praxis mittels Konsens und Zwang manifest zu machen, die seiner politischen Durchsetzung und Stabilisierung das legitimatorische Fundament bereitstellen. Als Sediment hegemonialer Deutungen und Praktiken, wie politische Kultur im ersten Teil definiert wurde, speichert sie die dominant gewordenen, im praktischen Alltag und durch strukturelle Zwänge einer nach Marktradikalität ausgerichteten Arbeits- und Konsumwelt auch habituell reproduzierten ›Normalitäten‹ und ›Wahrheiten‹ im Alltagsverstand und kreiert so eine normativ-kognitive Landkarte, die ihre Wege, Schluchten und Hügel nach Massgabe des neoliberalen Koordinatensystems zeichnet. Sinn- und Wertvorstellungen, Orientierungen, aber auch Erwartungen an das politische System werden somit im Rahmen der neoliberalen Hegemonie neu ausgerichtet und im Register des Marktspiels neu kodiert. Der Bürger verwandelt sich zum Marktsubjekt und entziffert die Welt zunehmend aus dieser Perspektive. Begriffe wie Solidarität, Gemeinwohl oder politisches Engagement scheinen ihm nur dann geboten zu sein, wenn es um die Verteidigung des eigenen Wohlstandes und des noch verbliebenen Sozialstaates gegen fremde Eindringlinge geht. Das bedeutet aber auch, dass Individuen fortan ihren eigenen Nutzen, ihre eigenen Karrieren und ihren eigenen Erfolg in den Vordergrund stellen und gesellschaftliche Fragmentierungserscheinungen nicht mehr aus einer Idee der kollektiven Sorge betrachten, sondern vielmehr dem persönlichen Verschulden des Einzelnen in die Schuhe schieben, womit auch gemeinschaftliche Projekte als Zeit- und Geldverschwendung dekodiert werden. Vom politischen System wird hingegen von einer glücklichen Wählerschaft die Sicherung ihres Vermögens und ihrer Einkommensskalen gefordert, die mittels eines hohen finanziellen Lobby- und Propagandaaufwands, Forderungen – wie etwa der Ruf nach allgemeinen Steuersenkungen, stärkerer Deregulierung der Arbeitsmärkte im Namen höherer Beschäftigungsraten oder möglichst unregulierter Finanzmärkte – im Namen des Wohles der Allgemeinheit medial in der Öffentlichkeit verbreiten, damit den Konsens der Subalternen zu erheischen suchen und so ihre ökonomische Macht zunehmend in politische Macht verwandeln. Das politische Projekt ›Neoliberalismus‹ operiert somit auf verschiedenen Tätigkeitsfeldern. Während die zivilgesellschaftlichen und staatlichen Apparate der Unausweichlichkeit der
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globalen Marktkräfte angepasst werden und der politische Diskurs in der Öffentlichkeit nach mediokratischen Prinzipien abgewickelt wird, womit die ökonomische Macht einiger Akteure ungleich mehr Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben kann, als dies beispielsweise für finanziell unterdotierte zivilgesellschaftliche Bewegungen der Fall ist, setzt sich schleichend auch eine diesem hegemonialen System entsprechende politische Kultur durch, in der nicht nur die hegemonialen Deutungen eine Sedimentation erfahren, die rückkoppelnd das Selbst- und Weltverständnis der Menschen und somit ihre Einstellungen und Wertvorstellungen zum politischen System in vorgefertigte und hegemonial stabilisierte Spuren des Denkens und Handelns lenken, auch alternative Deutungsmöglichkeiten der Welt und des Selbst geraten dadurch in Schwierigkeiten, öffentlich Gehör zu finden. Die hegemonialen Praktiken in den zivilgesellschaftlichen Apparaten, die nach Massgabe ihrer Markttauglichkeit bewertet und mit dem Zusatz der ›Normalität‹ versehen werden, generieren somit nicht nur neu kodierte Orientierungen, Wertvorstellungen und gemeinsam geteilte Ideen des Selbst und der Welt, sondern sorgen in ihrem praktischen Vollzug auch für die Anpassung der Einzelnen an das hegemoniale politische, wirtschaftliche und soziale Umfeld. Hier wird zwischen erwünschten – also marktkonformen – und unerwünschten Verhaltensweisen, Aussagen und Lebensausrichtungen unterschieden und gleichsam mittels sichtbarer und unsichtbarer Imperative Konformität erzeugt. In der Schule, in den Medien, bei geschäftlichen oder privaten Treffen, bei familiären Anlässen oder in Sportvereinen werden die Kommunikationen, Gesten, Symbole und sonstigen Zeichen vor dem Hintergrund der tradierten Bedeutungsreservoirs, die im Alltagsverstand sedimentiert sind, auf Sinn oder Unsinn hin bewertet, bestätigt und in der kommunikativen Performanz zugleich von Neuem gefestigt. Im Rücken dieser alltäglichen kommunikativen Ereignisse spannt sich so ein Teppich von tradierten Bedeutungen über die Welt und das Selbst, über die Ökonomie und die Politik, dessen Maschen immer enger aneinandergeknüpft werden und so ein kommunikatives Stolpern zunehmend verunmöglichen. Hier werden also die hegemonialen politisch-kulturellen Deutungen, ohne dass sie explizit angesprochen werden, habituell wiederholt, so dass sie sich im Alltagsverstand sedimentieren können und für die Akteure mit dem Glanz des Selbstverständlichen blendend stark verknüpft werden. Hier und auf dem Boden des ideologischen Teppichs der hegemonialen Ordnung werden auch die Begriffe der ›Demokratie‹, des ›Gemeinwohls‹, der ›Arbeit‹, des ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ an die dominante ›Sprache‹ und ihre sie formende Deutungskultur angepasst und im praktischen kommunikativen Vollzug in den zivilgesellschaftlichen und staatlichen Apparaten stabilisiert und institutionell umgesetzt. Andere Deutungen werden nicht explizit ausgeschlossen, finden aber angesichts der sich in den zivilgesellschaftlichen Feldern, in der Öffentlichkeit und im zwischenmenschlichen Bereich perpetuierenden dominanten Deutung wenig Raum und Resonanz, um eine kritische und zeitaufwendige Reflexion über die bestehende Ordnung der Dinge in Gang setzen zu können.
5. Fazit
Mit der politischen Durchsetzung neoliberaler Dogmen wird nicht nur eine veränderte Form der kapitalistischen Produktion – die auf ›immaterieller Arbeit‹ aufbaut, nach dem Modus des Postfordismus funktioniert oder einfach die Finanzwirtschaft vor die produktiven Sektoren setzt – dominant, auch das Selbstverständnis der Individuen, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Bindungen zwischen Bürger und politischer Sphäre verändern sich. Mit dieser neoliberalen hegemonialen Kolonisierung der Lebenswelt entstehen also nicht nur andere Formen des Lebens, der Arbeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen – die alle zunehmend eine Kommodifizierung erfahren –, auch andere Orientierungsund Sinndeutungsmuster werden damit dominant und verdrängen solche, die zuvor noch eine hegemoniale Position im kollektiven Bewusstsein innehatten. Auch neue Institutionalisierungen im Bereich des Privaten und Öffentlichen nehmen Form an – von den Patchwork-Familien zu den Public-Private-Unternehmungen, von der Dominanz der sogenannten Soft Laws und ihren neuen internationalen Schlichtungsbehörden für wirtschaftliche Querelen, die keiner öffentlichen Rechenschaft schuldig sind, bis zu den prekarisierten Lebensmodellen, die an der Marginalität von tatsächlicher Armut und bloss versprochener Freiheit ihr Dasein fristen. Alle diese Institutionen mutieren zu ›public codes‹, weil sie sich in ihrer Wesen- und Anwesenheit wiederholen, sozusagen zur normalen und schon nicht mehr hinterfrag-würdigen Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens in Zeiten des Neoliberalismus gehören. Die Häufung dieser Institutionalisierungsphänomene und -orte zementiert nicht nur den Glauben an ihre Normalität, sondern verdrängt auch andere, gegenhegemoniale Entwürfe des Lebens, Wirtschaftens und Rechtsprechens aus der öffentlichen Diskussion oder integriert sie nur dann, wenn die »nackten korporativ-ökonomischen Interessen«,15 wie Gramsci die grundlegende Sorge der dominanten Klasse nannte, ihre Profite – heute müsste man eher sagen, Renditen – zu sichern, nicht gefährdet werden, wenn also die bestehende hegemoniale Konstellation mit der Aufnahme neuer Lebensentwürfe keine Gefahr eingeht, ihre Dominanz zu verlieren, sondern vielmehr die Chance einer neuen profitablen Verwertung sichtet. Die Performanz solcher Institutionen und der darin stattfindenden und mit dem Nimbus des ›Normalen‹ legitimierten Handlungen, reproduziert zugleich die ihnen zugrundeliegenden Denk- und Handlungsmuster, die sie mit Sinn füllenden Deutungsnarrative der Welt und des Selbst und nicht zuletzt den hegemonialen politisch-kulturellen Sinnhorizont, in welchem all diese Rückkoppelungsvorgänge stattfinden. Damit wird auch der Alltagsverstand nach Massgabe des dominanten Narrativs kodiert. Die zulässigen und verbotenen Sag- und Machbarkeiten finden darin eine Sedimentierung und etablieren so einen ›cadre socieux‹, dessen Kräfteverhältnisse, Interaktionen, Hierarchien, ›ways of being and beha15 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 13, S. 1561.
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ving‹ und Selbst- und Weltverständnisse im kollektiven Gedächtnis gespeichert und im Alltag mit dem Gütesiegel des Selbstverständlichen reproduziert werden. Der fundamentale Kern der hegemonialen Ordnung – die neoliberale kapitalistische Produktions- und Akkumulationsform – bleibt damit jedoch unangetastet. Die durchaus sichtbaren und erfahrbaren Veränderungen und Dynamisierungen der Hegemonie verlagern sich nämlich auf die gesellschaftliche Ummantelung dieses Kerns. Mit Gramsci liesse sich also sagen, dass mit dem neoliberalen Paradigmenwechsel im Bereich der Wirtschaftspolitik untrennbar auch neue Weisen zu leben, zu denken und das Leben zu empfinden verbunden sind. Damit ändern sich nicht nur die Selbst- und Weltverständnisse der Menschen, sondern auch die politisch-kulturellen Deutungen identifizieren andere Probleme und Bedrohungen sowie andere Aspekte des Lebens und der Aushandlung seiner Reproduktion. Mit der neoliberalen Hegemonie, ihrer Umgestaltung des zivilen und politischen Raumes, der öffentlichen Sphäre und des darin sich befindlichen Individuums, ihrer Produktion gelehriger und sich selbst führender und passivierender Subjekte setzt sich auch eine politische Kultur durch, die aufgrund ihrer Sedimente, die im kollektiven Bewusstsein dominant gehalten und im praktischen Vollzug des Alltags reproduziert werden, zugleich und in Äquivalenz hierzu, auch die Deutungsschablone bereitstellt, mit welcher bestimmt wird, welche Bereiche des Sozialen wie und ob überhaupt politisch thematisiert werden, wer oder was zu ihrem hegemonialen Narrativ und dem damit transportierten Gedächtnis gehört und was in die Vergessenheit verdrängt werden darf und welcher Typus des Bürgers, des Politikers und des alles umfassenden politischen Apparats wünschensoder verachtenswert ist. Sie bestimmt, welche wirtschaftlichen Interessen thematisiert werden sollen und welche keines Wortes würdig sind. Politische Kultur als Sediment hegemonialer Deutungen übt ihre grundlegende Funktion – das Ziehen der Grenze zwischen Politik und anderen Sphären – vor dem Hintergrund der sie einkreisenden und kodierenden Hegemonie aus und generiert so Sozialisierungsprozesse und gesellschaftliche Erziehungsmodi – wie das Gouvernementale der ›Führung der Führungen‹, respektive der ›Selbstführung‹ –, die ihrer Deutungshoheit entsprechen und in ihrem Vollzug diese rückkoppelnd und von neuem wieder bestätigen. Mit dem neoliberalen Paradigmenwechsel, seinen politischen Umwälzungen für Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Individuen wuchs auch eine ganze Generation auf, »die die Normen dieser Phase des unkontrollierten globalen Kapitalverkehrs als kulturelle Rahmenbedingungen verstanden, ihre Wertmassstäbe daran ausrichtet und Globalisierung und Ende der Staatlichkeit als Säulen jener Welt betrachteten, in der sie sich zu bewähren haben würden.«16 Reinhard Blo16 | B LOMERT, R EINHARD. Über die Zivilisierung kapitalistischer Aristokratien. In: N ECKEL , S IGHARD (Hg.). Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M.: Campus 2010. S. 117-137. Hier S. 118.
