Neoliberalismus und die Krise des Sozialen: Das Beispiel Österreich 9783205790556, 9783205785194


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Neoliberalismus und die Krise des Sozialen: Das Beispiel Österreich
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Andrea Grisold · Wolfgang Maderthaner · Otto Penz (Hg.)

Neoliberalismus und die Krise des Sozialen Das Beispiel Österreich

B ö h l au Ve r l ag Wi e n · Köl n · We i mar

Gedruckt mit der Unterstützung durch:

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien

MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung

In Zusammenarbeit mit dem Dr.-Karl-Renner-Institut

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek  : Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie    ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78519-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau.at http  ://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : Impress, Slowenien

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Maderthaner Die Ökonomie des Okkulten – Anmerkungen zu einer Geschichte des Neoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Fellner · Andrea Grisold Verteilung im Zeitalter des Neoliberalismus. Die Entwicklung traditioneller Wohlfahrtsstaaten anhand ausgewählter Makrodaten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Engelbert Stockhammer Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung. Österreich im finanzdominierten Akkumulationsregime . . . . . . . . . . 111 Otto Penz Vom Sozial- zum Wettbewerbsstaat. Arbeitsbeziehungen und politische Regulation in Österreich . . . . . . . 139 Birgit Sauer Das Private des Sozialen  ? Mechanismen der Geschlechterpolitik im Neoliberalismus . . . . . . . . 179 Andrea Grisold · Edith Waltner · Klara Zwickl Notwendigkeit und Grenzen des Sozialen. Das Beispiel Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . 211 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Vorwort

Es war skurril und bedrückend zugleich, jedenfalls aber beängstigend. Gerade eben hatte der Zusammenbruch des Wall-Street-Giganten Lehman Bros. in dramatischer Kettenreaktion die Implosion der internationalen Finanzarchitektur ausgelöst und damit eine überaus realistische Perspektive auf die schwerste krisenhafte Erschütterung des Kapitalismus seit den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts eröffnet, als George W. Bush, 43. Präsident der Vereinigten Staaten, im September 2008 mit einer denkwürdigen Rede vor die Fernsehkameras trat. Ein weiteres Mal repetierte er die in den vergangenen beiden Jahrzehnten so vertraut und scheinbar allgemeingültig gewordene radikale Marktphraseologie, noch einmal bediente er, von den realen Entwicklungen offensichtlich völlig unbeeindruckt, das rhetorische Repertoire der Mythenspirale eines unter US-Hegemonie stehenden globalen (Finanz-)Kapitalismus. Keinesfalls dürfe man nun in den Kardinalfehler einer auch nur marginalen staatlichen Intervention in den freien und sich selbst regelnden Marktmechanismus verfallen, vielmehr seien weiter und radikaler denn je forcierte Liberalisierungen, Deregulierungen und Entbürokratisierungen die zu Gebote stehenden Patentrezepte. Zur gleichen Zeit schnürte Bushs Finanzminister Hank Paulson, ehemaliger Chef der führenden Investmentbank Goldman & Sachs, bereits ein Interventionspaket in niemals zuvor gesehener Höhe, das öffentliche Gelder in die Finanzmärkte pumpen sollte und primär zur Wiederherstellung der eingefrorenen Kreditflüsse gedacht war – Sozialismus in seiner „reinen Form“, wie die deutsche Zeit diagnostizierte, wenngleich auch ein Sozialismus ausschließlich „für die Reichen“. Was folgte, ist lediglich in Superlativen zu ermessen  : Weltweit wurden staatliche Konjunktur- und Investitionsprogramme in historisch einzigartigen Dimensionen lanciert, erreichten die öffentlichen Stützungen und Hilfsprogramme für den sich im Zustand akuter Selbstdestruktion befindlichen Finanzsektor ungekannte Ausmaße. Der von den Proponenten einer zunehmend ins Metaphysische überhöhten, entfesselten Marktfreiheit so gering geschätzte, ja verachtete Staat erwies sich als der buchstäbliche Retter in letzter Sekunde. Prominente Kritiker eines deregulierten und sukzessive finanzdominierten globalen Turbokapitalismus, wie die Nobelpreisträger Jo-



Vorwort

seph E. Stiglitz und Paul Krugman, erkannten eine unerwartete, wenngleich notwendige und doch auch merkwürdig „aseptische“ Renaissance der ökonomischen Prinzipien des Theoretikers der Great Depression und des New Deal, John Maynard Keynes. Denn wenn auch die Wiederkehr des staatsinterventionistischen Keynesianismus den zunächst durchaus wahrscheinlichen Absturz in die globale Depression zu verhindern oder doch zumindest abzuschwächen und zu verzögern vermochte, so hat dies offensichtlich keinerlei politische Konsequenzen nach sich gezogen, ja die seit Längerem offensiv betriebene „Entmächtigung“ der Politik nur fortgeschrieben. Man brauche nunmehr, so der allgemeine Tenor, strikte und rigide Regeln für den offensichtlich so krisenträchtigen und von der Realwirtschaft zunehmend abgekoppelten Finanzbereich, Regulationen, die Katastrophen wie jene des September 2008 ein für alle Mal auszuschließen imstande wären. In bemerkenswerter Parallele zu den Ankündigungen im Gefolge des Crashs von LTCM, des weltweit größten Hedgefonds, der ein Jahrzehnt zuvor nur ganz knapp am Systemkollaps vorbeigeführt hatte, ist auch diesmal jegliche weitere Aktivität ausgeblieben. Auch wenn die Obama-Administration im Dezember 2009 einen Gesetzesentwurf vorlegte, den sie als die grundlegendste Reform seit der Großen Depression verstanden wissen will, so ist es doch überaus signifikant, dass mit den Hedgefonds und dem Derivatemarkt ausgerechnet jene Schattenbereiche explizit ausgenommen sind, von denen die Krise und das melting down 2007/08 ihren Ausgang genommen haben und von Warren Buffett demgemäß als „finanzielle Massenvernichtungsmittel“ gekennzeichnet wurden. Es vermag demnach wenig zu verwundern, dass die Finanzspekulation nach einer kurzen, schockinduzierten Erstarrung sehr schnell zu ihren angestammten Praktiken zurückgefunden hat, gestärkt lediglich um das gesicherte Wissen, dass im Falle des Eintretens des worst case scenarios die öffentliche Hand erneut ein wie auch immer aufwendiges und kostspieliges Sicherheitsnetz aufziehen wird. Jüngste Krisensymptome wie der nur unter rigiden Auflagen des IWF aufgefangene Staatsbankrott Ungarns, die massiven Finanzturbulenzen des Investoren- und Tourismusparadieses Dubai oder auch der im Zusammenhang mit dem Bankrott der österreichisch-bayrischen Hypo Alpe Adria offenkundig gewordene kriminelle Mix aus Korruption, Fahrlässigkeit und Hybris lassen, jedenfalls zum Zeitpunkt der Abfassung der Beiträge zur vorliegenden Publikation, die Perspektiven in Richtung Selbstregulierung und krisenfreiem Gleichgewicht einer marktgetriebenen, finanzialisierten und globalen Ökonomie mehr als fragwürdig erscheinen.



Vorwort



Vor diesem Hintergrund eklatanter Prognoseunsicherheit unternimmt die vorliegende Publikation den Versuch einer Bestandsaufnahme neoliberaler Hegemonie über die letzten drei Jahrzehnte  : mithin jener Phase eines grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und technischen Wandels, der den wohlfahrtsstaatlichen Konsens der Nachkriegsordnung und der Wiederaufbauära aufzuheben und Arbeit, Soziales, Demokratie und Zivilgesellschaft dem radikalen Paradigma einer rastlosen Globalisierung und Deregulierung von Ökonomie und Kultur unterzuordnen scheint. Die damit einhergehenden Krisenphänomene bilden sich nicht nur in der Arbeitswelt, im Zusammenleben, im Sozialstaat ab, sondern verändern auch Mentalitäten und politische Präferenzen. Als Fallbeispiel für die konkrete Darstellung dieser supranational wirksamen Transformationsprozesse dient mit Österreich ein hoch entwickelter, traditionell sozialpartnerschaftlich organisierter Wohlfahrtsstaat. Die Autorinnen und Autoren des Bandes versuchen, der angespro­chenen Thematik durch eine transdisziplinäre Herangehensweise gerecht zu ­werden, bei der geschichts-, wirtschafts- und politikwissenschaftliche, aber auch soziologische Erkenntnisse ineinandergreifen. Den gemeinsamen theoretischen Horizont der Beiträge bildet die Regulationstheorie und damit die Fordismus/Postfordismus-Debatte, wobei zudem auf die praxeologische Sichtweise Pierre Bourdieus, die ökonomische Theorie des Postkeynesianismus und das Gouvernementalitäts-Konzept von Michel Foucault Bezug genommen wird. Liegt der Schwerpunkt der Betrachtungen am Anfang des Buches eher auf wirtschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Problemstellungen, so stehen in der zweiten Hälfte der Publikation vor allem politische Fragen (der Regulierung und governance) und die geschlechtsspezifische Ungleichheit im Mittelpunkt des Interesses. Am Beginn zeichnet Wolfgang Maderthaner den nur vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Sowjetsystems verständlichen Aufstieg des Neoliberalismus von marginalen politischen, ideologischen und intellektuellen Positionen zur „erfolgreichsten Ideologie aller Zeiten“ (Perry Anderson) nach. Das neoliberale Projekt zielt, unter den Vorzeichen der völligen Neuordnung und Deregulierung der Finanzmärkte, auf die Neuformierung kapitalistischer Hegemonie in globalem Maßstab, auf eine völlig neu konfigurierte, zur Gänze integrierte, virtuelle globale Ökonomie unter den Voraussetzungen forcierter spekulativer Finanzialisierung. Es ist ebenso sehr ein rigorosen ideologischen Imperativen folgendes utopisches Projekt zur Umsetzung einer Wirtschaftsdoktrin und zur Reorganisation des internationalen Kapitalismus wie ein politisches Projekt zur radikalen Restrukturierung der

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Vorwort

Klassenbeziehungen und der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zugunsten der neuen ökonomischen Eliten. In diesem Sinn läuft der Neoliberalismus auf eine umfassende Um- und Neuverteilung von Einkommen, Vermögen und Reichtümern ebenso hinaus wie er zugleich, unter den Vorgaben des selbst gestellten Phantasmas einer immerwährenden ungehemmten Akkumulation, fatale Keime der Selbstdestruktion in sich trägt. Da sich offensichtlich auch traditionelle Wohlfahrtsstaaten der neoliberalen Transformation von Werten und Anforderungen nicht entzogen haben, widmet sich der Beitrag von Wolfgang Fellner und Andrea Grisold der Verteilungsfrage im neoliberalen Zeitalter aus makroökonomischer Perspektive. In einem Vergleich Österreichs mit fünf weiteren europäischen Wohlfahrtsstaaten wird anhand von makroökonomischen Kennzahlen überprüft, wie sehr diese wohlhabenden Staaten neoliberale wirtschaftspolitische Forderungen tatsächlich umgesetzt haben. Die Analyse von vier makroökonomischen Bereichen (Konjunktur, Beschäftigung, Einkommen und Sozialpolitik) macht die Konvergenz der Staaten im Untersuchungszeitraum deutlich, zeigt aber auch die Besonderheiten Österreichs in dieser Entwicklung auf. Die Umsetzung neoliberaler Ideen ist in bestimmten Bereichen stark vorgenommen worden und hat zu beträchtlichen Änderungen in der Verteilung geführt, für makroökonomische Stabilisierung und Wachstum wurde darauf aber nicht vertraut. Daran anschließend geht es im Aufsatz von Engelbert Stockhammer konkret um die Finanzialisierung der Wirtschaftsordnung, d. h. um die Herausbildung einer von Finanzmärkten und Shareholder Value-Orientierung dominierten globalen Wirtschaft. Der Autor weist dabei auf die Herausbildung unterschiedlicher Wachstumsmodelle hin, eines kredit- und eines exportgetriebenen, wobei Österreich zu jenen Ländern gehört, die dem exportorientierten Modell in den frühen 2000er-Jahren folgten. An Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung in Österreich konstatiert Stockhammer, dass eine besonders ausgeprägte Polarisierung der Einkommensverteilung zwischen Kapital und Arbeit stattgefunden hat und sich die Banken ihrer früher gemeinwirtschaftlichen Ziele entledigt haben. Der Beitrag von Otto Penz beschäftigt sich mit der sozialen Frage in Österreich im Übergang von einem keynesianischen zu einem neoliberalen Wirtschaftsmodell, wobei die Veränderungen der Arbeitsbeziehungen sowie der Systeme sozialer Sicherheit im Zentrum der Analyse stehen. Die Flexibilisierung und Präkarisierung der Arbeit, verbunden mit Einschränkungen der öffentlichen Sozialleistungen, kennzeichnen diese Entwicklung  ; sie sind



Vorwort

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zugleich Ausdruck einer allgemeinen Ökonomisierung der politischen Steuerung und staatlichen Politik. Die wirtschaftliche Krise führte auch in Österreich zu einer Verschärfung der sozialen Unsicherheit und lässt die Frage nach gesellschaftlicher Integration und sozialer Gerechtigkeit bzw. nach Strategien zur Überwindung der neoliberalen Hegemonie besonders virulent werden. In der nachfolgenden Arbeit diskutiert Birgit Sauer die Transformationspotenziale der aktuellen Wirtschaftskrise für die Geschlechterverhältnisse. Zu diesem Zweck werden die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im Neoliberalismus geschlechterkritisch hinterfragt, wobei sich die Grenzverschiebungen zwischen Öffentlich und Privat als zentral erweisen  : An die Stelle des erodierenden männlichen Familienernährer-Modells tritt das geschlechtsneutrale adult breadwinner-Modell, zugleich aber kommt es zur Re-Privatisierung der weiblichen Reproduktionsarbeit. Insgesamt bewirkt der Neoliberalismus eine radikale Transformation des feministischen Handlungskontextes, und er nötigt zur Neu-Erfindung des Raums frauenbewegter Intervention. Ein Weg zu mehr Demokratie besteht vor allem darin, die widersprüchlichen weiblichen Alltagspraxen sichtbar zu machen und zu politisieren. Der abschließende Beitrag von Andrea Grisold, Edith Waltner und Klara Zwickl untersucht die Auswirkungen des Aufstiegs des Neoliberalismus in Österreich auf Frauen in der Arbeitswelt, bietet somit empirisches Anschau­ ungsmaterial zu den Geschlechterverhältnissen in Österreich. In den Mittelpunkt der Betrachtung werden die Entwicklungen von Frauenbeschäftigung, geschlechtsspezifischer Verteilung von (Erwerbs-)Arbeitszeit, Segregation und Einkommensverteilung gerückt. Es fällt auf, dass die Position von Frauen am Arbeitsmarkt in den letzten drei Jahrzehnten gleichermaßen von Bewegung wie von Stillstand gekennzeichnet war  : Während die Frauenerwerbsquote kontinuierlich und kräftig anstieg, kam es infolge der neoliberalen Deregulierung der Arbeitsmärkte zu einem starken Anstieg von Teilzeitar­beit und prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dadurch verschärfte sich die Ungleichverteilung der Erwerbsarbeitszeit zwischen Frauen und ­Männern. Die Daten sowohl zur horizontalen Arbeitsmarktsegregation als auch zur Höhe geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede weisen kaum Unterschiede zum Niveau der 1970er-Jahre auf. Ein wenig befriedigendes Ergebnis, besonders vor dem Hintergrund der raschen Verbesserung des weiblichen Bildungsniveaus, der gestiegenen Frauenerwerbsquote und der (scheinbaren) Zunahme des Bewusstseins über die Notwendigkeit von Frauenförderung.

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Vorwort

Das Team der HerausgeberInnen möchte sich nachdrücklich beim Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank bedanken, der das Forschungsprojekt Korrosion des Sozialen finanziert hat, dessen Erkenntnisse diesem Band zugrunde liegen. Für die finanzielle Unterstützung der Publikation bedanken wir uns beim Bundeskanzleramt der Republik Österreich, beim Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, der Kulturabteilung der Gemeinde Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung und dem Dr.Karl-Renner-Institut. Die HerausgeberInnen

Wien, im Jänner 2010

Wolfgang Maderthaner

Die Ökonomie des Okkulten Anmerkungen zu einer Geschichte des Neoliberalismus

1. Der Tanz um das Goldene Kalb Die Rückkehr der Geschichte vollzog sich spektakulär und in atemberaubendem Tempo. Es war ein Debakel von wahrhaft epochaler Dimension, das halbwegs adäquat nur in Form von Superlativen ermessen werden kann. Ausgehend von einem Preiseinbruch auf dem US-Immobilienmarkt waren im Sommer 2007 verstörende Verwerfungen auf den Kapitalmärkten evident geworden. Hedgefonds, die in sogenannte subprime mortgages, also hoch riskante Hypothekenpapiere geringster Qualität investiert hatten, vernichteten die ersten Dollar-Milliardenwerte  ; in zumindest zwei Fällen musste die Investmentbank Bear Stearns mit massivem Kapitaleinsatz intervenieren. In ihrem im Juni 2007 erscheinenden Jahresbericht kam die als ebenso seriös wie vorsichtig geltende Bank for International Settlements (BIS) zu einer erstaunlichen, wenngleich alarmierenden Diagnose  : Jahre einer überaus laxen Geld- und Regulationspolitik hätten in einer gigantischen globalen Kreditblase gemündet, die die Weltwirtschaft für einen der Großen Depression der 1930er-Jahre vergleichbaren Rezessionsschock anfällig gemacht habe (Wade 2008  : 7). Die Warnungen der BIS wurden tunlichst ignoriert. Ein gutes Jahr später befanden sich die internationalen Kapitalmärkte in einem Stadium der beschleunigten Auflösung, hatte die Finanzkrise mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Kreditsektor zunächst in den USA und danach in Europa und den Schwellenländern erfasst und die Kapitaldecke der Banken aufgezehrt, waren die anfänglichen Verwerfungen in eine Vertrauenskrise gigantischen Ausmaßes kulminiert (Hanappi/Rengs 2008  ; Zeise 2008). Das so coole und scheinbar unbegrenzt mächtige angloamerikanische Finanzkasino brach einem Kartenhaus gleich in sich zusammen, das Ende der Wall Street in ihrer bisherigen Form war besiegelt. Die fünf großen, dominanten Investmenthäuser hatten schlicht zu existieren aufgehört. Sie wa Bereits im März 2008 musste Bear Stearns, das gemessen selbst an den Standards der Wall

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Wolfgang Maderthaner

ren nicht nur ökonomische Mega-Player, sie waren auch außergewöhnlich potente politische Akteure gewesen, die, von ihren Londoner Niederlassungen aus, einen prägenden Einfluss auf die Finanzpolitik der Europäischen Union genommen hatten. In einem dramatischen Appell wandte sich nunmehr anfangs Oktober ein knappes Dutzend führender europäischer Ökonomen an die Regierungen der Mitgliedsstaaten der EU und wies auf frappante Parallelen mit dem Zusammenbruch der Finanzmärkte „in den dunklen Jahren der Weltwirtschaftskrise“ und deren bekannte politische Konsequenzen hin  : „Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass genau dies wieder passieren könnte.“ Marco Annunziata, Chefvolkswirt der italienischen Unicredit, einer der bedeutendsten europäischen Banken, sprach zum selben Zeitpunkt davon, dass die umfassende Krise des Finanzsystems durchaus eine „weltweite ökonomische Kernschmelze“ auszulösen imstande sei (Die Zeit, 9. 10. 2008). Noch vor Jahresende sollte sich sein Institut massiv in Kalamitäten im Zusammenhang mit den pyramidenspielartig organisierten betrügerischen Aktivitäten des Finanzgurus und ehemaligen Verwaltungsratschefs der Technologiebörse Nasdaq, Bernard Madoff, verwickelt sehen – zurückzuführen unter anderem auch auf das über Madoff abgewickelte Hedgefonds-Engagement der zum Unternehmensverband der Unicredit gehörenden Bank Austria, der ehemals so gediegen geführten Zentralsparkasse der Gemeinde Wien. In der Tat war das Debakel vollständig  ; als sicherstes Indiz dafür mag vielleicht gelten, dass der Zusammenbruch binnen Kurzem Topos der Häme und des Spotts geworden war. So berichtete etwa eine von Aktionskünstlern täuschend echt gestaltete Fake-Ausgabe der New York Times über die unwiderrufliche Schließung eines der ideologischen Epizentren des neoliberalen Dogmas, der Harvard Business School, wegen ostentativen Totalversagens der von ihr ausgebildeten Wirtschafts- und Finanzeliten. Gleichwohl hatte die Satire ihre Korrespondenz im Realen  : Die Ivy-Leage-Universität musste Ende November bekannt geben, dass sie Verluste von elf Milliarden Dollar aus ihrem in Investmentfonds angelegten Vermögen erwarte (Frankfurter Rundschau, 4. 12. 2008). Werner de Bondt, Finanzökonom an der University Street als überaus aggressiv gegolten hatte, mithilfe der amerikanischen Notenbank und weit unter Wert verkauft werden. Nunmehr, in der zweiten Septemberhälfte, mutierten Goldman Sachs, die „Kathedrale des schnellen Geldes“ und größte Investmentbank der Welt, sowie Morgan Stanley in gewöhnliche Geschäftsbanken, mit größeren Sicherheiten, kleineren Gewinnen und verstärkter staatlicher Supervision wie Regulation.



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of Chicago, kommt denn auch zu dem Schluss, dass die eigentliche Gefahr für die europäischen Finanzinstitute darin bestehe, aufgrund der Ausbildung ihrer Manager in den USA „angelsächsische“ Denk- und Handlungsmuster unreflektiert übernommen zu haben  : „Das Ergebnis ist aber ein Desaster“ (Der Standard, 24. 11. 2008). Das Desaster, die Selbstdestruktion eines krank spekulierten globalen Finanzorganismus eröffnete bislang gänzlich ungekannte Dimensionen und vollzog sich in einer wie im Zeitraffer komprimierten Kette von Implosionen von Investmentbanken, Finanzdienstleistern, Hedgefonds, Private-EquityFirmen etc. War man Ende September 2008 noch davon ausgegangen, dass die Banken weltweit mehr als 500 Milliarden Dollar auf Wertpapiere abzuschreiben gezwungen waren, so schätzte lediglich eine Woche später der Internationale Währungsfonds die durch die Finanzkrise verursachten Verluste auf insgesamt 1.400 Milliarden Dollar, Mitte April 2009 ging man von weltweit 4.100 Milliarden Dollar aus. Der Kurswert des Börsenindikators MSCI World (der an die 60 % des globalen Aktienkapitals abdeckt) verringerte sich im Verlauf des Jahres 2008 um deutlich mehr als ein Drittel, der Börsenwert aller im US-Börsenbarometer Dow Jones-Wilshire 5000-Index erfassten Firmen schmolz um unfassbare 7,3 Billionen Dollar, das entspricht einer Summe von 5.212 Milliarden Euro (Format 45/2008  : 36). Als am 7. September dieses Jahres die beiden Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac, quasi-staatliche Finanzhybride, von der US-Regierung unter conservatorship gestellt wurden, war dies nichts anderes als die dem Geldwert nach größte Nationalisierung der Weltgeschichte. Ihr folgte mit dem Zusammenbruch und der Konkursanmeldung der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September der größte Bankrott aller Zeiten. Die Entscheidung der US-Behörden, dem Scheitern Lehmans nichts entgegenzuhalten, war sichtlich von der Überlegung bestimmt, die freien Marktkräfte von jeglicher Verzerrung durch staatliche Intervention unbeeinflusst zu Geltung kommen zu lassen. Allein die Märkte reagierten mit blankem Horror. Und so sah bereits der nächste Tag das bedeutendste bail-out, die größte jemals ausgeführte Rettungsaktion eines privaten Unternehmens, als um 85 Milliarden Dollar ein 79,9 %-Anteil am weltgrößten Versicherer, AIG, vom amerikanischen Staat übernommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt beliefen sich die im Zuge der Krise getätigten Staatsausgaben auf über 1.000 Milliarden Dollar, das entspricht in etwa sieben Prozent des US-Bruttoinlandsprodukts. Die Dramatik der Ereignisse und die Unabsehbarkeit ihrer Folgen ließen in den Hintergrund treten, was andernfalls als internationale Topsensation ge-

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handelt worden wäre  : Die Übernahme von Merrill Lynch – also jener Bank, deren Symbol nichts anderes als der ursprüngliche prancing bull der Wall Street war – durch die Bank of America, nach einem Jahr enormer Verluste in Verbindung mit Subprime-Hypotheken und ihren Derivaten. Und schließlich erfolgte mit Washington Mutual ein historisch einzigartiger inneramerikanischer Bankenzusammenbruch, nachdem in einem Ansturm verunsicherter Kunden binnen zehn Tagen 16,7 Milliarden Dollar abgezogen worden waren (Lanchester 2008). Mit erstaunlicher Geschwindigkeit griff die Krise des Finanzsektors auf Europa, das sich zunächst weitgehend immun gewähnt hatte, über. „Wie saurer Regen, der die Wurzeln gesunder Bäume verätzt und giftige Schwermetalle im Boden freisetzt, dringt die Finanzkrise immer tiefer in Europa ein“, formuliert Die Zeit vom 1. Oktober 2008, und der rhetorische Gestus verweist wohl nicht zufällig auf das vorgeblich Natur- und Schicksalhafte des Prozesses. Die Krise macht selbst vor der Schweiz, weltweit größter Vermögensverwaltungsplatz, nicht halt und offenbart, wie massiv und folgenschwer ein aus einem forcierten Wirtschaftsliberalismus resultierender Anti-Etatismus die Politik in Lethargie und Handlungsunfähigkeit versetzt hat. Die Großbank UBS – neben Credit Suisse Aushängeschild und zentraler Pfeiler der Schweizer Finanzindustrie, mit einer im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt des Landes viermal größeren Bilanzsumme – gerät ernsthaft ins Trudeln und erlebt einen Kursabsturz auf einen Bruchteil einstiger Höchststände. Zur gleichen Zeit sehen sich Belgien, die Niederlande und Luxemburg gezwungen, den Finanzkonzern Fortis für 49 % der Anteile um mehr als elf Milliarden Euro de facto zu verstaatlichen. Irland beschließt unbegrenzte Garantien für alle Geschäfte der Banken des Landes um bis zu 400 Milliarden Euro, das entspricht zirka dem Doppelten des Bruttoinlandsproduktes. Island verstaatlicht seine drei größten Banken, erklärt den Staatsbankrott und sieht sich außerstande, ausländische Einlagen, darunter knapp eine Milliarde Pfund englischer Lokalverwaltungen, zu garantieren. Im Gegenzug friert die britische Regierung unter Rückgriff auf die Anti-Terror-Gesetzgebung Vermögenswerte der isländischen Landsbanki ein. Großbritannien hatte, für ein  So wurden etwa an der Mailänder Börse unter dem Druck der internationalen Finanzkrise bis Ende 2008 352 Milliarden Euro an Marktkapitalisierung vernichtet, was über das gesamte Jahr einem täglichen Verlust von einer Milliarde Euro gleichkommt. Der Leitindex der Wiener Börse ATX hat knapp 60 % an Wert verloren, die Marktkapitalisierung sank von 157,9 auf 51,4 Milliarden Euro.



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Kernland der marktradikalen Gegenreformation erstaunlich pragmatisch und zügig, mit der am 17. Februar 2008 erfolgten Nationalisierung von Northern Rock ein erstes unübersehbares Zeichen gesetzt, das mit der Verstaatlichung des Hypothekenfinanzierers Bradford & Bingley um umgerechnet 63 Milliarden Euro seine logische Fortsetzung fand (Lanchester 2008  : 15f.). In Deutschland ringen Bundesregierung und private Banken um ein Rettungspaket für die pleitegefährdete Hypo Real Estate, deren Verstaatlichung dem sozialdemokratischen Finanzminister Peer Steinbrück in turbulenter Nachtsitzung angetragen wird. Er habe sich dem entzogen, so Steinbrück im Interview  : „Er sagt es so, als könne er selbst nicht glauben, was in der Nacht zuvor geschah“ (Die Zeit, 1. 10. 2008). Am 5. Oktober schließlich wird die Hypo Real Estate, deren Liquiditätsbedarf bei 50 Milliarden Euro liegt, mit einem weiteren Zuschuss seitens der Banken, die einen Zusammenbruch des Geldmarktes und Zahlungsverkehrs insgesamt befürchten, vorläufig gerettet. Bis Mitte Februar 2009 wird die HRE insgesamt 102 Milliarden Euro an Staatsgeldern verbraucht und die deutsche Bundesregierung die gesetzlichen Grundlagen für eine (anfangs Oktober 2009 tatsächlich auch vollzogene) Verstaatlichung geschaffen haben. Vorgesehen ist nunmehr auch die (vor allem auf den Vierteleigner, den US-Großinvestor Christoph Flowers, zielende) Möglichkeit einer Enteignung der Aktionäre. Zu diesem Zeitpunkt beziffert der IWF die Höhe der Abschreibungen der internationalen Banken mit 2.200 Milliarden Dollar. Und der britische Daily Telegraph zitiert aus einem „streng geheimen“ Positionspapier der EU-Kommission, wonach, bei einer Bilanzsumme von 41,2 Billionen Euro, nicht weniger als 44 % aller Vermögenswerte der europäischen Banken (das sind 18,2 Billionen Euro) „faul“ oder unverkäuflich seien, was ein massives systemisches Risiko für das gesamte EU-weite Bankensystem darstelle (URL 1). In der Retrospektive wird deutlich, dass es, als ein letzter Anlassfall, der Bankrott von Lehman Brothers war, der jenes von purer Panik angetriebene eklatante Fehlfunktionieren des internationalen Finanzkapitalismus ganz wesentlich befördert und letztlich in Kettenreaktion zum Kollabieren der in den vergangenen beiden Jahrzehnten so dominanten globalen Finanzarchitektur geführt hat. Die Fonds von Mega-Investoren wurden ebenso immobilisiert wie die internationalen Kreditflüsse einfroren, bis herab auf die Ebene des kleinen alltäglichen Geschäftsverkehrs. Es war nichts anderes als ein allumfassender, totaler Vertrauenseinbruch in der gesamten der kapitalistischen Ökonomie zugrunde liegenden Struktur finanzieller Intermediation, kam doch mit dem Finanzfluss zwischen den Banken die Lebensader des

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Finanzsystems überhaupt zum Erliegen (Wade 2008  : 8f.). Ende September 2008 hatten etwa deutsche Banken, selbst für Kredite kürzester Frist, einen Risikozuschlag von sieben Prozentpunkten gegenüber dem Leitzins zu bezahlen. Und der IWF gab bekannt, dass die Summe der Kreditausfälle die Abschreibungen auf Wertpapiere (also jene gewaltigen Vermögensverluste, die, gemäß dem deutschen Altkanzler Helmut Schmidt, bislang ausschließlich Weltkriege zu verursachen vermochten) zu übersteigen begann – ein ebenso sicherer Indikator für den Umschlag in eine globale Rezession wie die Tatsache, dass die Devisenhändler nunmehr auf eine lang anhaltende Wirtschaftskrise zu wetten begannen. Mit einem Schlag und wie selbstverständlich war Warren Buffetts 2003 geprägtes (und auf den Derivathandel gemünztes) Diktum von den „finanziellen Massenvernichtungswaffen“ (Wade 2008  : 14) prominenter und unabdingbarer Topos des internationalen Krisendiskurses geworden. Tatsächlich hatte die Wall Street eine apokalyptische Apparatur, eine doomsday machine in Form einer ebenso bizarren und opaken wie komplexen und superriskanten Finanzalchemie geschaffen, deren einzelne Komponenten – von den von jeglicher Regulierung und Kontrolle befreiten Sondergesellschaften, Hedgefonds und Ratingagenturen bis hin zu den höchst entwickelten, jedoch undurchschaubar gewordenen jeweiligen Finanzinstrumenten – mit zwingender Logik ineinanderliefen (Lewis 2008). Eine seit Reagan forciert betriebene, unter Clinton weiter ausgebaute und unter Bush II de facto entgrenzte Deregulation der Finanzmärkte hat sich selbst ad absurdum geführt. Die Erosion der Regulation hat die Kräfte der Selbstzerstörung mobilisiert  : Kreditderivate (Credit Default Swaps/CDS) etwa – der jahrelang am schnellsten wachsende, völlig unregulierte Bereich des Finanzmarktes, ursprünglich eine Art Versicherung für Wertpapiere – wurden (da die Anbieter keinerlei Reserven für den Schadensfall bilden mussten) ohne Kapitaleinsatz ausgegeben und binnen Kurzem ausschließliches Instrument der Spekulation. Oder die sogenannten CDOs, die generell als eigentliche Auslöser des Finanzdesasters gelten  ; „toxische“ (faule), schlechtest besicherte Hypothekenkredite aus dem Immobilienmarkt wurden weiterverkauft, zu Subprime-Paketen gebündelt und mithilfe vordefinierter, computergestützter mathematischer Modelle in völlig neuartige, größtenteils mit AAA-Rating versehene und in ihrer Komplexität selbst für professionelle Portfoliomanager nicht mehr durchschaubare Finanzprodukte  Seit sie Ende der 1990er-Jahre erstmals ausgegeben wurden, schwoll das Volumen ausstehender CDS auf 55.000 Milliarden Dollar an. (Die Zeit, 30.10.2008).



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verwandelt (Lewis 2008  : 6). Die Triple-A-Bewertung ermöglichte den Verkauf an internationale Großinvestoren wie Pensionsfonds oder Versicherungsgesellschaften, wodurch die CDOs in ihrer Wirkung gewaltig potenziert wurden  : „[…] and it is these which are the basis of the global jamming-up of capital markets. The interlinked and overlapping loans are so complicated that no one knows who owns what underlying debt, and furthermore, no one knows what these assets are worth“ (Lanchester 2008  : 12). Zu all dem erwies sich das nach den Normen der International Financial Reporting Standards festgelegte angloamerikanische (und seit 2005 für börsennotierte Unternehmen auch in der EU verbindliche) System der Bewertung von Finanzpapieren als für die Eskalation der Krise entscheidend. Dieses nach Zeitwerten ausgerichtete und als mark to market bezeichnete Bilanzierungssystem verpflichtet die Institute zur aktuellen Marktbewertung ihrer Papiere. In dem Moment, da die Preise für auf Kreditforderungen basierende Wertpapiere einbrachen, mussten Abschreibungen in enormer (und in ihren Dimensionen bislang für unmöglich erachteter) Höhe vorgenommen werden, reduzierte sich entsprechend das Eigenkapital der Banken, verfiel, in logischer Konsequenz, das Kreditsystem in ein Stadium der Paralyse (ebd.). Dies aber ist die Stunde des Staates. Es wäre, wie die deutsche Zeit bemerkte, ein wohl höchst interessantes Experiment gewesen, die Probe auf das Exempel nämlich, inwieweit die These von den Selbstheilungskräften des freien Marktes – Kerndoktrin der Neoklassik und des Wirtschaftsliberalismus – angesichts des totalen Finanz- und Kapitalmarktsdebakels ihre Validität und (wissenschaftliche wie praktische) Haltbarkeit erwiesen hätte. Doch im Angesicht der unmittelbar drohenden Vernichtung der eigenen Existenz war der Ruf nach Intervention des Staates selbst seitens jener, die ihre Renditen mit „Leerverkäufen“ und Wetten auf fallende Kurse erzielt hatten, ebenso dringlich wie unüberhörbar geworden. Ein Ruf, in den – nach mehr als zwei Jahrzehnten der offensiven Staatsskepsis, ja der offenen, für Ökonomie und Politik gleichermaßen verbindlichen wie fashionablen Staatsverachtung – nunmehr auch das intellektuelle Dogma offensichtlich problemlos mit einstimmte. So erhob etwa der Harvard-Ökonom und ehemalige Wirtschaftsberater Reagans, Martin Feldstein, die Forderung nach sofortigen und massiven öffentlichen Ausgaben- und Konjunkturprogrammen (Die Zeit, 25. 9. 2008 und 30. 10. 2008). Und im Gegensatz zu den 1930er-Jahren, als man sich, gemäß den dringenden Empfehlungen der weltweit renommiertesten Ökonomen wie Joseph Schumpeter oder Lionel Robins, wenn auch mit entsprechend desaströsen

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Konsequenzen jeglichen staatlichen Eingriffs in den freien Wirtschaftsablauf enthielt, fielen nunmehr die öffentlichen Interventionen tatsächlich massiv aus. Federal Reserve und US Treasury unter Finanzminister Hank Paulson, dem früheren Chef von Goldman Sachs, entwarfen einen 700 Milliarden Dollar schweren Rettungsplan – „the most dramatic government rescue operation in history“ –, der den Banken die toxischen Hypotheken-Portfolios zu Preisen über dem aktuellen Marktwert abkaufen, somit die Bilanzen bereinigen und den Kreditfluss wieder herstellen sollte. In seiner ursprünglichen Form knappe drei Seiten lang, stattete der Plan Paulsen mit voller, tendenziell autoritärer Verfügungsgewalt über die Fondsmittel aus  ; erst nach seinem schnellen Scheitern im Repräsentantenhaus wurde das Rettungspaket in ein eigentliches Instrument zur Rekapitalisierung umgebaut (Krugman 2008a). Dennoch bleibt es ein höchst eigenwilliges Dokument  ; angereichert um populistische Gesten, Kann-Bestimmungen zur staatlichen Gewinnbeteiligung bei geretteten Banken, diversen Steuererleichterungen etc. ist es der ursprünglichen Intention einer Sozialisierung der Verluste des Finanzsektors gänzlich verhaftet geblieben  : Sozialismus in seiner ursprünglichen, reinen Form – wenngleich auch ein Sozialismus für die Reichen. Das Rekapitalisierungs-Schema war von den europäischen Ländern, allen voran der britischen Labour-Regierung unter Gordon Brown vorgegeben worden. Europaweit kam es zu Nationalisierungen und Staatsbeteiligungen im Bankensektor  ; selbst Irland – als Celtic Tiger lange Zeit Vorzeigeprojekt eines neuen, finanzdominierten Wirtschaftsliberalismus – sah sich gezwungen, um (vergleichsweise moderate) 7,5 Milliarden Euro so renommierte Häuser wie die Anglo Irish Bank zu verstaatlichen. Zugleich wurden öffentliche finanzielle Auffangnetze etabliert und Konjunkturprogramme initiiert, die ein Übergreifen der globalen Finanzmisere auf die nationalen Volkswirtschaften, auf die „Realwirtschaft“, nach Möglichkeit auffangen oder doch in ihren Auswirkungen mildern sollten. Russland beispielsweise legte ein mit 190 Milliarden Dollar dotiertes Krisenprogramm auf, das, gemessen am Bruttosozialprodukt, größer als das US-amerikanische ausfiel. In ihrer aktiven Intervention folgten die Regierungen, ob ihnen dies nun zu Bewusstsein gekommen sein mag oder nicht, dabei den Theorien des britischen Ökonomen und herausragenden Analytikers der Großen Depression der 1930er-Jahre, John Maynard Keynes. Der von den Adepten und Apologeten der Marktmetaphysik lange Zeit belächelte, wenn nicht verachtete Keynes feierte ein geradezu grandioses Comeback  : Er sei relevanter denn je, befand der Nobelpreisträger für Wirt-



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schaftswissenschaften des Jahres 2008, Paul Krugman. Selbst wenn der internationale Kreditmarkt wieder belebt werden könne, beginne sich doch eine globale Rezession deutlich abzuzeichnen  : „What should be done about that  ? The answer, almost surly, is good old Keynesian fiscal stimulus“ (ebd.). Zum einen hat Keynes eine aus dem Fiasko der Finanzmärkte hergeleitete, als radikalen, antithetischen Gegenentwurf zur Neoklassik konzipierte Krisentheorie der kapitalistischen Marktwirtschaft, jener größten Geldmaschine aller Zeiten, entwickelt. Man sei an der Handhabung einer durchaus heiklen und komplexen Maschinerie, deren Funktionsweise allerdings unverständlich geblieben war, gescheitert. Zum anderen unternahm er eine theoretische Grundlegung des staatsinterventionistischen New Deal Franklin D. Roosevelts. In Krisenzeiten, so Keynes, dem es um nichts anderes als die Rettung des Kapitalismus zu tun war, dürfe die Steuerung des Investitionsvolumens nicht in privaten Händen belassen werden  ; vielmehr falle diese (unternehmerische) Funktion dem Staat zu, der seine Investitionen frühzeitig, gezielt und befristet (Letzteres zur notwendigen Begrenzung der Staatsverschuldung) zu tätigen habe (Keynes 1936 [1973]). Es kann die ebenso unerwartete wie umfassende Renaissance keynesianischer Praktiken und Theoreme auch als eine glänzende Bestätigung der Thesen der (französischen) Schule der Regulationisten gelesen werden. Entsprechend dem Regulationsansatz mobilisiert der Kapitalismus in seiner Eigenbewegung Kräfte, die sich seiner ihm eigenen Tendenz zur Akkumulation widersetzen, entfesselt er Konflikte und Dysfunktionalitäten, die seine Entwicklung hemmen und (selbst-)destruktives Potenzial freizusetzen vermögen. Die Dynamik des Kapitals ist demzufolge ebenso sehr gigantische Produktivkraft wie zugleich eine blinde Macht. Sie kennt weder das Prinzip der Selbstbeschränkung noch eine Orientierung, die die fiktive Annahme einer immerwährenden Akkumulation Realität werden lassen könnte. Sie vermag, aus sich heraus und unvergleichlich, menschliche Energien in Bewegung zu setzen, in Wachstum zu transformieren und gewaltige Innovationen zu ermöglichen  ; sie vermag jedoch nicht, aus anarchisch-widerstreitenden Interessen einen Gesamtzusammenhang herzustellen. Um die Dynamiken der kapitalistischen Eigenbewegung zu steuern und die Produktivkräfte in geregelte Bahnen zu lenken, muss der Kapitalismus, seinem innersten Wesen nach ebenso sehr Schöpfer wie Zerstörer, in Strukturen der Restriktion und der Regulation eingebettet werden. Es geht mithin letztlich um die gesellschaftlich sanktionierte Institutionalisierung von ökonomischen Beziehungen (Aglietta 2000  ; 2008).

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Damit aber ist eine ebenso eklatante wie signifikante systemische Krise des Neoliberalismus in ideologischer wie kultureller Hinsicht indiziert. Alan Greenspan sprach denn auch von einer „Jahrhundertkrise“ des angloamerikanischen Finanzkapitalismus. Mehr noch  : Es handelte sich um eine förmliche Entzauberung der kapitalistischen Religion, jenes mystisch-metaphysischen Glaubens an die exklusive Gestaltungsmächtigkeit freier, womöglich zur Gänze deregulierter Märkte. Es handelte sich um ein Ende der Mythenspirale jenes neuen Kapitalismus, der (fordistische) Wohlfahrtsstaatlichkeit stets als leistungsfeindliche Instanz eines regulierten Totalitarismus denunziert hatte, der das Schumpeter’sche Diktum von der „kreativen Zerstörung“ seines ursprünglich skeptischen Gehalts entkleidete, nur in der Zerstörung des Alten die Vollzugsform eines Neuen, Besseren erblickte, und der unter Marktfreiheit stets doch nur die selbstzweckhafte Akkumulation und Vergrößerung privater Kapitalien verstehen konnte. Und es handelte sich schließlich um die Destruktion jener beinahe zum Glaubenssatz gesteigerten Maxime der vergangenen drei Jahrzehnte, wonach ein neuer Kapitalismus vornehmlich auf virtueller Basis zu funktionieren imstande sei. Nun hatte seit den 1980er-Jahren der automatisierte, auf Algorithmen basierende computergestützte Handel mit Aktien, Hypotheken und deren Derivaten dramatisch zugenommen, bis er in den USA schließlich mehr als die Hälfte aller Transaktionen ausmachte. Auf der Grundlage komplexer quantitativer Modelle wurden in einer das menschliche Fassungsvermögen weit übersteigenden Geschwindigkeit Orders sonder Zahl an den jeweiligen Börsen platziert – die Imagination körperloser, digitaler, sich stets vermehrender und aus sich selbst heraus erneuernder Geldströme fand nicht zuletzt darin ihre Begründung (The New York Times, 20. 10. 2008). So diagnostizierte denn auch der Künder der philosophischen Postmoderne, Jean Baudrillard, dieser neue, gleichsam dematerialisierte Finanzkapitalismus sei so abstrakt wie die Kunst und so ästhetisch wie Engel. Wie überhaupt in der Ökonomie (gleich dem Sozialen) nichts anderes mehr zu sehen sei als die Manifestation symbolischer Codes und Systeme von frei zirkulierenden Zeichen (Lane 2000). Baudrillard hat sich schlicht geirrt, es kann das Virtuelle ohne das Reale nicht existieren. In der denkbar spektakulärsten Weise hat sich dieses Reale denn auch zurückreklamiert, wie zum letztlichen Beweis der These Keynes’, wonach Spekulation als Seifenblase auf einem steten Strom des Unternehmertums unschädlich sei, die Lage aber dramatisch werde, sobald die Unternehmen zu einer Blase im Strudel der Spekulation verkommen. Ohne Zweifel hatte ein seiner Schranken weitgehend entledigter finanz­



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dominierter globaler Kapitalismus für längere Zeit enormes Innovationspotenzial mobilisiert, war dem Hype des Internetbörsenrausches eine beeindruckende Produktivkraft eigen. Tatsächlich schienen Entfaltungsmöglichkeiten und Entwicklungsperspektiven unbeschränkt und im Wortsinn grenzenlos – umso mehr, als mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems der wesentliche globale Antagonist abhandengekommen war, ein immer größerer Teil der industriellen Massenproduktion in Billiglohnländer mit bestenfalls rudimentär entwickelten Sozialstandards verlegt wurde und die Politik ihre Funktion zunehmend auf jene eines willfährigen Vollzugsorgans eingeschränkt hatte. Der Millenniumskapitalismus des neuen Jahrhunderts boomte veritabel und, so mochte es scheinen, in jeder Hinsicht. So erwirtschaftete die City of London in den Jahren unmittelbar vor dem Zusammenbruch nicht weniger als zehn Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts. Doch diese Maßzahl vermag die eigentlichen Dimensionen nur ungenügend wiederzugeben, etwa angesichts explodierender Derivatmärkte  : Das Derivatvolumen insgesamt lag 2007 bei geschätzten 600.000 Milliarden Dollar, das würde ungefähr dem Zwölffachen des gesamten Welt-BIP entsprechen  ; Kreditderivate (CDS) haben sich zwischen 2000 und 2007 verhundertfacht, auf geschätzte 62.000 Milliarden Dollar (Format 45/2008  : 38). Eine neue Kaste der Superreichen war im Entstehen  ; eine Kaste, deren Gehälter und Remunerationen jegliches an tradierten Normen ausgerichtete Vorstellungsvermögen sprengen sollte, während Risikohaftung und individuelle Verantwortung schlicht und einfach für obsolet erklärt wurden  : „quint­ essentially modern types“, wie Paul Krugman (2008  : 136) sie charakterisiert, „nerd servants using formulars and computers to outsmart the market“. Als der in Harvard ausgebildete Hank Paulson 2005 von der Führung der Investmentbank Goldman Sachs zurücktrat, wies das Unternehmen einen Nettogewinn von 5,6 Milliarden Dollar aus, und spielte in de facto allen Bereichen des Finanzmarktes, insbesondere aber im Aktiengeschäft und im Handel mit Zinsderivaten, eine führende Rolle. 1999 hatte er die Bank an die Börse gebracht und 3,6 Milliarden Dollar lukriert  ; bei seinem Wechsel an die Spitze der US Treasury verkaufte er seine eigenen Aktien um 500 Millionen Dollar, und zwar ertragssteuerfrei, da er als Finanzminister in den öffentlichen Dienst eintrat. Dieselbe Summe hatte sich Dick Fuld von Lehman Brothers an Gehältern und Boni ausbezahlen lassen, vier Tage vor dem Aus hatte er noch 20  Warren Buffett kaufte Ende September 2008 die Bank um fünf Milliarden Dollar, also weniger als den Jahresgewinn 2005.

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Millionen Dollar an Bonuszahlungen für drei Spitzenmanager bewilligt. Als Barclay dann den Investmentbereich übernahm, mussten 250 Millionen Dollar bezahlt werden, weitere 1,5 Milliarden für Infrastruktur und Datenzentren sowie 2,5 Milliarden in Boni für die Manager der New Yorker LehmannZentrale. Das Jahr zuvor hatten diese Bonuszahlungen (die üblicherweise an die 60 % des Einkommens eines Investmentbankers ausmachen) 5,7 Milliarden Dollar betragen, jene der fünf großen Wallstreet-Investmentbanken zusammen 66 Milliarden (Lanchester 2008  : 14f.). Je weiter gespannt die Risikotoleranz, je höher das (auf fremde Gelder) genommene Risiko, desto höher die Boni  ; im Schadensfall hingegen waren keinerlei wie auch immer geartete Konsequenzen zu erwarten. „From that moment though, the Wall Street firm became a black box. The shareholders who financed the risks had no understanding of what the risk takers were doing, and as the risk-taking grew ever more complex, their understanding deminished […] the psychological foundations of Wall Street shifted from trust to blind faith“ (Lewis 2008  : 16). Tatsächlich hatten die Manager der großen Finanzinstitute und ihre notorischen europäischen Mitläufer mittels beispiellosem financial engeneering Hightechprodukte geschaffen, die so gestaltet waren, dass weder die Erfinder noch die Verkäufer und am wenigsten wohl die Käufer auch nur in Ansätzen deren eigentlichen Inhalte und Funktionsweisen durchschauen und begreifen konnten. Man hatte einander ein wahrhaft mystisches Weltbild suggeriert und einen neuen Kapitalismus beschworen, der mittels Finanzdienstleistungen ungeahnte, abstrakte Wertschöpfung zu ermöglichen schien und der, im somnambulen Treiben digitaler Geldströme, auf fantastische Weise den Reichtum der Nationen und, dies vor allem, das eigene Vermögen zu vermehren vermochte. Geblieben ist letztlich nichts als das Faktum einer gigantischen Umverteilung zugunsten der so lange Zeit von aller Welt umjubelten und hofierten Stars einer wahrhaft neuen Ökonomie, ein wohlorchestrierter, ebenso risiko- wie skrupellos durchgezogener und aller Sanktionen enthobener Raub – der größte Bankraub aller Zeiten.

 Freilich blieb dies nicht auf die USA und die Wall Street beschränkt  : Die UBS, die ihr angestammtes Gebiet der privaten Vermögensverwaltung zunehmend zugunsten spekulativen Investmentbankings verlassen und damit die höchsten je von einem Schweizer Unternehmen eingefahrenen Verluste verbucht hatte, zahlte für 2008 mit Zustimmung der Finanzmarktaufsicht Boni in der Höhe von 1,2 Milliarden Euro aus  ; das ist mehr als ein Drittel der für die unmittelbare Rettung der Bank notwendig gewordenen Staatszuschüsse.



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Es ist weithin versucht worden, diese Entwicklungen als von skrupelloser Gier angetriebenen „moralischen Hasard“ oder schlicht als „obszön“, mithin moralisch-psychologisch zu kennzeichnen. Allein eine adäquate Begrifflichkeit scheint noch nicht gefunden. Wieder ist es Keynes, der sich der Problematik präzise anzunähern vermag und in den organisierten Investmentmärkten eine organisierte Irrationalität identifiziert, die ganz wesentlich für die Instabilität des gesamten kapitalistischen Systems verantwortlich zeichne , also dafür, dass dieses System kein natürliches Ende kennt, bevor nicht das zerstörerische an die Stelle des schöpferischen Elements getreten ist. Hier herrsche die Massenpsychologie einer von „animalischen Instinkten“ angetriebenen großen Zahl „ignoranter Individuen“, hier herrsche „Herdentrieb“, „Nervosität“, „Panik“, „Hysterie“. Doch eröffnet die aktuelle Krise weiterführende, umfassendere Dimensionen. In einem Großteil der westlichen Industrienationen fiel die Profitrate nicht-finanzorientierter Unternehmen der sogenannten Realwirtschaft zwischen 2000 und 2006 massiv, in den USA um ungefähr ein Viertel. Als Reaktion darauf wurde zunehmend in die Finanzspekulation investiert. Hier wurde in der Tat neu, selbstgewiss, schwer nachvollziehbar und ohne Limits operiert, komplexe Finanzinstrumente, opake Märkte und forcierte Verschuldung liefen ineinander  ; während sich die Verschuldung der gesamten US-Ökonomie im Verhältnis zum BIP von 1980 bis 2007 etwas mehr als verdoppelte, hat sich jene des Finanzsektors verfünffacht (Financial Times, 24. 9. 2008). Vor dem Hintergrund umfassender Deregulierung oder auch strukturellen Regulationsversagens bedurfte es lediglich eines vergleichsweise wenig bedeutenden Auslösers wie den Einbruch bei Immobilienpreisen, um das gesamte Gebäude zum Einsturz zu bringen. Die transnationale, globale Architektur des Finanzkapitalismus zerfiel zu einem Zeitpunkt, da sich definitiv alle potenziellen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen, sozialen und kulturellen Alternativen und Gegenentwürfe in Luft aufgelöst hatten. Gerade in einem Moment der höchsten Dringlichkeit ermangelt es dem finanzdominierten Kapitalismus eines kraftvollen Widerparts und Antagonisten. Wo einst die bloße Herausforderung der demokratischen, aber auch der autoritär-diktatorischen Linken Konzepte einer sozialen Marktwirtschaft oder des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates Realität hat werden lassen, eröffnet sich heute nichts als ein ideologisches und theoretisches Vakuum. Wo eine Klärung und radikale Neudefinition  Zum Konzept der „ignorant individuals“ und der „animal spirits“ siehe Keynes 1936 [1973]  : 147ff. (Book IV The Inducement to Invest, Chapter 12 The State of Long-Term Expectation).

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unserer Wertekanons und soziokulturellen Codes überfällig anstünde, treffen wir lediglich auf zerfallende Konsumidentitäten und grenzenlose, unstrukturierte Leere. Einzig eine aus der überwältigenden sozialen Not der Peripherie erwachsene terroristische Vormoderne vermag ein wie auch immer erbärmlich verfasstes Identifikationsangebot auszuweisen. Ein von Medien wie Politik gleichermaßen gehypter Boom hat immer irrealer werdende Profite und Vermögen beinahe exklusiv in privaten Händen konzentriert, nunmehr werden die alle Vorstellungskraft übersteigenden Verluste mit größter Selbstverständlichkeit sozialisiert. Die Nationalisierungen und (partiellen) Verstaatlichungen, die direkten und indirekten Subventionierungen des Bankensektors und die öffentlichen Konjunkturprogramme übersteigen alles bisher je Dagewesene. Die politische Linke weiß mit diesen für sie eigentlich glänzenden Optionen und Perspektiven allerdings nichts anzufangen. Sie weiß es deshalb nicht, weil sie in den Jahrzehnten eines postfordistischen Akkumulationsregimes und der korrespondierenden neoliberalen Hegemonie schlicht zu existieren aufgehört hat. Von einer vergleichsweise obskuren, jedenfalls aber minoritären Position aus war der Neoliberalismus in den vergangenen drei Jahrzehnten zum unbestrittenen Leitprinzip wirtschaftlichen Denkens und Agierens geworden. Ein umfassend propagierter Marktfetischismus jedoch blieb nicht auf das Ökonomische beschränkt, sondern wurde vielmehr als entscheidendes, formatives Moment allen menschlichen Handelns und Seins begriffen. Damit aber erlangte der Neoliberalismus einen hegemonialen Status bis hin zu einem Punkt, wo er das Denken, die Weltsicht und die Alltagspraktiken der Menschen bestimmte. Alternative politische, soziale oder kulturelle Konzeptionen waren nicht länger vorgesehen. Wir werden uns im Folgenden damit auseinanderzusetzen haben, wie das neoliberale Dogma zu einer derart dominanten und lange Zeit gänzlich unhinterfragten Diskurs- und Praxisformation aufsteigen konnte. 2. TINA Im Kontext des Endzeitszenarios der Großen Depression der früheren 1930er-Jahre, dieser bis dato schwersten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Krise der neueren Menschheitsgeschichte, ist die liberale ökonomische Theorie und ihr marktradikales Dogma der strikten Nicht-Intervention umfassend diskreditiert worden. Tatsächlich war es nicht das Postulat



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eines uneingeschränkten und unhinterfragten Primats des Marktes, sondern der staatsinterventionistische New Deal Franklin D. Roosevelts, der in letzter Instanz den anglo-amerikanischen Kapitalismus (und damit das Prinzip der liberalen Demokratie überhaupt) aus jenen krisenhaften Verwerfungen und Erschütterungen, die seine Existenz bis in das Innerste bedrohten, zu retten vermochte (Rauchway 2008). Das Theoriegebäude John Maynard Keynes’ war zum Leitmotiv einer qualitativ neu konzipierten politischen Ökonomie geworden und die entwickelten westlichen Industrienationen waren nach Kriegsende darangegangen, fordistisch-keynesianisch inspirierte und sozialdemokratisch angeleitete Wohlfahrtsstaatlichkeit im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft zu etablieren. Sollte unter diesen Umständen das erodierende liberale Paradigma in seiner Substanz erhalten werden, musste es reformuliert, modifiziert, neu gedacht werden. Und eben dies zu unternehmen, hatte sich Friedrich August Hayek, der wohl prominenteste Vertreter der marktfundamentalistischen Österreichischen Schule als seine vornehmliche Aufgabe gestellt (Caldwell 2004). Die Geburt des Neoliberalismus erfolgte aus dem Geist der Krise. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, Anfang April 1947, konnte in einem kleinen Schweizer Dorf jenes Treffen in Szene gesetzt werden, das die verbliebenen, über die gesamte Welt verstreuten liberalen Intellektuellen zusammenführte und aus dem die ebenso exklusive wie elitäre Mont Pèlerin Society (MPS) hervorging. Zu den Gründungsmitgliedern zählten neben Hayek und dessen Mentor Ludwig von Mises u.a. Walter Eucken, Fritz Machlup, Lionel Robbins, die Chicagoer Frank H. Knight, Milton Friedman, George Stigler und nicht zuletzt auch Karl Popper (Ebd.: 98ff.). Es war eine Zusammenkunft im Zeichen der Defensive, deren Grundton von Letzterem folgendermaßen charakterisiert wurde  : „The present situation is one where we nearly despair“ (Hartwell 1995  : 35). Popper, dessen 1945 publizierte Studie The Open Society and its Enemies in ihrer fundamentalen Marxismuskritik zu einem Schlüsseltext des Kalten Krieges mit maßgeblichen Fernwirkungen in die Eliten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung wurde, strebte offensichtlich eine Allianz zwischen Liberalen und (westlichen) Sozialisten an. Aufgewachsen im freigeistigen, freisinnigen, kosmopolitischen Umfeld des Wiener Fin de Siècle und politisch sozialisiert im fortschrittlichen intellektuellen Milieu des Roten Wien der Zwischenkriegszeit, finden sich wesentliche Momente dieser Tradition in Poppers wissenschaftlichem Werk und politischem Verständnis wieder, so nicht zuletzt sein leidenschaftliches Plädoyer für die Aufklärung und die Offene Gesellschaft (Hacohen 2000  : 39f.).

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Hayek hingegen verfolgte eine gänzlich andere Strategie. Ein Jahr vor Kriegsende war seine populärwissenschaftliche, den „Sozialisten in allen Parteien“ gewidmete Abhandlung The Road to Serfdom erschienen, die die kontemporären liberalen Diskurse präzise bündelte, eher unerwartet zu einem Bestseller geriet und in den Nachkriegs-USA via condensed version in Reader’s Digest Kultstatus erlangte. Den ursprünglichen Charakter der MPS als einer in sich geschlossenen säkularen Sekte sah Hayek als Ausgangspunkt für die Formierung eines hegemonialen Apparats, der einen in der langen Perspektive angelegten war of ideas zu führen imstande war. In einer Dialektik von Bewahrung und Erneuerung war es ihm nicht bloß um die Rettung von Partikularem, wie einigen der wesentlichen Leitprinzipien des alten Liberalismus, zu tun  ; es ging vielmehr um die konkrete Artikulation eines Gegenwissens im Hier und Jetzt, das im Sinne eines funktionalen Utopismus künftig dominant, universal, letztlich total werden konnte und sollte. Die MPS verstand sich so von Beginn an als ein transnationales, auf einer minimalen institutionellen Kernstruktur basierendes Netzwerk von konzeptiv (neo-)liberalen, entschieden pro-kapitalistischen, universalistischen Intellektuellen. Die zentrale Fragestellung blieb stets, wie das gegenwärtige (d. h. das in den Nachkriegsjahrzehnten vorherrschende fordistisch-keynesianische) „Konsenskalkül“ aufgebrochen werden könne (Feulner 1999  : 22)  ; die Hauptziele der konzertierten und mit Furor geführten Attacken bildeten, weit über „den Marxismus“ (als Denksystem wie praktisch-politische Form) hinaus, staatliche Planung und jegliche Form von Eingriffen in die freien Wirtschaftsabläufe, Keynesianismus, Wohlfahrtsstaatlichkeit, Sozialpartnerschaft, öffentliche und kommunale Bürokratien, Gewerkschaften, aber auch partikulare kapitalistische Interessen. Sowohl in der akademischen Welt wie auch in der Sphäre der praktischen Politik blieb das neoliberale Paradigma zunächst marginal und peripher. Erst mit dem „transatlantischen Erdbeben“ am Ausgang der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, erst mit der konservativen Gegenrevolution der Ära That-

 Ganz in diese Richtung weist Milton Friedmans stark von religiöser wie militärischer Semantik durchzogene Erinnerungsrethorik. Die MPS-Gründungskonferenz wird als „rallying point for outnumbered troops“ bezeichnet, „the Society saved the flag and renewed the attack“. Es wäre eine Wallfahrt nach Mont Pèlerin unternommen worden, „where our founder, Friedrich Hayek, was moved profoudly“. Insgesamt habe sich die MPS erwiesen als „a spiritual fountain of youth […] to renew our spirits and faith among a growing company of fellow believers“ (zit. nach Walpen 2004  : 102f., 108).



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cher und Reagan im Gefolge von weltweiten Energie- und Finanzkrisen, von Stagnation und Stagflation, eroberte es überaus spektakulär das Zentrum von Macht und Diskurs. Der neoliberale Turn wurde manifest in einer komplexen Fusion von Milton Friedmans Monetarismus, den Ansätzen der rationalen Erwartung (Robert Lucas) und des Public Choice (James Buchanan und Gordon Tullock) sowie der weniger respektablen, wiewohl enorm einflussreichen angebotsseitigen Thesen Arthur Laffers, der davon ausging, dass Anreize in Form von Steuerkürzungen die Wirtschaftsaktivitäten in einem Maß steigern würden, das ein erhöhtes Steueraufkommen gleichsam automatisch nach sich ziehe (Harvey 2005  : 54  ; Blyth 2002). Die MPS, deren führende Mitglieder in den Beraterstäben Thatchers wie Reagans tätig waren, erwies sich als ein idealer Ansatzpunkt und hoch effizientes Reservoir für den Aufbau eines dichten und wohl finanzierten Netzwerks von Gesellschaften, Stiftungen und Thinktanks, ihrem Selbstbild und ihrer Außenwirkung nach allesamt free market marketeers. Dem Londoner Institute of Economic Affairs, der Heritage Foundation in Washington, dem Manhattan Institute, der Hoover Foundation und dem in der libertär-marktradikalen Tradition Mises’ stehenden Cato Institute kam ein nicht zu überschätzender Stellenwert in der neoliberal angeleiteten Reformulierung der politischen Ökonomie und damit des gesamtgesellschaftlichen Diskurses zu. Das all diesen Institutionen grundgelegte Prinzip war jenes der qualitativen und radikalen Transformation von Politik und Kultur im Rahmen einer Strategie der langfristigen Perspektive (Krugman 2007  : 163f.). Ein halbes Jahrhundert nach Gründung der MPS hat sich das neoliberale Paradigma beispiellos verdichtet und verallgemeinert, ist es zu unhinterfragtem hegemonialem Status im Weltmaßstab aufgestiegen. Exakt zur Jahrtausendwende verwies Perry Anderson auf die Singularität der gegebenen historischen Konstellation. Erstmals seit Zeiten der Reformation sei – zumindest im Westen, aber zu weiten Teilen auch im Weltmaßstab – keine signifikante Opposition im Sinne systemischer Gegenentwürfe zum Status quo erkennbar  : „Whatever limitations persist to its practice, neo-liberalism as a set of principles rules undevided across the globe  : the most successful ideology in world history“ (Anderson 2000  : 17). Ein fundamentaler, ja mystischer Glaube an die Unfehlbarkeit freier, deregulierter Märkte trieb diese Ideologie an  : Ihre omnipräsente, unüberhörbare Botschaft lautete, dass keinerlei wie auch immer verfasste Alternative existiere, abweichend konzipierte gesellschaftliche (und kulturelle) Ordnungen schlicht unmöglich seien. Lange bevor noch das Verschwinden des (wenn

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auch fatalen und diskreditierten) „Realsozialismus“ von der welthistorischen Bühne die ungehemmte Expansion des Neoliberalismus auch geopolitisch ermöglichte (von Francis Fukuyama zum Postulat vom Ende der Geschichte komprimiert), hat Margaret Thatcher dies in einem ebenso prägnanten wie präzisen Akronym zusammengefasst  : TINA – there is no alternative (Walpen 2004  : 240). Offensichtlich ganz im Sinne der rational choice-These sollte so dem Individuum die Option zwischen radikaler Marktdoktrin und doktrinärem Marktradikalismus offen stehen. Jedenfalls aber hat die Unterstellung aller Lebensäußerungen, aller gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Problematik unter das Primat der Marktkonformität und der Marktgerechtigkeit zu einer weithin gefestigten und verbreiteten, wenn auch überwiegend fatalistischen Akzeptanz der neoliberalen Logik geführt und diese im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hegemonial werden lassen. Wie eingangs bemerkt, war der Kapitalismus der Nachkriegszeit in den westlichen Industrieländern – in Reaktion auf die Große Depression und dem daraus resultierenden apokalyptischen globalen Krieg, die sein Inneres, seine Existenz überhaupt zentral gefährdet hatten – den Kompromiss mit der Wohlfahrtsstaatlichkeit eingegangen. In breiter Koalition mit der organisierten Arbeiterbewegung wurde ein Produktions- und Regulationssystem etabliert, das gleichermaßen Wachstums- und Profitraten, soziale Sicherheitsnetze, Vollbeschäftigung und gesamtgesellschaftlichen Konsens herzustellen imstande war. Mit der Rezession von 1973 ist dieses System der industriellen, der fordistischen Moderne in eine Phase der strukturellen Krise eingetreten, gekennzeichnet von Stagflation (stagnierender Warenoutput in Kombination mit hoher Inflation) und sinkenden Profitraten. Weltweite Energieund Finanzkrisen erwiesen sich als Symptome einer veritablen Erschöpfung, wurden zum Auslöser einer radikalen Neukonzeption politischer und wirtschaftlicher Strategien. Sie bereiteten den Boden auf für einen tendenziell autoritären Neokonservatismus, für ein neoliberales Projekt, dem es, in Form der monetaristischen (Gegen-)Revolution des Thatcherismus und der Reaganomics, um eine nachhaltige Neugestaltung der allgemeinen Bedingungen der Profitrealisierung wie -maximierung in einem globalen Maßstab zu tun war. Das Kapital inszenierte seine Emanzipation von der Arbeiterbewegung (Maderthaner/Musner 2007  : 48ff.). Nicht zum ersten Mal war ein in der Peripherie ausgeführtes blutiges und terroristisches Experiment zum Modell der Reformulierung von Politik im Zentrum wirtschaftlicher Macht geworden. Nach dem Aufsehen erregenden Putsch Pinochets unterzogen, wie in einem Laborversuch, die an den Theo-



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rien Milton Friedmans ausgerichteten Chicago Boys die chilenische Wirtschaft ab Mitte der 1970er-Jahre einer Fundamentalrevision – unter den Auspizien der rechtsradikalen Diktatur und des Störfaktors einer parlamentarischen Opposition oder freier Gewerkschaften enthoben (Valdez 1995). Der da­ raus resultierende stürmische Boom, der sich in überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten ausdrückte, kam in der lateinamerikanischen Schuldenkrise von 1982 allerdings zu einem schnellen Ende und musste einem merklich weniger ideologiegebundenen Pragmatismus Platz machen. Und eben daran konnte die neoliberale Wende in Großbritannien und in den USA anknüpfen – während sich zur selben Zeit, und vom Westen zunächst eher wenig beachtet, in China ein „kontrolliertes Experiment“ formierte, das unter der strikten Kontrolle der Kommunistischen Partei Deng Xiao Pings eine staatlich angeleitete ursprüngliche Akkumulation mit den Prinzipien neoliberaler Wachstumslogik zu verbinden trachtete. Das System Thatcher ist, wie bemerkt, ohne das Phänomen der Stagflation und ohne die dramatische Krise der Kapitalakkumulation in den 1970erJahren nicht denkbar  ; 1975 erreichte die Inflationsrate in Großbritannien 26 %, die Arbeitslosenzahl überstieg die Millionengrenze. Thatcher wurde in den Wahlen vom Mai 1979 mit einem starken Reformmandat ausgestattet, das sie, unter dem bestimmenden Einfluss Keith Josephs (eines Publizisten aus dem Umfeld des neoliberalen Thinktanks Institute of Economic Affairs), zur weitgehenden Demontage des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates und zur umfassenden Attacke auf de facto alle etablierten Formen sozialer Solidarität ausbaute. Es gäbe, so ihr wohl berühmtestes Statement, so etwas wie Gesellschaft einfach nicht, lediglich Individuen, Männer und Frauen und, wie sie niemals hinzuzufügen vergaß, deren Familien. „Economics are the method, but the object is to change the soul“ (Yergin/Stanislaw 1999). Das politische Projekt einer gänzlichen Neustrukturierung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse war allerdings nur gegen den massiven Widerstand der organisierten Arbeiterbewegung durchzusetzen. In einem für die Regierung enorm kostenintensiven und von beiden Seiten mit äußerster Erbitterung geführten einjährigem Ringen wurde ein halbes Jahrzehnt nach Thatchers Amtsantritt die bis dahin als unbesiegbar geltende britische Bergarbeiterschaft und damit eine tragende Säule gewerkschaftlicher Organisation überhaupt zerschlagen. Eine Arbeitslosenrate von über zehn  Siehe dazu die Fallstudie Neoliberalism with Chinese Characteristics in Harvey 2005  : 120– 151ff.

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Prozent als Folge strikt monetaristischer Budgetpolitik hatte bis zu diesem Zeitpunkt (1984) den Mitgliederstand des Trade Union Congress bereits um knapp ein Fünftel reduziert  ; nunmehr sorgte die forcierte Öffnung der Märkte in Richtung ausländisches Kapital und Investment für weitere und nachhaltige Einschränkungen gewerkschaftlichen Dispositionsspielraums. Der Norden mit seiner ausgedehnten, dem 19. Jahrhundert zuzuzählenden, großteilig organisierten, jedoch krisenanfälligen Produktionsstruktur wurde zugunsten von neuen Technologieprojekten im mittelständischen Süden deindustrialisiert. Die Stahlindustrie in Sheffield oder der Schiffbau in Glasgow mit ihren militanten Traditionen und Milieus traditioneller Arbeiterkultur verschwanden binnen weniger Jahre ebenso wie die verstaatlichte britische Automobilindustrie entsorgt wurde. Die Suspendierung des sozialen Nachkriegskompromisses bedeutete die Transformation Großbritanniens in ein (relatives) Billiglohnland bei gleichzeitiger gesteigerter Disziplinierung seiner Arbeiterschaft  : Gegen Ende der Ära Thatcher waren die Streikaktivitäten auf ein Zehntel ihres ursprünglichen Umfangs zurückgegangen (Harvey 2005  : 39). Parallel dazu lief eine wahrhaft allumfassende Privatisierungswelle, die Thatchers ideologisch so hoch aufgeladenes Unterfangen als ein soziokulturelles Projekt auswies  : Seinem Ansinnen nach lief es auf individuelle Verantwortlichkeit, gesteigerte Effizienz, persönliche Initiative und Mobilisierung von Innovationspotenzial hinaus, letztlich sollten die „unternehmerischen“ Tugenden dauerhaft, das Primat des Ökonomischen irreversibel verankert werden. Zur mehrheitsfähigen Legitimation wurde unter anderem und ganz bewusst auch bei latenten Sehnsüchten der unteren sozialen Schichten angesetzt und große Teile des bislang aus öffentlichen Geldern subventionierten sozialen Wohnbaus in privates Eigentum überführt. Damit aber waren nicht nur traditionelle und tief eingesessene Vorstellungen von individuellem Besitz und häuslicher Privatheit mobilisiert  ; zugleich wurden breite Unterschichtsegmente mit deren implizitem Einverständnis sukzessive aus originären Solidarmechanismen herausgelöst. Darüber hinaus aber nahm der Wohnungs- und Häusermarkt eine neue, hoch spekulative Dynamik an, die ausschließlich den Waren- und Verwertungscharakter des gesamten Bereichs betonte, spätestens in den frühen 1990er-Jahren erste schwere krisenhafte Einbrüche zeitigte und schließlich in dem so folgenreichen Immobiliencrash von 2007/08 ihr gesamtes destruktives Potenzial offenbarte.  Zum Thatcherismus als einem Projekt kultureller Hegemonie siehe Hall 1988.