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mert betont hier also den Sozialisierungsaspekt neoliberaler Politiken, die nicht nur Fragmentierungen im sozialen Gefüge generieren, sondern auch das politische Spektrum neu konfigurieren und mit ihm auch die politische Kultur neu kodieren. Unter neoliberaler Hegemonie wird nicht nur ein neuer normativer Rahmen politisch festgelegt, dem sich möglichst alle und alles zu fügen haben; diese Rahmung des politischen, gesellschaftlichen und individuellen Lebens generiert auch neue Deutungen des Selbst und der Welt, der Wege, die zu beschreiten und der Tiefen, die zu vermeiden sind, der Haltungen, die persönlichen Erfolg versprechen, und solcher, die das Bild des ›Überflüssigen‹ herauf beschwören. Damit sickern diese Deutungen auch in das kollektive Bewusstsein ein, wo sie kommunikativ wiederholt, medial repräsentiert und mit sichtbaren oder unsichtbaren Imperativen in den zivilgesellschaftlichen Institutionen materialisiert werden, womit auch den Renegaten durch strukturell aufgezwungenen Konsens nahegelegt wird, diese Deutungen in ihren Sinnhorizont zu übernehmen. Die dominante politische Kultur, dieses kollektiv geteilte und gefestigte Sediment hegemonialer Deutungen, zeichnet sich in Zeiten des Neoliberalismus dadurch aus, dass die Sag- und Machbarkeiten, die sie in Bezug auf die politische Sphäre, und somit auf die Gestaltung der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der individuellen Lebensentfaltungs- und politischen Partizipationsmöglichkeiten definiert, unweigerlich vom dominanten neoliberalen Narrativ motiviert, gespeist und rechtfertigt werden. Wie aus den Ausführungen ersichtlich sein sollte, ist es eine politische Kultur, deren zentrale Deutungsangebote ein undemokratisches Szenario herauf beschwören und zu stabilisieren versuchen. Die Wertorientierungen, gemeinsam geteilte Sinnmuster und Vorstellungen über das politische System, die damit gekoppelte Gesellschaft und die sie bevölkernden Individuen sind von einer hegemonialen Deutungskonstellation untermauert, deren Taktiken und Strategien in der Ent-Politisierung, der ›Egomanisierung‹ und der ›Chauvinisierung‹ der Bürger bestehen. Entsprechend produziert sich das undemokratische neoliberale System durch seine Politiken, die es überhaupt erst entstehen lassen und auf Dauer stellen, seine ihm eigene undemokratisch kodierte politische Kultur, die den Menschen, fern davon, ihn zum liberalen Bürger zu machen – wie dies die liberale Theorie und trotz Marxens berechtigten Sarkasmus hierzu, immerhin ideell anstrebte –, nur noch als Marktteilnehmer, als Subjekt und zwar im pejorativen Sinne des ›sub-jectus‹, des Unterworfenen kodiert. Natürlich können sich nun zu dieser dominanten politischen Kultur in Zeiten des Neoliberalismus auch andere politische Kulturen mit anderen Deutungsangeboten gesellen. Aber auch diese stehen im Banne der dominanten politischen Kultur und der sie fundierenden Narration, auch sie müssen ihre Welt- und Selbstverständnisse, ihre Vorstellungen und Wertorientierungen bezüglich des politischen Systems in Auseinandersetzung mit dem Bestehenden formulieren und so die hegemoniale Konstellation aus einer internen Position herausfordern. Politische Kultur, verstanden als Sediment hegemonialer Deutungen, besagt ja gerade, dass ihre Veränderung wie auch diejenige des politischen, wirtschaftlichen und gesell-
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schaftlich dominanten neoliberalen Narrativs, das die dominante politische Kultur ideologisch unterfüttert, stets gegeben sein kann, dass also die zwar harten ideologischen Sedimente, gerade weil sie verhärtete geistige Ablagerungen sind, ebenso gut erodieren können. Gerade der Aufstieg des Neoliberalismus führt diesen Zusammenhang vor Augen. Die wirtschafts- und sozialpolitische Dominanz des Keynesianismus und des westlichen Wohlfahrtsstaates beruhte auch auf einer hegemoniale Konstellation, in der gegnerische Gruppen in einem mehr oder weniger stabilen Konsens eine kapitalistische Produktion mit leicht angezogener Handbremse ermöglichten und hierfür auch auf eine, dieser Konstellation entsprechende dominante politische Kultur aufbauen konnten. Obwohl diese Gruppen ihre jeweilige politische Kultur hatten, sei es eine, die von konservativ geprägten Ordnungsvorstellungen sedimentiert war, oder eine entgegengesetzte, die progressiv-revolutionäre Welt- und Selbstdeutungen in sich vereinte, beide wirkten sie hegemonial in die dominante politische Kultur hinein, die im liberalen Parlamentarismus, im Sozialpakt zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften oder in der wirtschaftspolitischen Überzeugung, dass der Staat unter demokratischen Bedingungen aktiver Gestalter der Marktprozesse sein solle, seine zentralen Deutungsmuster sichtet und hieraus auch den Rahmen der Sag- und Machbarkeiten formulierte. So durften zwar revolutionäre Parolen geschwungen werden, die gewaltsame Revolution gehörte aber in diesem politischkulturellen Deutungsrahmen eindeutig zu den Nicht-Machtbarkeiten. Der neoliberale Paradigmenwechsel beruhte nun darin, einerseits die verschiedenen Kritikpunkte am keynesianischen Sozialstaat aufzunehmen – somit also aus dem Inneren der bestehenden Hegemonie aktiv zu werden – und in einem neuen freiheitsversprechenden Projekt zu artikulieren und andererseits, auch mithilfe der geschichtlichen Umwälzungen eine neue Form des Liberalismus zu propagieren und so bestehende Welt- und Selbstdeutungen – vor allem solche, die im marxistischen, aber auch wohlfahrtstaatlichen Vokabular geäussert wurden – für obsolet zu erklären und durch andere zu ersetzen, die diesmal wirklich ›wissenschaftlich‹ seien. Durch globalen und nationalen Zwang und den hierfür zunehmenden mehrheitsfähigen Konsens konnten neoliberale Politiken somit nicht nur das Gesicht ihrer nationalen Wirtschaften einem – letztlich bloss oberflächlich schön wirkenden – Lifting unterziehen, sondern auch die Gesellschaften an den Reizen dieses strahlenden Antlitzes ausrichten, was unweigerlich neue Praktiken im Alltag, in der Kommunikation, in der Arbeitswelt und der Öffentlichkeit hervorbrachte, die ein bestimmtes Subjekt verlangten, welches diesen Praktiken auch gewachsen sei und sie geistig und praktisch reproduziere. Damit wurden also auch das Denken, Handeln und Fühlen der einzelnen Menschen an die neuen Begebenheiten angepasst, so exklusive Deutungen in den zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparaten artikuliert, wiederholt und zusehends mit der Aura der Selbstverständlichkeit in das kollektive Bewusstsein gedrängt und letztlich die politisch-kulturellen Traditionen der wohlfahrtsstaatlichen Ära unter einer umkodierten politischen Kultur begraben, deren versammelte Sinnorientie-
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rungsmuster, Vorstellungen und Wertehaltungen den herrschenden Verhältnissen und den sie rechtfertigenden Diskursen und Interpretation entsprechen und rückkoppelnd von letzteren stabilisiert wurden. Das sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatsmodell wurde vom neoliberalen Marktradikalismus nicht nur auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene herausgefordert, sondern gerade und vor allem auch auf der Ebene der politischkulturellen Deutungen, im Bereich der politischen Kultur also. Hier sedimentierten sich die für das neoliberale Projekt grundlegenden Ideologeme der Staatsfeindlichkeit, des Leistungsimperativs, der Marktfreiheit und der Glorifizierung des Privateigentums und hier wurden sie durch die damit legitimierte und in die Praxis umgesetzte ›Ökonomisierung des Sozialen‹ rückkoppelnd gefestigt, in hegemonialer Weise im Alltag und im Denken reproduziert und machten so dieses Ensemble an Wertvorstellungen und Orientierungen zum dominanten gesellschaftlichen politisch-kulturellen Deutungsmuster. Der neoliberale Siegeszug beruhte demnach auf der ideologischen Belagerung der politisch-kulturellen Selbst- und Weltverständnisse, um eine dem neoliberalen Projekt angemessene politische Kultur mittels Konsens und Zwang kodieren und dominant halten zu können. Diese Ebene ist es, die politisch umkämpft wird, in der eine Weltanschauung erst dann hegemonialen Status erlangt, nachdem sie eine dominante Sedimentierung erfahren hat und so die Deutungen der Welt und des Selbst, und die damit legitimierten Handlungen und Denkweisen im Hinblick auf die politische, wirtschaftliche und soziale Gestaltung der Gesellschaft sowie die moralische Führung und Selbstführung der Individuen nach ausschliessendem Muster kodiert und diese Selbst- und Weltverständnisse so auf Dauer zu stellen versucht. Politische Kultur bildet somit auch dasjenige höchst politisierte Fundament einer jeden, wie auch immer politisch organisierten, Gesellschaft, auf dem der Kampf um eine andere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung stattzufinden hat. Die dominant gewordene politische Kultur übt dann die höchst ideologische Funktion aus, die Zwänge, Ungereimtheiten und Widersprüche des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systems mit dem von ihr kodierten Alltagsverstand hinter dem Schein der ›Natürlichkeit‹ zu verbergen, so dass Armut, Prekarität, die zunehmenden Wohlstandsgefälle in den westlichen und nicht nur westlichen Gesellschaften sowie die rechtspopulistischen Hetzkampagnen gegen Ausländer, Sozialschmarotzer oder ›Überflüssige‹ als normale und natürliche Erscheinungen dieser alternativlos gewordenen Welt verstanden werden sollen. Auf der Ebene der politischen Kultur werden die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche vorgespurt, ideologisch gefestigt und im daraus sich ergebenden Spiel von Konsens und Zwang in ein politisch-praktisches Projekt umgemünzt. Nicht umsonst betonte Gramsci, dass es vor dem Regierungsantritt eine politische und kulturelle Hegemonie geben kann und muss.17 Der politisch17 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 1, Heft 1, S. 102.
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kulturelle Boden muss sozusagen schon gepflügt worden sein, damit auf ihm die ersehnten Früchte der Macht wachsen können. Die herrschenden Deutungen der Welt und des Selbst müssen zuallererst umkodiert und mittels Konsens und Zwang in ein stabiles Kompromissgleichgewicht gebracht werden, um so auch die politische Legitimation und Mehrheitsfähigkeit garantieren zu können, die die einsetzende politisch-praktische Regierungsübernahme durchführbar macht. Politische Kultur erweist sich damit als das privilegierte politische Feld, auf dem der Kampf um die Köpfe und Herzen stattfindet, damit eine exklusive Deutung der Welt und des Selbst hegemoniale Macht ausüben kann. Sie ist somit auch die zentrale politische Kampffläche, auf der sich zuallererst die Antwort auf Gramscis Frage artikulieren muss, ob die Menschen wollen, dass es immer Regierte und Regierende gibt, oder ob sie die Bedingungen schaffen wollen, unter denen die Notwendigkeit der Existenz dieser Teilung verschwindet.18
18 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 7, Heft 16, S. 1713.
Abschliessende Überlegungen und Ausblick »Il silenzio è il muro di difesa dei nostri miti, è il custode della nostra sonnolenza spirituale.« N ORBERTO B OBBIO
Die hier unternommenen Untersuchungen haben im ersten Teil ›politische Kultur‹ als ein Konzept skizziert, das sich in den Dimensionen der Kommunikation, der Institution und der Erinnerung manifestiert. Als Phänomen des Öffentlichen erscheint politische Kultur als der gemeinsam geteilte Deutungsrahmen dessen, was in einer Gesellschaft gemacht und gesagt werden kann und was nicht. Insofern bildet sie ein Bedeutungsreservoir, dessen Inhalte, Selbst- und Weltbilder sowie sichtbare und unsichtbare Imperative zwar vorgefunden werden und so das Individuum in die dominanten Verhaltens- und Lebensweisen sozialisieren, als solche aber das Resultat vergangener politischer Kämpfe um die Fixierung ihrer Geltungen sind. Politische Kultur als Rahmen des Sag- und Machbaren in einer Gesellschaft muss auch das Verbotene und Unerwünschte definieren und sanktionieren können, sie muss also als Deutungsinstanz über die ›richtigen‹ und ›normalen‹ Selbst- und Weltverständnisse fungieren. Sie ist derjenige Bereich des gesellschaftlichen Unbewussten, in welchem politisch umkämpfte und hegemonial stabilisierte Deutungsangebote eine Sedimentation erfahren und so exklusive politisch-kulturelle Selbst- und Weltbilder stabilisieren, die wiederum ein ihnen entsprechendes politisches, wirtschaftliches und soziales System hervorbringen und stützen. Zugleich bilden sich die Selbst- und Weltverständnisse, die in der politischen Kultur gespeichert werden, immer auch in Abhängigkeit der politischen Interventionen auf dem Feld der Wirtschaft, der Politik, des Sozialen und der intersubjektiven Verhältnisse und sind somit im Kontext der ökonomischen Strukturen, in denen die Menschen ihr Dasein fristen, und vor allem mit den dominanten Interpretationen derselben, zu denken. Als Sediment hegemonialer Deutungen speichert und transportiert politische Kultur diejenigen Selbst- und Weltverständnisse sowie Wertvorstellungen und Orientierungen gegenüber dem politischen System, die im Gleichklang mit der dominanten ideologischen Narration stehen. Politische Kultur erweist sich damit
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als permanent politisierte Kultur, zumal die Deutungsangebote des Politischen und Sozialen, die in ihr sedimentiert sind und auf Dominanz drängen, gerade aufgrund ihrer hegemonialen Stellung immer wieder bestätigt, wiederholt, in Erinnerung gerufen und im Alltag materialisiert sein wollen. Eine dominante politische Kultur, die der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Ordnung als Plausibilitäts-, Legitimations- und Dechiffrierungsreservoir dient, ist also nie ein für alle Mal geschlossen und unveränderlich. Im Gegenteil, gerade die hegemoniale Formation der herrschenden Ordnung verlangt von ihren privilegierten Akteuren, Institutionen und Narrativen eine ständige Arbeit an ihrer Beibehaltung oder zumindest an der Unverrückbarkeit derjenigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die den Privilegierten weiterhin ihre Vorteile sichern. Eine solche Ordnung braucht aber auch den Konsens der Subalternen, damit sie das notwendige mehrheitsfähige Legitimationspotential auf bringen kann. Es ist ein Konsens, der jedoch weniger mittels ökonomischer Zusagen an die Subalternen gefestigt wird, wie dies die gegenwärtige neoliberale Hegemonie zeigt, die gerade keine oder nur geringe Opfer für die Verlierer des neuen Kapitalismus zu bringen bereit ist, sondern vor allem durch die Etablierung einer kulturellen Hegemonie gewonnen wird, in der bestimmte, den dominanten politischen und wirtschaftlichen Prozessen entsprechende Lebens-, Verhaltens- und Denkformen propagiert, praktiziert und mit dem Etikett des ›Normalen‹ versehen werden. Es handelt sich hierbei um eine kulturelle Hegemonie, die über die zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparaten eine Konsolidierung findet. In diesen Apparaten werden mittels aktiver und passiver Führung und Selbstführung der Einzelnen und der Anderen solche Subjektivierungsformen gefördert, die dem hegemonialen Narrativ entsprechen und diesen rückkoppelnd mit der alltäglichen Performanz erwünschter und angereizter Denk-, Handlungs- und Gefühlsformen stabilisieren. Zugleich sickert die kulturelle Hegemonie gerade durch diesen alltäglichen praktischen Vollzug in den Alltagsverstand ein, wo die hegemonialen Selbst- und Weltbilder immer wieder von Neuem in allen möglichen sozialen Handlungen wiederholt und mit exklusiver Bedeutung behaftet und, damit einhergehend, auch die politisch-kulturellen Deutungsmuster nach Massgabe der hegemonialen Weltanschauung geeicht werden. Politische Kultur als legitimitäts-, weil bedeutungsstiftende kognitive Ebene gemeinsam geteilter Wertorientierungen und Sinnhorizonte wird dann zur dominanten politischen Kultur eines Gemeinwesens, wenn die Kodes, Bedeutungsreservoirs und Sinngebungspraktiken der herrschenden kulturellen Hegemonie in ihr unhinterfragt übernommen werden. Die hegemoniale Ordnung mit ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen findet dann eine wechselseitige Rückkoppelung mit und in der ihr entsprechenden politischen Kultur. Im zweiten Teil wurde das gegenwärtig dominante neoliberale Narrativ, seine ideologischen Formationen und die Sedimentierung seiner Inhalte und Praktiken in der politischen Kultur beschrieben. Die unter dem Titel ›Neoliberalismus‹ eingesetzte Konterrevolution in den späten 1970er Jahren hat in globaler Hinsicht
Abschliessende Überlegungen und Ausblick
nicht nur das Finanzkapital von staatlichen Erwägungen gelöst, sondern mit seinen auf Zwang und Konsens basierenden Politiken die Geschicke der Volkswirtschaften immer mehr aus einem Prozess der demokratischen Kontrolle gelöst und so die Aufgaben der Politik auf andere Bereiche gelenkt. Im Namen freier Marktprozesse, Wohlstandsvermehrungen und neuer demokratisch-liberaler Erfahrungen – die tatsächlich neu waren, zumal die modernen Kernelemente des Demokratischen wie Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung, Freiheit, die selbst gewählten Lebenspfade zu beschreiten und das grundlegend kantianische Prinzip, dass kein Mensch Mittel zum Zwecke eines anderen sein darf, bis zu ihrer Unkenntlichkeit verzerrt wurden – wurde eine ›Ökonomisierung‹ aller möglichen zivilgesellschaftlichen Felder vorangetrieben. Damit wurden auch die Verhältnisse zwischen Bürger und Staat, Eigenen und Fremden, Reichen und Armen, Mann und Frau, aber auch zwischen den Bürgern untereinander, neu kodiert und an die dominante kapitalistische Wirtschaftsform angepasst, was unweigerlich eine Egomanisierung und Entpolitisierung der Bürger, eine Feindschaft gegenüber dem Staat und dem politischen Apparat, einen Vertrauensverlust in die demokratischen Selbstbestimmungsprozeduren mit einem zunehmenden politischen Desinteresse und Verdruss auf Seiten der wählenden Massen hervorbrachte, aber auch eine Mediokratie im Bereich des Öffentlichen implementierte und so auch eine politische Kultur etablierte, die den hegemonialen Status neoliberaler Politiken stabilisiert und von diesen rückkoppelnd gefestigt wird. Sowohl politische Kultur als auch die sie prägende neoliberale Ordnung sind beides hegemoniale Konstellationen, was soviel bedeutet, dass ihre ideologischen Sedimente auch erodieren können und so neue, alternative hegemoniale Formationen immer möglich sind. Die Frage, die sich also am Schluss dieser Untersuchungen aufdrängt, ist, was angesichts der undemokratisch disponierten politischen Kultur in Zeiten des Neoliberalismus getan werden kann. Es kann an dieser Stelle keine detaillierte Widerstandstheorie geschrieben werden, aber zumindest sollen ihre Konturen und Elemente skizziert werden. Hierfür ist eine doppelte Spur zu verfolgen, die Intersektionen eingeht und so eine Widerstandstheorie mit ihren Politiken verknüpft, die aus diesen Verknotungen Optimismus, Hoffnung und Motivation schöpft und sich fortwährend rhizomatisch weiterentwickelt. Die erste Spur verfolgt Norberto Bobbios Konzept der ›Politik der Kultur‹. Wenn nämlich politische Kultur das Sediment hegemonialer Deutungen ist, dann bedeutet dies auch, dass sie eine Kultur darstellt, die politisiert ist und in welcher das ›Richtige‹ vom ›Falschen‹ mit Anspruch auf Unveränderlichkeit gespeichert und kommunikativ in der öffentlichen Alltagspraxis vermittelt und immer wieder in Erinnerung gerufen wird. Die zweite Spur liegt in der gramscianischen Perspektive, die die Untersuchungen bis anhin untermauert hat. In dieser Herangehensweise ging es darum, die Bedingungen von Politik und Kultur zu ermitteln und politisches Handeln als ein Handeln zu verstehen, das durch historische Bedingungslagen, hegemoniale Deutungsmuster und von der Undurchsichtigkeit und Machtverformtheit der
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gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und der darin sich herauskristallisierenden dominanten Deutungen der Welt und des Selbst, geformt ist – also von dem, was in der politischen Kultur Sedimentierung gefunden hat. Aus dieser zweiten Spur wird Widerstand als eine Praxis der Umformung und Umwertung der dominanten Deutungen und Bedeutungen des Selbst und der Welt verstanden, die sich als gegenhegemoniale artikulieren muss, damit sie auch eine neue ›Politik der Kultur‹ etablieren kann. Begonnen sei daher mit der ersten Spur und dem italienischen liberalen Denker Norberto Bobbio. Mitte der 1950er Jahre veröffentlichte Bobbio ein Sammelwerk mit dem Titel »Politica e cultura«.19 Obwohl es in den darin versammelten Beiträgen um die Rolle und Aufgabe des Intellektuellen in einer noch jungen Nachkriegsrepublik ging, die von zwei ideologisch entgegengesetzten und in Bobbios Augen für jeglichen Dialog verschlossenen Parteien- und Interessensblöcken bedroht war, machte er immer wieder auch auf diejenigen Zusammenhänge aufmerksam, die für eine emanzipatorische und demokratische intellektuelle Wortergreifung unverzichtbar seien. Jenseits seiner berühmt gewordenen Definition des Intellektuellen oder »uomo di cultura« wie er ihn nennt, als derjenige, der es zu verstehen weiss, nicht Erkenntnisse zu pflücken, sondern Zweifel zu säen20, weitet Bobbio seine politisch-philosophische Arbeit auch auf diejenigen Aspekte aus, die für ein demokratisches Zusammenleben unverzichtbar sind. Eine liberale demokratische Gesellschaft benötigt einen freien Raum des Kolloquiums und der gegenseitigen Kritik, aber auch die hierfür als Voraussetzung dienende Selbstkritik an der eigenen Position und Meinung. Der »uomo di cultura« artikuliert seine Welt- und Selbstdeutung in der Öffentlichkeit und zwar so, dass er in seiner Stellungnahme immer auch schon die Meinung des Gegners und daran anschliessend immer auch seine eigene kritisch reflektiert hat. Bobbio spricht hier also neben der politischen Strukturiertheit eines demokratisch verfassten Gemeinwesens, das eben nur dann sich fruchtbar für alle weiterentwickeln kann, wenn zumindest die Sphäre der Öffentlichkeit für alle offen gehalten wird, so dass die argumentative Auseinandersetzung um die gute und gerechte Ordnung immer wieder auch von neuem beginnen kann, auch die gesinnungsethische Dimension, die normativ von denjenigen verlangt werden soll, die in diesem öffentlichen Kampfplatz der Meinung die argumentativen Klingen kreuzen. Neben der Pflicht, sich öffentlich zu äussern und in den Kampf um Meinungen und sie fundierende Argumente einzutreten, hat der »uomo di cultura« das Recht, die Rahmenbedingungen und die Grenzen des Sag- und Machbaren, die die öffentliche Auseinandersetzung konturieren, zuallererst zu hinterfragen und sie einer kritischen
19 | B OBBIO, N ORBERTO. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. 20 | »Il compitò degli uomini di cultura è più che mai oggi quello di seminare dei dubbi, non già di raccoglier certezze.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Invito al colloquio. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 3.
Abschliessende Überlegungen und Ausblick
Analyse zu unterziehen.21 Damit betont Bobbio, dass die Öffentlichkeit als Raum der diskursiven Auseinandersetzung nicht nur unverzichtbar für eine jede demokratische verfasste Gesellschaft ist, sondern immer auch von festgefahrenen Positionen und Artikulationen über ein spezifisches Welt- und Selbstverständnis bedroht ist, die diesen Raum für divergierende Aussagen und Argumente zu schliessen trachten. Obwohl Bobbio davon ausgeht, dass eine solche Schliessung, sofern die öffentliche Diskussion als solche ihre Zugänge offen hält und diese nicht verschliesst, mit einer demokratischen Gesellschaft nicht kompatibel und auch nicht vollziehbar ist, konzentriert er sich auf die Akteure, die in ihr wirken. Was Bobbio befürchtet, ist nicht so sehr die Schliessung des öffentlichen Raumes der Artikulation durch eine einzige und ein für alle Mal gültige Welt- und Selbstsicht, sondern vielmehr die Verhärtung der öffentlichen Auseinandersetzung, in der die vernünftigen Gründe und Argumente der politischen Orthodoxie geopfert werden. Sein »invito al colloquiuo« versteht sich gerade als Wortergreifung für eine Öffnung zum vernünftigen Diskurs zwischen entgegengesetzten politischen Positionen und somit auch für eine permanente Neubewertung und -defintion derjenigen Deutungs- und Handlungsmuster, die in der politischen Kultur eine nahezu unaufweichbare Sedimentation erfahren haben. Seine Analyse richtet sich demnach auch auf diejenigen, die dies bewerkstelligen können, und auf ihre Pflichten, Rechte, aber vor allem auf die Voraussetzungen, die sie für eine solche vernünftige und eben nicht parteitreue öffentliche Auseinandersetzung vorweisen müssen. Sein Augenmerk richtet sich also auf die »uomini di cultura«, diese Protagonisten der öffentlichen Diskussion und Wortführer bestimmter, meist entgegengesetzter Welt- und Selbstbilder. In Anlehnung an Antonio Gramsci betont Bobbio, dass eine öffentliche Auseinandersetzung um das Richtige und Wahre nur dann im Lichte der Vernunft und nicht der partikularen Einzelinteressen geschehen kann, wenn der »uomo di cultura« die Positionen und die Gründe des Gegners wirklich verstehen und bewerten will, was voraussetzt und zugleich bestätigt, dass er sich von seinen eigenen ›ideologischen Gefängnissen‹ befreit hat und so eine wahrhaft kritische Position gegenüber sich selbst und auch dem anderen einnehmen kann.22 Bobbio zeichnet also nicht nur 21 | »Al di là dell dovere di entrare nella lotta, c’é, per l`uomo di cultura, il diritto di non accettare i termini della lotta così come sono posti, di discuterli, di sottoporli alla critica della ragione. Al di là del dovere della collaborazione c’é il diritto della indagine.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Invito al colloquio. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 5. 22 | »Comprendere e valutare realisticamente la posizione e le ragioni dell`avversario (e talvolta è avversario tutto il pensiero passato) significa appunto essersi liberati dalla prigione delle ideologie (nel senso deteriore, di cieco fanatismo ideologico), cioè porsi da un punto di vista ›critico‹, l`unico fecondo nella ricerca scientifica.« In: G RAMSCI, A NTONIO. Il materialismo storico e la filosofia di Benedetto Croce. In: D ERS. Quaderni del carcere. 6 Tomi. 1a Edizione (1948-1951). Torino: Einaudi 1948. Tomo 1. S. 21. B OBBIO, N ORBERTO. Invito al colloquio. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 5.