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Während Margaret Thatchers konservative Revolution die Umwälzung und völlige Neukonfiguration bestehender Produktions-, Klassen- und Sozialverhältnisse auf Grundlage eines hoch ideologisierten Marktfundamentalismus intendierte, erwies sich Ronald Reagans Neuausrichtung der US-amerikanischen Ökonomie, Politik und Gesellschaft als vergleichsweise pragmatischer und insgesamt systemkonformer. Der keynesianische Kompromiss war hier niemals so weit gegangen wie in den europäischen Wohlfahrtsstaaten, die weitere Demontage eines ohnehin sehr durchlässig gestalteten sozialen Sicherungssystems, systematische Deregulierungen und eine forcierte Umverteilungspolitik zugunsten der höchsten Einkommen stellten hier keinen vergleichbar radikalen Systembruch dar. Gleichwohl stand die Realisierung identischer ideologischer Muster und politisch-ökonomischer Vorgaben zur Debatte. Eine dramatische, überaus symbolbefrachtete Auseinandersetzung mit der white collar- und mittelschichtorientierten Berufsvertretung der Fluglotsen (Patco) leitete in der Rezession von 1981 die auf breiter Basis angelegten antigewerkschaftlichen Offensiven der Reagan-Administration ein. Deutliche Steuerreduktionen im Investmentbereich subventionierten den Abfluss von Kapital aus den gewerkschaftlich dicht organisierten Industriezentren des Nordostens und Mittelwestens in die right-to-work-Staaten des Südens, wo der diesbezügliche Organisationsgrad ebenso wenig entwickelt war wie der Stand wirtschaftlicher Regulation. Wie überhaupt Deregulierung geradezu als Leitprinzip der Ära Reagan gelten kann und von der Luftfahrt über die Telekommunikation bis hin zum Finanzsektor alle wesentlichen Segmente erfasste. Die Unternehmenssteuern erfuhren massive Reduktionen und in der „größten Steuerreform der Geschichte“ wurde der Spitzensteuersatz von 70 auf 28 % gesenkt. Zugleich sind die 1980er-Jahre ein Jahrzehnt konkreter Reallohnverluste in den beiden unteren Einkommensdritteln, und der Mindestlohn, der sich 1980 auf dem Niveau der Armutsgrenze befunden hatte, war 1990 um 30 % unter diese Marke gefallen (Harvey 2005  : 25, 52). Allerdings haben sich auch wesentliche Bestimmungselemente der Reaganomics mit der neoliberalen Doktrin als nur bedingt kompatibel erwiesen, diente die Fixierung auf den wettbewerbs- und innovationsfördernden Markt dort als ideologisches Vehikel, wo es lediglich um die Befestigung von Monopolmacht ging. Deregulierung hat so in einer Vielzahl von Fällen ihr eigentliches Gegenteil, nämlich Monopolisierung, Fusionierung, transnational akkumulierte und agglomerierte Zusammenschlüsse und Trustbildungen bedeutet. Als signifikant in diesem Zusammenhang gilt vor allem die Bildung von Medienkonglomeraten und Medienoligopolen, die eine bis dato unge-

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kannte, Länder und Kontinente übergreifende Machtfülle zu konzentrieren begannen (Grisold 2004). Unzweifelhaft hat die Welle von Fusionierungen und Monopolbildungen in dieser Ära nur wenig mit der postulierten freien Konkurrenz der freien Märkte zu tun. Zudem hat, vor dem Hintergrund einer instabilen Finanzarchitektur und explodierender Budgetdefizite, eine ideologisch an Monetarismus und strikter staatlicher Nichteinmischung ausgerichtete Administration durchaus pragmatisch und eher mehr als weniger interventionistisch agiert. Noam Chomsky spricht in diesem Zusammenhang etwa von der größten protektionistischen Welle seit den 1930er-Jahren. Vor allem aber wurde ein „negativer Keynesianismus“ der Rüstungsinvestitionen schlagend, der Dimensionen eines (propagandistisch ausgeschlachteten) „Kriegs der Sterne“ annahm und für die Endphase des Kalten Krieges entscheidende Bedeutung erlangen sollte. Man habe, so Chomsky, sehr wohl erkannt, dass Sozialausgaben dieselben stimulierenden Effekte zeitigen können, allerdings sei diesen ein demokratisierender Charakter eigen und nicht der einer direkten Subventionierung des militärisch-industriellen Komplexes  ; außerdem kämen sie, in Form redistributiver Transferleistungen, den einkommensschwachen Schichten zugute  : „Military spending has none of these defects“ (Chomsky 1999  : 37). Der pragmatische wirtschaftspolitische Interventionismus Reagans blieb stets und ausschließlich von den Interessen des Big Buiness und den Obsessionen einer finalen Konfrontation mit dem Reich und den Kräften „des Bösen“ bestimmt. Thatcher und Reagan haben den ökonomischen und politischen Konsens der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit ebenso radikal wie nachhaltig aufgebrochen. Beider Genie liegt wohl darin begründet, bis dato marginale politische, ideologische und intellektuelle Positionen aufgegriffen und in einen allgemein akzeptierten, von stabilen Mehrheiten getragenen mainstream transformiert zu haben. Jene Konfiguration sozialer und kultureller Kräfte und Bewegungen, die sie verfestigten und an deren Spitze sie sich stellten, formierte sich zu einem polit-ökonomischen Kanon, der von einer nachfolgenden Politikergeneration, mochte sie auch der linken Mitte zugerechnet werden, nur schwerlich zu durchbrechen war, die konkreten Spielräume entschieden einengte und kaum Handlungsoptionen offenließ. „Those, who followed, like Clinton and Blair, could do little more than continue the good work of neoliberalization“, resümiert David Harvey (2005  : 63), „whether they liked it or not“.



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3. Marktfundamentalismen Wie häufig in der jüngeren Geschichte ist großen gesellschaftlichen Umbrüchen deren Theoretisierung durch Intellektuelle vorangegangen, so auch im Fall der im Rahmen einer „konstitutionellen Revolution“ ablaufenden neoliberal-postfordistischen Transformation (Buchanan 1999  : 212). Die Tagung der MPS 1976 in Paris hatte nicht nur die gänzliche Negation des keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsenses, sondern darüber hinaus dessen endgültigen Bankrott proklamiert  ; und das Motto ihrer Jahrestagung 1978 in Hongkong war in die Form einer rhetorischen Frage gekleidet  : „Is the Tide Turning  ?“ 1985 formulierte Herbert Giersch, Präsident der MPS von 1986–1988, Perspektiven für die Weltwirtschaft, in denen er das die nächsten beiden Jahrzehnte so souverän dominierende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Dogma ebenso knapp wie präzise zusammenfasste. Die Zeit einer neuen Marktfreiheit, eines qualitativen Wandels sei angebrochen, die unter Thatcher und Reagan eingeleitete Handelsliberalisierung werde in akzeleriertes Wachstum umschlagen  : „The liberalisation of economic activity crossing frontiers is a supply side policy par excellence.“ Ein effektiver, kompetitiver Markt sei das exklusive Mittel zur Lenkung dieser Aktivitäten, deren zentrale Koordination über den freien Preismechanismus erfolge. Der systematische Anreiz des Preismechanismus seinerseits müsse flexibel, ungehindert und ohne politische oder bürokratische Verzerrung operieren und wirksam werden können. Von eminenter Bedeutung sei die Rücknahme von Arbeitsmarktregulierungen  : „When people have free access to employment they will produce the output they want, and can.“ Eine sich soeben formierende information society eröffne alle entsprechenden Zukunftsperspektiven, den USA, und in gewisser Hinsicht auch Japan, komme Pionierfunktion zu. Das kontinentale Europa hingegen leide an „Sklerose“, „Überregulierung“ und wachstumshemmender, sozialistischer „Wohlfahrtsstaatlichkeit“ – eine im Übrigen von den führenden Exponenten der MPS repetitiv und beinahe inflationär in Anwendung gebrachte Kampfrhetorik (Giersch 1985  : 410ff.). Dem neoliberalen Projekt war es vor allem anderen darum zu tun, das Kapital aus genau diesen Fesseln zu lösen. Die Annahme, es seien vornehmlich, wenn nicht ausschließlich Märkte und Marktsignale, die allokative Entscheidungen bestimmen, unterstellt im Prinzip, dass ausnahmslos alles und jedes als Ware gesehen, begriffen und behandelt, „kommodifiziert“, Eigentumsrechten unterstellt und, auf gesicherter Vertragsbasis, „kontraktualistisch“ zum Handelsobjekt gemacht werden kann. Der Markt wird so zur eigent-

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lichen Instanz, zum essenziellen Indikator allen menschlichen Handelns und Tuns. Er sei, so Hayek, jene spontane Ordnung, in der sich das millionenfach individuell verstreute Wissen koordiniere und verdichte (Caldwell 2004  : 206ff.). Entscheidend, wie bei Giersch angemerkt, ist dem neoliberalen Projekt die schrankenlose und ungehemmte Mobilisierung von Kapital wie Menschen („Humankapital“) über Sektoren, Regionen, Länder hinweg  ; alle den freien Kapitalfluss restringierenden Grenzen und Barrieren (wie bürokratisch-protektionistische Handelsbeschränkungen, Arbeitsmarktregulierungen, vor allem aber staatlich-öffentliche Planung in jeglicher Form) sind folglich abzuschaffen, es sei denn in Fällen eines wie auch immer definierten „übergeordneten“ nationalen Interesses. In diesem Zusammenhang wird die Erschließung stets weiter gefasster Bereiche und Sektoren für die private Kapitalakkumulation zu einem signifikanten Kriterium, das sich letztlich, ebenso erfolgreich wie symbolträchtig, in der Privatisierung und Kommodifizierung bislang öffentlich bereitgestellter Güter und Dienstleistungen – wie soziale Solidar- und Sicherungssysteme, Infrastruktur und öffentlicher Verkehr, Telekommunikation, Bildung und Universitäten, in letzter Konsequenz Justizanstalten und Kriegsführung – niederschlägt. Die kontinuierliche Applikation und stete Expansion dieser Doktrin resultierte über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten in einer überaus wirkungsmächtigen und von einer stets größer werdenden Anzahl von Menschen als alternativenlos und gleichsam „naturwüchsig“ empfundenen Praxis der Reformulierung politischer Ökonomie – ausgedrückt in Privatisierungen von verstaatlichten Industrien ebenso wie von Leistungen der öffentlichen und kommunalen Hand, Deregulierung und „Verschlankung“ von wohlfahrtsstaatlichen Systemen und Transferleistungen, Einführung marktsimulierender Elemente dort, wo genuine Marktmechanismen redundant und unanwendbar blieben. Der fundamentale Wandel in den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen beförderte und befestigte ein kausales Ensemble und hegemoniales Geflecht, dessen einzelne Komponenten – inklusive des beschleunigten Fortgangs der Globalisierung und der Suspendierung linker Politik – ineinanderliefen und sich in ihrem Zusammenspiel verstärkten. Dies wäre ohne eine frontale, konzertierte und strategische Offensive gegen den institutionalisierten sozialen (und kulturellen) Nachkriegskompromiss schlicht nicht möglich gewesen (Howard/King 2008  : 1, 6). Von Thinktanks wie der MPS an vorderster Stelle wurde die Kritik formuliert und zu einem Kanon verdichtet. Neben der Vertretungsmacht der



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Gewerkschaften wurde vorrangig auf den Staats- und Bürokratiekomplex Fokus genommen und der Wohlfahrtsstaat als „sozialistische Kategorie“, als Form des „schleichenden Sozialismus“ mit immanenter Tendenz zur Verlagerung „wesentlicher Entscheidungsmechanismen aus dem Marktbereich in den politischen Bereich“ klassifiziert.10 So stand bei dem MPS-Meeting 1985 in Sidney neben „Trade Unions and Socialist Government in Sweden“ etwa auch „The Social Partnership in Austria  : A Feature of Corporatism“ zur Debatte (Walpen 2004  : 199f.). Dem staatlichen Organismus als solchem sei sozusagen wesenhaft das sozialistische Moment eingeschrieben. Und zeitgleich mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems hat James Buchanan die eingängige Formel geprägt  : „Socialism is dead, but Leviathan lives on“ (ebd. 251). Das Verhältnis des Neoliberalismus zu Staat und Staatlichkeit ist dennoch weit komplexer als in diesem Statement zum Ausdruck gebracht und mündet letztlich in einem Paradoxon  : Denn hat der Staat sich einerseits auf seine Kernfunktion des Schutzes des Privateigentums und der Garantie der äußeren Umstände funktionierender Marktabläufe zu beschränken, so wird ihm andererseits in der Aufbereitung eines möglichst günstigen Geschäftsklimas sowie als Kollektivunternehmen im globalen Wettbewerb eine durchaus aktive und interventionistische Rolle zuteil. Die Debatte lässt sich in die unmittelbare Nachkriegszeit, also in die Periode der Neufassung des liberalen Dogmengebäudes zurückverfolgen und weist einmal mehr Friedrich Hayek als dessen führenden programmatischen Denker und funktionalistischen Utopisten aus. Im Gegensatz zur ursprünglich zugedachten Nachtwächter-Funktion sollte der Staat nunmehr als externe Autorität die Fundamente der marktwirtschaftlichen Ordnung legen und dazu – nach rationaler Erwägung und unter Anerkennung des Wettbewerbs, des Marktes und der Preise als ordnendes Prinzip – das gesetzliche Rahmenwerk erzwingen (Hayek 1947  : 145). In seinen späteren Schriften allerdings näherte sich Hayek wieder den Thesen Mises’ zur marktlichen Selbstregulation und Selbsterhaltung  : Er begriff den Marktprozess als ein Spiel, in dessen Verlauf wohlstandssteigernde Lösungen entdeckt würden, das aber nur dann funktionieren könne, wenn die Ergebnisse des Tausches nicht durch egalitäre Eingriffe – etwa in Form des in de facto allen westlichen Demokratien entwickelten sozialen Solidarsystems – korrigiert würden 10 Der das Primat der Politik reklamierende Staat gerate, so Hayek in „The Road to Serfdom“, in eine Planungsspirale, müsse die individuellen bürgerlichen Freiheiten sukzessive unterdrücken und ende notwendig im Totalitären.

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(Plickert 2008  : 463f.). In seiner wohl deutlichsten Ausprägung werden wir dieses Konzept des Staates als einer bloßen Agentur zur Universalisierung von Marktfreiheit (und der damit korrespondierenden Ethik) in dem knappen Jahrzehnt der Administration Bush II vorfinden. Jedenfalls betrachtet der Neoliberalismus den Staatsapparat unter dem primären, wenn nicht exklusiven Aspekt der Etablierung des äußeren ­Rahmens profitabler Kapitalakkumulation, der möglichst friktionsfreien Umset­zung der Interessen und Bedürfnisse privaten Eigentums, sei es in Form nationaler/ lokaler Immobilienagenturen, sei es in Form multinationaler Konzerne, sei es in Form transnationalen Finanzkapitals. Eben daher rührt eine profunde Demo­kratieskepsis, wird ein Regieren durch Experten und Eliten im Wege der Exekutive und des gerichtlichen Entscheids gegenüber der repräsentativ-demokratischen, parlamentarischen Entscheidungsfindung privilegiert  ; ausgedrückt etwa in der Tendenz, Schlüsselinstitutionen wie Zentralbanken oder den IWF vom Druck einer politisch-demokratischen Kontrolle zu befreien. Wenn man, wie Milton Friedman dies in Capitalism and Freedom (1962 [2002]) postuliert hat, in der Realisierung von Profiten das essenzielle Moment des Demokratischen sieht, so folgt daraus, dass jede Regierung, die eine wie auch immer ausgeprägte antimarktliche Politik verfolgen sollte, notwendigerweise (und unabhängig davon, auf welch umfassendes Wählermandat sie sich stützen mag) das demokratische Prinzip durchbricht (Chomsky 1999  : 9). Ganz in diesem Sinne berichtet die NZZ, es seien, in der Tradition Hayeks durchaus verständlich, am Treffen der MPS in Cannes 1994 demokratieskeptische Töne angeklungen, fördere diese doch, gegen liberale Intention, Egalitarismus und Sozialismus (Neue Zürcher Zeitung, 4. 10. 1994). So kann es dem neoliberalen Projekt denn auch nicht genügen, die jeweiligen staatlichen und kommunalen Bürokratien – bei der angenommenen Affinität zu Sozialismus und Demokratie und umso mehr, als diese Bereiche im Allgemeinen zur Domäne gewerkschaftlicher Organisation zählen – gleichsam von außen auf die ihnen unterstellten eigentlichen Funktionen festzulegen. Vielmehr ist das Ziel die Transformation des Staatsapparats und der öffentlichen Verwaltung von innen her, die systematische marktförmige Reartikulation des Staates, der Umbau des politsch-administrativen Systems gemäß den Mechanismen des Wettbewerbs und des Marktes. Überbürokratisierung, Ineffizienz, BürgerInnenmanipulation, Korruption, Gewerkschaftsund Beamtenallmacht, als solches behauptet und als Funktionsprinzip unterstellt, waren der Ansatzpunkt, um mit den Mitteln und Methoden des New Public Managment die „Unterordnung des Staates gegenüber dem Markt“,



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ein re-engeneering öffentlicher Aufgaben und Bereiche insgesamt in die Wege zu leiten (Pelizzari 2001). Mit erstaunlichem Erfolg  : Binnen Kurzem war seit Mitte der 1990er-Jahre das neue Verwaltungssystem in so höchst unterschiedlichen Übergangsgesellschaften wie etwa jenen des mittel- und osteuropäischen Postsozialismus oder dem Südafrika der Nachapartheid installiert. Selbst höchstentwickelte zentraleuropäische Metro­polen wie Zürich oder das von stolzen sozialdemokratischen Traditionen bestimmte Rote Wien – deren beider kommunale Administrationen mit Fug und Recht in Anspruch nehmen konnten, weltweit führend und vorbildhaft zu sein – waren dem neuen marktförmigen Prinzip unterstellt. Die Ergebnisse sind mittlerweile bekannt  : exponentieller Anstieg bürokratischer Aufwendungen, Disziplinierung und (angeordnete) Selbstüberwachung der Belegschaften, Motivationseinbrüche, systemische Blockierungen des Verwaltungsablaufs, Aufbereitung des Marktes für umfängliche private „Beratungsdienste“, Entmächtigung der Politik. Wenn also die neoliberale Transformation auf tatsächlich alle Bereiche des Ökonomischen und des Sozialen zielt, sich gegen alle die optimale Akkumulation privaten Kapitals hemmenden Restriktionen wendet, so müssen die freien, selbstorganisierten Zusammenschlüsse der Arbeitnehmerschaft zu einem bevorzugten Hauptangriffsziel werden. Im Besonderen – und im Namen der vorgeblich sakrosankten individuellen Freiheit des/der auf sich selbst verwiesenen Arbeiters/in – geht es um eine strukturelle Aufweichung der regulierten Arbeitsmärkte. Flexibilisierung ist das Schlüsselkonzept. Die im fordistisch-keynesianischen Konsenssystem in bedeutende gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtpositionen aufgerückte organisierte Arbeiterbewegung ist demnach von zwei Seiten her unter Druck gekommen, wobei sich die Flexibilisierung der Arbeitsorganisation und die Etablierung entsprechend strukturierter Arbeitsmärkte als das wohl entscheidende Kriterium erwiesen haben (Maderthaner/Musner 2007  : 62f.). Die in ein entwickeltes System sozialer Sicherungen eingebettete, von der Perspektive kontinuierlicher Beschäftigung über ein Erwerbsleben hinweg ebenso wie von klar definierten Aufstiegsmodalitäten bestimmte Berufslaufbahn war eine, wenn auch beinahe ausschließlich männlich dominierte Ikone sozialpartnerschaftlich geprägter Wohlfahrtsstaatlichkeit gewesen. Nunmehr erfolgte der Übergang von regulären, verrechtlichten, „lebenszeitlichen“ und de facto institutionalisierten zu flexibilisierten, mobilisierten, „freien“ Arbeitsverhältnissen auf Basis von Werkverträgen und Subkontrakten. Als ein genereller Trend – ausgehend von den dynamischen Leitsektoren eines so bezeichneten kognitiven

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Kapitalismus und den immateriellen Arbeitszusammenhängen der New und Network Economy – zeichnete sich spätestens seit den 1980er-Jahren ab, den Stamm der fixen Belegschaft zugunsten einer hoch mobilen Schicht frei disponibler, nach Bedarf und jeweiliger Nachfrage zeitlich beliebig einsetzbarer Teilarbeitskräfte zu reduzieren (Beaud/Pialoux 2004). Die Etablierung temporärer, prekarisierter Anstellungsformen (sei es Teilzeit-, Leih- oder befristete Arbeit) entzog den traditionellen kollektiven Vertretungsformen politische Legitimation wie Rekrutierungsbasis, das neue Programm der Flexi­bilisierung sorgte so zugleich für eine den Wechselfällen der Konjunktur jederzeit adaptierbare hoch mobile Arbeitskraftreserve. Der Neuformulierung kapitalistischer Hegemonie ist es somit um die möglichst lückenlose Mobilisierung der Ressource Arbeitskraft, um eine immer weiter gehende Verfügbarkeit über betriebliches Humankapital zu tun. Im Verband mit Prozessen eines verstärkten outsourcings, neuer Verfügbarkeitsregelungen von Arbeitskraft (rein bedarfsorientiert, jederzeit einsetzbar) und des Aufbaus so genannter interner Märkte durch betriebswirtschaftliche Kontrollverfahren weist dies in eine klare Richtung  : Eine weitere Intensivierung des Marktdrucks auf prekarisierte Belegschaften, die, den Zwängen freier wie abhängiger Beschäftigung gleichermaßen ausgeliefert, diesen Druck als zunehmend naturwüchsig und nicht beherrschbar erleben müssen (Boltanski/ Chiapello 2003  ; 296ff.). Die Technologien und Techniken der innerbetrieblichen Überwachung und Disziplinierung wurden ausgeweitet, intensiviert und differenziert. Kontinuierliche Supervision, allseitige Kon­trolle und Evaluierung in Permanenz nehmen im flexiblen, informationellen Kapitalismus im Zuge der Fortentwicklung der Informationstechnologien und der Computerisierung der Arbeitsprozesse gänzlich neue Qualität an. Ihr Ziel ist die Eliminierung jeglicher kontrollfreier Räume  ; zugleich aber, so Ursula Schneider (2007), vernichten sie, in ihrer Besessenheit mit Messdaten und Kennzahlen, soziales Kapital, lassen sie den Menschen zunehmend hinter den Zahlen verschwinden. Dieser Systemlogik entspricht die Anmutung an die Arbeitnehmer, selbst eine Leit- und Kontrollfunktion gegenüber der eigenen Arbeit zu übernehmen und das über Wettbewerbsfähigkeit und Gewinnmaximierung definierte allgemeine Firmeninteresse dem eigenen Subjekt- und Reproduktionsinteresse voranzustellen. Thomas Perilleux’ 1997 vorgelegte Untersuchung über die postfordistische Reorganisation einer französischen Rüstungsfirma leuchtet geradezu paradigmatisch jene Transformationsprozesse aus, die verfügbare Ressourcen an Zeit, Raum, Subjektivität und Autonomie durch eine universell gesetzte



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Unternehmenslogik überformen (Perilleux 1997). Die Studie führt die in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts endgültig vollzogene Abkehr von Vorstellungen der prinzipiellen Plan- und Berechenbarkeit von Gesellschaft, von Arbeitsplatzsicherheit, Aufstiegsmobilität und Lebensperspektiven mit großer Plastizität vor Augen. An die Stelle dieser Vorstellungen ist eine neue Qualität der Entfremdung und der Entpersönlichung aufgrund brüchig gewordener Erwerbsbiografien, stets neu definierter Qualifikationsanforderungen und einer verschärften Lohnkonkurrenz getreten. Pragmatisierung in jeglicher Form (Thatcher hatte auch hier Pionierfunktion übernommen) sollte der Ächtung anheim gestellt, soziale Sicherheit Angelegenheit eines „Systems der individuellen Veranwortlichkeit“ werden (wie dies Deng Xiao Ping noch vor Thatcher so präzise auf den Punkt gebracht hatte). Individuen treten als Käufer von Produkten auf Märkten auf, die soziale Absicherung verkaufen  ; persönliche Absicherung wird eine Frage der persönlichen Wahl (gemäß der Leistbarkeit) von Angeboten eines allerdings für das nachfragende Individuum in seiner Komplexität nicht länger durchschaubaren Finanzmarktes. Vor dem Hintergrund einer gewaltige Dimensionen annehmenden Auslagerung der herkömmlich fordistisch-industriellen Fabriksproduktion in Regionen mit marginal oder nicht entwickelten Sozialstandards implizierte die postfordistische Transformation dieserart nicht nur die quantitative Reduktion der historischen Arbeiterklasse  ; die gänzlich an unternehmerischen Interessen orientierte Neuordnung der Produktionslandschaft bedeutete, entscheidender noch, den qualitativen Zerfall eines gesamten politischen und kulturellen Milieus, die Erosion traditioneller Identitäten und ursprünglicher Handlungsmächtigkeit (Comaroff/Comaroff 2001  : 12). Mehr als alles andere waren es diese Prozesse, die das neoliberale Paradigma befestigt haben – sie wurden zugleich von einer durch ebendieses Paradigma initiierten und angeleiteten revolutionären technologischen Entwicklung, die das herkömmliche Raum-Zeit-Gefüge radikal neu definierte, weiter befördert und ausdifferenziert. Intensivierte Innovation, die im Bereich der Kommunikation in eine technologische Revolution umschlug, hat die allgemeinen Raum-Zeit-Vorgaben der Produktion, Konsumption und ihrer Organisation radikal verändert, die Amortisationsdauer des eingesetzten Kapitals dramatisch sinken lassen. In einer immer relevanter werdenden Zahl von Fällen entstanden völlig neue, modulare und projektbasierte betriebliche Gebilde oder es kam zu einem Zusammenspiel von traditionell fordistischen Formen mit netzwerkartig gestaltetem sub-contracting und outsourcing. Im Regelfall handelte es sich um die

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Integration einer Vielzahl kleinteiliger und spezialisierter Fabrikation unter der Ägide machtvoller Finanz- oder Marketingunternehmen. Akkurate Justin-time-Information wurde zum wertvollen Gut und zur intensiv nachgefragten Ware, privilegierter Informationszugang, der gesicherte Zugriff auf die jeweils aktuellsten technologischen und wissenschaftlichen Entwicklungen eine zentrale Kategorie der Profitrealisierung, insbesondere im Finanz- und Währungssektor. Das neoliberale Dogma sieht nicht nur alle menschliche Aktivität vom und durch den Markt bestimmt, es unterstellt auch den prinzipiell gleichen Informationszugang aller am Markt Agierenden. Dies verlangt, auf nunmehr globalisierten Märkten und angesichts exponential anwachsender Markttransaktionen, nach Technologien der Informationsgenerierung, nach neuen Informatik- und standardisierten Informationsverarbeitungssystemen mit enorm erweiterten Speicher-, Transfer- und Analysekapazitäten. Dies mag ein wesentlicher und bestimmungsmächtiger Aspekt für das gesteigerte und faszinierte Interesse an der Entwicklung und permanenten Ausgestaltung des IT-Sektors sein, für die beinahe exklusive Bündelung und Konzentration innovativen Wissenschaftspotenzials in diesem Bereich. Um 1970 waren jeweils 25 % aller Investitionen zu gleichen Teilen in Produktion, Infrastruktur und Informationstechnologie gegangen, 2000 entfielen auf letzteren Sektor 45 %, bei relativem Rückgang der beiden anderen – in den 1990er-Jahren gemeinhin als Übergang in eine Informationsgesellschaft gewertet (Harvey 2005  : 157). IT ist die Leittechnologie des Neoliberalismus, wird zu seinem eigentlichen Signum. Insbesondere die umfassende Finanzialisierung des Ökonomischen, die Verlagerung ökonomischer Aktivität von der „realen“ Produktion und ihrer Infrastruktur in Richtung Finanzspekulation wäre ohne die technologische Revolution der vergangenen drei Jahrzehnte in dieser stupenden Geschwindigkeit, die „natürlichen“ Restriktionen von Raum und Zeit schlicht suspendierenden Form nicht denkbar gewesen.11 Allerdings wurde

11 Bezeichnenderweise waren jene Produktionsbereiche, die einen merklichen Boom durchliefen, vornehmlich Sektoren der neuen Kulturindustrien (Film, Pop, Video, Videogames, Werbung etc.), die auf IT als zentralem Innnovations- und Marketingfaktor basierten. Der in den 1990er-Jahren um diese sign of the times-Sparten einer ausschließlich dem kapitalistischen Verwertungsprinzip unterstellten cultural industry inszenierte Hype hat indessen ein zentrales und überaus folgenreiches Manko überdeckt – jenes der versäumten Investitionen in die materielle Produktion und soziale Infrastruktur.



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das Fantasma einer völlig neu konfigurierten, zur Gänze integrierten, virtuellen globalen Ökonomie doch auch sehr schnell auf seinen eigentlichen Kern verwiesen, auf eine in ihren Dimensionen kaum mehr fassbare Um- und Neuverteilung von Einkommen, Vermögen und Reichtümern. Wir können uns demgemäß dem Neoliberalismus von zwei Verständnisebenen her annähern  : als einem rigorosen ideologischen Imperativen folgenden utopischen Projekt zur Umsetzung einer Wirtschaftsdoktrin und zur Reorganisation des internationalen Kapitalismus, oder aber auch als einem technologieinduzierten politischen Projekt zur radikalen Restrukturierung der Klassenbeziehungen und der gesellschaftlichen Machtverhältnisse im Sinne der neuen ökonomischen Eliten.

4. Die beste aller Welten Triumphalistisch feierte der Neoliberalismus seinen welthistorischen Sieg, als zugleich mit dem ökonomischen, politischen und moralischen Zusammenbruch des stalinistisch deformierten Sowjetsystems eine der großen Menschheitsutopien an ihr Ende gekommen war  : Jenes grand narrative des Sozialismus nämlich, das es ermöglicht hatte, den Entwicklungsgang der Menschheitsgeschichte einseitig in Richtung Fortschritt, Emanzipation, Gleichheit zu interpretieren. Es sei, wie MPS-Mitglied Antonio Martino in einer Heritage Lecture zu Ende des 20. Jahrhunderts resümierte, ein epochaler Wandel erfolgt, Thatcher und Reagan hätten eine Revolution im ökonomischen Denken in einen fundamentalen und dauerhaften Politikwechsel übersetzt. Nicht der Kapitalismus, wie von Schumpeter vorausgesagt, sei von seinem Erfolg, sondern der Sozialismus von seinen Fehlern zerstört worden  : „Definitely, these are glorious days for us reactionaries“ (Walpen 2004  : 274). Die Weltbank proklamierte 1995 prospektiv neue Hoffnung und neue Chancen für Millionen, ein „wirklich goldenes Zeitalter im 21. Jahrhundert“ (Weltentwicklungsbericht 1995  : 147), und knüpfte damit an jenen millennaristischen Utopismus an, den etwa Wilhelm Röpke bereits 1947 am Mont Pèlerin formuliert und in Marktwirtschaft und Wettbewerb die Annäherung an eine „als gerecht und gesund empfundene ideale Gesellschaft“ erkannt hatte (Plickert 2008  : 150). Selbst im Allgemeinen nüchtern und distanziert abwägende Intellektuelle vermochten sich der gängigen Euphorie über die letztendliche Ankunft in der besten aller denkbaren Welten nur schwerlich zu entziehen und sprachen von einer fantastischen Vielfalt und nahezu be-

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täubenden Schnelligkeit des outputs eines wissensbasierten, kognitiven Kapitalismus. Sogar dessen (ohnedies spärliche) Kritiker müssten, so der Tenor, eine niemals zuvor auch nur denkbare Angebotsvarianz und Diversifizierung von allgemein zugänglichen Kultur- und Konsumgütern zugestehen (Storper 2001  : 88, 113). Tatsächlich hat sich der Prozess einer umfassenden Neoliberalisierung nicht linear, ungebrochen und auf geopolitischer Ebene in gleicher Intensität vollzogen  ; er verlief vielmehr widersprüchlich, ungleichmäßig, retartierend, wurde in unterschiedlichen Staaten, Regionen, sozialen Formationen in unterschiedlicher Weise appliziert, formierte sich mit bestimmten tradierten politischen Kräften und Institutionen zu komplexen und differenzierten Arrangements. Mit der Artikulation des so bezeichneten Washington Consensus Mitte der 1990er-Jahre, dem es um die globale Verallgemeinerung des britischen und US-amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells ging, war die neoliberale Hegemonie allerdings definitiv festgeschrieben (Stiglitz 2003). In Umkehr von Richard Nixons legendärem Statement hätten Clinton und Blair mit allem Recht dieser Welt festhalten können  : „We are all neoliberals now.“12 Und in der Tat  : Verbliebene kommunistische Diktaturen wie China und Vietnam adaptierten das neue Dogma ebenso wie das Brasilien des charismatischen Arbeiter- und Gewerkschaftsführers Lula, traditionelle sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten wie Schweden und Neuseeland ebenso wie die auf überaus militante Traditionen zurückblickende italienische Linke oder Frankreich mit seinem schwer wiegenden, gaullistisch-mitterandistischen politischen Erbe. Die dominante wirtschafts- und sozialpolitische Maxime der Europäischen Union insgesamt zielte auf Monetarisierung der Wirtschaftspolitik, Flexibilisierung und Privatisierung der Produktion, auf Markthegemonie und Wettbewerbsdominanz (Brüssel-Konsens). Dazu traten das restriktive Regelwerk des Paktes für Stabilität und Wachstum und die prioritär gesetzte Inflationsbekämpfung einer von jeglichen politischen Instanzen unabhängigen Europäischen Zentralbank. In internationalen Schlüsselinstitutionen wie dem IWF oder der Weltbank waren keynesianische Einflüsse bereits bis Mitte der 1980er-Jahre weitgehend getilgt, die von der OECD 1987 ange12 Richard Nixon, die ultimative Hoffnung der amerikanischen Rechten und definitive Feindfigur der internationalen, studentenbewegten Linken, hatte zu den Grundlagen seiner Wirtschaftspolitik und zur ostentativen Enttäuschung großer Teile seiner politischen Klientel in aller Knappheit festgehalten  : „We are all Keynesians now.“



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nommenen Codes of Liberalisation lesen sich wie ein aus einem einschlägigen einführenden Lehrbuch wortidentisch übernommener Abriss. IWF und Weltbank wurden, im Wege des Schuldenerlasses, führende Agenturen im Prozess der „strukturellen Anpassung“ der Volkswirtschaften von Schwellenländern, wobei Mexiko ein erstes und geradezu paradigmatisches Fallbeispiel darstellt. Beide reagierten auf die in diesen Ländern chronisch, in kurzen Abständen und mit desaströsen Konsequenzen einsetzenden Finanzkrisen (wie beispielsweise der ostasiatischen von 1997) entlang vorgefertigter Konzepte und gebetsmühlenartig  : Die Antwort auf krisenauslösende überproportionale Staatsintervention und damit verbundene Korruption (und nicht etwa auf deregulierte und außer Kontrolle geratene spekulative Finanzmärkte) liege ausschließlich in einer weiteren und intensivierten Liberalisierung (Stiglitz 2002  : 69ff.). Ganz in diesem Sinn wurden die Volkswirtschaften und gesellschaftlichen Produktionsapparate des postrassistischen südlichen Afrika wie des postkommunistischen östlichen Europa restrukturiert und einer schocktherapeutischen Transformation unterzogen. In den Kanon einbezogen wurden schließlich auch die zu den ärmsten Regionen weltweit zählenden Länder Südasiens (allen voran Indien) mit ihrem so dramatisch entwickelten sozialen und kulturellen Konfliktpotenzial  : „South Asia presents no exception to the global trend  : neoliberalism is now increasingly received as the all-purpose panacea to address economic and social ills“ (Pasha 2000  : 71). Die akkumulierten und hoch aggregierten Daten, wie sie Gérard Duménil und Dominique Lévy auf der Basis überaus aufwendiger und sorgfältig gearbeiteter statistischer Verfahren vorgelegt haben, belegen eine zeitgleich ablaufende Um- und Neuverteilung von Reichtum, Einkommen und Vermögen in wahrhaft beeindruckendem Ausmaß (Duménil/Lévy 2005). Notwendigerweise korrelieren Umverteilungsprozesse von solch beinahe singulärer Dimension mit einer qualitativen Neugestaltung politischer Macht und gesellschaftlicher Verfügungsgewalt. Es wird ein neues Dispositiv der Klassenverhältnisse entworfen, oder präziser  : War es dem sozialdemokratisch inspirierten Nachkriegskonsens um die möglichst umfassende Verallgemeinerung, ja Universalisierung des Mittelstandes und somit um die (tendenzielle) Auflösung der Klassengesellschaft zu tun gewesen, so stellt der Neoliberalismus diese – wenn auch in modifizierter Form – wieder her, im Sinne einer strikten sozialen Hierarchisierung, eines klaren Oben und Unten. Ungleichheit, so hatte Friedrich Hayek doziert, sei nicht bedenklich, sondern „höchst erfreulich“ und „einfach nötig“ im Prozess der Freisetzung innovativen Potenzials und der Nutzung von Chancen durch „Subjekte in Freiheit“ (Hayek 1981).

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Von Ende der 1970er-Jahre an gewannen, laut Duménil/Lévy, die höchsten Einkommenskategorien unverhältnismäßig, bis zum Jahrhundertende entfielen etwa in den USA auf das oberste Einhundertstel der Skala 15 % des gesamten nationalen Einkommens  ; eine Relation, wie sie für die Periode unmittelbar vor Einsetzen der Großen Depression charakteristisch gewesen war. Knapp zwei Fünftel des gesamten Aktienbesitzes wurde von diesem einen Top-Prozent gehalten (gegenüber einem Fünftel Mitte der 1970erJahre). Noch deutlicher fallen die Gewinne in den absoluten Topsegmenten aus  : Die obersten 0,1 % der Einkommensbezieher erhöhten ihren Anteil von 2 (1978) auf über 6 % (1999), während das Verhältnis der Medianeinkommen der Industriearbeiterschaft und der Spitzenmanager sich von 30  : 1 auf 500  : 1 verschob (Duménil/Lévy 2004). Ähnlich liegen die Verhältnisse in England, wo das führende Prozent seinen Anteil am Gesamteinkommen von 6,5 (1982) auf 13 % (1999) verdoppeln konnte. Für die in den Privatisierungswellen nach 1990 kometenhaft aufgestiegenen Oligarchen Russlands und Mexikos oder etwa die Neuen Reichen Chinas sind Maßzahlen wie diese nicht einmal schätzbar  ; als gesichert kann lediglich angenommen werden, dass diese Länder einen massiven und in der jüngeren Vergangenheit wohl einmaligen Prozess eines explosionsartigen Anwachsens sozialer Ungleichheit durchlaufen haben. Einmal mehr war es die utopiegeleitete Politik Margaret Thatchers, der die Funktion der wegbereitenden Avantgarde zuwuchs. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass das neoliberale Projekt sehr wohl und sehr bewusst die Wiederherstellung der (möglichst uneingeschränkten) Macht der ökonomischen Eliten betrieben hat. Allerdings habe dies, in sozialer wie kultureller Hinsicht, eine Neuformierung dieser Eliten selbst bedeutet. Und tatsächlich wandte sich die Revolutionärin Thatcher gegen den alteingesessenen, „reaktionären“ Flügel ihrer eigenen konservativen Partei, attackierte sie im Besonderen die dominanten aristokratischen Traditionen in Heer, Gerichtsbarkeit, Finanz und den Leitsektoren der Industrie. Ihren Platz sah sie an der Seite der nouveaux riches und jener neuen, wenig skrupelbehafteten Kapitalisten vom Typus des kreativen Zerstörers. Zugleich wuchs in den USA mit den ungeahnten und scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, die die technologische Revolution einer virtuellen und IT-basierten New Economy zu eröffnen schien, eine völlig neue Generation von Wirtschaftseliten heran. CEOs in Investmentbanken und im gesamten Bereich des in Permanenz expandierenden Shadow Banking konnten ebenso wie das Topmanagement transnational agierender Konzerne bis dato unvorstellbare persönliche



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Vermögen und ökonomische Handlungsmacht lukrieren (Comaroff/Comaroff 2001  : 24f.). Thatcher zielte in eben diese Richtung einer stets dominanter werdenden Bedeutung der Finanzmärkte. Indem es gelang, die City of London als zent­ ralen Akteur im globalen Finanzsystem zu positionieren, wurde die Hauptstadt wie auch ihr Vorfeld im Südosten des Landes in ein dynamisches und pulsierendes Cluster zur Akkumulation von Kapitalien ebenso wie zur Redefinition von (Klassen-)Macht transformiert. Eine Überfülle von stets neu und komplexer kreierten Finanzprodukten und Finanzdienstleistungen verschob zudem den einst so gesetzten und bieder kalkulierenden englischen Lebensstil mehr und mehr in Richtung einer neuen Schuldenkultur. „Class power“, resümiert David Harvey, „had not so much been restored to any traditional sector, but rather had gathered expansively around one of the global centers of financial operations“ (Harvey 2005  : 62). Die Finanzmärkte waren es an erster und privilegierter Stelle, die im Zuge der weltweiten Neoliberalisierung massive Wellen der Innovation und der Deregulierung durchliefen. Sie wurden zur (letztlich ins Mythologische überhöhten) Instanz einer augenscheinlich unbegrenzten, nicht enden wollenden, aus dem Abstrakten hergeleiteten und sich stets aus sich selbst heraus erneuernden Wertschöpfung und Kapitalakkumulation. Was immer aber auch (retrospektiv besehen und im Wissen um ihre Selbstzerstörung) sonst die Funktion dieser neu konzipierten, globalen Finanzmärkte gewesen sein mag, sie wurden jedenfalls zum bevorzugten Mittel einer definitiven Neubestimmung, einer Rekonfiguration bis dato bestehender Beziehungen und Machtverhältnisse zwischen den sozialen Schichten und Klassen. Der Ende der 1970er-Jahre in Gang gesetzte, in den 1990er-Jahren stabilisierte und gemeinhin als alternativlos erachtete Prozess der Neoliberalisierung ist eng an eine auf der technologischen Revolution im Bereich der Kommunikation basierenden Transformation des gesamten industriellen und gesellschaftlichen Produktionsapparates gebunden. Die gänzliche Neugestaltung des globalen Finanzsystems, die Etablierung des Primats der Finanzmärkte über den Bereich der materiellen Produktion (bis hin zu einem Punkt, wo das neoliberale Projekt mit der sukzessiven Finanzialisierung aller Bereiche der Ökonomie de facto gleichgesetzt werden kann) ist eines der signifikantesten Merkmale dieses Prozesses.13 Waren 1971 neun Zehntel der internationalen 13 Dies erklärt, warum in Staaten wie in den Ländern der G7 oder der EU die wenigen verbliebenen politischen Gestaltungsebenen vorrangig auf die Aufrechterhaltung der Integrität des Finanzsystems und die Stabilität der Währungen konzentriert wurden.

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Finanztransaktionen direkt an die Realwirtschaft gekoppelt und lediglich ein Zehntel dem Feld der Spekulation zuzuordnen gewesen, so hatte sich dieses Verhältnis bis in die 1990er-Jahre umgekehrt, wobei das täglich in Zirkulation befindliche (und zu vier Fünftel überaus kurzfristig veranlagte) Kapital regelmäßig die Summe aller Fremdwährungsreserven der G7-Staaten überstieg (Chomsky 1999  : 23f.). Zum einen hatte diese enorme Bewegung in die Spekulation damit zu tun, dass nunmehr die über den Zeitraum eines Jahrzehnts so dramatisch verbesserten Bedingungen der Profitrealisierung, die allseitigen Deregulierungen und Steuerkürzungen in den obersten Einkommenssegmenten, die Gewährung von Steuerfreiheiten auf Gewinne aus Aktientransaktionen etc. schlagend wurden, und, ähnlich den 1920er-Jahren, enorme Geldmengen zur Disposition standen. Noam Chomsky zitiert eine die Situation überaus präzise charakterisierende Schlagzeile der Business Week  : „The Problem Now  : What To Do With All That Cash  !“ (ebd.: 28). Zum anderen blieb das Problem einer umfassenden, wiewohl chaotisch und anarchisch ablaufenden Finanzialisierung keineswegs auf das engere ökonomische Feld beschränkt. Sie durchdrang vielmehr staatliche Apparate und Bürokratien mit ebensolcher Selbstverständlichkeit wie das alltägliche Leben einer stets und in schnellem Tempo größer werdenden Anzahl von Menschen über die Kontinente hinweg (Martin 2002). Die komplette Reorganisation des globalen Finanzsystems im Rahmen eines voll ausgebildeten Regimes flexibler Akkumulation lässt eine duale Bewegung erkennen  : einerseits die Formierung von weltweit tätigen, in sich koordinierten Finanzkonglomeraten von außerordentlicher, konzentrierter Macht, andererseits ein ungestümes Anwachsen dezentralisierter Finanzaktivität und -spekulation durch die Schaffung von gänzlich neuen Instrumentarien und Märkten. Die Formierung von globalen Börsenmärkten, des weltumspannenden Austauschs von Währungen und Zinsraten, bedeutete, zusammen mit der beschleunigten geopolitischen Mobilität von Anlagefonds, erstmals das Entstehen eines universellen Geld- und Kreditmarktes. Die Financial Times vom 8. Mai 1987 bringt es auf den Punkt  : „Banking is rapidly becoming indifferent to the constraints of time, place, and currency“ (Harvey 1990  : 161). In diesem Zusammenhang vollzieht sich die entscheidende ökonomische Transformation der letzten beiden Jahrzehnte, der Übergang von einem produzierenden zu einem spekulativen Kapitalismus, der die Produktion von Gütern und Dienstleistungen den Imperativen blitzschneller globaler Finanzströme und Investitionsentscheidungen unterwirft. Nicht mehr vorwiegend



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Unternehmen und multinationale Konzerne bestimmten das Schicksal nationaler Arbeits- und Gütermärkte als vielmehr Großbanken, Hedgefonds, Finanzinvestoren und Großversicherungen, die Unternehmen und Arbeitnehmer wie Dominosteine in einem globalen Gewinnspiel einzusetzen begannen. Während große Teile des Industrie-, Handels- und Immobilienkapitals so in Finanzoperationen aufgingen, dass eine Unterscheidung zwischen ihren rein finanziellen und ihren kommerziell-industriellen Interessen zunehmend unmöglich wurde, stiegen andererseits Versicherungen und Pensionsfonds mit ihrer gewaltigen Finanzkraft in die nunmehr globalisierten Märkte ein. Zugleich versuchte eine immer größere Anzahl von börsennotierten und damit den Rentabilitätszwängen der Finanzmärkte überantworteten Unternehmen, Gewinne zunehmend über reine Finanztransaktionen zu realisieren. Dieserart entstand hinter den Produkt- und Logofassaden weltweit agierender Unternehmen ein virtuelles Netzwerk von Investmentbanken, Fonds und spezialisierten Vermittlungs- und Beratungsagenturen, die in zunehmendem Ausmaß die Weltwirtschaft bestimmen und dabei weitgehend unkontrolliert, also in einem „Schattenbereich“, agieren konnten. Das Problem der universellen Finanzialisierung der Wirtschaft war aber nicht nur eines der mangelnden resp. inexistenten Kontrolle, der schnellen Profite und der überproportionalen Risikobelastung der normalen Güterproduktion und der Arbeitsmärkte, es stellte sich zunehmend als ein Problem der sinkenden Investitionen für Infrastruktur und Bildung und somit als ein Problem für das Wirtschaftswachstum dar. Da es nur mehr um die unmittelbare Realisierung schneller Gewinne ging, unterblieben Investitionen in Forschung und Entwicklung oder in die Verbesserung von Verkehrs- und Kommunikationssystemen bzw. den Umweltschutz (für die USA unter Bush II in einem besonderen Maße charakteristisch). Mit der Finanzkapitalisierung der Volkswirtschaften wurden so immense Gewinne ohne kollektive Wertschöpfung geschrieben und große Reichtümer ohne gesellschaftliche Verteilungseffekte geschaffen (Blackburn 2008). Für den durchschnittlichen Arbeitnehmer und Konsumenten fielen kaum Vorteile, wohl aber die Kosten der Finanzspekulation an – entweder in Form von Risiken bei Kleinanlagen und bei privat finanzierten Pensionsversicherungen oder in Form höherer Preise und schlechterer Qualität bei Konsumgütern und Dienstleistungen. Zudem beschädigte diese Entwicklung wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen, die in eine Doppelmühle von Privatisierungszwang und Fondsabhängigkeiten gerieten, und der Sozialstaat verlor insgesamt an Leistungsfähigkeit ge-

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rade für jene Schichten, deren Existenzsicherung von seinem Funktionieren vorrangig abhängt. Die Hyperabstraktionen der internationalen Finanzmärkte, die, wie sich erweisen sollte, selbst für Experten nicht länger durchschau- und analysierbar waren, blieben umso mehr für die Laien ein völliges Mysterium  ; ein machtvolles, gleichsam naturwüchsiges Geheimnis allerdings, das ihren Alltag zunehmend bestimmen und unmittelbar über ihre Lebens- und Zukunftschancen entscheiden sollte. Mit zum Teil überaus erstaunlichen und höchst bemerkenswerten Konsequenzen, griffen doch breite Segmente der sozialen Unterschichten – ihrer traditionellen Solidarformen und kulturellen Identitäten beraubt und eigentlich ganz im Sinne der neoliberalen trickle-down-These – wesentliche Bestimmungsmomente und Logiken des neuen, spätmodernen Kapitalismus auf  : Überfluss ohne Einsatz materieller Arbeit, Wohlstand aus dem Nichts, Reichtum generiert aus dem schicksalhaften Walten der unsichtbaren Hand. Jean und John Comaroff berichten beispielsweise über eine Lotto-Manie, die 1999 einen der größten indischen Staaten, Madya Pradesh, und insbesondere dessen arbeitslose Jugend erfasst hatte und alle Charakteristika fataler Ekstase aufwies, wie sie üblicherweise chiliastisch-kultische und millennaristische Bewegungen kennzeichnen (Comaroff/Comaroff 2001  : 6). Zwei Jahre davor war die marktwirtschaftliche Rekonstruktion des von Jahrzehnten der stalinistischen Diktatur ausgebluteten Balkanstaates Albanien zusammengebrochen, unter dem Eindruck der Implosion einer Kette von Pyramidenspielen, die insbesondere die untersten Schichten angezogen hatten und in der Folge zu deren massenhafter und fluchtartiger Emigration führten. Dies alles begibt sich zu einem Zeitpunkt, da sich in den USA das Glücksspiel zu dem Industriezweig mit den höchsten und dynamischsten Wachstumsraten entwickelt hatte. Gleichwohl bezeichnen diese Phänomene nichts anderes als den vulgären, sozusagen proletarischen Aspekt eines leitenden, strukturellen Prinzips, das den neuen Finanzkapitalismus insgesamt bestimmt und für eine Ökonomie des Okkulten verantwortlich zeichnet, die sich in ihrem permanenten Bestreben, Papier in Gold zu verwandeln, letztlich auf Methoden einer ins Gegenwärtige transformierten (Finanz-)Alchemie verwiesen sah. Zweifellos war hohes und nur schwer kalkulierbares finanzielles Risiko stets von konstitutiver Bedeutung für jegliche kapitalistische Unternehmung gewesen, aber lange Zeit als gleichsam „außermarktlich“ erachtet und von einer in den kapitalistischen Kernländern vorherrschenden protestantischen Ethik als Inbegriff einer (wenn auch notwendigen) „amoralischen Akkumulation“ verstanden



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worden. Nunmehr aber avancierte eine ethischer Skrupel de facto enthobene Spekulation zu dem bestimmenden Merkmal und beinahe exklusiven operativen Instrument eines von räumlichen, zeitlichen, regulatorischen oder materiellen Restriktionen zunehmend unabhängigen Finanzkapitalismus. Seine nomadischen, auf transnationalen und virtuellen Märkten agierenden Funktionseliten konnten – angesichts einer nahezu unbegrenzten Machtfülle bei gleichzeitiger Sistierung jeglicher persönlicher Verantwortung – nicht ohne guten Grund Gestus und Arroganz der Masters of the Universe beanspruchen (Krugman 2008  : 119ff.). Ist die umfassende und durchgängige Finanzkapitalisierung die eigentliche ökonomische Signatur des Neoliberalismus, so ist die Postmoderne dessen kultureller Ausdruck. Zur gleichen Zeit, da Susan Strange erstmals den Übergang zu einem Kasinokapitalismus konstatierte, also Mitte der 1980er-Jahre, feierte der US-amerikanische Architekturkritiker Carl Jenks die Postmoderne als eine neue Weltzivilisation der pluralistischen Toleranz und der vielfältigen Wahlmöglichkeiten, die überkommenen Polaritäten wie links versus rechts, Arbeiterklasse versus Kapitalisten etc. sinn- und bedeutungslos habe werden lassen. Für eine Gesellschaft, in der Information über Produktion dominiere, wurde das Ende der historisch-künstlerischen Avantgarden postuliert. Vielmehr sei von zahllosen Individuen in Tokyo, Berlin, London, Mailand und anderen Weltstädten auszugehen, die, gleich jenen in der Banken- und Finanzwelt, miteinander kommunizieren oder in Konkurrenz treten (Jenks 1986  : 44f.). Dieser zunehmend über den engeren künstlerischen Aspekt hinaus auf den gesamten Bereich des Kulturellen ausgedehnten und bald zum weithin akzeptierten Mainstream gewordenen Sicht stellte Fredric Jameson eine radikal andere, wenn auch zunächst minoritäre analytische Deutung entgegen. Der intellektuellen Tradition des Western Marxism zugehörig, verortete Jameson die Postmoderne im Kontext der längerfristigen Perspektiven des sozioökonomischen Systems, veränderter Produktionsweisen und der „großen Transformation“ der Wirtschaftsordnung des spätmodernen Kapitalismus. Bereits Mitte der 1970er-Jahre war er von einem irreversiblen Zeitenbruch und einer neuen Qualität der gesellschaftlichen Organisation ausgegangen, nunmehr identifizierte Jameson das eigentliche Momentum der Postmoderne in der Euphorie des neoliberalen transatlantischen Erdbebens der Thatcher-Reagan-Ära. Die Problematik stellte sich zunächst vor dem Hintergrund eines verstärkten outsourcings der standardisierten Massenproduktion in periphere Niedriglohnregionen und der simultanen

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Offensive gegen die Arbeiterbewegung in den industriellen Kernländern, wobei ein merklicher Rückgang der organisierten Formen der Klassenauseinandersetzung mit einem dramatischen Anstieg der individuellen und individualisierten Gewalt in den Metropolen und Städten korrelierte. Weiters wurde die zunehmende Medialisierung von Wirtschaft und Gesellschaft thematisiert, die revolutionären Fortentwicklungen in den Kommunikationstechnologien, der Übergang von der Produktions- zur Dienstleistungsgesellschaft sowie nicht zuletzt die ungeahnte Bedeutungszunahme der Finanzmärkte und der Finanzspekulation. Entwicklungen, die weitreichende Konsequenzen für tatsächlich jede Dimension menschlichen Lebens in den entwickelten industriellen Gesellschaften implizierten – in Bezug auf Geschäfts- und Konjunkturzyklen oder Beschäftigungsmuster ebenso wie auf Klassenbeziehungen, politische und soziale Praktiken, Wahrnehmungsweisen und Identitäten. Eine besondere Rolle und Bedeutung maß Jameson dabei der Sphäre des Kulturellen bei. Kultur sei geradezu ein Schlüsselkonzept der postfordistischen Transformation, „the very element of consumer society itself “, die Postmoderne demnach die neue kulturelle Logik des neoliberalen Kapitals (Jameson 1991). In seiner 1979 erschienenen La Condition Postmoderne sieht Jean-François Lyotard die umfassende Flexibilisierung faktisch aller traditionellen Bindungen als das zentrale Merkmal einer sich in ihren wesentlichen Konturen eben abzeichnenden postindustriellen Gesellschaft  ; einer Gesellschaft, in der Wissen und Information zur bestimmenden ökonomischen Produktivkraft geworden sind (Lyotard 1979). Der alle Bereiche des menschlichen Seins durchdringende zeitlich begrenzte Kontrakt – sei es im Beruflichen, Emotionalen, Sexuellen oder Politischen – erweise sich, so Lyotard, dem disziplinierenden „ehernen Käfig der Moderne“ gegenüber als ökonomisch adäquater, adaptiver, kreativer. Und in der Tat zielte der spätmoderne, neoliberale Kapitalismus auf die universelle Flexibilisierung aller Bereiche der Lebenswelt, auf die radikale Individualisierung aller Lohnabhängigen und deren Herauslösung aus kollektiven Schutzmechanismen. Die fordistischen, alten, schmutzigen, körperlichen Produktionsformen wurden exportiert und damit aus dem Gesichts- und Bewusstseinsfeld der neuen Subjekte des Kapitalismus entfernt. Es ist ein klinisch sauberer, hygienischer, individualisierter Kapitalismus, der sich da formiert, und zwar in Form der virtuellen, globalen Finanzarchitektur einerseits und der neuen Kleinstunternehmer und prekarisierten Subkontrakteure andererseits. Evident wird ein Projekt zur Neuformierung von Klassenverhältnissen  : Unten konzentriert sich alles Risiko die-



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ser neuen Welt, während das Oben keinerlei Risikobelastung und -haftung mehr kennt. Sollte dieses Projekt einer radikalen Individualisierung und Entsozialisierung hegemonialen Charakter annehmen, so galt es, die Subjekte nach dem neuen Geist des Kapitalismus zu formen und zu modellieren – jeder Mensch wird zum Manager und Biografen seines individuellen Schicksals. Die Neuformulierung kapitalistischer Hegemonie, und dem unterliegt eine beinahe tragikomische Ironie, greift dabei auf jene Kritik zurück, wie sie die Sub- und Gegenkulturen der 68er-Bewegung an einer als allgegenwärtig empfundenen Disziplinierung und Reglementierung der Lebens- und Arbeitswelt ihrer Zeit formuliert hatten. Es ist gleichwohl ein instrumenteller Rückgriff, der den ursprünglich politisch-emanzipatorischen Gehalt dieser Kritik und deren antikommerziell-antikapitalistischen Impetus vollkommen ignoriert, in dessen schieres Gegenteil verkehrt und seinerseits einen Kanon expressiver Subjektivität propagiert (Boltanski/Chiapello 2003  : 91ff.). Dieser findet seinen wohl präzisesten Ausdruck in dem Mythos der permanenten Neuerschaffung des Selbst, in einem Kult der grenzenlosen Selbstinszenierung, der von Jean Baudrillard (vornehmlich anhand des role models der Popmusikerin Madonna) und anderen Intellektuellen zur kulturellen Leitsignatur des Neoliberalismus erklärt wurde. Die so verallgemeinerte Botschaft einer allen Umständen und Bedingungen gerecht werdenden Selbstreproduktion hat ihr ökonomisches und arbeitsmarktpolitisches Pendant in den medial abgefeierten Ich-AGs gefunden. Der von Projekt zu Projekt kalkulierende und zwischen Nicht- und Teilbeschäftigung pendelnde Informations- und Symbolarbeiter hat für seine soziale Absicherung selbst aufzukommen und übersetzt seine unstete Einkommenssituation lebensweltlich in einen New-Bohemian-Gestus. Er wird damit zum exemplarischen Typus einer neuen Stadtkultur und avanciert mit der Logik der kontinuierlichen Neuerfindung seiner selbst zum Inbegriff des digitalen, flexiblen und nomadischen Kapitalismus (Maderthaner/Musner 2007  : 84). Die neuen Formen flexibilisierter Produktionsorganisation, das postindustrielle Produktionsparadigma überhaupt, erwiesen sich dieserart in hohem Maße kompatibel mit rasant der Veränderung unterworfenen Moden, Lebensstilen, Ebenen der Bedürfnisartikulation und -produktion und den damit eng zusammenhängenden kulturellen Transformationen, ja sie liefen letztlich ineinander. Eine Postmoderne, die zuvorderst die Kommodifizierung, Kommerzialisierung und Vermarktlichung alles Kulturellen zelebrierte, fand ihren sinnfälligen Ausdruck in einer marktgerechten und marktgetriebenen,

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narzistisch-selbstbezogenen Kultur des erweiterten Konsumismus und individuellen Libertinismus. Konsum und Konsumentensouveränität gerieten (in politisch-ideologischer wie in ökonomischer Hinsicht) zur Leitsemantik des Neoliberalismus. Von Deng Xiao Ping in den frühen 1990ern als eigentlicher Motor der Produktion apostrophiert, wurde im Konsum (zunehmend exklusiv) das dynamische und treibende Moment, das leitende Prinzip schlechthin in der Formation von Sein und Bewusstsein, von Identität und Selbstwert festgemacht. In erstaunlicher Konkordanz mit den frühen marktfundamentalistischen Thesen eines Ludwig von Mises imaginierte man das Individuum nicht länger in seiner Funktion als Produzent, sondern ausschließlich als „selbstermächtigter“ Konsument auf globalisierten Märkten. In einer aus 1946 datierenden Stellungnahme zu Hayeks Plan der Gründung eines internationalen liberalen Elitennetzwerkes hatte Mises diese Position präzise auf den Punkt gebracht  : „There is no middle way. Either consumers are supreme or the government“ (Walpen 2004  : 100). Seit den 1990ern schien die solcherart definierte Suprematie des Konsumenten endgültig hergestellt, Politik und politisches Handeln im Neoliberalismus durch die „objektiven“ Logiken und Notwendigkeiten des Marktes aufgehoben. „As such, tellingly, it is the invisible hand, or the Gucci-gloved fist, that animates the political impulses, the material imperatives, and the social forms of the Second Coming of Capitalism – of capitalism in its neoliberal, global manifestation“ (Comaroff/Comaroff 2001  : 4).14 Doch war dem scheinbar so unbegrenzt prosperierenden Consumer Capitalism eine trügerische Illusion und fatale Logik unterlegt. Robert Reich, von 1993–1997 Arbeitsminister unter Bill Clinton, schreibt von einem immer stärker werdenden Wirtschaftssystem, „in dem Verbraucher und Anleger immer mehr Macht haben und Arbeitnehmer und Bürger immer weniger“ (Reich 2007  : 9f.). Heinz Bude spricht von der „irrationalen Rationalität einer von 14 Das vielleicht untrüglichste Zeichen für die hegemoniale Stellung des Neoliberalismus mag wohl gewesen sein, dass sich der globale Spätkapitalismus mit signifikanter Kritik vonseiten der Sozial- und Kulturwissenschaften nicht länger konfrontiert sah. Die Realisierung der letzten großen Erzählung, das Metanarrativ einer weltumspannenden Hegemonie des freien Marktes, hat diese Wissenschaften ihrer kritischen Potenz beraubt. In dem Moment, als sich die kapitalistische Globalisierung noch in den entlegensten Regionen zu realisieren begann, als eine technologische Revolution das herkömmliche Raum-Zeit-Gefüge radikal neu definierte, sistierte die Kulturanalyse ein globalkritisches Denken (und damit die anstehende politische Agenda), fanden sich die Kulturstudien nur allzu oft in die Funktion von Legitimations- und Affirmationsinstanzen eines zynischen consumer capitalism versetzt.



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verdeckten Klassenkämpfen, verblendeten Tauschverhältnissen und ungeheurer Kapitalakkumulation beherrschten Gesellschaft“. Die paradoxe Logik des Systems habe schlicht darin bestanden, dem Konsum systematisch Mittel zu entziehen, um dessen Möglichkeiten zu steigern. Man habe angenommen und nur allzu bereitwillig glauben wollen, dass die durchaus bedeutenden Gewinne der Konsumenten gleichsam selbstlaufend sein könnten und eben nicht durch ebenso stetige wie schleichende Verluste der Produzenten kompensiert werden müssten. Ein folgenreicher Trugschluss  : „Es gibt ‚Grenzen des Wachstums‘, die nicht in der Ökologie und deren Ressourcen, sondern in der Ökonomie und deren Gesetzen liegen“ (Bude 2009  : 267f.). Die sukzessive Ausdehnung der Kredit- und Schuldenfinanzierung des (Massen-)Konsums als scheinbare Auflösung dieses Paradoxons – in den USA geradezu die Grundlage für eine dauerhaftere Sicherung sozialen Friedens – konnte notwendigerweise nur über einen begrenzten Zeitraum aufrechterhalten werden. Einmal mehr sind die Parallelen zur Situation in den späten 1920erJahren geradezu frappant  ; und es mag von mehr als bloß metaphorischer Bedeutung sein, dass die Implosion des globalen Finanzsystems im Herbst 2008 von einer vordergründig so wenig bedeutenden Nebenlinie wie der (allerdings ins Absurde getriebenen) Hypothekarfinanzierung des Klein- und Familienwohnhausbaus ausgegangen ist. Dieser folgenschwere Zusammenbruch der internationalen Finanzarchitektur brachte das Andere und Abgründige, die schmutzige Kehrseite eines den Dynamiken seiner Eigenlogik folgenden Kapitalismus, der sämtliche Alltagspraktiken und Lebensvollzüge der Menschen seiner Verwertungslogik unterworfen hat, schockartig zu allgemeinem Bewusstsein. Eine marktradikale Gegenreformation hat dramatische soziale Fragmentierungen, Spaltungen und Verwerfungen nach sich gezogen, beängstigende Exklusionen evident werden und die einen maßlos gewinnen, die anderen hoffnungslos verlieren lassen. Getrogen hat der amerikanische Mythos von der klassenlosen Gesellschaft im Überfluss, getrogen hat das trickle down, das da besagte, die Reichen müssten nur reicher werden, und genügend Geld und Wohlstand würde gleichsam automatisch von oben nach unten sickern. Die effektive Analphabetenquote in den USA erreicht heute knapp 28 %, 2,3 Millionen US-Bürger sitzen im Gefängnis (Die Zeit, 25. 9. 2008). Armutsund Verwahrlosungszonen inmitten der westlichen Metropolen verweisen auf Bruchlinien im Sozialgefüge und auf Widersprüche zwischen ökonomischen Imperativen und menschlichen Grundrechten, die mit den gewachsenen Vorstellungen von sozialem Ausgleich und sozialer Gerechtigkeit nicht

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mehr vereinbar sind. Die Verfestigung materieller, sozialer und kultureller Marginalität inmitten reicher Volkswirtschaften, die Ausweitung des WorkingPoor-Phänomens sowie die Erosion der traditionellen Mittelschichten legen den Rückschluss nahe, dass etablierte Strukturen des Arbeitsmarktes und die noch verbliebenen Sicherungsmechanismen des Wohlfahrtsstaates rasant und weltweit in Auflösung begriffen sind. Die vom neoliberalen Spätkapitalismus so forcierten Illusionen libertärer Konsumenten- und Bürgersouveränität gehen demnach einher mit real ablaufenden Prozessen einer gesteigerten Destabilisierung in der Arbeitswelt wie im Sozialen. Die radikale Selbstvergewisserung des Subjekts und der Kult der Selbstermächtigung werden begleitet von der Barbarei der Drogenkriminalität, des Menschenhandels, von Kindesmissbrauch und Gewaltpornos – begründet nicht zuletzt im Mangel hinreichender Regularien und Arenen der legitimen, öffentlichen und sanktionierten Konfliktaustragung. Das Zelebrieren von Differenz, auch und gerade von Klassendifferenz, wird begleitet von einem völligen Zerfall jeglicher Formen von Klassenbewusstsein und einer sukzessiven Auflösung des Konzepts sozialer Solidarität. Deregulierung und Flexibilisierung, die im oberen Segment abhängig Beschäftigter durchaus auf Autonomie- und Statusgewinne hinauslaufen mögen, initiieren im Regelfall Herauslösung der Individuen aus ihren tradierten sozio-kulturellen Bezugssystemen, Zerstörung öffentlichen Zusammenhalts, Veröffentlichung des Privaten, Privatisierung des Öffentlichen. In besonderer Schärfe und Deutlichkeit zeigten sich die Widersprüche in jenen Ländern, die im Gefolge der historischen Umbrüche Ende der Achtziger, anfangs der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts neoliberale Schocktherapien durchliefen. Jenen, die (üblicherweise aus der eben zusammengebrochenen Nomenklatura kommend) den neuen Imperativen und Logiken gemäß zu handeln imstande waren, eröffneten sich beinahe unmittelbar Perspektiven zur beispiellosen Kumulierung von Reichtum  ; hingegen wurden an den unteren Enden der sozialen Hierarchie fortgesetzte (und in einer Vielzahl von Fällen tatsächlich existenzbedrohende) Prozesse der Pauperisierung wirksam. Das Ende des Kalten Krieges wie der Apartheid hatte eine Welle utopistischer Imagination auszulösen vermocht, zugleich jedoch eskalierten Armut, Gewalt, Kriminalität, Terror in durchaus verstörenden Ausmaßen. In Südafrika hat eine neue ökonomische Apartheid die ihr voran­ gegangene rassistische auf verquere Weise bestätigt, in Russland war, laut einer UNICEF-Studie, innerhalb von nur wenigen Jahren ein Viertel der Bevölkerung auf blankes Subsistenzniveau oder darunter gefallen (Chomsky



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1999  : 24).15 Selbst Länder, die sich in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Sowjetsystem eine gewisse ökonomische Autonomie, ein erhöhtes Wohlstandsniveau und damit entschiedene Startvorteile zu Beginn der neoliberalen Transformation sichern hatten können, sahen sich mit wirtschaftlichen und sozialen Zerfallserscheinungen konfrontiert. Während die Kommerzmedien das Land zu Tode unterhielten, seien die sonst so eloquenten Intellektuellen verstummt, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erschöpft, apathisch, in totale Agonie verfallen – so charakterisiert der Historiker Béla Rasky (2009) die aktuelle Situation in dem von Finanzkrise und ausstehenden Fremdwährungskrediten massiv in Mitleidenschaft gezogenen Ungarn. Selbst der subversive Witz, der die stalinistische Kádár-Diktatur irgendwie erträglich gemacht habe, zirkuliere nicht mehr  ; die Ungarn hätten das Lachen verlernt. Dem Neoliberalismus ist somit eine zutiefst gegenläufige, letztlich selbstdestruktive Komponente eingeschrieben, die sich am deutlichsten wohl am Funktionieren oder, präziser, Nichtfunktionieren des deregulierten Finanzsektors manifest machen lässt. Die Globalisierung und Virtualisierung der Finanzmärkte, die radikale Kompression des Raum-Zeit-Gefüges, die Deterritorialisierung finanzieller Zirkulation und deren komplexe, technologiebasierte weltweite Koordination nährten eine fatale Illusion  : Die Vorstellung einer weitgehenden oder gänzlichen Autonomie des Finanzsektors von der realen Produktion, von menschlichem Input und der moralischen Ökonomie konkreter Arbeit. Erst dies hat die Konzepte von Wertschöpfung ausschließlich durch den digitalisierten reinen Tausch und mit diesen Konzepten die spekulativen Dimensionen des neuen Kapitalismus so zwingend und geschichtsmächtig werden lassen (Hart 1995  : 39). Wenn auch auf der Basis revolutionärer Kommunikations- und Informationstechnologie, wenn auch unter Rückgriff auf die aktuellsten und ausgefeiltesten Modelle der Finanzmathematik  : Diese neue, „dematerialisierte“ Finanzarchitektur mobilisierte, in eigenartiger Umkehr ihrer ureigenen Prinzipien, zunehmend das Irrationale. Zum einen galt es, mit den modernsten Mitteln und fortgeschrittensten Formen der Zweckrationalität dort Kapital zu schaffen, wo vorher nichts war. Es galt, digitale Geldläufe um ihrer selbst willen zu beschleunigen, mit hoher 15 2008 lag die Arbeitslosenquote in der stärksten Wirtschaftsmacht Afrikas bei 22 %, mehr als ein Drittel der Bevölkerung (in ihrer überwältigenden Mehrheit Schwarze) lebte von weniger als zwei Dollar pro Tag, 5,7 Millionen Menschen, mehr als in irgendeinem anderen Land der Welt, waren HIV-positiv, die Kriminalität war aus allen Grenzen gelaufen, das öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen de facto inexistent.

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Mathematik Werte aus dem Nichts zu generieren, immensen Mehrwert aus der reinen, von jeglicher Produktivität abgehobenen und selbstreferenziellen Zirkulation zu schöpfen. Zum anderen aber schafft genau diese Konfiguration aus sich heraus das schiere Gegenteil – nämlich Irrationalität, Zahlenmystik und eben eine neue, virtuelle Form der mittelalterlichen Alchemie. Dieserart wird der neoliberale Kapitalismus nicht nur zur Ideologie, sondern zur magischen Form, zur Beschwörung der creatio ex nihilo und schließlich zum Okkultismus. Der hyperrationale Spätkapitalismus, der angetreten war, die liberale Utopie des Individuums umfassend und endgültig zu realisieren, schlägt so um in sein Gegenteil – in die radikale Negation der Aufklärung. Erstmals sprach, wie oben angemerkt, Susan Strange Mitte der 1980erJahre von einem casino capitalism und diagnostizierte radikale Transformationen des internationalen Finanzsystems, die es zunehmend einer „gewaltigen Glücksspielhalle“ ähneln ließen  : „[It] has made inveterate, and largely involuntary, gamblers of us all“ (Strange 1986  : 3). David Harvey hat diesen Kasinokapitalismus als das Epizentrum jener gewaltigen Umverteilungsmaschinerie im Gefolge der neoliberalen Revolution bezeichnet  : Eine „Akkumulation durch Enteignung“ sei in großem, neuartigem Stil umgesetzt worden, mittels Ponzi-Schemata (d.i. Pyramidenspielen), Insiderhandel, irrealen und irreführenden Renditevorgaben, bewussten und korrupten Fehlbewertungen toxischer Derivate durch private und keinerlei Kontrollen unterliegende Rating-Agenturen, damit zusammenhängend die Plünderung der enormen Kapitalkraft von privaten/privatisierten Pensionskassen und (Sozial-)Versicherungen, und einer Unmenge weiterer, wenn auch ähnlich gelagerter Praktiken mehr (Harvey 2005  : 159, 161). Die in den 1990er-Jahren formierte globale Finanzarchitektur war so gleichermaßen von höchster Komplexität wie zunehmend von Fragilität, Volatilität, Krisen- und Störungsanfälligkeit gekennzeichnet  ; ja in der Retrospektive erscheint diese Periode als eine mehr oder minder nicht enden wollende Abfolge schwerer und schwerster Krisen, die gleichwohl auf die Peripherie und die Schwellenländer beschränkt (Mexiko 1995, Brasilien 1998, Argentinien 2001) und damit beherrschbar blieben (immerhin hatte Japan in der asiatischen Krise 1997/98 zur Rettung seiner Volkswirtschaft nicht weniger als ein Viertel seines Bruttoinlandsproduktes aufwenden müssen). Ab Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts aber mehrten sich massiv die Vorzeichen dafür, dass in ihren Konsequenzen nicht absehbare Krisenerscheinungen das Zentrum des internationalen Finanzkapitalismus zu erfassen begonnen hatten. In einer „materialistischen Analyse“ verwiesen so M. C. Howard und



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J. E. King (2008  : 7) nachdrücklich auf die „potenzielle Fragilität“ eines auf neoliberaler Basis operierenden internationalen Finanzsystems, dessen wohl einzigartige Krisenanfälligkeit jederzeit alle anderen Sektoren der Ökonomie mitreißen könne. David Harvey kam in seiner 2005 publizierten kurzen Geschichte des Neoliberalismus zu dem Schluss  : „But when the income and wealth inequalities reach a point – as they have today – close to that which preceded the crash of 1929, then the economic imbalances become so chronic as to be in danger of generating a structural crisis“ (Harvey 2005, 188f.). Nicht erst und nicht allein die großen Kriminalfälle von Enron bis Madoff sollten diese Einschätzungen eindrucksvoll bestätigen  ; das so hippe und gehypte angloamerikanische Finanzkasino hat vielmehr den Keim der Selbstzerstörung von Beginn an in sich getragen. Literatur Aglietta, Michel  : Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg 2000. Aglietta, Michel  : Into a New Growth Regime. In  : New Left Review 54 (November/December 2008), 61–74. Anderson, Perry  : Renewals. In  : New Left Review 1 (January/February 2000), 5–24. Beaud, Stéphane/Pialoux, Michel  : Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard, Konstanz 2004. Blackburn, Robin  : Finance and the Fourth Dimension. In  : New Left Review 39 (May/June 2006), 39–70. Blyth, M.: Great Transformations  : Economic Ideas and Institutional Change in the Twentieth Century, Cambridge 2002. Boltanski, Luc/Chiapello, Éve  : Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. Buchanan, James M.: The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan. The Collected Works. Vol. 7, Indianapolis 1999. Bude, Heinz  : Die Welt nach Marx. In  : Merkur 718 (2009), 266–270. Caldwell, Bruce  : Hayek’s Challenge  : An Intellectual Biography of F. A. Hayek, Chicago/London 2004. Chomsky, Noam  : Profit Over People. Neoliberalism and Global Order, New York/Toronto/London 1999. Comaroff, Jean and Comaroff, John L.: Millennial Capitalism. First Thoughts

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Verteilung im Zeitalter des Neoliberalismus

Das Ziel der Fiskalpolitik als einem keynesianischen Steuerungselement der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist es, Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder zu verringern. Damit nimmt die Fiskalpolitik durch die Stabilisierung der Wirtschaft nicht nur über das Wachstum, sondern insbesondere auch über die Beschäftigung Einfluss auf die Verteilung. Ein weiteres Argument für Maßnahmen zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit ist Hysterese. Gerade das Beispiel der „Ölpreisschocks“ hat gezeigt, dass die Arbeitslosigkeit nach einem Schock nicht automatisch wieder zu ihrem ursprünglichen, „natürlichen“ Niveau zurückkehrt. Demgegenüber wird im Neoliberalismus die Notwendigkeit von Haushaltsdisziplin betont. Ein Indikator für „Haushaltsdisziplin“ ist der Primärsaldo. Der Primärsaldo ist die Differenz zwischen Staatseinnahmen und primären Staatsausgaben, also den Gesamtausgaben des Staates ohne Zinszahlungen. Grafik 5  : Primärsaldo in % des BIP pro Kopf 15 10 Österreich 5

Dänemark Finnland

-5

1974 974 976 1976 978 1978 980 1980 982 1982 984 1984 986 1986 988 1988 990 1990 992 1992 994 1994 996 1996 998 1998 000 2000 002 2002 004 2004 006 2006

0

Niederlande Schweden Schweiz

-10 -15 Quelle  : OECD 2007a

 Mit Hysterese ist gemeint, dass ein Schock und die damit verbundene Arbeitslosigkeit das Niveau der Arbeitslosigkeit dauerhaft erhöhen kann. Begründet wird das mit sinkender Qualifikation und Arbeitsmotivation infolge von Arbeitslosigkeit.

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Der Durchschnitt über die gesamte Periode ergibt nur für Österreich (–0,43 % des BIP) und Schweden (–1 % des BIP) einen negativen Primärsaldo. In Dänemark und Finnland ist der Primärsaldo mit 2 % beziehungsweise 1,8 % deutlich positiv. Der österreichische Primärsaldo weist die geringsten Schwankungen und eine sehr kontinuierliche Entwicklung auf. Von 1975 bis 1989 war er negativ, wobei er in den Krisenjahren 1981 bis 1983 leicht sank. Seit 1997 hat Österreich einen positiven Primärsaldo, der bei rund 1 % des BIP liegt. Starke Schwankungen gab es hingegen besonders in Dänemark, Finnland und Schweden. Dänemark betrieb eine sehr aktive Konjunkturpolitik. In Krisenzeiten sank der Primärsaldo und in Boom-Phasen stieg er drastisch an (von 1982  : –7,4 % auf 1986  : +9,5 %). Für die Niederlande, Schweden und Finnland zeigt sich zwar auch eine deutlich aktivere Konjunkturpolitik in Krisenzeiten als in Österreich, die Boom-Phasen wurden aber nicht immer zur Steigerung des Primärsaldos genützt. In längeren Boom-Phasen (Finnland 1978–1989 und Schweden 1986–1995) blieb der Primärsaldo oftmals auf dem gleichen Niveau. Ab ca. 1997/98 ist eine Konvergenz der Primärsalden zu bemerken, die auf die Maastricht-Kriterien zurückgeführt werden kann. Für den gesamten Zeitraum zeigt sich über alle Länder eine aktive Fiskalpolitik, wobei in den einzelnen Ländern die Bereitschaft für interventionistische Maßnahmen unterschiedlich ausgeprägt war. Damit orientierte sich die Wirtschaftspolitik an keynesianischen Empfehlungen und steht im Widerspruch zu neoliberalen Vorstellungen. Die Phase niedrigen Wachstums in den Jahren 2002 bis 2004 zeigt aber auch, dass die Bereitschaft zu einer aktiven antizyklischen Fiskalpolitik in den letzten Jahren abgenommen hat beziehungsweise durch die institutionellen Rahmenbedingungen (Stabilitätsund Wachstumspakt) eingeschränkt wurde. In der Geldpolitik sah Keynes ein wichtiges Instrument der Konjunkturund Wachstumspolitik. Die von der Geldpolitik mitbestimmte Höhe der Zinsen beeinflusst die funktionale Einkommensverteilung. Eine Möglichkeit, die von Zinsen ausgehenden Verteilungswirkungen abzuschätzen, sind Zins-Wachstums-Differenzen. Sind die kurzfristigen realen Zinsen höher als das reale Wirtschaftswachstum, kommt es zu einer Umverteilung von Kreditnehmern zu Kreditgebern und Vermögensbesitzern. Diese Umverteilung (positive Zins-Wachstums-Differenzen) verschärft nicht nur die Ungleichheit der Einkommensverteilung, sondern wirkt auch dämpfend auf reale Investitionen und das Wirtschaftswachstum. Umgekehrt ist es im Fall negativer Zins-Wachstums-Differenzen (Hein/Truger 2007  : 735).



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Über den gesamten Betrachtungszeitraum hatten alle in die Analyse einbezogenen Länder positive Zins-Wachstums-Differenzen. In Österreich lagen diese allerdings mit 0,05 % nahe an null. Die Niederlande hatten 0,15 %, Finnland 0,77 % und Schweden 0,86 %, während sie in Dänemark mit 1,77 % ungewöhnlich hoch lagen. Damit ging im Betrachtungszeitraum von der Geldpolitik ein (mehr oder weniger) starker Umverteilungsdruck zugunsten der Kreditgeber und Vermögensbesitzer aus. Wenn man von der Währungskrise in den skandinavischen Ländern Anfang der 1990er-Jahre absieht, sind die Niveaus und Verläufe der Zins-Wachstums-Differenzen in allen herangezogenen Ländern ähnlich  : Bis Anfang der 1980er-Jahre wechseln sich positive und negative Zins-Wachstums-Differenzen ab. Danach sind sie bis Mitte der 1990er-Jahre dauerhaft positiv. Bis 2007 bewegen sie sich um Null und sind tendenziell leicht negativ. Da hohe Zins-Wachstums-Differenzen nicht nur zu einer Verteilung von unten nach oben führen, sondern auch das Wirtschaftswachstum dämpfen, ist es besonders in Krisenphasen wichtig, dass die Geldpolitik durch niedrige Zinssätze die Investitionstätigkeit fördert. Empirisch zeigt sich für die behandelten Länder im ersten Jahr einer Krise meist ein hohes Niveau der Zins-Wachstums-Differenzen, das im Verlauf der Krise sinkt (abgesehen von den skandinavischen Krisen Anfang der 1990er-Jahre). Damit reagiert die Geldpolitik zwar etwas verspätet, kann aber durchaus als aktiv bezeichnet werden. Die von den Zentralbanken verfolgten Strategien haben sich im Untersuchungszeitraum immer wieder verändert und lassen sich nur eingeschränkt dem Keynesianismus oder dem Neoliberalismus zuordnen. Anhand der Daten zeigt sich aber, dass die Geldpolitik aktiv zur Steuerung im Konjunkturverlauf eingesetzt wird. Das steht in einem klaren Widerspruch zu Friedmans Vorstellungen und entspricht im Prinzip den keynesianischen Politikempfehlungen.

7. Beschäftigungs-Kanal Die wohl wichtigste keynesianische Forderung an die Wirtschaftspolitik besteht darin, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Beschäftigungschancen werden als Möglichkeit der Partizipation an ökonomischem Wohlstand gesehen, aber auch als Mehrung ebendieses Wohlstandes. Demgegenüber sieht Friedman keine Möglichkeit für den Staat, diese Forderung umzusetzen. Für ihn entsteht (im Übrigen  : freiwillige) Arbeitslosigkeit dort, wo Arbeitsmärkte aufgrund institu-

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tioneller Rahmenbedingungen nicht zu einem Lohn führen, der Arbeitslosigkeit verhindert. Folglich werden möglichst flexible Arbeitsmärkte gefordert. Betrachten wir die Datenlage zur Beschäftigung, so war lange Zeit bei den unselbstständig Erwerbstätigen eine statistische Erfassung vergleichsweise einfach möglich. Mit dem Anstieg der Teilzeitbeschäftigung, der geringfügig Beschäftigten und der neuen Beschäftigungsformen (z. B. Neue Selbstständige) ist dies nicht mehr der Fall. Die Daten zum Arbeitskräftepotenzial (labour force, jener Teil der Gesamtbevölkerung, der entweder einer Erwerbstätigkeit nachgeht oder eine solche aktiv sucht) werden großteils per Kopf, also nicht arbeitszeitbereinigt, ausgewiesen. So schätzen zum Beispiel Günther Chaloupek et al. (2008) für Österreich, dass sich die unselbstständig Beschäftigten zu Vollzeitäquivalenten von 1996 bis 2005 nur um 19.000 erhöht haben, obwohl die generellen Pro-Kopf-Zahlen einen weitaus höheren Anstieg ausweisen.

Arbeitskräfteangebot Im Untersuchungszeitraum war der stärkste Anstieg der Erwerbstätigkeit in den Niederlanden zu verzeichnen, gefolgt von der Schweiz. Finnland und Schweden haben beide in den frühen 1990er-Jahren einen Rückgang der Partizipationsrate zu verzeichnen (Finnland auf generell geringerem Niveau), in Österreich und Dänemark sind die geringsten Schwankungen aufgetreten, wobei dies in Dänemark eindeutiger ausgeprägt ist und auf höherem Niveau erfolgt. Halten wir uns vor Augen, dass die BIP-Entwicklung in den jeweiligen Ländern konvergent ist, so verwundert es, dass die Unterschiede im Arbeitskräfteangebot zwischen den Ländern relativ konstant geblieben sind (zwischen 15 Prozentpunkten am Anfang und 13 Prozentpunkten zum Ende der Untersuchungsperiode). In Österreich waren 2008 4,25 Millionen Personen erwerbstätig (nach dem Labour-Force-Konzept), wobei dies die Summe aus Beschäftigten und Arbeitslosen darstellt, also das Angebot an Arbeitskräften. Die Erwerbstätigkeit im erwerbsfähigen Alter (von 15 bis 65 Jahren) nach OECD Berechnung (Grafik 6) liegt im Mittel derzeit bei rund 80 %, wobei die Schweiz signifikant höhere und die Niederlande geringere Werte aufweisen als dieses Mittel.



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Grafik 6  : Arbeitskräfteangebot 1974–2008 90 85 Österreich

80

Dänemark 75

Finnland Niederlande

70

Schweden

65

Schweiz 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008

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Quelle  : OECD 2007c

Vergleichen wir das Arbeitskräftepotenzial mit den von uns identifizierten Phasen wirtschaftlicher Entwicklung, so ergibt sich folgendes Bild  : In der Phase niedrigen Wachstums, beginnend mit 2001, kam es in allen Ländern zu einem leichten Rückgang des Arbeitskräftepotenzials. Einzige Ausnahme bildeten die Niederlande. Als viel gravierender erwies sich der Rückgang allerdings von Beginn der 1990er-Jahre bis zu deren Mitte. Wenn neben den Niederlanden auch Österreich von der Krise in den frühen 1990er-Jahren verschont geblieben war, war dennoch ein leichter Rückgang der Beschäftigung vorzufinden. Als Erklärung dafür kann die hohe Exportorientierung der österreichischen Wirtschaft gesehen werden. Erwähnt werden muss an dieser Stelle auch, dass drei der betrachteten Länder 1995 der EU beigetreten sind (Schweden, Finnland und Österreich), Beschäftigungsveränderungen auch den Anpassungen im Vorfeld dazu geschuldet sein könnten. In Österreich gab es einen starken Rückgang des Arbeitskräftepotenzials während der krisenhaften Phase Ende der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre, wenngleich auch festzuhalten bleibt, dass Krisen keinesfalls immer mit einem Rückgang des Arbeitskräftepotenzials gekoppelt sind. An dieser Stelle sei auch noch erwähnt, dass Österreich und die meisten skandinavischen Länder (Becker 2008, 233f.) einen hohen Anteil an Bediensteten im öffentlichen Sektor aufzuweisen haben, der stabilisierende Effekte

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auf die Wirtschaft ausübt, besonders in Krisenzeiten  : 1998 waren es in Österreich 29 % – im Vergleich zu nur 15 % in Deutschland und 6 % in den Niederlanden. Die Zahl der öffentlich Beschäftigten wurde aber in Österreich in den 2000er-Jahren verstärkt reduziert. Der Trend der Verlagerung von Arbeitsplätzen im sekundären Sektor zu solchen im tertiären Dienstleistungssektor ist generell ein Spezifikum industrialisierter Länder. Auch der steigende Teilzeitanteil – wie die Zunahme atypischer Arbeitsformen überhaupt – ist integraler Teil einer globalen Entwicklung, begünstigt und beschleunigt nicht zuletzt durch Anforderungen und wirtschaftspolitische Vorgaben der Europäischen Union, er hängt auch mit der Bedeutungsverschiebung der Sektoren zusammen. Der Anstieg der Erwerbstätigkeit geht fast ausschließlich auf den Anstieg der Frauenberufstätigkeit zurück (zur Entwicklung der Beschäftigung nach Geschlecht siehe den Artikel von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band). Hier sei in aller gebotenen Kürze wiederholt, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts deutlich mehr Frauen unselbstständig beschäftigt sind, als dies noch vor 30 Jahren der Fall war. Diese Beschäftigung allerdings ist in vielen Fällen nicht existenzsichernd. Die arbeitsmarktlichen Begründungen für die schlechtere Absicherung von Frauen trotz Erwerbsarbeit liegen im Wesentlichen in einer Kombination aus kurzen Erwerbsarbeitszeiten und Tätigkeiten in Niedriglohnbranchen.

Geschlechtsspezifische Verteilung der Erwerbsarbeit Vergleicht man die Werte für die EU-15 von 1995 und 2006, so betrug vor mehr als zehn Jahren die Differenz in den Beschäftigungsquoten zwischen Männern und Frauen noch rund 21 Prozentpunkte, während sie 2006 nur noch rund 15 Prozentpunkte ausmachte. Es ist demzufolge ein deutliches Aufholen der Frauen zu konstatieren. Der employment gap, also die angesprochene Differenz in den Beschäftigungsquoten zwischen den Geschlechtern, reicht von rund 40 Prozentpunkten in Malta bis zu rund fünf Prozentpunkten in Schweden (Europäische Kommission 2007a).



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Grafik 7  : Verlauf der Erwerbsquoten 1975–2007 nach Geschlecht (durchgehend = Männer, strichliert = Frauen) und Ländern 90

100 90 80 70 60 50 Males 40 Female 30

80 70 60 50 40 30

Males Female

2007

2005

2003

2001

1999

1997

1995

1993

1991

1989

1987

1985

1983

1981

1979

2007

2005

2003

2001

1999

1997

1995

1993

1991

1989

1987

1985

1983

1981

1979

1977

1975

0

1977

10

1975

20 10 0

20

Schweden

Österreich 90

120

80

100

70 60

80

50 Males 40 Female 30

60 40

Males Female

20

20

10 2007

2005

2003

2001

1999

1997

1995

1991

1993

Dänemark

Niederlande Quelle  : OECD 2008

2007

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2001

1999

1997

1995

1993

2007

2005

2003

2001

1999

1997

1995

1993

1991

1989

1987

1985

1983

1981

1979

0

1991

10

Female

1989

20

Males

1987

30

1985

40

1983

50

1981

60

100 90 80 70 60 Males 50 40 Female 30 20 10 0 1979

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1977

80

1975

90

1977

1989

Finnland

Schweiz

1975

1987

1985

1983

1981

1979

1975

1977

0

2005

2003

2001

1999

1997

1995

1993

1991

1989

1987

1985

1983

1981

1979

1977

1975

0

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Die bekannten wohlfahrtsstaatlichen Systeme reproduzieren sich hier in den Verläufen der Erwerbsquoten 1975–2007 nach Geschlecht. Während die skandinavischen Länder eine egalitärere Struktur in der geschlechtsspezifischen Erwerbstätigkeit aufweisen, sind die Niederlande, die Schweiz und Österreich viel konservativer im Erwerbsverhalten (stärkerer Gap in der Erwerbstätigkeit von Frauen, wenn auch mit abnehmender Tendenz). Grafik 8  : Genderanteil an der zivilen Beschäftigung/Männer in %10 75 70 Österreich 65

Dänemark Finnland

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Niederlande Schweden

55

Schweiz 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006

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Quelle  : OECD 2007c

In Bezug auf den Genderanteil wird ein Rückgang der „Männlichkeit“ von Beschäftigung evident, wie sich auch die einzelnen Staaten zunehmend angleichen. Die egalitärsten Länder sind heute immer noch Finnland, Schweden und Dänemark, wie auch drei Jahrzehnte davor. Wichtig ist festzuhalten, dass diese Daten nicht arbeitszeitbereinigt sind, daher wieder nur Pro-Kopf-Daten enthalten, die über das Ausmaß und die Entlohnung der Beschäftigung keine Informationen aufweisen (zu geschlechtsspezifischen Einkommensunterschieden siehe den Artikel von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band). 10 Wird die zivile Beschäftigung betrachtet, so sind Personen im Militärdienst nicht inkludiert, wie auch Personen in Anstalten (seien diese Gefangene oder geistig Behinderte) nicht hinzugezählt worden.



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Zeitliche Formen der Beschäftigung Die zunehmende Beschäftigungsquote von Frauen wird stark relativiert, wenn nur die sogenannten Vollzeitäquivalente analysiert werden, da Frauen verstärkt über Teilzeitbeschäftigung Zugang in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Auch bei der Teilzeitbeschäftigung gibt es große Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten  : Der EU–27-Durchschnitt beträgt 31 % bei Frauen, 7,7 % bei Männern. Mit Ausnahme von Dänemark und Schweden ist in den Ländern mit höherem Teilzeitanteil der Frauen die Teilzeitbeschäftigung von Männern im Vergleich dazu verschwindend gering (Eurostat 2008). So sind z. B. in Österreich 2007 über 40 % der Frauen, aber nur rund 7 % der Männer teilzeitbeschäftigt. Im Beispielfall Österreich hat sich, nach landesüblicher Berechnung der Statistik Austria, der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an den unselbstständig Erwerbstätigen (Teilzeitquote) in unserem Zeitraum fast verdreifacht, wobei die Zahl der Teilzeit arbeitenden Frauen wesentlich stärker gestiegen ist (siehe Abbildung 2 im Artikel Grisold/Waltner/Zwickl). Der starke Anstieg der Teilzeitarbeitenden setzt dabei kurz vor dem EU-Beitritt Österreichs 1993 ein. Diese Entwicklung ist durchaus auffallend, auch unter Beachtung der bestehenden Zeitreihenbrüche ist eine klare Tendenz erkennbar. Nicht in allen Ländern wurde ein hohes Beschäftigungsniveau von Frauen über Teilzeit erreicht. So zeigt das finnische Beispiel, dass eine hohe Frauenbeschäftigungsquote mit Vollzeiterwerbstätigkeit gekoppelt sein kann. Für Teilzeitanteile an der Gesamtbeschäftigung sind vergleichbare Daten erst seit der EU-Erweiterung 1995 verfügbar. In Grafik 9 (S. 90) sind die Daten von 1997 bis 2008 dargestellt. In diesem Zeitraum stieg die Teilzeitbeschäftigung in allen Ländern, wobei Österreich den stärksten Anstieg der Teilzeitbeschäftigung von 59 % aufzuweisen hat, Dänemark den niedrigsten mit 9 %, die restlichen Länder bewegen sich zwischen 17 und 31 %. Die Niederlande haben einen wesentlich höheren Teilzeitanteil als die restlichen Länder, besonders im öffentlichen Sektor wird viel Teilzeit gearbeitet, und dies mit einem Stundenanteil, der eine eigenständige Existenz zu sichern vermag. Auch die Schweiz weist überdurchschnittliche Teilzeitanteile auf, unterdurchschnittlich ist, wie bereits angesprochen, Finnland. Generell ist eine gewisse Konvergenz zwischen Österreich, Dänemark und Schweden zu bemerken.

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Grafik 9  : Anteil der Teilzeitbeschäftigten an der Gesamtbeschäftigung für Länder mit mittlerem und hohem Teilzeitanteil, 1997 bis 2008 28 26 24 22

Österreich

20

Dänemark

18

Finnland

16

Schweden

14 12 10 199719981999200020012002200320042005200620072008

48 46 44 42 40 38

Niederlande

36

Schweiz

34 32 30 28 199719981999200020012002200320042005200620072008 Quelle Eurostat 2009



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Arbeitslosigkeit Fast alle der untersuchten Länder zählen traditionell wie aktuell zu den Ländern mit sehr niedriger Arbeitslosigkeit, sie sind innerhalb der EU im Spitzenfeld geringer Arbeitslosigkeit zu finden (Dänemark, Niederlande, Österreich). Die verfügbaren Daten zur Arbeitslosigkeit (Grafik 10) machen deren starke Konjunkturabhängigkeit deutlich. In den krisenhaften Phasen zu Beginn der 1980er-Jahre stieg die Arbeitslosigkeit, wesentlich heftiger allerdings fiel der Anstieg der Arbeitslosenquote zu Beginn der 1990er-Jahre aus. Wenn auch mit der Konjunkturerholung eine deutliche Entspannung eintrat, konnte doch das niedrige Ausgangsniveau nicht mehr erreicht werden. Grafik 10  : Arbeitslosigkeit 1975–2007 18 16 14 12

Österreich

10

Dänemark

8

Finnland

6

Niederlande

4

Schweden

2

Schweiz 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007

0

Quelle  : Europäische Kommission 2007b

Das größte Problem stellt in diesem Zusammenhang die Langzeitarbeitslosigkeit dar, da die Chancen des Wiedereinstiegs ins Arbeitsleben mit der Dauer der Arbeitslosigkeit beträchtlich sinken. Wenn auch Eurostat für die letzten elf Jahre ein diesbezügliches kontinuierliches Sinken in Prozent der Erwerbsbevölkerung ausweist (mit Ausnahme der Niederlande und Schweden von 2001 bis 2005), und wiederum alle herangezogenen EU-Länder deutlich unter dem EU-15-Schnitt liegen, fallen doch laut OECD auch in

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diesen Wohlfahrtsstaaten rund 25 % aller Arbeitslosen in die Kategorie der Langzeitarbeitslosen, sind also länger als ein Jahr ohne Beschäftigung. Inkludiert man gemäß der österreichischen Methode zur Berechnung der Arbeitslosigkeit auch SchulungsteilnehmerInnen etc.,11 so wird deutlich, dass in diesem erweiterten Verständnis die Arbeitslosenrate nicht nur steigt, sondern dass der Gap zwischen den beiden Berechnungsarten im Zeitverlauf immer größer wird. Die tatsächliche Höhe der Arbeitslosigkeit wird demnach, dies zumindest in Österreich, in immer größerem Ausmaß unterschätzt. In den letzten drei Jahrzehnten wurden Arbeitsmärkte zunehmend flexibler gestaltet. Diesen Befund zeigen auch andere Artikel in diesem Ban. Somit wurde einer zentralen Forderung des Neoliberalismus Rechnung getragen. Keineswegs aber wurde damit auch die positive Auswirkung erreicht, die neoliberale TheoretikerInnen proklamieren. Eine geringere Arbeitslosigkeit als Folge ist eben nicht eingetreten. Daneben lässt das gestiegene Niveau der Arbeitslosigkeit auch in diesen klassischen Wohlfahrtsstaaten vermuten, dass die Wirtschaftspolitik ihre Möglichkeiten bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit als gering ansieht. Das Inkaufnehmen höherer Arbeitslosenraten stellt eine deutliche Abkehr vom Keynesianismus dar.

8. Einkommens-Kanal In postkeynesianischen Wachstumsmodellen spielt die Verteilung der Einkommen eine zentrale Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung. Da niedrige Einkommensgruppen einen größeren Anteil ihres Einkommens konsumieren, wirken sich Einkommensänderungen dieser Gruppen stärker auf die Gesamtnachfrage in der Ökonomie aus. In einer von der Nachfrage bestimmten Ökonomie wird es daher durch stärkere Ungleichverteilung zu einer geringeren Kapazitätsauslastung und Arbeitslosigkeit kommen. Im Neoliberalismus hingegen spielen Begrenzungen der Nachfrage keine Rolle. Die Verteilung sollte daher dem Markt überlassen werden, welches Ergebnis das auch immer bringen mag. In der Analyse der Verteilung von Einkommen in einer Volkswirtschaft kann zwischen funktionaler und personaler Einkommensverteilung unterschieden werden. Erstere bezeichnet die Verteilung der Lohneinkommen zu den Gewinneinkommen. Die personale Einkommensverteilung hingegen 11 Wir danken Rainer Eppel für die Zurverfügungstellung der entsprechenden Daten (Eppel 2008).



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analysiert die Verteilung des volkswirtschaftlichen Einkommens auf unterschiedliche Gruppen oder Personen. Die Einkommensverteilung wird von politischen Vorgaben und wirtschaftspolitischen Ausrichtungen beeinflusst. Es ist ein charakteristisches Bestimmungsmerkmal des Neoliberalismus, explizit nicht einkommensnivellierend vorgehen zu wollen, d. h. staatliche Aktivitäten zur Umverteilung von Einkommen generell abzulehnen. Nun sind die hier behandelten Länder, besonders die skandinavischen, bekannt für ihre stärkere Ausrichtung auf Einkommensgleichheit. Aber auch in diesen Fällen hoch entwickelter Wohlfahrtsstaaten12 war im Zeitablauf der letzten Jahrzehnte eine Verschiebung zu bemerken, eine Veränderung in der Entwicklung der Disparität der Einkommensverteilung, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.

Funktionale Einkommensverteilung Die Lohnquote gibt den Anteil der Bruttoentgelte für unselbstständige Beschäftigung am gesamten Volkseinkommen an, dies gegenüber den Einkommen aus Besitz und Unternehmung. Die „bereinigte“ Lohnquote berücksichtigt zusätzlich Verschiebungen im Verhältnis der Anzahl von Selbstständigen zu Unselbstständigen. Österreich verzeichnete über die ersten 75 Jahre des 20. Jahrhunderts eine stetig steigende Lohnquote. In den 1970er-Jahren erreichte sie ihren Höchststand  : sowohl im Vergleich aller Untersuchungsländer als auch in der innerstaatlichen historischen Langzeitentwicklung. Seit dem Ende der 1970er-Jahre ist die Lohnquote nunmehr rückläufig. Österreich weist im Betrachtungszeitraum den vergleichsweise stärksten Rückgang auf.13 Ein ähnlicher, aber geringer fallender Verlauf der Lohnquoten zeigt sich in den Niederlanden und in Dänemark, sie haben ein niedrigeres Ausgangsniveau, aber auch einen geringeren Abstieg. Für Österreich hingegen ist auch in Bezug auf die Lohnquote der kontinuierlichste Verlauf festzustellen.

12 Im folgenden Unterkapitel wird die Schweiz aufgrund der fehlenden Daten nicht inkludiert. 13 Zur Berechnung der Lohnquoten siehe Chaloupek et al. 2008.

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Grafik 11  : Bereinigte Lohnquote 75 70 Österreich 65

Dänemark Finnland

60

Niederlande Schweden

55

EU 15 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007

50

Quelle  : Europäische Kommission 2007b

Im Untersuchungszeitraum werden die Lohnquoten immer konvergenter, wobei Finnland und Österreich etwas nach unten „ausreißen“, die anderen Länder befinden sich 2007 bei einer einheitlichen Lohnquote von ca. 57 %. Als Begründungen für das Fallen der Lohnquote werden steigende Arbeitslosigkeit und das starke Wachstum der Vermögenseinkommen angeführt, wobei der Anstieg der Arbeitslosigkeit eine Schwächung der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite bei Lohnverhandlungen nach sich zieht (Guger/Marterbauer 2004). Ebenso darf die Globalisierung mit der daraus folgenden Rationalisierung und der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte (Ausgliederungen, Leiharbeit, neue Arbeitszeitmodelle und Erhöhung der Teilzeitbeschäftigung) als Begründung nicht außer Acht gelassen werden. In Österreich sind es bei den Vermögenseinkommen insbesondere die Einkommen aus Vermietung und Verpachtung, die Einkünfte aus Finanzvermögen und die Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit, die in den 1990er-Jahren ungewöhnlich starke Anstiege aufweisen (ebd. 2004). Die bereinigte Lohnquote hatte in Österreich zumindest ab 1945 und bis Mitte der 1970er-Jahre eine erstaunliche Konstanz zu verzeichnen, sowohl allgemein als auch für die isolierte Betrachtung des Marktsektors (exklusive öffentlicher Sektor, manchmal auch exklusive Land- und Forstwirtschaft, da diese stark subventioniert wird). Dies entspricht einer parallelen Entwicklung von



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Reallohn und gesamtwirtschaftlicher Produktivität, für die die sozialpartnerschaftliche Wirtschaftspolitik in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik verantwortlich zeichnete. Für den Zeitraum 1976–2006 kann nunmehr gezeigt werden, dass der Rückgang der Lohnquote im sogenannten Marktsektor stärker ist als in der Gesamtwirtschaft. In dieser Periode ist der Staatssektor (gemessen als Anteil am BIP) nur wenig gewachsen, von 17 % 1976 auf 18,6 % 2006. Chaloupek et al. (2008  : 35ff.) stellen weiters fest, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Lohnquote in Zeiten hohen Wirtschaftswachstums stärker verringerte, in Zeiten der Rezession dafür zunahm oder der Rückgang sich verlangsamte. Davor war Ähnliches mit umgekehrtem Vorzeichen zu bemerken  : Von 1950 bis 1980 erhöhte sich die Lohnquote in Boomzeiten weniger, stieg aber in Rezessionszeiten stärker. Nun muss eine sinkende Lohnquote nicht zwangsläufig eine Verschlechterung der Verteilungsposition der ArbeitnehmerInnen bedeuten, wenn breite Schichten der ArbeitnehmerInnen Nebeneinkünfte aus Kapitalbesitz lukrieren können. Die Vermögenseinkommen der Haushalte sind im Untersuchungszeitraum zwar am stärksten von allen Besitzeinkommen gestiegen, das Finanzvermögen ist aber stark bei den obersten Einkommensdezilen konzentriert (siehe für Österreich  : Beer et al. 2006  ; Chaloupek et al. 2008), daher setzt es die Verteilungswirkung des Falls der Lohnquote für weite Teile der nicht begüterten ArbeitnehmerInnen nicht außer Kraft. Einen Erklärungsansatz, warum die Lohnquote seit den 1970ern in den führenden Industriestaaten stetig sinkt, bietet die Globalisierung. Beim Übergang zur Handelsfreiheit können hoch industrialisierte Länder mit hoher Kapitalausstattung ihre Erträge auf Kapital auf Kosten der Löhne steigern, wohingegen in weniger industrialisierten Ländern mit hohem Arbeitskraftanteil die Löhne stärker zulegen. Für Österreich kann dies aufgrund einer verstärkten Klein-Globalisierung mit der Ostöffnung noch einmal pointierter gezeigt werden, wie Breuss (2007) anhand einer ökonometrischen Studie darlegt. Seine Schlussfolgerung ist : Wenn ein Ausgleich erzielt werden soll, so müssen den multinational agierenden Firmen international agierende Gewerkschaften gegenüberstehen. Die Lohnquote, die in den 1960er und 1970er-Jahren konstant bei 70 % lag, fiel stärker als in anderen „reichen“ EU-Industriestaaten. Österreich hat von der Ostöffnung stärker profitiert, die Gewinne daraus haben sich aber nicht gleichgewichtig verteilt. Daraus schließen ökonomische Analysten, dass die Verhandlungsmacht der VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen (Gewerkschaften) geschwächt wurde. Wiederholt wurde bereits angesprochen, dass die Lohnpolitik mit der Produktivitätsentwicklung nicht Schritt halten konnte, daher die Fortschritte

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in der Produktion nicht an die Beschäftigten weitergegeben wurden – was notwendigerweise zum Sinken der Lohnquote führen muss. Um die Veränderungen in der Lohnpolitik zu analysieren, wurde ein Index für die Reallohnentwicklung (Bruttolöhne inklusive Abgaben der ArbeitnehmerInnen, bereinigt um den Konsumentenpreisindex) mit einem Index zur Produktivitätsentwicklung in der Vorperiode verglichen (beide Indizes mit Basisjahr 2000). Bleibt die Reallohnentwicklung hinter der Produktivitätsentwicklung der Vorperiode zurück, ergibt sich ein negativer Wert. Tabelle 2 beinhaltet die Durchschnittswerte der Jahre 1976 bis 2006. Es zeigt sich deutlich, dass von „Lohnzurückhaltung“ gesprochen werden kann. Die Durchsetzungsfähigkeit von Lohnforderungen stellt sich in allen untersuchten Ländern als negativ dar, die Löhne sind nicht so stark gestiegen wie die Arbeitsproduktivität. In Schweden und Österreich fiel dieser mangelnde Reallohnzuwachs am stärksten aus. Der Reallohnzuwachs lag im Schnitt jährlich rund 0,5 Indexpunkte hinter dem Produktivitätsanstieg.

Tabelle 2  : Entwicklung der realen Löhne verringert um das ­Produktivitätswachstum der Vorperiode (Index) 1976–2006

Mittelwert

Österreich

Dänemark

Finnland

Niederlande

Schweden

–0,478

–0,153

–0,431

–0,239

–0,508

Quelle  : Europäische Kommission 2007b und OECD 2007a, eigene Berechnungen

Wird die Reallohnentwicklung vor dem Hintergrund der Wirtschaftsentwicklung analysiert, so ist lediglich in Schweden ein sofortiger Rückgang der Lohnentwicklung in Krisenzeiten zu beobachten. In Finnland bewirkte die starke Krise in den 1990er-Jahren eine verzögerte, dann aber besonders kräftige Lohnzurückhaltung, während in Dänemark die Reallöhne zunächst stärker als die Produktivität stiegen (d. h., es erfolgte eine kurzfristige Umverteilung zu den Lohneinkommen), in der Folge kam es dann aber zu einem stärkeren Abfall. Die Niederlande hatten ihre Krise zu Beginn der 1980erJahre mit einer lang anhaltenden Lohnzurückhaltung beantwortet (negativ bis 1986), zu Beginn der 2000er-Jahre hingegen ist die Lohnentwicklung in der Krise vorerst nicht fallend, sehr wohl aber danach. Schwankungen sind aber in allen Ländern auch ohne Krise feststellbar.



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Es ist den unselbstständig Beschäftigten im Zeitalter des Neoliberalismus also nicht gelungen, eine Steigerung ihrer Reallöhne im Ausmaß des Produktivitätsanstieges zu erzielen. Ein Erklärungsansatz, neben der gestiegenen Arbeitslosigkeit, wäre, dass sich eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik leichter durchsetzen lässt, je besser die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung ist, also je höher das Wirtschaftswachstum ist. Eine Gegenüberstellung der Zeitreihen für die Lohnpolitik (Entwicklung der Reallöhne minus Produktivitätswachstum) und des Wirtschaftswachstums bestätigt diese Hypothese. In fast allen untersuchten Ländern folgen auf Perioden mit hohem Wachstum Reallohnabschlüsse, die höher waren als das Produktivitätswachstum. Eine Ausnahme stellt Österreich dar. Ab 1994 waren die Reallohnabschlüsse trotz positiver allgemeiner wirtschaftlicher Entwicklung deutlich geringer als das Produktivitätswachstum (abweichend lediglich das Jahr 2003).

Personale Einkommensverteilung Die Einkommensdisparitäten in Bezug auf die personale Verteilung haben sich in den letzten drei Jahrzehnten in fast allen Industrieländern erhöht, in Österreich und anderen kontinentaleuropäischen Ländern war diese Erhöhung aber geringer als in den USA oder Großbritannien. Die untersuchten Länder (mit Ausnahme der Schweiz) weisen ein sehr niedriges Niveau an Einkommenskonzentration auf (Förster/Mira dÉrcole 2005  : 9ff.), nach allen unterschiedlichen Berechnungsarten der Einkommenskonzentration, die im Report on Income Distribution and Poverty der OECD (ebd. 2005) aufgeführt sind, sind alle den Ländern mit den geringsten Einkommensungleichheiten zuzuordnen (ebd. 2005  : 10f.). Trotzdem ist im Untersuchungszeitraum ein Anstieg der Einkommensunterschiede und der Armutsbetroffenheit festzustellen. Dabei können generelle Trends zeitlich unterschieden werden (ebd. 2005  : 12ff.)  : Während von Mitte der 1970er-Jahre bis Mitte der 1980er-Jahre der Rückgang der Einkommensungleichheit noch überwog, war von Mitte der 1980er- bis Mitte der 1990er-Jahre in allen Ländern außer Österreich bereits ein Anstieg der Einkommensungleichheit zu diagnostizieren, der auch in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre anhielt, sich in Schweden und Finnland stark erhöhte, in Österreich anstieg und nur in den Niederlanden zurückging (ebd. 2005  : 14). Die relative Armut, definiert als „Personen mit einem verfügbaren Einkommen, das unter 50 % des Medianeinkommens der Gesamtbevölkerung

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liegt“, ist in Österreich von Mitte der 1980er-Jahre bis ins Jahr 2000 um mehr als drei Prozentpunkte angestiegen (von ca. 6 % auf über 9 %). In Finnland, den Niederlanden und Schweden war ebenso ein Anstieg zu verzeichnen, Dänemark wies keinen eindeutigen Trend auf.14 Unterziehen wir das österreichische Beispiel einer detaillierteren Analyse, so wird ersichtlich, dass sich die Einkommensdisparitäten seit den 1970erJahren, vor allem aber seit Mitte der 1990er-Jahre erhöht haben (Guger/ Marterbauer 2004). Für die Verteilung der Gewinn- und Vermögenseinkommen auf Personen und Haushalte fehlen aussagekräftige Daten (Beer et al. 2006, Chaloupek/Zotter 2006, Schürz 2008), daher wird im Folgenden nur auf die Lohneinkommen Bezug genommen. Zwei unterschiedliche Datenquellen können herangezogen werden  : Die Daten der Sozialversicherung, die den Nachteil aufweisen, die Ränder der Verteilung zu negieren (geringfügig Beschäftigte und Einkommen über der Höchstbemessungsgrundlage), oder die Daten der Lohnsteuerstatistik, die die Ränder erfassen, aber Zeitreihenbrüche aufweisen. Beide Datensätzen legen aber zwingend den Schluss nahe, dass auch in Österreich die Verteilung der Lohneinkommen ungleicher wird.15 Der Ginikoeffizient16 für die Sozialversicherungsdaten ist in der ersten Hälfte der 1970er noch stabil, stieg in der zweiten Hälfte bis Anfang der 1980er-Jahre kräftig an (um 1,5 % pro Jahr). Nach einer nur geringfügigen Zunahme danach kam es von 1987 bis 1990 und ab 1995 wieder zu einer starken Akzentuierung der Ungleichheit  : Der Anteil des obersten Einkommens-Fünftels nahm um ca. drei Prozentpunkte zu und betrug 39,5 %. Österreich zeichnet sich durch hohe sektorale und branchenspezifische Lohndifferentiale aus  ; ob dies trotz oder eben gerade wegen der hohen korporatistischen Verbändestruktur der Fall ist, wird durchaus kontroversiell diskutiert. Diese intersektoralen Differenzen in den Monatsverdiensten sind besonders zwischen 1980 und 1994 und noch einmal seit 1995 stärker gestiegen (Guger/Marterbauer 2004  : 40). Als Positivum muss angeführt werden, dass der Staat über wirtschaftspolitische Umverteilungsprozesse (wie z. B. Transferleistungen) die Ungleich-

14 Alleine Norwegen nimmt in Europa eine Ausnahmeposition ein, wohl auch seiner speziellen ökonomischen Situation als ölförderndes Land geschuldet  ; hier war ein Rückgang der relativen Armut zu verzeichnen. 15 Für die Diskussion zu geschlechtsspezifischen Einkommensunterschieden siehe den Artikel von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band. 16 Eine Kennzahl für Ungleichverteilung.



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heit der individuellen Bruttoeinkommen relativiert  : So war die Verteilung der netto verfügbaren Haushalteinkommen pro Kopf in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre nicht ungleicher als in den 1980er-Jahren. Die staatliche Umverteilung erfolgte merklich zugunsten der unteren Einkommen, sowohl über das Steuer- und Beitragssystem als auch über Sozialausgaben (Guger/ Marterbauer 2004  : 41). Wie schon beim Beschäftigungs-Kanal, zeigt sich auch beim EinkommensKanal eine deutliche Hinwendung zum Neoliberalismus. Die zunehmende Ungleichverteilung stellt für postkeynesianische Theoretiker aber nicht nur geänderte Rahmenbedingungen, sondern eine ernsthafte Gefahr für eine stabile Wirtschaftsentwicklung dar. Diese Gefahr wurde insbesondere unter dem Stichwort Finanzialisierung in der Literatur diskutiert (siehe Stockhammer in diesem Band). Die damit verbundenenVerteilungswirkungen werden als zentrale Ursache für die aktuelle Wirtschaftskrise verstanden.

9. Sozialpolitik-Kanal In einem 1980 gemeinsam mit seiner Frau geschriebenen Buch bezeichnete Friedman den Wohlfahrtsstaat und die Inflation als größte Feinde der Wirtschaft (Friedman/Friedman 1980). Sozialpolitische Maßnahmen sind für ihn verbunden mit einer riesigen Wohlfahrts-Bürokratie, die dazu führt, dass kaum etwas von den Mitteln bei den Bedürftigen ankommt. Das primäre Anliegen Keynes war, wie bereits erwähnt, die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Daneben stand er sozialpolitischen Maßnahmen aber nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber und unterstützte bestimmte Umverteilungsmaßnahmen (de Carvalho 2008). Die folgende Analyse des Sozialpolitik-Kanals basiert auf Daten aus der Social Expenditure Database der OECD (2007d). Diese sind für den Zeitraum von 1980 bis 2003 vorhanden (für Österreich liegen für die 1980er-Jahre nur Werte aus 1980 und 1985 vor). Die Sozialausgaben beinhalten die Bereiche Altersvorsorge (Pensionen), Invaliditäts- und Behindertenunterstützung, Ge­sundheit, Familie, aktive Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosenunterstützung, Wohnen und sonstige Bereiche der Sozialpolitik. Um ein genaues Bild der Entwicklungen der Sozialausgaben zu erhalten, wurden sie auf dreifache Weise ausgewertet  : in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, inflationsbereinigt (zu konstanten Preisen, Basisjahr 2000) und pro Kopf (nicht inflationsbereinigt zu aktuellen Preisen in Kaufkraftparitäten in US$).

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Die gesamten Sozialausgaben machen in den meisten Ländern mehr als 50 % der Staatstätigkeit aus. Die Entwicklung der Sozialausgaben zu konstanten Preisen zeigt von 1980 bis 2003 deutliche Steigerungen  : in der Schweiz und in Finnland um rund 60 %, in Österreich und Schweden um rund 45 %, dahinter in Dänemark mit 43 % und den Niederlanden mit 41 %. Werden die Sozialausgaben in Relation zum BIP gesetzt, zeigen sich für die Schweiz (+13 Prozentpunkte) und Finnland (+8 Prozentpunkte) starke Steigerungen. In Schweden, Dänemark und Österreich sind die Sozialausgaben als Anteil am BIP leicht gestiegen (zwischen drei und fünf Prozentpunkten), in den Niederlanden sind sie praktisch gleich geblieben. Damit hat sich das Niveau der Sozialausgaben angeglichen, wobei Schweden mit über 4 Prozentpunkten deutlich über den anderen Ländern liegt. Auch die Entwicklung der Sozialausgaben pro Kopf zeigt einen sehr gleichmäßigen und kontinuierlich steigenden Verlauf für alle untersuchten Länder. Sie lagen 1980 zwischen 1.800 US$ pro Kopf in Finnland und 3.120 US$ pro Kopf in Schweden. Bis 2003 stiegen sie auf 7.700 US$ pro Kopf (Finnland) und 10.120 US$ (Schweden). In Österreich lagen sie 2003 bei 8.670 US$ pro Kopf.

Grafik 12  : Total Social Expenditure 1980 –2003 45 40 35 30

Österreich

25

Dänemark

20

Finnland

15

Niederlande

10

Schweden

5

Schweiz

0

Quelle  : OECD 2007d

Der Entwicklungsverlauf der Sozialausgaben in Prozent des BIP weist in allen Ländern ähnliche Charakteristika auf (Grafik 12). Von 1980 bis 1989



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verlaufen sie annähernd konstant (mit der Ausnahme von Finnland), danach steigen sie bis 1993 stark an. Von 1993 bis 2000 sinken sie (mit Ausnahme der Schweiz, die sich zu diesem Zeitpunkt noch auf einem sehr niedrigen Niveau befindet), von 2000 bis 2003 steigen sie in allen Ländern leicht. Die Analyse des Zusammenhanges zwischen Sozialausgaben und Wirtschaftskrisen zeigt, dass diese Krisen Anfang der 1980er-Jahre keine Auswirkungen auf die Sozialausgaben hatten. Bei den Krisen Anfang der 1990er- und der 2000er-Jahre kam es jedoch erwartungsgemäß zu einer antizyklischen Wirkung durch steigende Sozialausgaben in Prozent des BIP. Die OECD nimmt eine Unterteilung der Sozialausgaben nach drei Arten vor  : öffentliche, verpflichtende private und freiwillige private Sozialausgaben.17 Für die folgenden Auswertungen nach Bereichen wurden nur die öffentlichen Sozialausgaben berücksichtigt. Um die Sozialausgaben in Prozent des BIP konstant halten zu können, müssen sie mit der Wachstumsrate steigen. Nur wenn sie stärker steigen als das Wirtschaftswachstum, steigt auch der Anteil der Sozialausgaben am BIP. Dies lässt sich anhand der österreichischen Ausgaben für Pensionen beispielhaft illustrieren. Diese haben sich real von 1980 bis 2003 verdoppelt. Gemessen als Anteil am BIP sind sie im gleichen Zeitraum jedoch nur von 10 % auf 12,8 % gestiegen. Die Daten im folgenden Absatz beziehen sich alle auf Prozentsätze am BIP. Österreich hat in unserem Sample die höchsten Ausgaben für Pensionen (von 10 % im Jahr 1980 bis 12,8 % im Jahr 2003)  ; sie machen den mit Abstand größten Teil der gesamten Sozialausgaben aus. In den anderen Ländern liegen sie 2003 zwischen 7 % und 10 % (die Niederlande stellen aufgrund sehr hoher Invaliditätspensionen eine Ausnahme dar). Zweitgrößte Position in Österreich sind die Gesundheitsausgaben mit konstant zwischen 5 % und 6 %. Bei den Gesundheitsausgaben gibt es eine Konvergenz aller Vergleichsländer zu 6 %. Danach folgen die Ausgaben für Familien mit rund 3 %. Auch sie verlaufen sehr konstant, wobei sie seit 1998 leicht steigen und in Schweden und Dänemark etwas höher liegen bei rund 4 %. Die Ausgaben für Arbeitslosigkeit sind in Österreich sehr gering. 1980 betrugen sie 0,5 % und liegen seit 1985 recht konstant bei rund 17 Verpflichtende private Sozialausgaben spielen nur in der Schweiz (2003 über 7 % des BIP) und in Finnland (2003 rund 3,5 % des BIP) eine wichtige Rolle. In den anderen Ländern liegen sie bei rund 1 % des BIP oder darunter. Die freiwilligen privaten Sozialausgaben sind 2003 in den Niederlanden mit rund 7 % des BIP deutlich höher als in allen anderen Ländern, wo sie zwischen 1 und 2 % liegen.

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1 %. Von der Schweiz abgesehen, pendelten die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung in den Untersuchungsländern konjunkturbedingt zwischen 1 und 5,3 %. Die Ausgaben für Invalidität liegen in Österreich sehr konstant bei 2,7 %. In den anderen Ländern betragen die Ausgaben dafür zwischen 3 und 6 %. Die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik stiegen in Österreich kontinuierlich von 1985 0,2 % auf 2003 0,6 %. Mit rund 2 % liegen sie in Dänemark und Schweden deutlich höher. Für Wohnen sind die Sozialausgaben, wie in den meisten anderen Ländern (wieder mit Ausnahme von Schweden und Dänemark) sehr gering bei 0,1 bis 0,2 %. Abschließend wird der Frage nachgegangen, welche Teilbereiche Veränderungen in der Gesamtheit der öffentlichen Sozialausgaben verursacht haben. Es zeigen sich keine länderübergreifenden, allgemeinen Tendenzen. In Österreich sind die öffentlichen Sozialausgaben von 1980 bis 2003 um 3,5 Prozentpunkte am BIP gestiegen. 2,8 Prozentpunkte davon entfallen auf den Bereich Pensionen, sonst gab es nur geringfügige Veränderungen. Ähnlich ist die Situation in Schweden, wo von 3,3 Prozentpunkten Steigerung 2,3 Prozentpunkte auf Pensionen entfallen. In Finnland sind praktisch alle Bereiche leicht gestiegen. Am stärksten waren es Ausgaben für Familien und Arbeitslosigkeit mit jeweils +1,1 Prozentpunkten des BIP. Die Schweiz, von einem wesentlich niedrigeren Niveau aus startend, verzeichnet mit 6,6 Prozentpunkten des BIP den größten Anstieg der öffentlichen Sozialausgaben. Plus 2,4 Prozentpunkte waren es bei Gesundheit und jeweils rund ein Prozentpunkt bei Pensionen, Invalidität und Arbeitslosigkeit. In Dänemark stiegen die öffentlichen Sozialausgaben um 2,4 Prozentpunkte. Davon entfallen 1,2 Prozentpunkte auf die aktive Arbeitsmarktpolitik und 1,1 Prozentpunkte auf zusätzliche Familienausgaben. Die Ausgaben für Arbeitslosigkeit hingegen wurden um 1,5 Prozentpunkte am BIP gesenkt. Die Niederlande verzeichnen als einziges Land sinkende öffentliche Sozialausgaben (um 3,4 Prozentpunkte am BIP  ; 2,4 Prozentpunkte davon entfallen auf gesunkene Invaliditätskosten/-pensionen). Der budgetäre Umfang sowie die Entwicklung der Ausgaben für Sozialpolitik widersprechen eindeutig neoliberalen Vorstellungen. Da Sozialausgaben einerseits stark progressiv wirken (für Österreich  : Guger/Marterbauer 2009) und andererseits antizyklisch sind, haben sie aus keynesianischer Sicht eine wichtige Funktion für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, für Wachstum und die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Durch ihren nicht unbeträchtlichen Anteil am BIP wird klar, dass die Sozialausgaben für die Verteilung eine wichtige Rolle spielen.



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Sozialpolitik in Österreich Aus den oben behandelten OECD-Daten wurde deutlich ersichtlich, dass sich die Sozialquote (Sozialausgaben in Prozent zum BIP) in den letzten Jahrzehnten nicht verringert hat. Trotzdem kann schwerlich übersehen werden, dass es vielerlei Umstrukturierungen, oftmals Kürzungen und Verschärfungen in den Ansprüchen auf Sozialleistungen, aber auch Verschiebungen in der Ausrichtung der Sozialpolitik gab. Dies lässt sowohl auf eine geänderte Ausrichtung der Sozialpolitik schließen als auch auf geänderte sozialpolitische Kontexte. Viele der Letzteren wurden schon zuvor behandelt  : Konstatiert wurden demografische Veränderungen (reale und erwartbare, z. B. der Alterungsprozess der Gesellschaft), geringeres Wirtschaftswachstum, Veränderung in Zusammensetzung und Regulation der Erwerbsarbeit, höhere Arbeitslosigkeit, aber auch die Pluralisierung der Lebensstile. Keinesfalls kann hier für alle Untersuchungsländer eine detaillierte Analyse der Veränderungen in der Sozialpolitik über den Untersuchungszeitraum vorgenommen werden, zu divergent sind die einzelstaatlichen Maßnahmen, zu detailreich und komplex sowohl Status quo als auch die mannigfachen Reformen in den letzten Jahrzehnten. Anhand des Beispiels Österreich wird exemplarisch dargestellt, wie und in welchen Konstellationen sich solch eine Änderung vollziehen konnte und vollzogen hat. Die 1970er- und der Beginn der 1980er-Jahre waren von einer merkbaren Expansion des Sozialstaates geprägt, die darauffolgenden Jahre hingegen sowohl durch Leistungskürzungen und Erschwernisse beim Leistungszugang charakterisiert als auch durch einen selektiven Ausbau verschiedener sozialer Sicherungssysteme. Dabei war die Sozialpolitik zuerst weniger in ihren grundlegenden Prinzipien tangiert als vielmehr durch Ausmaß und Reichweite der Leistungseinschränkungen betroffen (Badelt/Tálos 1999  ; Tálos 2005). Der Austro-Keynesianismus war unter anderem durch eine Balance aus Familien- und Frauenpolitik gekennzeichnet, die gleichermaßen auf ­Stärkung des fordistischen Familienmodells der Kleinfamilie, aber auch auf (moderate) Erweiterung der Handlungsspielräume für Frauen abzielte. Sozialpolitische Maßnahmen wie Heiratsgeld und Geburtenbeihilfe sollten Familiengründungen fördern, zugleich wurde die Vorherrschaft des Ehegatten beendet, wie auch Scheidungen in beiderseitigem Einvernehmen möglich wurden. Die Einführung der Individualbesteuerung und des Karenzurlaubes stellten wichtige Anreize für die Berufstätigkeit von Frauen dar, das Gleichbehandlungs-

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gesetz 1979 hob die gravierendsten Ungleichbehandlungen in der Arbeitswelt zwischen den Geschlechtern auf, die Fristenregelung 1974 trug zur sexuellen Autonomie von Frauen bei (siehe dazu auch den Artikel von Otto Penz in diesem Band). Die erste Hälfte der 1990er-Jahre ist dann von einem Prioritätenwechsel geprägt, der in Richtung Budgetkonsolidierung geht. Diese Umorientierung brachte „Strukturanpassungen“ mit Leistungskürzungen, die zumindest kurzfristig die Sozialquote senkten. Die 1990er-Jahre waren in ihrem weiteren Verlauf durch restriktive Maßnahmen in der Pensions- und Arbeitslosenversicherung gekennzeichnet, während es in der Familienpolitik und der Pflegesicherung zu Ausweitungen kam (Tálos 2004  : 223f.). Bei den Pensionen waren die restriktiven Maßnahmen eine Verlängerung der Bemessungszeiten, die Streichung von Ausbildungsjahren, Einschränkungen bei den Witwer/n/pensionen, eine Reduktion des Staatsbeitrags zur Pensionsversicherung, strengere Regelungen bei Invaliditätspension, Anreize zum späteren Pensionsantritt, in einigen Jahren eine Aussetzung der Pensionsanpassung. Daneben wurde aber auch, als gegenläufiges Element, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten eingeführt. Bei der Arbeitslosenunterstützung gab es in Österreich bis 1993 sowohl Erweiterungen als auch Restriktionen. In den 1980er-Jahren kam es zu einer Verbesserung für Frauen, ebenso zur Verlängerung des Arbeitslosengeldes in Krisenregionen. Nach 1993 kommen dann die Restriktionen voll zum Tragen  : Die Bedingungen zum Bezug von Arbeitslosengeld werden verschärft, die Meldepflicht beim Arbeitsamt und ständige Bewerbungen stärker eingefordert (bei sonstiger Nichtauszahlung des Arbeitslosengeldes). Ebenso wurden die Lohnersatzrate verringert und die Zumutbarkeitsbestimmungen verschärft. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass die Leistungen aus der Krankenversicherung in den letzten 30 Jahren zunehmend gekürzt worden sind (z. B. bei Sehbehelfen, für Physiotherapie etc.) Trotz all dieser Restriktionen ist bis ins Jahr 2000 ein radikaler Kurswechsel in der Sozialpolitik weder formuliert noch durchgesetzt. Der Regierungswechsel zur schwarz-blauen Koalition brachte diesen schlussendlich  ; sowohl institutionell als auch in den konkreten Maßnahmen wurde mit dem früheren Konsens gebrochen (Tálos 2001  ; 2005). Die sozialpolitischen Restriktionen äußerten sich dann sowohl im Tempo als auch inhaltlich (Tálos 2004  : 219). Die neoliberalen Schlagworte  : mehr Eigenverantwortung, mehr Markt, Flexibilisierung gewannen an Terrain, wobei sich die einschneidendsten Veränderungen in jener Sozialpolitik-Kategorie vollzogen, die auch den höchs-



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ten Anteil an der Sozialquote ausmacht  : an den Pensionen. Es wurde und wird ein 3-Säulen-Modell propagiert, wobei die neu eingeführte, staatlich geförderte private Pensionsvorsorge bis zur Finanzkrise 2007 vor allem der österreichischen Börse zugutekam. Durch den Bruch mit der Sozialpartnerschaft, d. h. ohne die Einbeziehung von Gewerkschaft und Sozialdemokratie, war dieser Kurswechsel leichter herzustellen. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass sich das österreichische Sozialsystem besonders seit Antritt der Regierung Schüssel in Richtung eines Fürsorgemodells entwickelt hat, wie es in den anglikanischen Staaten praktiziert wird. Am österreichischen Beispiel konnte verdeutlicht werden, dass die makroökonomischen Daten noch nichts über die tatsächliche funktionale Verwendung aussagen. Hier ist in Österreich klar ein Regierungswechsel für jene essenziellen Änderungen in der sozialpolitischen Ausrichtung verantwortlich, die weit über notwendige Anpassungen aufgrund geänderter Rahmenbedingungen hinausgehen und auf eine Neuformierung sozialstaatlicher Arrangements zielen.

10. Schlussfolgerungen Vergleicht man über die letzten drei Jahrzehnte die neoliberalen Politikempfehlungen mit den realen Entwicklungen, so zeigen sich deutliche Abweichungen in zentralen Bereichen. Der Forderung nach einem Rückzug des Staates wurde nicht entsprochen. Ganz im Gegenteil sind die staatlichen Aktivitäten, gemessen in Prozent des BIP, in fast allen betrachteten Ländern gestiegen. Auch die gesamtwirtschaftliche Stabilisierung der Wirtschaft durch Geld- und Fiskalpolitik betreffend, wurden neoliberale Empfehlungen keineswegs eingehalten. Es ist allerdings ab Mitte der 1990er-Jahre ein deutlicher Trend zur Verringerung aktiver konjunkturpolitischer Maßnahmen festzustellen. Mit über 50 % der Staatsausgaben spielen sozialpolitische (Um-) Verteilungsmaßnahmen entgegen neoliberalen Vorstellungen eine nach wie vor zentrale Rolle. Der Anteil der Sozialausgaben am BIP ist von 1975 bis 2007 mit Ausnahme der Niederlande in allen Ländern teilweise stark gestiegen. Besonders seit den 1990er-Jahren verlaufen die Sozialausgaben antizyklisch und üben damit eine Stabilisierungsfunktion aus. Trotzdem ist, wie am Beispiel Österreich gezeigt wurde, ein neoliberaler Diskurs hinsichtlich der Verteilung der Sozialausgaben dominant geworden. Bezüglich der Beschäftigungssituation sind die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und

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die Inkaufnahme höherer Arbeitslosenraten eindeutig neoliberalem Denken geschuldet. Die untersuchten Daten zeigen in vielfacher Hinsicht eine tendenzielle Angleichung der in die Analyse einbezogenen Staaten. Diese Konvergenz betrifft allgemeine wirtschaftliche Entwicklungen wie das BIP (pro Kopf zu Kaufkraftparitäten), die Lohnquoten oder die geschlechtsspezifische Beteiligung auf dem Arbeitsmarkt. Daneben, aber damit nicht unverbunden, gibt es eine Konvergenz der in Anwendung gebrachten wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Besonders markant sind diese im Bereich der Konjunkturpolitik, wo neoliberale Politikvorgaben in Form des Stabilitäts- und Wachstumspakts institutionalisiert wurden. Aber auch bei den Sozialausgaben kam es zu einer zunehmenden Angleichung bezüglich Umfang und Struktur. Der Vergleich Österreichs mit den übrigen hier untersuchten Ländern zeigt, dass die Entwicklung der jeweils herangezogenen Kennzahlen für Österreich am kontinuierlichsten verläuft. Die Daten zur personalen Einkommensverteilung zeigen seit Mitte der 1980er-Jahre eine zunehmende Ungleichverteilung. Ein grundsätzlich positiver Beitrag zur personalen Einkommensverteilung resultiert aus dem Anstieg der Erwerbstätigkeit. Dieser Anstieg ist vorwiegend auf die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen zurückzuführen, welche jedoch vielfach nicht existenzsichernde Teilzeitbeschäftigung darstellt, somit die personale Einkommensverteilung letztlich nicht egalitärer gestaltet. Im Bereich der funktionalen Einkommensverteilung wurde eine Reihe von Trends identifiziert, die zu einer sich verstärkenden Ungleichverteilung geführt haben. Die Geldpolitik führte zu einer Umverteilung von den Kreditnehmern hin zu Kreditgebern und Vermögensbesitzern. Besonders relevant sind aber die Umverteilungswirkungen im Gefolge sinkender Lohnquoten. Die hohe Vermögenskonzentration führt bei einer gleichzeitig stark fallenden Lohnquote (also steigenden Kapital- und Zinseinkünften) zu einer Umverteilung von Unten nach Oben. Es ist den ArbeitnehmerInnen in den letzten 30 Jahren immer weniger gelungen, an den Produktivitätsfortschritten in Form vom Reallohnsteigerungen zu partizipieren. Es konnte gezeigt werden, dass bezüglich des Konjunkturpolitik- und des Sozialpolitik-Kanals eine an keynesianischen Vorstellungen orientierte Wirtschaftspolitik betrieben wurde. Beim Beschäftigungs- und Einkommens-Kanal hingegen zeigte sich deutlich die Durchsetzung neoliberaler Konzepte. Pointiert kann diese Entwicklung so zusammengefasst werden  : Ging es darum, die Wirtschaft zu stabilisieren und die wirtschaftliche Entwicklung



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sicherzustellen, wurden neoliberale Vorstellungen kaum umgesetzt. Die einzelnen Staaten haben die Sicherstellung von Wirtschaftswachstum und Stabilität keineswegs, wie im Neoliberalismus gefordert, ausschließlich dem Markt überlassen. Ganz im Gegensatz dazu haben sich neoliberale Vorstellungen sehr stark auf die Verteilung ausgewirkt. Der bedeutendste Umverteilungseffekt resultiert aus der Abkehr von einer produktivitätsorientierten (Real-)Lohnpolitik. Damit haben neoliberale Vorstellungen und Politikempfehlungen in den Interessenkonflikt bezüglich der Verteilung von Lohn- und Besitzeinkommen eingegriffen und zu einer starken Umverteilung geführt, die mit der Logik von Märkten begründet wird. Literatur Badelt, Christoph/Tálos, Emmerich  : The Welfare State Between new Stimuli and New Pressures  : Austrian Social Policy and the EU. In  : Journal of European Social Policy 4/1999, 351–363. Becker, Uwe  : Was ist dran am Skandinavischen Modell  ? Eine vergleichende Betrachtung. In  : Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 2/2008, 229–248. Beer, Christian/Mooslechner, Peter/Schürz, Martin/Wagner, Karin  : Die Bedeutung von Mikrodaten zum Geldvermögen für die Geld- und Wirtschaftspolitik  : Eine Illustration anhand einer OeNB-Erhebung zum Geldvermögen privater Haushalte in Wien. In  : Chaloupek, Günther/Zotter, Thomas (Hg.)  : Steigende wirtschaftliche Ungleichheit bei steigendem Reichtum  ? Vermögensverteilung als Herausforderung für die Wirtschaftspolitik. Bd. 10, Wien 2006, 121–150. Breuss, Fritz  : Globalization, EU Enlargement and Income Distribution. In  : WIFO Working Papers, Nr. 296, June 2007. Chaloupek, Günther/Russinger, Reinhold/Zuckerstätter, Josef  : Strukturveränderungen und funktionale Einkommensverteilung in Österreich. In  : Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 1/2008, 33–56. Chaloupek, Günther/Zotter, Thomas (Hg.)  : Steigende wirtschaftliche Ungleichheit bei steigendem Reichtum  ? Vermögensverteilung als Herausforderung für die Wirtschaftspolitik  ; Reihe Bd. 10, Wien 2006. de Carvalho, Fernando J. Cardim  : Keynes and the reform of the capitalist social order. In  : Journal of Post Keynesian Economics. Vol. 31, 2, Winter 2008–9, 191–211. Eppel, Rainer  : Asymmetrien des Arbeitsmarktes & Alternativen. Seminar Paper Heterodoxe Ökonomie, Wien 2008. Esping-Andersen, Gosta  : The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1997. Europäische Kommission  : Employment in Europe 2007, Luxemburg  ; COM(2007) 359 final, 2007a.

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Engelbert Stockhammer

Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung Österreich im finanzdominierten Akkumulationsregime Die derzeitige Wirtschaftskrise ist die heftigste seit der Großen Depression der 1930er-Jahre. Sie wurde verursacht (oder zumindest ausgelöst) durch eine Finanzkrise und illustriert, wie stark die Wirtschaftsentwicklung nunmehr von Entwicklungen auf den Finanzmärkten beeinflusst wird. Das Platzen der spekulativen Blase im Jahr 2008 stellt aber nur die Spitze eines Eisberges dar. Darunter liegen strukturelle Veränderungen in den Beziehungen zwischen dem realen Sektor und dem Finanzsektor. Ökonomisch ebenso wichtig sind beispielsweise die zunehmende Verschuldung privater Haushalte und die Shareholder-Value-Orientierung bei produzierenden Unternehmen. Diese Entwicklungen werden oft unter dem Schlagwort Finanzialisierung zusammengefasst. Aufbauend auf der Tradition der Regulationstheorie wird nun von einem finanzdominierten Akkumulationsregime gesprochen. In diesem Aufsatz wird nach einigen konzeptionellen Anmerkungen zu Finanzialisierung und neoliberaler Regulationsweise ein empirisch orientierter Überblick über die Charakteristika des finanzdominierten Akkumulationsregimes gegeben. Danach wird ein Versuch unternommen, Österreich im finanzdominierten Akkumulationsregime zu lokalisieren bzw. Veränderungen in Österreich, die mit der Finanzialisierung in Zusammenhang stehen, zu diskutieren. Dieser letzte Abschnitt läuft Gefahr, höhere Erwartungen zu wecken, als er einlösen kann. Die Diskussion um die Finanzialisierung hat zumeist einen Fokus auf die Entwicklungen in den USA bzw. auf den globalen Finanzmärkten  ; die Regulationstheorie ist von ihrem analytischen Instrumentarium nicht auf die Analyse kleiner Länder mit starker Außenabhängigkeit ausgerichtet  ; Österreich hat einen bescheidenen Finanzmarkt und kritische Analysen dazu sind rar. Kurz, die vorliegende Arbeit wird zwar eine fundierte allgemeine Diskussion des finanzdominierten Akkumulationsregimes bieten können, die Einordnung Österreichs wird jedoch skizzenhaft und vorläufig bleiben.  Der zweite Teil dieses Aufsatzes verwendet Material aus Stockhammer 2007. Der Autor dankt Predrag Cetkovic dafür, Daten zur Verfügung gestellt zu haben.