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die Linien nach, in denen sich eine demokratische verfasste Gesellschaft ihrer Werte, Orientierungen und Welt- und Selbstbilder immer wieder versichern muss und die erst im Zusammenspiel von offener, öffentlicher Artikulation und selbstkritischer Wortergreifung das Bild eines ›Kolloquiums‹ zeichnen, durch welches eine Gesellschaft im Lichte der Vernunft ihre politisch-kulturellen Fundamente konstituiert und immer wieder auch auf die Probe stellt. Er geht noch weiter und betont, dass diese Offenheit der diskursiven Auseinandersetzung neben ihrer vitalen Funktion für eine demokratische verfasste Gesellschaft, in welcher die Suche nach der Wahrheit nur im Lichte des gegenseitigen Respekts und des ernsthaften Verstehen-Wollens anderer Meinungen, was immer auch die Aufgabe der eigenen Positionen impliziert, stattfinden kann, auch die Kontingenz und Konstruiertheit ebendieser Auseinandersetzung berücksichtigt. Erst im öffentlichen Diskurs, sofern dieser nicht von ideologischen Positionen verhärtet ist und sich in selbstkritischer Weise für die Meinung und die Argumente des anderen öffnet, liegt überhaupt die Vorbedingung für die Existenz und die Entwicklung einer jeden Kultur.23 Bobbio engt in diesem Aufsatz die Kulturdefinition auf ein Verhaltens- und Denkmuster ein, das er als Voraussetzung für die intellektuelle Arbeit des »uomo di cultura« versteht. Kultur bedeutet hier Masshalten, Abgewogenheit, Bedächtigkeit, womit eine Haltung erzeugt werden kann, aus welcher alle Argumente abgeschätzt werden, bevor man sie äussert, alle Zeugnisse kontrolliert werden, bevor man eine Entscheidung trifft, und so keine Äusserung und Entscheidung herbeigeführt wird, die in orakelhafter und unveränderlicher Weise Endgültigkeit beansprucht.24 Obwohl diese Kulturdefinition den Rahmen für ein aufgeklärtes, intellektuelles und öffentliches Engagement absteckt, bietet sie zwischen den Zeilen Hinweise für ein umfassenderes Verständnis von Kultur an. Bobbio macht nämlich auf zwei Dinge aufmerksam. Kultur ist erstens, auch wenn sie hier auf die Rolle des »uomo di cultura« eingeschränkt wird, etwas, das erzeugt wurde und somit verändert werden kann. Zweitens weist Bobbio in normativer Hinsicht darauf hin, dass gerade ein solches Verständnis von Unabgeschlossenheit von Kultur diese als in einer wandelbaren Dynamik befindliche auffasst und so für die öffentliche Auseinandersetzung und für die gesellschaftliche Interaktion offen und lebendig hält. Kurz: Kultur ist im Sinne Bobbio nie ein für alle Mal abgeschlossen oder wie in Granit gemeisselt, sondern steht immer unter der Potentialität ihrer Veränderbarkeit. Entscheidend ist also das öffentliche En23 | »la possibilità della discussione è la condizione preliminare per la esistenza stessa e per lo sviluppo di una qualsiasi cultura.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Politica culturale e politica della cultura. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 21. 24 | »Cultura significa misura, ponderatezza, circospezione: valultare tutti gli argomenti prima di pronunciarsi, controllare tutte le testimonianze prima di decidere, e non pronunciarsi e non decidere mai a guisa di oracolo dal quale dipenda, in modo irrevocabile, und scelta perentoria e definitiva.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Invito al colloquio. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 3.
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gagement der »uomini di cultura«, damit die Gestaltung der Kultur in Richtung einer vernunftbasierten, liberalen demokratischen Gesellschaft gelenkt wird. Sie ist also nicht nur das jeweilige Resultat gesellschaftlicher Interkationen, sondern eben auch dessen, was diese Interaktionen bewirken, generieren und normieren – des politischen Einsatzes. In Bobbios Augen, so liesse sich eine knappe Zusammenfassung formulieren, ist Kultur immer auch das Resultat und lässt sich entsprechend auch nur mittels Politik verändern. Für eine funktionierende Demokratie, die auf freiheitliche Werte nicht verzichten möchte, aber trotzdem die formellen sowie informellen Zwänge berücksichtigt, die die Freiheitsmöglichkeiten des Einzelnen beschränken, sieht Bobbio eine ›Politik der Kultur‹ vor, in welcher die intuitiv übernommenen und vielfach unhinterfragt reproduzierten kulturellen Praktiken, Selbst- und Weltdeutungen sowie dominanten Sag- und Machbarkeiten einer ständigen kritischen Reflexion unterworfen werden und so immer auch in ihrem dynamischen Zustand der Veränderbarkeit erscheinen. Gerade der fundamentale Wert einer jeden Demokratie, die Freiheit, bedarf zu ihrer Klärung, Ermöglichung und Wahrung einer kritischen Reflexion der Zwänge, die sie bedrohen. Das Bewusstsein über den Wert der Freiheit für die Entwicklung der Kultur ist eine der wenigen sicheren Erkenntnisse, welche sich die Menschen in der Gestaltung ihrer Gesellschaften und des modernen Denkens mühselig erobert haben.25 Die Freiheit als ein Konzept der Nicht-Verhinderung menschlicher Entfaltungen ist von einer freien und freiheitlich orientierten Kultur getragen, die immer auch ungehinderte Kultur sein muss. Die Hinderungen können hierbei sowohl materieller als auch psychischer oder moralischer Art sein. Die ersten verhindern oder erschweren die Zirkulation und den Tausch von Ideen und den Kontakt zwischen den »uomini di cultura«, die zweiten behindern die Formierung einer sicheren Überzeugung durch die Falsifizierung und Kritik von Fakten oder Erklärungen, die sich um diese ranken und sie erst als solche in Erscheinung treten lassen.26 Bobbios Konzept der Freiheit berücksichtigt somit diejenigen Bedingungen, die gegeben sein müssen, um sie überhaupt ausüben zu können. Das Fehlen äusserer Zwänge 25 | »La consapevolezza del valore della libertà per lo sviluppo della cultura è una delle poche certezze conquistate faticosamente dagli uomini nella formazione della società e del pensiero moderno.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Politica culturale e politica della cultura. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 23. 26 | »Parliamo di libertà nel senso di . Cultura libera significa cultura non impedita. Gli impedimenti possono essere tanto materiali che psichici o morali: i primi ostacolano o rendono difficile la circolazione e lo scambio delle idee, il contatto degli uomini di cultura; i secondi ostacolano o rendono difficile o addirittura pericoloso il formarsi di un sicuro convincimento attraverso le falsificazioni di fatti o la fallacia dei ragionamenti, se non addirittura attraverso pressioni di vario genere sulle coscienze ecc.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Politica culturale e politica della cultura. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 23.
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bedeutet somit noch lange nicht, dass Freiheit im Sinne einer Abwesenheit von Zwang auch gegeben ist, vielmehr weist Bobbio darauf hin, dass es vor allem die impliziten, immanenten und nicht sichtbaren Zwänge sind, die eine solche Freiheitskonzeption verunmöglichen. Die materiellen und psychischen Hinderungen, wie er sie nennt, sind in den Welt- und Selbstdeutungen der jeweiligen Kultur und der hiervon gestützten politischen Apparatur sedimentiert. Die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, die die politisch-kulturellen Deutungen umrahmen und stabilisieren, verhindern die kritische Reflexion aufgrund materieller oder psychischer Zwänge. Die ersten können sich durch erschwerten oder auch unmöglichen Zugang zu den Instrumenten der intellektuellen Arbeit manifestieren, sei es durch die materielle Abwesenheit von Literatur, Bildungseinrichtungen oder Orten, an denen sich die »uomini di cultura« im Angesicht der Öffentlichkeit austauschen können, also etwa pluralistische öffentliche Medien oder Treffpunkte wie Kongresse oder Institute. Die zweiten sind eng mit diesen materiellen Bedingungen verknüpft, denn dort, wo eine öffentliche Auseinandersetzung fehlt oder der materielle Zugang zu ihr erschwert ist, bleibt die kritische Auseinandersetzung mangelhaft oder gar abwesend. Bobbio betont also, dass die demokratisch verfasste Gesellschaft nur dann ihre Freiheit aufrechterhalten kann, wenn ihre Konstitutionsbedingungen, Inhalte und Wertorientierungen immer auch im Lichte eines kritischen Publikums diskutiert und erkämpft werden – wenn sie also ihre Entwicklungsbedingungen im Horizont des aufklärerischen Projekts integriert und sich so der permanenten diskursiven, öffentlichen und kritischen Auseinandersetzung um das ›richtige‹ und ›gute‹ Zusammenleben öffnet. Bobbio27 selbst versteht sich als pessimistischen Aufklärer, der die Lektion von Hobbes, de Maistre, Machiavelli und Marx gelernt hat, der also den unhinterfragten Schein der Dinge, ihrer Entstehung und der von ihr mit dem Anspruch auf Unveränderlichkeit festgelegten Rahmenbedingungen des menschlichen Zusammenlebens hinterfragt. Zugleich bleibt Bobbio im Rahmen seines postulierten Bildes des selbstkritischen »uomo di cultura«, wenn er die liberale negative Freiheit in ihrer Entstehungsweise und Durchsetzungsform kritisiert. Bobbio, inspiriert von Marx, ist sich dessen bewusst, dass der Liberalismus nicht nur eine Staatsform eingeführt hat, sondern auch eine bestimmte Form der wirtschaftlichen Produktion und damit soziale Verhältnisse, durch welche die kapitalistische Lohnarbeit in den Metropolen der industrialisierten Welt und die patriarchalische Bevormundung der postkolonialen Welt Millionen von Menschen von ihrem effektiven Gebrauch der persönlichen Freiheit losgebunden haben. Die politisch-rechtliche Theorie des Liberalismus hebt in den Augen Bobbios nicht den Kontrast zwischen Individuum und Staat auf, sondern fundiert ihn vielmehr 27 | »… io sono un illuminista pessimista. Sono, se si vuole, un illuminista che ha imparato la lezione di Hobbes e di De Maistre, di Machiavelli e di Marx.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Cultura vecchia e politica nuova. In: D ERS. Politica culturale e politica della cultura. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 169.
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in einer permanente Trennung zwischen der Sphäre der individuellen Interessen und derjenigen der Öffentlichkeit, so dass am Ende ein Staat hervorkommt, der von seinen liberalen Kontrahenten in ein fügsames Instrument der Macht für diejenigen transformiert wurde, die zuerst ihre Hände auf ihn legen.28 Marxens Lektion und insbesondere seine berühmt gewordene ironische Stelle im ersten Band des »Kapitals« über das »Eden der angeborenen Menschenrechte«29 spiegelt sich auch in einer weiteren Stellungnahme des liberalen Bobbio wider, wenn er behauptet, dass die Gleichheit und die Freiheit, die der liberale bürgerliche Staat garantiert, bloss formell sind, weil die Gleichheit nur diejenige vor dem Gesetz ist und die postulierte und gefeierte Freiheit nur die des Bürgers ist, der noch nicht Mensch ist, weil nur der Bürger formell frei sein kann in einer Gesellschaft, die in Klassen unterteilt ist. Nachdem also der politische Despotismus vom Liberalismus und der bürgerlichen Gesellschaft besiegt wurde, so Bobbio, sei es nun an der Zeit, auch den Kampf gegen den sozialen Despotismus zu gewinnen.30 28 | »Tutta la teoria politico-giuridica liberale non risolve il contrasto tra individuo e stato, mal o solidifica in una separazione permanente tra la sfera degli interessi privati e la sfera degli interessi pubblici … ma ecco alla fine balzar fuori uno stato, trasformato per opera dei suoi negatori in un docile strumento della potenza di chi arriva per primo a mettervi le mani.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Stato e democrazia. In: ›Lo Stato moderno‹, 13 (5 agosto 1945), S. 136. 29 | Marx betont an dieser berühmten Stelle seines Hauptwerks, dass »die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte (war). Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzes, des Gesamtinteresses.« In: M ARX , K ARL . Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23. Berlin: Dietz 2007. S. 189f. 30 | »L`eguaglianza e la libertà che lo stato liberale borghese ha assicurato sono l`eguaglianza puramente formale (la cosidetta eguaglianza di fronte alla legge) e la libertà puramente formale (la libertà del cittadino che non è ancora la libertà dell`uomo, dal momento che il cittadino può essere formalmente libero anche in una società divisa in classi). Lo stato liberale ha eliminato il dispotismo politico ma non ha eliminato il dispotismo nella società. Vinto il dispotismo politico, si tratta ora di vincere la battaglia contro il dispotismo
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Hierfür ist in den Augen Bobbios eine ›Politik der Kultur‹ notwendig, in welcher die verborgenen Zwänge der Gesellschaft, die dominant gewordenen Erklärungsmuster der sozialen Verhältnisse und die politischen Auseinandersetzungen, hinter deren Maske der öffentlichen Austragung sich die Gesichter mächtiger ökonomischer Subjekte verheimlichen, immer wieder vor dem Hintergrund einer unvoreingenommenen Kritik öffentlich auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden – eine ›Politik der Kultur‹, die dies aber nur unter der nicht unwesentlichen Bedingung der Selbstkritik und der Befreiung aus den eigenen ›ideologischen Gefängnissen‹ vollbringen kann. Bobbio plädiert nicht für eine mannheimsche freischwebende Intelligenz, die losgelöst von politischen Positionierungen das Kampffeld der Meinungen zu überblicken glaubt. Vielmehr beruft er sich auf eine ›Politik der Kultur‹ verstanden als Pflicht zur Synthese, als Fähigkeit zur Kritik beider Seiten und nicht als Versuch eines dritten Weges, der um jeden Preis vorzuspuren sei. Das Engagement für die Gestaltung einer demokratischen Kultur und einer daraus erwachsenden Politik ist in Bobbios Verständnis eines, das auf einer präzisen Seite des politischen Spektrums steht, aber »von der um jeden Preis zu befolgende[n] Pflicht zur Vermittlung durch Kritik« begleitet ist, »indem man unermüdlich nicht nur die Gegner, sondern vor allem die eigenen Freunde mit ihren Widersprüchen konfrontiert.«31 Die damit intendierte öffentliche Selbstaufklärung der Gesellschaft bedarf also einer ›Politik der Kultur‹, deren Position eine der maximalen Offenheit gegenüber den verschiedenen philosophischen, ideologischen und kognitiv-normativen Einstellungen ist, da es eine Politik ist, die das betrifft, was allen Menschen – seien sie nun Gegner oder Freunde – gemein ist und nicht das berührt, was sie trennt.32 Sie findet also im Lichte der menschlichen Vernunft statt, die im Sinne Kants als Idee ihrer bewährungsfähigen Universalität verstanden wird. Im Fahrwasser des deutschen Aufklärers versteht auch Bobbio die Vernunft als eine Kraft, die »kontextunabhängig überall dieselben theoretischen und praktischen Einsichten zu erzeugen vermag; bei allen Menschen, die sich sorgfältig und unvoreingenommen auf das je eigene Denkvermögen einlassen. Was vernünftig ist, ist allgemein gültig und persönlich einleuchtend zugleich. Es ist das Fundament, das die denkenden Iche zur Gemeinsamkeit des Wir vermittelt: indem im Prozess der Vernunft die je eigene Überlegung des Einzelnen mit dem für alle Richtigen
sociale.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Il pluralismo degli antichi e dei moderni. In: D ERS. Teoria generale della politica. A cura di M. B OVERO. Torino: Einaudi 1999. S. 278. 31 | ECO, UMBERTO. Norberto Bobbio. Die Bestimmung des Gelehrten heute. In: DERS. Im Krebsgang voran. Heisse Kriege und medialer Populismus. München: Carl Hanser 2007. S. 63. 32 | »La politica della cultura è una posizione di massima apertura verso le posizioni filosofiche, ideologiche e mentali diferenti, dato che è la politica relativa a ciò che è comune a tutti gli uomini di cultura e non tocca ciò che li divide.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Politica culturale e politica della cultura. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 22.