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1. Finanzialisierung, neoliberale Regulationsweise und finanzdominiertes Akkumulationsregime Die Arbeit benutzt den Rahmen der französischen Regulationstheorie, welche die makroökonomische Dynamik (das „Akkumulationsregime“) als in ein bestimmtes institutionelles Gefüge (die „Regulationsweise“) eingebettet sieht. Während es in der Regulationstheorie einen breiten Konsens darüber gibt, dass das fordistische Akkumulationsregime im Laufe der 1970er-Jahre in die Krise gekommen ist, ist die Charakterisierung des postfordistischen Regimes, ja selbst die Frage, ob ein solches bereits existiert, umstritten. Nachdem in der Analyse des postfordistischen Regimes zunächst der Flexibilität (in Arbeitsverhältnissen und Produktion) und dann den Informations- und Kommunikationstechnologien eine prägende Rolle zugeschrieben wurde, haben die Veränderungen im Finanzsektor erst kürzlich mehr Beachtung gefunden. Der Begriff des finanzdominierten Akkumulationsregimes wird hier verwendet, um aufzuzeigen, dass finanzielle Entwicklungen die Struktur und Geschwindigkeit der Akkumulation prägen. Der Begriff der Finanzialisierung umfasst eine Vielzahl heterogener Phänomene  : die Deregulierung des Finanzsektors und die Entwicklung neuer Finanzinstrumente  ; die Liberalisierung der internationalen Kapitalströme und die zunehmende Instabilität der Wechselkurse  ; die Entstehung von ins­ titutionellen Investoren als neue, mächtige Akteure und heftige Zyklen auf den Aktienmärkten  ; Shareholder-Value-Orientierung und Veränderungen in der Corporate Governance  ; verbesserter Zugang zu Krediten für soziale  Die klassischen Arbeiten der (französischen) Regulationstheorie sind Aglietta 1979, Lipietz 1985 und Boyer 1990. Ähnlichkeiten zwischen der Regulationstheorie und dem (amerikanischen) Social-Structures-of-Accumulation-Ansatz (Gordon et al. 1982  ; Bowles et al. 1983) sind nun weithin anerkannt (z. B. McDonough/Nardone 2006).  Dieser Beitrag unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von anderen Diskussionen der Finanzia­ lisierung. Erstens wird ein weiter Begriff der Finanzialisierung verwendet. Makroökonomische Ansätze (Boyer 2000  ; Stockhammer 2004a, 2005/06  ; Hein/van Treeck 2007  ; Skott/Ryoo 2007) gebrauchen zumeist einen engeren Begriff, der analytisch besser handhabbar ist, jedoch der Vielfalt der Veränderungen nicht gerecht wird. Zweitens richtet dieser Artikel seinen Fokus auf westeuropäische Länder. Ein großer Teil der empirischen Literatur behandelt, nicht zuletzt aus Gründen der Datenverfügbarkeit, die USA (Duménil/Lévy 2001  ; Crotty 2003  ; Krippner 2005). Da Finanzialisierung unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Länder bzw. Ländergruppen haben kann, ist eine Diskussion europäischer Entwicklungen von besonderem Interesse. Die europäische Erfahrung ist dabei geprägt durch eine bestimmte neoliberale Form der wirtschaftspolitischen Integration (Bieler 2003).



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Gruppen, die einst als „underbanked“ bezeichnet worden sind  ; und das im Vergleich zur Nachkriegszeit hohe Niveau der Realzinsen. Der Begriff der Finanzialisierung wurde auch verwendet, um Veränderungen in psychologischen und ideologischen Strukturen zu beschreiben. In diesem Papier wird der Versuch unternommen, mithilfe des regulationstheoretischen Begriffs des Akkumulationsregimes die makroökonomische Bedeutung dieser Veränderungen zu analysieren. Der Begriff finanzdominiert (finance-dominated) wird dabei in bewusster Abgrenzung zum Begriff finanzgetrieben (finance-led) verwendet, um aufzuzeigen, dass die Finanzialisierung die Muster der Akkumulation, d. h. die Zusammensetzung der Nachfrage und ihre Volatilität, prägt. Robert Boyer (2000) hat in einem wichtigen Beitrag ein Akkumulationsregime als finanzgetrieben definiert, wenn ein Anstieg der Mindestrendite (der financial norm), die von den Finanzmärkten für reale Investitionsprojekte gesetzt wird, zu einem Anstieg des Wachstums führt. Diese Konzeption impliziert, dass Finanzialisierung zu höherem Wachstum führt. Demgegenüber betont der Begriff des finanzdominierten Regimes, dass Finanzialisierung das Wachstum positiv oder negativ beeinflussen kann. Es ist daher möglich, dass die makroökonomische Struktur vom Finanzsektor geprägt und die Wachstumsperformanz enttäuschend ist. 1.1 Der Hintergrund  : eine neoliberale Regulationsweise

Finanzialisierung wurde ermöglicht durch die Deregulierung von nationalen und internationalen Finanzmärkten, die das Ergebnis von politischen Entscheidungen ist. Vor einer Diskussion des Akkumulationsregimes ist daher kurz auf die neoliberale Regulationsweise einzugehen. Aus Platzgründen können aber nur knapp einige Entwicklungen thematisiert werden  : • Machtverschiebung von Arbeit zu Kapital. Diese findet in fallenden Lohnquoten ihren Ausdruck (siehe Abbildung 1). Die Ursachen sind vielfältig. Zu nennen wäre der fallende Organisationsgrad der Gewerkschaften, die demoralisierende Wirkung der Arbeitslosigkeit und das höhere Drohpotenzial des Kapitals durch die Möglichkeit von Produktionsverlagerungen. • Redefinition der Rolle des Staates. Dies beinhaltet Privatisierungen und De­ regu­lierungen. Deregulierungen auf den Finanzmärkten sind dabei nur ein, hier aber offensichtlich zentraler Bereich. Auf die Größe des Staatssektors wird später noch eingegangen.

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• Änderung der Wirtschaftspolitik. Mit dem wiedererwachten Vertrauen in die Märkte kam es auch zu einer Schwerpunktverschiebung in der Wirtschafts­ politik von der Sicherung der Vollbeschäftigung (die der Markt ohnehin garantieren würde) zu Preisstabilität und „soliden Staatsfinanzen“ auch auf Kosten von Massenarbeitslosigkeit (siehe auch den Beitrag von Otto Penz im vorliegenden Band).

Abbildung 1 Bereinigte Lohnquote im Euro-Raum, USA und Japan 85

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Der Neoliberalismus manifestierte sich in politischen Entscheidungen, die in Kontinentaleuropa oft auf der europäischen statt der nationalstaatlichen Ebene gefällt wurden. Der Maastricht-Vertrag, der Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Dienstleistungsrichtlinie sind hier nur die prominentesten Beispiele. Die EU ist dabei aber kein homogener Akteur. Die Entscheidungsgremien stellen eher ein umkämpftes Terrain dar, wobei nunmehr eine stark neoliberale Orientierung dominiert. Van Apeldoorn (1999) verwendet den Begriff des eingebetteten Neoliberalismus (embedded neoliberalism), um die  Während die Regulationstheorie in der Analyse des Fordismus einen Fokus auf nationale Regulationsweisen richtete, wird in der Diskussion um den Postfordismus oft die zentrale Rolle von supranationalen Akteuren und Strukturen hervorgehoben (Dannreuther/Petit 2006).



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hegemoniale Struktur zu beschreiben. Neoliberalismus bedeutet aber nicht eine generelle Flexibilisierung, sondern eine selektive. So wurden die Regeln für Fiskalpolitik stringenter und die Wechselkurse wurden im Rahmen des Euro-Systems eingefroren. 1.2 Zur Analyse des finanzdominierten Akkumulationsregimes

Die keynesianische Nachfragefunktion wird unsere Analyse des Akkumulationsregimes strukturieren. Die aggregierte Nachfrage besteht aus dem privaten Konsum (C), den Investitionen (I), den Staatsausgaben (G) und den Nettoexporten (NX)  : Y = C + I + G + NX. Für jede dieser Komponenten soll untersucht werden, welche Veränderungen aufgetreten sind und wieweit sie mit Finanzialisierung in Zusammenhang gebracht werden können. Dies bedeutet auch, dass unterschiedliche Aspekte der Finanzialisierung bei der Analyse der verschiedenen makroökonomischen Aggregate relevant werden. Neben der Frage, ob die makroökonomischen Verhaltensfunktionen durch Finanzialisierung verändert wurden, soll auch die Frage untersucht werden, ob diese Veränderungen zu einer kohärenten Struktur, eben einem Akkumulationsregime, geführt haben. Anders ausgedrückt wird der Frage nachgegangen, ob es sinnvoll ist, von einem finanzdominierten Akkumulationsregime zu sprechen, und, falls ja, was seine Charakteristika sind.

2. Charakteristika des finanzdominierten Akkumulationsregimes 2.1 Veränderungen im Konsumverhalten  ?

Veränderungen im Konsumverhalten sind von besonderem Interesse, da die Konsumausgaben die größte Komponente der aggregierten Nachfrage dar Dieser analytische Rahmen fokussiert auf die Nachfrageseite und bleibt daher unvollständig. Im regulationistischen Rahmen wären natürlich auch angebotsseitige Veränderungen zu berücksichtigen.  Statt als Nachfrage- oder Ausgabenfunktion kann die obige Gleichung auch als volkswirtschaftliche Sparrestriktion reformuliert werden. Das Sparen der Haushalte (S HH), der Unternehmen (SC), des Staates (SG) und des Außensektors (S F) müssen sich gegenseitig ausgleichen  : S HH + SC + SG + S F = 0. Für jeden Schuldner muss es einen Gläubiger geben. Die Ersparnisse des Außensektors sind definitionsgemäß gleich den Nettokapitalzuflüssen. Die Kapitalflüsse werden in Abschnitt 2.4. diskutiert.

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stellen. Hier stehen zwei miteinander verbundene Fragen im Vordergrund. Erstens  : In welchem Ausmaß reagieren private Konsumausgaben auf eine Veränderung der Vermögenspositionen der Haushalte  ? Und zweitens  : In welchem Ausmaß haben Haushalte neue Möglichkeiten der Verschuldung genutzt, um damit Konsumausgaben zu finanzieren  ? Bekanntermaßen wurde die Konjunkturentwicklung in den USA in Teilen der 1990er-Jahre und in den frühen 2000er-Jahren stark von der Dynamik der Konsumausgaben angetrieben. Um diese Entwicklung zu erklären, griffen die Makroökonomen auf die Theorie zurück, dass nicht das laufende Einkommen, sondern die Vermögenspositionen die Konsumausgaben bestimmen. Zunächst wurde der Boom auf den Aktienmärkten als Erklärung herangezogen (Boone et al. 1998). Als es mit dem Platzen der Aktienblase 2001 jedoch zu keinem Einbruch der Konsumausgaben kam, rückten die Immobilienpreise in den Mittelpunkt des Interesses. Etliche Studien fanden deutlich höhere Konsumneigungen aus Immobilienvermögen als aus Finanzvermögen (Catte et al. 2004  ; Girouard et al. 2006  ; Case et al. 2001). Für europäische Länder sind die geschätzten Effekte jedoch zumeist deutlich geringer als für die USA. Darüber hinaus ist der Hausbesitz hier nicht so verbreitet und die Datenlage dünn. Ein zweiter Aspekt der Finanzialisierung ist, dass Haushalte nunmehr besseren Zugang zu Krediten haben als zuvor. Diese können in Form von Hypothekarkrediten, Konsumentenkrediten oder Kreditkartenschulden wahrgenommen werden und gehen teils auf das aggressive Marketing der Banken zurück. Als Folge dieser Entwicklung ist die Verschuldung der Haushalte angestiegen. Daten dazu sind jedoch nicht standardisiert verfügbar und daher international schwer vergleichbar. Teil 1.2 der Tabelle 1 beruht auf OECD-Schätzungen (Girouard et al. 2006). Die europäischen Länder weisen unterschiedliche Werte auf. Jedoch sind die Verschuldungsquoten in allen Ländern angestiegen und die Durchschnittswerte sind mit jenen der USA vergleichbar.

 In der Mainstreamliteratur wird angenommen, dass die steigende Verschuldung der Haushalte rational sei. Die Verschuldung steigt, weil das Vermögen wächst. Es ist aber auch möglich, dass ein wesentlicher Teil der Schulden Ergebnis eines irrationalen Verhaltens ist, da viel Konsumenten noch nicht gelernt haben, mit den neuen Möglichkeiten, sich zu verschulden, umzugehen. Aus der experimentellen Psychologie ist bekannt, dass die Zahlungsmethode die Kaufbereitschaft beeinflusst  : Typischerweise sitzt das Geld lockerer, wenn Kreditkarten verwendet werden.



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Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung

Tabelle 1  : Private Konsumausgaben und Schulden in Prozent des ­verfügbaren Einkommens 1.1 Private Konsumausgaben als Prozent des verfügbaren ­Einkommens (Durchschnitt)

1.2 Schulden der privaten ­ aushalte als Prozent des H ­verfügbaren Einkommens

1970er

1980er

1990er

2000er

1985

1995

2005

Belgien

63

67

63

63







Dänemark

63

65

62

59

188

236

260

Deutschland

64

66

69

70

 97

111

107

Griechenland

63

70

75

74







Spanien

72

73

70

70

  59

 83

107

Frankreich

63

66

65

66

  66

  78

 89

Irland

73

75

68

62

 81

141

Italien

67

68

69

70

  46

59

  32

Luxemburg

64

59

55

53







Niederlande

59

60

59

58

113

175

246

Österreich

66

68

68

67







Portugal

79

75

74

78







Finnland

64

65

66

61

  64

  66

 89

Schweden

56

57

59

56

 90

107

134

Vereinigtes ­Königreich

69

71

73

72

106

118

159

EU12

66

67

66

65

 91

110

139

USA

70

73

76

80

 93

107

135

Japan

61

64

67

71

113

136

132

Anmerkung  : EU12 ist ungewichtetes Mittel für die vorhandenen Länder  ; Schulden für Dänemark, Spanien and Japan 2004 statt 2005. Quelle  : Konsumausgaben  : Europäische Kommission (2007)  ; Schulden  : Girouard et al. (2006).

Anders als die USA (und Japan) weisen die europäischen Länder jedoch keinen Anstieg der Konsumquote auf. Während die Konsumquote in den USA (und Japan) seit den 1970er-Jahren angestiegen ist, stagniert sie in Europa.  In dieser und den folgenden Tabellen werden die Daten in 10-Jahres-Mittelwerten angegeben. Die 1970er Jahre können als die fordistische Phase betrachtet werden, auch wenn sich das Ende des Fordismus nicht exakt datieren lässt. Danach beginnt die Phase des Neoliberalismus.

118

Engelbert Stockhammer

Es mag also zunächst so aussehen, als habe die zunehmende Verschuldung keinen Effekt auf die Konsumausgaben. Dies wäre jedoch ein voreiliger Schluss. Erstens ist in Europa die Lohnquote seit 1980 drastisch gefallen. Da Lohneinkommen typischerweise höhere Konsumneigungen aufweisen als Profiteinkommen, hätte dies zu einem Fall der Konsumquoten führen müssen. Stockhammer et al. (2007) finden für den Euro-Raum ein Konsumdifferenzial zwischen dem Konsum aus Lohneinkommen und dem aus Profiteinkommen von ca. 0,4. Bei einem Fall der Lohnquote um 10 Prozentpunkte würde dies einem Rückgang der Konsumquote um ca. 4 Prozentpunkte entsprechen. Die steigenden Schulden der privaten Haushalte könnten also zur Kompensierung der Verlangsamung des Lohnwachstums verwendet worden sein. Zweitens könnten die steigenden Haushaltsschulden natürlich auch in den Hausbau statt in den Konsum geflossen sein. Dies wird im nächsten Abschnitt untersucht. 2.2 Änderungen im Investitionsverhalten  ?

Die Finanzialisierung ging einher mit vielen Veränderungen, die für das Investitionsverhalten relevant sein können. So hat die Shareholder-Value-Orientierung die Managementziele verändert und die Instabilität der Finanzmärkte hat dazu geführt, dass die Firmen nun einem höheren Grad an Unsicherheit ausgesetzt sind. Gleichzeitig bieten neue Finanzinstrumente Versicherungsmöglichkeiten gegen Wechselkursschwankungen und das Wachstum der Finanzmärkte könnte die Investitionsfinanzierung vereinfachen. Es ist jedoch schwierig, die Bedeutung dieser Entwicklung für die Investitionen empirisch zu belegen, was auch daran liegt, dass die Investitionen selbst eine ohnehin schwer erklärbare Variable sind. Teil 2.1 der Tabelle 2 fasst die Entwicklung der Investitionstätigkeit relativ zu den Profiten zusammen. Im EU-Durchschnitt ist der Anteil der Investitionen an den Profiten von 47 % (in den 1970er-Jahren) auf 44 % (in den 1990erJahren und danach) gefallen. Besonders ausgeprägt war dieser Rückgang in

In Europa waren die 1980er Jahre durch das europäische Währungssystem mit der DM als Leitwährung und die 1990er durch den Binnenmarkt und den Stabilitäts- und Wachstumspakt gekennzeichnet. Die Jahre nach 2000 stellen einen kürzeren Zeitraum dar und sollten daher mit Vorsicht interpretiert werden.  Dieser Wert liegt in einer ähnlichen Größenordnung wie der für andere Länder (Naastepad/ Storm 2006/07  ; Hein/Vogel 2007).



119

Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung

Deutschland, aber auch in Frankreich  ; das Vereinigte Königreich (VK) und die USA weisen einen fallenden Verlauf auf. Nur in wenigen Ländern, wie Griechenland und Spanien, wird im Verhältnis zu den Profiten mehr investiert. Tabelle 2  : Investitionen als Prozent des Betriebsüberschusses und ­Wohnbauinvestitionen als Prozent der Investitionen 2.1 Investitionen als Prozent des Operating Surplus (Durchschnitt) Österreich

2.2 Wohnbauinvestitionen als Prozent der Investitionen (Durchschnitt)

1970er

1980er

1990er

2000er

1970er

1980er

1990er

59

50

47

44

59

52

44

29

65

38

38

35

Belgien

2000er

Dänemark

46

47

46

49

171

61

33

35

Finnland

57

57

41

36

67

55

48

44

Frankreich

46

46

42

43

78

63

47

43

Deutschland

52

48

42

35





60

50

Griechenland

24

24

26

36

105

86

52

29

Irland

50

44

30

28

94

92

94

111

Italien

41

36

31

33









Luxemburg

39

48

51

50









Niederlande

48

39

38

38

76

63

54

52

Portugal

37

35

31

34









Spanien

47

40

44

47

67

55

43

40

Schweden

59

52

46

51

79

60

32

17

Vereinigtes Königreich

55

48

44

42

86

82

60

47

EU12

47

44

40

40

86

64

50

44

USA

46

44

39

39

81

55

47

44

Japan

58

59

61

56

60

41

33

26

Anmerkung  : EU12 ist ungewichtetes Mittel für die vorhandenen Länder Quelle  : 2.1  : OECD (2007)  ; 2.2  : Europäische Kommission (2007).

Für diese Entwicklung gibt es mehrere Erklärungen, die direkt mit der Finan­ zialisierung zu tun haben. Erstens beinhaltet das in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (und hier) verwendete Maß für Profite die Zinszahlungen. Bei steigenden Zinsen können den Unternehmen trotz hoher Gewinne geringe Mittel zum Investieren bleiben (Duménil/Lévy 2001  ; Crotty 2003). Eine Bereinigung um die Zinszahlungen ist aus Datengründen schwierig.

120

Engelbert Stockhammer

Zweitens gab es eine Änderung in der Ausrichtung des Managements. Nicht mehr die Arbeitsbeziehungen (wie zur Zeit des Fordismus) stehen heute im Zentrum,10 sondern die Shareholder. Mehrere Studien zu den Effekten der Shareholder-Value-Orientierung haben gezeigt, dass diese zu Beschäftigungsabbau und Aktienrückkäufen, aber nicht zu mehr Investitionen führt (Lazonick/O’Sullivan 2000  ; Stockhammer 2004a). Engelbert Stockhammer (2004a) betont, dass Finanzialisierung auch bedeutet, dass Industrieunternehmen zunehmend auf Finanzmärkten aktiv werden, und verwendet daher die Finanzinvestitionen der nicht-finanziellen Unternehmungen (bzw. der Einkommen daraus) als Maß für die Finanzialisierung. In ökonometrischen Schätzungen findet er, dass dieses Maß einen wesentlichen Teil des Rückgangs im Wachstum des Kapitalstocks erklärt, wenn auch mit beträchtlichen Unterschieden zwischen einzelnen Ländern. Drittens führte die Deregulierung der Finanzmärkte zu einer Erhöhung der Unsicherheit, was Investitionsausgaben, die oft kaum reversibel sind, weniger attraktiv macht. Speziell die Volatilität der Wechselkurse scheint einen negativen Einfluss auf die Investitionstätigkeit auszuüben (Carruth et al. 2000  ; Stockhammer/Grafl 2008). Da Unsicherheit definitionsgemäß schwer messbar ist, ist auch hier eine exakte Bestimmung der Größe des Effekts sehr schwierig. Viertens scheinen die Unternehmen die neuen Finanzinstrumente nicht zur Investitionsfinanzierung zu nutzen. Speziell für die angelsächsischen Länder ist belegt, dass Aktienrückkäufe beträchtliche Mittel gebunden haben (Schaberg 1999).11 Auch scheinen die Unternehmen wenig Fremdkapital aufzunehmen und sich eher in Netto-Gläubiger zu verwandeln, was einer Umkehr ihrer traditionellen Rolle im volkswirtschaftlichen Kreislauf gleichkäme.12 Abschließend ist noch kurz auf die Rolle der Wohnungsbauten innerhalb der gesamtwirtschaftlichen Investitionen einzugehen. Wie bereits diskutiert, hat die Verschuldung der privaten Haushalte zugenommen. Es wäre möglich, dass damit Bauinvestitionen finanziert wurden. Wie Teil 2.2 der Ta-

10 Siehe auch den Beitrag von Penz in diesem Band. 11 Im Rahmen der Shareholder-Value-Orientierung werden eigene Aktien von Unternehmen gekauft (sogenannte share-buy backs), um den Aktienkurs in die Höhe zu treiben. Dies wirkt ökonomisch ähnlich wie eine Dividendenausschüttung und die entsprechenden Mittel stehen den Unternehmen nicht mehr für Investitionen zur Verfügung. 12 Siehe Duménil/Lévy 2001 und Stockhammer 2004b, Table 5.5. Änderungen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechung machen eine Aktualisierung dieser Daten schwierig.



Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung

121

belle 2 zeigt, ist aber der Anteil des Wohnbaus an den Gesamtinvestitionen im Durchschnitt der EU (und auch in den USA) gesunken. Im ungewichteten Durchschnitt der EU-Staaten sanken die Bauinvestitionen von 86 % (in den 1970ern) auf 50 % (in den 1990er-Jahren) der Gesamtinvestitionen. Bloß in Irland ist ein kräftiger Anstieg feststellbar. Insgesamt hat die zunehmende Verschuldung der Haushalte also nicht zu einer Belebung der Wohnbauinvestitionen geführt. Insgesamt scheint die Finanzialisierung die Investitionstätigkeit in Europa gedämpft zu haben. Vermutlich haben höhere Zinsen, die Orientierung am Shareholder-Value und die Zunahme der Unsicherheit kräftig zum Rückgang der Investitionen in Relation zu den Profiten beigetragen. Auch der Aktienboom hatte kaum positive Auswirkungen auf die Investitionen. Üblicherweise finden ökonometrische Studien, dass Aktienkurse (selbst wenn sie steigen) kaum Auswirkungen auf die Investitionstätigkeit haben (Chirinko 1993  ; Ford/Poret 1991). 2.3 Der Staatssektor  : Groß trotz Neoliberalismus

Der Staatssektor hatte dank seiner Größe eine stabilisierende, wenn auch keine expansive Wirkung. Dies mag zunächst überraschend erscheinen, war doch die Reduktion des Staatseinflusses eines der Hauptziele des Neoliberalismus. Und tatsächlich kam es zu einer Welle der Deregulierung und der Privatisierung. Bemerkenswerterweise sind die Staatsquoten, die die direkten Staatsausgaben, nicht aber Unternehmen in Staatseigentum umfassen, jedoch relativ stabil geblieben (Tabelle 3). Nur in drei Ländern (Irland, VK und Niederlande) sind die Staatsquoten heute niedriger als in den 1970er-Jahren. In den meisten Ländern stiegen sie bis in die frühen 1990er-Jahre und stagnierten danach. Da der Neoliberalismus die Politik in den meisten Ländern in diesem Zeitraum prägte, ist dies überraschend. Der Neoliberalismus war also bisher nur erfolgreich darin, den Anstieg der Staatsquoten zu reduzieren, nicht aber die Staatsquoten selbst. Da die Staatsausgaben über automatische Stabilisatoren (wie Arbeitslosenunterstützung oder die progressive Einkommenssteuer)13 eine stabilisierende Wirkung im Fall von Rezessionen ausüben, erklärt dies zum Teil, warum 13 In einer Rezession steigt die Arbeitslosigkeit und damit auch die ausgezahlte Arbeitslosenunterstützung. Dies geschieht, im Gegensatz zu einem Konjunkturpaket, ohne dass Gesetzesänderungen notwendig wären. Daher wird von automatischen Stabilisatoren gesprochen.

122

Engelbert Stockhammer

Tabelle 3  : Staatsausgaben als Prozent des BIP 3. Staatsausgaben als Prozent des BIP (Durchschnitt) 1970–79

1980–89

1990–99

2000-06

Österreich

44

52

54

51

Belgien



56

52

50

Dänemark

45

56

58

54

Finnland

36

45

58

49

Frankreich





48

47

Deutschland

29

41

49

49

Griechenland

42

49

53

53

Irland

46

53

41

34

Italien

37

48

53

48

Luxemburg





40

41

Niederlande

48

56

50

46

Portugal

31

38

43

46

Spanien

26

39

44

39

Schweden

50

63

65

57

VK

45

46

43

43

EU

40

49

50

47

USA

33

36

37

36

Japan

26

32

35

38

Quelle  : OECD (2007)

Krisen auf den Finanzmärkten in Europa und den USA bis vor Kurzem nicht so stark auf den realen Sektor übergegriffen haben. Um Missverständnissen vorzubeugen  : Dies bedeutet nicht, dass die neoliberale Hegemonie gar keine Auswirkungen auf die Staatsausgaben hatte. Erstens sind Privatisierungen in diesen Daten nicht erfasst, da Unternehmen in staatlichem Besitz, die nicht Teil der Hoheitsverwaltung sind, in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechung dem Privatsektor zugerechnet werden. Zweitens kann sich bei gleichbleibendem Volumen die Struktur der Ausgaben verändert haben. Nicht zuletzt haben sich die Zinszahlungen des Staates durch die höheren Realzinsen deutlich erhöht. Im (ungewichteten) EU-Durchschnitt stiegen die Zinszahlungen von 0,7 % des BIP in den 1970erJahren auf 3,8 % und 4,5 % in den 1980er- und 1990er-Jahren und gingen seitdem leicht auf 2,5 % zurück. Den stärksten Rückgang erfuhren dabei die mediterranen Länder.



Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung

123

2.4 Außenhandel und Kapitalflüsse

Durch die Liberalisierung der internationalen Kapitalflüsse und den freien Warenverkehr erhielt die internationale Dimension im finanzdominierten Akkumulationsregime eine Schlüsselstellung. Dies aus zwei Gründen  : Erstens erlaubt die Kombination aus Freihandel und freiem Kapitalverkehr wesentlich größere Außenhandelsungleichgewichte – zwar nicht unbegrenzt, aber solange die Finanzmärkte das Vertrauen in die Währung nicht verlieren. Und zweitens haben die Kapitalflüsse immer wieder schwere Finanzkrisen nach sich gezogen. Starke Kapitalimporte gehen meist mit spekulativen Blasen und Konsumboom (aber oft nicht mit steigender Investitionstätigkeit) einher. Verlieren dann die Märkte das Vertrauen in die betroffene Währung, kommt es zu raschen Kapitalabflüssen (capital flow reversals) und Währungskrisen, die meist vernichtende Effekte auf die Banken und die Wirtschaft des Landes haben (Reinhart/Reinhart 2008). In der aggregierten Nachfragefunktion ist der Außenbeitrag über die Nettoexporte repräsentiert, definiert als Exporte minus Importe. Die Nettoexporte müssen (abgesehen von den Veränderungen der Reserven der Zentralbank) den Kapitalexporten entsprechen. Hat ein Land ein Leistungsbilanzdefizit, d. h., importiert es mehr Waren als es exportiert, so muss es auch Kapital importieren. Das Leistungsbilanzdefizit ist gleich dem Kapitalzufluss. Durch die Liberalisierung des Kapitalverkehrs wurde es Ländern möglich, länger als bisher größere Leistungsbilanzdefizite zu haben – die Außenhandelsbeschränkung wurde aufgeweicht. Abbildung 2 illustriert dies anhand der steigenden Standardabweichung der Leistungsbilanzdefizite der OECD-Länder. Diese Lockerung der Außenhandelsbeschränkung interagierte mit der Stagnation der heimischen Nachfrage, die durch die sinkende Lohnquote verursacht wurde. Wachsen die Löhne nicht, so können die Konsumausgaben auch nicht wachsen – außer die ArbeitnehmerInnen verschulden sich. Und das geschah in den angelsächsischen Ländern, allen voran den USA. Durch Innovationen im Finanzbereich (z. B. die Verbreitung von Kreditkarten) und einen Immobilienboom erlangten die Haushalte Zugang zu Krediten und finanzierten so das Wachstum der Konsumausgaben. In anderen Ländern, v.a. Deutschland und Japan, aber auch Österreich, kam es nicht dazu. Die heimische Nachfrage stagnierte. Aber die Lohnkosten fielen und diese Länder begannen nun in die angelsächsischen Länder zu exportieren. Das finanzdominierte Akkumulationsregime ermöglichte die Herausbildung

124

Engelbert Stockhammer

Abbildung 2 Standardabweichung der Leistungsbilanzpositionen (in % des BIP) der OECD Länder

0,12

0,1

0,08

0,06

0,04

0,02

4

2

0

8

6

4

2

0

8

6

4

2

0

8

6

4

2

0

8

6

4

2

6 20 0

20 0

20 0

20 0

19 9

19 9

19 9

19 9

19 9

19 8

19 8

19 8

19 8

19 8

19 7

19 7

19 7

19 7

19 7

19 6

19 6

19 6

19 6

19 6

0

0

zweier Wachstumsmodelle – eines kreditgetriebenen und eines exportgetriebenen. Waren diese Modelle zunächst symbiotisch, so bauten sie auch jene Ungleichgewichte auf, die zur gegenwärtigen Finanzkrise wesentlich beitrugen. Die schwersten Wirtschaftskrisen gingen in den letzten beiden Jahrzehnten von Devisenmärkten und capital flow reversals aus  : Mexiko 1994, Türkei 1994 und 2001, Korea und Malaysia im Laufe der Südostasien-Krise 1997/98 und Argentinien 2001 sind die prominentesten Beispiele für heftige Wirtschaftskrisen,14 die durch abrupte Änderungen der Wechselkurse ausgelöst wurden, welche auf kurzfristige internationale Kapitalbewegungen zurückzuführen sind. In Europa erlebte vor allem Schweden nach den Turbulenzen im Europäischen Währungssystem (EWS) 1992/93 eine langwierige Krise. Der Grund für die starken Auswirkungen von Wechselkurskrisen ist, dass in liberalisierten Finanzmärkten Zinsarbitrage-Geschäfte (oft carry trade genannt) sehr attraktiv sind. Sind die Zinsen (bei gegebenen Wechselkursen) 14 Auch bei rascher Erholung des Wirtschaftswachstums nach der Krise hinterlässt diese oft längerfristige Spuren. Özlem Onaran (2005) findet, dass die Einkommensverteilung oft nachhaltig verändert wurde.



Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung

125

in Europa niedriger als z. B. in der Türkei, so ist es verlockend, Schulden in Euro aufzunehmen und damit türkische Staatspapiere zu kaufen. Soll- und Haben-Positionen bestehen dann in unterschiedlichen Währungen und eine Änderung des Wechselkurses führt nicht nur zu Kapitalflucht, sondern hat vernichtende Auswirkungen auf die Bilanzen. Die derzeitige Krise in den USA nahm ihren Ausgangspunkt zwar nicht in einer Wechselkurskrise, aber auch hier zeigte sich, dass starke Kapitalzuflüsse (in den USA mehr als 5 % des BIP pro Jahr) für eine Wirtschaft selten gut sind. Die Zuflüsse sorgten für reichliche Liquidität und ermöglichten den Banken, die Hypothekarkredite vergaben, die Refinanzierung, indem sie die Kredite in Form von Verbriefungen verkauften – genau jene Anlagen, die heute als toxic assets gelten. Auch in Europa ist das Wechselkursregime einer der zentralen institutionellen Faktoren, um die Dynamik des finanzdominierten Akkumulationsregimes zu verstehen. Hier waren die Bildung des Europäischen Währungssystems (EWS) und die Einführung des Euro die größten institutionellen Veränderungen. Letztere war selbst auch eine Reaktion auf die EWS-Krise 1992/93, als das System fixer Wechselkurse zusammenbrach und etliche Währungen um 20 % oder mehr abwerteten. Auf den ersten Blick scheint das Euro-System ein Erfolg zu sein. Die Märkte nahmen den Euro an, und die Inflationsraten sanken auf niedrige Niveaus, was auch die Realzinsen in den früheren Hochinflationsländern deutlich gesenkt hat. Allerdings sind die Inflationsdifferenziale trotz der allgemein niedrigeren Inflationsraten bestehen geblieben, was zu einer schleichenden, aber beständigen Veränderung der realen Wechselkurse geführt hat. Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten seit der Euro-Einführung. Deutschland hat demnach real um rund 20 % im Vergleich zu Portugal, Irland und Spanien über aggressive Lohnzurückhaltung abgewertet, was sich auch in kräftigen Handelsbilanzungleichgewichten äußert. Europa spielt hier die Tragödien der Weltwirtschaft im Kleinen nach  : Spanien, Irland und Großbritannien haben Immobilienblasen, Inflation und Leistungsbilanzdefizite, Deutschland und Österreich Lohnzurückhaltung, stagnierende heimische Nachfrage und Leistungsbilanzüberschüsse. Für die kommenden Jahre stellt dies eine große Herausforderung für die Wirtschaftspolitik dar, da das Euro-System keine geeigneten Mechanismen besitzt, diese Ungleichgewichte abzubauen. Zum Ausgleich müssten die mediterranen Länder (und Irland) über mehrere Jahre Inflationsraten deutlich unter der deutschen aufweisen. Da die deutsche Inflationsrate aber nahe null ist, wäre dies nur bei Deflation möglich.

126

Engelbert Stockhammer

Abbildung 3 Nominelle Lohnstückkosten in EU12 (1994=100) Quelle: Europäische Kommission (2007) 1,5 Belgien

1,4

Deutschland Griechenland

1,3

Spanien Frankreich

1,2

Irland Italien

1,1

Luxembourg Niederlande

1

Österreich Portugal

0,9

Finland

0,8 1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

Europa hat also auf die Liberalisierung der Kapitalflüsse mit der Einführung einer gemeinsamen Währung reagiert und damit das Risiko von Währungskrisen (innerhalb Europas) beseitigt. Jedoch hat es damit auch den nominalen Wechselkurs als einen wichtigen Anpassungsmechanismus beseitigt. Statt Wechselkurskrisen werden daher schleichende Ungleichgewichte und deflationäre Tendenzen die europäische Entwicklung bestimmen. 2.5 Das finanzdominierte Akkumulationsregime als Regime geringen Wachstums

Wir können die Charakteristika des finanzdominierten Akkumulationsregimes stilisierend wie folgt zusammenfassen  : • Die Deregulierung der internationalen Kapitalflüsse und die Globalisierung der Produktion öffneten die Möglichkeit für beträchtliche Außenhandelsungleichgewichte. Dies erhöht einerseits paradoxerweise den Spielraum für unterschiedliche nationale Wachstumsmodelle, v.a. was die Rolle der Exporte betrifft. Andererseits wird durch die plötzliche Umkehr der Kapitalflüsse (capital flow reversals) und Wechselkurskrisen ein gewaltiges Krisenpotenzial geschaffen. Häufige Wechselkurs- und Bankenkrisen sind











Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung

127

damit ein erstes Merkmal der wirtschaftlichen Entwicklung im finanzdominierten Akkumulationsregime. Da private Haushalte vermehrt Zugang zu Krediten bekommen und sich auch tatsächlich beträchtlich verschulden, werden die Konsumausgaben oft zum Konjunkturmotor, d. h. in einigen, v.a. angelsächsischen Ländern kam es zu einem kreditfinanzierten, konsumgetriebenen Wachstumsmodell. Da die angehäuften Schulden aber auch bedient werden müssen, stellt dies andererseits eine Quelle für Instabilitäten und Krisen dar. Die Investitionsausgaben wachsen aufgrund der Shareholder Value-Orientierung und zunehmender Unsicherheit nur verhalten. Bemerkenswerterweise führen die hohen Profite nicht zu einem entsprechenden Anstieg der Investitionen. Trotz der neoliberalen Attacke sind die Staatsquoten hoch geblieben und tragen so zur konjunkturellen Stabilisierung der Wirtschaft bei, verloren aber im Vergleich zum Fordismus deutlich an Dynamik. Da die USA mit dem Dollar als Leitwährung in geringerem Ausmaß von Wechselkurskrisen bedroht sind, eröffnete sich für sie die Möglichkeit beträchtlicher mittelfristiger Außenhandelsdefizite. Diese müssen durch Außenhandelsüberschüsse in anderen Ländern ausgeglichen werden. Insbesondere Deutschland, Japan und China übernahmen diese Rolle. In diesen Ländern entwickelte sich bei schwacher heimischer Nachfrageentwicklung ein exportorientiertes Wachstumsmodell.

Die Herausbildung unterschiedlicher Wachstumsmodelle, nämlich eines kreditgetriebenen und eines exportgetriebenen, war ein wichtiges Merkmal des finanzdominierten Akkumulationsregimes in den letzen zehn Jahren (Stockhammer 2009). Insgesamt ist das finanzdominierte Akkumulationsregime durch niedrige längerfristige Wachstumsraten und häufige Krisen gekennzeichnet.

3. Österreich im finanzdominierten Akkumulationsregime Österreich war, sowohl das Wachstum als auch die Wirtschaftspolitik betreffend, länger von fordistischen Mustern geprägt als andere Länder. Das Wirtschaftswachstum blieb bis in die 1980er-Jahre über dem OECD-Durchschnitt und die Arbeitslosigkeit stieg erst Anfang der 1980er-Jahre über die 3 %-Marke. Anders als die angelsächsischen Länder erlebte Österreich keine

128

Engelbert Stockhammer

abrupte und konfliktreiche Wende zum Neoliberalismus, sondern eher eine langsame, aber beständige Abkehr vom Sozialkeynesianismus. Österreichs im internationalen Vergleich recht erfolgreiche Wirtschaftspolitik der 1970er wird oft als Austro-Keynesianismus bezeichnet, allerdings ist diese Bezeichnung etwas irreführend, da die traditionelle keynesianische Politik der Nachfragesteuerung eher geringen Stellenwert hatte und die Politik über die sozialpartnerschaftlichen Strukturen stark angebotsseitige Aspekte hatte. Unger (1999) identifiziert fünf Pfeiler des Austro-Keynesianismus – Budgetpolitik, Geldpolitik, Wechselkurspolitik (Hartwährungpolitik), eine gemäßigte Lohnpolitik und die Verstaatlichte Industrie –, die alle in den 1980er- und 1990er-Jahren erodierten oder demontiert wurden. Dabei spielten teils explizite politische Entscheidungen, wie die Privatisierung der Verstaatlichten Industrie, teils der (natürlich letztendlich auch politisch entschiedene) Prozess der EU-Integration (wie im Fall der Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen) eine wesentliche Rolle. Verteilungspolitisch war Österreichs Entwicklung von einem kräftigen Fall der Lohnquote geprägt (Abbildung 4). Die Lohnquote misst den Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen. Ihr starker Fall illustriert die Umverteilung von Arbeit zu Kapital. Abbildung 4 Wirtschaftswachstum und bereinigte Lohnquote in Österreich 8%

85

7% 80

6%

75 Lohnquote

4%

3% 70 2%

1%

65

0%

6

4

20 0

0

8

6

2

20 0

20 0

20 0

19 9

2

0

8

4

19 9

19 9

19 9

19 9

4

2

6

19 8

19 8

19 8

8

6

4

0

19 8

19 8

19 7

19 7

0

8

6

2

19 7

19 7

19 7

19 6

4

19 6

19 6

19 6

2

60

0

-1% 19 6

Wirtschaftswachstum

5%

Wirtschaftswachstum Bereinigte Lohnquote



129

Zwischen Finanzialisierung und Exportorientierung

3.1 Ein exportgetriebenes Wachstumsregime  ?

Österreich gehört zu jenen Ländern, die in den frühen 2000er-Jahren einem exportorientierten Modell folgten. Abbildung 5 zeigt die Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite Österreichs seit 1960. Mit Ausnahme der Zeiten der Ölpreisschocks schwankte Österreichs Leistungsbilanz zwischen +2 % und –2 % des BIP. Ab dem Jahr 2002 stiegen die Leistungsbilanzüberschüsse jedoch auf 4 % bis 6 % des BIP. In anderen Worten  : Die heimische Nachfrage stagnierte in dieser Zeit. Österreich folgte offensichtlich dem exportgetriebenen Wachstumsmodell. Abbildung 5 Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite Österreichs (in % des BIP) 8%

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3.2 Der Finanzsektor

Österreich gilt in der vergleichenden Literatur zu nationalen Finanzsystemen als ein Land mit einem stark bankbasierten Finanzsystem (z. B. Tadesse 2002), d. h., Kapitalmärkte spielen eine vergleichsweise geringe Rolle bei der Finanzierung und bei der Kontrolle von Unternehmen. So ist z. B. die Börsenkapitalisierung deutlich geringer als das Kreditvolumen (siehe Abbildung 6  ; Beck et al. 2000).

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Abbildung 6 Kredite, Bonds und Aktienmarkt (in % des BIP) 120%

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Der Anstieg des Volumens der Bankkredite suggeriert eine relativ kontinuierliche Entwicklung des Finanzsektors. Dahinter stehen allerdings einige tief greifende qualitative Veränderungen innerhalb des Bankensektors. Der erste Strukturwandel betrifft die Konzentration und die Eigentümerstruktur. Bankenbasierte Finanzsysteme zeichnen sich ja oft durch ein Marktsegment aus, das nicht ausschließlich profitorientiert wirtschaftet, sondern darüber hinaus auch gemeinwirtschaftliche Ziele verfolgt (Allen/Gale 2000). So haben Regionalbanken und Sparkassen meist regionalwirtschaftliche Aufträge und staatliche Entwicklungsbanken dienen der Förderung der Industrie oder strukturpolitischen Zielen. In der Nachkriegszeit waren die großen Banken Österreichs staatlich kontrolliert (wie die Creditanstalt oder die Länderbank), quasi-staatlich (wie die Sparkassen und die Zentralsparkasse) oder genossenschaftlich (wie die Raiffeisenbank). In den 1980er- und 1990er-Jahren setzte, nicht zuletzt unter dem Druck der absehbaren europäischen Integration, eine Konsolidierung ein. So fusionierten die Zentralsparkasse und die Länderbank und schließlich auch die Creditanstalt. Regional schlossen sich viele Sparkassen zusammen und wandelten sich meist in Aktiengesellschaften um (Resch 2006). Darüber hinaus änderte sich die Funktion der Spitzeninstitute des Raiffeisensektors und der Sparkassen. Die RZB (Raiffeisenzentralbank) und die Erste Bank (vormals das Spitzeninstitut der Sparkassen) expandierten und agieren nun als normale Privatbanken.



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Die Expansion der österreichischen Banken, und dies stellt die zweite wichtige Strukturveränderung dar, richtet sich vor allem nach Osteuropa. Wie bei den ausländischen Direktinvestitionen im Allgemeinen, war Österreich auch im Finanzsektor in Osteuropa in der ersten Phase der Öffnung in den frühen 1990er-Jahren sehr stark vertreten. Im Jahr 2007 stammten bereits 26 % der Gesamtbilanzsumme und 43 % des konsolidierten Gewinns vor Steuern aller österreichischen Banken aus Mittel-, Ost- und Südeuropa (ÖNB 2008  : 7). Die Krise der Jahre 2008/09 hat die Länder Osteuropas, die häufig auf umfangreiche Kapitalzuflüsse angewiesen sind, jedoch schwer getroffen. Viele der dort vergebenen Kredite sind noch dazu in Fremdwährung, was die Schuldenlast bei den derzeitigen Abwertungen erhöht. Das genaue Ausmaß der Krise ist 2009 noch nicht klar, die Insolvenzen steigen jedenfalls deutlich an. War das Engagement der Banken im Osten also in den letzten Jahren eine sprudelnde Quelle der Profite, so stellt es sich im Frühjahr 2009 als ein bedrohliches Risiko dar, übersteigen doch die gesamten (direkten und indirekten) Kreditpositionen in diesen Ländern 200 Milliarden Euro und damit zwei Drittel des österreichischen BIP (ebd.: 55). 3.3 Shareholder-Value-Orientierung in Österreich  ?

Die Aktiengesellschaften bilden in Österreich nur einen kleinen Teil der Wirtschaft. Von rund 2,7 Millionen unselbstständig Beschäftigten in der Privatwirtschaft (2004), beschäftigen Aktiengesellschaften rund 240.000 ArbeitnehmerInnen. Aktiengesellschaften sind jedoch insofern interessant, als bei ihnen die Effekte der Finanzialisierung am deutlichsten feststellbar sein sollten. Namentlich die Shareholder-Value-Orientierung sollte Aktiengesellschaften und nicht Familienunternehmen betreffen. Die in der internationalen Literatur betonten Effekte der Shareholde-Value-Orientierung sind ein Anstieg der Dividendenausschüttungen und ein Rückgang der Investitionstätigkeit. Beide Tendenzen sind für Österreich klar belegbar. Abbildung 7 stellt die Dividendenausschüttungen im Verhältnis zur Wertschöpfung dar. Wurden bis Mitte der 1980er-Jahre jährlich 1 bis 3 % der Wertschöpfung an die Aktionäre ausgeschüttet, so stieg dieser Wert bis 2005 auf rund 14 % an. Abbildung 8 stellt die Investitionen im Verhältnis zu den Profiten dar.15 Insgesamt ist ein klarer rückläufiger Trend beim Verhältnis von 15 Als Investitionen wurde der „Zugang zu den Sachanlagen inklusive immaterieller VG“ verwendet, als Profite der Betriebserfolg. Zur Glättung konjunktureller Schwankungen wurde

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Abbildung 7 Dividenden als % der Wertschöpfung der österreichischen Aktiengesellschaften 16%

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Quelle  : Statistik Austria

Abbildung 8 Investitionen im Verhältnis zu Profiten

(Investitionen: Zugang Sachanlagen; Profite: 3-Jahresmittel des Betriebserfolgs) 6

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von Letzteren ein 3-Jahres-Durchschnitt verwendet. Ich danke Predrag Cetkovic für die Aufbereitung der Daten. Cetkovic 2008 bietet eine ausführliche Analyse der Finanzialisierung der Aktiengesellschaften in Österreich und eine ökonometrische Untersuchung ihrer Effekte auf das Investitionsverhalten.



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Investitionen zu Profiten feststellbar.16 Wurde in den frühen 1970er-Jahren noch rund das Dreifache der Profite investiert, so ist es in den frühen 2000erJahren nur mehr die Hälfte der Profite. Für Aktiengesellschaften sind die Finanzialisierungseffekte klar nachweisbar, wie auch die ökonometrischen Untersuchungen von Cetkovic (2009) bestätigen.

4. Schluss Auch Österreichs Wirtschaft ist von der neoliberalen Restrukturierung und der Finanzialisierung betroffen. Die Polarisierung der Einkommensverteilung zwischen Arbeit und Kapital – überall ein wichtiges Kennzeichen des Neoliberalismus – war in Österreich besonders ausgeprägt. Aber auch die Finanzialisierung hat, wenn auch etwas später als in anderen Ländern, klar ihre Spuren hinterlassen. So scheint sich die Dividendenausschüttung und Investitionspolitik der Aktiengesellschaften in Richtung der Shareholder-Value-Orientierung verändert zu haben. Wichtige Veränderungen gab es auch innerhalb des Finanzsektors. Es lässt sich eine relative Verschiebung von Finanzinstitutionen zu Finanzmärkten feststellen. Die Banken selbst haben sich ihrer gemeinwirtschaftlichen Ziele entledigt, wurden privatisiert und haben Richtung Osteuropa expandiert, was jahrelang hoch profitabel war, sich aber nun, in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise, als bedrohliches Krisenpotenzial entpuppt. Innerhalb der Wachstumsmodelle, die sich im finanzdominierten Akkumlationsregime herausgebildet haben, ist Österreich als exportgetrieben zu klassifizieren, hat es doch zuletzt Außenhandelsüberschüsse von 5 % des BIP und mehr. Gleichzeitig kam es zu einem (im internationalen Vergleich bescheidenen) Anstieg der Haushaltsverschuldung. Österreich hat allerdings kaum (direkt) an der Welle der Immobilienpreisblasen Anteil gehabt. Wie andere exportorientierte Volkswirtschaften muss auch Österreich in der derzeitigen Krise feststellen, dass Lohnzurückhaltung und Exportorientierung kein eigenständiges Wachstumsmodell darstellen. Es funktioniert nur, solange die Exportmärkte wachsen. Wie stark Österreichs Wirtschaft in das 16 Für die heftigen Ausschläge in den späten 1980er Jahren habe ich leider keine Erklärung anzubieten. Es ist darauf hinzuweisen, dass nur eine geringe Anzahl von Unternehmungen im ATX erfasst ist und einzelne Unternehmen mit spektakulären Ergebnissen daher die aggregierten Daten stark beeinflussen können.

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finanzdominierte Akkumulationsregime integriert ist, zeigt sich nicht zuletzt in den starken realen Effekten, die die Krise auf Österreich hat. International führte das finanzdominierte Akkumulationsregime zu einer schwachen Wachstumsdynamik und häufigen Krisen. Wenn es zu ausgeprägten Wachstumsbooms kam, so waren diese stark von Spekulation und zunehmender Verschuldung geprägt. Dieses kreditgetriebene Wachstumsmodell, auf dessen Trittbrett auch Österreichs Exportindustrie mitfuhr, kam 2008 in eine schwere Krise, die augenscheinlich im Finanzsektor ihren Ausgangspunkt hat. US-amerikanische Hypothekarkredite waren gebündelt und tranchiert in Form neu entwickelter Finanzinstrumente (so genannter mortgage backed securities), deren Risiken sich schwer bewerten ließen, von den Banken weiterverkauft worden. Die Banken hatten so weniger Anreiz, die Kreditwürdigkeit ihrer Kunden korrekt zu bewerten. Den Banken war es darüber hinaus möglich, off-balance-sheet-Zweckgesellschaften zu erstellen, die es ihnen erlaubten, Regulierungen zu umgehen. Finanziert wurde dies teils durch die starken Kapitalzuflüsse in die USA, die diese zur Deckung ihres Leistungsbilanzdefizits benötigten. All dies trug zur Überbewertung der neuen Finanztitel bei. Als die große Blase platzte, riss sie nicht nur die größten Banken der Welt an den Rand des Abgrunds, sondern auch die gesamte Weltwirtschaft. Nur massive Staatseingriffe konnten den wirtschaftlichen Kollaps verhindern. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als sei die Finanzkrise bloß das Ergebnis eines außer Rand und Band geratenen Finanzsektors. Dies ist nicht unrichtig, allerdings verdeckt es die strukturellen Ursachen der Krise  : Die Polarisierung der Einkommensverteilung und damit der strukturelle Nachfragemangel ist ein wesentlicher Teil des Neoliberalismus. Dieser ist weder in ökonomischer noch in sozialer Hinsicht den Bedürfnissen nach einer allgemeinen Zunahme des Wohlstands nachgekommen. Die derzeitige Krise sollte daher zum Anlass einer tief greifenden sozioökonomischen Umgestaltung genommen werden. Eine solche muss an beiden Grundpfeilern des Neoliberalismus ansetzen. Sie muss sowohl eine Re-Regulierung des Finanzsektors (zur Vermeidung spekulativer Blasen) als auch eine Änderung in der Lohn- und Verteilungspolitik (zur Nachfragesteigerung) umfassen.



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Otto Penz

Vom Sozial- zum Wettbewerbsstaat Arbeitsbeziehungen und politische Regulation in Österreich

1. Einleitung Aufgrund der nationalen wirtschaftspolitischen Lenkung in den 1970er-Jahren, in der Periode des sogenannten Austro-Keynesianismus, verzögerte sich die Ausbreitung des Neoliberalismus in Österreich um rund ein Jahrzehnt im internationalen Vergleich (Penz 2007). Herausragendes Merkmal der keynesianischen Periode unter der Regierung Kreisky war die Vollbeschäftigung, die bis in die frühen 1980er-Jahre anhielt, während in den meisten anderen OECD-Ländern die Arbeitslosenzahlen nach dem „Ölpreisschock“ 1973 rasant anstiegen. Die Beschäftigungslage auf dem Arbeitsmarkt und die Entwicklung der Lohnarbeitsverhältnisse seit Mitte der 1970er-Jahre sind bezeichnend für den sozialen Wandel insgesamt, der in Richtung zunehmender Flexibilität und Unsicherheit verlief. War die Ära Kreisky durch (männliche) Normalarbeitsverhältnisse, kontinuierliche Erwerbsbiografien und steigende Einkommen gekennzeichnet, so wuchs mit dem Neoliberalismus auch die Arbeitslosigkeit an, Angst vor Arbeitsplatzverlust begann sich breitzumachen, und die Prekarisierung von Erwerbsarbeit nahm deutlich zu. Im Frühjahr 2009, ein halbes Jahr nachdem die Auswirkungen der Finanzmarktkrise in Österreich erstmals spürbar wurden, waren über 300.000 Menschen arbeitslos, so viele wie niemals zuvor in der Geschichte der Zweiten Republik. Erwerbsarbeit stellt in der industriellen Welt einen zentralen Modus der Vergesellschaftung und sozialen Integration dar und ist insofern weit mehr als ein bloßes Mittel, um Einkommen zu erzielen (Castel/Dörre 2009  : 15). Sie bestimmt sowohl unsere persönliche Identität als auch den sozialen Status, den wir in der Gesellschaft einnehmen. Wie in vielen anderen europäischen Staaten sind auch in Österreich die Sozialleistungen stark an die Erwerbsarbeit gebunden und damit die soziale Sicherheit, aber auch die gesellschaftlichen Teilhabechancen von der Arbeit abhängig (Nickel 2009  : 213). Nicht zuletzt entscheidet die Erwerbsbeteiligung über die sozialen Partizipations-

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möglichkeiten der Geschlechter, ist doch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in unbezahlte Hausarbeit (der Frauen) und bezahlte Erwerbsarbeit ein grundlegender Mechanismus der sozialen Ungleichheit (siehe die Beiträge von Sauer und Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band). Die psychologischen und soziologischen Erkenntnisse über Arbeit haben in den letzten Jahren verstärkt Eingang in die Wirtschaftswissenschaft gefunden. Für Richard Layard, Direktor des Center for Economic Performance an der London School of Economics, stellt die Erwerbsarbeit einen, wenn nicht den zentralen Glücksfaktor in Industriegesellschaften dar. Weniger die Steigerung der Kaufkraft, denn die Vermeidung von Arbeitslosigkeit trage zum Glück einer Gesellschaft bei  : „Also muss eine niedrige Arbeitslosenquote eines der wichtigsten Ziele jeder zivilisierten Gesellschaft sein […] Aber es ist auch wichtig, dass die Arbeit befriedigt. Vielleicht mit am wichtigsten ist die Frage, inwieweit man am Arbeitsplatz eigenverantwortlich handeln kann“ (Layard 2005  : 190, 82). Der Wohlstand einer Gesellschaft bemisst sich also nicht nur an harten ökonomischen Fakten, sondern auch an den Gefühlen, am Wohlbefinden der Menschen, so wie das Vertrauen und die Zuversicht der ökonomischen Akteure (im Gegensatz zur traditionellen Fiktion des zweckrationalen homo oeconomicus) in der Volkswirtschaftstheorie wieder eine stärkere Rolle zu spielen beginnt, etwa um Konjunkturzyklen zu erklären. „Ein Mangel an Vertrauen hat die Kreditmärkte zum Erlahmen gebracht“, analysieren der Wirtschaftsnobelpreisträger George Akerlof und der Yale-Ökonom Robert Shiller (2009  : 38) die „Kreditklemme“ der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, um eine „gemeinsame Anstrengung der Geld- und der  Der Soziologe Pierre Bourdieu (1998a  : 49) merkte bereits in den 1990er Jahren an, dass dem vorherrschenden ökonomischen Denken eine „Ökonomie des Glücks“ entgegenzustellen ist, „in der alle individuellen und kollektiven, materiellen und symbolischen Gewinne angerechnet werden, die eine Arbeit bietet (nämlich Sicherheit), und alle materiellen und symbolischen Kosten vermerkt, die durch Beschäftigungslosigkeit oder andere Verunsicherungen entstehen“.  „Der homo oeconomicus, wie ihn die ökonomische Orthodoxie auffasst, ist eine Art anthropologisches Monster  : [ein] Praktiker mit Theoretikerkopf “, charakterisiert Bourdieu (1998b  : 195, 199f.) diesen theoretischen Typus  : „Das gelehrte Subjekt, das eine perfekte Kenntnis der Ursachen und Chancen besitzt, [wird] in den handelnden Agenten hineinprojiziert, dem man unterstellt, er sei rational geneigt, die Chancen, die ihm die Ursachen bieten, als Ziele zu setzen.“  In der Schule der behavioral economists beispielsweise spielen Emotionen eine wichtige Rolle (im Anschluss an John Maynard Keynes „Instinkte“, die das ökonomische Handeln beeinflussen, den so genannten animal spirits), vgl. Akerlof/Shiller 2009  : 10.



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Fiskalpolitik“ zu fordern, „die die Wirtschaft wieder zur Vollbeschäftigung zurückführt“. Pierre Bourdieu (1998a  : 113), einer der prominentesten Soziologen des 20. Jahrhunderts, argumentiert, dass die Verunsicherung der ArbeitnehmerInnen – die strukturelle Gewalt der Arbeitslosigkeit und die Angst vor Entlassung – zum Programm des Neoliberalismus gehört. „Die erfolgreiche ‚Neoliberalisierung‘ der Gesellschaft setzt eine Situation der Knappheit von Arbeitsplätzen voraus. Nur so konnte eine ‚kollektive Mentalität’ der précarité (frz. Unsicherheit) entstehen, die wesentlich zur bedingungslosen Akzeptanz dieser politischen Ordnung beigetragen hat“ (Volkmann/Schimank 2006  : 237). Bourdieu (1998a  : 110) spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Programm der planmäßigen Zerstörung der Kollektive“, und zwar vom Nationalstaat über Berufsverbände und Gewerkschaften bis hin zur betrieblichen Solidarität. Unsicherheit sei eine zentrale Begleiterscheinung von Vermarktlichung und Subjektivierung, so das sozialwissenschaftliche Forschungsteam Hildegard Nickel, Hasko Hünning und Michael Frey (2008  : 14), womit sie auf die Verschränkung von volks- und betriebswirtschaftlichen Prozessen im Neoliberalismus verweisen  : auf die Restrukturierung von Unternehmen in Richtung marktförmiger Steuerung und die Intensivierung von Arbeitsabläufen unter Ausschöpfung der subjektiven Kompetenzen der Beschäftigten – bei gleichzeitiger Angst vor Arbeitsplatzverlust. „Wie jede neue kapitalistische Formation ist auch der Postfordismus durch die Erschließung neuer gesellschaftlicher Sphären für die Kapitalverwertung charakterisiert“, schreibt der Politikwissenschaftler Joachim Hirsch (2005  : 136)  : Während dies im Fordismus die materielle Reproduktion der Arbeitskraft in Form industriell gefertigter Massenkonsumgüter betraf, so richtet sie sich im Postfordismus auf den Dienstleistungssektor, der im Zuge umfassender Privatisierungsmaßnahmen breitflächig kommerzialisiert wird. In Österreich begann dieser Prozess Mitte der 1990er-Jahre mit der Privatisierung der Bundesbahn und führte zur Durchsetzung von Marktverhältnissen in weiten Teilen der public services, z. B. im Telekommunikations- und Postbereich, aber auch im (betrieblichen und kommunalen) Pensionssystem. „Die ökonomische Sphäre wird ausgeweitet und durchdringt die Staatsapparate“ (ebd.: 151). Eine Besonderheit der österreichischen Neoliberalisierung besteht darin, dass sie aufgrund des hohen Anteils an verstaatlichter Industrie gegen Ende  Der Markt soll zum „Organisations- und Regulationsprinzip von Staat und Gesellschaft avancieren“, charakterisiert Alex Demirovic (2008  : 24) diese Entwicklung.

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der 1980er-Jahre im Produktionsbereich einsetzte – mit einer sich beschleunigenden Privatisierung dieser Betriebe und ganzer Konzerne. Bis zu diesem Zeitpunkt durchdrangen die Staatsapparate die ökonomische Sphäre, um bei Hirschs Sprachduktus zu bleiben, d. h. war der Staat stark in unternehmerische Aktivitäten involviert, wie etwa besonders ausgeprägt auf dem Energie- und Stahlsektor. Die Eingriffe in Wirtschaftsprozesse durch direkte Unternehmertätigkeit des Staates werden zumeist als „Innenregulierung“ bezeichnet (Weinzierl 1998  : 13), die in den 1990er-Jahren sukzessive einer Außenregulierung durch unabhängige staatliche Kommissionen wich, die den freien Marktzugang privater Unternehmen sicherstellen soll. „Die Regierung muss die Marktwirtschaft von vorne bis hinten begleiten“, stellt Michel Foucault (2006  : 174) treffend fest, und zwar in dem Sinn, dass sie „für den Markt regieren [soll], anstatt auf Veranlassung des Marktes zu regieren“. In einem Interview der Tageszeitung Der Standard vom 14. Oktober 2006 konstatierte der Leiter der Bundeswettbewerbsbehörde, Walter Barfuß  : „Je liberalisierter die Wirtschaft, desto mehr staatlicher Kontrolle bedarf es“ – und er umriss damit das neue Verhältnis von Ökonomie und Staat, das seit den 1990er-Jahren entstanden ist. In keiner geschichtlichen Epoche stellte der Staat eine außerökonomische Instanz dar, so auch nicht im Postfordismus und Neoliberalismus. Im Gegenteil, „Globalisierung“ ist das Resultat einer Wirtschaftspolitik, die auf die Beseitigung aller nationalen Hindernisse abzielte, die sich vor Unternehmen und Anlage suchendem Kapital aufbauten (Bourdieu 2001  : 102f.). Entgegen der verbreiteten Annahme einer generellen Erosion des Nationalstaats, bleibt dieser bis in die Gegenwart das wichtigste institutionelle Zentrum der wirtschaftspolitischen Regulation. Allerdings verschoben sich seine Funktionen zum einen in Richtung Konkurrenzregulation anstelle des fordistischen Staatsinterventionismus. Zum anderen erhöhte sich durch die Finanzialisierung und Internationalisierung der ökonomischen Verhältnisse (vgl. die Beiträge von Maderthaner und Stockhammer in diesem Band) der Druck auf die einzelnen Staaten zur Schaffung optimaler Wettbewerbsbedingungen, und die Konkurrenz um die Attraktivität der „Standorte“ für das mobile, grenzüberschreitende Kapital verschärfte sich. „Der Typus des fordistischkeynesianischen Staates wird durch den postfordistischen Wettbewerbsstaat abgelöst“, fasst Hirsch (2005  : 145) die Entwicklung zusammen, um darauf hinzuweisen, dass diese Prozesse von einer „Internationalisierung der Staatsapparate“, wie beispielsweise innerhalb der EU (und für Österreich mit dem Beitritt zur europäischen Gemeinschaft), begleitet wurden.



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Die EU-Integration führte zur paradoxen Entwicklung, dass wichtige wirtschaftspolitische Regulierungsprozesse, wie etwa die Geldpolitik, auf die supranationale Ebene verlagert und damit der nationalen Kontrolle entzogen wurden, während gleichzeitig der nationale Konkurrenzkampf, etwa in puncto Steuerund Lohnpolitik, beschleunigt wurde. Gestützt wurde dieses widersprüchliche System vom Schein der Unausweichlichkeit der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, genauer von der neoliberalen Doktrin, dass allein die Entfesselung der Marktkräfte zu Wirtschaftswachstum und damit zu Beschäftigungs- und Lohnzuwächsen, also sowohl zu Profit als auch zu Vollbeschäftigung führen werde, wobei die Globalisierung der Wirtschaft quasi zwangsläufig flexiblere Arbeitsmärkte und Abstriche bei der kollektiven sozialen Absicherung voraussetze. „Es ist eine ganze Ansammlung von Grundannahmen, die sich hier als ganz selbstverständlich durchgesetzt haben“, verzeichnete Pierre Bourdieu (1998a  : 40)  : „Man lässt ein größtmögliches Wachstum von Produktivität und Wettbewerb als letztes und einziges Ziel menschlichen Handelns gelten  ; oder glaubt, dass man sich den Kräften der Ökonomie nicht entziehen kann. Oder man macht – eine Voraussetzung, die alle anderen der Ökonomie begründet – einen grundtiefen Schnitt zwischen dem Ökonomischen und dem Gesellschaftlichen, das beiseite geschoben […] wird, wie eine Art Ausschussware.“

 „Das war eine der dümmsten Ideen, die es überhaupt gibt“, resümierte der ehemalige Staatssekretär für Finanzen in der BRD und nunmehrige UNO-Chefvolkswirt, Heiner Flassbeck, über den neoliberalen Ansatz  : „… dass man glaubt, Staaten könnten gewinnen, wenn sie gegeneinander agieren“ (Falter Nr. 25 vom 17.6.2009  : 13). „Da der innereuropäische Handel den bei weitem größten Anteil an den Wirtschaftsbeziehungen der einzelnen europäischen Mitgliedsstaaten ausmacht, könnten die Regierungen dieser Länder eine gemeinsame Politik einleiten, die die Auswirkungen der innereuropäischen Konkurrenz dämpfen und den Wettbewerbsdruck durch außereuropäische Staaten einen gemeinsamen Widerstand entgegensetzen könnte“ (Bourdieu 2001  : 17).  Der Indikator für Wirtschaftswachstum, das Sozialprodukt, ist allerdings in jüngster Zeit wachsender Kritik ausgesetzt. BIP-Wachstum sei die klassische Betrachtungsweise der Aufbauzeit nach dem 2. Weltkrieg und sage heute wenig über die Qualität des Wohlstandes in westlichen Ländern aus, bemängelte etwa der EU-Umweltkommissar Stavros Dimas (wiewohl in den letzten Jahren Veränderungen bei der Berechnung des BIP vorgenommen wurden, um dieser Kritik Rechnung zu tragen  ; Der Standard, 20.11.2007). „We need to shift towards more meaningful measures of progress which capture the richness of people’s lived experience“, heißt es auch im jüngsten nef-Bericht über National Accounts of Well-being (URL 1  : 3). In Zeiten der wirtschaftlichen und ökologischen Krise stellt sich zudem wieder verstärkt die Frage, ob Wirtschaftswachstum für eine funktionierende und glückliche Gesellschaft unumgänglich sei  ; vgl. die Diskussion in Die Zeit Nr. 22 vom 20.5.2009  : 15ff.  Zur Logik des ökonomischen Feldes vgl. Bourdieu 1998b  : 162ff.

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Im Folgenden werde ich versuchen, die Transformationen der politischen Regulation in Österreich zu skizzieren, die zu dieser von Bourdieu angesprochenen Abkehr vom Gesellschaftlichen und Hinwendung zum Ökonomischen oder genauer : zur Ökonomisierung der gesellschaftlichen Beziehungen geführt haben. Als Ausgangspunkt dafür dient die Zeit des Fordismus, insbesondere die Epoche des Austro-Keynesianismus, in Österreich. Nur im Vergleich zu dieser vorangegangenen Entwicklungsphase lassen sich Natur und Reichweite der sozialen Umwälzungen verstehen, wobei dieser Prozess durch die Aufgabe des Vollbeschäftigungsziels und den sukzessiven Anstieg der Arbeitslosigkeit bis hin zum unrühmlichen Höhepunkt in der gegenwärtigen Krise sowie die weit reichende Prekarisierung von Lebensverhältnissen gekennzeichnet ist.

2. Gesellschaftliche Ziele im Austro-Keynesianismus Die Möglichkeit einer eigenständigen nationalen Wirtschaftspolitik, die dem internationalen Trend auch zuwiderlaufen kann, hängt vom Grad der ökonomischen Verflechtung, von der Offenheit der Märkte und nicht zuletzt vom Instrumentarium ab, das der politischen Regulation zur Verfügung steht. Die österreichische Entwicklung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre belegt eindringlich, dass ein nationaler Kurs, der nicht dem neoliberalen main­ stream der OECD-Länder folgt, wirtschaftlich höchst erfolgreich verlaufen und gleichzeitig Kapital und Arbeit zugutekommen kann. Retrospektiv erscheint der Austro-Keynesianismus als Vorzeigemodell dafür, wie wirtschaftliche Stabilisierung und hohe soziale Sicherheit (der unselbstständig  Normalarbeitsverhältnis der Männer, Kleinfamilie und Wohlfahrtsstaat bezeichnen den Kern der fordistischen „Lohnarbeitsgesellschaft“ – eine Trias, die im Postfordismus zunehmend unter Druck geriet (Aulenbacher 2009  : 75).  Einschränkend sei hier vermerkt, dass in den siebziger Jahren die traditionelle geschlechtsspezifische Ungleichheit weit gehend fortbestand – wenn auch erste Schritte zur Gleichstellung von Frauen gesetzt wurden und die Erwerbsbeteiligung von Frauen stieg (siehe unten) –, dem Austro-Keynesianismus also die traditionelle familiäre Arbeitsteilung, wonach vorrangig der Mann für den Unterhalt der Familie sorgt, zugrunde lag. Der Fordismus lässt sich als Epoche der „Lohnarbeitsgesellschaft“, aber auch als Epoche der „Hausarbeitsgesellschaft“ in der historischen Variante der „Kleinfamiliengesellschaft“ charakterisieren, schreibt Brigitte Aulenbacher (2009  : 73f.)  : „So setzte und setzt das Normalarbeitsverhältnis als gleichermaßen kapitalistisches wie androzentrisches Arrangement implizit die Kleinfamilie mit männlichem Familienoberhaupt und ‚dazuverdienender’ Ehefrau voraus. Auch sind beide Arrangements über lange Zeit die zentralen Orientierungsgrößen des fordistischen Wohlfahrtsstaats gewesen.“



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Erwerbstätigen und ihrer Familien) unter einen Hut zu bringen sind, und zwar in einer höchst angespannten wirtschaftlichen Krisenzeit, einer internationalen, durch Währungsturbulenzen und die sprunghafte Verteuerung der Energiepreise ausgelösten Phase der „Stagflation“. Voraussetzung für den „österreichischen Weg“ war eine Vielzahl autonomer wirtschaftspolitischer Steuerungsmöglichkeiten und ein breiter politischer Konsens des sozialdemokratischen und christlichsozialen Lagers darüber, dass die Erwerbsarbeit das vielleicht wichtigste Element sozialer Integration darstellt. Entsprechend wurde im Unterschied zu den meisten anderen Industriestaaten (männliche) Vollbeschäftigung zum vorrangigen Ziel der Wirtschaftspolitik nach 1973, und dieser Zweck bedingte den Einsatz eines ganz spezifischen multi-policy mix  : deficit spending in Form öffentlicher Investitionen, Hartwährungspolitik, Lohnmoderation, „Hortung“ von Arbeitskräften in der verstaatlichten Industrie und eine ganze Reihe angebotsseitiger Maßnahmen, wie beispielsweise die Exportförderung. Aus dem Zusammenspiel von Fiskal-, Geld-, Wechselkurs-, Industrie- und Lohnpolitik resultierte letztlich eine wirtschaftliche Stabilität, die der bis 1982 andauernden Vollbeschäftigung zugrunde lag. In der austro-keynesianischen Periode wuchs der materielle Wohlstand in Österreich überdurchschnittlich an – ablesbar etwa am dreiprozentigen realen BIP-Wachstum pro Kopf zwischen 1973–1979 im Vergleich zu 2,1 % der EU-15 und 1,9 % der OECD-Länder (Guger 1998  : 42) –, und während der gesamten Regierungszeit Bruno Kreiskys zwischen 1970 und 1983 lag das Wirtschaftswachstum über jenem der späteren EU-15 Staaten (3,4 im Vergleich zu 2,7 %  ; Marterbauer 2007  : 161), so dass von einem signifikanten wirtschaftlichen Aufholprozess Österreichs gesprochen werden kann. Begleitet wurde dieser Prozess vom Ausbau der kollektiven Sicherungssysteme für die unselbstständig Beschäftigten und ihre Familienangehörigen oder, anders formuliert, von der Zunahme an Erwartungssicherheit im Falle von Krankheit, Arbeitsunfällen oder Invalidität10 – von einem Zugewinn an subjektiven Rechtsansprüchen, den die SoziologInnen Gerda Bohmann und Georg Vobruba (o. J. [1987]  : 47ff.) unter der Bezeichnung „Verrechtlichung“ der Daseinsvorsorge zusammenfassten. Im Verein mit der Arbeitsplatzsicherheit und steigenden Realeinkommen von durchschnittlich 3,3 % zwischen 10 „In diesem Sinne ließen sich die europäischen Gesellschaften der 1960er- und 1970er-Jahre als Versicherungsgesellschaften begreifen […] Der Sozialstaat spielte eine fundamentale Rolle, wenn es um die Begrenzung von Risiken ging“ (Castel 2009  : 24).