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und für jeden richtig Denkenden Massgeblichen übereinkommen kann.«33 Diese kantische Konzeption der Vernunft liegt Bobbios Idee einer ›Politik der Kultur‹ zugrunde, wird von diesem aber um eine wichtige Dimension ergänzt. Bobbio betont immer wieder, dass die jeweilige Auseinandersetzung mit den herrschenden Deutungen der Welt und des Selbst, das Säen der Zweifel, wenn man so will, immer auch vom Vorverständnis ausgehen muss, dass die vorgefundenen Erklärungsweisen des sozialen Lebens immer schon politisch vorgeformt sind. Diese aufklärerisch-(selbst)kritische Position des »uomo di cultura« und implizit auch all derjenigen, die sich in den öffentlichen Diskurs einschalten, muss sich also der Kultur als politisches Faktum bewusst sein. Auch die Sphäre der Kultur hat ihre Bedürfnisse, Verpflichtungen und Machtformen, die immer auch politischer Natur sind.34 Die Räume des Sag- und Machbaren, die symbolischen Deutungen der Welt und des Selbst, die gemeinsam geteilten kulturellen Kodes und die daraus sich ergebenden formellen oder informellen Institutionen sowie die kollektiven Narrative, die sich um diese soziale Rahmungen der menschlichen Tätigkeit und Erkenntnis ranken, sind temporäre, kontingente, aber nichtsdestoweniger wirkungsvolle Resultate vergangener politischer Auseinandersetzungen und (mehr oder weniger) öffentlicher Diskussionen. Bobbios Ausführungen zur Rolle des Intellektuellen, aber vor allem zum Verhältnis von Politik und Kultur bleiben für die gegenwärtige Situation der Demokratie, dieser »heilige[n] Kuh«35 des gängigen politischen Diskurses in der westlichen Welt, die weniger Milch gibt, als man gemeinhin annimmt, wertvoll und analytisch fruchtbar. Bobbio betont nämlich einerseits die Relevanz der Öffentlichkeit als Sphäre, in welcher das ›Kolloquium‹ im Lichte der Selbstkritik und des Verstehen-Wollens des anderen vor einem virtuell anwesenden Publikum stattfindet. Andererseits macht er darauf aufmerksam, dass in dieser Auseinandersetzung immer auch ideologische Positionen, die intuitiv, unhinterfragt oder bewusst strategisch eingenommen werden, enthalten sind, die sowohl den Rahmen des Ortes abstecken, in welchem die Artikulation entgegengesetzter Meinung stattfindet, als auch die darin herrschenden Deutungen der Welt und des Selbst so stabilisieren, dass nicht mehr alles mit demselben Anspruch auf plausibler Zustimmungsfähigkeit seitens des Publikums gesagt oder getan werden kann. Zuletzt weist gerade auch Bobbios Mahnung vor einer jeglichen voreingenommenen, vorurteilsbehaften und selbstgerechten Position nicht nur darauf hin, dass man hierbei weiterhin in den eigenen ›ideologischen Gefängnissen‹ verharrt, sondern dass damit auch 33 | K OHLER, G EORG . Öffentlichkeit. In: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Freiburg i.Br.: Karl Alber 2011. S. 1667. 34 | »anche il mondo della cultura ha esigenze, obblighi, poteri di natura politica. Si tratta di [...] prendere consapevolezza della cultura come fatto politico.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Politica culturale e politica della cultura. In: D ERS. Politica e cultura. (1955). Torino: Einaudi 2005. S. 20. 35 | HOBSBAWM, ERIC. Globalisierung, Demokratie und Terrorismus. München: dtv 2009. S. 13.
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soziale Pathologien generiert und reproduziert werden, in welchen Begriffe wie Freiheit oder Gleichheit mittels einer partikularen Sinnverzerrung von privilegierten Gruppen vereinnahmt werden, die so unter dem Schillern einer angeblich allgemeinen Bedeutung ihre partikularen Interessen ins Trockene bringen. Bobbio plädiert also für ein politisches Engagement im Lichte der Vernunft, um die festgefahrenen Deutungen der Welt und des Selbst mit konkurrierenden und am kritischen öffentlichen Verstand geprobten Interpretationen herauszufordern. Das Ziel ist die Formulierung und praktische Umsetzung einer anderen ›Politik der Kultur‹, die es ermöglicht, die Werte und Versprechen der Moderne auch wirklich in die Tat umzusetzen. Es geht ihm also darum, Partei zu ergreifen und mit dem Instrument der menschlichen Vernunft in das Getümmel der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragmentarisierungen, die den einen Vorteile bescheren, während sie andere in die Marginalisierung drängen, einzugreifen, um hier neue Deutungen sowie neue Formen und Praktiken des Politisch-Kulturellen so artikulieren zu können, dass das kollektive Bewusstsein irritiert werden und bestenfalls breite und auf Vernunft basierte Zustimmung für diese neue ›Politik der Kultur‹ gewinnen kann. Diese erste Spur gibt also ein erstes Instrument an die Hand, um die hier verfolgte Widerstandstheorie skizzieren zu können. Mit Bobbio kann nachvollzogen werden, dass Kultur immer eine politisierte Form der bedeutungsgebenden Praxis ist, und dass ihr entsprechend mit einer konkurrierenden ›Politik der Kultur‹ begegnet werden muss, die ihre Fundamente im öffentlichen und vernunftgeleiteten Streit findet, an welchem diejenigen partizipieren dürfen sollen, die davon betroffen sind, und zwar so, dass sie auch die materiellen Grundlagen gesichert erhalten, die sie von existenziellen Sorgen befreien. Die zweite Spur für die hier anvisierte Widerstandstheorie kann auf folgende Weise stärker konturiert werden: Wie gezeigt wurde, muss der Versuch, eine solche Theorie zu skizzieren, nicht nur ihre kritischen Ausgangspunkte darlegen, sondern auch die Orte, Subjekte und Strategien des Widerstandes formulieren können. Im Sinne der hier erfolgten Untersuchungen bedeutet dies, dass eine solche Theorie davon ausgeht, dass Bedeutung nicht ein für alle Mal fixiert ist, sondern vielmehr hegemonial umkämpft, durch bestimmte, dem hegemonialen Deutungsraster entsprechende Praxen im Alltag materialisiert und gleichzeitig reproduziert wird und nicht zuletzt in dieser Performanz die Spuren ihrer umkämpften Konstitution zu verbergen sucht. Sie versteht die Kartographierung des Sozialen und Politischen als einen Kampf um Bedeutung, als einen Versuch, soziale Verhältnisse, ökonomische Strukturen und politische Interaktionen mit einer bestimmten exklusiven Deutung zu behaften, sie damit zu dechiffrieren, zu stabilisieren und so auch über die Zeit zu tradieren. Dieses Machtdispositiv erweist sich unter fortgeschrittenen kapitalistischen Bedingungen und demokratischen Spielregeln als ein hegemoniales, was soviel bedeutet, dass die exklusiven Deutungen der Welt und des Selbst auf einen breiten Konsens angewiesen sind, damit sie möglichst unhin-
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terfragt ihre strukturellen Zwänge ausüben können – damit also die zivilgesellschaftlichen Apparate, die politischen Interaktionen und die Formen, in denen die Menschen Bewusstsein ihrer Lage und ihres Daseins gewinnen, nach Massgabe der dominanten Deutungen mit politischer Mehrheitsfähigkeit umgestaltet werden können. Die damit einhergehende politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung reproduziert nicht nur mittels Konsens und Zwang ihre hegemonialen Deutungen der Welt und des Selbst im praktischen Vollzug des alltäglichen Lebens, sondern sedimentiert diese auch in der politischen Kultur, die wiederum zur Stabilisierung des Systems unerlässlich ist. Zu fragen ist also, wie diese Rückkoppelungsschleife zu durchbrechen ist. Wenn die hegemoniale Ordnung und die sie stützende und von ihr alimentierte politische Kultur auf exklusiven Deutungen der Welt und des Selbst aufruhen, die durch ihre ideologische Festigung im Alltagsverstand hier auch die Kriterien für ›richtiges‹ und ›falsches‹ Verhalten, Denken und Handeln eichen und dadurch auch im alltäglichen Vollzug praktischer Handlungen ihre sanktionsfähige Materialisierung finden, dann muss eine Theorie des Widerstandes hier anknüpfen. Sie muss also ein strategisches Ringen um die Deutungshoheit eingehen und zwar in Form eines gegenhegemonialen Projektes. Es geht also darum, die hegemonialen Deutungen herauszufordern und durch die Entwicklung einer Reihe von Polemiken den ideologischen Kampf auszutragen, um letztlich die dominante Bedeutung eines Begriffs – der ›Demokratie‹, des ›Gemeinwohls‹, der ›Gerechtigkeit‹, der ›Freiheit‹ etc. – aus dem Bereich des öffentlichen Bewusstseins herauszulösen und in die Logik eines anderen politischen Diskurses und einer anderen Deutungsmöglichkeit zu verpflanzen. Es geht also beispielsweise darum, den Begriff der Demokratie aus seiner engen Verknüpfung mit der Idee einer freien kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu lösen und in einem Kampf um eine andere ›Politik der Kultur‹ den Begriff der Demokratie mit einem anderen Bedeutungsinhalt zu füllen. Wie der liberale Denker Norberto Bobbio36 vor über 30 Jahren bereits schrieb, muss der liberalen Position, die in ihrem Kampf gegen die Aristokratien und ihre Deutungshoheiten unverzichtbare individuelle Rechte und Freiheiten erkämpft hat, klar gemacht werden, dass sie diese nur noch im Zusammenhang mit der freien Sphäre des Gütertausches verteidigt, hierbei aber die materiellen und sozio-ökonomischen Bedingungen, die es dem Einzelnen erlauben, diese Freiheiten auch wirklich ausüben zu können, vergessen hat. Es muss ihr also klargemacht werden, so Bobbio, dass ihre eigenen historischen Errungenschaften eine schädliche Wendung genommen haben, insofern ihre Postulate nur noch auf formaler politischer Ebene, nicht aber auf sozialer und ökonomischer Ebene realisiert wurden. Deshalb, so der italienische Philosoph, dürfe sich der Liberalismus auch nicht vom marxistischen Projekt – das die Inhalte der Aufklärung, die Emanzipation und die Autonomie für alle realisieren 36 | B OBBIO, N ORBERTO. Il pluralismo degli antichi e dei moderni (1975). In: D ERS. Teoria generale della politica. A cura di M. B OVERO. Torino: Einaudi 1999. S. 278.
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möchte – lossagen, denn ansonsten müsste sie auf ihre eigenen aufklärerischen Inhalte verzichten und so eine Rückkehr zur mittelalterlichen Vision einer gottgewollten und gottgegebenen Welt(-situation) vollziehen.37 Gerade dies scheint aber die Taktik der neoliberalen Apologeten zu sein. Rechte, Freiheiten und Ansprüche des Individuums erfolgen nur im Rahmen einer Ordnung, die als nicht vom Menschen konstruierbare verstanden wird. Die neoliberale Marktgläubigkeit wird in hegemonialer Weise, also mittels Konsens und Zwang, mittels Aktivierung und Passivierung der Individuen als ›Sachzwang‹ ins öffentliche Bewusstsein eingeschrieben, wo es als interessengeleitetes Handeln legitimiert wird, vor allem aber als unausweichliches Wirken anonymer Kräfte erscheint und von den dadurch zu Marktsubjekten sozialisierten Individuen reproduziert wird. Die Gesetze des Marktes und die Sichtweisen der neoklassischen und neoliberalen Ökonomen gewinnen so den Anstrich des ›Sakralen‹. Wie bei den Naturgesetzen kann auch an ihnen nicht gerührt werden. Man kann sie zwar studieren, mitteilen, dozieren und sogar administrieren – aber man kann sie nicht verändern. Der Liberalismus, fern davon, Bobbios Forderung einzugliedern, hat sich im Laufe der Zeit vielmehr von seiner aufklärerischen Mission gelöst und als eine – wenn auch anders geartete – neue Gottheit verbarrikadiert. Der Wirtschaftsliberalismus kommt über den politischen Liberalismus, den er, vor allem mit Friedrich August Hayeks theoretischen Untermauerungen, mit einer neuen politisch-philosophischen Deutung seiner fundamentalen Begriffe neu ausrichtet und so ins eigene marktgläubige Korsett einschliesst. Sein Fundament ist nun nicht mehr das universelle Kampfinstrument namens ›Vernunft‹, welche die Aufklärer gegen jegliche Form der Entmündigung zu Felde führten, sondern eine neue ›Gläubigkeit‹ – genau genommen eine ›Marktgläubigkeit‹ –, die eine entsprechende ›Glaubensgemeinde‹ hervorbringt, an der jene fromm teilnehmen, die materiell direkt von dieser neuen ›Religion des Marktes‹ profitieren und über diesen neuen Gott ihre politische Existenzberechtigung zu behaupten trachten und dazu die grossen Massen der Bevölkerung zu bändigen haben. »Mitnichten geht es um Einsicht oder Durchblick, um Autonomie der Subjekte oder Möglichkeiten verändernden Handelns. Offene Interaktion und kritischer Dialog bilden kaum Regulative von Glaubenspraxis, leicht mündet Gläubigkeit, selbst jene an die paradiesischen Marktgesetze, in abgeschottete Orthodoxie, in einen Fundamentalismus des Marktes.«38 Eva Kreiskys Worte scheinen heute aktueller denn je zu sein. Die glo37 | »Chi oggi rifiuta totalmente il marxismo, come aberrazione, barbarie, sconsacrazione, sappia che deve pure rifiutare, se non vuole rinunciare alla propria coerenza, tutto il pensiero moderno [...] Sappia che deve ripercorrere a ritroso il cammino fin qui compiuto in quattro secoli e rituffarsi nel Medioevo.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Invito al colloquio. In: B OBBIO, N ORBERTO. Politica e Cultura. (1955) Torino: Einaudi 2005. S. 13. 38 | K REISKY, E VA . Ver- und Neuformung des politischen und kulturellen Systems. Zur maskulinen Ethik des Neoliberalismus. In: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, Heft 4/2001. S. 38-50. Hier S. 39.