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1970 und 1980 (Guger 1998  : 52) bildete diese soziale Sicherheit das materielle Unterfutter dafür, dass die 1970er-Jahre als wegweisende Etappe der nationalstaatlichen Entwicklung wahrgenommen wurden  : als Zeit des Aufbruchs, der Modernisierung, der Aufstiegschancen, neuer Konsummöglichkeiten, der sozialen Kohäsion und zunehmenden Identifikation mit dem „Erfolgsmodell Österreich“ (Maderthaner/Musner 2007). Dieser Zukunftsoptimismus, wiewohl auf wirtschaftlicher Stabilität fußend, resultierte vor allem aus der Konzentration der politischen Akteure auf soziale Fragen während der langen Periode der SPÖ-Alleinregierung. Die angestrebte Verallgemeinerung der Lohnarbeit, die Verwirklichung der „Lohnarbeitsgesellschaft“ (Robert Castel), zielte auf die Schaffung eines breiten Mittelstandes ab, wobei der Aufschwung des tertiären Sektors zu einer stärkeren Integration der Frauen ins Berufsleben sowie generell zu einer markanten Zunahme an Angestelltenverhältnissen führte. Als wesentliche Investition in die gesellschaftliche Zukunft wurde der Ausbau des Bildungssystems betrachtet. Zum einen wurde der Zugang zu höherer Bildung erleichtert, nicht zuletzt durch die Beseitigung finanzieller Barrieren und durch materielle Hilfestellungen für Kinder aus ärmeren Schichten, zum anderen fand in Österreich eine massive Ausweitung sekundärer Schuleinrichtungen und des Hochschulwesens statt (wobei die geplante Einführung der Gesamtschule am Widerstand der konservativen Opposition scheiterte). Die neuen Bildungsmöglichkeiten verhießen Aufstiegschancen für die jüngere Generation, die den Eltern in dieser Form verwehrt geblieben waren. Zugleich eröffneten sich für diese aufgrund der stabilen Arbeitsverhältnisse und wirtschaftlichen Prosperität innerbetriebliche Karrieremöglichkeiten (Fischer-Kowalski 1996). Die stärkere Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben, Arbeitsplatzsicherheit, die vertikale Mobilität im Berufsleben, steigende Realeinkommen oder auch der Ausbau des öffentlichen Dienstes waren zugleich die maßgeblichen gesellschaftlichen Faktoren für die nachhaltige Ausbreitung der Konsumgesellschaft in Österreich und die späte Entfaltung des Fordismus, d. h. für den Massenkonsum standardisierter Güter wie Fernsehapparate und Autos, die das Leben modernisierten und zu einem modernen Lebensgefühl beitrugen. Ebenso wichtig für das Verständnis der damaligen Zeit wie die skizzierten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt erscheint ein Blick auf die Reformprozesse, die das partnerschaftliche Leben und die Familienverhältnisse modifizierten.11 Die Regierungspolitik verfolgte dabei eine Art Doppelstrategie, 11 Der Ökonom Richard Layard (2005  : 78ff.) zählt neben der Arbeit die familiären Beziehungen



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einen Balanceakt aus Familien- und Frauenpolitik, der sowohl auf Stärkung des fordistischen Familienzusammenhalts (mit dem Mann als Ernährer der Familie) als auch auf Erweiterung der Handlungsspielräume für Frauen abzielte. Während einerseits sozialpolitische Maßnahmen wie das Heiratsgeld und die Geburtenbeihilfe Familiengründungen fördern sollten, beendeten andererseits die Familienrechtsreformen der 1970er-Jahre die rechtliche Vorherrschaft des Ehegatten, und Scheidungen in beiderseitigem Einvernehmen wurden möglich. Die Einführung der Individualbesteuerung und des Karenzurlaubs stellten wesentliche Anreize für die Berufstätigkeit von Frauen dar, wobei das Gleichbehandlungsgesetz aus 1979 dieselbe Entlohnung von Mann und Frau einforderte und Frauen diskriminierende kollektivvertragliche Unterschiede beseitigt wurden. Die am heftigsten umkämpfte Strafrechtsreform jener Zeit, das Fristenregelungsgesetz zur Beendigung ungewollter Schwangerschaften, das 1974 gegen den vehementen Widerstand der katholischen Kirche und der ÖVP verabschiedet wurde, trug wiederum der sexuellen Autonomie von Frauen Rechnung. Aus dem Zusammenspiel sozialund familienpolitischer Maßnahmen resultierte eine späte Hochkonjunktur des Familialismus in Österreich, eine Beständigkeit des sozialen Zusammenhalts in konventionellen Ehegemeinschaften (mit möglichst zwei Kindern), aber auch ein Klima des egalitären Fortschritts durch die Beseitigung einiger männlicher Privilegien. Bleibt zu erwähnen, dass die sozialpartnerschaftliche Mediation sowohl auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt- und Einkommenspolitik als auch im Bereich der Sozialpolitik zentrale Bedeutung für die Stabilität des österreichischen Fordismus in den späten 1970er-Jahren hatte. Bereits in den 1950er-Jahren etablierte sich in Österreich ein System der politischen Partizipation, das die nächsten Jahrzehnte überdauern sollte, mit dem Zweck, einen Ausgleich der antagonistischen Interessen von Kapital und Arbeit herzustellen. Daran beteiligt waren die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände (die Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Arbeiterkammern sowie die Gewerkschaften), die im zentralen Verhandlungsforum, der Paritätischen Kommission für Lohn- und Preisfragen, gleichrangig vertreten waren und konsensuale wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen anstrebten. In den 1960er- und zu den wichtigsten Glücksfaktoren. Robert Castels (2008  : 360f.) Zonen der sozialen Kohäsion (bis hin zur Exklusion) unterscheiden sich entlang der Achse „Integration durch Arbeit“ und durch die „Dichte der Integration in den Beziehungsnetzwerken der Familie und Gemeinschaft“.

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1970er-Jahren zeichnete sich diese Sozialpartnerschaft durch eine besonders hohe politische Gestaltungskraft aus, in dem eine Vielzahl an Reformen, vor allem im sozialpolitischen Bereich, auf dem vor-parlamentarischen Konsens der Verbände (oder genauer  : der Absprache zwischen den Präsidenten der Wirtschaftskammer und des Gewerkschaftsbundes) beruhte. Die Grundlage für eine derartige Konsenspolitik bildeten geteilte Vorstellungen darüber, dass das Allgemeinwohl, wie etwa ganz zentral die Vollbeschäftigung, Vorrang vor partikularistischen Interessen habe. Diese Orientierung zeigte sich auch in den normativen Leitlinien, die dem politischen Gestaltungsprozess zugrunde lagen  : soziale Gerechtigkeit, Einkommensgerechtigkeit, sozialer Ausgleich oder (als Bezeichnung für das wirtschafts- und sozialpolitische System insgesamt) soziale Marktwirtschaft, die alle auf das Prinzip der Solidarität verweisen. Die sozialpartnerschaftliche Politik jener Zeit basierte auf der starken Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse innerhalb der Verbände, was demokratiepolitisch fragwürdig erscheint, aber zur relativ raschen Verwirklichung einer ganzen Reihe arbeitsrechtlicher und sozialpolitischer Verbesserungen für ArbeitnehmerInnen beitrug, wie etwa Arbeitszeitverkürzungen oder ein stärkeres betriebliches Mitspracherecht – Reformen, die sowohl die Macht der Gewerkschaften veranschaulichten als auch die Entscheidungsbefugnisse ihrer Spitzenfunktionäre legitimierten. In der Lohnpolitik, die der autonomen Gestaltung der Kollektivvertragspartner Wirtschaftskammer und Gewerkschaften obliegt, zeigte sich das gesamtwirtschaftliche Interesse in der Ausrichtung der Verhandlungen an den Inflations-, Produktivitäts- und Arbeitsmarktprognosen. Von herausragender Bedeutung erwies sich dies in der Phase nach dem „Ölpreisschock“. Gunther Tichy (1996  : 220) bezeichnete nachträglich die Lohnmoderation als wichtigsten Beitrag Österreichs zum Keynesianismus, nachdem die zurückhaltende gewerkschaftliche Lohnpolitik ganz wesentlich zur Inflationsbekämpfung und zur wirtschaftlichen Stabilität in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre beigetragen hatte. Als bezeichnender Ausdruck der sozialpartnerschaftlichen Mediation wirtschaftsund sozialpolitischer Entscheidungsprozesse – der „Politik am grünen Tisch“ – und des allgemeinen gesellschaftlichen Klimas herrschte zudem „sozialer Frieden“ im Österreich der Ära Kreisky, was aus ökonomischer Sicht wiederum einen beachtlichen Wettbewerbsvorteil darstellte. Insgesamt zeichneten dieses konsensuale politische Partizipationsmodell, die gesellschaftspolitische Ausrichtung auf Erwerbschancen und eine als gerecht empfundene Verteilung des Wohlstands für soziale Kohäsion und



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gesellschaftliche Integration verantwortlich. Die auf Stabilität und Wachstum orientierte keynesianische Wirtschaftspolitik diente dieser von allen politischen Akteuren geteilten Zielvorstellung. Anders gesagt  : Weniger die Maximierung und rasche Realisierung ökonomischer Profite oder fiskalische volkswirtschaftliche Zwecke, die in weiterer Folge an Bedeutung gewinnen sollten, denn die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen – stabile Arbeitsverhältnisse, soziale Sicherheit und wachsender materieller Wohlstand – stand im Zentrum der politischen Regulation der 1970er-Jahre. Besonders die relativ kurze Periode eines akzentuiert nationalen wirtschaftspolitischen Kurses nach 1973 lässt den Schluss zu, dass der Austro-Keynesianismus im gleichen Maß ein wirtschafts- wie ein gesellschaftspolitisches Projekt darstellte, in dem auf Integration durch Erwerbsarbeit und kollektive soziale Sicherheit gesetzt wurde – mit Erfolg letztendlich für Wirtschaft und Lohnabhängige. Dies bewiesen sowohl das überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum als auch höhere disponible Einkommen und Konsumchancen.

3. Wirtschafts- und sozialpolitischer Kurswechsel Vergleicht man die späten 1980er-Jahre mit der skizzierten fordistischen Epoche, so zeigen sich deutliche Unterschiede in allen Bereichen der politischen Regulation. Im Vorfeld der EU-Integration wurden die Weichen für einen anders gearteten wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs gestellt, der stärker ökonomischen Imperativen gehorchte und ehemals wichtige gesellschaftliche Ziele preisgab. Geprägt wurde die Politik jener Zeit von einer großen Koalitionsregierung unter Führung der SPÖ, die auf eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bauen konnte, wiewohl sich das Spektrum der politischen Parteien vergrößert hatte und die traditionellen politischen Lager SPÖ und ÖVP einer stärkeren Konkurrenz durch die Ökologiebewegung, die Grünen, sowie durch den anwachsenden Rechtspopulismus ausgesetzt waren. Die Regierungsbeteiligung der ÖVP hatte jedenfalls zur Folge, dass sich die Einflussmöglichkeiten des ÖVP-Wirtschaftsbundes und der parteinahen Wirtschaftskammer auf die Regierungspolitik erhöhten, womit Unternehmerinteressen ein größeres Gewicht in den Verhandlungen der Parteien und Verbände bekamen. Deutlich zum Ausdruck kam diese neue Machtkonstellation im Rückzug des Staats aus unternehmerischen Aktivitäten, der Ende der 1980er-Jahre einsetzte. Wenngleich die Industriepolitik jener Zeit im Zeichen der Um-

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strukturierung und Modernisierung der „Verstaatlichten“ stand, stellen die ersten Privatisierungsschritte aus heutiger Sicht einen Dammbruch dar, der letztlich in mehreren Wellen der Entstaatlichung mündete. Wurden im Anschluss an das ÖIAG12-Finanzierungsgesetz 1987 periphere staatliche Unternehmen verkauft und Unternehmensbeteiligungen zurückgeschraubt, um den Aufbau eines starken Kernbereichs der staatlichen Industrie zu finanzieren, so vollzog sich in den Folgejahren endgültig ein Paradigmenwechsel, mit dem sich die öffentliche Hand sukzessive aus der direkten Wirtschaftslenkung, der „Innenregulierung“, zurückzog. Betriebswirtschaftliche Misserfolge Mitte der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre (Verluste, die sich allerdings im Vergleich zu den heutigen Ereignissen auf den Finanzmärkten eher bescheiden ausnehmen) fungierten als Auslöser für diese Prozesse, die letztlich zur Umwandlung der ÖIAG in eine Art Privatisierungsagentur führten. Die ersten Privatisierungen waren „durch den Regierungseintritt der ÖVP politisch initiiert und wohl wegen der Budgetengpässe durchsetzbar“, resümierte der Wirtschaftsforscher Karl Aiginger (1998  : 194) rückblickend. Die große Privatisierungswelle Mitte der 1990er-Jahre wurde hingegen von beiden Regierungsparteien vorangetrieben, nachdem die SPÖ 1993 – in den Worten des ehemaligen Generalsekretärs der Industriellenvereinigung, Herbert Krejci (1998  : 230f.) – „formell von der jahrzehntelang gehegten These, der Staat sei a priori der bessere Unternehmer, [abgerückt war]“. Ergebnis dieses Regierungskurses war der Verkauf aller Mehrheiten der fünf großen staatlichen Konzerne (VA Tech, OMV, VA Stahl, Böhler-Uddeholm AG und AMAG),13 womit auch die Möglichkeiten der wirtschafts- und sozialpolitischen Regulation um ein früher nutzbringendes Instrumentarium reduziert wurden (das ganz wesentlich zum Aufbau der österreichischen Wirtschaft nach 1945 und zur Krisenbekämpfung in den 1970er-Jahren beigetragen hatte). Die wirtschaftspolitische Diskussion verlagerte sich auf die Frage nach „strategischem Eigentum“ zur Standortsicherung wertschöpfungsintensiver Industrien und headquarters in Österreich, die im Zuge weiterer Vollprivatisierungen ebenfalls rasch obsolet werden sollte. Die Budgetpolitik der Bundesregierung in den ausklingenden 1980er-Jahren stellte einen maßgeblichen Grund für die einsetzende Entstaatlichung dar, wie der Aussage Aigingers zu entnehmen ist. Um ausufernden Defiziten entgegenzuwirken – Defizite, die allerdings auch während der vorausgegan12 Damit ist die heutige Österreichische Industrieholding AG bezeichnet. 13 Eine Übersicht zur Privatisierung der 1990er-Jahre bietet Obinger 2006  : 158.



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genen Kanzlerschaft von Fred Sinowatz unter dem Durchschnitt der anderen EU-Länder lagen14 –, verfolgte die Regierung einen Sparkurs, der Strukturverbesserungen der verstaatlichten Industrie nur durch Einnahmen aus dem Verkauf von Konzernteilen zuließ. Vor allem aber begann der angestrebte EU-Beitritt, genauer gesagt  : die anvisierte Teilnahme am europäischen Binnenmarkt, die Finanzgebarung zu beeinflussen. Zwischen 1987 und 1989 votierten sowohl die Koalitionsregierung als auch alle großen Verbände für die Vollmitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union, die wiederum ein erhebliches Absenken der Budgetdefizite voraussetzte  : letztlich auf das in den Maastricht-Verträgen festgeschriebene Niveau von 3,0 % des jährlichen BIP (das zumindest bis 2008 Gültigkeit hatte). Kurzum, mit dem Regierungsantritt der großen Koalition begann die Budgetkonsolidierung, vor allem in Form von Ausgabenkürzungen, zu einem vorrangigen wirtschaftpolitischen Ziel zu werden, wobei die schwache Konjunktur Anfang der 1990er-Jahre diesen Kurs erschwerte. In den Begründungen für den EU-Beitritt klangen zudem alle ökonomischen Zwecke an, die in den Folgejahren einen hegemonialen Status erlangen sollten  : die internationale Wettbewerbsfähigkeit Österreichs, Österreich als Investitionsstandort und der Nutzen des freien Handels. Nicht nur die Wirtschaftskammer und die Industriellenvereinigung argumentierten mit ökonomischen Vorteilen für den EU-Beitritt, auch der Österreichische Gewerkschaftsbund führte beispielsweise ins Treffen, dass die Nichtintegration ein langsameres Wirtschaftswachstum, sinkende Kaufkraft und die Verlagerung der Handelsströme nach sich ziehen würde (Karlhofer/Tálos 1996  : 59ff.). Die aus dem Sparkurs resultierenden ausgabenseitigen Einsparungen, sogenannte „Anpassungen“, sind beispielsweise deutlich an den Veränderungen des Pensionssystems nachvollziehbar. Da die Altersvorsorge den weitaus größten Posten der Sozialausgaben darstellt, wurden Leistungskürzungen zur Entlastung des Budgets in diesem Bereich als besonders wichtig erachtet. Vor allem die Pensionsversicherung für Arbeiter und Angestellte stand ab Mitte der 1980er-Jahre im Zentrum der sozialpolitischen Reformen, und das folgende Jahrzehnt war durch eine ganze Reihe restriktiver Maßnahmen gekennzeichnet. Die Reformen von 1987 und 1993 etwa führten zur Senkung der Bemessungsgrundlage für zukünftige Pensionen, während die Reduktionen des „Anpassungsfaktors“ für bestehende Pensionen ab 1988 zur 14 Das österreichische Budgetdefizit betrug im Schnitt –3,6 % des BIP im Vergleich zu –4,5 % der EU-15 zwischen 1983–1986 (Marterbauer 2007  : 161).

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Sanierung des Budgets auf Kosten der älteren Bevölkerung beitrugen (Tálos/ Wörister 1994  : 178ff.). Ähnliche fiskalische Überlegungen sowie der Versuch, das faktische Pensionsantrittsalter anzuheben, um solcherart den Sozialhaushalt zu entlasten, lagen auch der Pensionsreform 1997 zugrunde. Insgesamt kulminierte der restriktive Regierungskurs in Österreich in den Jahren 1995 und 1996, und zwar im Hinblick auf die bevorstehende Währungsunion, mit der Verabschiedung zweier „Strukturanpassungsgesetze“ – von Sparpaketen, die Leistungskürzungen in so gut wie allen sozialstaatlichen Bereichen, etwa auch in der Arbeitslosenversicherung, mit sich brachten. Die „Anpassungen“ des Sozialsystems in den 1990er-Jahren ließen einen beinahe linearen Einsparungskurs erkennen, fassten Emmerich Tálos und Bernhard Kittel (1999  : 141) die Entwicklung in Zeiten der westeuropäischen EU-Erweiterung zusammen. Ein Prozess der „Entrechtlichung“ im Sinne von Bohmann und Vobruba gewann an Momentum, der die Vorrangigkeit ökonomischer Zielsetzungen und Wettbewerbsfragen angesichts der verschärften Konkurrenzsituation auf dem europäischen Binnenmarkt signalisierte und in dem sich ein Wettlauf nach unten in Form sinkender Sozialstandards und des Abbaus kollektiver Sicherungssysteme, eine „Dynamik der Entkollektivierung“ (Castel 2009  : 25), ausdrückte. Mit der ökonomischen Prägung politischer Entscheidungsprozesse, der Ökonomisierung der Staatsapparate, geriet auch die sozialpartnerschaftliche Mediation des policy making unter Druck. Insbesondere die Arbeitnehmervertretungen waren zusehends damit beschäftigt, den sozialpolitischen Restriktionen die Spitze zu nehmen. Die Divergenzen zwischen der Wirtschaftskammer oder auch der Industriellenvereinigung einerseits, die den politischen Kurs befürworteten, und der Arbeiterkammer sowie dem ÖGB andererseits vergrößerten sich – mit dem Resultat, dass die politische Gestaltungskraft der Sozialpartnerschaft erlahmte. Vielmehr dominierten die beiden Regierungsparteien den volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Prozess, was wiederum zu einer Entfremdung zwischen der SPÖ und den Arbeitnehmerverbänden führte, die sich in heftigen Kontroversen zum Beispiel in der Diskussion über die Sparpakete der 1990er-Jahre und die Pensionsreform 1997 äußerte (Tálos/Kittel 2001  : 84ff.). Die manifesten Ergebnisse der politischen Regulierung trugen nicht zuletzt zur Delegitimierung der Arbeitnehmerorganisationen und ihrer Interessenpolitik bei. In der Arbeiterkammer zeigte sich dies in einer zunehmenden politischen Apathie der Mitglieder, deren sinkende Beteiligung bei Kammerwahlen die gesamte Institution infrage zu stellen drohte. Durch den Ausbau



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der Serviceleistungen und eine Vertrauensabstimmung Mitte der 1990er-Jahre wurde diesem Trend bis auf Weiteres entgegengewirkt. Bei den Gewerkschaften äußerte sich der Vertrauensverlust in sinkenden Mitgliederzahlen bzw. in der Tatsache, dass es dem ÖGB nicht gelang, jene neuen Berufsgruppen zu integrieren, die im Zuge der wirtschaftlich-technologischen Transformationen der 1980er- und 1990er-Jahre entstanden waren. Man denke in diesem Zusammenhang z. B. an den Siegeszug der Mikroelektronik und Informationstechnologie, die der flexiblen Kapitalakkumulation des Postfordismus insgesamt zugrunde liegen (Rifkin 1989  : 171ff.). Die Ausrichtung der Gewerkschaftspolitik auf (traditionell männliche) Normalarbeitsverhältnisse wurde darüber hinaus der in diesem Prozess stattfindenden Flexibilisierung und Diversifizierung der Arbeit immer weniger gerecht, der Vervielfachung von Tätigkeiten „jenseits des klassischen, durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag sicheren und dauerhaften Beschäftigungsverhältnisses, das fest definiert durch das Arbeitsrecht alle Vorteile der sozialen Absicherung bot“ (Castel 2009  : 31). Kurz gesagt, die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt (im Zuge der zunehmenden Tertiarisierung der Wirtschaft) und die defensive Politik der Gewerkschaften führten dazu, dass die Basis des ÖGB zusehends schmäler wurde und die kollektive Interessenvertretung der Arbeitnehmer­ Innen deutliche Verfallserscheinungen zeigte. Ab den 1990er-Jahren gab es infolgedessen Bestrebungen, die gewerkschaftliche Organisationsstruktur den veränderten ökonomischen Gegebenheiten anzupassen und damit zugleich die politische Schlagkraft zu erhöhen. Dies schlug sich in der Fusion einiger Einzelgewerkschaften nieder (in einem Prozess, der bis heute anhält15), während eine ursprünglich ins Auge gefasste große Reform des ÖGB mit dem Ziel dreier Großgewerkschaften für den Produktions- und Dienstleistungsbereich sowie den öffentlichen Dienst an den internen Machtkämpfen scheiterte. Insbesondere die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und die Resultate der Einkommenspolitik unter der großen Koalitionsregierung fielen aus ArbeitnehmerInnensicht ernüchternd aus. Im internationalen Vergleich zeichnete sich Österreich in den 1980er- und 1990er-Jahren zwar weiterhin durch eine geringe Arbeitslosigkeit aus. Diese günstige Entwicklung war allerdings 15 Seit der bis dato letzten Fusion (der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten mit der Gewerkschaft für Kunst, Medien, Sport und freie Berufe) im Jahr 2009 besteht der ÖGB aus acht Einzelgewerkschaften. Die Mitgliederzahl sank von 1,65 Millionen 1990 auf 1,24 Millionen im Jahr 2008.

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mehr Folge der Vollbeschäftigungssituation in den 1970er-Jahren denn Erfolg der daran anschließenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, zumal die Arbeitslosenzahlen bis 1998 (beinahe) kontinuierlich anstiegen. Strukturelle Arbeitslosigkeit begann sich in Österreich auszubreiten. Die Entkoppelung von Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung oder auch von Wachstum und Konsumsteigerung, die Anfang der 1980er-Jahre begann, verstetigte sich und führte nicht zuletzt dazu, dass das Ziel „Vollbeschäftigung“ aus den politischen Diskursen verschwand und durch die rhetorische Figur „Beschäftigung steigern“ ersetzt wurde (Unger 1999  : 174). Daneben nahm die Flexibilisierung und Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse stark zu. Die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit erfolgte vor allem durch Teilzeitarbeit, wobei die Teilzeitquote Anfang der 1990er-Jahre besonders steil anstieg und gegen Ende des Jahrzehnts um die 14 % betrug (nach dem Labour-ForceKonzept).16 Zählt man die Ausbreitung anderer atypischer Arbeitsformen wie befristete Erwerbstätigkeit, Leiharbeit oder geringfügige Beschäftigung hinzu, lässt sich sagen, dass in der Zeit der Regierungskoalition von SPÖ und ÖVP eine beträchtliche Erosion von Normalarbeitszeitverhältnissen stattfand. In diesen Veränderungen drückte sich deutlich die angesprochene neue politische Machtkonstellation und stärkere Berücksichtigung ökonomischer Interessen im policy making aus  : Während die Forderungen der Gewerkschaft nach genereller Arbeitszeitverkürzung als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit unerfüllt verhallten, waren die Vorstöße von Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung in Richtung Flexibilisierung ungleich erfolgreicher. „In den 1990er-Jahren bildete die Frage der Flexibilisierung einen Dauerbrenner in den Auseinandersetzungen und Verhandlungen, die, nicht zuletzt durch Druck der Regierung 1996 und 1997, eine enorme Intensivierung erfuhren“, beschrieb Emmerich Tálos (1999  : 266) den wirtschaftspolitischen Prozess, der letztlich auch in erste branchenweite Regelungen über flexiblere Arbeitszeiten mündete. Die Beschäftigungsverhältnisse wurden in den 1990er-Jahren also um einiges prekärer, das soziale Risiko von Arbeitslosigkeit stieg an und der sozialpartnerschaftliche Interessenausgleich zeigte eine deutliche Schlagseite in Richtung marktwirtschaftlich motivierter Gestaltungsprozesse. In der Entwicklung der Löhne spiegelten sich ähnliche Machtverschiebungen wider. Die (bereinigte) Lohnquote, also der Anteil der Löhne am 16 Vgl. die Übersichten in Tálos 1999  : 256f.



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Volkseinkommen, begann Anfang der 1980er-Jahre zu sinken, und dieser Prozess beschleunigte sich in den 1990er-Jahren. Genauer gesagt  : Der Anstieg der Einkommen aus unselbstständiger Arbeit blieb zunehmend hinter jenem der Einkünfte aus Unternehmenstätigkeit, selbstständiger Arbeit und Besitzeinkommen zurück. Konkret bedeutete dies beispielsweise, dass die realen Kollektivvertragslöhne zwischen 1985 und 1994 nur mehr um 1,8 % pro Jahr anstiegen, und diese Erhöhungen in den Folgejahren noch geringer ausfielen – es also kaum mehr Reallohnzuwächse gab (OeNB 2005  : 170f.; Guger 1998  : 52). Zudem fiel die Veränderung der Reallöhne immer weiter hinter das Produktivitätswachstum zurück (OeNB 2005  : 171),17 woran sich eine deutliche Abkehr von der gewerkschaftlichen Lohnpolitik der 1970erJahre ablesen lässt, die dem Schema Lohnerhöhungen im Ausmaß der Inflations- und Produktivitätsentwicklung gehorchte. Den maßgeblichen Grund für die gewerkschaftliche Lohnzurückhaltung bildete die „Standortfrage“, d. h. die von der Gewerkschaft geteilte neoliberale Position, dass vorrangig niedrige Löhne die nationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern und damit zu Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in Österreich führen würden (was Gewerkschaftsfunktionäre in weiterer Folge – angesichts hoher Unternehmensgewinne und schwacher Konsumneigung – von einem „Nachholbedarf “ bei Lohnforderungen sprechen ließ18). In Bourdieus Worten, die „strukturelle Gewalt der Arbeitslosigkeit“ zeigte sich in Lohnabschlüssen, die kaum die Inflation abdeckten. Diese Lohnmoderation lag letztlich auch der Zunahme an Einkommensdisparitäten zugrunde  : Die Schere begann sich in den 1980er-Jahren zu öffnen und führte zu ungewohnt hohen Einkommensunterschieden in Österreich. Der Wirtschaftsforscher Markus Marterbauer (2007  : 108, 115f.) konstatierte angesichts der steigenden Einkommen aus Besitz und Unternehmung, dass eine „Umverteilung zu Lasten der unselbstständig Beschäftigten“ stattgefunden hat. Im Endeffekt sei die gesellschaftliche Chancengleichheit nicht mehr gegeben, womit es an der Zeit wäre, die Frage nach sozialer Gerechtigkeit (genauer  : nach Verteilungsgerechtigkeit, die ehemals im Zentrum der kollektiven Lohnverhandlungen stand) neu aufzuwerfen. 17 Das durchschnittliche Produktivitätswachstum zwischen 1985–94 betrug 2,2 % (OeNB 2005  : 170). 18 Vgl. beispielsweise Der Standard vom 31.10.2007. „Man muss die Menschen jetzt wieder am Produktivitätsfortschritt beteiligen“, meinte auch Heiner Flassbeck (siehe Anm. 5) im FalterInterview vom 17.6.2009.

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Im internationalen Konkurrenzkampf kommt der Einkommens- und Lohnpolitik, aber auch der Steuerpolitik seit den 1990er-Jahren steigende Bedeutung zu, ging doch im Zuge der EU-Integration eine Reihe anderer Mechanismen der nationalen Regulierung verloren. Sowohl die Geld- als auch die Wechselkurspolitik wurden auf die Gemeinschaftsebene verlagert, und der Spielraum für nationale Sonderwege in der Fiskalpolitik wurde durch die Maastricht-Kriterien stark eingeschränkt. Berücksichtigt man zudem die Privatisierung großer Teile der verstaatlichten Industrie und das EU-Verbot für eine angebotsseitige Industriepolitik, so wird klar, dass ein multi-policy mix zur Verwirklichung gesellschaftspolitischer Zielvorstellungen wie in den 1970er-Jahren keinesfalls mehr möglich war. Daraus zog unter anderem der Wirtschaftsexperte Fritz Breuss (1994  : 144) den Schluss, dass „in der vollständigen EWU das wichtigste verbleibende Instrument zur Steuerung der Wettbewerbsfähigkeit auf nationaler Ebene die Lohnpolitik sein [wird]“. Tatsächlich sanken die Lohnstückkosten der Sachgütererzeugung (die Arbeitskosten je erzeugter Einheit) in Österreich gegenüber den wichtigsten Handelspartnern während der 1990er-Jahre beträchtlich.19 Die Wettbewerbsfähigkeit verbesserte sich also deutlich, allerdings resultierte diese Stärke der nationalen Ökonomie weniger in Investitionen in die sogenannte „Realwirtschaft“ und in Beschäftigungswachstum, denn in steigenden Unternehmensgewinnen, die auf Finanzmärkten veranlagt wurden. „Die höhere Attraktivität von Finanzanlagen gegenüber Sachanlagen führt zu einer markanten Änderung im Investitionsverhalten der Unternehmen“, so nochmals Marterbauer (2007  : 113f.)  : „Seit Beginn der 1980er-Jahre blieb die Investitionsbereitschaft weit hinter der Entwicklung der Einkommen aus Besitz und Unternehmungen zurück. Die Unternehmen verschieben ihre Gewinne auf die Finanzmärkte, statt sie volkswirtschaftlich produktiv in die Mitarbeiter und neue Produktionsverfahren zu investieren.“ Während die Gewinnquote in Österreich ab dieser Zeit sukzessive anstieg, sackte die Investitionsquote in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre deutlich ab, um danach auf einem relativ niedrigen Niveau zu verharren. Diese schwache Investitionstätigkeit dämpfte das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum ganz erheblich. In den 1990er-Jahren trug zudem die Lohnmoderation, die mit ein Grund für die sinkenden Lohnstückkosten war, zur Schwächung der Binnennachfrage bei, so dass auch vom Konsum immer weniger Wachstumsimpulse ausgingen. Der österreichische Wachstumsvorsprung gegenüber den anderen EU19 Zum Vergleich etwa mit Deutschland siehe die Abbildung in Marterbauer 2005  : 64.



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Staaten schmolz dahin und gehörte in den letzten Jahren der Koalitionsregierung endgültig der Vergangenheit an.20 Der EU-Beitritt war mit den Versprechen verknüpft, dass der Binnenmarkt zu größerem Wirtschaftswachstum – aufgrund höherer Investitionen und besserer Chancen für den Handel – und damit auch zu markantem Beschäftigungswachstum, zu Lohnsteigerungen und, aufgrund des größeren Wettbewerbs, zu sinkenden Preisen führen würde (wie die erwähnten Beitrittsgründe des ÖGB veranschaulichten). Für österreichische Unternehmen bot bereits die Ostöffnung nach 1989 enorme Expansionsmöglichkeiten (vgl. den Beitrag von Stockhammer in diesem Band), die in höherem Ausmaß als der anschließende EU-Beitritt zur Verstärkung der Investitionstätigkeit im Ausland und der Handelsbeziehungen, also zur Internationalisierung bzw. „Europäisierung“ der österreichischen Wirtschaft führten. Die österreichischen Konzerne, wie etwa das Öl- und Gasunternehmen OMV, oder Banken und Kreditinstitute, aber auch eine ganze Reihe von Mittelbetrieben gehörten zu den eindeutigen Gewinnern des zweifachen Integrationsprozesses.21 Für die unselbstständig Erwerbstätigen in Österreich sah die Bilanz der europäischen Integration weniger positiv aus. Auf das relativ geringe Beschäftigungswachstum, die stagnierenden Reallöhne und die Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse oder auch die Restriktionen im Sozialbereich wurde bereits hingewiesen. Zu diesen Auswirkungen der postfordistischen Wende trugen nicht zuletzt die Ausgliederungen von Dienstleistungsunternehmen aus der staatlichen Hoheitsverwaltung bei, die in der Einleitung erwähnte Liberalisierung und Privatisierung der public services. Das zentrale Motiv für die Vermarktlichung öffentlicher Dienstleistungen, befördert durch entsprechende EU-Wettbewerbsdirektiven, bestand darin, die Leistungs- und Kosteneffizienz zu erhöhen, um im verstärkten internationalen Konkurrenzkampf bestehen zu können – wobei die Öffnung der Märkte zu Preisvorteilen für die Verbraucher führen sollte. Die Politikwissenschaftler Roland Atzmüller und Christoph Hermann (2004  : 33) bezeichneten dies als „Verbetriebswirtschaftlichung“ öffentlicher Dienste und der ihnen zugrunde liegenden Arbeitsbeziehungen. Dieser Prozess setzte 1994 mit der Entlassung der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) aus der Hoheitsverwaltung ein, gefolgt von der Ausgliederung der Post- und Telegraphenverwaltung 1996. Im gleichen Zeitraum wurde der Telekommunika20 Vgl. die Abbildung und Übersicht in Marterbauer 2007  : 114, 161. 21 Zu den österreichischen FDIs in Zentral- und Osteuropa vgl. etwa Hunya/Stankovsky 2004.

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tionsmarkt geöffnet und die Elektrizitätswirtschaft liberalisiert, kurz darauf die Gasversorgung. Verbunden war diese Entwicklung allemal – ganz ähnlich den Tendenzen im Privatisierungsprozess der verstaatlichten Industrie (Obinger 2006  : 166f.) – mit einem beträchtlichen Beschäftigungsabbau, der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und schlechteren Entlohnung für neue Arbeitskräfte sowie einer Intensivierung der Arbeit. Binnen fünf Jahren wurden beispielsweise beim Elektrizitätsunternehmen Verbundgesellschaft 29 %, bei den ÖBB 20 % und bei der Post AG 18 % der Beschäftigten abgebaut (Atzmüller/Hermann 2004  : 40). Im Fall der österreichischen Post, um bei diesem Beispiel zu bleiben, kam es im Zuge der Liberalisierung darüber hinaus zu einem markanten Anstieg an Teilzeitarbeit (PIQUE 2009  : 59). Generell erwies sich, dass neue Beschäftigte oft keinem oder einem schlechteren Kollektivvertrag unterlagen, woraus Atzmüller und Hermann (2004  : 41f.) den Schluss zogen, „dass es in manchen Bereichen (Postdienste, öffentlicher Verkehr) zu Lohndumping und Entstehung von Niedriglohnsektoren kommt“.22 Auf die Preise der Dienstleistungen hat sich diese (im Vergleich zu den 1970er-Jahren) stärkere Kommodifizierung der Arbeit höchst unterschiedlich ausgewirkt  : Während sie etwa im Telekommunikationsbereich gefallen sind (vor allem bedingt durch den Konkurrenzkampf auf dem neuen Feld des mobilen Telefonierens), zeigte sich auf dem Gebiet der Strom- und Gasversorgung – wo allerdings bis dato kaum Wettbewerb herrscht – die gegenteilige Entwicklung. Insgesamt wird angesichts dieser Prozesse aufs Neue deutlich, dass im Dienste der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und zur Sicherung des „Standorts“ Österreich beschäftigungspolitische oder, vielmehr noch, gesellschaftspolitische Zielvorstellungen aufgegeben wurden. Im Rückblick auf die 1970er-Jahren erscheinen die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und der Beschäftigungsverhältnisse – die Zunahme der Arbeitslosigkeit und Teilzeitbeschäftigung – beträchtlich, die Lohnentwicklung enttäuschend und die Einschnitte im Sozialsystem signifikant genug, um von der Aufkündigung des fordistischen Gesellschaftsvertrags und sozialen Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit sprechen zu können. Die politische Regulation schwenkte auf die Verfolgung primär marktwirtschaftlicher Ziele ein und stützte sich dabei auf einen Diskurs, der die unausweichlichen Sachzwänge des internationalen Wettbewerbs beschwor. Auf der Strecke blieben dabei die Sicherheiten 22 Zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen in Österreich und deren Folgen im internationalen Vergleich vgl. AK Wien 2009.



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der Normalarbeitsverhältnisse und kollektiven sozialen Schutzsysteme – Robert Castel (2009) spricht von der „Wiederkehr der sozialen Unsicherheit“ in den letzten drei Jahrzehnten –, die (neben der Familie) für soziale Kohäsion und Integration in der fordistischen Lohnarbeitsgesellschaft sorgten. An Gründen für die neoliberale Orientierung der wirtschafts- und sozialpolitischen Steuerung in den 1990er-Jahren sticht auf nationaler Ebene die veränderte Regierungskonstellation hervor, die Stärkung neokonservativer politischer Akteure, womit die wirtschaftlichen Interessenorganisationen einen größeren Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse bekamen. In der Spar- und Privatisierungspolitik der Regierung fand die stärkere Berücksichtigung der Kapitalinteressen dann auch ihren Niederschlag. Auf internationaler Ebene stellt die EU-Integration bzw. der Beitritt zur Wirtschafts- und Währungsunion den wichtigsten Grund für den neuen politischen Kurs dar. Bei analytischer Betrachtung sind dabei mehrere Einflussgrößen zu unterscheiden  : Zum einen wuchsen im Integrationsprozess die internationalen Wirtschaftsverflechtungen (in Form von Kapitalmärkten, Auslandsinvestitionen und Handelsverbindungen) und damit der Wettbewerbsdruck. Zum anderen wurde innerhalb der EU die Liberalisierung der Märkte und der Rückbau der Sozialstaaten forciert und somit genau jenes schärfere Wettbewerbsklima bei gleichzeitig sinkenden Sozialstandards erzeugt. Am Bedeutendsten erscheint in diesem Zusammenhang die Internationalisierung der Staatsapparate (Joachim Hirsch) – die Übertragung eines guten Teils der politischen Regulierung auf die Gemeinschaftsebene, so dass eine Abkoppelung Österreichs vom gesamteuropäischen neoliberalen mainstream kaum mehr möglich war. Der zunehmenden ökonomischen Konkurrenz standen abnehmende nationale Möglichkeiten gegenüber, diese zugunsten der eigenen Volkswirtschaft zu beeinflussen. Ausgelöst wurde durch die Internationalisierung der Wirtschaft letztendlich ein Wettlauf nach unten innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft bezüglich Lohneinkommen, Beschäftigungsstandards und Sozialleistungen.

4. Vorherrschaft des Neokonservatismus Die angesprochenen Transformationsprozesse im nationalen policy making beschleunigten sich in den letzten Jahren. Unter den ÖVP-FPÖ(BZÖ)-Regierungen ab dem Jahr 2000 fand eine Art Radikalisierung der wirtschaftsund sozialpolitischen Tendenzen der 1990er-Jahre statt, die sich vor allem

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in vier miteinander verwobenen Bereichen auswirkte  : erstens in der (vorübergehenden) Ausschaltung der Gewerkschaft von politischen Entscheidungsprozessen, zweitens im radikalen Abbau von Sozialleistungen durch drastische Reformen insbesondere der Pensionsversicherung, drittens in der Übererfüllung europäischer Vorgaben in der Fiskalpolitik zur Realisierung eines „Nulldefizits“ und viertens in der vollständigen Privatisierung von Industriekonzernen und Liberalisierung der public services. In parteipolitischer Hinsicht stellte die Mitte-Rechts-Regierung einen Ausnahmefall in der Geschichte der Zweiten Republik dar. Abgesehen von einer kurzen Periode Ende der 1960er-Jahre war die SPÖ immer an den Regierungsgeschäften beteiligt gewesen, mehr noch  : über weite Strecken allein an der Macht oder federführend bei Koalitionsregierungen. Die Oppositionsrolle der SPÖ ab 2000 zog einen weitreichenden Machtverlust nach sich. Im Unterschied zu den 1960er- und 1970er-Jahren, in denen die Oppositionsparteien qua der ihnen nahe stehenden Verbände an den politischen Verhandlungen beteiligt waren (und die Sozialpartnerschaft insgesamt, wie erwähnt, hohe politische Gestaltungskraft aufwies), wurden die kollektiven Arbeitnehmervertretungen unter den neokonservativen Regierungen der Jahre 2000 und 2002 von den Entscheidungsfindungsprozessen weitgehend ferngehalten. Der Einfluss des gesamten sozialdemokratischen Lagers auf den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs schrumpfte mit einem Wort auf ein Minimum. Symptomatisch für den Bruch mit der Tradition der paritätischen Mitbestimmung war das Zustandekommen der Pensionsreform 2003, die unter völligem Ausschluss der Arbeitnehmerorganisationen in Angriff genommen wurde – worauf der ÖGB mit den größten Streiks in Österreich seit den 1950er-Jahren reagierte –, um schließlich mit geringen Zugeständnissen an die Gewerkschaft verabschiedet zu werden. Generell konstatierten Ferdinand Karlhofer und Emmerich Tálos (2006  : 114f.) für die Zeit der konservativen Regierung, dass „das traditionelle Muster paritätischer Einbindung der Dachverbände ebenso zur Ausnahme [wurde] wie der korporatistische Interessenabtausch“ oder, deutlicher noch, „dass die sozialpartnerschaftliche Mitgestaltung […] von der Regel zur Ausnahme [wurde]“. Abzulesen ist dies unter anderem an der geringen Zahl akkordierter Beschlüsse, etwa bei arbeitsrechtlichen Materien, an der Bedeutungslosigkeit der Paritätischen Kommission oder auch daran, dass der paritätische Beirat für Wirtschaftsund Sozialfragen (seit 1963 wichtiges Beratungsgremium der Regierungen) kaum mehr eine Rolle spielte.



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Aufseiten der Gewerkschaft führte die politische Ohnmacht zu einer stärkeren konfrontativen Ausrichtung, die sich mit einer Urabstimmung unter Gewerkschaftsmitgliedern im Jahr 2001 ankündigte und sich in einer deutlich steigenden Streikbereitschaft bemerkbar machte, womit anders als in der Vergangenheit mehr auf die bewusste Einbindung der Mitglieder in die verbandlichen Aktivitäten gesetzt wurde (Karlhofer/Tálos 2006  : 108). Insgesamt veränderte sich das österreichische politische System ein kleines Stück in Richtung Konfliktdemokratie, was auch daran ersichtlich wurde, dass die Arbeitgeberverbände mehr auf Kampagnen und Lobbying zur Durchsetzung ihrer Interessen bauten und sich speziell die Industriellenvereinigung aus dem sozialpartnerschaftlichen Verhandlungssystem zurückzog.23 Stellte die sozialpartnerschaftliche Mediation von politischen Entscheidungsprozessen in der Vergangenheit ein wichtiges Instrument des Interessenausgleichs dar (womit in den 1970er-Jahren etwa der Ausbau der Sozialsysteme gewährleistet wurde), so ließen sich aus dem konfrontativen Stil der letzten Jahre keine nennenswerten Gewinne für die Arbeitnehmerseite erzielen, wie beispielsweise der bereits angesprochene Verlauf der Pensionsreform 2003 zeigte. Insofern führte die stärkere Mitgliederaktivierung zu keinem gewerkschaftlichen Machtzuwachs, sondern zu einer Fortsetzung der untergeordneten Rolle mit anderen Mitteln, die schon die Verhandlungsergebnisse der 1990erJahre offenbarten. Nach Abwahl der Regierung im Jahr 2006 resultierte dies in einer raschen Rückkehr an den Verhandlungstisch, ohne dass die Gewerkschaft je die vorrangig marktwirtschaftliche Ausrichtung der politischen Regulation infrage gestellt hätte. Emmerich Tálos (2005  : 208f.; zudem 2006  : 341f.) sprach angesichts dieser Entwicklungen, wie viele andere Experten, mehrfach davon, dass aus dem Erfolgsmodell der traditionellen Sozialpartnerschaft ein Auslaufmodell geworden sei, wobei sich die Frage stelle, ob „es unter einer geänderten Regierungskonstellation wieder mehr Einbindung der Verbände und Kooperation geben könnte“. In der Tat wurde seit der Neuauflage einer großen Koalition unter SPÖ-Führung im Jahr 2007 eine ganze Reihe von Sozialpartnerabkommen geschlossen, die die Grundlage für gesetzliche Reformen oder Kollektivvertragsänderungen bildeten. Erinnert sei etwa an neue, schärfere 23 So das Ergebnis einer Diskussion über Veränderungen der politischen Kultur zwischen dem Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Markus Beyrer, und dem Politikwissenschaftler Ferdinand Karlhofer beim Vranitzky-Kolloquium „Sozialpartnerschaft als Wettbewerbsvorteil  ?“ am 7.11.2007 in Wien.

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Zumutbarkeitsbestimmungen bei Arbeitslosigkeit, längere Ladenöffnungszeiten, an Vereinbarungen über flexiblere Arbeitszeiten oder die schrittweise Einführung eines Mindestlohns. Darüber hinaus wurden die Sozialpartnerschaft selbst und die daran beteiligten Selbstverwaltungskörper in der Bundesverfassung verankert. Allerdings änderte dies wenig an der neoliberalen Ausrichtung der Politik. In den konsensualen Vereinbarungen drückte sich die Fortsetzung des politischen Kurses der 1990er-Jahre im Zeichen der Wettbewerbsfähigkeit und die anhaltende Machtlosigkeit der Gewerkschaft aus – wie am neuen Arbeitszeitgesetz besonders deutlich ersichtlich wird. Die Arbeitszeitgesetz-Novelle 2007 stellte eine radikale Fortführung der Flexibilisierungstendenzen seit Mitte der 1990er-Jahre dar. Im Kern ermöglichte die Reform eine Ausdehnung der Arbeitszeiten ohne Mehrkosten (Überstundenzuschläge) bei guter Auftragslage, so dass die Beschäftigten das Risiko der betrieblichen Auslastung zum Teil mittragen.24 Für die Arbeitnehmerseite brachten die Verhandlungen einzig auf dem Gebiet der Teilzeitarbeit Verbesserungen, nämlich Mehrarbeitszuschläge im Ausmaß von 25 %. Im Dienste der „Standortsicherung“ schwand also die Zeitsouveränität der unselbstständig Beschäftigten weiter, und Einkommensverluste (weniger Überstundenzuschläge aufgrund längerer Normalarbeitszeiten) müssen dann hingenommen werden, wenn es der Mehrarbeitsbedarf von Unternehmen erfordert.25 Mit der mehrmals erwähnten Pensionsreform wurde unter der schwarzblauen Regierung auch der größte Sozialabbau in der Geschichte der Zweiten Republik realisiert. In zwei Etappen wurden die „Anpassungen“ der 1990erJahre zu Ende geführt und zugleich die Harmonisierung der Pensionssysteme (für privatwirtschaftlich Beschäftigte und den öffentlichen Dienst) in die Wege geleitet. Für zukünftige Pensionisten und Pensionistinnen wird dies aufgrund des verlängerten Bemessungszeitraums bei zunehmend diskontinuierlichen Erwerbsverhältnissen zu massiven Einkommensverlusten führen. Während solcherart der Sozialstaat „verschlankt“ wurde, förderte die

24 „Ein Teil der Ungewissheit der unternehmerischen Gewinnerwartung aus makroökonomisch unsicheren und umkämpften Märkten wird an die Arbeitenden weitergereicht“ (Nickel et al. 2008  : 217). 25 „Offenkundig macht das finanzkapitalistische Regime Methoden der Gewinnsteigerung wieder attraktiv, die, wie es Marx genannt hätte, auf die Produktion von absolutem Mehrwert, sprich  : auf der Verlängerung von Arbeitszeiten, auf Lohnkürzungen sowie der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen beruhen“, analysiert der Soziologe Klaus Dörre (2009  : 43).



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Regierung umgekehrt die private Altersvorsorge, also die Vermarktlichung der Pensionsversicherung, was in Hinkunft zu einem 3-Säulen-Modell aus öffentlicher, betrieblicher und privater Absicherung führen soll (wobei die Beiträge der beiden letztgenannten Säulen auf dem Kapitalmarkt veranlagt werden). Das Solidaritätsprinzip der Altersversicherung wurde mit anderen Worten merklich untergraben – zugunsten der Eigenverantwortlichkeit, die freilich nur jene Menschen an den Tag legen können, denen ausreichend finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Neben diesem Einschnitt in die Pensionsversicherung gab es spürbare Restriktionen in der Arbeitslosenversicherung, wie die Verringerung der Lohnersatzrate und die Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen, sowie in der Krankenversicherung, etwa bei Sehbehelfen. Diese Modifikationen veranschaulichen allesamt die generelle Ausrichtung der politischen Regulation in Richtung Sozialabbau und Schwächung des kollektiven Zusammenhalts. Es handelt sich um eine Dynamik der Re-Individualisierung, schreibt Robert Castel (2009  : 25), „deren Reichweite begreiflich wird, sobald man sich vor Augen führt, dass sie die kollektiven Organisationsformen, die sich unter den Bedingungen des Industriekapitalismus entwickelt hatten und die den Sockel der sozialen Sicherungsmechanismen bildeten, in ihr Gegenteil verkehrt und destabilisiert“. Unter der Mitte-Rechts-Koalition vollzog sich die endgültige Abkehr von den sozialpolitischen Zielen der Lohnarbeitsgesellschaft der 1970er-Jahre  : die Aushöhlung der öffentlichen Systeme sozialer Sicherheit bzw. die Verabschiedung wichtiger Mechanismen der sozialen Integration und sozialen Gerechtigkeit. Bedenkt man, dass die staatlichen Sozialleistungen in Österreich den größten Umverteilungseffekt zugunsten unterer und mittlerer Schichten haben und sie damit wesentlich zur sozialen Sicherheit eines großen Teils der Bevölkerung beitragen (Guger/Marterbauer 2007  : 14ff.), wird klar, dass anhaltende Restriktionen in diesem Bereich nicht nur die gesellschaftliche Ungleichheit verschärfen, sondern vor allem die sozialen Partizipationschancen einkommensschwacher Schichten ernsthaft infrage stellen. Ein Indiz für diesen Prozess der sozialen Desintegration stellte die anhaltend hohe Armutsgefährdung von rund 13 % der Bevölkerung (Marterbauer 2007  : 98) selbst in der wirtschaftlichen Hochkonjunktur der Jahre 2005 bis 2007 dar. Legitimiert wurde der Sozialabbau durch budgetäre Notwendigkeiten, die auf eine Zuspitzung der Fiskalpolitik der 1990er-Jahre hinausliefen – einen abrupten Budgetkonsolidierungskurs, der aufgrund der Verpflichtungen aus dem Stabilitäts- und Wirtschaftspakt der EU erforderlich zu sein schien. Am „Nulldefizit“, also an ausgeglichenen Staatsfinanzen, würde sich die erfolg-

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reiche Regierungsarbeit erweisen, und in diesem Kontext bekam die Verringerung der Staatsquote durch Reduktion der Ausgaben oberste politische Priorität. Abgesehen davon, dass die restriktive Fiskalpolitik 2001 den Konjunkturabschwung verstärkte, zeitigten die budgetären Maßnahmen der Regierung mit dem Ziel, die Staatsausgaben zu senken und ausgeglichen zu bilanzieren, deutliche längerfristige verteilungspolitische Auswirkungen. Die Umverteilung erfolgte vorrangig zugunsten der Unternehmen, unter anderem durch die Senkung der Körperschaftssteuer von 34 auf 25 % und die Gruppenbesteuerung,26 und zu Lasten der Unselbstständigen sowie der Pensionisten und Pensionistinnen, etwa durch die stärkere Belastung von Arbeitseinkommen mit Steuern und Sozialabgaben27 oder durch die Verschiebung der Steuerlast zu den Verbrauchssteuern, aber vor allem durch das neoliberale Sozialabbauprogramm. „In vertikaler Hinsicht gehört das untere Einkommensdrittel zu den großen Verlierern“, resümierte im Jahr 2007 der Budgetexperte der Kammer für Arbeiter und Angestellte, Bruno Rossmann (2006  : 151), um generell den Schluss zu ziehen, „dass die Regierung ab 2000 eine Finanzpolitik verfolgte, die als eine Flucht aus der sozialen Verantwortung charakterisiert werden muss“. Ebenso wichtig erscheint die Erkenntnis, dass sich mit den angesprochenen Steuersenkungen – denen die Abschaffung der Schenkungs- und Erbschaftssteuer unter der großen Koalition folgte –, also mit der Reduktion der Einnahmenquote, Forderungen nach dem Ausbau öffentlicher Güter und Dienstleistungen leicht zurückweisen ließen. „Hinter der Strategie einer Verknappung der Einnahmen bei gleichzeitig ausgeglichenen Haushalten steht das Ziel der Reduktion der Staatsausgaben und damit das Bild vom neoliberalen ‚schlanken‘ Staat“ (Rossmann 2006  : 141). Dieses „Bild“ bekommt angesichts der rigorosen Privatisierungspolitik ab 2000 noch wesentlich schärfere Konturen, wobei die erzielten Privatisierungserlöse wiederum ganz erheblich zur Reduktion des Budgetdefizits bzw. zur Erreichung des „Nulldefizits“ 2001 beitrugen. Die Regierung zielte im Unterschied zu den 1990er-Jahren auf Vollprivatisierung der verstaatlichten

26 „Österreich schlägt sich im internationalen Steuerwettlauf relativ gut“, titelte Der Standard am 11.2.2008, die effektive Durchschnittssteuerbelastung für Unternehmen betrage lediglich 22,4 % (lt. Untersuchung des Forschungsinstituts BAK Basel Economics). 27 Die „Taxing Wages“-Studie 2007 der OECD konstatierte, dass in Österreich die Belastung der Arbeitseinkommen durch Steuern und Sozialbeiträge in den letzten Jahren – entgegen dem OECD-Trend – zugenommen hat, wobei vor allem Gering- und DurchschnittsverdienerInnen davon betroffen waren.



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Unternehmen ab, womit auch die erwähnte, von der SPÖ verfolgte Logik einer strategischen Eigentümerfunktion des Staats (in Gestalt der ÖIAG als Kernaktionärin) unter die Räder kam. Bereits im Jahr 2000 wurde die Postsparkasse an die Bank für Arbeit und Wirtschaft veräußert, und die ÖIAGAnteile an der Telekom Austria wurden erheblich reduziert, gefolgt vom Verkauf des Dorotheums und der restlichen Austria-Tabak-Anteile, von VA Tech, VA Stahl und Böhler-Uddeholm – bis die ÖIAG Ende 2005 nur noch Anteile an vier Unternehmen (OMV, AUA, Telekom Austria und Post) besaß.28 Begleitet wurde dieser Prozess von weiteren Ausgliederungen aus der Hoheitsverwaltung (etwa von Krankenanstalten, aber auch der Universitäten im Jahr 2004) und der vollständigen Öffnung des Elektrizitätsmarktes (2001) und Liberalisierung des Gasmarktes (2002). Durch die Vollprivatisierung von Unternehmen werden Einnahmen aus diesen Betrieben für den Staat zukünftig entfallen, und „durch den nahezu vollständigen ‚Ausverkauf des Tafelsilbers‘ können künftig auch keine Einmaleffekte generiert werden“, kommentierte der Politikwissenschaftler Herbert Obinger (2006  : 166) diese Entwicklung. An sozialen Auswirkungen zog diese letzte Privatisierungswelle, ähnlich wie in den 1990er-Jahren, vor allem einen Beschäftigungsabbau und schlechtere Arbeitsverhältnisse nach sich. So gingen etwa bei der Telekom Austria rund 5.000 und bei VA Tech ca. 4.000 Arbeitsplätze zwischen 1999 und 2004 verloren (Obinger 2006  : 167).29 An der Vermarktlichung der österreichischen Postdienstleistungen lässt sich ablesen, dass die Shareholder-Value-Orientierung auch in ehemaligen staatlichen Monopolbetrieben Einzug gehalten hat  : Während die Post AG für 2008 einerseits sogar eine Sonderdividende ausschüttete, wurden andererseits Postämter geschlossen und Beschäftigte abgebaut bzw. Dienstleistungen an private „Postpartner“ ausgelagert. Nicht wie im Fordismus die Arbeitsbeziehungen und die soziale Frage, sondern der ökonomische Profit stehen im Zentrum des Managements öffentlicher Dienstleistungen im Neoliberalismus, und ähnliche Tendenzen sind auch in der öffentlichen Verwaltung zu erkennen, wo mit new public managementMethoden versucht wird, etwa in Form von SAP, die Kosteneffizienz zu stei28 Vgl. die Übersicht in Obinger 2006  : 165. 49 % der Post AG wurden 2006 an der Börse verkauft, und 2009 wurde die AUA von der deutschen Lufthansa übernommen. 29 Im Telekommunikationsbereich fand zum Teil eine Umschichtung von Arbeitsplätzen (bei damit einhergehender Verschlechterung der Arbeitsbedingungen) zu privaten Mobilnetzbetreibern statt.

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gern und die Bürokratie zu „optimieren“. Diese Funktionsveränderungen des Staats auf volks- und betriebswirtschaftlicher Ebene trugen letzten Endes nicht unwesentlich zur steigenden Arbeitslosigkeit, zur Stagnation der Beschäftigung sowie zur Intensivierung, aber auch Prekarisierung der Arbeit unter der schwarz-blauen Regierung bei. Die restriktive Fiskalpolitik manifestierte sich nicht zuletzt in einer – im internationalen Vergleich – äußerst niedrigen öffentlichen Investitionsquote (auch inklusive der Investitionen ausgegliederter Rechtsträger wie ÖBB und des Straßenbauunternehmens ASFINAG). Während öffentliche Investitionen im Austro-Keynesianismus eine Schlüsselrolle spielten, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die Infrastruktur zu verbessern, um Beschäftigungswachstum zu gewährleisten und die Binnennachfrage zu stärken, führte die Zurückhaltung der öffentlichen Hand in der schwachen Konjunktur nach 2000 zu wachsenden Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt. Das größte Problem im Hinblick auf die soziale Kohäsion der Gesellschaft stellte dabei die markant zunehmende Arbeitslosigkeit dar. Nach dem kurzfristigen wirtschaftlichen Aufschwung und steigenden Beschäftigungszahlen um die Jahrtausendwende wuchs die Arbeitslosigkeit stark an, wobei die Arbeitslosenquote ab 2002 (nach nationaler Definition und damit auch exklusive SchulungsteilnehmerInnen) rund 7 % betrug.30 Im EU15 Vergleich verzeichnete Österreich damit den viertgrößten relativen Anstieg der Arbeitslosigkeit (Fink 2006  : 171f.). Verschärft wurde die soziale Lage zudem durch die Stagnation des Arbeitsvolumens. Die Zahl der „unselbstständig aktiv Beschäftigten“ (der unselbstständig Beschäftigten ohne Kindergeldbezieherinnnen oder Präsenz- und Zivildiener) erhöhte sich zwischen 2000 und 2005 zwar um 1,5 %. Dahinter verbarg sich allerdings ein Beschäftigungsrückgang bei den Vollzeitarbeitsplätzen (vor allem von Männern), während – symptomatischerweise für die Geschlechterverhältnisse in Österreich – die Teilzeitarbeit bei den Frauen anstieg (Fink 2006  : 174  ; Walterskirchen 2005). Insgesamt vollzog sich also eine Verschiebung von Existenz sichernden Normalarbeitsverhältnissen hin zu atypischen, wenn nicht prekären Beschäftigungslagen, womit sich der Trend der 1990er-Jahre in zugespitzter Form fortsetzte. Eine ungebrochene Fortsetzung der Entwicklungen im ausklingenden 20. Jahrhundert lässt sich auch hinsichtlich der Einkommensentwicklung und 30 Die Arbeitslosenquote zwischen 2002-05 schwankte zwischen 6,8 und 7,1 % und entsprach damit ungefähr dem Stand inmitten der Krise im Frühjahr 2009.



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-verteilung konstatieren. Generell betrachtet, gab es ein Jahrzehnt lang keinen Zuwachs bei den Nettolöhnen und -gehältern, woraus sich die schwache Konsumneigung in Österreich zu einem guten Teil erklärt. „Die Netto-Realeinkommen je unselbstständig Beschäftigtem lagen im Jahr 2006 gleich hoch wie 1995, obwohl das gesamte Volkseinkommen in dieser Periode real um mehr als ein Viertel gewachsen ist“ (Marterbauer 2007  : 103). Womit sich die Frage stellt, welche Gruppen von diesem Wachstum profitierten. Bei den unselbstständig Beschäftigten sanken die Einkommen in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung drastisch, d. h. Niedriglohnbezieher (etwa teilzeitbeschäftigte Frauen) im beginnenden 21. Jahrhundert waren schlechter gestellt als jene Mitte der 1990er-Jahre, während die Bezieher von Spitzeneinkommen Zuwächse verbuchen konnten (was in einer vehementen Diskussion über Managereinkünfte in der Krisenzeit ab 2008 mündete). Die Einkommensschere für die Lohn- und Gehaltsempfänger öffnete sich also deutlich, und die materielle soziale Ungleichheit (mit all ihren Folgewirkungen für die Lebenschancen und -zufriedenheit der Menschen) nahm erheblich zu (Guger/Marterbauer 2007  : 5ff.).31 Zugleich verstärkte sich die Umverteilung auf Kosten der unselbstständig Beschäftigten, und zwar zugunsten der Einkommen aus Finanz- und Immobilienvermögen und jenen der Freiberufler. Die (bereinigte) Lohnquote sank ab 2000 erheblich, auf den historischen Tiefstand von 56 % im Jahr 2006, während der Anteil der Einkommen aus Besitz merklich anstieg. Damit bestimmte die Verteilung der Vermögen in zunehmendem Maß jene der Einkommen, wobei dieses Vermögen noch ungleicher verteilt war als die Einkommen (Guger/Marterbauer 2007  : 4).32 Mit einem Wort, die Lohn- und Steuer- bzw. Abgabenpolitik unter der schwarzblauen Koalition führte insgesamt dazu, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer wurden.33 Diese Entwicklung bestimmte auch die Wahrnehmung der österreichischen Bevölkerung, deren größte Sorge 2007 im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit die zunehmende Kluft zwischen Reich und Arm war (knapp gefolgt von der Sorge um Verschlechterungen der sozialen Ab31 Zu dieser Tendenz trug auch die ungleiche Belastung von Arbeitseinkommen durch Steuern und Sozialabgaben in den letzten Jahren bei, vgl. OECD 2007. 32 Die Autoren merkten dazu an, dass in Österreich aufgrund des Bankgeheimnisses (das innerhalb der EU immer mehr in Misskredit gerät) und der Einheitswerte beim Grundvermögen keine genaue Analyse der Vermögensverteilung möglich sei. 33 OECD-Generalsekretär Angel Gurría verwies in einem Interview mit der Zeitschrift Profil darauf, dass „Arbeit in Österreich zu hoch besteuert [wird], Vermögen zu niedrig“, vgl. Profil 16/2008  : 50.

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sicherung, einem Gefühl der Unsicherheit also, das für die postfordistische Epoche charakteristisch ist). 34 In der Regierungsperiode der Mitte-Rechts-Koalitionen vergrößerte sich nicht nur die vertikale soziale Ungleichheit, sondern es wuchs auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wieder an. Während in der KreiskyÄra wichtige Weichenstellungen zur Integration der Frauen ins Erwerbsleben und zur Gleichbehandlung der Geschlechter vorgenommen wurden, die in den 1980er- und anfänglichen 1990er-Jahren zu einem Aufholprozess der Frauen auf dem Arbeitsmarkt führten, kehrte sich diese Tendenz in den letzten Jahren um. Ausschlaggebender Grund dafür war die weitgehende Vernachlässigung der Frauenpolitik durch die rechts-konservative Regierung zugunsten einer forcierten Familienpolitik, wie sie in der Einführung des Kinderbetreuungsgeldes 2002 zum Ausdruck kam  : Relativ hohe direkte staatliche Zuwendungen an Familien, genauer  : an karenzierte Mütter, mit dem Effekt, dass diese Mütter vom Arbeitsmarkt verdrängt wurden oder im Anschluss an die häusliche Kinderbetreuung berufliche Einbußen in Kauf nehmen mussten. Die 2008 erfolgte Flexibilisierung des Kinderbetreuungsgeldes durch die große Koalition und die (Wieder-)Einführung eines einkommensabhängigen Kindergeldes 2009 sollen gegenwärtig zu einer besseren Re-Integration von Frauen ins Erwerbsleben und zu einer stärkeren Beteiligung der männlichen Partner an der Kinderbetreuung führen. In puncto beruflicher Integration von Frauen gab es insgesamt mehrere deutliche Rückschritte zu verzeichnen (vgl. den Beitrag von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band). Betrachtet man die Stundenlöhne, so fällt auf, dass sich der Gehaltsunterschied zwischen Frauen und Männern seit Mitte der 1990er-Jahre vergrößerte und der Rückstand der Frauen im Jahr 2006 beachtliche 20 % betrug (was sich zum Teil aus der unterschiedlichen Entlohnung in Frauen- und Männerbranchen, aus der geringeren Bezahlung von Teilzeitstunden und Ähnlichem mehr erklärt). Im internationalen Vergleich fiel Österreich damit gegenüber den anderen EU-Ländern zurück und reihte sich unter die Nachzügler der Gleichstellungspolitik ein. Ähnliches gilt für die Karrierechancen von Frauen. Während der Frauenanteil im höheren Management innerhalb der EU zwischen 2001 und 2006 stieg (von 30,1 auf 32,6 %), fiel er in Österreich von 30,3 auf 28,7 % zurück – ein Prozentsatz, der ebenfalls unter dem Durchschnitt der EU lag (European Commission 2008  : 18, 20). Bereits 2006 attestierte der Global Gender Gap 34 Laut Umfrage des market-Instituts im Dezember 2007, zit. in Der Standard vom 22.12.2007.



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Report des Weltwirtschaftsforums einen enormen Aufholbedarf für Österreich in Sachen Geschlechtergleichstellung, vor allem hinsichtlich der ökonomischen Gleichstellung und Chancen im Beruf, wo Österreich nur Rang 81 unter 115 untersuchten Ländern einnahm. Seitdem fiel Österreich in der Kategorie Economic Participation and Opportunity weiter zurück, nämlich auf Platz 103 unter 134 Nationen im ranking 2009 (URL 2). Zu ergänzen wäre dieses Bild noch durch Bildungsdaten, die beispielsweise zeigen, dass es zwar – wie schon in den 1990er-Jahren – mehr Universitätsabsolventinnen als -absolventen gibt, aber der Prozentsatz von Frauen auf ProfessorInnenstellen und im Management von Universitäten verschwindend gering ist.35 Festzuhalten gilt es jedenfalls, dass die politische Regulierung ab 2000 einer Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse Vorschub leistete – dass die Neoliberalisierung Österreichs mit einer äußerst konservativen Geschlechterpolitik Hand in Hand ging. Daran hat bislang auch die Regierungsarbeit der großen Koalition wenig geändert, nachdem mit der flexiblen Fortschreibung des Kindergeldes eines der strukturellen Hauptprobleme für die bessere berufliche Integration von Frauen, der Mangel an öffentlichen Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder, zumal in ländlichen Regionen, ungelöst blieb. Allerdings gibt es ab Herbst 2009 zumindest in Wien eine flächendeckende Gratis-Kindergartenbetreuung. Für ganz Österreich ist ein verpflichtendes letztes Kindergartenjahr für Fünfjährige in Planung. 5. Krise und Ausblick Die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise auf die „Realwirtschaft“ und damit auf den Arbeitsmarkt im Jahr 2009 waren dramatisch, auch in Österreich. Innerhalb der Eurozone stieg die Arbeitslosenquote im Verlauf des Jahres auf über 9,5 % an (nach internationaler Definition), während österreichweit zu Herbstbeginn rund 245.000 Menschen (4,8 % nach internationaler und 6,8 % nach nationaler Definition) arbeitslos waren und sich zusätzlich über 70.000 Personen in Schulung befanden (URL 3). In einigen Bundesländern betrug der Zuwachs an Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr mehr als 40 %, und die Prognosen gingen von einem weiteren Ansteigen der Arbeitslosigkeit bis ins Jahr 2010 oder 2011 aus.36 Daneben nahm die 35 Vgl. die grafische Aufbereitung in Der Standard vom 25.1.2008. 36 Vgl. URL 4 und die Aussagen des WIFO-Arbeitsmarktexperten Helmut Mahringer in Der Standard vom 3.6.2009.

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Kurzarbeit vor allem in den Industrieregionen Nieder-, Oberösterreichs und der Steiermark enorm zu. Im Juli 2009 waren insgesamt 58.000 Menschen von Kurzarbeit betroffen und 336 Betriebe hatten Kurzarbeit angemeldet. Die Regelung dieser Kurzarbeit wurde zum wichtigsten Thema der sozialpartnerschaftlichen Mediation, bei der es nunmehr um die Verteilung des Mangels an Lohnarbeit in der postfordistischen Krise ging. NGOs, wie die österreichische Armutskonferenz und Caritas, wiesen auf ein Heer an Armutsbetroffenen, knapp 80 Millionen Menschen in ganz Europa, hin – und auf das starke Anwachsen der Armut und Armutsgefährdung im Inland (mit 400.000 bzw. 600.000 Betroffenen im Frühjahr 2009) (URL 5  ; zudem BMfSK 2009  : 237ff.). Das Schrumpfen der Wirtschaft und die sozialen Auswirkungen dieses Prozesses, allem voran die hohe Arbeitslosigkeit und Prekarisierung von Lebenslagen, führten zu einem vorübergehenden Aussetzen des Stabilitätspakts in Europa  : In einer ganzen Reihe von EU-Staaten fiel das Budgetdefizit 2009 höher aus als die vereinbarten drei Prozent des BIP, so auch in Österreich, die Staatsquoten sind unisono im Steigen begriffen, und die Staatsverschuldung droht in einigen Ländern zu explodieren. In Österreich soll die Verschuldung der öffentlichen Haushalte im Jahr 2013, am Ende der Legislaturperiode, 78,5 % des BIP betragen.37 Diese Haushaltsnöte lösten eine Diskussion über eine stärkere Vermögensbesteuerung in Österreich aus – Änderungen in der Steuerpolitik, die schon internationale Organisationen wie die OECD einforderten –, die notwendig erscheint, um weiteren Einschränkungen sozialstaatlicher Sicherungssysteme entgegenzuwirken. Gerade die öffentlichen Sozialleistungen haben eine umverteilende Wirkung von oben nach unten und tragen damit in erheblichem Maß zur kollektiven sozialen Sicherheit, zu den gesellschaftlichen Teilhabechancen und zum Lebensglück unterprivilegierter Bevölkerungsschichten in Österreich bei. Zur Finanzierung eines starken Sozialstaats, etwa im Sinne des schwedischen Modells, bedarf es Markus Marterbauer (2007  : 277ff.) zufolge einer umfänglichen Restrukturierung des Abgaben- und Steuersystems, die das vorherrschende Ungleichgewicht zu Lasten der Lohn- und GehaltsempfängerInnen beseitigt  : eine stärkere Indienstnahme der Einkommen aus Kapitalerträgen, Unternehmensgewinnen und Vermögen für gesellschaftliche Zwecke, etwa in Form einer Wertschöpfungsabgabe oder indem Vermögenszuwächse in die Besteuerung miteinbezogen werden. Auf internationaler Ebene wäre 37 Vgl. die Kommentare zur österreichischen Budgetdiskussion in Der Standard vom 22.4.2009.