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bale Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2008 eingesetzt hat und deren Auswirkungen und Folgen die grössten seit dem ›schwarzen Freitag‹ von 1929 waren und die weiterhin ihre wohlstandszerstörenden Wellen über den Globus senden und Staatshaushalte, Währungen und damit gesamte Produktions- und Arbeitsfelder vernichten, werden weiterhin im Jargon der Marktorthodoxie erklärt und gerechtfertigt. In der aktuellen Debatte ist viel von Krisen die Rede, aber kaum von der Krise des Kapitalismus. Die Hoheit des Diskurses liegt vielmehr bei solchen Stimmen, die angesichts der globalen Finanzkrise ihre Genugtuung darüber äussern, dass die Ökonomie des Kapitalismus wieder auf den ›Pfad zum Realismus‹ eingeschwenkt sei. Wie Birgit Mahnkopf39 pointiert herausarbeitet, richtet sich die Hoffnung gegenwärtig auf eine Zähmung des vorgeblich »wild gewordenen Kapitalismus«. Es geht also keineswegs, wie sie zu Recht betont, darum, »Sand ins Getriebe« jenes Systems zu streuen, dessen bewegendes Prinzip die Gewinnerzielung, die Kapitalverwertung, die Produktions- und Produktivitätssteigerung, die Selbstbehauptung und Ausdehnung am Markt ist. »Nicht die Globalisierung von Handelsgeschäften, Investitionen und Wertschöpfungsketten stehen zur Diskussion und erst recht nicht der ökonomische Rahmen, der diese globale Expansion befördert hat, der Marktkapitalismus. Die Satansmühle des Marktes soll lediglich geölt werden, auf dass die Kräfte der Konkurrenz aufs Neue angestachelt und die technische Effektivität gesteigert würden.« 40 Aus den Machtzentren des globalen Kapitalismus, in den internationalen Wirtschaftsinstitutionen, in den Chefetagen der multinationalen Finanzkonzerne und aus den glänzenden Sälen der Zentralbanken in den USA und in Europa ertönt die Parole: »The show must go on«! Es ist aber ein globales Unterhaltungsangebot, das hier zusammengeflickt wird und das die Kräfte der sozialen Kohäsion zerstört und damit politische Kultur nach Massgabe der neoliberalen Imperative eicht, aber auch die Ökologie ausser Acht lässt, indem die natürlichen Ressourcen weiterhin in für Flora, Fauna und homo ›sapiens‹ lebensbedrohlichen Ausmassen ausgebeutet werden. Wieder ist es Bobbio, der den theoretisch-strategischen Wink gibt, um eine Theorie des Widerstandes gegen die herrschenden Wirtschaftsprozesse und die sie stabilisierenden festgefahrenen Deutungen der Welt und des Selbst, die in der politischen Kultur sedimentiert sind, skizzieren zu können. Was heute zählt, so Bobbio, 41 ist die Entzauberung der magischen Worte, die die Arbeit an der kritischen Untersuchung einschläfern. Damit geht auch ein Kampf um die Rekodierung der 39 | M AHNKOPF, B IRGIT. Die ›Satansmühle‹ der kapitalistischen Ökonomie oder: Der kapitalistischer Realismus in der Krise. In: N ECKEL , S IGHARD (Hg.). Kapitalistischer Realismus. Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M.: Campus 2010. S. 93-116. Hier S. 94. 40 | Ibid. 41 | »Quello che importa, oggi, é di sfatare l’incanto delle parole magiche, che [...] addormentano l’alacrità della ricerca.« In: B OBBIO, N ORBERTO. Invito al colloquio. In: B OBBIO, N ORBERTO. Politica e Cultura. (1955) Torino: Einaudi 2005. S. 6.
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politisch-kulturellen Selbstverständnisse einher: eine Intervention, die darauf abzielt, den dominanten Schein des Natürlichen und Normalen abblättern zu lassen. Eine Theorie des Widerstandes muss also zunächst die Begebenheiten, Strukturen und verfestigten ideologischen Schichten erkunden, die die alltägliche Praxis nach Massgabe der dominanten, hegemonial fundierten Interpretationen und Deutungen der Welt und des Selbst ausrichten und sie so zugleich reproduzieren. Entsprechend ist der Ort ihrer Intervention dort zu suchen, wo die Kritik begonnen hat – beim hegemonial fundierten Feld der politischen Kultur. Eine Theorie des Widerstandes muss also ihre politische Praxis als Gegenbewegung zur bestehenden neoliberalen Hegemonie und der sie stabilisierenden politischen Kultur formulieren, als einen ›Stellungskampf‹ konzipieren – einen andauernden, hartnäckigen und öffentlich geführten kritischen Kampf um die Bedeutung der ordnungsstabilisierenden Begriffe, der in möglichst vielen Feldern der Zivilgesellschaft ausgetragen wird und an diesen Orten die bestehende Deutungshoheit mit neuen Deutungsangeboten konfrontiert – und zugleich als gegenhegemoniales Projekt artikulieren. Gerade Gramsci hat gezeigt, dass der ideologische Kampf um die ›Umschreibung‹ und ›Umdeutung‹ der dominanten Begriffe nicht so vor sich geht, dass die ganze, integrale Denkweise einer Klasse durch ein anderes voll ausgebildetes Ideensystem verdrängt wird. Es geht also nicht primär darum, ein fertiges Alternativkonstrukt vorzuschlagen, um das Bestehende auf einen Schlag zu ersetzen – dies war gemäss Gramsci die Taktik des ›Bewegungskrieges‹, den Lenin in einem unterentwickelten Land wie Russland, wo sich noch keine Zivilgesellschaft im modernen demokratischen Sinne entwickelt hatte, durchführen konnte, die aber für fortgeschrittene und hochindustrialisierte bürgerliche Gesellschaften nicht tauglich sei –, sondern vielmehr darum, die hegemonialen Deutungen, die die bestehenden Konstrukte und Verhaltensmodi festigen, durch kritische Interventionen aufzubrechen und so ihren Bedeutungshorizont neu auszulegen. »Worauf es ankommt«, so Gramsci, »ist die Kritik, der ein solcher ideologischer Komplex von den ersten Vertretern der neuen Geschichtsepoche unterzogen wird: durch diese Kritik ergibt sich ein Prozess der Unterscheidung und der Veränderung im relativen Gewicht, das die Elemente der alten Ideologien besassen: was zweitrangig und untergeordnet oder auch beiläufig war, wird als hauptsächlich aufgenommen, wird zum Kern eines neuen ideologischen und doktrinalen Komplexes. Der alte Kollektivwille zerfällt in seine widersprüchlichen Elemente, weil die untergeordneten dieser Elemente sich gesellschaftlich entwickeln usw.« 42 Diese Konzeption eines ideologischen Kampfes um eine andere Deutungshoheit ist die eines ›Stellungskampfes‹. Aus einer gramscianischen Perspektive muss also vorerst mal die Kenntnis wahrgenommen werden, dass das Feld des Politischen von Gegnerschaften durchzogen ist, die jeweils um eine hegemoniale Position ringen. Das Aufkommen 42 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 5. Heft 8, S. 1051.
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des Neoliberalismus war ja gerade das Resultat einer siegreich ausgegangenen Gegnerschaft, und zwar zum sozialdemokratischen Modell der Nachkriegsjahre. Gegenhegemoniale Politik muss also einen Gegner definieren können, aber zugleich – wie Bobbio gelehrt hat – auch ihre eigenen Positionen und Zielrichtungen am bestehenden ›common sense‹, an den Argumenten der Gegner und an der eigenen argumentativen Logik prüfen, ansonsten wird ein Dogmatismus durch einen anderen ersetzt, was weder der hier geforderten Kritik auf die Sprünge hilft noch die faktische Ermöglichung eines gegenhegemonialen Projektes garantiert. Chantal Mouffe bringt diesen Sachverhalt folgendermassen auf den Punkt: »Fortgeschrittene demokratische Gesellschaften müssen heute dringend die Zentralität der Politik wieder herstellen, und das erfordert, dass neue politische Grenzen gezogen werden, die in der Lage sind, der Demokratie wirkliche Impulse zu geben. Zuallererst muss aufgezeigt werden, welche Machtverhältnisse herauszufordern sind, was die Definition eines Gegners impliziert.« 43 Im Zentrum steht also die Rückeroberung des Potentials zur Veränderung, aus welchem wiederum Forderungen nach anderen Lebensweisen formuliert werden können. Nötig ist also ein Kampf um eine andere ›Politik der Kultur‹, um eine andere kulturelle Hegemonie, um andere Deutungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Es stellt sich also die konkrete Frage, wie ein solches gegenhegemoniales Projekt ausschauen müsste, oder zumindest, woraus es formuliert werden könnte. Wie bereits erwähnt, lassen sich ohne grössere Schwierigkeiten die Zivilgesellschaft und die sich hier formierende hegemoniale politische Kultur als Felder identifizieren, auf denen ein solches Projekt einwirken und aus denen es sich gestalten müsste. Bei der Formulierung der Inhalte dieses Projekts ist es ratsam, auf einen Rückfall in die Zeit vor dem neoliberalen Siegeszug zu verzichten. Eine simple Rückkehr zum Keynesianismus würde nicht nur die damals schon kritisierten Missstände, sondern vor allem den – ohne in eine hegelianische Terminologie verfallen zu wollen – Lauf der Geschichte verkennen. Die Globalisierung ist eine unumgängliche Realität. Die neuen Technologien und Produktionsformen, die zunehmend auf immaterielle Arbeit setzen, die Verflechtungen der Weltwirtschaft sowie die Verkürzung der Handels- und Informationswege, die auch Menschen aus entlegenen Gegenden näher aneinanderrücken lassen, aber auch die Internationalisierung kulturindustrieller Lebens-, Mode- und Kunstformen sind aus dem gegenwärtigen Erscheinungsbild des globalen Dorfes kaum mehr wegzudenken. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass die neoliberale Hegemonie weniger einer »reinen Destruktivkraft« entspricht, wie dies Pierre Bourdieu 44 in seinem feurigen Plädoyer gegen die neoliberale Invasion beklagte, sondern vielmehr dem, was 43 | M OUFFE, C HANTAL . Exodus und Stellungskrieg. Die Zukunft der Demokratie. Wien: Turia + Kant 2005. S. 54. 44 | Vgl. B OURDIEU, P IERRE . Gegenfeuer. Wortmeldung im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK 1998.
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Gramsci eine »passive Revolution« nannte. Sie generiert nämlich durchaus produktive Kräfte. Die Zerschlagung der ehemaligen tayloristischen Arbeitsabläufe befreit die Arbeitenden von der Monotonie des Fliessbandes, neue Produktionsformen integrieren das Wissen der Angestellten, neue Technologien können die Strapazen der Muskelarbeit mindern und die Internationalisierung der Kulturund Warenwelt kann die Menschen vor nationaler Borniertheit bewahren. Entstaatlichungen können zudem Bevormundungen und Patriarchalismen mindern und die Suche nach neuen kollektiven Formen fördern. Traditionelle Rollenbilder können aufgebrochen und neu ausgerichtet werden usw. 45 Die Früchte dieses neoliberalen Paradigmenwechsels sind nicht von der Hand zu weisen, werden jedoch ungleicher verteilt als jemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, was unweigerlich Ressentiments und Bedrohungsgefühle im Inneren der Staaten hervorruft, die mit dem konservativen oder gar rechtspopulistischen Janusgesicht des Neoliberalismus beäugt und entsprechend entsorgt werden. Gegenhegemoniale Projekte müssen sich also im Rahmen dieser neuen Konstellation, die das ›Ständische und Stehende‹ der starren und bürokratisierten Wohlfahrtsgesellschaften der 1960er Jahre verdampft, zugleich aber neue Privilegienordnungen und Ausschlussmechanismen generiert hat, definieren. Auf die Alltagspolitik bezogen, bedeutet dies nicht einfach eine strikte Abwendung vom klassischen politischen Konstrukt der Partei, um in den transnationalen politischen Bewegungen eine Legitimation politischer Initiativen zu finden, die diese Bewegungen selber kaum haben. Vielmehr geht es darum, auf verschiedenen Klaviaturen zu spielen und die klassischen politischen Organe – wie das der italienische Philosoph Gianni Vattimo einst sagte – als Taxis zu verstehen. Ein gegenhegemoniales Projekt darf sich nicht nur auf die äussere Form seiner Instrumente konzentrieren, sondern muss vor allem dem Inhalt seiner Prinzipien den Vorrang geben, ob diese nun in einer Partei, in einem Verein, einer NGO oder in den Medien – bestenfalls in allen gemeinsam – erkämpft werden. Die hierfür notwendige Re-Politisierung der Bürger muss sich also auf die Artikulation der Inhalte und weniger auf die Form des Megaphons konzentrieren, durch welche sie übermittelt werden. Das ›politische Subjekt‹ dieser Widerstandstheorie liegt also nicht schon vor, sondern muss eher als eine sich verändernde offene und Differenzen integrierende politische Bewegung verstanden werden, in welcher durch die Artikulation verschiedener Forderungen und die kritische Auseinandersetzung mit ihrer Realisierbarkeit solche Widerstandspunkte und -semantiken gefunden werden können, die einerseits eine Mehrheit der teilnehmenden Gruppierungen und Individuen überzeugen kann, die andererseits aber vor allem eine Resonanz im öffentlichen Raum findet. Der Prozess der ideologischen De45 | C ANDEIAS, M ARIO. Gramscianische Konstellationen. Hegemonie und die Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensweisen. In: M ERKENS, A NDREAS. D IAZ , V ICTOR R EGO (Hg.). Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis. Hamburg: Argument 2007. S. 30.