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dementsprechend dem Steuerwettbewerb nach unten38 (oder generell der staatlichen Konkurrenz innerhalb der europäischen Gemeinschaft) ein Ende zu setzen – durch die stärkere Harmonisierung der Gewinnbesteuerung oder auch ein gemeinschaftliches Anheben der Körperschaftssteuer innerhalb der EU (ebd.: 279). Vor allem aber scheint es angesichts des globalen ökonomischen Desasters erforderlich, die Finanzmärkte stärker zu regulieren39 und die internationalen Transaktionen einer Besteuerung im Dienste der allgemeinen Wohlfahrt zu unterziehen, wie es die globalisierungskritische Organisation Attac seit nunmehr einem Jahrzehnt (in Form der Tobinsteuer) fordert. Wie solche Regelungen im Detail auch immer aussehen mögen, offensichtlich ist – und dies gilt auch für eine ganze Reihe anderer Vorschläge zur Verbesserung der sozialen Integration und Kohäsion, wie eine generelle Arbeitszeitverkürzung als Mittel für zukünftige Vollbeschäftigung oder die Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung –, dass die Realisierung jeglicher Reformen von den politischen Machtverhältnissen abhängt. Gerade in der Krise zeigt sich, wie unverzichtbar der Staat und die politische Regulation auf europäischer Ebene für die wirtschaftliche Stabilität sind, wobei die Machtbalance zwischen konservativen und linken nationalen wie transnationalen Organisationen, zwischen marktwirtschaftlich und sozialstaatlich orientierten Akteuren letzten Endes bestimmt, welchen Kurs die wirtschafts- und sozialpolitische Regulation nimmt. Wie innerhalb der Europäischen Gemeinschaft generell, so stellte auch in Österreich die neokonservative politische Ausrichtung und Interpretation von Wirtschaftspolitik eine wesentliche Ursache für die restriktive Fiskalpolitik, die Prekarisierung von Lohnarbeit und den Sozialabbau dar – ein Neokonservatismus, der mit dem Regierungseintritt der ÖVP im Jahr 1987 Konturen anzunehmen begann und vom Regierungspartner SPÖ in den 1990er-Jahren zunehmend mitgetragen wurde, um schließlich unter den Mitte-Rechts-Regierungen ab 2000 zur herrschenden Doktrin zu werden. Besonders augenscheinlich wird der Transformationsprozess der politischen Regulation, um es nochmals zu betonen, im Vergleich mit den 1970er-Jahren, wo Normalarbeitsverhältnisse, größere Handlungsspielräume für Frauen, 38 Für die BRD, den wichtigsten Handelspartner Österreichs, vgl. etwa Hickel 2006  : 108ff. 39 „Alles, was in einer Finanzkrise gerettet werden muss, weil es im Finanzsystem eine wesentliche Rolle spielt, sollte, wenn keine Krise da ist, reguliert sein, damit es keine maßlosen Risiken eingeht“, fordert der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman (2009  : 220).

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wachsende Familieneinkommen und Konsummöglichkeiten, die kollektive soziale Sicherheit oder auch bessere Bildungschancen im Zentrum der Politik standen.40 Der Zeitraum ab Mitte der 1990er-Jahre war demgegenüber durch zunehmende Arbeitslosigkeit, die Flexibilisierung und Prekarisierung von Erwerbsarbeit, stagnierende Lohneinkommen, den Abbau von Sozialleistungen und Rückschritte hinsichtlich der Gleichstellung der Frauen gekennzeichnet41 (wobei die wachsende Ungleichheit der Geschlechter in Österreich der EU-Programmatik wie den EU-Antidiskriminierungsrichtlinien eher zuwiderlief ). Die Regierungspolitik im beginnenden 21. Jahrhundert brachte zudem die Sozialpartnerschaft temporär zum Erliegen – die traditionelle „zivilgesellschaftliche“ Mediation politischer Entscheidungsprozesse in Österreich und den lange verfolgten Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit auf dem Verhandlungsweg. Der Machtverlust der Arbeitnehmerorganisationen, der sich schon in den 1990er-Jahren abzeichnete, wenn man die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen betrachtet, beschleunigte sich unter der schwarz-blauen Regierung, wobei die politische Ohnmacht einen stärkeren Aktionismus der Gewerkschaft bewirkte. Die Fragen nach gesellschaftlicher Integration, kollektiver Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit bekommen angesichts der Auswirkungen der neoliberalen Politik – der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich,42 der Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt, der schwindenden sozialen Absicherung – neue Brisanz. Die gegenwärtige soziale Frage ist, Robert Castel (2008  : 336ff.) zufolge, durch den Verlust des zentralen Integrations- und Identifikationsmoments Lohnarbeit gekennzeichnet, bedingt durch die Erosion der Normalarbeitsverhältnisse und sozialen Sicherheit. Um den bedrohlichen Anzeichen sozialer Desintegration wie der hohen Armutsgefährdung und Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit, der Ausbreitung von prekärer, kaum existenzsichernder Beschäftigung oder der Erhöhung der Zahl an working poor entgegenzuwirken – alles Entwicklungen, die beispielsweise in Deutschland dazu beitrugen, dass sich schon vor

40 Damit soll nicht gesagt werden, dass es eine wünschenswerte politische Lösung wäre, zu den Verhältnissen der 1970er-Jahre zurückzukehren. 41 „Aus frauenpolitischer Sicht bildet die Förderung eines Niedriglohnsegments den negativen Kern der neoliberalen Beschäftigungspolitik“, konstatiert Hildegard Nickel (2009  : 214) für die BRD. 42 Dem Sozialbericht 2009 war zu entnehmen, dass das oberste Zehntel der österreichischen Haushalte etwa 54 % des gesamten Geldvermögens auf sich vereinte (BMfSK 2009  : 278).



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der Krise immer mehr Menschen, und zwar quer durch alle Schichten, als Verlierer des wirtschaftspolitischen Prozesses wahrnahmen43 –, erscheint es erforderlich, solidarische Prinzipien und kollektive soziale Bewegungen auf der nationalen, aber vor allem auf der transnationalen, europäischen Ebene zu stärken. Zu dieser Frage der nationalen und internationalen Vernetzung des Widerstands gegen neoliberale Politik existiert eine ganze Reihe unterschiedlicher Vorstellungen, sowohl in der sozialwissenschaftlichen Literatur als auch in der politischen Praxis, wobei sich die Bündnisbereitschaft und das politische Potenzial der sozialen Bewegungen erst erweisen muss (die bis heute, selbst in der gegenwärtigen Krise, dem Neoliberalismus wenig entgegenzusetzen haben).44 Der Soziologe Ulrich Bröckling verweist zum Beispiel auf neue Formen des Widerstands im Konsumbereich, auf die Antiprekariats-Bewegung in der BRD, die durch karnevaleske Aktionen und medienwirksam als Art „Konsum-Guerillas“ die soziale Lage von Arbeitslosen problematisiert.45 Klaus Dörre (2009  : 59) spricht von der Entdeckung der Prekarier für die gewerkschaftliche Interessenpolitik in Deutschland, die in Mindestlohn- und Leiharbeitskampagnen zum Ausdruck kommt, und er weist generell auf einen neuen Typus von Gegenmacht im „Finanzmarkt-Kapitalismus“ hin  : eine, wie er sagt, „assoziative Macht“ aus der Synthese von Arbeitermacht und neuen klassenunspezifischen Machtquellen (ebd.: 58). In internationaler Hinsicht betonte Pierre Bourdieu (2001  : 20f.) um die Jahrtausendwende die Bedeutung der europäischen Gewerkschaftsbewegung im Kampf um größere soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Integration. Dabei gelte es allerdings, das enge, allein auf die Arbeitswelt bezogene gewerkschaftliche Verständnis des Sozialen zu überwinden und beispielsweise sowohl ImmigrantInnen als auch die Arbeitslosen in die soziale Bewegung zu integrieren. Dieter Klein, Vorsitzender der Zukunftskommission der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wies bei einem Vortrag in Wien auf eine Strategie punktueller internationaler Allianzen linker Parteien und Organisationen zu

43 So der Soziologe Sighard Neckel in seinem Referat „Die Wiederkehr der Gegensätze“ anlässlich der IFK-Tagung „Unterschicht. Zur Geschichte und Gegenwart der ‚Armut‘“ im Jänner 2008. 44 Die EU-Wahlen 2009 führten paradoxerweise zu einer Stärkung jener konservativen politischen Fraktionen, die die neoliberale Orthodoxie forcierten. 45 In seinem Referat „Jenseits des kapitalistischen Realismus. Anders anders sein“ im Juni 2009 im Rahmen der Ringvorlesung „Kapitalistischer Realismus“ an der Universität Wien.

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spezifischen sozialen und ökologischen Fragestellungen hin,46 während Elmar Altvater (2006  : 197ff.) in seinen Publikationen das transnationale Engagement „sozioterritorialer Bewegungen“ betonte, wie Sozialforen und Attac, die glaubwürdige Alternativen zum Neoliberalismus aufzeigen würden. Ulrich Beck (2009  : 29ff.), um ein letztes, abschließendes Beispiel zu erwähnen, setzt auf einen „kosmopolitischen Staat“ – die Transnationalisierung des Nationalstaats, eine Symbiose aus Zivilgesellschaft und Staat – zur Zivilisierung der globalen Wirtschaft, ohne allerdings die politischen Akteure dieses Staats zu benennen. Über die Wahrscheinlichkeit von Akteurskonstellationen, die der neoliberalen Politik effektiven Widerstand entgegensetzen, resümieren Robert Castel und Klaus Dörre (2009  : 384f.), um mit einer optimistischen Note zu enden  : „Trotz Entsolidarisierung, politischer Apathie und Offenheit für rechtspopulistische Sirenengesänge stellt die Selbstorganisation der Unorganisierbaren inzwischen mehr als eine hypothetische Möglichkeit dar […] Deshalb könnte es sein, dass die Geschichte der Solidarität doch noch nicht zu Ende geschrieben ist.“

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Birgit Sauer

Das Private des Sozialen  ? Mechanismen der ­Geschlechterpolitik im Neoliberalismus

1. Post-Neoliberalismus – das Ende der Geschlechterungleichheit ante portas  ? Einleitung und Fragestellung „Diese Krise ist eine Männerkrise“, konstatieren Hamann, Niejahr und Scholter in der Zeit vom 23. Juli 2009. Was wir derzeit erleben, sei keine re-cession, sondern eine he-cession, eine tiefe „Männerkrise“ also. Indizien dafür gibt es einige  : Männer sind viel stärker von Erwerbslosigkeit betroffen als Frauen. So stieg in Österreich die Arbeitslosenquote bei Frauen von 5 % im Juni 2008 auf 5,9 % im Juni 2009, die der Männer hingegen im selben Zeitraum von 4,6 auf 6,7 % (URL 1). Schließlich könne man, so die Zeit-AutorInnen weiter, Männer auch als Verursacher der gegenwärtigen Krise ausmachen, sind doch die maßlos gierigen „Heuschrecken“ in der Regel männlichen Geschlechts, sind doch die globalen Finanzzocker Männer. Ist die derzeitige Krise also eine Testosteronkrise und können „Trümmerfrauen“ in Führungsetagen den völlig überhitzten Casinokapitalismus retten oder gar in eine andere Richtung führen  ? Die Zeit-AutorInnen sind sich da sicher  : Die Krise „verändert das Verhältnis der Geschlechter“ – nicht nur in der Familie, wo der erwerbslose Mann nun einkauft und den Müll wegbringt, sondern auch im Erwerbsleben, denn da könnten oder sollen „Frauen für neues Wachstum sorgen“. Sind wir also aus Geschlechterperspektive bereits in der Phase des Post-Neoliberalismus angelangt, in der es eine reale Chance zur Überwindung von Geschlechterungleichheiten gibt  ? Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise hat aber noch ein anderes vergeschlechtlichtes Doppelgesicht  : das der mehrheitlich männlichen OpelArbeiter bzw. Beschäftigten in der Autoindustrie, deren Arbeitsplätze durch  Dies ist eine gründlich überarbeitete Fassung meines Beitrags aus dem Jahr 2001  : „Gender makes the world go around“. Globale Restrukturierung und Geschlecht, in  : Scharenberg, Albert/Schmidtke, Oliver (Hg.)  : Das Ende der Politik  ? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2003, S. 98–126.

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staatliche Subventionen mit viel Getöse gerettet wurden, und das der mehrheitlich weiblichen Beschäftigten bei Arcandor, dem deutschen Dienstleistungsunternehmen, dem u.a. auch Quelle angehörte, das nicht in gleichem Umfang Staatsgelder einwerben konnte. Die staatlichen Rettungsaktionen aus der Wirtschaftskrise reproduzieren also die typische vergeschlechtlichte Segmentierung des Arbeitsmarktes. Vieles spricht dafür, dass die derzeitige Krise keine Krise des Neoliberalismus in dem Sinne ist, dass sich die fundamentalen neoliberalen Institutionen und hegemonialen Verhältnisse grundlegend transformieren. Es steht vielmehr zu vermuten, dass die neoliberale Hegemonie, der Glaube an die Macht des Marktes, an die Notwenigkeit von Konkurrenz und Wachstum durch die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht außer Kraft gesetzt wird. Im Gegenteil  : Der „Opelismus“, wenn man die jüngste Episode des Postfordismus so bezeichnen möchte, also die staatliche Ausfallbürgschaft für ein völlig versagendes Finanz- und Wirtschaftssystem, wird plötzlich als selbstverständliche Dimension des neoliberalen Ökonomismus diskutiert. Kein neuer Keynesianismus wird hegemonial, sondern die Verstaatlichungs„einbrüche“ und die staatlichen Zuwendungen werden zur Rechtfertigung des Neoliberalismus nutzbar gemacht. Viel eher handelt es sich also bei der gegenwärtigen Krise um eine Verschärfungskrise des Neoliberalismus, eine Krise, die die Paradoxien neoliberaler sozialer, ökonomischer und politischer Verhältnisse deutlicher hervortreten lässt. Allerdings ist neu, dass in den (Wohlfahrts-)Staaten der nördlichen Hemisphäre die sozialen Kosten des Marktradikalismus zunehmend öffentlich diskutiert werden  : Erwerbslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, die Verunstetigung von Lebensläufen und soziale Desintegration sind spürbare Effekte neoliberaler Wirtschaftspolitik, die durch die aktuelle Wirtschaftskrise verschärft und beschleunigt wurden. Die Armut steigt sichtbar auch in den Zentren neoliberaler Marktradikalität  : Der trailer ist das Symbol für den Verlust nicht nur des Eigenheims, sondern der Armut im Kernland des Kasinokapitalismus USA. Diese aktuellen paradoxen Diskurse machen m. E. einen Blick auf Geschlechterverhältnisse im Neoliberalismus notwendig, um die geschlechtsspe­ zifischen Transformationspotenziale der aktuellen Wirtschaftskrise auszuloten. Schwerpunkt des vorliegenden Textes ist deshalb eine geschlechterkritische Konzeptualisierung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Veränderungen, die unter der Bezeichnung „Neoliberalismus“ firmieren (vgl. auch Sassen 1996  ; Bergeron 2003). Dies heißt, den Geschlechtertext der Neuforma­



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tierung von Diskursen und Praxen, von Politiken und Subjektivierungsweisen im Zuge der Etablierung eines neoliberalen Staat-Gesellschafts-Verhältnisses herauszuarbeiten. Die Beispiele sind dem österreichischen Kontext entnommen, ohne dass dabei allerdings das Beispiel Österreich umfassend interpretiert wird. Im Gegenteil, die Exempel sollen lediglich die theoretisch-konzeptuellen Überlegungen illustrieren.

2. Neoliberalismus als hegemoniales geschlechterpolitisches Projekt. Eine feministische Analyseperspektive Trotz des postmodernen Abgesangs auf „große Erzählungen“ konnte sich der Neoliberalismus als ein solches Narrativ am Ende des 20. Jahrhunderts etablieren. Der „Jargon der Globalität“, so Pierre Bourdieu (1997  : 14) in Anlehnung an Adorno, „ist bis ins Innerste der beherrschten Klasse der europäischen Nationen vorgedrungen und hat dort einen ökonomistischen Fatalismus, eine […] mehr oder minder verzweifelte Resignation um sich greifen lassen“. Es ist in der Tat interessant zu beobachten, dass und wie das neoliberale Weltprojekt eine Dynamik der Unausweichlichkeit, wie es ökonomische und politische Sachzwänge entwickelt  : Der Deus ex machina, der ökonomische Standortdiskurs, unterfüttert neoliberale Politik mit dem Argument, dem ökonomisch-fiskalischen Weltmarktsog sei nicht zu entkommen. Ökonomie wird zum Schicksal, Standortwettbewerb zum quasi-natürlichen Diktat nationalstaatlicher Politik (Hirsch 1995). Das Bild der „Ökonomisierung der Politik und des Sozialen“ (Rose 2000) kennzeichnet die neoliberale Kondition trefflich. Im Neoliberalismus wird der Markt zum organisierenden Prinzip von Gesellschaft und Staat. Ökonomie, Wirtschaftlichkeit, Effektivität und Rechenbarkeit werden zu Leitideen aller sozialen und politischen Institutionen, sie werden zum zentralen Wissen, und Ökonomie wird zur Leitwissenschaft und zur Staatsräson. Doch Neoliberalismus meint mehr  : Wendy Larner (2000  : 29) bezeichnet Neoliberalismus als eine Politik, eine Ideologie und eine Regierungstechnik. Im Zentrum der neoliberalen Kondition steht also nicht nur die Ökonomie, nicht nur der Markt, vielmehr steht die gesamte gesellschaftliche Ordnung, der Staat als Steuerungs- und Regulierungsinstanz, aber auch der Alltag der Menschen zur Disposition. Wie alle hegemonialen Diskurse impliziert der Neoliberalismus eine Umbildung des Alltags und die Neuregelung der Zusammenhänge sozialer Erfahrung, also neuartige Prozesse der Subjektivierung, d. h. der He-

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rausbildung von Identitäten, von Einstellungen und Handlungsorientierungen. Neoliberale Verhältnisse sind durch einen Schulterschluss zwischen eingeschlechtlich-männlicher Wissenschaft und Politik gekennzeichnet  : Bis auf eine Handvoll Frauen gibt es eine einträchtige Männerdominanz sowohl in der Gruppe der global players – des transnationalen Kapitals und der Finanzwelt wie der hohen Politik – als auch in der Gruppe der global analysts. Dem „Turbokapitalismus“ entspricht ein offensichtlicher „Turbomaskulinismus“ von Politik und Wissenschaft. Sind für die Neoliberalen Ökonomie und Markt geschlechtsneutral, so dominiert bei linken Kritikern des Neoliberalismus die funktionalistische Sicht, die aktuellen ökonomischen Transformationen hätten höchstens Folgen für den Alltag von Frauen. Die Analyse des Zusammenhangs von Neoliberalismus und Geschlecht folgt in der Regel folgendem Narrativ  : Geschlecht wird auf Frauen reduziert, und diese gelten als jene gesellschaftliche Gruppe, die weltweit in besonders drastischer Weise von den Transformationen in Ökonomie und Staat betroffen ist. Handlungsperspektiven und Verantwortliche können dann freilich nicht mehr sichtbar gemacht werden. Feministische Wissenschaftlerinnen haben die neoliberalen Transformationen geschlechterkritisch „nachgearbeitet“. Quintessenz dieser Überlegungen ist es, dass Frauen im weltumspannenden Transformationsprozess zwar in spezifischer Weise betroffen sind, dass sie aber nicht nur „Folgegeschädigte“ ökonomischen Raub- und sozialpolitischen Abbaus sind. Wohl leiden Frauen vor allem in den Ländern des Südens unter den neoliberalen Strukturanpassungsprogrammen, wohl sind sie in den Ländern der EU vornehmlich im prekären Segment der Teilzeitarbeit anzutreffen, wohl weitet sich beispielsweise in Österreich der wage gap (siehe den Beitrag von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band) und wohl verstärkt der Umbau des Sozialstaats weibliche Armut. Doch einige gut ausgebildete Frauen im Norden zählen durchaus zu den Gewinnerinnen neoliberaler Umstrukturierung, und Männer z. B. in der Autoindustrie zählen zu den Verlierern des in der Finanz- und Wirtschaftskrise verschärften Neoliberalismus. Neoliberalismus ist somit nicht ausschließlich Frauen diskriminierend, wohl aber wird im Prozess neoliberaler Restrukturierung Geschlecht diskursiv mobilisiert, und  Zum Konzept der Subjektivierung vgl. Foucault 1976.  Vgl. u.a. Klingebiel/Randeria 1998  ; Sassen 1996 und 1998  ; Leitner/Ostner 2000  ; Bergeron 2003  ; Appelt/Weiss 2001  ; Sauer 2001  ; Stolz-Willig/Veil 1999  ; Gibson-Graham 1996.



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Frauen wie auch Männer werden als ökonomisch und politisch handelnde Subjekte neu verortet. Die neoliberale Restrukturierung des Kapitalismus ist, ebenso wie seine Nationalisierung nach dem 2. Weltkrieg, politisch hergestellt und gewollt (Bergeron 2003). Trotz der Hegemonie des Ökonomischen darf Neoliberalismus nicht als bloß ökonomischer bzw. fiskalisch induzierter Prozess verstanden werden. Vielmehr ist die Transformation von Staatlichkeit eine ganz zentrale Dimension dieser ökonomischen und sozialen Veränderungen, und (National-)Staaten kommt als Organisatoren von sozialer Ordnung, von gesellschaftlichem Konsens und von Hegemonie eine aktive Rolle zu. Neoliberale Globalisierung sollte deshalb als ein Set kontingenter politischer, ökonomischer und kultureller Transformationsdiskurse und -praktiken konzeptualisiert werden (Marchand 1996  : 597). Neoliberalismus und Globalisierung sind also auch spezifische Denkmuster und Glaubenssysteme, die tief in den Köpfen und Körpern der Menschen verwurzelt sind, die die Welt erklären und zugleich politische Lösungen präfigurieren. Sie sind überdies soziale und politische Praxen, in denen Menschen Identitäten und Interessen (re-)produzieren sowie neue Normen und Institutionen ausbilden (Brodie 1994  : 52). Hegemoniale neoliberale Diskurse und Praktiken konstruieren neue „Notwendigkeiten“  : Sie konfigurieren ökonomische, soziale, politische und symbolische Räume auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene neu und rahmen die aktuellen Restrukturierungsprozesse in einem wettbewerblichen und effizienzbezogenen, also ökonomischen Horizont. Neoliberale Restrukturierung ist somit keine Transformation jenseits der Geschlechterlogik, die dann (nur) auf Geschlechterverhältnisse einwirkt, sondern sie ist ein immanent vergeschlechtlichter Prozess, der einerseits auf einem spezifischen Geschlechterarrangement beruht und dieses andererseits reproduziert, aber auch modifiziert. Neoliberalismus als politisches Projekt, als soziale Praxis und als Denkmuster lässt ohne Zweifel neue geschlechtsspezifische Vergesellschaftungs-, Individualisierungs- und Politisierungsformen, mithin neue Geschlechteridentitäten und neue Geschlechterverhältnisse entstehen. Diese Dynamik kann prinzipiell die Auflösung traditioneller Geschlechtszuschreibungen ermöglichen und die nationalstaatlich eingehegten ungleichen Geschlechterverhältnisse der fordistischen Moderne überwinden. Ungleiche Geschlechterregime, die in einer hierarchischen und segregierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, im wohlfahrtsstaatlich abgesicherten male breadwinner model, in familien- und eherechtlichen Normen, in geschlechtsspezifischen Subjektivierungsweisen sowie in bipolaren

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Geschlechterrepräsentationen gründen, könnten zu Auslaufmodellen werden. Die neoliberale Dynamik kann aber auch neue Sedimentierungen von ungleicher Männlichkeit und Weiblichkeit – insbesondere entlang der Linien von Klasse, Ethnizität und Nationalität – zur Folge haben (Marchand 1996  : 602). Vieles spricht für eine Restrukturierung von hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit, so dass Janine Brodie (1994  : 8) den Neoliberalismus als eine „phallozentrische Restrukturierung“ bezeichnet. Meines Erachtens ist der Modus der Vergeschlechtlichung von politischen und ökonomischen Institutionen, der sich in diesem Prozess durchsetzen wird, offen und zu verhandeln. Die Modi der Vergeschlechtlichung unterscheiden sich allerdings in Raum und Zeit, sie sind also historisch und geographisch-politisch zu kontextualisieren. Vergeschlechtlichung erfolgt zudem differenziert nach Klassenlage, aber auch nach ethnischer und nationaler Zugehörigkeit. So lässt sich nicht mit Eindeutigkeit sagen, ob Frauen die Verliererinnen des Neoliberalismus oder die Gewinnerinnen der aktuellen Krise sind, vielmehr muss die Frage anders gestellt werden  : Wie stellen neoliberale Restrukturierungsprozesse Konstellationen von Ungleichheit entlang der Geschlechterachse, aber auch entlang von Klassenlage, Ethnizität und Nationalität her  ? Wie lässt sich nun die Geschlechtsspezifik des Neoliberalismus konzeptualisieren  ? Hierarchische Zweigeschlechtlichkeit ist in europäischen Wohlfahrtsstaaten seit dem 2. Weltkrieg durch vielfältige Institutionen, Normen und Leitbilder und durch spezifische Grenzziehungen und Trennungen zwischen dem Markt, dem Staat und der Familienökonomie bzw. zwischen öffentlich und privat abgesichert. Die Dynamik neoliberaler Restrukturierung wird von Ent- und Begrenzungsprozessen bzw. von Grenzverschiebungen zwischen diesen geschlechtsspezifisch institutionalisierten Sphären angetrieben (Eisenstein 1997  : 142f.). Auf diesen neuen Begrenzungsregimen beruht die geschlechtsspezifische Grammatik des Neoliberalismus. Der ökonomische und politische Restrukturierungsprozess zieht Geschlechterungleichheit als Ressource ins Kalkül, um die neuen funktionalen Trennungen und Grenzen zu legitimieren. Geschlechterverhältnisse laufen deshalb Gefahr, Herrschaftsverhältnisse zu bleiben. Freilich sind diese Be- und Entgrenzungen keine Automatismen, sondern hängen von länderspezifischen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab, wie beispielsweise der Rolle von Gewerkschaften, von Frauenbewegungen, aber auch von linken Parteien.



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3. Verschiebung zwischen Ökonomie und Staat  : Deregulierung des Marktes und Maskulinisierung des Staats Neoliberalismus setzt seinem Selbstverständnis nach zum einen auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes und zum anderen auf ein Konzept des minimalistischen Staats, der möglichst sparsam in Marktverhältnisse eingreifen soll. Beide Prozesse haben, wie ich im Folgenden zeigen möchte, Implikationen für Geschlechterverhältnisse bzw. nutzen Geschlechterverhältnisse als Medien ihrer Realisierung. Neoliberalismus basiert auf dem vulgarisierten neoklassischen Argument, dass der Markt die einzig effektive Institution zur Regulierung ökonomischer und gesellschaftlicher Verhältnisse sei und folglich auf politische Regulierung und Planung verzichtet werden könne. Der selbstregulative Marktmechanismus, die invisible hand des Marktes, sei besser als andere Formen der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums dazu in der Lage, soziale Gerechtigkeit herzustellen. Vorausgesetzt und hingenommen wird dabei freilich, dass soziale Ungleichheit eine unvermeidliche Folge von Marktprozessen in kapitalistischen Gesellschaften ist. Mit dieser neoliberalen Sakralisierung des Marktes ist eine unausgesprochen androzentrische, d. h. männerzentrierte ökonomische Theorie verknüpft, deren Grundlegungen von feministischen Ökonominnen seit geraumer Zeit kritisiert werden (Ferber/Nelson 1993  ; Folbre 1994  ; Madörin 1994). Die Vorstellungen vom Marktgeschehen und Geldmechanismus als bloße Zahlenlogik und als auf abstrakten Verträgen beruhendes Unterfangen verschweigt die Erfahrungen von Menschen, von Männern und Frauen. Diese Logik konstruiert den Markt als geschlechtsneutral und prinzipiell offen für Frauen. Richtig aber ist, dass Märkte soziale Interaktionen sind und auf gesellschaftlichen Normen und Institutionen basieren. Märkte sind also keine „natürlichen“ Sphären, wie dies die Neoklassik postuliert, sondern sie sind herrschaftlich durchtränkt  : Auch Marktverträge sind Geschlechterverträge, und Marktverhältnisse sind ungleiche Geschlechterverhältnisse (Madörin 1994  : 11f.). Die konzeptuellen Asymmetrien basieren auf der geschlechtlich kodierten Trennung in (materielle) Produktion und Reproduktion (der Menschen) (Brodie 1994  : 49). Das immanent maskulinistische Prinzip neoliberaler Marktkonstruktion gründet darin, dass reproduktive bzw. Care-Arbeit aus der kapitalistischen Ökonomie externalisiert wird, so, als könne die marktförmige Produktion von Waren und Dienstleistungen ohne die Pflege und Sorge um die Arbeitskraft erfolgen. Genau diese Trennung ist der Grund

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dafür, dass Märkte eben nicht prinzipiell offen für beide Geschlechter, sondern geschlechtsspezifisch desintegrativ sind, weil Frauen aufgrund der Zuständigkeit für Reproduktionsarbeit nicht zu denselben Bedingungen in den Markt eintreten wie Männer (Bakker 1994  : 5f.). Diese Ausblendung bzw. Externalisierung der Care-Arbeit, der Reproduktionsarbeit und des Alltags ist aber auch eine Ursache für die ständige Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Kapitalistische Ökonomien brauchen ein stetes Außen, das sie in Wert setzen können, nicht zuletzt den Alltag von Menschen, der freilich nicht völlig zu kontrollieren und der Marktlogik zu unterwerfen ist. Der Versuch, durch private Verschuldungsstrategien Wert zu schöpfen, führte beispielsweise in die letzte Immobilien- und Finanzkrise. Politische Regulierungen können prinzipiell auch Möglichkeiten bieten, Marktverhältnisse demokratischer und geschlechtergerechter zu gestalten. So führten gesetzliche Regelungen gegen Lohndiskriminierung zumindest zu einer partiellen Angleichung von Männer- und Frauenlöhnen. Die Privatisierung und Deregulierung der Ökonomie, also der Verzicht auf staatliche Regelungskompetenz, können somit umgekehrt zu einer Verfestigung geschlechtsspezifischer Ungerechtigkeiten des Marktgeschehens und zu einem Fortschreiben Frauen diskriminierender Strukturen führen – sichtbar z. B. an der geringen Anzahl weiblicher Führungskräfte in der österreichischen Wirtschaft. So liegt im Jahr 2008 laut einer Arbeiterkammerstudie über die Top-200 österreichischen Unternehmen der Frauenanteil in der Geschäftsführung bei nur 4,5 % und in den Aufsichtsräten bei 9 % (Naderer/ Niklas 2008  : 1). Die neoliberale Verzichtsforderung gegenüber staatlichen Eingriffen in das ökonomische Geschehen beruft sich auf neoklassische Wirtschaftsmodelle. Friedrich Hayek, einem der Väter neoliberaler Marktorthodoxie, gilt staatliche Regulierung als störender Eingriff in ein gleichsam natürliches Equilibrium. Er sieht im Staat eine Form von Zwangsmacht, die vorgibt, Wissen zur rationalen Gesellschaftsplanung nutzbringend einsetzen zu können (O’Brien/Penna 1996  : 77). Staatsdiskurse der Jahrtausendwende werden im neoliberalen Duktus einseitig ökonomischer Deutungsraster geführt. Die überzogene Rede von der zunehmenden Funktionslosigkeit des Staats gegenüber der Ökonomie ist Teil dieses hegemonialen Projekts. Staaten werden aber nicht funktionslos, sie sind auch nicht bloß die dem ökonomischen Prozess gegenüber handlungsbeschränkten Akteure, sondern im Gegenteil  : Staaten besitzen eine je spezifische Fähigkeit zur Anpassung an das neue globale setting und sie besitzen die Kapazität, den ökonomischen Internationali-



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sierungsprozess zu steuern. Neoliberalismus heißt also nicht nur Steuerungsverlust nationalstaatlicher Politik infolge ökonomischer Globalisierung und Marktprivatisierung, sondern vornehmlich Steuerungsverzicht nationalstaatlicher Politik bzw. Verlagerung politischer Steuerung. Vor allem traditionell starke Staaten, zu denen auch Österreich zählt, werden zu Agenten und keineswegs zu Opfern neoliberaler ökonomischer Internationalisierung (Weiss 1997  : 17  ; vgl. auch den Beitrag von Penz in diesem Band). Der Staat „erodiert“ nicht, er wird nicht „zerstört“ (Bourdieu 1997  : 13), sondern der Staatsapparat vollzieht einen „Formwandel in der Architektur“ (Altvater/Mahnkopf 1996  : 116), er erhält ein neues Bauprinzip. Das „Ende des Staats“ ist also treffender als die Anpassung von Staaten an die neue ökonomische Doktrin zu bezeichnen  : Staatliche Institutionen werden, mit neuen Strukturen und Funktionen ausgestattet, für neue Aufgaben gebraucht. Der globalisierte Staat transformiert sein Staatsprojekt  : In dem Maße, wie der Glaube an eine glückliche Hochzeit zwischen Wohlfahrtsstaat und Kapitalismus zu schwinden beginnt, brechen die westlichen Industriestaaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und diversifizierten Auswirkungen mit ihrer Nachkriegsordnung (Jessop 1994  : 68). Mit dem Wandel vom Sicherheits- zum Wettbewerbsstaat (Hirsch 1995) bzw. vom keynesianischen Wohlfahrts- zum schumpeterianischen Leistungsstaat (Jessop 1994) stellt der Nationalstaat vornehmlich optimale Verwertungsbedingungen für das ansässige Kapital her, damit es zum leistungsstarken player im internationalen Wettbewerb wird (Hirsch 1995  : 103). Nationalstaatliche Politik soll sich – zugespitzt gesagt – zum Gleitmittel für weltweite kapitalistische Produktion formieren  : „Standorträson wird zur neuen Staatsräson“ (Fenner 1998  : 39). Weil der sich internationalisierende Kapitalismus nach einer adäquaten, internationalen politischen Infrastruktur verlangt, versucht er, sich seiner nationalstaatlichen Eierschalen zu entledigen, so, wie der nationale Kapitalismus sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts die adäquate Form des Nationalstaats schuf. Um international wettbewerbsfähig zu bleiben bzw. zu werden, so das neoliberale Narrativ, müsse das Kapital von staatlichen Fesseln befreit werden. Dies führt zu einer Rekonfiguration des Verhältnisses zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor. Dieses neue Verhältnis zielt darauf ab, „den Staat von der Wahrnehmung bisher als öffentlich verstandener Aufgaben zu entbinden, letztere also zu ‚kommodifizieren‘“ (Brock 1998  : 280f.). Das neoliberale Mantra lautet Deregulierung, Privatisierung und Inwertsetzung staatlicher Betriebe und Leistungen (für Österreich vgl. den Beitrag

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von Penz in diesem Band). Senkung der Lohnkosten, Flexibilisierung der Arbeit und sozialpolitische Deregulierung sind nationale Fixpunkte dieses „Programm gewordene[n] Neoliberalismus“ (Bourdieu 1998  : 3). Privatisierung als marktgetriebene Modernisierung staatlicher Institutionen wird als Heilmittel gegen Staatsverschuldung und ökonomische Krisensymptome gepriesen. Auch in Österreich führte dies – vor allem im Zuge des EU-Beitritts – zu Privatisierungen öffentlicher Aufgaben und zu staatlichen Sparpaketen. Der Begriff des „schlanken Staats“ ist die Kurzformel für dieses Vorhaben. Die Entscheidungswege des korporatistischen Interventionsstaats gelten der neoliberalen Doktrin als zu langwierig. Aufgabe des minimalisierten Staats soll der Schutz von Freiheit der Marktindividuen, die Sicherung des Eigentums und die Aufrechterhaltung der Vertragsfreiheit, also der formalen Regeln für das Funktionieren des Marktes sein (Lütz 1997  : 476). Der Staat muss freilich auch die ungerechten geschlechtsspezifischen Grundlagen des Marktes absichern. Diese bilden die Voraussetzung für die Internationalisierung des Kapitals  : Auch der kompetitive und mobile Unternehmer muss an allen Orten der Welt möglichst preisgünstig reproduziert werden. Nach wie vor braucht es deshalb eine Gruppe von Personen, die die Büros und Toiletten, die verglasten oder steinernen, auf alle Fälle ortsgebundenen Hüllen des footlose capitalism reinigt  : Auch im Turbokapitalismus gilt es, grundlegende menschliche Bedürfnisse möglichst kostengünstig zu befriedigen (Sassen 1996). Doch auch die neoliberale Restrukturierung verweist auf die andauernde Bedeutung des Staats für die kapitalistische Akkumulation, braucht sie doch, so Phillipe Schmitter und Jürgen Grothe (1997  : 534), nach wie vor „einen effektiven Mechanismus …, um geordneten Wettbewerb zwischen den Produzenten und freiwillige Akzeptanz der Einkommensverteilung zwischen Kapital und Arbeit sicherzustellen“. In Österreich beispielsweise wurde deshalb die Sozialpartnerschaft nicht beseitigt, wohl aber seit den 1990er-Jahren sukzessive transformiert. Am Beginn des neuen Jahrtausends mutierte die Sozialpartnerschaft unter der schwarz-blauen Regierung zu einem Residuum, in dem die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Gewerkschaften verschoben wurden. Der Umbau nationalstaatlicher Steuerungsleistung ist zum einen sektoral (Lütz 1997  : 476), zum anderen handelt es sich um die Entkoppelung und neuartige Verkoppelung von Apparaten innerhalb des Staats sowie zwischen lokalen, nationalen und internationalen Ebenen. Nur wenige staatliche Verwaltungen erhalten im neuen nationalen korporatistischen Verhandlungsge-



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flecht Macht  ; am ehesten „diejenigen Teile, die am engsten mit der globalen Ökonomie in Verbindung stehen“ (ebd.: 494). Der staatliche Formwandel bedeutet also eine Stärkung der Wirtschaftsbürokratie. „Der Nationalstaat füllt die Lücke, die ihm das (Finanz-)Kapital und das internationale Staatensystem zuweisen. Er kehrt zurück als Teil der international verflochtenen Expertokratie“ (ebd.: 494f.; Hervorhebung B.S.). Die Verträge von Maastricht und Amsterdam sind Beispiele solcher Entkoppelungsprozesse  : Sie forcieren zuvörderst einen vereinheitlichten Wirtschaftsraum, innerhalb dessen Kapital, Waren, Arbeitskräfte und Dienstleistungen mobil sein können. Die verbal großgeschriebene soziale und politische Integration soll gleichsam naturwüchsig der ökonomischen folgen, ohne dass aktiv eine demokratische Gestaltung angegangen wird. Zurück bleiben dann nationalstaatlich fragmentierte Sozialpolitiken. Auch der neoliberale Staat ist geschlechtsselektiv. Er privilegiert die Interessen ressourcenstarker, internationalisierter Eliten in Ökonomie und Politik – trotz einiger Frauen nach wie vor mehrheitlich Männer – und ignoriert oder marginalisiert die Interessen von nicht in den Weltmarkt einbezogenen Bevölkerungsgruppen, zu denen mehrheitlich Frauen zu rechnen sind. Die Stärkung jener staatlichen Verwaltungen, die die Privatwirtschaft durch Steuersenkungen und nur zaghafte Auflagen und Kontrollen fördern (z. B. Finanzministerien, Bankenaufsicht), erklärt beispielsweise, dass die geschlechtsspezifisch ungleiche Arbeitsteilung nicht thematisiert wird und dass die Kanäle einer Politisierung von Geschlechterungleichheit verstopft bleiben. Sinnfällig wurde dies wieder bei den geschlechtsblinden Wegen aus der zurückliegenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Darüber hinaus soll der minimale Staat auch und vor allem „stark“ sein. Mit der Orthodoxie des Marktes korrespondiert ein Politikverständnis, das Autorität, Elite und Führung betont (Atzmüller 1997  : 28). Die Verschlankung des Staats ist nicht nur seine Reduktion auf einen Nachtwächterstaat, sondern auch seine Aufwertung als Gewaltstaat. Neoliberale staatliche Restrukturierung impliziert auch einen Rückzug des Staats auf seine Ordnungs- und Repressionsfunktionen. Gerade innerstaatlich „herrschaftsmächtige Institutionen“ „verkümmern“ keineswegs (Narr/Schubert 1994  : 131). Das Monopol staatlicher Gewaltanwendung wird in den Dienst nationaler Wettbewerbsteilnehmer gestellt, damit diese optimal an der internationalen Konkurrenz teilnehmen können. Die Feindbilder der „internationalen organisierten Kriminalität“, der „Terroristen“ und „Schläfer“ sind nicht erst seit den Anschlägen vom 11. September 2001 unmittelbarer Ausdruck dieser staatlichen Re-

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organisation und der neuen Regulierungsform des internationalen Kapitals. Interessant und widersprüchlich ist freilich, dass dieser Prozess begleitet ist von einer Vermarktlichung staatlicher Sicherheit, z. B. durch das outsourcing von Sicherheitsleistungen an private Sicherheitsdienste oder durch die Privatisierung von Gefängnissen  : Die neoliberale Restrukturierung des Staates impliziert also neue public-private-Kooperationen, in denen der Staat vornehmlich eine Moderatorenrolle innehat. Die Permanenz wie auch der Wandel gewaltstaatlicher Herrschaftsinsti­ tutionen macht die Persistenz der ihnen eingeschriebenen Männlichkeits­ muster bzw. der Unterordnung von Frauen wahrscheinlich, denn die mas­ ku­linistische Staatstektonik wird lediglich renoviert  : Jene Sektoren, die historisch eng mit Männlichkeit verknüpft waren – nämlich Militär, Polizei und Bürokratie, aber auch bevölkerungspolitisch relevante Institutionen und Politiken – werden zuungunsten der historisch später integrierten, gleichsam feminisierten Apparate wie Bildung und soziale Dienste gestärkt. Sie gewinnen im globalen Restrukturierungsprozess an Macht und ihre partielle Privatisierung entzieht sie staatlicher Kontrolle. Öffentliche Diskurse verschieben sich weg von so genannten „weichen“ politischen Themen wie Gleichstellungs- und Frauenpolitik, die zudem diskursiv zum Luxus einer kleinen Gruppe erklärt werden. In Österreich stimmt insbesondere die FPÖ ein in den Gesang der Delegitimierung von Frauenpolitik und gender main­ streaming, so beispielsweise Barbara Rosenkranz (2008) in ihrer Schmähschrift MenschInnen. 4. Neue Grenzen zwischen Staat und Familienökonomie  : ­frauenfeindliche Geschlechterkonstrukte am Ende des maskulinistischen Wohlfahrtskompromisses In Westeuropa bedeutet neoliberale Restrukturierung einen Abbau des Sozialstaats, wie er sich seit dem Ende des 2. Weltkriegs herausgebildet hat. Der Wohlfahrtsstaat wird als Anachronismus des vormals nationalen Kapitalismus präsentiert. Er könne anstehende Probleme wie Gesundheitsversorgung  Feminisiert wird im Text in doppelter, ambivalenter Bedeutung verwendet  : Einerseits meint feminisiert, dass der Frauenanteil in Organisationen bzw. Institutionen ansteigt  ; andererseits zielt der Begriff aber auch auf den häufig feststellbaren Bedeutungs- oder Machtverlust von Einrichtungen, die einen hohen Frauenanteil aufweisen.



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und die Finanzierung der Pensionen nicht mehr lösen und sei daher selbst zum Problem geworden  : Er sei Standortnachteil im internationalen Wettbewerb und daher eine Bürde für den jeweiligen Wirtschaftsstandort. Dem Sozialstaat wird deshalb Abspecken verordnet, er soll modernisiert, verschlankt werden, so als sei er verfettet und müsse nun zu seiner jugendlichen Silhouette zurückfinden. Der damalige österreichische Wissenschaftsminister Hahn sprach 2009 vom „athletischen Staat“, eine Metapher, die die gestählten bzw. harten Aspekte des Staats hervorkehren will. Ein solcher Staat soll zu einer residualen Rolle bei der Bereitstellung von Wohlfahrt zurückkehren bzw. seine „Wohltätigkeit“ in Richtung auf Flexibilisierung des Arbeitsmarktes reorganisieren (O’Brien/Penna 1996  : 91). Soziale Schutzleistungen werden deshalb privatisiert, das „Soziale wird dem Marktmechanismus überantwortet“ (Wichterich 1998  : 4). An die Stelle der Zähmung des Kapitalismus durch den Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts tritt im 21. Jahrhundert die neoliberale Lähmung des Wohlfahrtsstaats. In der Tat modifizierten die Wohlfahrtsstaaten des 20. Jahrhunderts (liberale) Marktverhältnisse durch soziale Sicherungen und durch gemäßigte Umverteilung materieller und kultureller Ressourcen, um zunächst die männliche Arbeiterschaft, dann aber auch Frauen qua Erwerbsarbeit in den Staat zu integrieren. T. H. Marshall (1992) bezeichnete diese Erweiterung des liberalen Projekts als „soziale Staatsbürgerschaft“. Das Sozialstaatsprojekt relativierte den Vertragsgedanken zur Garantie von Freiheit und Eigentum – die zivile Staatsbürgerschaft – und betonte die Verantwortung gegenüber den Bürgern und – wenn auch nur eingeschränkt – gegenüber den Bürgerinnen. Mit dem Wohlfahrtsstaat, der nicht nur in Österreich und Deutschland unter Beteiligung der ersten Frauenbewegungen im 19. Jahrhundert entstand, war die Idee der Fürsorge aus dem Zusammenhang der Familie in den öffentlich-politischen Raum transferiert worden. So lässt sich gleichsam von einer partiellen Feminisierung des Staats sprechen, weil der Wohlfahrtsstaat ganz offensichtlich die vermeintlich fest gefügte Geschlechtergrenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit porös machte, die Privatsphäre zum staatlich zu regulierenden Terrain erklärte und darüber hinaus auch sukzessive Frauen in seine Institutionen integrierte. Partiell blieb die wohlfahrtsstaatliche Feminisierung deshalb, weil der männerzentrierte Verlauf dieser Grenze zwischen öffentlich und privat nicht prinzipiell, sondern geschlechtsselektiv infrage gestellt wurde  : Frauen wurden – ebenso wie auf dem Arbeitsmarkt – auch in (sozial-)staatliche Regelungen zunächst nur als „Zuarbeiterinnen“ mit vom Ehemann abgeleiteten sozialen Rechten einbezogen.

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Auch der österreichische fordistische Wohlfahrtsstaat nach dem 2. Weltkrieg war lediglich eine modifizierte Variante des paternalistischen Sozialstaatsmodells  : ein korporatistischer Ausgleich männlicher, i.e. erwerbsbezogener Interessen, in den Frauen lediglich unter männlichen Vorzeichen integriert wurden. Der ernährerzentrierte Wohlfahrtsstaat regelte vornehmlich Erwerbsarbeit, ließ Haus-, Betreuungs- und Pflegearbeit aber tendenziell ungeregelt und führte die Tradition des männlichen Familienversorgers und der ökonomisch von ihm abhängigen Ehefrau fort. Sozialdemokratische Wohlfahrtspolitik seit den 1970er-Jahren suchte allerdings mehr Unabhängigkeit vom Familienernährer zu garantieren und institutionalisierte Regelungsmuster partieller Geschlechtergleichstellung. Das männliche Familienernährermodell wurde sukzessive durch eine am Individuum orientierte Sozialpolitik ersetzt (vgl. den Beitrag von Penz in diesem Band). In der Regel erfolgte diese Individualisierung über Erwerbsarbeit  ; und indem Frauen erwerbstätig wurden und sozialstaatliche Politiken es ihnen ermöglichten, Familien- und Berufsarbeit – wenn auch eher schlecht als recht – zu vereinbaren, konnten sie eigenständig soziale Ansprüche, z. B. in der Altersversorgung, erwerben. So stieg die Erwerbsquote von Frauen in Österreich von Mitte der 1970er- bis Mitte der 1990er-Jahre kontinuierlich an (vgl. den Beitrag von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band), doch die Versorgung mit öffentlichen Kinderbetreuungsplätzen ist nach wie vor auf weibliche Zu-, d. h. Teilzeitarbeit ausgerichtet. Die Versorgung mit Kindergarten- und Krippenplätzen ist deplorabel, und im Unterschied zu einem Hochschulstudium ist die Kinderbetreuung in der Regel nicht kostenfrei. Von einer Universalisierung des Sozialstaats durch sozialdemokratische Reformen lässt sich also nicht sprechen  : An den Grundkonstruktionen sozialstaatlicher Sicherung als männlicher erwerbszentrierter Kompromiss hat sich auch durch die sukzessive Anerkennung von Haus- und Kinderarbeit (zum Beispiel durch entsprechende Karenzregelungen oder durch Anrechnung von Kindererziehungszeiten bei den Pensionen) nichts Wesentliches geändert. Die neoliberale Restrukturierung lässt nun die Ungerechtigkeiten des Sozialsystems konturschärfer hervortreten – als Ungleichheit zwischen ArbeitsplatzbesitzerInnen und NichtbesitzerInnen von Arbeitsplätzen sowie zwischen Personen mit einer erwerbszentrierten Biografie und jenen, die für die gesellschaftliche Reproduktion verantwortlich zeichnen. Der Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen verlangsamte sich seit Mitte der 1990erJahre, der gender wage gap hat sich kaum verkleinert – hier liegt Österreich auf Platz 121 von 167 Ländern im Ranking des World Economic Forum 2008



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(Hausmann/Tyson/Zahidi 2008  : 44) –, und Frauen sind in atypischen, prekären, vornehmlich Teilzeit-Arbeitsverhältnissen deutlich überrepräsentiert (vgl. den Beitrag von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band). Neoliberalismus lässt sich also als Versuch begreifen, den maskulinistischen Wohlfahrtskompromiss zu „modernisieren“. Zwar unterscheiden sich die Formen neoliberaler Restrukturierungen je nach Wohlfahrtsstaatsregime (Leitner/ Ostner 2000), doch lässt sich für alle Regime ein geschlechtsspezifisches Restrukturierungsmuster ausmachen. Der residuale Sozialstaat soll nur noch bei Versagen der Marktmechanismen oder beim Zerbrechen familiärer Sicherungsstrukturen einspringen. Diane Sainsbury (1996) kommt zum Ergebnis, dass dadurch Frauen in allen Wohlfahrtsregimen deutlich benachteiligt sind, weil die Handlungs- und Entscheidungsspielräume insbesondere von verheirateten Frauen und Müttern eingeschränkt werden. Dem neoliberalen Staatsprojekt und seinen Reprivatisierungsstrategien fallen zudem wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen zum Opfer, die ein Minimum an sozialer Umverteilung, erweiterte Bildungsmöglichkeiten für Frauen und frauengerechtere Arbeitsund Erwerbsbeteiligung, schufen. Die Be-Grenzung des Wohlfahrtsstaats hat mithin eine Redefinition der „Privatheit“ von Frauen zur Folge  : Diese wird gleichsam ent-grenzt – sie müssen ein Vielfaches an Mehrarbeit erbringen (vgl. den Beitrag von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band) – und als Sphäre der Selbstbestimmung verunmöglicht. Während die wohlfahrtsstaatliche Regulierung des Fordismus eine partielle Feminisierung des Staats bedeutete, kann Deregulierung nun zu partieller Wieder-Vermännlichung führen. Dem neoliberalen Restrukturierungsdiskurs liegt eine maskulinistische Metaphorik zugrunde  : die Verknüpfung von Freiheit, Markt und Männlichkeit sowie von Abhängigkeit, Wohlfahrtsstaat und Weiblichkeit. Dem negativen Freiheitsbegriff des (Neo-)Liberalismus, der Freiheit als Abwesenheit von Zwang und nicht als Freiheit zu konzipiert (O’Brien/Penna 1996  : 82, 90), entspricht ein Menschenbild, das Individuen unabhängig von Gesellschaft und jenseits sozialer Bezüge zeichnet. Der fitte, kompetitive, unabhängige und rational seine Interessen realisierende Marktbürger, der homo oeconomicus, entpuppt sich als männlich  : In dieser Denkfigur realisiert sich Freiheit auf der Folie einer patriarchalen Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit und der dazugehörigen hierarchisierten Zweigeschlechtlichkeit. Nicht nur der freie männlich gedachte Bourgeois, auch der abhängige männliche Lohnarbeiter, der immerhin die Freiheit hat, seine Ware Arbeitskraft zu verkaufen, werden als unabhängig definiert. Der freie Marktbürger (Stiefel 1998  : 301) ist zuvörderst frei von Reproduktionsarbeit

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und braucht deshalb notwendig ein Pendant, das einerseits von ihm abhängig ist und ihn andererseits – in der Familie, jenseits des Marktgeschehens – reproduziert  : die (Ehe-)Frau. Weibliche Praxen werden auch im Fordismus so gedacht, dass Frauen nicht als Marktindividuen geeignet sind  : Als der Familie zugewiesene und für Reproduktionsarbeit zuständige Individuen bleiben sie notwendig hinter dem liberalen Freiheits- und Fitnessideal zurück, weil sie hinter der Schwelle des trauten Heimes die Unbilden des Marktes mit Altruismus, Empathie und Fürsorge kompensieren sollen. Die klassisch bürgerliche Hausfrau, aber auch die zeitweise in Teilzeit oder nicht Existenz sichernd beschäftigte, verheiratete „Zuarbeiterin“ gilt allerdings nicht als abhängig, sondern vielmehr als schutzbedürftig  ; diesen Schutz erhält sie vom Familienernährer. Historisch sind Abhängigkeit und Schutzbedürftigkeit mit weiblichen Praxen verknüpft. Jedoch werden Frauen, die sich vom Familienernährer unabhängig gemacht haben und dann auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind, z. B. alleinerziehende Mütter, als abhängig definiert (Fraser/Gordon 1994  : 7). Private Abhängigkeit vom Familienversorger gilt in neoliberaler Perspektive nicht als Unfreiheit – hierin zeigt sich der Zusammenhang von Neoliberalismus und Neokonservatismus  ; staatliche Zuwendungen für Reproduktionsarbeit hingegen werden als Höhepunkt von Unfreiheit und Abhängigkeit bezeichnet. Die partielle Feminisierung des Staats – der Sozialstaat – wird so diskursiv entwertet. Um das neoliberale (Wohlfahrts-)Staatsprojekt ranken sich zahlreiche vergeschlechtlichte Metaphern. Abhängigkeit und Unselbstständigkeit besitzen als Gegenbegriffe zu Freiheit auch im aktuellen Diskurs eine abwertende Geschlechterdimension. Im (neo-)liberalen Diskurs werden Markt und minimaler Staat als männliche Sphären glorifiziert, der Wohlfahrtsstaat wird demgegenüber als weiblich denunziert. Neoliberalismus kritisiert die Herausbildung eines vormundschaftlichen Staats, der mit seinem „paternalistischen“ Überprotektionismus die moralischen Grundlagen der Gesellschaft zerstöre und verantwortungslose und abhängige – sprich  : feminisierte – Menschen produziere. Der Wohlfahrtsstaat untergrabe die Verantwortung der Individuen für sich selbst, schaffe eine Versorgungsmentalität und bremse Eigeninitiative (O’Brien/Penna 1996  : 76, 91, 98). Er diskreditiere systematisch öffentliche männliche Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstverantwortung und Wettbewerb (Sawer 1996  : 118f.). Die Restitution von Verantwortung und Freiheit besitzt so den Subtext der Wiederherstellung traditioneller Geschlechteridentitäten und Geschlechterverhältnisse. Damit der öffent-



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liche Raum als „harte maskuline Identität“ (Carol Johnson, zit. nach ebd.: 130) restrukturiert werden kann, bedarf es einer klar davon abgegrenzten Familiensphäre als Ort feminisierter Identitäten. Diese geschlechterungleichen Einschreibungen des Fordismus verschärfen sich im Neoliberalismus zu widersprüchlichen Zumutungen an Frauen. Dies soll im folgenden Kapitel dargelegt werden.

5. Verschiebung zwischen Markt und Privatheit  : Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Privatisierung der Reproduktion Im Kontext von Globalisierung wird häufig vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ in westlichen Industriegesellschaften gesprochen. Diese These muss freilich anders formuliert werden  : Der Gesellschaft geht nicht die Arbeit aus, sondern die traditionellen Formen von Erwerbsarbeit und die damit verbundene Zweiteilung der Gesellschaft in männliche Erwerbsarbeiter und in Reproduktionsarbeiterinnen werden neu zugeschnitten. Das geschützte Segment lebenslanger – männlicher – Vollerwerbstätigkeit wird ebenso entgrenzt, wie die fest gefügten Familien- und Reproduktionsarbeitsverhältnisse. Immer mehr Männer fallen – nicht erst seit der aktuellen Wirtschaftskrise – aus dem formalisierten Erwerbsleben heraus und sind ungeschützt den kapitalistischen Verwertungsbedingungen ausgesetzt, eine Unmittelbarkeit, die früher vornehmlich Frauen bzw. Reproduktionsarbeiterinnen traf. Mit diesen Transformationen geraten auch überkommene Geschlechteridentitäten ins Wanken. Dies soll im Folgenden am Beispiel der dreifachen Feminisierung von Erwerbsarbeit deutlich gemacht werden (Bakker 2002  : 18f.)  : Feminisierung bedeutet zum Ersten eine steigende Zahl erwerbstätiger Frauen. Die Bildungspolitik seit den 1970er-Jahren verbesserte auch in Österreich die Voraussetzungen für weibliche Erwerbsarbeit und machte Erwerbstätigkeit zum selbstverständlichen Bestandteil des weiblichen Lebenszusammenhangs. Eine Gruppe gut ausgebildeter Frauen schafft es zunehmend, auch in klassischen Männerkarrieren zu reüssieren. Daneben steigt aber auch die schlichte materielle Notwendigkeit von (Ehe-)Frauen zur Erwerbstätigkeit, da Männer- und mithin Familieneinkommen sinken. In der Schicht der working poor reicht ein McJob nicht mehr aus, um eine Familie zu ernähren. Die europäische wissensbasierte Ökonomie zielt deshalb auf das Ausschöpfen aller Arbeitskraftressourcen und die Integration aller Arbeitsfähigen – auch von Frauen – in den Arbeitsmarkt. Die Lissabon-Strategie

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der EU zielt auf diese Integration von zwei Ernährern in das Erwerbsleben – freilich als weibliche Teilzeitarbeit, die kein anständiges und kein selbstständiges Leben ermöglicht, und unter Bedingungen, die Frauen nach wie vor den Hauptanteil an der Haus- und Pflegearbeit zuweisen. Feminisierung bedeutet zum Zweiten eine Prekarisierung und Informalisierung von Arbeitsverhältnissen  : nämlich den Anstieg diskontinuierlicher Erwerbskarrieren, ungeschützter Arbeit, nicht Existenz sichernder Teilzeitarbeit, befristeter Arbeitsverträge und neuer Selbstständigkeit. Insbesondere der Dienstleistungsbereich entwickelt einen Bedarf an flexiblen Arbeitsverhältnissen, kommen diese doch neoliberalen Anforderungen entgegen. Dieses neue Segment flexibler, ungeschützter Arbeit ist ein Segment von Frauenarbeit, und der Bedarf an weiblichen – oder besser  : als weiblich kons­ truierten – Arbeitskräften ist steigend. Euphemistisch ausgedrückt  : Die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften korrespondiert mit der Notwendigkeit – hauptsächlich von Müttern mit kleinen Kindern – Arbeit und Familie miteinander zu verbinden (vgl. den Beitrag von Grisold/Waltner/Zwickl in diesem Band). Feminisierung von Arbeit hat aber auch noch eine dritte Bedeutungsdimension  : Sie meint eine Absenkung des Lohn- und Einkommensniveaus auf das von Frauenarbeit – also von „Hilfs-“ und „Zuarbeit“ – sowie die stärkere Ausdifferenzierung von (Frauen-)Löhnen. Schlecht ausgebildete Frauen und Frauen aus ethnischen Minderheiten werden in einem miserabel entlohnten und unsicheren Erwerbsarbeitssegment gettoisiert (Migrantinnenbericht 2007), während gleichzeitig einige wenige gut ausgebildete Frauen in weltmarktfähige, hoch qualifizierte und hoch dotierte Jobs, wenn auch durch eine unsichtbare „gläserne Decke“ gebremst, Eingang finden (McDowell 1997). Die sozialen Frakturen, die sich aus der Position in der formellen bzw. in der informellen Ökonomie ergeben, werden also auch zwischen Frauen zunehmend sichtbar, denn die Integration von Frauen in Spitzenpositionen westlicher Industriegesellschaften erfolgt häufig auf der Basis einer Ausdehnung informeller weiblicher Arbeitsverhältnisse, beispielsweise in der Hausökonomie. Die weiblichen Mitglieder der globalen „Clubgesellschaft“ (SchunterKleemann 1998) können sich eine Reproduktionsarbeiterin – meist aus dem Süden – kaufen (Rommelspacher 1999  : 245). Marianne Marchand (1996  : 586) macht deshalb zwei zeitgleiche, ineinander verwobene Prozesse aus, die geschlechterspezifisch kodiert sind  : einen „maskulinistischen“ Prozess der hoch technologisierten Welt globaler Finanzen und Produktionen sowie einen „feminisierten“ Prozess der nachrangigen



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Ökonomie sexualisierter und ethnisierter Dienstleistungen mit intimen Aktivitäten in der Haus- bzw. Privatsphäre. So werden neue Differenzierungsstrategien entworfen und relevant  : Ökonomische, soziale und klassenspezifische Unterschiede zwischen Frauen werden größer und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird kulturell und ethnisch überlagert. Der formelle und der informelle Arbeitsmarkt greifen stärker ineinander  : Die formelle Ökonomie braucht zunehmend die informelle, halb-öffentliche. Neoliberale Arbeitsbedingungen produzieren dadurch neue geschlechtlich kodierte Arbeitsplatzpositionen  : Je formalisierter eine Arbeit ist, um so wahrscheinlicher ist es, dass sie eine männliche Domäne bleibt  ; je informalisierter sie ist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von einer/m zunehmend auch nichtwestlichen ReproduktionsarbeiterIn erbracht wird. Die Feminisierung von Erwerbsarbeit und die Desintegration von Familien sind Aspekte einer widersprüchlichen Neubestimmung des Verhältnisses von produktiver und reproduktiver Arbeit. Die „Entgrenzung“ von Erwerbsarbeit, d. h. die zeitliche Ausweitung der Lebensarbeitszeit, aber auch Intensivierung von Arbeit, ist von einer Reprivatisierung der Reproduktion der Gattung sowie sozialstaatlicher Leistungen begleitet. Subsidiarität und Eigenverantwortung, die in diesen Diskussionen beschworen werden, sind euphemistische Begriffe für die Refamiliarisierung von Care-Arbeit. Diese Redefinition des Privaten ist geschlechterpolitisch fatal. Die Reprivatisierungsstrategie setzt voraus, dass es ein unbegrenztes, gleichsam natürliches Potenzial an unbezahlter Arbeit, in der Regel Frauenarbeit, gibt, das die wohlfahrtsstaatlichen Transformationen auffangen kann (Elson 1994  : 42). Doch diese Strategie basiert auf einem Konstrukt von familiärer Privatheit, das es längst nicht mehr gibt. So ist die Kernfamilie immer seltener die dominante Lebensform, und die Idee eines einzigen Familieneinkommens bildet die Wirklichkeit nicht mehr richtig ab  : Frauen sind überwiegend nicht mehr zu Hause am Herd, und die Transformationen der Erwerbsarbeit tragen dazu bei, dass sie so schnell nicht mehr dorthin zurückkehren. Durch den Rückzug des Staats und die Mobilisierung familiärer Arbeitsressourcen und Sicherungssysteme wird die Privatsphäre erweitert und vergrößert – und den Frauen aufgelastet. Dies produziert neue widersprüchliche Geschlechterverhältnisse in der Privatheit, da einerseits die soziale Verantwortung für die kommenden ebenso wie die Reproduktion gegenwärtiger Generationen nach wie vor an Frauen gebunden ist, andererseits aber deren Erwerbserwartungen und die Notwendigkeit für Frauen zur Erwerbstätigkeit steigt. Auch Männer geraten in Konflikte, haben doch immer mehr Väter den Wunsch, Kinderbetreuungsarbeit

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zu übernehmen (Männer haben allerdings selten den Wunsch, ihre kranken Eltern zu pflegen), ein Bedürfnis, das der Arbeitsmarkt allerdings kaum durch entsprechende Regulierungen befriedigt (Weber et al. 2009). Neoliberale Restrukturierung lässt die Reproduktion der Gattung, also die Notwendigkeit von Pflegearbeit, völlig außer Acht. Während im fordistischen Modell Reproduktionsarbeit – wenn auch minimal – „verstaatlicht“ und anerkannt wurde, wird sie in der neoliberalen Ära dethematisiert  : Sie soll nebenbei erledigt werden. Der männliche Charakter der neoliberalen Restrukturierung liegt mithin darin begründet, dass Frauen zunehmend, wenn auch zunehmend prekär in den Arbeitsmarkt integriert werden, Erwerbsarbeit gleichsam „hausfrauisiert“ wird, das „Hausfrauendasein“ und Hausarbeit aber keine gleichzeitige Aufwertung – man könnte sagen Maskulinisierung – erfahren. Die neoliberale Normalität ist also eine Refamiliarisierung ohne Familie, eine Reprivatisierung ohne Privatheit  : Einst familiarisierte Personen, d. h. Frauen, werden aus der Familie in die Erwerbsarbeit entlassen, entfamiliarisierte Personen, d. h. Männer, können aber keinen Weg in die Familie finden und staatliche Institutionen zur Entlastung von privat-unentgeltlicher Arbeit werden sukzessive beschnitten.

6. Verschiebung von Öffentlichkeit und Privatheit. Die Gouvernementalisierung des Staats Neoliberalismus ist von einer Krise des „sozialen Paradigmas“ begleitet (Jenson 1989), die neue Identitäten und Subjektivierungsweisen entstehen und alte verschwinden lässt bzw. infrage stellt. Kern der Formulierung eines neuen hegemonialen Paradigmas sowie neuer Kontexte für die Entwicklung von Individuen ist die Grenzverschiebung zwischen öffentlich und privat. Diese Grenzverschiebung lässt sich mit dem Theorem Michel Foucaults (2000) von der Gouvernementalisierung des Staats fassen. Mit Gouvernementalität bezeichnet Foucault eine Form des Regierens, also der Durchsetzung von politischer Entscheidung, gesellschaftlicher Ordnung und Herrschaft durch staatliche, vor allem aber auch nicht-staatliche Institutionen, nicht nur durch Recht und Gesetz also, sondern durch weitere Formen der Disziplinierung, Kontrolle und Normalisierung. Im Zentrum der neoliberalen Gouvernementalität stehen das „Selbstregieren“ und das Selbstmanagement der Individuen (ebd.). Das Neue am Neoliberalismus ist nach Foucault, dass sich „Disziplin“ (z. B. durch Verhaltensvorschriften)



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und „Regulierung“ (z. B. durch Gesetze) verbinden (Foucault 2001  : 297ff.). Politische Regulierung im Neoliberalismus zielt also nicht nur auf neue Verhältnisse zwischen Markt und Staat, nicht nur auf neue (sozial-)staatliche Institutionen, sondern auf einen neuen Subjekttyp, auf die „diskursive Neuformierung ‚des‘ Menschen“ (Michalitsch 2006  : 148). Freiheit, Risiko und Selbstverantwortlichkeit werden zu zentralen Signaturen solch neuer Subjektivierungsweisen. Der Modus des Neoliberalismus lässt Alltagspraxen, Verhaltensanforderungen, Arbeitsweisen und Geschlechterrollen nicht aufgezwungen, sondern als Ergebnis freier Wahl erscheinen (Martschukat 2006  : 3). Wahlfreiheit ist die Freiheit der Selbstregierung, und Zwang und Disziplinierung treten den Menschen als Freiraum, in dem sie ihr Leben selbst gestalten können, gegenüber. Freiheit und Autonomie werden vor allem in der neu formatierten Sphäre des Marktes versprochen. Auch dies ist für (Wirtschafts-)Liberale nichts Neues  : Freiheit ist vor allem die Freiheit der „marktförmig organisierten Vertraglichkeit“ (Legnaro 2000  : 202), die nun aber als ökonomische Vertragsfreiheit in allen Bereichen des Lebens Gültigkeit erlangen soll. Die Metapher der Freiheit enthält dafür Versprechungen „auf multiple Optionen, vielfältige Chancen, den thrill des Sich-selbst-Unternehmens“ (ebd.: 203, Hervorhebung im Orig.). Entrepreneurship, die Befreiung der Individuen aus den Klauen des fürsorglichen und bevormundenden Staats, gleichsam die „zweite Befreiung“ aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, sind Assoziationen, die der neoliberale Freiheitsdiskurs anstößt. Ein zweites – aber anderes – Projekt der Moderne und der Aufklärung soll auf den Weg gebracht werden. Neoliberalismus ist die „Transformation von Freiheit in Herrschaft“ (Segal 2006  : 324). Die „Essenz“ der neoliberalen Regierungsmechanismen ist mithin „governing by freedom“ (Legnaro 2000  : 212). Doch auch diese Form der Regierung impliziert Herrschaft und Macht. Im Unterschied zur staatlichen Souveränität ist Gouvernementalität eine Form der Macht, die über Freiheit und nicht qua Zwang regiert, „indem sie Wahrscheinlichkeiten erzeugt, Handlungsmöglichkeiten herstellt, strukturiert und begrenzt“ (Krasmann/Volkmer 2007  : 11). Der Gedanke der Freiheit wird mit zukünftiger Effizienz und Effektivität verkoppelt (Segal 2006  : 325). Wer seine bzw. ihre Freiheit nicht nutzt, so die argumentative Logik, versagt sich, freilich auch der Gesellschaft, zukünftigen Erfolg. Dies wiederum gilt es herrschaftlich zu sanktionieren, z. B. durch Entzug sozialstaatlicher Zuwendungen im Falle von (längerer) Erwerbslosigkeit, wie im deutschen Hartz-IV-Modell.

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Der gouvernementalisierte Staat ist von einem mehrschichtigen fundamentalen Paradox durchzogen, dem „neuen Paternalismus“ (Segal 2006  : 323)  : Einerseits scheinen die Individuen frei von staatlichen Vorschriften. Andererseits werden durch Prozesse der Normalisierung, also durch das Propagieren von Normvorstellungen, neue Formen der Disziplin und Kontrolle institutionalisiert. Einerseits soll der Staat minimiert werden, andererseits soll er aktivieren und fördern. Der „aktivierende“ Staat ist eine bemerkenswerte Metapher. Der Staat soll „seine“ BürgerInnen aktivieren, zur Selbsttätigkeit führen und sie in die Freiheit entlassen. Kontrolle und Disziplin im Modus der Freiheit bedeutet freilich vor allem, dass die Individuen verantwortlich dafür gemacht werden, was sie als „freie“ Individuen tun. Der neoliberale Zwang zu Freiheit und Selbstermächtigung heißt, sich zunehmend selbst gegen allfällige Risiken des Lebens wie Krankheit und Alter zu schützen, aber auch neue Wege der Bildung zu organisieren (Wöhl 2007  : 93). Dem Neoliberalismus ist ein Privatisierungsdiskurs immanent, der soziale Staatsbürgerschaft redefiniert, indem er deren universalistischen Anspruch sukzessive zurücknimmt  : Staatsbürgerschaft, also Zugang zu sozialen und politischen Rechten, soll aus dem individuell, autonom und vor allem ökonomisch definierten Lebenszusammenhang entstehen und kein kollektives Gut mehr sein, das auf Umverteilung und Verteilungsgerechtigkeit beruht. Staatsbürgerschaft wird individualisiert und hängt zunehmend von Faktoren wie Bildung, Einkommen und Region bzw. Mobilität ab – Ressourcen, die nicht zuletzt entlang einer Geschlechterlinie verteilt sind. Das neue Paradigma für StaatsbürgerInnen lautet Effektivität und Konkurrenz. Die neue „Normalbürgerin“ und der neue „Normalbürger“ sollen keine sozialen Rechte mehr vom Staat einfordern, sie gelten vielmehr als selbstverantwortliche Individuen (Bakker 1997  : 67). Der mit der Freisetzung einhergehende Unsicherheits- und Verunsicherungsdiskurs treibt die Individuen in die Arme neuer Versicherungssysteme, sowohl des Überwachungsstaats, aber auch kommodifizierter Sicherungssysteme der Lebensplanung, wie beispielsweise die private Pensionsvorsorge. Diese privatisierten Vorsorgesysteme sind freilich aufgrund ihres Marktcharakters selbst unsicher bzw. produzieren Unsicherheit, wie an den durch den Finanzcrash vernichteten Pensionen deutlich wurde. „Freiheit, Furcht und Strafe geraten dadurch in einen neuartigen Zusammenhang“ (Legnaro 2000  : 202). Unsicherheit und Furcht schaffen den Zwang zu einem „neuartigen kontraktuellen Konsensus“ (ebd.: 206), der kein klassischer Gesellschaftsver­ trag, sondern ein Individualisierungsvertrag ist. Subjekte werden nicht als



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Subjekte einer Solidargemeinschaft angerufen, sondern als Solipsisten. Dadurch wird auch das Verhältnis von Aus- und Einschluss neu bestimmt, denn nicht alle Individuen sind gleich frei, einen Vertrag zu schließen. Die neuen Technologien des Selbst basieren auf Effektivität und Leistung und den damit verbundenen Formen von Abwertung und Ausgrenzung nicht selbststeuerungsfähiger Menschen, den so genannten „Überflüssigen“ (Castel 2000). Widersprüchlich bleibt auch, dass der Staat in manchen Fällen für die disziplinierende Freiheit der BürgerInnen sorgen, also zur Freiheit disziplinieren soll. Denn nicht jedes Individuum kann die „Gefahren“ der Freiheit meistern, z. B. wenn es raucht, zu dick ist, ungesund lebt, sich nicht fortpflanzt oder ohne Erwerbseinkommen existiert. Diese Praxen muss der Staat kontrollieren  : Arbeitslose müssen zur Freiheit des Verkaufs der Arbeitskraft gezwungen werden, Dicke und Raucher müssen durch Zwangsmaßnahmen von ihrer Sucht befreit werden, und Frauen wie Männer sollen die Wahlfreiheit des Kindererziehens erhalten. Normalisierung heißt also, dass „unnormale“ Lebensweisen „entdeckt“ werden und daraus ein Zwang zur Normalität entsteht. Auf diese Weise bildet sich ein umfassendes neoliberales „Resozialisierungsprogramm“ heraus (Segal 2006  : 334). Im Neoliberalismus kann man auch geschlechtsspezifische Normalisierungsanstrengungen und Disziplinierungsformen feststellen  : Sie zielen auf die Erwerbs- und Reproduktionsarbeit von Frauen ab und sind ebenfalls als (Wahl-)Freiheitsdiskurs gerahmt. Ordnungspolitische Maßnahmen greifen in das Zeugen und Gebären ebenso ein wie in Erwerbsarbeit, freilich ohne ungleiche Geschlechterverhältnisse geschlechtergerecht zu gestalten. An die Stelle des erodierenden männlichen Familienernährer-Modells tritt das „geschlechtsneutrale Modell des Arbeits-Bürgers“ (Larner 2000  : 16), das adult breadwinner-Modell. Doch die Entlastung oder die Honorierung von Familienarbeit bleibt nach wie vor minimalistisch, und aus Familienarbeit lassen sich fortwährend nur prekäre soziale Rechte ableiten. Diese (Re-)Privatisierung von Reproduktionsarbeit sowohl als Familialisierung, vor allem aber als Kommodifizierung ist keineswegs als „Liberalisierung“ zu begreifen, sondern als widersprüchlicher Eingriff des Staats in das Alltagsleben der Menschen unter dem Vorzeichen von Ordnungspolitik. „Biopolitik“ in der Ära des Neoliberalismus, also der staatliche und marktliche Zugriff auf Bevölkerung und Generativität, mündet in eine ordnungspolitische und disziplinierende Demographiedebatte. Familienpolitische Maßnahmen in Österreich und Deutschland sind ordnungspolitische Zugriffe auf das generative Verhalten  : Die familienpolitischen Debatten weisen zum einen

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Tendenzen einer biopolitischen Disziplinierung auf (z. B. die Diskussion, dass Kinderlosigkeit steuerlich bestraft werden sollte), zum anderen haben sie nationalistische bzw. eugenische Tendenzen  : Insbesondere „inländische“ Akademikerinnen sollten zu Kindern motiviert werden – wurden diese doch als kinderlose Gruppe definiert und problematisiert. Die Geschwister der neoliberalen Freiheit sind also „ganz unverhohlen und systematisch autoritäre und durchaus bürokratische Kontrollapparate“ (Krasmann/Volkmer 2007  : 16).

7. Der neue Kontext für Frauenpolitik. Abschließende Bemerkungen Feministische Politik gerät angesichts dieser Restrukturierungen in ein Dilemma, wird sie doch zur Verteidigerin eines Sozialstaats, der bisher einmütig als patriarchal kritisiert und infrage gestellt wurde. Nun erscheint er angesichts globaler Marktbarbarei gleichsam als nationale feministische Ultima Ratio. Frauenförderung war zwar einerseits schlicht ein Nebenprodukt keynesianischer ökonomischer und politischer Regulierung, aber doch auch Ergebnis einer politischen Handlungserweiterung der Frauenbewegung im Fordismus, also politischer Kämpfe, sowie einer Frauenöffentlichkeit, die Probleme thematisieren und auf die politische Agenda setzen konnte. Gegenwärtige und zukünftige Handlungschancen von Frauen und Frauenbewegungen abzuschätzen heißt, die strukturellen Bedingungen des politischen Raums neu zu vermessen. Die Politik neoliberaler Restrukturierung ist eine politische Revolution, weil sie die Koordinaten des Politischen, wie sie im fordistischen Wohlfahrtsstaat bestanden, neu bestimmt. Diese Revolutionierung muss nun nicht automatisch die Bedingungen für feministische Politik verschlechtern, sie muss nicht unbedingt politische Handlungsräume verschließen und politische Öffentlichkeit maskulinisieren, sie birgt möglicherweise neue Chancen für Frauen- und Geschlechterpolitik. Wir haben es also nicht mit dem Ende oder dem Niedergang der Frauenbewegung zu tun, sondern mit einer radikalen Transformation ihres Handlungskontextes, deren Parameter noch nicht wirklich deutlich sind. Ute Gerhard (1999) prägte hierfür bereits vor einiger Zeit das Bild von der „Atempause“. Das Luftholen kann freilich sowohl Chancen wie auch Gefahren zeitigen. Drei Dimensionen der Transformation des Frauenpolitischen möchte ich im Folgenden kurz diskutieren. Erstens wird das Terrain für nationale und internationale Frauenpolitik durch die Ökonomisierung von Politik abgesteckt. Diese schränkt den Raum des politisch Gestaltbaren ein und mi-



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nimiert die Möglichkeiten demokratischer Gestaltung der eigenen Lebenspraxis. Neoliberalismus als neuer Politikstil der Einengung des Politischen entpolitisiert auch den weiblichen Alltag, denn dieser wird erneut als privat eingehegt. Geschlechtergleichheit zählt immer weniger zum Allgemeinwohl und die Frauenbewegung wird deshalb als Interessengruppe, die Spezialinteressen durchsetzen will, verunglimpft. Ein zweiter Aspekt ist die Informalisierung von Politik in den Substrukturen von Verhandlungsrunden und -netzwerken des außer- bzw. vorparlamentarischen Raums. Im „Verhandlungsstaat“ verlieren demokratisch legitimierte Institutionen ihr Monopol auf politische Problemdefinition, auf das agenda setting, auf Problemlösungsstrategien und -entscheidungen an korporatistische Netzwerke zwischen staatlicher Administration und gesellschaftlichen Gruppen wie Industrie und Gewerkschaften, Kirchen, Medizin und Wissenschaft. Das Verhandlungsgeflecht, das unter dem Modewort „Governance“ firmiert (Benz et al. 2007), schwächt damit jene Repräsentationsorgane und Aushandlungsprozesse wie beispielsweise Parlamente, zu denen sich Frauen einen Zugang erkämpft haben. Durch diesen Prozess der Privatisierung bzw. Informalisierung von Politik ist mit geschlechterpolitischen Ambivalenzen zu rechnen, ziehen doch nationale, freilich auch internationale Verhandlungsregime eine Remaskulinisierung nach sich (Woodward 1996). Die Entscheidungsfindung in Verhandlungssystemen erfolgt notwendig unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Mit dieser „Arkanisierung“ von Politik ist in der Regel auch eine Homogenisierung des Arkanums verbunden, vor allem eine geschlechtliche Homogenisierung. Die intensivere Form der informellen Verflechtung zwischen Interessenverbänden, Bürokratie und privaten Akteuren erhöht tendenziell den Männereinfluss und erschwert erfolgreiche Interventionen institutioneller Frauen- und Gleichstellungspolitik. Drittens fanden – trotz aller Exklusionsmechanismen – Demokratisierungsprozesse im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts im Nationalstaat statt, der eine partielle Inklusion, also den Zugang zu politischen und sozialen Rechten für alle Staatsangehörigen ermöglichte. Der fundamentale Bruch in den ökonomischen, sozialen und politischen Repräsentationsformen, die Reskalierung von Staatlichkeit (Görg 2007) auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene zerstört traditionelle Orte und Formen von Frauenpolitik. Der Nationalstaat ist immer weniger Ansprechpartner für frauenpolitische Interventionen und eine Strategie der Integration durch Gleichstellungspolitik wird immer schwieriger. Es ist anzunehmen, dass sich zwar der Bedarf an gezielter Frauenförderung aufgrund der Einschnitte ins soziale Netz er-

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höhen wird, synchron dazu aber gerade diese Förderinstrumente unter Sparund Legitimationsdruck geraten. Die Privatisierung und Ökonomisierung staatlicher Verwaltungen bringt auch Frauen- und Gleichstellungspolitik in Bedrängnis, weil der „schlanke Staat“ Gleichstellungsmaßnahmen – als „bürokratische“ Maßregeln diffamiert – abspeckt. Gleichstellungspolitik degeneriert zur Schadensbegrenzung, damit Frauen im Zuge der ökonomischen und sozialen Umstrukturierungen bereits errungene Positionen nicht wieder verlieren. Aktive feministische Struktur- und Gesellschaftspolitik entweicht dann freilich dem Denk- und Handlungshorizont. Auch staatlich finanzierte Frauenprojekte geraten dadurch an den Rand ihrer finanziellen Existenz. Zwar vollzog die EU mit der Integration von gender mainstreaming in ihre Politik einen grundlegenden Wandel weg von der Erwerbsbezogenheit der Gleichstellungspolitik, doch weisen Studien nach, dass die frauenpolitische Strategie der EU einen neoliberalen Bias besitzt, also kaum Chancen für Gleichstellung bietet (Wöhl 2007). Auch die EU privilegiert erwerbs- und marktbezogene Interessen und vernachlässigt Care-Fragen. Diese harte Zeichnung geschlechterpolitischer Transformationen will auf die Notwendigkeit einer Neu-Erfindung des Raums frauenbewegter Intervention hinweisen. Die derzeitigen Transformationen von Nationalstaaten und die Neugestaltung der Erwerbsgesellschaft öffnen möglicherweise Räume für neue politische Identitäten und Praxen jenseits der Erwerbstätigkeit und jenseits patriarchaler Politikmuster und erweitern somit den potenziellen politischen Handlungsspielraum für Frauen. Dies ist freilich kein Automatismus. Frauenpolitik muss sich vielmehr als aktiver Faktor im neoliberalen Wandel erst definieren. Dazu abschließend vier Hinweise. Erstens  : Auch in Zeiten globalisierter Umstrukturierung ist der (nationale und internationale) Staat kein einheitlicher Akteur, sondern ein strategisches Handlungsfeld, in dem um die Herausbildung und Durchsetzung von Interessen gerungen wird. Beispielsweise müssen neue nationale wie internationale sozialstaatliche Arrangements unter postfordistischen Bedingungen wieder neu ausgehandelt werden. Streiks und Demonstrationen gegen arbeitsmarkt-, sozial- und finanzpolitische Maßnahmen sind Aspekte dieses „neuen Klassenkampfs“ und neuer staatlicher Aushandlungsprozesse. Auch der Geschlechterkonflikt kann und muss immer wieder gegenhegemonial politisiert werden. Frauenpolitik muss sich zum Beispiel an den zahlreichen Aushandlungsorten eines neuen Sozialstaatskompromisses beteiligen, vor allem die derzeitige krisenbedingte Chance der Neudefinition von gesellschaftlich notwendiger Arbeit, nicht zuletzt gemeinsam mit den Gewerkschaften, nutzen.



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Doch Staaten eröffnen auch Handlungschancen für eine Politik, die auf Geschlechtergerechtigkeit zielt. Deshalb scheint derzeit auch das demokratiepolitische Ziel der „Entstaatung“ zumindest relativiert  : Auf diesem Wege lässt sich nicht automatisch ein zivilgesellschaftlicher Gleichheitsanspruch realisieren. Gefährdungen der Demokratie liegen heute nicht unbedingt in zu viel Staat, sondern in zu wenig Staat und zu viel Ökonomie. Teile des widersprüchlichen Staats können z. B. durchaus als Bündnispartner gegen ökonomische Hegemonie genutzt werden. Somit erfordert gesellschaftliche Demokratisierung eine gleichsam paradoxe Intervention  : nämlich Frauenpolitik mit dem Staatsapparat gegen den Staat zu machen, d. h. sich gegen eine Ökonomisierung der Politik und gegen die Dominanz der Ökonomie zur Wehr zu setzen. Gleichstellungsinstitutionen sind Verhandlungspositionen innerhalb dieses staatlichen Aushandlungsprozesses, die genutzt werden sollten, auch wenn diese Positionen im Verhandlungsstaat herrschaftlich besetzt sein mögen. Zweitens  : Notwendig ist ein strategischer frauenpolitischer Wechsel hin zu neuen Bündnissen und neuen Handlungsformen. Geschlechtergerechte Demokratisierung scheint in einem Bündnis mit solchen Gruppen möglich, die dem neoliberalen Umbau des (Sozial-)Staats ebenfalls skeptisch gegenüberstehen. Dies sind nicht allein Frauen, sondern möglicherweise auch erwerbslose Männer sowie Männer und Frauen ethnischer Minderheiten. Die Zahl dieser Skeptiker ist jedenfalls in der jüngsten Vergangenheit gewachsen. Drittens  : Die Auflösung geschlechtsspezifischer Zuschreibungen macht das Sprechen von der Frau immer schwieriger. Frauenbewegungen und staatliche Gleichstellungspolitik müssen deshalb Ungleichheiten zwischen Frauen als politisches Faktum begreifen und differenzierte Strategien entwerfen, insbesondere für Frauen, die nicht in Positionen sind, von denen aus sie gefördert werden können – vor allem Migrantinnen und Frauen aus ethnischen Minderheiten. Diese Erweiterung scheint mir die große Herausforderung für demokratische Politik und Frauenbewegungen. Frauen- und Gleichstellungspolitik wie auch Frauenbewegungen müssen darüber hinaus auch deutlicher die „soziale Frage“ stellen. Die vielfach zur feministischen Floskel verkommene Forderung nach der Integration von Differenzen, von Klasse, Ethnie und kulturellem Hintergrund in die Frauenpolitik, könnte in den aktuellen Krisendiskursen und -konstellationen realisiert werden. Ein neuer Geschlechtervertrag hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die sozialen und kulturellen Differenzen, die derzeit hegemonial eher ausländerfeindlich oder als Klassenkampf von oben politisiert werden, ins feministische Kalkül ge-

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zogen werden, d. h., wenn sie in einem feministischen Diskurs zu Elementen des politischen Universums werden. Viertens  : Die so genannte Glokalisierung, eine zeitgleiche Globalisierung und Lokalisierung, bietet die Möglichkeit, dezentrale, kleinräumige Bewegungsnetze zu aktivieren. Insbesondere die lokale bzw. städtische Ebene wird „zu einem bevorzugten postfordistischen Experimentierfeld“ (Roth 1998  : 109). In dem Maße, wie sich beispielsweise der Nationalstaat der Verantwortung für soziale Umverteilung entledigt, erhält der subnationale Staat diesbezüglich mehr Gestaltungsmöglichkeiten – freilich auch mehr finanzielle Bürden wie zum Beispiel im Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Ausbildungsbereich. Projekte wie neue Arbeitszeit- und Arbeitsplatzmodelle können auf lokaler Ebene – an Runden Tischen mit Beteiligung lokaler Industrien, Gewerkschaften und Gleichstellungsbeauftragten – kurzfristiger und kreativer geschaffen werden als durch eine nationalstaatliche oder supranationale Bürokratie. Eine Garantie, dass sich solche neuen Handlungskorridore öffnen, gibt es freilich nicht, vielmehr ist auch hier ein Gegentrend festzustellen, eine Art „Paradoxierung“ von Demokratie  : Es scheint nämlich, als ob mit den bislang erprobten direkt-demokratischen Verfahren auf lokaler Ebene die Entscheidungslosigkeit demokratisiert wird. Die lokale Zivilgesellschaft debattiert und deliberiert, aber entschieden wird an anderen Orten. Frauenpolitik sollte freilich nicht übersehen, dass es gerade ein Bestandteil des neoliberalen Diskurses ist, existierende frauenpolitische Zusammenhänge und Widerstände zu negieren und zu desartikulieren. Die Neuvermessung des politischen Raums bedeutet gerade nicht, dass weibliche politische Praxen verschwinden, sie werden vielmehr diskursiv zum Verschwinden gebracht. Nach wie vor aber ist demgegenüber der weibliche Alltag Quelle des Widerspruchs und des Widersprechens (Bergeron 2003). Frauenbewegung und Frauenpolitik sind zwar aus der „heilen“ Welt des Keynesianismus gefallen, aber nicht aus der Welt des Politischen. Feministische Handlungsperspektive kann es sein, die widersprüchlichen weiblichen Alltagspraxen, die Lücken und Brüche, die die neoliberale Restrukturierung dort hinterlässt, sichtbar zu machen, zu politisieren und zu verändern. Diese „Küchenpolitik“ (Elson 2002), also die Politisierung von Brüchen im weiblichen Alltag, ist nach wie vor ein Weg zu mehr Demokratie.



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Notwendigkeit und Grenzen des Sozialen Das Beispiel Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit

Große Entwicklungslinien, die die letzten Dekaden geprägt haben (und in anderen Kapiteln dieses Buches genauer analysiert werden), sind u.a. die Transformation vom „Wohlfahrtsstaat“ zum „Wettbewerbsstaat“, für Österreich der Wandel des wirtschaftspolitischen Leitbildes vom „Austro-Keynesianismus“ zum „Austro-Neoliberalismus“, sowie die Veränderung des Geschlechterregimes vom „Versorgermodell“ zum „Vereinbarkeitsmodell“. Diese auch für die Thematik des vorliegenden Artikels einschneidenden Veränderungen bilden das Grundgerüst, vor dem im Folgenden am Beispiel der Arbeit und Erwerbstätigkeit von Frauen die Notwendigkeiten und Grenzen des Neoliberalismus analysiert werden. Für das neoliberale Projekt ist die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte ein wesentliches Bestimmungsmoment. Die als zu starr gesehenen Regulierungen des Arbeitsmarktes galt es, laut neoliberalem Denken, aufzuweichen, was insgesamt auch erfolgreich bewerkstelligt wurde. Gleichzeitig ist die Phase von den 1970er-Jahren bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts davon gekennzeichnet, dass sich die Frauenerwerbstätigkeit stark erhöht hat. Vielleicht, so könnte gemutmaßt werden, hat ebendieses Zeitalter des Neoliberalismus zu einer Erhöhung der Geschlechtergleichheit beigetragen  ? Führte die neoliberale Hegemonie mit ihrem Rekurrieren auf die Subjekte in der Wirtschaft tatsächlich zu einem Rückgang der Geschlechterungleichheiten am Arbeitsmarkt und erfüllte damit eine egalitäre, soziale Funktion  ? Oder konnte an der Arbeits- und Lebenssituation von Frauen angesetzt werden, um die neoliberale Zielvorstellung der umfassenden Flexibilisierung vormals strikt regulierter Arbeitsmärkte leichter durchzusetzen  ? Wir werden in der Folge keine der beiden Optionen hinreichend begründet finden. Fest steht aber jedenfalls, dass das fordistische Geschlechterre Wobei hier die Frage noch nicht aufgeworfen werden muss, ob dies auch intendiert war. Von VertreterInnen des Neoliberalismus würde es selbstredend eindeutig beantwortet werden, ist doch erklärtes letztendliches Ziel des Neoliberalismus die Freiheit der Individuen.

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gime des „Versorgermodells“ entscheidend untergraben wurde  : Zunächst reicht der durchschnittliche Lohn eines Arbeitnehmers zumeist nicht mehr, um eine ganze Familie zu versorgen. Diese Gegebenheit wird jedoch auch von gesellschaftlichen Umbrüchen wie der Veränderung der Familienzusammensetzung begleitet. Auch haben Frauen ihr Ausbildungs- und Qualifikationsniveau gegenüber Männern angeglichen, Frauendiskriminierung wird verstärkt abgelehnt und Frauen geben sich immer seltener mit der ihnen zugeschriebenen Rolle im „Versorgermodell“ zufrieden. Die verstärkte Erwerbsorientierung der Frauen (auch unter Müttern) ist nicht nur Ausdruck ökonomischer Notwendigkeit. Insbesondere in der Lebensplanung der jüngeren Frauengeneration ist bemerkbar, dass diese sowohl Beruf als auch Familie einschließt (Kreimer 2000  : 3  ; Kohlmorgen 2004  : 280ff.; Gottschall 1995  : 134  ; Cyba 1998  : 37  ; Angelo et al. 2006  : 35). Trotz dieser geänderten Realitäten ist das System sozialer Sicherheit noch nicht ausreichend angepasst worden. Teilzeitarbeit ist beispielsweise ein wesentliches Element der Modernisierung der Versorgerehe im Zuge des Übergangs zur Dienstleistungsgesellschaft (Pfau-Effinger 1993  : 617). Trotzdem basiert das Sozialsystem immer noch auf der „Fiktion einer männlichen ‚Normalbiographie‘, charakterisiert durch frei verfügbare Arbeitskraft und Kontinuität von Erwerbsarbeit“ (Michalitsch 2006  : 133). Dauer der Erwerbstätigkeit und Höhe des Einkommens werden honoriert, Unterbrechungen der Lebensarbeitszeit und/oder kürzere Arbeitszeiten, wie sie weibliche Erwerbsbiografien zumeist aufweisen, führen zu großen Nachteilen in der sozialen Absicherung (Kreimer 2000  : 5  ; Michalitsch 2006  : 133). Die politische und ökonomische Position von Frauen in den letzten Jahrzehnten ist gleichermaßen von Stillstand wie von Bewegung gekennzeichnet. Die Frauenerwerbsbeteiligung hat seit dem Zweiten Weltkrieg sowohl in europäischen Ländern als auch in den USA kontinuierlich zugenommen, im weiblichen Bildungsniveau zeigte sich eine bemerkenswerte Verbesserung, und es wurden spezielle Ausbildungs- und Qualifizierungsprogramme sowie Frauenförderpläne gestartet. Auch sind verschiedene rechtliche Diskriminierungen von Frauen aufgehoben worden, wie z. B. Ende der 1970er-Jahre die unterschiedlichen Kollektivvertragslöhne für Männer und Frauen in Österreich. Politische Organisationen führten Quoten zur Erhöhung des Frauenanteils ein und es entwickelte sich ein gewisses Bewusstsein darüber, dass die Sprache, die wir verwenden, männlich determiniert ist. Wenn auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den letzten Jahrzehnten anhaltend gestiegen ist (d. h. Frauen bilden nicht mehr die „Reservearmee“ an Arbeitskräften,



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die nur in Hochkonjunktur- bzw. Kriegszeiten zu Erwerbsarbeit zugelassen wird), so erfährt nichtsdestotrotz ein Großteil der Frauen strukturelle Benachteiligungen am Arbeitsmarkt. Als Beispiele hierzu seien genannt  : Frauen verdienen um rund ein Drittel weniger als Männer (diese Lohnunterschiede sind in der Längsschnittanalyse erstaunlich persistent), der Arbeitsmarkt ist hoch segregiert (insofern, als sich Frauenbeschäftigung auf spezifische Branchen und Jobs vorwiegend im Niedriglohnbereich konzentriert), in führenden Positionen ist der Frauenanteil sehr gering und hat sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig erhöht. Diese Punkte werden sowohl in der Fachliteratur als auch in den Medien häufig diskutiert, sodass weiter unten noch detailliert darauf eingegangen wird. Die traditionellen „Solidarkulturen“ der fordistischen Ära waren traditionell auch in dem Sinn, als sie nicht in Richtung Gendergleichheit agiert haben, sondern vielmehr überkommene, dem Systemerhalt zuträgliche und den Familien- wie Arbeitsstrukturen förderliche Ungleichbehandlungen als naturgegeben und unhinterfragbar postuliert haben. „Im fordistischen Regulationsmodus wurden die sozialen Rechte auf einem Sockel der berufsbezogenen Solidarität errichtet“, stellt Michel Aglietta (2000  : 78) fest. Dies impliziert aber auch, dass Frauen von diesem Solidarsystem weniger – oder nur indirekt, d. h. über ihre berufstätigen Männer – profitierten, da sie in geringerem Ausmaß erwerbstätig waren. Noch heute ist das an den geringen Pensionszahlungen für Frauen und am verstärkten Armutsrisiko bei Frauen zu sehen. Das bürgerliche Ideal der Frau als Hausfrau und Mutter (das bereits in seiner Hochblüte im 19. Jahrhundert mehr Imagination als empirisch haltbarer Tatbestand war, da für viele Frauen Erwerbsarbeit zur Existenzsicherung für sie und ihre Familie/Kinder notwendig war) wurde auch im fordistischen Zeitalter wieder verstärkt bemüht und ist erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Zuge der Emanzipation der Frauen zunehmend zurückgedrängt worden. Frauen streben immer häufiger eine eigene ökonomische Existenz an, ohne dass sich die traditionelle Arbeitsteilung, die ihnen die Hauptverantwortung für Haus- und Familienarbeit zuschreibt, verändern würde. Somit führen Frauen zentral wichtige Tätigkeiten für das Funktionieren der Ökonomie aus, wovon viele allerdings nicht marktvermittelt und daher nicht monetär bewertet und geringer wertgeschätzt werden. Im Folgenden wird demnach auch zwischen Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit unterschieden. Wenn auf makroökonomischer Ebene von Arbeit gesprochen wird, so ist in der überwiegenden Anzahl der Fälle von Erwerbsarbeit die Rede. Dabei

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wird der Bereich der unbezahlten, nicht marktvermittelten Arbeit, der immer noch vorrangig von Frauen geleistet wird, vollständig und gesellschaftlich zu Unrecht ausgeklammert. Aber auch ein anderes Phänomen kann zunehmend beobachtet werden  : Die Tendenz, Erwerbsarbeit nur mehr als ein Residuum zu betrachten, das seine vormals zentrale gestaltende Rolle mit dem Ende des Fordismus verloren hat. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Frauenerwerbstätigkeit, denn die Zunahme der weiblichen Erwerbsarbeit kann somit gemäß einem Schema begründet werden, welches die Frauenbewegung schon auf den unterschiedlichsten Ebenen konstatiert hat  : Je weniger gesellschaftlich anerkannt ein Bereich ist, umso mehr verstärkt sich der Frauenanteil in ebendiesem Bereich. Für das Analysefeld der Erwerbsbeteiligung heißt das  : Je weniger gesellschaftlich anerkannt – und zwar sowohl im Sinne von prestigeträchtig als auch finanziell „lukrativ“ – Erwerbsarbeit ist, umso höher wird der Anteil der Frauenerwerbsarbeit. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind in Österreich deutlich mehr Frauen unselbstständig beschäftigt, als dies noch vor 30 Jahren der Fall war. Dass diese Arbeit häufig nicht „existenzsichernd“ ist, wird oft nicht thematisiert. Existenzsicherung, d. h. die Befriedigung der notwendigen materiellen (Grund-)Bedürfnisse, war und ist immerhin eine zentrale Motivation, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die den Arbeitsmärkten inhärenten Begründungen für die schlechtere individuelle materielle Absicherung von Frauen trotz Erwerbsarbeit liegt im Wesentlichen in einer Kombination aus kurzen Arbeitszeiten und Tätigkeiten in niedrig entlohnten Branchen. Die Datenlage macht deutlich, dass vor allem ab der neoliberalen Wende seit den 1980er-Jahren sogenannte atypische Arbeitsverhältnisse stark zugenommen haben, insbesondere Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung (De Grip et al. 1997, Europäische Kommission 2007). Diese atypischen Arbeitsformen sind vor allem im Dienstleistungsbereich vorzufinden, in dem Frauen aufgrund der Segregation des Arbeitsmarktes besonders stark vertreten sind. Als Konsequenz dieser Segregation ist nicht zuletzt auch in Österreich zu sehen, dass zwar zahlenmäßig mehr Frauen im Erwerbsprozess

 Wie zum Beispiel sehr pointiert und kompakt dargestellt in  : Rubery/Fagan 1998.  Den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitwünschen, gesellschaftlichen Rollen und Erwerbsverhalten thematisieren z. B. Schulze-Buschoff et al. 1998 und Michalitsch 2005.  Verstanden wird darunter v.a. Teilzeit- und Leiharbeit, befristete oder geringfügige Beschäftigung, Telearbeit, Arbeit auf Abruf und scheinselbstständige Beschäftigung (Tálos/Kittel 1999).



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stehen, sich an ihrer Stellung am Arbeitsmarkt aber nichts ändert. Für die Logik makroökonomischer Trends greift eine Analyse der österreichischen Situation alleine zu kurz. Österreich als kleines Land gibt Entwicklungen nicht vor, sondern vollzieht sie nach  : So ist der Trend der Verlagerung von Arbeitsplätzen im sekundären Sektor zu solchen im tertiären Dienstleistungssektor generell ein Spezifikum industrialisierter Länder. Auch der steigende Teilzeitanteil – wie die Zunahme atypischer Arbeitsformen überhaupt – ist eine globale Entwicklung, dem neoliberalen Weltbild entsprungen, nicht zuletzt durch Anforderungen und wirtschaftspolitische Vorgaben der Europäischen Union begünstigt und beschleunigt, und hängt mit der zuvor erwähnten Bedeutungsverschiebung der Sektoren zusammen.

1. Entwicklung der Frauenbeschäftigung In Abbildung 1 wird dargestellt, wie sich die geschlechtsspezifischen Erwerbsquoten von Personen im erwerbsfähigen Alter im Untersuchungszeitraum von 1975 bis 2007 in Österreich entwickelt haben. Dabei ist ganz klar ersichtlich, dass – von sehr unterschiedlichen Niveaus ausgehend – die Frauenerwerbsquote sowohl kontinuierlich wie auch kräftig angestiegen ist (von unter 50 % auf 68 %), während die der Männer bis 2005 einen leichten Abstieg von über auf unter 80 % zu verzeichnen hatte. Auf europäischer Ebene ist die Beschäftigung von Frauen in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich gestiegen. Nicht erst mit der Einführung des Lissabon-Zieles im Jahr 2000, das eine allgemeine Beschäftigungsquote von EU-weit 60 % bis 2010 vorsieht, sieht sich die Union mit einem deutlichen Aufholen der Frauen konfrontiert (siehe für alle Daten im Folgenden Europäische Kommission 2007)  : Vergleicht man die Werte für die EU-15 von 1995 und 2006, so betrug vor mehr als zehn Jahren die Differenz in den Beschäftigungsquoten zwischen Männern und Frauen noch rund 21 Prozentpunkte, während sie 2006 nur noch rund 15 Prozentpunkte ausmachte. Europaweit betrachtet ist im letzten Jahrzehnt die Männerbeschäftigung deutlich schwächer als jene der Frauen gestiegen. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten nach wie vor enorm  : Der  Vgl. für einen Überblick der Entwicklung in Österreich aus geschlechtsspezifischer Sicht  : Grisold 2000, generell Mesch 2005.  Zur aktuellen Situation in der Europäischen Union vgl. Aliaga 2005 oder Eurostat 2005.

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Abbildung 1 Verlauf der Erwerbsquoten in Österreich, 1975–2007 nach Geschlecht

Quelle  : OECD Employment Outlook 2008

employment gap, also die Differenz in den Beschäftigungsquoten zwischen den Geschlechtern, reicht von rund 40 Prozentpunkten in Malta bis zu rund fünf Prozentpunkten in Schweden (Eurostat-Homepage, Strukturindikatoren). Die zunehmende Beschäftigungsquote von Frauen wird allerdings relativiert, wenn nur die sogenannten Vollzeitäquivalente betrachtet werden, da Frauen verstärkt über Teilzeitbeschäftigung Zugang in den Arbeitsmarkt ­gefun­den haben. Aber auch bei der Teilzeitbeschäftigung gibt es große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten  : Alle neuen EU-Mitgliedstaaten ha­ben einen unterdurchschnittlichen Anteil von Teilzeitbeschäftigten, der EU-25-Durchschnitt beträgt 32,9 % (bzw. 31,2 % für die EU-27) bei Frauen, 7,7 % bei Männern (EU-25 und EU-27). Mit Ausnahme von Dänemark und Schweden ist in den Ländern mit höherem Teilzeitanteil der Frauen die Teilzeitbeschäftigung von Männern im Vergleich dazu verschwindend gering. So sind z. B. in Österreich über 40 % der Frauen, aber nur rund 7 % der Männer teilzeitbeschäftigt. Aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der daraus resultierenden Alternativrolle für Frauen (als Hausfrau und Mutter) ist die Erwerbsrelation zwischen den Geschlechtern zu Lasten der Frauen ungleich



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ausgeprägt. An dieser stereotypen Zuschreibung können auch steigende und hohe Raten der Erwerbsbeteiligung nichts ändern. Was die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung aber ändern könnte (und es wird zu prüfen sein, ob dies auch tatsächlich der Fall ist), ist die Möglichkeit einer unabhängigen ökonomischen Existenz der Frauen. Dafür sind Faktoren wie Erwerbsarbeitszeit und die Entlohnung derselben ausschlaggebend (Angelo/Grisold 2008). Im folgenden Artikel wird zunächst auf jenes Phänomen eingegangen, welches in den letzten 15 Jahren durch zunehmende Flexibilisierung und Liberalisierung die Frauenerwerbstätigkeit nicht nur in Österreich, sondern (zumindest) in Europa stark geprägt und verändert hat  : die Entwicklung der Teilzeitarbeit. Danach wird ein Arbeitsmarktbereich analysiert, der von divergenten Entwicklungen gekennzeichnet ist  : jener der horizontalen und vertikalen Arbeitsmarktsegmentierung. Mit beiden einhergehend ist ein Tatbestand verbunden, der sich in den letzten drei Jahrzehnten nicht signifikant verändert hat und anschließend thematisiert wird  : die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen. Im darauffolgenden Kapitel werden zwei Szenarien dargestellt, wie sich die Arbeitsmarktlage für Frauen unter Berücksichtigung der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise entwickeln könnte. In Bezug darauf werden im letzten Teil schließlich Maßnahmen vorgestellt, die einen Beitrag zur Verbesserung der Erwerbssituation von Frauen leisten können.

2. Zur Verteilung von Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern Wurde bis in die 1980er-Jahre noch über eine generelle Arbeitszeitverkürzung diskutiert, standen später Verteilungsaspekte − zwischen erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Personen, zwischen Frauen und Männern − kaum mehr zur Diskussion. Vielmehr hat sich die Diskussion über Arbeitszeit danach immer stärker auf Aspekte der Deregulierung, seit den 1990er-Jahren positiver konnotiert  : der Flexibilisierung, verlagert. Nur in den späten 1990erJahren veränderte sich dies wiederum für kurze Zeit  : Die steigende Arbeitslosigkeit in den europäischen Ländern warf die Frage auf, inwieweit Arbeit zwischen den Beschäftigten und den Arbeitslosen verteilt werden könnte. Gerade Vorstöße in Richtung gesetzlicher Arbeitszeitverkürzung in Frankreich und Italien bzw. innovative Arbeitszeitmodelle in Dänemark, Finnland und anderen europäischen Ländern haben den Aspekt des „Teilens“ kurz-

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fristig wieder in den Vordergrund der Debatte gerückt. In der Realität ist es natürlich längst zur Neuverteilung der bezahlten Arbeit gekommen. Die durchschnittliche Arbeitszeit pro Beschäftigtem/r ist in den letzten 50 Jahren aufgrund kollektivvertraglicher bzw. gesetzlicher Regelungen zurückgegangen. Diese Entwicklung hat sich auch in den 1980er- und 1990er-Jahren fortgesetzt, wenngleich in schwächerem Ausmaß als in den Jahrzehnten davor. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Perioden war dies allerdings primär das Resultat individueller Arbeitszeitverkürzungen (d. h. des Anstiegs der Teilzeitbeschäftigung) und nicht kollektiver (d. h. tariflicher) Verkürzungen der Vollzeitarbeit (Lehndorff 1998). Gleichzeitig mit dem Anstieg der Teilzeitbeschäftigung ist auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen gestiegen. Aufgrund dieser Entwicklung hat sich zwar gesamtgesellschaftlich betrachtet die Arbeitszeit verringert, individuell gesehen muss gerade bei Frauen davon ausgegangen werden, dass sich ihre Arbeitszeit insgesamt (bezahlte und unbezahlte Arbeit) verlängert hat. Die Schlussfolgerung, dass sich damit die ungleiche Verteilung von Einkommen zwischen Frauen und Männern perpetuiert, kann als beinahe zu offensichtlich bezeichnet werden. Dennoch werden Verteilungsfragen und Arbeitszeitfragen selten gemeinsam untersucht. In allen europäischen Ländern sind es vorwiegend Frauen, die kürzer als die gesetzliche Normalarbeitszeit beschäftigt sind. Damit wird zum einen die Segmentierung des Arbeitsmarktes aufrechterhalten, zum anderen die Einkommensschere zwischen den Geschlechtern nicht verringert, und zum Dritten die bestehende traditionelle Arbeitsteilung im Bereich der unbezahlten Arbeit verfestigt. In den 1990er-Jahren stieg zwar die Beschäftigung in der Europäischen Union insgesamt, allerdings erfolgte diese Zunahme beinahe ausschließlich über einen Anstieg der Teilzeitarbeit. Die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze ging im Zeitraum 1992–94 und 1996–97 sogar zurück. Die Europäische Kommission stellte in diesem Zusammenhang fest, dass „seit 1994 […] der Anstieg der Teilzeitarbeit der Hauptgrund für das Wachstum der Zahl der weiblichen Beschäftigten“ war (Europäische Kommission 1998  : 43). Von internationalen Institutionen wie der OECD oder der Europäischen Kommission wird Teilzeitarbeit als „bridge to the labour market“ für Frauen angesehen und die Freiwilligkeit von Teilzeitarbeit betont (OECD 2003  ; Europäische Kommission 2000). Ganz allgemein bietet Teilzeitbeschäftigung für Frauen Vor- genauso wie Nachteile  : So kann sie zum einen die erwähnte  Beispielhaft seien hier erwähnt  : Plantenga/Dur 1998, Rubery/Fagan 1998.



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Funktion der „Brücke“ übernehmen und erleichtert zum anderen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Gerade zweiterem „Vorteil“ ist aber auch schon eine der wesentlichen Gefahren inhärent, nämlich die Festschreibung der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern. Darüber hinaus ist auch die Frage zu stellen, in welchen Arbeitsmarkt und zu welchen Bedingungen Frauen durch Teilzeittätigkeit eintreten (Angelo/Grisold 2008). Teilzeitarbeit findet sich häufig in schlecht entlohnten und gering qualifizierten Branchen. Auch ist die Möglichkeit innerbetrieblicher Aus- und Weiterbildung für Teilzeitbeschäftigte geringer als für Vollzeitbeschäftigte. Der durchschnittliche Stundenlohn von Teilzeitbeschäftigten liegt je nach Land zwischen 90 % und 55 % eines Vollzeitbeschäftigten (OECD 2008) und ermöglicht damit nicht immer eine eigenständige Existenzsicherung. Somit besteht bei Teilzeitbeschäftigung neben dem Armutsrisiko für Frauen bei Auseinanderbrechen des Familienverbundes die Gefahr der Verhärtung von Segregationstendenzen am Arbeitsmarkt und von traditionellen Rollenmustern in der Gesellschaft. Diesen Vor- und Nachteilen liegen bestimmte gesellschaftliche Zwänge und Notwendigkeiten zugrunde, die mit der üblicherweise so schnell und leichtfertig in die Debatte eingebrachten Kategorie der Freiwilligkeit von Teilzeitarbeit keineswegs konform gehen. Entwicklung der Teilzeitarbeit

In Abbildung 2 wird die Entwicklung der Teilzeitarbeit in Österreich über die letzten 30 Jahre dargestellt. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an den unselbstständig Erwerbstätigen (Teilzeitquote) hat sich in diesem Zeitraum fast verdreifacht, wobei die Zahl der Teilzeit arbeitenden Frauen wesentlich stärker gestiegen ist. Der starke Anstieg der Teilzeitarbeitenden setzt dabei 1993, kurz vor dem EU-Beitritt Österreichs ein. Diese Entwicklung ist auffallend, auch unter Beachtung der bestehenden Zeitreihenbrüche ist eine klare Tendenz erkennbar.

 Bis 1993 wurde Teilzeitarbeit nach dem Lebensunterhaltkonzept erhoben, ab 1994 nach dem Labour-Force-Konzept. Bis 1983 wurde Teilzeitarbeit mit einer „wöchentlichen Normalarbeitszeit bis 35 Stunden“ definiert, von 1983 bis 2003 war die Definition nur „unselbstständiges Beschäftigungsverhältnis bis 35 Stunden“ und ab 2004 wurde direkt nach dem Vorliegen von Teilzeitarbeit gefragt (Statistik Austria 2007a).

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Abbildung 2  : Entwicklung der Teilzeitquote, 1975–2007 45,0 40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0

2007

2006

2005

2004*)

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

Männer

1994*)

1993

1992

1991

1990

1989

1988

1987

1986

1985

1984*)

1983

1982

1981

1980

1979

1978

1977

1976

1975

Gesamt

Frauen

Quelle  : Statistik Austria, Mikrozensus, Arbeitskräfteerhebung (* Zeitreihenbruch, s. Fußnote 8)

Nicht in allen Ländern wurde ein hohes Beschäftigungsniveau von Frauen über Teilzeit erreicht. So zeigt das finnische Beispiel, dass eine hohe Frauenbeschäftigungsquote mit Vollzeiterwerbstätigkeit gekoppelt sein kann. Teilzeitbeschäftigung hat dort fast keine Tradition und erst in den letzten Jahren etwas an Terrain gewonnen. Auch sind die Wochenarbeitsstunden und die Qualität von Teilzeitarbeit im Ländervergleich sehr unterschiedlich. Österreich fällt vor allem durch sehr niedrige Arbeitszeiten bei Teilzeitbeschäftigten auf. Teilzeit ist nur in den geringsten Fällen berufshierarchisch höher angesiedelt. Für Österreich wird dies in einer Befragung von ArbeitgeberInnen hauptsächlich damit begründet, dass Probleme mit der Arbeitsorganisation befürchtet werden. Das Qualifikationsniveau hingegen ist bei Teilzeitbeschäftigten keineswegs geringer als bei Vollzeitbeschäftigten (Bergmann et al. 2003). Teilzeitbeschäftigte Frauen verrichten daher oft Arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau (Henke 2008  : 821). Dies ist vor der Folie der überwiegenden Erbringung von unbezahlter Arbeit durch Frauen zu sehen, auf die im Folgenden eingegangen wird.  Bergmann et al. (2003) finden in ihren Interviews mit UnternehmerInnen, dass das Kostenargument (Teilzeitbeschäftigte seien zu teuer im Vergleich zu Vollzeitarbeitsplätzen) von geringer Bedeutung ist.



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Bezahlte versus unbezahlte Arbeit

In Österreich zeigt eine Mikrozensus Sondererhebung (BMSG 2003)  : Frauen weisen mit durchschnittlich 45,2 Stunden pro Woche (für Erwerbsarbeit, Haushalt und Kinderbetreuung) eine höhere Arbeitsbelastung auf als Männer mit 35,1 Stunden. In allen Altersklassen arbeiten Frauen mehr Stunden als Männer. Dies ist besonders auf Nicht-Erwerbsarbeit (Kinderbetreuung und Haushaltsarbeit) zurückzuführen. In der Zeit zwischen 1995 (erstmalige Durchführung einer Mikrozensuserhebung zu diesem Thema) und 2002 gab es dabei keine grundlegende Änderung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Wenn wir auch zu wissen glauben, wie die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern funktioniert, so überrascht bisweilen dennoch der Grad dieser Unterschiede. Von der Arbeitszeit der Frauen fallen fast zwei Drittel (61,8 %) auf Haushalt und Kinderbetreuung, bei Männern nur 20,5 %, also ein Fünftel (BMSG 2003). Es ist nicht weiter verwunderlich, dass im Falle einer Hauptoder Alleinerwerbstätigkeit eines Partners der/die jeweils andere Partner/ Partnerin verstärkt für die Haushaltsführung zuständig ist. Aber auch bei beiderseits erwerbstätigen Paaren führen mehrheitlich Frauen den Haushalt.10 Bei Kindererziehung ist der Männeranteil zwar höher als bei Haushaltstätigkeiten, Mütter wenden aber immer noch mehr Zeit dafür auf. Da die Haushaltsführung partnerschaftlicher ist, je jünger die Paare sind (ebd.: 28ff.), kann auf eine langsame Änderung der geschlechtsspezifischen Arbeitsverteilung geschlossen werden. Ob diese auch nachhaltig ist, werden erst Untersuchungen in der Zukunft zeigen können. In einer von Burda et al. (2006) durchgeführten Studie (die vier Länder IT, D, NL und USA wurden untersucht) zeigt sich im Längsschnittvergleich, dass die gesamte Arbeitszeit (bezahlte und unbezahlte Arbeit) in den durchschnittlich 14 Jahren Differenz zwischen den Erhebungen deutlich zurückgegangen ist, sich die geschlechtsspezifische Aufteilung zwischen Erwerbsarbeit und Haus- sowie Familienarbeit aber kaum verändert hat (ebd.: 18f.). Auch für Österreich lässt sich dies feststellen  ; hier entfallen bei Frauen auf jede entlohnte Arbeitsstunde 51 Minuten an unbezahlter Arbeit im Haushalt, bei Männern nur elf Minuten. Österreich weist somit ein Muster auf, das sich in vielen westlichen Volkswirtschaften beobachten lässt und klare vertei10 Berufstätige Mütter, die mit ihrem Partner leben, haben eine Gesamtarbeitsbelastung von 71,8 Stunden (  !) pro Woche.

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lungspolitische Konsequenzen hat  : geringeres eigenständiges Einkommen, geringere soziale Absicherung, geringerer Wohlstand. Was bei funktionierenden Partnerschaften innerhalb der Familie ausgeglichen werden kann (aber nicht zwangsläufig muss), ist bei einer Scheidungsrate von rund 50 % (Beispiel Österreich) nicht mehr der Normalfall. So kann es kaum verwundern, dass Armut bzw. Armutsrisiko bei Frauen verstärkt auftreten. Gründe für Teilzeitbeschäftigung

Die Gründe für die steigende Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt sind zum einen in sich ändernden gesellschaftlichen Werten und zum anderen in ökonomischen Verschiebungen der Wirtschaftsstrukturen zu suchen. Es lassen sich Entwicklungen beobachten, die traditionell stärkere Anreize auf Frauen ausgeübt haben, ihr Arbeitskräfteangebot am Markt auszuweiten (allerdings in einem zeitlich eingeschränkteren Umfang als Männer)  : In einem stark segregierten Arbeitsmarkt mit typischen Frauen- und Männerberufen haben Frauen insbesondere durch die Ausweitung des Dienstleistungssektors Zugang zu bezahlter Arbeit erhalten. Die Segregation am Arbeitsmarkt wird durch diese Entwicklung allerdings weiter verstärkt. Warum Teilzeitarbeit für Frauen so attraktiv ist, hängt im Wesentlichen mit der gesellschaftlichen Rolle von Frauen zusammen, welche als primär für Kinderbetreuung Zuständige gesehen werden. Das Vorhandensein, die Anzahl und das Alter von Kindern bestimmen das Ob und das Wieviel der Frauenbeschäftigung (Europäische Kommission 2005). Dieses Rollenmuster unterliegt im gesamteuropäischen Kontext natürlich großen Schwankungen. Traditionell weisen die skandinavischen Länder wesentlich höhere Erwerbsquoten von Müttern auf als die südlichen Mitgliedstaaten. Die Gründe liegen in institutionellen Faktoren, der Möglichkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und dem Steuersystem. Während es in einigen Ländern Europas absolut üblich ist, Kinder extern zu betreuen, stößt dies in anderen Ländern auf Unverständnis. Auf Basis einer Untersuchung der EU-Kommission aus dem Jahr 2005 ergibt sich ein sehr uneinheitliches Bild, was die Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen betrifft (Europäische Kommission 2005). Während die Betreuungsquote der Null- bis Dreijährigen im flämischen Teil Belgiens 81 % beträgt, in Dänemark bei 56 % und in Schweden bei 41 % liegt, weisen Länder wie Deutschland, Italien, Griechenland und Österreich Werte unter 10 % auf. In den osteuropäischen Ländern hingegen ist die Quote der Kleinkindbetreuung hoch, die der Teilzeit arbeitenden Frauen hingegen nied-



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rig. Demgegenüber liegt die Betreuungsquote der Drei- bis Sechsjährigen wesentlich höher  : Hier schwankt der Großteil der Mitgliedstaaten zwischen 80 % und 98 % (Europäische Kommission 2005). Neben dem Angebot an Kinderbetreuung sind es aber natürlich auch noch andere Faktoren, wie die Möglichkeit des Karenzurlaubes oder flexibler Arbeitszeiten, die insbesondere bei Müttern die Frage des Einstiegs oder Verbleibs in Erwerbstätigkeit, aber auch des Ausmaßes an Arbeitszeit beeinflussen. Institutionelle Faktoren, wie z. B. das Steuersystem, haben ebenso Einfluss auf das Erwerbsverhalten von Frauen. Dies wird in letzter Zeit wieder verstärkt diskutiert. Beispiel einer solchen öffentlichen Diskussion war der Vorschlag für eine positive Diskriminierung von Frauen durch eine Differenzierung der Steuersätze zwischen den Geschlechtern (Alesina/Ichino 2007). In Österreich wurde im gleichen Jahr von der Österreichischen Volkspartei die Idee zu einem sogenannten Familiensplitting eingebracht. Dieses Modell sieht die gemeinsame Besteuerung des Familieneinkommens vor. Vor dem Hintergrund der hohen Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern hätte dies eindeutig negative Anreize auf das Erwerbsverhalten von Frauen. Der Vorschlag wurde nicht realisiert.11 In einer in Österreich durchgeführten repräsentativen Befragung geben Frauen vorrangig familiäre Gründe für Teilzeitarbeit an,12 bei (den wenigen) Teilzeit arbeitenden Männern sind es dagegen gesundheitliche Gründe oder eine laufende Ausbildung (BMSG 2003). Frauen gaben am häufigsten an, sich dem Haushalt, den Kindern oder der Pflege von Angehörigen widmen zu müssen (25 %). Manche sind durch diese Tätigkeiten bereits überlastet (11 %)  ; je älter eine Frau ist, desto häufiger wird dieses Argument genannt (BMSG 2003  : 42f.). Auch der Wunsch des Ehepartners oder der Familie spielt eine Rolle (13 %). 7 % geben an, es fehle an geeigneter institutioneller Kinderbetreuung. Dabei ist es natürlich wichtig, ins Kalkül zu ziehen, ob Teilzeitarbeit freiwillig oder nur aufgrund des Mangels an Alternativen gewählt wurde. Ob die zunehmende Verbreitung von Teilzeitarbeit angebots- oder nachfrageseitig bestimmt ist, ist nicht monokausal zu beantworten. Zweifelsohne sind es die Interessen der ArbeitgeberInnen hinsichtlich größerer Flexibilisierung, die hier zu berücksichtigen sind (Bergmann et al. 2003), aber auch die in Teilzeit beschäftigten Personen geben positive Begründungen für 11 Siehe dazu Rossmann/Muhr 2008. 12 Interessant dabei ist noch festzuhalten, dass die Gründe gegen eine Aufnahme der Erwerbstätigkeit im Wesentlichen dieselben sind.

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diese Arbeitszeitwahl an (Zeitautonomie und -flexibilität), wie aus den Interviews in Bergmann et al. (2003) klar hervorgeht. Ganz entscheidend ist bei der Frage der Freiwilligkeit von Teilzeitarbeit, ob Gründe wie die Notwendigkeit der Versorgung minderjähriger oder älterer Personen als „freiwillig“ definiert werden. Vor dem Hintergrund einer solchen differenzierteren Fragestellung sehen die Ergebnisse etwas anders aus  : In Österreich geben rund 11 % der teilzeitbeschäftigten Frauen an, dass sie keine Vollzeitbeschäftigung gefunden haben (sind also nach EU-Definition klassisch unfreiwillig teilzeitbeschäftigt), allerdings geben rund 40 % der teilzeitbeschäftigten Frauen auch an, dass sie aufgrund von Betreuungspflichten nicht vollzeiterwerbstätig sind. In Finnland betrifft dies nur rund 7 %. Der Anteil der Frauen, die in Teilzeit arbeiten, da sie Betreuungspflichten wahrnehmen (müssen), ist in den Ländern des korporatistischen und des liberalen Modells (nach Esping-Anderson 1998) am größten. Nicht zuletzt hängt dies mit den zuvor angesprochenen fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten insbesondere für Kleinkinder zusammen. Arbeitszeit und Einkommensverteilung

Die geschlechtsspezifische Differenz zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit hat eindeutige Effekte in der Einkommensverteilung  : Frauen arbeiten weniger marktvermittelt, d. h. mit direkter, monetärer Entlohnung verbunden, sondern mehr im Rahmen sekundärer Aktivitäten, die nicht direkt vergütet werden, in vielen Ländern auch nicht oder in geringerem Maße zu einem Anspruch auf Transferleistungen führen. Eine simple Unterteilung in marktvermittelte Arbeit und andere Zeit – die dann ja meist als Nicht-Arbeit klassifiziert wird – ist nicht hilfreich, wenn es um die Verteilung von Arbeit an sich geht, sehr wohl aber, wenn es um die Verteilung von Arbeitseinkommen geht (dies ohne Transferleistungen, die in vielen Ländern aber auch größtenteils an frühere marktvermittelte Arbeitsleistungen gekoppelt sind). Die Ungleichverteilung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit wirkt sich selbstverständlich in der Einkommensverteilung der Geschlechter aus, auf welche weiter unten näher eingegangen wird. Die Frage, die sich an die Entwicklung bei der Arbeitszeit knüpft, ist, ob kollektivvertragliche Verkürzungen der Standardarbeitszeit tatsächlich durch die Ausbreitung von Teilzeitarbeit ersetzt werden können (Lehndorff, 1998  : 571), ob es sich dabei also um ein Zukunftsmodell handelt. Unter gesellschaftlichen Bedingungen, die Frauenerwerbstätigkeit als Basis eigenständiger Existenz-



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sicherung eher behindern, droht eine Ausweitung der Teilzeitarbeit als Ersatz für weitere Verkürzungen der Standardarbeitszeit in der Sackgasse einer geschlechtsspezifischen Arbeitszeitpolarisierung (Lehndorff 1998  : 575). Während geschlechtsspezifische Unterschiede in der (marktvermittelten) Arbeitszeit eine relativ moderne Form der Segregation darstellt, ist die geschlechtsspezifische Teilung der Arbeitsmärkte nach beruflichen Tätigkeiten ein traditionelles Merkmal von Erwerbsarbeit. Das nächste Kapitel widmet sich der Darstellung der Entwicklung der Arbeitsmarktsegregation nach Geschlecht in Österreich. 3. Die Entwicklung der geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegregation in Österreich Die Existenz von „Frauenbereichen“ und „Männerbereichen“ ist charakteristisch für sämtliche Arbeitsmärkte industrialisierter Länder. Dieses Phänomen wird als geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation bezeichnet und besitzt hohe Relevanz  : Trotz der länderspezifisch unterschiedlichen Arbeitsmarktstrukturen und vielfältiger Veränderungen derselben in der Vergangenheit weist es eine erstaunliche Beständigkeit auf (Falk 2002  : 38). In der Tat ergibt sich für Österreich im Langzeitvergleich, dass das Ausmaß der geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegregation im Jahr 1975 beinahe auf dem gleichen Niveau ist wie 28 Jahre später, also im Jahr 2003. Durchgängig zeigt sich auch, dass Frauen und Männer nicht nur auf unterschiedliche Weise auf die verschiedenen Berufe verteilt sind (horizontale Segregation), sondern auch in unterschiedlichem Ausmaß in den beruflichen Hierarchieebenen vertreten sind (vertikale Segregation). Bildlich gesprochen ähnelt die Bewegungsfreiheit der Frauen in der Erwerbssphäre jener in einem Glashaus. Sie stoßen aufgrund von subtilen, nicht klar erkennbaren Restriktionen nicht nur an die berüchtigte „gläserne Decke“, sondern auch an gläserne Wände, welche ihnen einen vollständigen Zutritt auf alle Ebenen des Arbeitsmarktes verwehren. Ihre soziokulturelle und gesellschaftspolitische Bedeutung erhält die geschlechtsspezifische Spaltung der Arbeitsmärkte vorwiegend aufgrund der weitgehenden negativen Auswirkungen, die sich daraus für berufstätige Frauen ergeben. Diese spezifische Form der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ermöglicht es nämlich, zwischen dem Wert der geleisteten Arbeit weiblicher und männlicher Erwerbstätiger zu differenzieren. In der Tat besteht zwischen „Frauenberufen“ und „Männerberufen“ eine Hierarchie und es sind unterschiedliche Arbeitsbedingungen damit verbunden  :

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Erwerbstätige Frauen befinden sich häufig in „Sackgassenberufen“ (Kreimer 1995  : 580) mit geringeren Aufstiegs- und Karrierechancen sowie fehlenden Weiterbildungsmöglichkeiten, bekommen weniger eigenverantwortliche Tätigkeitsbereiche im Vergleich zu berufstätigen Männern zugewiesen und sind mit der Abwertung ihrer beruflichen Tätigkeit konfrontiert. Zudem müssen sie mit gravierender Einkommensbenachteiligung und flexiblen, häufig verkürzten Arbeitszeiten zurechtkommen. Überdies sind sie aufgrund ihrer mangelnden Integration auf dem Arbeitsmarkt bzw. im Betrieb häufiger einer stärkeren konjunkturbedingten Rationalisierungsgefahr und Unsicherheit ausgesetzt (Kreimer 1995  : 579f.; Melkas/Anker 1997  : 343  ; Wroblewski 2000  : 6f.). Die durch die Segregation entstandenen Nachteile der Frauen im Erwerbsleben setzen sich in einer Art „Benachteiligungskreislauf “ (Kreimer 1995  : 580) im privaten Bereich noch weiter fort. Die Benachteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt lässt die Zuständigkeit der Frauen für Hausarbeit rational erscheinen und verfestigt damit das traditionelle Familienmodell der häuslichen Arbeitsteilung, das die Spezialisierung der Frauen auf die Hausund Familienarbeit vorsieht. Dadurch kommt es wiederum zu negativen Auswirkungen am Arbeitsmarkt, da die zeitliche Verfügbarkeit der Frauen für die Erwerbsarbeit eingeschränkt ist. Entwicklung der sektoralen Beschäftigung

Tatsächlich ist die Expansion der Frauenerwerbsbeteiligung in Österreich, ausgehend von einem relativ hohen Niveau in den 1960er-Jahren, im internationalen Vergleich bis zum Beginn der 1990er-Jahre nur sehr schwach verlaufen (Biffl 1994  : 121f.; 2006  : 92f.). Diese Tatsache kann mit dem im Ländervergleich ebenfalls sehr schwachen Tertiärisierungsgrad der österreichischen Wirtschaft in Verbindung gebracht werden. Eine geringe Einbindung der Frauen in den Arbeitsmarkt bringt mit sich, dass viele personenbezogene Dienstleistungen im Haushalt unbezahlt, anstatt bezahlt über den Erwerbsarbeitsmarkt, erbracht werden (Biffl 2006  : 92f.). Dem allgemeinen Trend industrialisierter Länder entsprechend, hat jedoch auch in Österreich der Dienstleistungssektor (Tertiärsektor) stark an Bedeutung gewonnen, wie Abbildung 3 zeigt. Der Anteil aller erwerbstätigen Personen im Dienstleistungssektor stieg von 46,3 % im Jahr 1975 auf 67,0 % im Jahr 2007 (Statistik Austria, Mikrozensus, Arbeitskräfteerhebung).13 13 Im Jahr 1975 wurden alle Personen, die eine regelmäßige, durchschnittliche Arbeitszeit von



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Abbildung 3  : Erwerbstätige nach Wirtschaftssektoren, 1975 und 2007

Erwerbstätige insgesamt 1975 Erwerbstätige Erwerbstätige Erwerbstätige Erwerbstätige insgesamt 1975 12,5% insgesamt insgesamt 1975 1975 insgesamt 1975 12,5%

12,5% 12,5%

12,5%

46,3%

46,3%

Erwerbstätige insgesamt 2007 Erwerbstätige Erwerbstätige Erwerbstätige Erwerbstätige insgesamt 2007 5,7% insgesamt insgesamt2007 2007 insgesamt 2007 5,7%

5,7% 5,7%

Land- und Forstwirtschaft Land- und Land- und Forstwirtschaft Produktion Land- und Land- und Forstwirtschaft

27,3% 27,3%

Forstwirtschaft Forstwirtschaft Produktion

46,3% 46,3%

46,3%

41,3% 41,3% 41,3%

41,3%

5,7%

27,3%

27,3%

Produktion Dienstleistungen

Produktion

Produktion

Dienstleistungen Dienstleistungen

67,0% 67,0%

DienstleistungenDienstleistungen 67,0% 41,3% 67,0%

67,0%

Quelle  : Statistik Austria, Mikrozensus, Arbeitskräfteerhebung

Ein Großteil der weiblichen Erwerbstätigen ist, wie die nächste Grafik (Abbildung 4) zeigt, im Dienstleistungssektor beschäftigt. Im Jahr 1975 betrug der Anteil 57,1 %, im Jahr 2007 sind es bereits 81,2 %. Das bedeutet, dass im Jahr 2007 mehr als vier von fünf Frauen im Tertiärsektor beschäftigt sind, welcher damit der zentrale Beschäftigungsbereich für Frauen ist. Die auf Branchenebene quantitativ bedeutsamsten Arbeitgeber für Frauen sind hierbei die Bereiche Handel sowie Gesundheits- und Sozialwesen. Bei den männlichen Erwerbstätigen ist ebenfalls ein Tertiärisierungstrend bemerkbar, jedoch in deutlich geringerem Ausmaß. Grund dafür ist, dass der Produktionssektor (insbesondere die Sachgütererzeugung) für Männer eine zwar ebenfalls abnehmende, aber nach wie vor große Bedeutung hat. Erst Anfang der 1990er-Jahre ändert sich bei den männlichen Erwerbstätigen das Verhältnis und der Dienstleistungssektor überholt den Produktionssektor (Statistik Austria 2007b  : 27). Im Jahr 2007 sind immerhin noch 39,1 % der männlichen Erwerbstätigen im Sekundärsektor beschäftigt. Für weibliche Erwerbstätige war der Produktionssektor bereits im Jahr 1975 vergleichsweise wenig bedeutend, im Jahr 2007 sind mittlerweile nur mehr 12,9 % der Frauen darin beschäftigt. Abbildung 4 zeigt diese Verteilung der berufstätigen Frauen und Männer auf die Wirtschaftssektoren in den Jahren 1975 und 2007.

mindestens 14h/Woche sowie Arbeitslose berücksichtigt, im Jahr 2007 alle Personen, die in der Vorwoche eine bezahlte Tätigkeit im Ausmaß von einer Stunde ausgeübt haben.

27,3%

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Abbildung 4  : Berufstätige Frauen und Männer nach Wirtschaftssektoren 1975 und 2007

Frauen 1975

Erwerbstätige insgesamt 1975 Erwerbstätige Erwerbstätige insgesamt 57,1% insgesamt 1975 12,5% 1975 12,5% 12,5%

Frauen 2007 41,3%

10,6% 39,4%

27,5%

46,3% 46,3% 46,3%

Männer 1975

15,4%

5,9%41,3% 41,3% 12,9%

Erwerbstätige insgesamt 2007 Erwerbstätige Erwerbstätige insgesamt 2007 5,7% insgesamt 2007 5,7% 5,7%

Land- und Forstwirtschaft Land- und Land- und Forstwirtschaft Produktion Forstwirtschaft Produktion Produktion Dienstleistungen Dienstleistungen Dienstleistungen

55,3%

49,9%

27,3% 27,3% 27,3%

Männer 2007 67,0% 5,6% 67,0% 67,0%

39,1%

81,2%

Quelle  : Statistik Austria, Mikrozensus, Arbeitskräfteerhebung (Legende s. Abbildung 3)

Die Veränderungen der Bedeutung der Sektoren für die Geschlechter spiegeln sich auch in der Entwicklung der steigenden Frauenbeschäftigung und der sinkenden Männerbeschäftigung (Abbildung 1) wider. Aus der Berechnung der Geschlechteranteile in den Wirtschaftssektoren zeigt sich, dass der produzierende Bereich mit 74,4 % Männeranteil im Jahr 1975 und 78,6 % im Jahr 2007 zunehmend männlich dominiert wird. Seine Bedeutung hinsichtlich der darin beschäftigen Personen ist jedoch, wie in Abbildung 3 veranschaulicht wurde, abnehmend. Der Dienstleistungssektor expandiert dagegen sehr stark und weist einen überproportional steigenden Anteil der darin beschäftigten Frauen auf. Im Jahr 1975 lag der Frauenanteil im Tertiärsektor bei 47,6 %, im Jahr 2007 beträgt dieser bereits 54,7 % (Mikrozensus Jahresergebnisse, eigene Berechnungen).



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Horizontale Arbeitsmarktsegregation

Hinsichtlich der Stärke der geschlechtsspezifischen Spaltung des Arbeitsmarktes nimmt der österreichische Arbeitsmarkt keine Sonderstellung ein, sondern liegt im europäischen Vergleich eher im Mittelfeld (Handl/Steinmetz 2003  : 11). Für eine Einschätzung, inwieweit sich die Problematik der Arbeitsmarktsegregation hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Frauen in den letzten Jahrzehnten verschärft oder aber verbessert hat, ist die langfristige Entwicklung der horizontalen Segregation in Österreich von Interesse. Diese kann auf Basis von Daten der Statistik Austria nachvollzogen werden, welche die berufstätige Bevölkerung gemäß der Österreichischen Berufssystematik (ÖBS Version 1971) klassifiziert und im Rahmen der jährlichen Mikrozensus-Erhebungen veröffentlicht. Konkret werden die beiden obersten Aggregationsstufen der Berufssystematik, die erste bestehend aus acht „Berufshauptgruppen“, die zweite aus 76 „Berufsobergruppen“, publiziert und erwerbstätige Personen (sowie Arbeitslose) nach dem Lebensunterhaltskonzept14 berücksichtigt. Eine weitgehende Vergleichbarkeit des Zahlenmaterials ist für den Zeitraum zwischen 1975 und 2003 gegeben, welcher daher im Folgenden betrachtet wird (siehe Waltner 2008  : 35ff.). Zur Quantifizierung der beruflichen Segregation und für den zeitlichen Vergleich erweist sich die Berechnung von Segregationsindizes als nützliches Instrumentarium. Dadurch kann die Höhe der Segregation auf Basis von 76 „Berufsobergruppen“ durch eine Messzahl ausgedrückt und die errechneten Werte aus den verschiedenen Untersuchungsjahren miteinander verglichen werden. Wie bereits angesprochen, ist ein unerwartetes Ergebnis dieses Zeitvergleichs, dass das Segregationsniveau im Jahr 2003 nicht deutlich geringer ist als zu Beginn der Untersuchungsperiode, sondern in etwa jenem des Jahres 1975 entspricht, tendenziell sogar höher ist (ebd.: 84). Es kann jedoch nicht von einer beinahe drei Jahrzehnte überdauernden Stagnation der geschlechtsspezifischen Teilung der Berufe gesprochen werden, da gleichzeitig deutlich erkennbar ist, dass die Segregation zwischen 1975 und 1985 kräftig gestiegen ist. Gemäß der Interpretationsweise des Dissimilaritätsindex, dem gebräuchlichsten Index zur Messung von Segregation, hätten im Jahr 1975 ca. 54,80 % der weiblichen (oder männlichen) Erwerbspersonen ihren Be14 Erwerbstätig nach dem Lebensunterhaltskonzept gelten alle Personen, die eine regelmäßige, durchschnittliche Arbeitszeit von mindestens 14h/Woche (1975, 1980) bzw. 13h/Woche (1985, 1990) bzw. 12h/Woche (1995, 2000, 2003) aufweisen.