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konstruktion und Rekonstruktion muss also mit einer Reihe organisierter politischer Positionen und mit einer vielfältigen Anordnung sozialer Kräfte artikuliert werden, damit auch die etablierten politischen Akteure herausgefordert werden und diese Kräfte und ihre Forderungen anerkennen. Ein solches politisches Projekt muss somit eine minimale Form der Organisation finden, es muss zwischen seinen Teilnehmern eine Äquivalenzkette etablieren, die es einerseits erlaubt, eigene Geltungsansprüche in Abgrenzung der bestehenden Ordnung zu formulieren, und andererseits aus diesem Konflikt ein Reservoir an Deutungsmustern und politischen Aktionen herstellt, das auch andere Gruppierungen aktivieren kann. Durch diese Verkettung ähnlicher Geltungsansprüche und Forderungen kann sich eine Verallgemeinerung, eine Universalisierungsbewegung herausbilden, in deren Verlauf der vorherrschende hegemoniale Deutungsanspruch an immer mehr Orten der Zivilgesellschaft und, sofern hier erste Erfolge verbucht werden, auch der politischen Gesellschaft öffentlich in Frage gestellt und neu ausgehandelt wird. Politische Ordnungen und die sie fundierenden Diskurse funktionieren also nach hegemonialem Muster, da sie ihre Deutungshoheit immer in Konkurrenz zu alternativen Deutungsangeboten behaupten müssen, hierfür aber auch auf einen breiten Konsens angewiesen sind, und somit auch Anpassungen ihrer Diskurse vollziehen, respektive Äquivalenzen einbeziehen müssen. Gramsci nannte dies den Kollektivwillen des historischen Blocks, der, um seine hegemoniale Position aufrechterhalten zu können, Opfer bringen müsse, ohne aber die zugrundeliegenden korporativ-ökonomischen Interessen – die basale kapitalistische Produktionsform – zu gefährden. Worauf es also bei einer Widerstandstheorie ankommt, ist die Etablierung eines konkurrierenden Kollektivwillens, der auch unterschiedliche gesellschaftliche Positionen, die Ähnlichkeiten in ihren Forderungen aufweisen, so organisiert und verkettet, dass eine gemeinsame Artikulation gemeinsam geteilter Forderungen öffentlich vermittelt wird und bestenfalls durch die Etablierung von Teilöffentlichkeiten mit eigenen zivilgesellschaftlichen Räumen und Apparaten im öffentlichen Diskurs eine nicht zu ignorierende Stimme darstellt. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe haben in ihren Schriften 46 darauf hingewiesen, dass die hegemoniale Besetzung politischer Ordnungen auf die diskursive Durchsetzung und Stabilisierung von kulturell-symbolischen Deutungsmuster angewiesen ist, die einerseits andere Geltungsansprüche ausschliessen und andererseits neue, ihnen ähnliche, integrieren können. Ihnen zufolge bedient sich jeder politische Geltungsanspruch zweier Strategien – derjenigen der Differenz und derjenigen der Äquivalenz. Kurz gesagt konzipieren diese beiden Denker das Feld des Politischen als eines, das sich durch Differenzierungen auszeichnet. 46 | Siehe vor allem: L ACLAU, E RNESTO. M OUFFE, C HANTAL . Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 3. Auflage. Wien: Passagen 2006. L ACLAU, E RNESTO. Emanzipation und Differenz. Wien: Turia+Kant 2002.
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Der eigene Geltungsanspruch einer politischen Gruppierung muss sich von anderen konkurrierenden Ansprüchen unterscheiden, um Sinn stiften zu können, er muss sagen können, was er will und was er nicht will. Damit wird zugleich die eigene Identität konstituiert und das Feld für Äquivalenzen geöffnet. Wenn die eigene Forderung in Konkurrenz zu einer entgegengesetzten Forderung Identität und Sinn gewinnt, dann ist einerseits klar, welche Bedeutungsinhalte und Deutungsmuster nicht eingeschlossen sind. Andererseits weisen aber auch solche politische Gruppierungen, die dieselben Geltungsansprüche ausschliessen, um ihren eigenen Forderungen Sinn zu verleihen, mit der ersten Gruppierung eine Ähnlichkeit auf, und sei es nur diejenigen des gemeinsamen Ausschlusses derselben inakzeptablen Ansprüche der hegemonialen Ordnungshüter. Dies muss nicht, kann aber zu einer Äquivalenzkette führen, zu einer Verallgemeinerung gemeinsam geteilter Forderungen, die aus einer solcherart grösser werdenden politischen Bewegung artikuliert werden können. Formiert sich eine solche Äquivalenzkette zwischen unterschiedlichen politischen Positionen, die wenigsten einen gemeinsamen Protestdiskurs teilen, wird sich nolens volens innerhalb dieser Bewegung eine Organisationsform etablieren, deren Verfahren, Prozesse und Teilnahmechancen bewegungsintern ausgehandelt und durchgesetzt werden, oder es findet eine Zersplitterung und Neuformierung statt. Ohne hier auf die Details der Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe eingehen zu können, wird deutlich, worauf diese beiden Postmarxisten hinweisen: einerseits, dass jeder politische Kampf ein Kampf um Deutungen und somit um hegemoniale Positionen ist, und andererseits, dass hierfür Trennung und Vereinnahmung, respektive die Fähigkeit zur Differenzierung und zur Äquivalenzbildung in der strategischen Ausrichtung einer politischen Bewegung unverzichtbar sind. Dabei mag aus theoretischer Sicht insbesondere der Aspekt der Äquivalenz pessimistisch stimmen, zumal die organisatorische Verdichtung dieser unterschiedlichen politischen Positionen, die sich auf einen – wenn auch den kleinsten – gemeinsamen Nenner einigen, problematisch erscheint, solange die konsensuelle Basis nicht gestärkt wird. Optimistisch hingegen mutet diese Strategie insofern an, als die Herbeiführung politischer Konflikte über verschiedene politische Subjektpositionen, die eine gemeinsame gegenhegemoniale Forderung teilen, auch wenn sie vielleicht nicht viel mehr als dieses gemeinsam haben, immerhin nicht nur kollektiv stattfinden, sondern zuallererst politische Kollektive produzieren, 47 die ihre Forderungen in die Öffentlichkeit tragen und hier die tradierten Deutungsbestände herausfordern und so auch neue Diskurse eröffnen können. Für eine Widerstandstheorie, die davon ausgeht, dass die zentrale Kategorie, um die sie sich zu drehen hat, die politische Kultur ist, liegt es auf der Hand, dass sie solche Politiken zu konturieren hat, die auf die symbolisch, diskursiv und 47 | Siehe hierzu auch: M ARCHART, O LIVER . Die politische Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. S. 324.
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mnemotechnisch gefestigten Sedimentierungen des Politisch-Kulturellen zielen. Solche Widerstandpolitiken müssen also auf dem Feld des Diskursiven eingreifen, um hier die Weichen für andere Diskurse und andere Deutungsangebote stellen zu können. Ein bloss numerisches Mehr-Werden – im Sinne, dass je grösser die Protestgruppe ist, umso schlagkräftiger auch der Widerstand ist – ist für diese Politiken zwar nicht unwesentlich, zielt aber an ihrer strategischen Grundausrichtung vorbei. Die Konstruktion einer Majorität ist zwar notwendig, muss aber nicht die numerische Mehrheit der Bevölkerung umfassen oder braucht dies nicht von Beginn an anzustreben. 48 Worum es geht, ist vielmehr das Erkämpfen der symbolischen Majorität, was soviel heisst, dass solche Politiken ein Mehr-Werden im Sinne eines Majoritär- oder eines Hegemonial-Werdens anstreben müssen, wenn sie die hegemonialen Deutungshoheit herausfordern wollen. Es geht also darum, die in der politischen Kultur sedimentierten Symbole und ›public codes‹, die gemeinsam geteilten Wertvorstellungen und Orientierungsmuster sowie die exklusiven Deutungsraster des Selbst und der Welt herauszufordern. Hierfür ist nicht so sehr die Anzahl der Leute ausschlaggebend, sondern der gegenhegemoniale Diskurs und der Ort, an dem dieser ausgetragen wird – die Öffentlichkeit, aber eben eine, die im Vollzug dieses Widerstandsdiskurses neu formiert und umdisponiert wird. Es geht also darum, aus verschiedenen politischen Positionen in der Gesellschaft, eine – wenn auch kleinste gemeinsame – Forderung öffentlich zu artikulieren, die eine nicht mehr zu ignorierende Irritation für das kollektive Bewusstsein und für die routinisierten Praktiken des Alltags bedeutet, und die durch ihre permanente Anwesenheit im medialen, politischen und alltäglichen Diskurs das angeblich ›Natürliche‹ und ›Unverrückbare‹ der bestehenden hegemonialen Ordnung in ihrer Kontingenz sichtbar macht und es so für andere symbolische Formen, Diskurse und Deutungen öffnet. Damit wird auch das Terrain, auf dem die Menschen ihr Dasein fristen, Bewusstsein ihrer Lage und Konflikte gewinnen, Sozialisierungsprozesse einleiten und Normalitätsrahmen definieren, als historisch Gewordenes und somit als kontingent Verfasstes entblösst, seiner ideologisch fixierten ›Natürlichkeit‹ entmantelt und in seiner Machtdurchsetztheit gezeigt, was eine Re-Politisierung, ein Aufwecken aus dem apathischen und desinteressierten ›Schlummerzustand‹, in den die Menschen durch die ›eschatologische‹ Doktrin der neoliberalen Alternativlosigkeit versetzt wurden, in Gang setzt. Eine Re-Politisierung kann aber nur dann eine Permanenz aufweisen, wenn sie Erfolge verbuchen kann. Aus Fehlern lernt man zwar, aber motivierend für das Lernen sind die Erfolge. »Der Sinn von Lernen im Kontext praktischer Aufgaben ist der Gewinn eines Wissens, das dasjenige ›besser zu machen‹ erlaubt, was man tun könnte, um gut zu leben.« 49 Solche Gewinne und Erfolge, die das 48 | M ARCHART, O LIVER . Die politische Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. S. 301. 49 | K OHLER, G EORG . Bürger(ohn)macht? Über die Zukunft der Demokratie. Manuskript, S. 22. Erschienen in gekürzter Fassung unter dem Titel »Zauberbeeren und die
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Lernen animieren, können aber nicht gleich auf globaler Ebene errungen werden. Vielmehr etablieren sich solche Erfolge mit grösserer Wahrscheinlichkeit im Lokalen, und zwar über politische Allianzen, die unterschiedliche gesellschaftliche Positionen zu einer gemeinsamen Artikulationskette vereinen. Es geht also darum, die Mechanismen der hegemonialen Wirtschaftsordnung und der daraus sich ergebenden Konsequenzen der Prekarisierung der Arbeit oder der rechtspopulistischen Wiederbelebungen veralteter mythischer Konzepte nationaler Identität zum primären Diskussionsobjekt und zum zentralen diskursiven Auseinandersetzungsthema zwischen gegnerischen Gruppen zu machen. Die Zivilgesellschaft im Sinne Gramscis, also nicht als Raum der herrschaftsfreien Deliberation, sondern als Terrain der Auseinandersetzung um Deutungshoheit verstanden, bildet hierfür den Nährboden und zugleich das Aktionsfeld eines solchen gegenhegemonialen Projektes zur Rekodierung der politischen Kultur. Auf diesem ›glokalen‹ Boden konstituieren sich die Lebensund Wahrnehmungswelten der Menschen, die in gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eingebunden sind und diese gleichzeitig formen. Zugleich finden auch ihre Kämpfe um Anerkennung und die Formulierung ihrer unterschiedlichen Forderungen und Interessen hier statt, auf einem Feld also, das beispielsweise Vereine, Bürgerinitiativen, Betriebe, öffentliche Räume, Schulen, Universitäten, kurz: das lokale, aber auch globale Zusammenleben umfasst. Dies ist auch der Ort der diskursiven Auseinandersetzung, in welchem es darum geht, dass eine Gruppe in sozialen und politischen Auseinandersetzungen darum kämpft, das eigene Interesse zum allgemeinen Interesse zu erheben und so ›hegemonial‹ zu machen. Das »eigentlich politische Element« besteht somit »darin …, dass auch andere und untergeordnete Gruppen ihre Interessen übernehmen und teilen.«50 Das bedeutet jedoch nicht die paternalistische Durchsetzung eigener Interessen über die Interessen anderer Gruppen. Vielmehr geht es darum, dass unterschiedliche Interessenlagen und Subjektpositionen (etwa solche einer prekarisierten Putzfrau und eines genauso prekarisierten Free-Lancers der IT-Branche) über die bestehenden ›Gefährte‹ der Politik – Parteien, Gewerkschaften oder zivilgesellschaftliche Initiativen –, die, sofern sie eine genügend hohe Aufmerksamkeit erlangen, auch die klassischen Apparate der politischen Gesellschaft auf den Plan rufen, in ein gemeinsames Verhältnis hegemonialer Artikulation gesetzt werden. So könnte durch eine gemeinsame politische Intervention, die Menschen aus augenscheinlich anderen Einkommens- und Bildungsschichten oder Milieus vereint, ein Erfolg im Kleinen verbucht werden. Daraus lässt sich Volksherrschaft«. In: Studia Philosophica, Jahrbuch der schweizerischen philosophischen Gesellschaft, 71, 2012. S. 56. 50 | D EMIROVIC, A LEX . Politische Gesellschaft – zivile Gesellschaft. Zur Theorie des integralen Staates bei Antonio Gramsci. In: S ONJA B UCKEL . A NDREAS F ISCHER-L ESCANO (Hg.). Hegemonie gepanzert mit Zwang – Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis. Baden-Baden 2007. S. 21-41. Hier S. 30.