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ruf wechseln müssen, damit eine Gleichverteilung von Frauen und Männern entsprechend ihrer Verteilung in der Gesamtbeschäftigung entsteht. Im Jahr 1985 steigt dieser Anteil um über drei Prozentpunkte auf ca. 58 %. Nach 1985 sinkt das Segregationsniveau wieder, der Dissimilaritätsindex zeigt im Jahr 2003 wieder einen Wert von 54,80 % an (ebd.: 62). Die hügelförmige Entwicklung, wie in unten stehender Abbildung illustriert, stellt sich bei sämtlichen berechneten Segregationsindizes als charakteristische Verlaufsform der Segregationsentwicklung in Österreich heraus. Abbildung 5  : Entwicklung der Segregation in Österreich von 1975–2003 59% 58% 57% 56% 55% 54% 53% 1975

1980

1985

1990

1995

2000

2003

Dissimilaritätsindex

Quelle  : Statistik Austria, Mikrozensus-Jahresergebnisse, eigene Berechnungen

Prozesse der Segregationsentwicklung

Aufschlussreiche Verbindungen zur Frauenerwerbstätigkeit ergeben sich, wenn die festgestellte Entwicklungsrichtung der horizontalen Segregation mit den Gegebenheiten auf wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Ebene in Beziehung gesetzt wird. Die erste Teilperiode zwischen 1975 und 1985, in welcher ein markanter Anstieg der Segregationshöhe festgestellt wurde, ist in Österreich wirtschaftspolitisch überwiegend noch vom Austro-Keynesianismus und dem Ziel von Ausbau und Erhaltung eines Wohlfahrtsstaates geprägt. Das propagierte Idealbild der „Hausfrauenehe“ spiegelt sich einerseits in der mangelnden weiblichen Erwerbsorientierung und andererseits in den durchschnittlich niedrigeren Bildungsabschlüssen der Frauen wider (Statistik Austria 2007b  : 12). Die schwerwiegendste Entscheidung der Frauen



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betraf daher nicht so sehr die Berufswahl, sondern sie betraf in erster Linie die Frage, ob sie überhaupt einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen sollten oder nicht. Neben individuellen Entscheidungsfaktoren war die finanzielle Notwendigkeit ein ausschlaggebendes Argument für diese Entscheidung. Frauen, die sich für außerhäusliche Erwerbstätigkeit entschieden oder entscheiden mussten, fanden v.a. in Büroberufen und im Bereich konsumorientierter und persönlicher Dienstleistungen Möglichkeiten zur Beschäftigung. Die Integration in den Arbeitsmarkt erfolgte in dieser Periode daher vorwiegend über Berufsbereiche, die bereits weiblich typisiert waren (Waltner 2008  : 116). Mögliche Gründe für die vorwiegend weibliche Beschäftigung in diesen Bereichen liegen darin, dass Frauen aufgrund der ihnen zugeschriebenen „weiblichen Eigenschaften“ die dafür notwendige Eignung zuerkannt wurde, diese Berufsfelder zudem stark expandierten und daher einen wachsenden Bedarf an Arbeitskräften verzeichneten (ebd.: 102f.). Das Wachstum weiblich dominierter Berufsobergruppen ist ein wesentlicher Faktor, der zur Erhöhung des Dissimilaritätsindex zwischen 1975 und 1985 beigetragen hat. Starke Effekte lassen sich in diesem Zusammenhang bei Berufsgruppen wie LehrerInnen und ErzieherInnen, Gesundheits- und Reinigungsberufen sowie bei Tätigkeiten in der Gastronomie nachweisen (ebd.: 122ff.; 136f.). Frauen konnten von der Expansion des Dienstleistungssektors in Form von Arbeitsplätzen stark profitieren. Der Bedeutungsverlust der beiden übrigen Sektoren, des Land- und Forstwirtschaftssektors sowie des Produktionssektors, hat für die Geschlechter unterschiedliche Auswirkungen am Arbeitsmarkt. Der abnehmende Anteil des Land- und Forstwirtschaftssektors betrifft Frauen etwas stärker als Männer, da Berufe aus diesem Sektor im „weiblichen“ Berufsspektrum stärker integriert waren als in jenem für Männer (ebd.: 93ff.). Männer spüren dagegen den sinkenden Anteil des Produktionssektors in stärkerem Ausmaß. Berufe aus dem Produktionssektor sind im Durchschnitt stark männlich dominiert, die männliche Dominanz wird zwischen 1975 und 1985 interessanterweise noch stärker (ebd.: 92f.). Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass sich männliche Arbeitnehmer aufgrund ihrer starken „männerorientierten“ gewerkschaftlichen Vertretung stärker vor Umstrukturierungen bzw. Rationalisierungen schützen konnten als weibliche Arbeitnehmerinnen in Produktionsberufen (Grisold/Simsa 1992  : 146). Die steigenden Männeranteile in Produktionsberufen sind ebenfalls für das Steigen des Indexwertes zwischen 1975 und 1985 verantwortlich. Es handelt sich bei diesen Berufskategorien beispielsweise um jene der ElektrikerInnen,

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Chemie- und GummiarbeiterInnen, Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Bedienung von Maschinen sowie SchmiedInnen, SchlosserInnen und WerkzeugmacherInnen (ebd.: 122ff.; 136f.). In der darauffolgenden Periode zwischen 1985 und 2003 ändern sich die Rahmenbedingungen der Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern. Das „Ernährermodell“ ist einer modernisierten Variante, dem „Vereinbarkeitsmodell“, gewichen, wonach Frauen versuchen, häusliche Arbeit und außerhäusliche Erwerbsarbeit zu kombinieren. Das weibliche Bildungsniveau hat sich rasant verbessert (Statistik Austria 2007b  : 12) und die Berufstätigkeit von Frauen wird zur Normalität. Die ausschließliche Hausfrauenrolle ist mittlerweise sogar nur mehr dann sozial akzeptiert, wenn sie mit der Betreuung von Kindern kombiniert wird (Kohlmorgen 2004  : 281). Diese Entwicklung wird auch durch die zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit und damit brüchigeren Karrieren berufstätiger Männer einerseits, durch höhere Scheidungszahlen und die steigende Zahl von Alleinerzieherinnen andererseits beeinflusst. Frauen stellt sich in dieser Periode weniger die Frage, ob sie einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen wollen/müssen, sondern unter welchen Bedingungen sie diese ausüben möchten. Im Gegenzug dazu hat sich an der grundsätzlichen Vorstellung über die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Wesentlichen wenig verändert – wenn auch die Verteilung von Hausarbeit bei jüngeren Paaren mittlerweile partnerschaftlicher geregelt ist (BMSG 2003)  : Frauen bleiben weiterhin die Hauptverantwortlichen für Familien- und Hausarbeit (Blaschke/Cyba 2005  : 307). Die Vereinbarkeit der Arbeitswelten ist daher schwierig und von Kompromissen gekennzeichnet. Zum einen werden Teile der vormals zu Hause erledigten Arbeiten auf dem Markt zugekauft, was einen wesentlichen Kostenpunkt für die Haushalte darstellt. Zum anderen nehmen Frauen solche Jobs am Arbeitsmarkt an, die keiner vollen zeitlichen Verfügbarkeit bedürfen. Diese Entwicklung kann somit komplementär zu den Flexibilisierungsbestrebungen der Arbeitsmärkte durch die Unternehmen gesehen werden. Der Trend der Expansion von weiblich dominierten Berufskategorien aus dem Büro- und Dienstleistungsbereich setzt sich in der zweiten untersuchten Teilperiode fort, daher bleiben diese Bereiche weiterhin berufliche Hauptbeschäftigungsfelder für Frauen. Das fortwährende Wachstum sozialer und konsumorientierter Dienstleistungen bekräftigt die Hypothese, wonach Haushalts- und Betreuungsarbeiten zunehmend auf den Markt verlagert werden. Dort werden sie wiederum in der Mehrzahl von Frauen ausgeführt, sodass der Frauenanteil in diesen Berufen dementsprechend hoch ist. Dieser



Notwendigkeit und Grenzen des Sozialen

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Trend schlägt sich, wie bereits in der Vorperiode, erhöhend auf den Wert des Dissimilaritätsindex nieder. Gleichzeitig wird diese segregationserhöhende Wirkung aber von einer segregationssenkenden Entwicklung kompensiert bzw. übertroffen, wonach die in den genannten Berufsfeldern vorherrschenden Geschlechterverhältnisse ausgeglichener werden. Zum Teil tritt dieser Effekt deswegen ein, weil der Frauenanteil in einigen dieser Berufsobergruppen zwischen 1985 und 2003 nicht so stark gestiegen ist wie jener in der Gesamtbeschäftigung. Zum Teil haben sich jedoch – trotz des steigenden Frauenanteils insgesamt – die Männeranteile in einigen der weiblich dominierten Berufskategorien deutlich erhöht. In Relation zum Geschlechterverhältnis der Gesamtbeschäftigung gesehen, bewirkt dies einen geringfügigen Ausgleich der Geschlechterverhältnisse, was sich senkend auf den Indexwert auswirkt. Dieses Entwicklungsmuster kann insbesondere bei beruflichen Tätigkeiten im Sozialbereich, bei Reinigungsberufen, Büroberufen und bestimmten Berufen im Hotel- und Gaststättenbereich sowie bei KöchInnen und KüchengehilfInnen beobachtet werden (Waltner 2008  : 124ff., 140f.). Bei männlich dominierten Berufen ist eine Fortsetzung des Entwicklungstrends der Vorperiode zu beobachten. Berufsobergruppen aus dem Produktionsbereich öffnen sich weiterhin kaum für Frauen bzw. verschließen sich sogar noch stärker. Sie verlieren aber auch gleichzeitig aufgrund sinkender Beschäftigtenanteile an Wichtigkeit und werden daher weniger „segregationsrelevant“. Die Ver- und Bearbeitung von chemischen Produkten, Gummi, Kunststoff, Metall und Eisen sind Beispiele für berufliche Tätigkeiten, auf welche diese Beobachtung zutrifft. Starke Effekte zeigen sich diesbezüglich auch bei der Erzeugung bzw. Bearbeitung von Ziegel, Keramik und Steinen (ebd.: 140f.). In anderen Bereichen als dem Produktionsbereich ist jedoch auch eine Öffnung von Männerberufen für Frauen ersichtlich, was ebenfalls zum Sinken der Segregation beiträgt. Anders als in der Vorperiode handelt es sich zwischen 1985 und 2003 auch um einige große Berufskategorien bzw. um eine größere Anzahl an Berufskategorien, die höhere Qualifikationsniveaus vermuten lassen.15 Letzteres kann beispielsweise bei Berufsgruppen wie TechnikerInnen für Chemie und Physik, Bau- und Vermessungswesen sowie bei ArchitektInnen, Verwaltungsfachbediensteten, WissenschaftlerInnen, RichterInnen und StaatsanwältInnen beobachtet werden. Erwähnenswert ist diesbezüglich, dass sich der Frauenanteil in der traditionell stark männlich dominierten Gruppe aller technischen Berufe zwischen 1985 und 15 Die ÖBS 1971 gibt keine direkte Auskunft über Qualifikationsniveaus der Berufe.

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2003 um mehr als zwei Drittel erhöht hat. Allerdings ist dieser mit 13,1 % im Jahr 2003 immer noch sehr niedrig. Die Zunahme des Frauenanteils bei BetriebsinhaberInnen, DirektorInnen und GeschäftsleiterInnen im gleichen Zeitraum um mehr als das Doppelte auf 28,18 % weist zudem darauf hin, dass es in diesem Bereich zumindest einigen Frauen gelungen ist, die „gläserne Decke“ zu durchdringen (ebd.). Vertikale Segregation

Es zeigt sich in der Tat, dass mit dem zunehmenden weiblichen Erwerbsanteil von ca. 36 % im Jahr 1975 auf ca. 45 % im Jahr 2003 (Lebensunterhaltskonzept) auch die Präsenz von Frauen in höheren beruflichen Hierarchieebenen stärker geworden ist. Dies wird in unten stehender Abbildung anhand des Angestelltenbereichs16 dargestellt. Einerseits ist ersichtlich, dass sich der Anteil weiblicher Angestellter auf der untersten Ebene, also im Bereich der Hilfstätigkeiten, mit einem Anstieg von 53 % auf 70 % am stärksten erhöht hat. Andererseits sind jedoch auch die Frauenanteile in den mittleren, in den höher qualifizierten als auch im Bereich der hoch qualifizierten leitenden Tätigkeiten relativ stark gestiegen. In letztgenanntem Bereich, der höchsten Hierarchieebene des Angestelltenbereichs, immerhin um 11 Prozentpunkte. Ernüchternd ist jedoch das Ergebnis der Berechnungen der Statistik Austria zu den mittleren Bruttojahreseinkommen nach Hierarchieebenen und Geschlecht. Demnach verdienen im Jahr 2005 ganzjährig vollzeitbeschäftigte Frauen im Angestelltenbereich durchschnittlich 63 % des Männermedians, in hoch qualifizierten Tätigkeiten immerhin 76 %. Für führende Tätigkeiten erhalten sie jedoch nur 59 % von dem, was ihre männlichen Kollegen verdienen (Statistik Austria 2008c). Im ArbeiterInnenbereich17 ergibt sich ein ähnliches Muster. MikrozensusErgebnissen zufolge ist der Anteil der Frauen auf der höchsten Ebene der Fach- und VorarbeiterInnen und MeisterInnen zwischen 1975 und 2003 von 11 % auf 14 % gestiegen, auf der untersten Ebene der HilfsarbeiterInnen jedoch wesentlich stärker von 49 % auf 56 %. Im Jahr 2005 verdienten ganzjährig vollzeitbeschäftigte Frauen im ArbeiterInnenbereich etwa 69 % des Männermedians, auf der Ebene der Fach- und VorarbeiterInnen und MeisterInnen jedoch nur 62 % (Statistik Austria 2008c). Der Frage nach der Entwicklung 16 Ausgenommen Lehrlinge, inklusive BeamtInnen. 17 Ausgenommen Lehrlinge und BeamtInnen.



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Abbildung 6  : Frauenanteile im Angestelltenbereich nach Qualifikation der Tätigkeiten

Quellen  : Frauenbericht 1985, Mikrozensus 2003, eigene Berechnungen

der Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern möchten wir uns daher im nächsten Abschnitt widmen.

4. Entwicklung und Ursachen geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede in Österreich Geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede sind heute wieder auf dem Niveau von 1980. Während von 1980 bis Anfang der 1990er-Jahre eine leichte Reduktion geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede beobachtet werden kann, steigen die Ungleichheiten seit Mitte der 1990er-Jahre. Laut dem jüngsten Einkommensbericht des Rechnungshofs (2008) lag das mittlere Bruttojahreseinkommen von Frauen im Jahr 2007 bei 59 % des vergleichbaren Männereinkommens. Frauen im unteren Einkommensbereich mussten in den letzten 15 Jahren die stärksten Einkommensverluste hinnehmen. Wenn auch die Höhe der Einkommensunterschiede keinen Unterschied zu 1980 aufweist, haben sich die Ursachen der Einkommensdifferenzen bedeutend verändert. Bildungs- und Qualifikationsunterschiede erklären heute einen zunehmend geringeren Teil der Lohnschere, Arbeitszeit hingegen wird zu einer immer wichtigeren Determinante. Arbeitszeitbereinigt verdienen Frauen circa 75– 78 % der Männereinkommen, fast 50 % der Einkommensunterschiede können somit bereits durch die geringere durchschnittliche (wöchentliche) Erwerbs-

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arbeitszeit von Frauen erklärt werden. In diesem Kapitel wird zunächst die Entwicklung der Einkommensunterschiede in den letzten drei Jahrzehnten aufgezeigt und auf methodische Fragen zur Berechnung geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede eingegangen, anschließend wird die Veränderung der Ursachen der Einkommensunterschiede diskutiert. Zur Entwicklung geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede

Die viel zitierte Relation, wonach Frauen ohne Arbeitszeitbereinigung noch immer um ein Drittel weniger als Männer verdienen, entsteht durch das Verhältnis des Frauenmedianeinkommens zum Männermedianeinkommen. Wird ausschließlich der private Sektor betrachtet, vergrößert sich die Einkommensschere deutlich. So verdienten Arbeiterinnen im privaten Sektor 2005 durchschnittlich 62 % der Männereinkommen, Angestellte 59 % (siehe Abbildung 7). Auch hier hat sich die Höhe der Einkommensunterschiede in den letzten drei Jahrzehnten kaum verändert, die Vergleichswerte für das Jahr 1980 sind 63 % bzw. 59 %. Von 1980 bis 1993 verringert sich die Lohnschere tendenziell, seither kann jedoch wieder ein Anstieg der Einkommensungleichheiten beobachtet werden. Abbildung 7  : Frauenmedianeinkommen in % der Männermedianeinkommen im privaten Sektor, 1980–2005 66.0%

64.0% ArbeiterInnen 62.0%

60.0% Angestellte 58.0%

56.0%

54.0%

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52.0%

Quelle  : Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, Berechnungen der AK Wien, eigene Berechnungen



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Der Rückgang des Frauenmedianeinkommens seit Anfang der 1990er-Jahre entsteht vor allem durch das sinkende Fraueneinkommen im unteren Einkommensbereich. Während Frauen im untersten Einkommensviertel (im privaten und öffentlichen Sektor gesamt) im Jahr 1990 noch über 64 % der Männereinkommen derselben Einkommensgruppe verdienten, beträgt diese Relation heute nur mehr 60 % (siehe Abbildung 8). Christa Schlager (2007) erachtet die konjunkturell bedingte mangelnde Arbeitskräftenachfrage und daraus resultierende Arbeitslosigkeit als wesentliche Ursache dafür. Der entstehende Lohndruck wirkte sich aufgrund ihrer schlechten Verhandlungsposition insbesonders negativ auf Frauen im unteren Einkommensbereich aus. Abbildung 8  : Fraueneinkommen in % der Männereinkommen im hohen, ­mittleren und niedrigen Einkommensbereich, Quartilobergrenzen, privater und öffentlicher Sektor, 1990–2006 72,0

72,0 70,0 72,0 70,0 68,0 70,0 68,0 66,0 68,0 66,0 64,0

66,0 64,0 62,0

1. Quartil Median 1. Quartil 3. Median 1. 3. Quartil

64,0 62,0 60,0 %

Median 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 3. Quartil

62,0 60,0 %

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

60,0 %

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

Quelle  : Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, Berechnungen des WIFO, eigene Berechnungen

Arbeitszeitbereinigt verringern sich die Einkommensunterschiede deutlich, da mittlerweile über 40 % aller Frauen teilzeitbeschäftigt sind. Werden die Bruttojahreseinkommen ganzjährig Vollzeitbeschäftigter miteinander verglichen, so verdienten Frauen 2007 78 % der Männereinkommen (Rechnungshof 2008  : 41), die Einkommensunterschiede verringerten sich somit fast um die Hälfte. Werden hingegen die Bruttostundeneinkommen verglichen, sind

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die Einkommensunterschiede ein wenig höher, das mittlere Bruttostundeneinkommen von Frauen lag 2007 bei 75 % des vergleichbaren Männereinkommens (Eurostat 2009). Außerdem macht es einen Unterschied, ob Brutto- oder Nettoeinkommen miteinander verglichen werden. Den Unterschied zwischen Bruttound Nettolöhnen bilden Lohnsteuer und Sozialversicherungsabgaben. Die Lohnsteuer bzw. Einkommenssteuer wirkt als einzige Steuer in Österreich progressiv, die Sozialversicherungsabgaben aufgrund der Höchstbeitragsgrundlage leicht regressiv (Mum 2006). In Summe überwiegt die progressive Umverteilungswirkung, von welcher Frauen profitieren. So sind die NettoEinkommensunterschiede ein wenig geringer als die Brutto-Einkommensunterschiede (für ausführliche Berechnungen siehe Zwickl 2008). Um geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede zu berechnen, kann auf die Daten des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger, die Lohnsteuerstatistik der Statistik Austria und eine Reihe von umfragebasierten Datenbanken zurückgegriffen werden. Sozialversicherungsstatistik und Lohnsteuerstatistik haben den Vorteil, dass sie Zeitreihen ausweisen und dadurch Längsschnittanalysen ermöglichen. Allerdings fehlen beiden Datenbanken wichtige Variablen, die das Einkommen erklären (z. B. die geleisteten Wochenarbeitsstunden, der höchste Bildungsabschluss etc.), wodurch eine detailliertere Analyse geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede nur mithilfe von Umfragedaten (wie z. B. der EU-SILC-Statistik) möglich wird. Da diese Umfragedatenbanken jedoch (derzeit noch) keine Längsschnittanalysen ermöglichen, untersuchen die meisten Studien, die sich mit den Ursachen geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede in Detail beschäftigen und dabei auf umfragebasierte Daten zurückgreifen, nur ein bis wenige Jahre. Im Folgenden wird durch die Diskussion einiger dieser Studien die Veränderung der Ursachen geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede in den letzten drei Jahrzehnten dargestellt. Zur Veränderung der Ursachen geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede

Josef Christl und Michael Wagner (1981) nennen fünf Faktoren, die für die geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede Ende der 1970er/Anfang der 1980er-Jahre hauptsächlich verantwortlich waren  : Ausbildungsnachteile, Laufbahnbeschränkungen, Konzentration auf Niedriglohnbranchen, unterdurchschnittliche Arbeitsplatzsicherheit und kollektivvertragliche Diskriminierung von Frauen. Im Jahr 1978 hatten 47 % aller weiblichen Erwerbstätigen



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nur einen Pflichtschulabschluss, im Vergleich zu 30 % aller männlichen. Nur 2,5 % aller weiblichen Erwerbstätigen hingegen hatten einen Universitätsabschluss, im Vergleich zu 5 % der männlichen (Christl/Wagner 1981  : 6). Hinzu kommt, dass Männer bei gegebener Qualifikation bessere Aufstiegschancen hatten. Während 1978 65 % aller Männer im Alter von 40–49 mit Matura (als höchstes abgeschlossenes Bildungsniveau) in leitende oder qualifiziertere Angestelltenpositionen aufgestiegen waren, waren es nur 43 % aller Frauen in dieser Altersgruppe mit gleichem Bildungsniveau (ebd.: 7). In den 1970er-Jahren konnte (wie heute) ein wesentlicher Anteil der Einkommensunterschiede durch Segregation erklärt werden. In Branchen wie z. B. „Haushaltung und Hauswartung“ mit einem Frauenanteil von 90 % verdienten Frauen im Jahr 1976 nur knapp 50 % der Männereinkommen (ebd.: 8). Außerdem waren Frauen(branchen) von einer höheren Arbeitslosigkeit betroffen. So waren 1970 3,7 % aller weiblichen, hingegen nur 2,6 % aller männlichen ArbeiterInnen arbeitslos (ebd.: 10). Bei einem Vergleich von 300 Kollektivverträgen des Jahres 1978 fiel auf, dass 5 % der Kollektivverträge niedrigere Lohnstufen für Frauen trotz gleicher nomineller Tätigkeit vorsahen, 5 % Frauen bei Zulagen, Beihilfen oder Abfertigungen benachteiligten und 3 % der Kollektivverträge bei der Anrechnung von Dienstzeiten Frauen diskriminierten (ebd.: 11). Während in den 1970er-Jahren Teilzeitarbeit noch nicht als wichtige Determinante der Einkommensunterschiede genannt wurde, gewinnt die Thematik seit Mitte der 1980er-Jahre an Bedeutung. Abbildung 9 zeigt die Fraueneinkommen im Jahr 1981 in Prozent der Männereinkommen für die jeweiligen Einkommensdezile mit und ohne Arbeitszeitstandardisierung. Dabei fällt vor allem im unteren Einkommensbereich auf, dass Frauen arbeitszeitbereinigt deutlich mehr verdienen. So steigen zum Beispiel im zweiten Dezil die Fraueneinkommen von 60 % auf 71 %, wenn eine Arbeitszeitstandardisierung durchgeführt wird. Dies verdeutlicht, dass die ungleich verteilte Arbeitszeit (zumindest für den unteren Einkommensbereich) ab Anfang der 1980er-Jahre wesentlich zur Erklärung geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede beitrug. In den höheren Einkommensgruppen ergibt sich jedoch noch kein deutlicher Einfluss von Teilzeitarbeit auf die Fraueneinkommen. Dies ist vermutlich dadurch zu erklären, dass Teilzeitarbeit zunächst in den unteren Einkommensbereichen entstanden ist und sich erst allmählich auf höhere Einkommensgruppen ausweitete. Auch Diskriminierung wird als wesentlicher Faktor der Einkommensunterschiede erachtet. So berechnet Josef Christl (1985), dass Frauen bei gleichem Bildungsabschluss nur maximal 72 % der Männereinkommen verdienen.

240 80%

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Abbildung 9  : Einkommensunterschiede mit und ohne Arbeitszeitstandardi70% sierung auf Basis des Mikrozensus 1981

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9 Dezilobergrenzen

Quelle  : Christl 1985  : 16ff.

Seit Anfang der 1980er-Jahre nimmt die Bedeutung von Teilzeitarbeit und anderen „atypischen Beschäftigungsformen“ zur Erklärung geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede rasch zu. So waren zwischen 1985 und 1995 rund 70 % der neu geschaffenen Frauenarbeitsplätze Teilzeitjobs (Pastner/Papouschek 1998  : 7). Zugleich vergrößern sich in diesem Zeitraum die geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede, während sie sich noch in den 1980er-Jahren tendenziell verringerten (ebd.: 10). Bereits ein Drittel der Einkommensunterschiede kann Anfang der 1990er-Jahre durch Teilzeit erklärt werden (ebd.: 11). Die hohe Teilzeitquote in den 1990er-Jahren war außerdem bereits dafür verantwortlich, dass Österreich zu dieser Zeit im europäischen Vergleich sehr hohe Einkommensunterschiede aufwies (ebd.: 10). Bei gleichem Bildungsniveau und gleicher Arbeitszeit lag das mittlere Einkommen der Frauen im Jahr 1995 um 16 % (bei AbsolventInnen allgemeinbildender höherer Schulen) und 31 % (bei AbsolventInnen berufsbildender Schulen) unter jenem der Männer (ebd.: 11). Neben Teilzeitarbeit und Beschäftigungsunterbrechungen werden Mitte der 1990er-Jahre vor allem die schlechteren Berufschancen und die langsamere Aufstiegsgeschwindigkeit von Frauen als wesentliche Faktoren geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede erachtet. Im Durchschnitt aller Sektoren und Einkommensstufen verdienen Frauen bereits bei Berufseinstieg um 18,3 % weniger als Männer (Gregoritsch et al. 2000  : 30). In den



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ersten Jahren nach dem Berufseinstieg hatten Frauen zwar im Durchschnitt ein leicht höheres Wachstum des Bruttoeinkommens als Männer, durch Berufsunterbrechungen, Teilzeitarbeit und geringere Überstunden öffnet sich jedoch die Lohnschere im Laufe der Zeit. Um das Öffnen der Einkommensschere im Zeitablauf näher zu behandeln, untersuchen Petra Gregoritsch et al. (2000) eine Gruppe von BerufseinsteigerInnen des Jahres 1977, in welcher Frauen um 7,5 % weniger verdienten als Männer. Anschließend ermitteln sie die Einkommensunterschiede für dieselbe Gruppe für das Jahr 199618 und erhalten hier Einkommensdifferenzen von 36 %. Pro Jahr hatten also Frauen im Durchschnitt um 2,1 Prozentpunkte geringere Einkommenszuwächse als Männer. Sogar jene Gruppe von Frauen ohne Berufsunterbrechungen konnte ihr Einkommen um 1,3 Prozentpunkte pro Jahr langsamer steigern als Männer ohne Berufsunterbrechungen. Frauen mit karenzbedingten Unterbrechungen im Zeitraum von 1977 bis 1996 hatten sehr schwache Einkommenszuwächse. Die AutorInnen kommen zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Einkommensunterschiede durch die langsamere Aufstiegsgeschwindigkeit und Berufsunterbrechungen der Frauen entstehen (Gregoritsch et al. 2000  : 78). Der Vergleich der Studien über die Ursachen geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede der letzten drei Jahrzehnte zeigt, dass die ungleich verteilte Arbeitszeit zu einer immer wichtigeren Determinante geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede geworden ist. Dabei hatte die geringere Arbeitszeit jedoch nicht nur direkte negative Einkommenseffekte (die durch die niedrigere Wochenarbeitszeit von Frauen entstehen), sondern auch indirekte, welche aufgrund der schlechteren Verhandlungsposition von Teilzeitbeschäftigten bei Lohnerhöhungen, Weiterbildung und Aufstiegschancen entstehen. Während in den 1980er-Jahren Teilzeitarbeit jedoch überwiegend im unteren Einkommensbereich vorgekommen ist (bzw. Auswirkungen auf die Einkommensverteilung hatte) (Christl 1985), hat weibliche Teilzeitarbeit mittlerweile in allen Einkommensgruppen Auswirkungen auf die geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede, auch wenn ein Großteil des Phänomens weiterhin im unteren Einkommensbereich diagnostiziert wer18 D.h. für alle Personen, die im Jahr 1977 begonnen haben zu arbeiten und 1996 noch als beschäftigt aufschienen. Mehr als ein Fünftel aller BerufseinsteigerInnen schienen im Jahr 1996 nicht im Erwerbssystem auf. Gregoritsch et al. (2000) gehen jedoch nicht genauer auf die Ursachen hierfür ein.

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den kann. Dies verdeutlichen eigene Berechnungen mit den EU-SILC-2005Daten, einer Erhebung über Einkommen, Armut und Lebensbedingungen, die seit Kurzem in der gesamten EU einheitlich durchgeführt wird (siehe Abbildung 10). Abbildung 10  : Fraueneinkommen in Prozent der Männereinkommen, gesamt und Vollzeit nach Einkommensdezilobergrenzen, 2005 90% Gesamt

80%

Vollzeit

70% 60% 50% 40% 30% 1

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9

Dezilobergrenzen

Quelle  : EU-SILC 2005, eigene Berechnungen

Da eine vollständige Arbeitszeitbereinigung mit den EU-SILC-Daten nicht seriös möglich ist, werden die Fraueneinkommen in Prozent der Männereinkommen für alle Einkommensdezile gesamt jenen der Vollzeitbeschäftigten gegenübergestellt (für eine ausführliche Beschreibung der EU-SILC-Daten siehe Zwickl 2008  : 39ff.). Insgesamt verdienen Frauen im untersten Einkommensdezil ca. 50 % der Männereinkommen, Frauen im obersten Dezil hingegen 69 %. Vollzeitbeschäftigte Frauen erhalten im ersten Dezil 62 % der Männereinkommen, im neunten Dezil 78 %.19 Bemerkenswert ist jedoch der Knick beim zweiten Einkommensdezil, in dem Frauen extrem schlecht verdienen und der Unterschied zwischen den Einkommensunterschieden mit und ohne Teilzeitbeschäftigten am höchsten ist. Hier verdienen vollzeitbeschäftigte Frauen 74 % (Frauen insgesamt hingegen nur 43 %) der Männereinkommen. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass teilzeitbeschäftigte Frauen vor allem im zweiten Einkommensdezil vorzufinden sind (während 19 Diese Ergebnisse zeigen große Übereinstimmungen mit Guger/Marterbauer (2007).



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im ersten Dezil größtenteils geringfügig beschäftigte Männer und Frauen vertreten sind). Während die Rolle der Bildungsunterschiede zur Erklärung der Einkommensunterschiede im Untersuchungszeitraum abgenommen, die Rolle der Teilzeitarbeit jedoch zugenommen hat, gibt es einige Faktoren geschlechtsspezifischer Einkommensunterschiede, für welche keine großen Veränderungen beobachtbar sind. So haben sowohl horizontale als auch vertikale Segregation weiterhin einen Einfluss auf die Einkommensschere, außerdem steigen die Einkommensunterschiede mit dem Alter (Geisberger 2007). Im öffentlichen Sektor sind die Einkommensunterschiede weiterhin wesentlich geringer als in der Privatwirtschaft. Dadurch hatte der Beschäftigungsabbau im öffentlichen Sektor in den letzten drei Jahrzehnten einen negativen Einfluss auf die geschlechtsspezifische Einkommensverteilung (Pontieux/Meurs 2005  : 22). Außerdem berechnen René Böheim et al. (2005) sowie Klaus Grünberger und Christine Zulehner (2009), dass der unerklärte Teil der Einkommensunterschiede (den sie als Diskriminierung bezeichnen) seit den 1980er-Jahren nicht wesentlich abgenommen hat. Grünberger und Zulehner (2009) ermitteln auf Basis der EU-SILC-Daten von 2005 die Determinanten der geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede in Österreich für Vollzeitbeschäftigte. Durch das Schätzen von Lohnregressionen versuchen sie die Einkommensunterschiede in einen „erklärten“ und einen „unerklärten“ Teil aufzuspalten, ersterer umfasst persönliche und Arbeitsmarkt-Charakteristika, zweiterer kann als Lohndiskriminierung interpretiert werden. Vollzeitbeschäftigte Frauen verdienen um 22 % weniger als vollzeitbeschäftigte Männer. Wird für unterschiedliche Schulbildung und Berufserfahrung korrigiert, verringern sich die Einkommensunterschiede nur marginal auf 21 %. Bildungs- und Qualifikationsunterschiede leisten (im Gegensatz zu den 1970er- und 1980er-Jahren) keinen großen Beitrag zur Erklärung der Einkommensunterschiede. Ein großer Teil der Einkommensunterschiede kann nicht durch die vorhandenen persönlichen und Arbeitsmarkt-Charakteristika erklärt werden, je nach Spezifikation bleiben zwischen 54 % und 97 % der Einkommensunterschiede unerklärt (Grünberger/Zulehner 2009  : 145). Das Verhältnis von persönlichen und Arbeitsmarkt-Charakteristika zu Diskriminierung verändert sich mit der Einkommenshöhe  : Im untersten Quartil können 61 % durch Unterschiede zwischen den persönlichen und Arbeitsmarkt-Charakteristika erklärt werden, im obersten sind es nur 26 % (ebd.: 2009  : 146).

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Österreich im europäischen Vergleich

Im europäischen Vergleich sind die Einkommensunterschiede in Österreich sehr hoch. So lag Österreich im Jahr 2007 an vorletzter Stelle von 28 europäischen Ländern (siehe Abbildung 11). Bemerkenswert ist, dass sich Österreichs Position in den letzten Jahren verschlechtert hat, im Jahr 2002 wiesen noch Großbritannien, Slowakei, Zypern, Estland und Deutschland höhere geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede als Österreich auf (Plantenga/Remery 2006), 2007 sind die Unterschiede nur mehr in Estland höher. Für das „schlechte Abschneiden“ Österreichs im EU-Vergleich werden unter anderem zwei Ursachen genannt  : Einerseits gibt es in Österreich generell hohe branchenspezifische Einkommensunterschiede (wie in den vorigen Kapiteln ausgeführt), in Kombination mit einer deutlich ausgeprägten geschlechtsspezifischen Segregation führt dies zu negativen Einkommenseffekten für Frauen. Andererseits ist die Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern in Österreich ungleicher verteilt als in den meisten europäischen Ländern. Abbildung 11  : Geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede (Fraueneinkommen in Prozent der Männereinkommen) im europäischen Vergleich, 2007

Quelle  : Eurostat 2009



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5. Hypothesen über die Zukunft der Frauenarbeit Aus den widersprüchlichen Ergebnissen zur Entwicklung von Frauenarbeit in den letzten drei Jahrzehnten lassen sich keine eindeutigen Aussagen über zukünftige Trends in diesem Gebiet ableiten. Massiv verstärkt wird diese Schwierigkeit der Prognose durch die vom Zusammenbruch der Finanzmärkte ausgelöste aktuelle Krise. Diese wird einerseits den Arbeitsmarkt massiv beeinflussen und andererseits auch Folgen hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse nach sich ziehen. Schließlich steigt und sinkt mit der Einkommenshöhe der Frauen tendenziell auch die Entscheidungsmacht bei Haushaltsentscheidungen wie z. B. der Verwendung des Haushaltsbudgets sowie der Aufteilung der Arbeit bzw. der Arbeitszeit. Zwar gibt es eine sehr intensive Aufarbeitung der geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Finanzkrise in Ostasien in den späten 1990er-Jahren, allerdings können diese Erfahrungen nur sehr bedingt auf die gegenwärtige Situation umgelegt werden. Zum einen handelte es sich bei den betroffenen Staaten um Länder, bei denen die Struktur der Arbeitsmärkte nicht mit jener in Österreich vergleichbar ist. Zum anderen sind auch die Methoden und die Handlungsspielräume zur Krisenbekämpfung hierzulande völlig andere als jene, die noch vor einem Jahrzehnt in Asien zur Verfügung standen. Wir möchten daher zwei unterschiedliche Szenarien für die zukünftige Entwicklung der Frauenarbeit konstruieren, die uns sowohl als möglich als auch als wahrscheinlich erscheinen. Beide Szenarien gehen davon aus, dass die Finanzkrise problematische Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsituation für Frauen haben wird, allerdings in unterschiedlichen Ausmaßen und Ausformungen. Ersteres bezieht sich auf jüngere Entwicklungen am Arbeitsmarkt und erwägt diesbezügliche neuartige, von den bisherigen Erfahrungen abweichende Auswirkungen der Krise auf Frauen. Zweiteres ist stärker an bisherige Erkenntnisse infolge von Wirtschaftskrisen angelehnt. Szenario 1  : Krisensichere Frauenerwerbstätigkeit  ?

Szenario 1 legt dar, dass die derzeitige Krise dazu führen kann, die Position von Frauen am Arbeitsmarkt zu verfestigen bzw. Frauen geringer von Arbeitslosigkeit betroffen sein zu lassen als Männer. Dieses Szenario darf keineswegs mit zunehmender Gleichstellung der Geschlechter verwechselt werden und bedarf einer eingehenden Begründung. Vorangestellt sei das US-Beispiel für die Jahre 2008 und 2009  : Die USA befinden sich in

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einer Wirtschaftskrise, welche zweifellos als die schwerste seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren einzustufen ist. Und zu Beginn ebendieses Jahres 2009 waren in den USA fast 50 % aller Erwerbstätigen (49,1 %) Frauen, Tendenz steigend. Von den vielen zusätzlichen Arbeitslosen, die die Krise neu „produziert“, sind über 80 % Männer (New York Times, 6. 2. 2009). Dies ist nicht weiter verwunderlich, es sind ja besonders stark männerdominierte Branchen wie die Bauindustrie oder die Produktionsindustrien, die am härtesten von der Krise getroffen sind. Dies gilt für die USA wie für Europa. Wieso sind demgemäß Frauen derzeit verstärkt am Arbeitsmarkt integriert  ? Erstens sind Frauen überproportional in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt. In Krisenzeiten ist mit einer Zunahme der Teilzeitbeschäftigung zu rechnen, generell mit der Zunahme atypischer Beschäftigungsformen, da von Unternehmensseite alles versucht wird, die Kosten zu senken. Dies ist oftmals am Einfachsten bei den Lohnkosten zu bewerkstelligen, sind doch die anderen Inputfaktoren für die Produktion zumeist nicht so stark variierbar. Für produktivitätssteigernde Umstrukturierungen, die eine Verschiebung der Inputstruktur bewirken würden, ist keine Energie vorhanden bzw. wird keine Zeit aufgebracht. Ebenso ist hier anzumerken, dass durch die düsteren Zukunftsaussichten weniger Investitionen getätigt werden. Gleichzeitig und zweitens sind Krisen davon gekennzeichnet, dass versucht wird, die vom Beschäftigungsrückgang gefährdeten Branchen „hermetisch“ zu schließen, d. h. vor einer Erschütterung durch die Krise möglichst zu bewahren. Männlich dominierte Branchen schotten sich somit gegen Frauenzustrom ab. Andererseits sind dies, wie bereits erwähnt, jene Bereiche, die besonders von der derzeitigen Krise betroffen und daher weniger attraktiv sind. Männer werden aus diesem Grund versuchen, in krisensicherere Wirtschaftszweige abzuwandern. Solch ein Prozess ist jedoch äußerst langsam. Somit kommt es jedenfalls zu einem Verteilungskampf um „begehrte Arbeitsplätze“, unter anderem auch zwischen den Geschlechtern. Dabei wird, diesen Gegebenheiten zufolge, besonders auf sekundären Arbeitsmärkten (mit schlechter arbeitsrechtlicher Absicherung, geringer Arbeitsplatzsicherheit, kurzfristigen Verträgen und meist schlechter Entlohnung) die Frauenquote weiter steigen. Und es werden mehr Firmen/Branchen vom primären in den sekundären Sektor zu wechseln trachten. Am primären Arbeitsmarkt werden die „alteingesessenen“ Arbeitsverträge, die nicht leicht kündbar sind und die eine hohe Vertretungsmacht aufweisen (und in denen, das darf nicht außer Acht gelassen werden, vermehrt Männer



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beschäftigt sind), bestehen bleiben. Dies gilt besonders für den Hochlohnbereich. Solche stark männlich dominierten Branchen werden sich daher weiter dem geschlechterparitätischen Zugang verschließen (z. B. Bergbau oder Druckereigewerbe). Demgegenüber wird der öffentliche Sektor, mit geschlechteregalitäreren Arbeitsbedingungen ausgestattet, weiter reduziert werden (bzw. werden Bereiche aus dem öffentlichen Sektor ausgelagert, nicht zuletzt auch deshalb, um mit Beschäftigten „privatwirtschaftlich“ verfahren zu können). Innerhalb des immer stärker werdenden Dienstleistungssektors werden die gut bezahlten Berufe abnehmen (Schrumpfen der Finanzmarktdienstleister, der Beschäftigung in öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung oder Gesundheit), die schlecht bezahlten Berufe (oftmals haushaltsnahe Dienstleistungen) aber zunehmen ; als Beispiel mögen hier die Pflegedienstleistungen dienen. Gleichzeitig steht zu befürchten, dass von staatlicher Seite die Pensionsvorsorge (nicht zuletzt deshalb, weil die Finanzdienstleister finanziell zu unterstützen waren) weiter privatisiert wird, wobei Personen in Teilzeit-, prekarisierten und schlecht bezahlten Jobs diese private Pensionsvorsorge weitaus weniger bewerkstelligen können. Mit verstärkter Arbeitslosigkeit beider Geschlechter wird es für Frauen gemäß diesem Szenario leichter, wieder Beschäftigung zu finden. Sie sind zwar regional weniger mobil, aber in der Annahme auch minder „guter“ Jobs wesentlich flexibler. Da dies an den tradierten Geschlechtsrollenstereotypen aber nichts verändert (bzw. selbige nur sehr langsam veränderbar sind), werden Frauen sowohl für die Erwerbsarbeit als auch für einen Großteil der Haus- und Erziehungsarbeit zuständig bleiben, ihre Gesamtarbeitszeit steigt daher. Damit werden aber die Möglichkeiten für Frauen, in höhere Hierarchieebenen zu gelangen, verringert, weil das Aufwand abseits der normalen Arbeitszeiten verlangt (Weiterbildung, die selten nur in der Arbeitszeit absolviert werden kann, Networking in den Abendstunden, semi-berufliche Aktivitäten am Wochenende, Bewerbungen um Jobs mit Aufstiegschancen). Ebenso erleichtern die langen Gesamtarbeitszeiten bei Frauen es gerade nicht, dass Frauen sich in Interessenvertretungen engagieren, womit ihre Interessen dann dortselbst auch weniger vertreten werden. Keinesfalls soll als generelles Phänomen außer Acht gelassen werden, dass in Krisenzeiten verstärkt auf tradierte Werte zurückgegriffen wird  ; in Zeiten großer Verunsicherung wird Tradiertes als Sicherheit empfunden. So darf es denn nicht verwundern, dass sich bei arbeitslosen Frauen jene Arbeitszeit, die für Kindererziehung oder Hausarbeit aufgebracht wird, nahezu ver-

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doppelt, bei arbeitslosen Männern hingegen fast gleich bleibt.20 Das heißt, das Alternativrollenkonzept (Frauen haben als Alternative zum Arbeitsmarkt ihre Rolle als Hausfrau und Mutter) wirkt sofort, die geschlechtsstereotypen Rollen werden wieder eingenommen. Zusammengefasst ist in Szenario 1 zu erwarten, dass die Beschäftigungschancen für Frauen in der derzeitigen Krise steigen – oder doch zumindest nicht fallen werden, das Einkommensgefälle zwischen Frauen und Männern jedoch bestehen bleibt. Dafür verantwortlich sind sowohl Formen der Diskriminierung als auch die unterschiedlich langen Erwerbsarbeitszeiten. Bei beiden kann die tradierte Rollenverteilung als Grund dafür gesehen werden. Davon nicht unabhängig, sind Frauen eher bereit, „schlechte“ Jobs anzunehmen als Männer. „Women may be safer in the job, but tend to find it harder to support a family“21, beschreibt die New York Times die US-amerikanische Situation (6. Februar 2009). Wenn sich daran nichts ändert, bleibt doch alles beim Alten  : Frauen finden zwar in der Krise leichter Beschäftigung, keineswegs aber wird Frauenarbeit langfristig krisensicherer. Szenario 2  : Frauen als primäre Verliererinnen der Krise

Historische Erfahrungen aus Zeiten von Konjunkturkrisen belegen die benachteiligte Situation von Frauen auf den europäischen Arbeitsmärkten.22 Auch während der Finanzkrise Ostasiens Ende der 1990er-Jahre waren in den meisten untersuchten Ländern Frauen vorrangig von Entlassungen betroffen (Floro/Dymski 2000  : 1271). Diese waren überwiegend in der arbeitsintensiven Exportproduktion beschäftigt, die stark auf Nachfragefluktuationen reagiert. In der westlichen Welt ist der Arbeitsmarkt jedoch anders strukturiert und Frauenbeschäftigung sehr stark auf den expandierenden Dienstleistungssektor konzentriert. Trotzdem ist es durchaus – und das beschreibt unser Szenario 2 – möglich, dass auch in Österreich die Frauen Hauptbetroffene 20 Arbeitslose Männer verbringen dafür mehr Zeit mit Jobsuche. 21 „Frauen finden eher einen Job, haben aber größere Schwierigkeiten, damit eine Familie zu ernähren“. 22 Vgl. zu Österreich 1929–32  : Head-König 1998  ; von 1974–54  : Biffl 1977  ; zu den 1980er-Jahren  : Biffl 1990  ; zu Belgien, Frankreich, Schweden und Großbritannien 1974–75  : Werneke 1978. Insbesondere drastisch ist die Situation der Frauen in einzelnen Sektoren in Österreich zur Zwischenkriegszeit  : Beispielsweise verloren in der Nahrungsmittel- und Getränkeerzeugung zwischen 1929 und 1932 3,1 % der Männer ihre Beschäftigung, während dies bei den Frauen 19,8 % waren (Head-König 1998  : 193).



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der aktuellen Finanzkrise hinsichtlich der steigenden Arbeitslosigkeit sein werden. So erfolgte die zunehmende Integration in den Arbeitsmarkt nur für einen Teil der Frauen über sogenannte „Normalarbeitsverhältnisse“. Einer Sonderauswertung der Statistik Austria zufolge, befanden sich im Jahr 2004 ca. 771.500 Frauen, das sind fast 46 % der weiblichen Erwerbstätigen, in sogenannten „atypischen“ Beschäftigungsverhältnissen (Rolzhauser-Kantner 2008  : 52f.). Bei einem Großteil davon handelt es sich um Teilzeitbeschäftigungen, aber auch befristete und freie Dienstverträge, Leih- und Zeitarbeit sowie Neue Selbstständige fallen in diese Kategorie. Gleichzeitig sind Frauen auch überproportional von prekärer Beschäftigung betroffen. Typischerweise stehen sie dabei auf den unteren Stufen der betrieblichen Hierarchieleiter mit geringen Aufstiegs- und Karrierechancen, müssen sich mit niedrigem, oftmals nicht kontinuierlichem Einkommen abfinden und genießen nur ungenügenden sozialen Schutz (ebd.: 46). Durch den Mangel an arbeits- und sozialrechtlichen Ansprüchen sind atypisch Beschäftigte flexibel als „Manöv­ riermasse“ einsetzbar. Den Unternehmen wird dadurch ermöglicht, sehr schnell auf kostengünstige Weise konjunkturelle Nachfrageschwankungen auszugleichen, indem sie ihr Personal kurzfristig anpassen. Zudem sind Diskontinuitäten im Erwerbsverlauf von weiblichen Berufstätigen charakteristisch (Friedl/Kreimer 2005  : 273), sodass aufgrund des herrschenden Senioritätsprinzipes in den meisten Betrieben auch vollzeitbeschäftigte Frauen zu den primären Entlassungskandidatinnen gehören werden. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Zunahme der Erwerbsneigung der Frauen zu erwarten ist, welche sich in Krisenzeiten typischerweise dazu genötigt sehen, zum Haushaltseinkommen beizutragen. Immer weniger Frauen haben sich in der Vergangenheit in solchen Situationen durch die angespannte Arbeitsmarktsituation abschrecken und in weiterer Folge von dem Versuch, in den Arbeitsmarkt einzutreten, abhalten lassen (Werneke 1987). Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass im Jahr 2007 noch fast ein Drittel aller Frauen zwischen 15 und 64 Jahren zu den Nicht-Erwerbspersonen gehört (Statistik Austria 2008a  : 37), zeigt sich, dass auch gegenwärtig noch Potenzial für diese Entwicklung vorhanden ist. Demzufolge könnte sich die Zahl aktiv arbeitsuchender Frauen deutlich erhöhen, was einen nicht unwesentlichen, erhöhenden Effekt auf die weibliche Arbeitslosenrate haben könnte. Ohne Zweifel sind viele Branchen, die vorwiegend Männer beschäftigen (wie z. B. die Autozuliefer- oder Stahlindustrie), massiv unter Druck und Entlassungen offenbar nicht vermeidbar. Doch auch die starke Verankerung

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der Frauen im wachsenden Dienstleistungssektor scheint für diese keine ausreichende Arbeitsplatzsicherheit zu bewirken, insbesondere dann, wenn die Krise sich ausweitet und die Konsumnachfrage zurückgeht. So sind beispielsweise Rückgänge im Tourismus und Handel zu erwarten, was aufgrund der weiblichen Dominanz in diesen Branchen vorwiegend Frauen trifft. Da die Haushalte infolge der Krise zunehmend in Zahlungsschwierigkeiten geraten und die Kreditaufnahme eingeschränkt ist, tendieren Frauen erfahrungsgemäß dazu, vormals zugekaufte Leistungen wie z. B. Betreuungs- und Pflegeleistungen, Mahlzeiten oder Körperpflege durch eigene Bereitstellung zu ersetzen. Zum Teil kann dies auch notwendig werden, weil Sparmaßnahmen der Regierung wahrscheinlich sind und geringere staatliche Leistungen ausgeglichen werden müssen (Klatzer/Lukas 2002  : 24). Dies hat eine Fülle gravierender negativer Effekte zur Folge. Zunächst vermehrt sich die zu leistende Arbeitszeit für reproduktive Tätigkeiten. Die Zuständigkeit dafür wird überwiegend bei den Frauen gesehen, weil diese meist schlechter bewertete Jobs als ihre Männer ausüben und einen geringeren Teil zum Familieneinkommen beitragen. Die traditionelle häusliche Arbeitsteilung sowie die damit zusammenhängende Geschlechterhierarchie werden stabilisiert bzw. wiederum verstärkt. Nachdem in Zeiten von Einkommensknappheit nicht anzunehmen ist, dass Frauen (freiwillig) ihre bezahlte Erwerbsarbeitszeit kürzen werden, wird sich deren Arbeitsbelastung erhöhen. In Folge sind auch die Jobs im Bereich der substituierten Dienstleistungen gefährdet, was wiederum vor allem Frauen betrifft. Da diese nur in einem sehr engen Berufsspektrum verankert sind, ist es für sie jedoch kaum möglich, in andere Bereiche auszuweichen. Als weiteres mögliches Resultat ist ein überproportionales Sinken der Einkommen von Frauen zu befürchten. Zwar steigt der Kosten- und damit Lohndruck in Krisenzeiten generell, bei persönlichen und sozialen Dienstleistungen, wichtige Berufsfelder für Frauen, ist dies jedoch aufgrund der Substituierbarkeit der Leistungen besonders stark der Fall. Die ohnehin bereits ungünstige Verhandlungsposition der Frauen am Arbeitsmarkt wird dadurch weiter verschlechtert. Da Frauen von Haus aus ökonomisch schlechter gestellt sind und weniger Rücklagen haben, wird sie das überproportional hart treffen. Einer weiteren problematischen Entwicklung ist im Bereich der Ausbildung entgegenzusehen. Infolge von finanziellen Engpässen könnten Schülerinnen davon abgehalten werden, eine höhere Ausbildung bzw. ein Studium zu beginnen. Auch sind insbesondere weibliche Studierende auf Basis von Nutzenüberlegungen dazu geneigt, vermehrt einer Erwerbstätigkeit nach-



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zugehen und dadurch am Abschluss ihres Studiums gehindert zu werden. Die systematisch niedrigeren Bildungserträge, die Frauen für den Abschluss eines Studiums im Vergleich zu Männern auch im Jahr 2005 noch erhalten (Statistik Austria 2008b  : 93ff.), lassen diesen Schritt nachvollziehbarer bzw. rationaler erscheinen. Folgenreich im negativen Sinne wäre eine solche Entwicklung jedoch nicht nur für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes hinsichtlich Qualifikation, Technologie und Know-how, sondern auch für die vorherrschende Geschlechterordnung. Eine schlechtere Qualifikation der Frauen bedingt eine verschlechterte Arbeitsmarktposition und damit eine Schwächung der Verhandlungsposition sowohl am Arbeitsmarkt als auch im Privatbereich. Es besteht in der derzeitigen Situation daher kein Grund zur Hoffnung, dass sich die Qualität der Arbeitsverhältnisse, in denen Frauen beschäftigt sind, verbessern, die ökonomische Situation der Geschlechter sich angleichen und eine Egalisierung der Geschlechterverhältnisse hinsichtlich der Verteilung von Arbeit und Arbeitszeit vorangetrieben wird.

6. Maßnahmen zur Verbesserung der Position von Frauen in Krisenzeiten Die beiden entworfenen Szenarien stellen potenzielle Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Erwerbsarbeit von Frauen dar. Möglich ist aber auch, dass zunächst Szenario 1 eintritt und im Laufe der Krise allmählich von Szenario 2 abgelöst wird. Unabhängig von der konkreten Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit kann mit einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Frauen und mit einer Verfestigung traditioneller Rollenbilder und Sexismen gerechnet werden. Politische Maßnahmen, um die Position von Frauen in Zeiten der Finanzkrise zu verbessern (oder zumindest nicht zu verschlechtern), sollten deshalb vor dem Hintergrund dieser beiden Aspekte entwickelt werden  : Erstens sind Maßnahmen erforderlich, die die Arbeitsbedingungen von Frauen sichern und verbessern. Zweitens muss gerade in Zeiten der Krise darauf geachtet werden, dass sich traditionelle Rollenbilder nicht verstärken. Mit einigen (kleinen) Schritten könnten die Arbeitsbedingungen von Frauen nachhaltig verbessert werden  : Die Einführung eines existenzsichernden Mindestlohns, welcher auch bei prekären Beschäftigungsverhältnissen zur Anwendung kommt, höhere arbeits- und sozialrechtliche Standards in prekären Beschäftigungsverhältnissen und eine Sozialversicherungspflicht für alle Beschäftigungsverhältnisse würden die Einkommenssituation von

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Frauen verbessern und ihr Armutsrisiko reduzieren. Von all diesen Maßnahmen würden Frauen überproportional profitieren und ihre Verhandlungsposition gestärkt werden. Außerdem würden ein Mindestlohn und höhere arbeits- und sozialrechtliche Standards vermutlich zu Stagnation oder zum Rückgang prekärer Beschäftigungsverhältnisse führen (weil prekäre Beschäftigungsverhältnisse dadurch weniger attraktiv für Unternehmen würden). Zwar wird manchmal argumentiert, dass ein Rückgang der Nachfrage von der Unternehmensseite nach prekären Beschäftigungsverhältnissen (insbesondere ein Rückgang von Teilzeitarbeit) negative Auswirkung auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen hätte, weil diese gar keine Chance mehr am Arbeitsmarkt hätten. Dieses Argument kann jedoch nicht als Rechtfertigung dafür benützt werden, prekäre Beschäftigungsverhältnisse (oft ohne Existenzsicherung) zu forcieren. Um die Erwerbschancen von Frauen zu erhöhen, wäre eine Arbeitszeitverkürzung viel wichtiger und naheliegender. In den Jahren vor Ausbruch der Krise nahm die Ungleichverteilung der bezahlten Arbeit zwischen Männern und Frauen zu  : Während Männer durch Überstunden über die gesetzliche Normalarbeitszeit hinaus arbei­ teten, arbeiteten Frauen zunehmend Teilzeit (mit vergleichsweise geringen Wochenarbeitsstunden im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern)  : im Jahr 2007 im Durchschnitt 28,9 Stunden pro Woche bei unselbstständig erwerbstätigen Frauen, 36,9 Stunden bei Männern (Statistik Austria 2008a). Zugleich kam es trotz günstiger Konjunktur zu keiner wesentlichen Reduktion der Arbeitslosigkeit. Die anhaltende Arbeitslosigkeit wiederum übte insbesondere auf die prekär Beschäftigten – darunter größtenteils Frauen – Druck aus und verschlechterte ihre Verhandlungsposition. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Ungleichverteilung der Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern in der Krise (zunächst) abnimmt  : Während vor allem in männlich dominierten Branchen auf Kurzarbeit umgestellt wird, wird von frauendominierten Branchen (z. B. den LehrerInnen) Mehrarbeit erwartet. Dabei ist jedoch wichtig zu betonen, dass diesmal die Arbeitszeitverlängerung unbezahlt und unfreiwillig ist (im Gegensatz zur Arbeitszeitverlängerung der Männer durch Überstunden in den Jahren vor der Krise), die Arbeitszeitverkürzung in den männlich dominierten Branchen hingegen ist staatlich subventioniert. Gerade in Zeiten der Krise wäre die gesetzliche Arbeitszeitverkürzung der Normalarbeitszeit mit Lohnausgleich eine logische und wichtige Maßnahme  : In Hinblick auf die Förderung der Konjunktur, um die unmittelbare Nachfrage nicht zu dämpfen. Wie bei früheren Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleich beobachtet werden konnte,



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wird die unmittelbare „Stundenlohnerhöhung“ in den Folgejahren über Rationalisierungen sukzessive abgebaut. Hier wäre der antizyklische Effekt der Nachfragestimulierung in nahezu idealer Weise erreicht  ; etwaigen Härten für Klein- und Mittelbetriebe könnte durch staatliche Maßnahmen abgeholfen werden, wie sie derzeit in vielfältigen Stimuluspaketen geschnürt werden. Dadurch kann, auch in frauenpolitischer Hinsicht, einerseits einem Anstieg der Arbeitslosigkeit entgegengewirkt werden, andererseits ist eine Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich eines der besten Mittel zur Umverteilung in Krisenzeiten. Eine weitere große Gefahr, die aus frauenpolitischer Perspektive von der herrschenden Finanzkrise ausgeht, ist die Verfestigung von traditionellen Rollenbildern. Es wird der Eindruck vermittelt, dass in erster Linie Männer von der Krise betroffen seien und dass es daher vordringlich darum gehe, männliche Arbeitsplätze zu erhalten und zu fördern. Frauenarbeit wird viel geringer bewertet, ihr wird weniger gesellschaftliche Bedeutung zugemessen. Daher wird von politischen EntscheidungsträgerInnen in diesem Bereich weder akuter Interventionsbedarf noch eine starke Bedrohung gesehen. Dabei hätten gerade Frauen ein Konjunkturprogramm bitter nötig, sind sie doch bereits unzureichender abgesichert. Negative Auswirkungen der Krise in Form von Einkommensverlusten sowie Arbeitslosigkeit treffen diese daher stärker (Michalitsch 2009a). Die Konjunkturmaßnahmen bleiben hingegen, nicht nur in Österreich, sondern international, einem geschlechterpolitischen Konservatismus verhaftet. Ausgehend vom Leitbild des „männlichen Ernährers“ sind diese auf den produzierenden Bereich und den Erhalt von „Männerarbeitsplätzen“ konzentriert.23 Um einer weiteren Verfestigung dieses Rollenbildes entgegenzuwirken, müsste jedoch auch bzw. gerade in Zeiten der Krise das Ziel einer gleichberechtigten Erwerbsintegration beider Geschlechter bei gleichzeitiger Umverteilung der unbezahlten Arbeit verfolgt werden. Die Förderung von sekundären bzw. Humandienstleistungen, wie z. B. Pflege, Betreuung und Erziehung, findet in den bisher beschlossenen Konjunkturprogrammen der österreichischen Regierung jedoch wenig Beachtung. Lediglich die Einführung eines verpflichtenden, kostenlosen Kindergartenjahres bildet diesbezüglich eine Ausnahme (Michalitsch 2009b  : 10). Dieser geringe Stellenwert ist angesichts des wachsenden Bedarfes in diesem Sektor nicht nachvollziehbar, es 23 Vgl. Scheele 2009 für Deutschland, Michalitsch 2009b für Österreich, Dowideit 2008 für die USA.

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sei denn, es wird davon ausgegangen, dass ohnedies Frauen diese Tätigkeiten organisieren und notfalls auch unbezahlt selbst übernehmen. Die traditionelle häusliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern wird damit festgeschrieben und es wird in Kauf genommen, die Wirtschaftskrise zum Teil auf Kosten der Frauen zu bewältigen. Damit genau dieser gleichstellungspolitische Rückschlag nicht passiert, ist eine Förderung von persönlichen Dienstleistungen, einem zentralen Beschäftigungsbereich von Frauen, von essenzieller Bedeutung. Diese Initiative wäre deshalb wesentlich, da diese Tätigkeiten oftmals in staatlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Pflegeheimen verrichtet werden und Entlassungen infolge der krisenbedingt sinkenden Steuereinnahmen zu befürchten sind. Doch damit noch nicht genug  : Entscheidend ist auch die bessere Bewertung dieser Dienstleistungen sowohl hinsichtlich der gesellschaftlichen Anerkennung als auch hinsichtlich einer adäquaten monetären Abgeltung dieser Dienstleistungen (Jochimsen 2003). Einen Beitrag zur Aufwertung dieser „Frauenbranchen“ und zur Anerkennung der dazu benötigten Fähigkeiten als Qualifikation könnte durch eine gezielte Förderung sowie der Ermöglichung einer fundierten Aus- und Weiterbildung geleistet werden. Dadurch soll der Vorstellung einer lediglich zum Familieneinkommen hinzuverdienenden, mit naturgegebenem, weiblichem Arbeitsvermögen ausgestatteten Erwerbstätigen entgegengewirkt und ein eigenständiger Lebensunterhalt für berufstätige Frauen gewährleistet werden. Dies würde in weiterer Folge auch die Sinnhaftigkeit der häuslichen Arbeitsteilung und die Hauptzuständigkeit der Frauen für häusliche Aufgaben infrage stellen und so einen Beitrag zur Umverteilung unbezahlter Arbeit leisten. Ein weiterer wichtiger Aspekt in Bezug auf die Forderung nach Ausweitung sogenannter sekundärer Dienstleistungen ist jener, dass durch den Ausbau von (qualitativ hochwertiger) Kinderbetreuung und Altenpflege (sowie sonstigen haushaltsnahen Dienstleistungen) die Frauen entlastet würden, die sich bislang für diese Dienste zuständig sahen bzw. als zuständig gesehen wurden. Dadurch könnten nicht nur regionale Arbeitsplätze erhalten bleiben, sondern auch die räumliche und zeitliche Mobilität von Frauen verbessert werden, um ihren Beruf auszuüben. Das bedeutet auch, dass durch die öffentliche Bereitstellung dieser Dienstleistungen weitaus effektiver gefördert wird, als wenn staatliche Transfers an die Haushalte überwiesen würden, wie dies beispielsweise beim Kindergeld der Fall ist. Aus einer längerfristigen Perspektive bedarf es gleichzeitig auch unbedingt Maßnahmen, um das Berufsspektrum von erwerbstätigen Frauen zu erweitern.



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Derzeit konzentrieren sich Frauen sehr stark auf nur wenige Berufsbereiche, welche gleichzeitig weiblich dominiert sind (Waltner 2008  : 108ff.). Gemäß dem Einkommensbericht des Rechnungshofes hat sowohl die Zugehörigkeit zu Wirtschaftsbereich als auch Berufszweig Einfluss auf das Einkommen, wobei weiblich dominierte Sparten einer deutlichen Einkommensbenachteiligung unterliegen (Rechnungshof 2008). Diese Tatsache zeigt klar die derzeit noch mangelhaft vorherrschende Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Frauen finden zumeist Beschäftigungsmöglichkeiten in Berufen, die bereits weiblich dominiert sind, die Zugangschancen zu besser bewerteten Arbeitsbereichen, die häufig nicht der traditionellen Vorstellung von „weiblichen Tätigkeiten“ entsprechen, sind dagegen sehr gering. Die eingeschränkte Berufswahl von Frauen erhält auch in der derzeitigen Krise eine bedeutsame Rolle. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass vorerst im Zuge der Rationalisierungen in männlich dominierten Produktionsberufen die starke Trennung der Berufe nach dem Geschlecht als „Schutzwall“ gegen den vorrangigen Abbau von Frauenarbeitsplätzen fungiert. Im Falle eines späteren Stellenabbaus in weiblich dominierten Sparten erweist sich die geschlechtsspezifische Segregation jedoch als großer Nachteil für Frauen, da ihre Arbeitsmarktchancen aufgrund ihres schmalen Berufsspektrums ­ vergleichsweise kleiner sind als jene der Männer. Es ist daher notwendig, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um einerseits einen stärkeren Anreiz für Mädchen und Frauen zu schaffen, eine geschlechteruntypische Ausbildung bzw. Qualifikation zu erwerben. Die gezielte Förderung der Schülerinnen in naturwissenschaftlichen bzw. technischen Fächern sowie die frühzeitige ­Information über Berufsmöglichkeiten sind hier zu nennen. Andererseits müssen auch Maßnahmen getroffen werden, um den Zugang dieser Frauen in die jeweiligen Berufe zu erleichtern. Dies könnte vermutlich am effektivsten durch Quotenregelungen bei Lehrstellen und Ausbildungsplätzen als Bedingung für die Bereitstellung von staatlichen Fördermitteln erreicht werden.

7. Fazit Betrachten wir die Geschlechterverhältnisse vor dem Hintergrund der Notwendigkeiten und Grenzen des Sozialen abschließend, so zeigt sich folgendes Bild  : In den letzten drei Jahrzehnten ist es zu vielfältigem „Aufholen“ der Frauen gekommen (z. B. in Bildungsstand und Erwerbsbeteiligung), die grundlegenden Rollenbilder der Verteilung von Arbeit (bezahlt – unbezahlt)

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und Zuschreibungen der Tätigkeitsprofile (Segregation) haben sich allerdings viel langsamer gewandelt. Wenn es als sozial angesehen wird, Arbeit zu haben, und wenn eine egalitäre Einkommensverteilung als sozial erachtet wird, so ist dieses soziale Programm nicht im erwarteten Ausmaß geglückt. Der Wohlfahrtsstaat konnte zur Geschlechtergleichheit nur partiell beitragen und nur insoweit, als die tradierten Geschlechterrollen dem nicht im Wege standen. Eine Absicherung sozialer Härten wurde somit erreicht, nicht aber die Selbstverständlichkeit egalitärer Möglichkeiten. Dies spiegelt sich auch in den Krisenmaßnahmen der jüngsten Vergangenheit wider  : Ein Großteil der soeben diskutierten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsmarktposition von Frauen wäre technisch relativ unkompliziert einzuführen und als nachhaltig einzustufen. Die Umsetzung scheitert jedoch an den politischen Kräfteverhältnissen. Ein Abnehmen der Einkommensungleichheiten und der geschlechtsspezifischen Segregation ist daher nicht zu erwarten. Die Krise bietet aber zumindest die Chance, Maßnahmen wieder in die Diskussion zu bringen oder doch zumindest das Bewusstsein über deren Notwendigkeiten zu stärken und somit auch diesen Teil des „Sozialen“ in der wirtschaftspolitischen Gestaltung wieder aufleben zu lassen. Literatur Aglietta, Michel  : Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg 2000. Alesina, Alberto/Ichino, Andrea  : Gender Based Taxation, mimeo 2007. Aliaga, Christel  : Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Unterschiede zwischen Frauen und Männern, Luxemburg 2005. Angelo, Silvia/Grisold, Andrea  : Zur Verteilung von Arbeitszeit und Ungleichheit. Eine geschlechtsspezifische Betrachtung im EU-Kontext, in  : Intervention. Zeitschrift für Ökonomie 1/2008, 20–30. Bergmann, Nadja/Fink, Marcel/Graf, Nikolaus/Hermann, Christoph/Mairhuber, Ingrid/Sorger, Claudia/Willsberger, Barbara  : Qualifizierte Teilzeitbeschäftigung in Österreich. Bestandsaufnahme und Potenziale, Wien 2003. Biffl, Gudrun  : Der Einfluss der Konjunktur auf die Struktur der Arbeitslosigkeit in Österreich, in  : WIFO Monatsberichte 2/1977, 194–200. Biffl, Gudrun  : Konjunktur und Arbeitsmarkt – was hat sich geändert  ? In  : WIFO Monatsberichte 4/1990, 194–200. Biffl, Gudrun  : Die Arbeitswelt der Frauen in Österreich – Erwerbsarbeit und Hausarbeit. In  : Good, David F./Grandner, Margarete/Maynes, Mary J. (Hg.)  : Frauen



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Autorinnen und Autoren

Wolfgang Fellner, Dr., Universitätsassistent am Institut für Sozialpolitik der Wirtschafts­ universität Wien. Seit 2004 Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Wirtschaftsuniversität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Evolutionäre/Institutionelle Ökonomie, PostKeynesianische Makroökonomie, Ökologische Ökonomie, Medienökonomie und International vergleichende Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jüngste Publikationen  : Das Ökonomische im Spannungsfeld von Soziologie und Psychologie  : Lebensstandard bei Amartya K. Sen und Hugo E. Pipping, Wien 2005  ; Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Wohlstand  : Mythen und Messung. In  : Wissenschaft & Umwelt Interdisziplinär 13/2009, mit Engelbert Stockhammer. Andrea Grisold, ao. Universitätsprofessorin am Institut für Institutionelle und Hetero­ doxe Ökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien. Gastprofessorin an der University of New Orleans/USA und am Trinity College Dublin. Forschungsschwerpunkte  : Neue Entwicklungen der Wirtschaftspolitik, Wandel der ökonomischen und regulativen Determinanten der Kulturindustrie, Politische Ökonomie der Massenmedien, Feministische Ökonomie. Jüngere Publikationen  : Kulturindustrie Fernsehen  : Zum Wechselverhältnis von Ökonomie und Massenmedien; Wien 2004  ; Zur Verteilung von Arbeitszeit und Ungleichheit. Eine geschlechtsspezifische Betrachtung im EU-Kontext. In: Intervention 1/2008, gemeinsam mit Silvia Angelo  ; Heterodoxe Ökonomie, Co-Autorin mit Joachim Becker et al., Marburg 2009. Wolfgang Maderthaner, Univ.-Doz., Historiker und Kulturwissenschaftler. Leiter des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien. Forschungsschwerpunkte  : Massen- und Popularkultur, Cultural Studies/Historische Kulturwissenschaften, Theo­ rie der Moderne, Fordismus/Postfordismus, Theorie der Geschichtswissenschaften. Jüngste Publikationen: Unruly Masses. The Other Side of Fin de Siècle Vienna, New York/ Oxford 2008 (gem. mit Lutz Musner); Der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik 1918–1920, 2 Bände, Wien 2008 (gem. mit Helmut Konrad); L’auto-liquidation de la raison. Les sciences de la culture et la crise du social, Paris 2010 (gem. mit Lutz Musner). Otto Penz, Dr., Adjunct Associate Professor am Department of Sociology der Universität Calgary, derzeit Lehrbeauftragter an der Universität Wien und Wirtschafts-

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Autorinnen und Autoren

universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Soziologie des Körpers, der Schönheit und des Sports. Jüngste Buchveröffentlichungen  : Schönheit als Praxis. Über klassen- und geschlechtsspezifische Körperlichkeit, Frankfurt/New York 2010  ; Die Ära Kreisky und ihre Folgen. Fordismus und Postfordismus in Österreich, Co-Autor mit Wolfgang Maderthaner et al., Wien 2007. Birgit Sauer, Univ.-Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Gastprofessorin an der Kon-Kuk-Universität in Seoul, an den Universitäten Klagenfurt, Mainz und an der Florida Atlantic University. Forschungsschwerpunkte  : Politik der Geschlechterverhältnisse, Gender und Governance/Critical GovernanceStudies, Staats-, Demokratie- und Institutionentheorien sowie vergleichende PolicyForschung. Jüngste Publikation  : Gendering the State in the Age of Globalization, Maryland 2007, Hg. mit Melissa Hausmann  ; Staat und Geschlecht. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie, Hg. mit Gundula Ludwig und Stefanie Wöhl, Baden-Baden 2009. Engelbert Stockhammer, PhD (University of Massachusetts at Amherst), ao. Universitätsprofessor am Institut für Geld- und Finanzpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien, forscht derzeit an der Kingston University London. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Makroökonomie, Arbeitslosigkeit und Finanzsysteme. Jüngste Publikationen  : The Rise of Unemployment in Europe. A Keynesian Approach, Cheltenham 2004  ; Heterodoxe Ökonomie, Co-Autor mit Joachim Becker et al., Marburg 2009. Edith Waltner, Mag.a, Ökonomin in Wien. Forschungs- und Lehrtätigkeit von 2007 bis 2009 am Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien im Rahmen des Forschungsprojekts „Korrosion des Sozialen“ und als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Forschungsschwerpunkt: Arbeitsmarktökonomie und regionale Wirtschaftsanalyse. Jüngste Publikation: Die Entwicklung geschlechtsspezifischer Arbeitsmarktsegregation in Österreich, Wien 2008. Klara Zwickl, Mag.a, forscht derzeit an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie ­verfasste ihre Diplomarbeit über geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede in Österreich im Rahmen des Forschungsprojekts „Korrosion des Sozialen“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Globalisierung, Investitionen, Einkommensverteilung. Jüngste Publikationen: Geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede in Österreich, in  : ­Wirtschaft und Gesellschaft 03/2009.

InformatIon. rasch. Umfassend. Wir stellen folgende Informationsangebote und serviceleistungen zur Verfügung: www.bundeskanzleramt.at der zentrale Internet-auftritt des Bundeskanzleramtes

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Das Buch bietet Studierenden und sozialwissenschaftlich interessierten Lesern einen facettenreichen Einblick in das entwicklungsgeschichtliche Denken der letzten 250 Jahre. Es beleuchtet und analysiert grundlegende historische Entwicklungen, vor allem die Ausformung und den Gestaltwandel des modernen Kapitalismus, aus dem Blickwinkel bedeutender sozialwissenschaftlicher Theoretiker von Adam Smith bis hin zu Amartya K. Sen. Ausgehend von den Originaltexten werden dabei auch weniger reflektierte Aspekte ihrer Theorien ins Blickfeld gerückt.

di e autor e n: Karl Bachinger, Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien. Herbert Matis, Ordinarius am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Wirtschaftsuniversität Wien Ö86) ÖÖ3ÖÖ37 !"" ÖÖ'2!0()+%.Ö5Ö4!"%,,%.Ö"2ÖÖ8ÖÖ-- )3".Ö    

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