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noch kein Sprung auf die globale Ebene herleiten, aber immerhin eine Politisierung im Kleinen durchsetzen, aus der anders kodierte Räume in der Zivilgesellschaft geöffnet werden und aus denen, sofern der Erfolg sich stabilisiert, auch ausgedehntere Artikulationsketten – im Sinne, dass auch andere bis dahin nicht teilhabende Gruppierungen oder Subjektpositionen sich diesen kollektiven Forderungen anschliessen – sich bilden und so auch neue Interventionsfelder angegangen werden könnten. Zudem bildet gerade auch die im Zusammenhang mit der globalen Migrationswanderung entstehende Kreolisierung der Gesellschaften neue Identitäten heraus, die nicht einfach den Verführungen der Parallelgesellschaften überlassen werden dürfen, sondern vielmehr in den politischen und öffentlichen Streit um die selbstbestimmte Wahl der eigenen Lebensführung in einer mitzugestaltenden Gesellschaft eingebunden werden müssen. Entsprechend ist es auch Aufgabe der gegenhegemonialen Kräfte der Gesellschaft, dass sie die Subalternen oder diejenigen, die dies zu werden drohen, nicht einfach in ihrer Sprachlosigkeit belassen oder ihre Forderungen überhören. Diese gegenhegemoniale Bewegung muss überdies auch territorial auf verschiedenen Klaviaturen spielen. Sie darf, will sie der globalen Realität gerecht werden, nicht im Lokalen verharren, sondern muss versuchen, Brücken zu postnationalen Institutionen und Sphären zu schlagen. Hierfür bietet sich die EU als ein anzuvisierendes Ziel an. Innerhalb dieses schon bestehenden Netzwerkes von Interessensverbänden, Parteien, Verwaltungsdienern sowie (mehr oder weniger) demokratischen Institutionen und Verfahren kann sich ein gegenhegemoniales Projekt vom Lokalen über das Nationale ins Postnationale einbringen, damit auch die global existierenden Sachzwänge mit anderen Lösungsvorschlägen und alternativen Wirtschafts- und Lebensformen beantwortet werden können. Dass hierbei das Prinzip der Geduld im Vordergrund steht, ist zwar ernüchternd, aber zugleich wesentlicher Bestandteil der langsamen Mühlen der Selbstbestimmungsprozesse und der sie fundierenden politischen Kultur. Dass überdies auch die Inhalte des gegenhegemonialen Projekts bei diesem Prozess immer wieder einer Kritik unterliegen und neue Formulierungen erhalten, ist nicht etwas der Preis der ersehnten Macht, sondern einfach das Resultat der demokratischen Logik, die auf Streit, Pluralismus und einer Mentalität und politischen Kultur aufbaut, die sich der Tatsache bewusst ist, dass Demokratie nur dann bestehen kann, wenn diejenigen, die von ihr betroffen sind, zugleich ihre Gestalter sind, hierfür aber auch die materiellen Voraussetzungen gesichert haben müssen, um den räsonierenden Streit einleiten zu können, und so das demokratische Gemeinwesen vor einer innerlichen Aushöhlung, die sich in krassen Wohlstandsdisparitäten zeigt, bewahren und auch gegen undemokratische Verführungen verteidigen können. Es geht also darum, die Orte, Subjekte und Strategien des Widerstandes aus einer gegenhegemonialen Bewegung, die sich im Vollzug ihrer politischen Ausrichtung in ihrer Zusammensetzung, aber nicht in ihrem gegenhegemonialen Gestus, immer wieder verändern kann, zu entwickeln, um so die ökonomische, politische und soziale Ordnung herausfordern zu können und gleichsam
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die hegemonialen Deutungen, wie sie in der politischen Kultur sedimentiert sind, mit Gegendeutungen zu konfrontieren. Der hier dargestellte Ansatz für die Gestaltung eines gegenhegemonialen Projekts glänzt nicht mit einer vollständig ausformulierten Alternative zur bestehenden hegemonialen Ordnung. Vielmehr ist die Formulierung dieser Alternative als etwas zu verstehen, das im Kommen begriffen ist und ständig Veränderungen unterliegt. Die Alternative liegt also nicht in der Vor-Stellung eines schon klar strukturierten Noch-nicht-Ortes, sondern die Alternative ist das praktische und tätige Eintreten in die bestehenden Selbstverständigungsprozesse, im Wissen, dass diese immer schon machtdurchdrungen und hegemonial strukturiert sind. Es handelt sich also um eine Intervention in die zivilgesellschaftlichen Felder, die insofern politisch ist, als sie durch ihren kritischen Vollzug die bestehenden Selbstverständigungsdiskurse zu einer Stellungnahme und bestenfalls zu einer Veränderung ihrer Bedeutungsrahmen zwingt. Dies ermöglicht nicht nur die Bewusstwerdung der Fallibilität bestehender hegemonialer Diskurse, sondern motiviert auch nach Massgabe kritischer öffentlicher Auseinandersetzungen zum hartnäckigen Bohren der steingewordenen Deutungsrahmen. Die ›versteinerten‹ Machtpraktiken und politisch-kulturellen Deutungsmuster mit ihren ideologischen Elementen, die sich symbolisch, semantisch und alltagspraktisch manifestieren, werden so angegriffen und erodiert. Diese Erosion der politischkulturellen Sedimente öffnet den Raum für konkurrierende Deutungsangebote, reaktiviert die politische Debatte um das ›Gute‹ und ›Gerechte‹ und stellt so einen Prozess der Defixierung von Bedeutung dar, deren erneute Fixierung, will sie hegemonialen Status erlangen, nicht ohne öffentlichen Streit vor sich gehen kann. Gerade für die heutige krisengeplagte Zeit können diese Überlegungen fruchtbar sein und im Zusammenhang mit Gramscis Definition der Krise ihre kritische und subversive Spitze zeigen. Eine Krise, so Gramsci, besteht nämlich gerade in der Tatsache, »dass das Alte stirbt und das Neue noch nicht zur Welt kommen kann.«51 Es liegt an Menschen, die Geburtswehen zu beschleunigen und sich gegen eine Ordnung zu empören, die sie zu reinen Marktakteuren erziehen will, einer zunehmend grossen Anzahl keine Perspektive mehr bietet, während sie es einigen Wenigen gönnt, ihren Luxus ohne das Brennen eines Schweisstropfens im Auge zu geniessen, die überdies die Massenmedien in Konsumgüter verwandelt und die in der »Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und die masslose Konkurrenz aller gegen alle«52 ihre angeblich alternativlos neue schöne Welt propagiert und durchsetzt und sich hierfür ein politisch-kulturelles Bedeutungsreservoir erzeugt, das ihr sogar schweigend-apathische oder nationalistisch-hetzerische Legitimation zuspricht. Nötig ist eine Empörung, wie sie bspw. im Frühjahr und Sommer des Jahres 2011 in den 51 | G RAMSCI, A NTONIO. Gefängnishefte. Herausgegeben von K LAUS B OCHMANN und WOLFGANG F RITZ H AUG . Hamburg: Argument 1991-2002. Band 2, Heft 2-3, S. 354. 52 | H ESSEL , S TÉPHANE . Empört euch! Berlin: Ulstein 2010. S. 21.
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Strassen Spaniens laut wurde und an der unterschiedliche politische Gruppierungen teilnahmen und in ihrer Äquivalenzkette, die in der Bewegung 15M – benannt nach dem 15. Mai 2011, der Tag, an dem die Proteste begannen – mündete, die Forderung nach einer ›echten‹ Demokratie artikulierten. Die Forderung zielte zugleich auf ein anderes Verständnis, auf eine andere Bedeutung und auf eine andere Form von Demokratie – eine Demokratie nämlich, in der die demokratische Kontrolle der wirtschaftlichen Sektoren wieder in den Händen der Bürger liegt, in welcher die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums so gestaltet wird, dass nicht nur eine kleine Elite profitiert, sondern alle, die an seiner Herstellung beteiligt waren, also alle Gesellschaftsmitglieder; eine politische Ordnung, die mehr Teilnahmemöglichkeiten, mehr Selbstbestimmung, weniger Privilegienherrschaft und mehr Gleichberechtigung in allen zivilgesellschaftlichen Feldern durchsetzt, und in welcher die Freiheit als ein allgemeines Gut geschützt wird, dem zuallererst seine materielle Ermöglichungsbedingung garantiert werden muss.53 Ein gegenhegemoniales Projekt muss also den Kampf um die bestehenden dominanten Deutungen und Interpretationen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung aufnehmen und für demokratische Meinungsbildungsprozesse im Lichte faktischer, und das heisst materiell abgesicherter Teilnahmemöglichkeiten am öffentlichen Diskurs und am politischen Selbstbestimmungsprozess kämpfen, in den zivilgesellschaftlichen Feldern neue selbstbestimmte Räume öffnen und hier die festgefahrenen Geltungsansprüche, Deutungsmuster und daraus resultierende Subjektivierungsformen herausfordern, in der Öffentlichkeit und im Privaten die dominanten Narrative auf ihre Widersprüche befragen, um so letztlich das hegemoniale Feld der politischen Kultur nach selbstbestimmten und kritisch bewerteten Wertvorstellungen und Sinnorientierungen neu kodieren zu können. Will man Gramscis Frage, ob wir die Bedingungen schaffen wollen, unter denen die Notwendigkeit der Dichotomie von Regierenden und Regierten verschwindet, zustimmend beantworten, dann ist eine ›Ent-Ökonomisierung des Sozialen‹ und einer Re-Politisierung der Gesellschaft nötig, dann ist kritische Arbeit nötig, um die Widersprüche der bestehenden Hegemonie und der sie stützenden politischen Kultur an verschiedenen Orten, über verschiedene Akteure, mittels verschiedener Technologien so zu verdichten, dass unweigerlich Risse im herrschenden Systeme entstehen. Dann ist, im Gestus des Marxismus, die Rede der bürgerlichen Gesellschaft von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit äusserst ernst zu nehmen und mit gespielter Naivität zu fragen, weshalb diese hochtrabenden Ideale nie unsere materielle Existenz berühren und warum etwa der (neo) liberale Diskurs den Begriff der Freiheit ausschliesslich als einen solchen versteht, der nur mit der alternativlosen Realisierung des freien Marktes gegeben ist, um gleichzeitig jegliche Alternative hierzu von Beginn an als unzumutbar oder weltfremd zu diffamieren, wo doch Freiheit gerade die Möglichkeit der Wahl 53 | Siehe: www.democraciarealya.es/manifiesto-comun/ (Stand Frühjahr 2014).
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zwischen Alternativen impliziert. Es geht also darum, das kritische Potential zu reaktivieren, bestehende, aber auch neue Formen und Akteure der politischen Auseinandersetzung hierfür zu nutzen, eine andere ›Politik der Kultur‹ und so auch eine andere politische Kultur zu etablieren, die demokratisch fundiert die Geburtswehen, von denen Gramsci sprach, einleiten könnte. Geburtswehen sind nicht schmerzlos und manchmal stirbt das Kind nach der Geburt, aber vielfach ist es auch gesund und voller Tatendrang. Angesichts der historischen Entwicklung und der aktuellen Verhältnisse lässt sich aber ohne einen Optimismus der Tat, der manchmal dem Pessimismus des Intellekts zuvorkommt, nie wissen, wie es mit diesem neuen Kind steht.
Danksagung
Die vorliegende Arbeit habe ich während meiner Assistenzzeit bei Prof. Dr. Georg Kohler am Lehrstuhl für politische Philosophie der Universität Zürich geschrieben. Ihre Entstehung verdankt sich aber auch der Mitwirkung anderer Personen, die mich mit ihren Gedanken, Hilfestellungen und Aufmunterungen begleitet haben. An erster Stelle möchte ich mich bei Prof. Dr. Georg Kohler und Prof. Dr. Urs Marti bedanken. Ihre engagierte Betreuung und die in unzähligen Diskussionen geäusserte konstruktive Kritik haben mein Denken geschärft und meiner Arbeit fruchtbare Ansätze geliefert – dafür, vor allem aber für die entstandene Freundschaft, bin ich sehr dankbar. Christine Abbt, Tim Kammasch, Anna Goppel, Ivan Casas und Gregor Müller danke ich für ihre stets vorhandene Gesprächsbereitschaft und für ihre anregenden Anmerkungen und Gedanken zu meiner Arbeit. Teile dieser Studie konnte ich auf Tagungen und Kolloquien in Zürich und Wien vorstellen. Entsprechend möchte ich Prof. Dr. Anton Leist und Prof. Dr. Francis Cheneval von der Universität Zürich für die Gastfreundschaft, die sie meinem Dissertationsprojekt in ihren Kolloquien gewährten, danken. Prof. Dr. Dr. Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Prof. em. Dr. Helmut Lethen vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien danke ich für die Einladungen und die Diskussionen vor Ort. Der herzlichste Dank geht an meine Eltern, weil sie mich jederzeit mit Hingabe und Liebe unterstützt haben. Aus meinem tiefsten Inneren geht hierbei ein Gedanke an meine Mutter, die während der Entstehung dieser Arbeit gestorben ist. Gewidmet ist dieses Buch meiner Frau Petra Haase, die meine Zweifel und Unsicherheiten mit ihrer Geborgenheit, Liebe und Klugheit auffängt, sowie meiner Tochter Mila – möge deine Generation kritischer und solidarischer sein als meine.
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