Die 'Parzival'-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters: Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck 9783110217063, 9783110207149

The outstanding literary significance of Wolfram von Eschenbach's Parzival is due in no small part to the fact that

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German Pages 584 Year 2009

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Inhalt
I Einleitung
1 Textkritik und Überlieferungsgeschichte
2 Werkstatt und Offizin – Der Codex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit
II Beschreibung der Textzeugen
1 Handschrift m – Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2914
2 Handschrift n – Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 339
3 Handschrift o – Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, Mscr. Dresd. M 66
4 Druck W – Johann Mentelin, Straßburg 1477
III Textgestalt
1 Textgeschichtliche Vorgaben
2 Textschichten
IV Gliederungsmittel
1 Gliederungszeichen in Handschriften der *m-Gruppe
2 Gemeinsamkeiten der Gliederungssysteme
3 Großgliederungsprogramme der einzelnen Handschriften
V Benutzerspuren
1 ›Parzival‹-Verständnis im 15. Jahrhundert – das Dresdner Exemplar
2 Weitere Benutzer
VI Ausblick
VII Literatur
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Die 'Parzival'-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters: Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck
 9783110217063, 9783110207149

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Gabriel Viehhauser-Mery Die ›Parzival‹-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

55 ( 289 )

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die ›Parzival‹-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck

von

Gabriel Viehhauser-Mery

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der UniBern Forschungsstiftung und der Donation Maria Bindschedler.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020714-9 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: swissedit, Zürich Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin

Inhalt Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

I Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1 Textkritik und Überlieferungsgeschichte . . . . . . . . . . . . 2 Werkstatt und Offizin – Der Codex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2.1 Die Lauberwerkstatt . . . . . . . . . 2.1.1 Das Forschungskonstrukt . . . . . . . 2.1.2 Zu Person und Umfeld Diebold Laubers 2.1.3 Werkstattphasen . . . . . . . . . . .

15

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15 15 19 26

2.2 Der Straßburger Frühdrucker Johann Mentelin 2.2.1 Biographie eines Aufsteigers . . . . . . . . 2.2.2 Das Mentelin’sche Verlagsprogramm . . . . 2.2.3 Die Käufer des Zwillingsdrucks . . . . . .

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34 34 40 46

. . . . . . . . . . . . . . . . .

53

II Beschreibung der Textzeugen

. . . .

1 Handschrift m – Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Handschrift n – Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 339 . 3 Handschrift o – Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, Mscr. Dresd. M 66 . . . . . . . . . . . . . . 4 Druck W – Johann Mentelin, Straßburg 1477 . . . . . . .

. . . .

53 67

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73 87

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

1 Textgeschichtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

III Textgestalt

1.1 Die Gruppenzugehörigkeit der Handschriften des Drucks W . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Ältere Forschung . . . . . . . . . . . 1.1.2 Die Gruppe *mno . . . . . . . . . . . 1.1.3 Das Verhältnis von W zu *mno und *T . . 1.1.4 Exkurs: Kontamination . . . . . . . . .

m, n, o und . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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103 103 105 110 121

VI

Inhalt

.

121 123 128 136

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144

. . . . .

147 147 156 160 172

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174

2.1 Stufe *mnoF16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Varianz von Wortgruppen . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Varianz von Einzelwörtern . . . . . . . . . . . . . . .

174 175 176

2.2 Stufe *mnoF6VW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Varianz von Verspaaren . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Varianz von Einzelwörtern . . . . . . . . . . . . . . .

177 177 177

2.3 Gestaltungstendenzen der ältesten Textschichten *mnoF16(V) und *mnoF6(V)W . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

2.4 Stufe *mnoVF69 . . . . . . 2.4.1 Varianz im Versbestand . . 2.4.2 Abweichungen, die über einen 2.4.3 Varianz von Einzelwörtern .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelvers hinausgehen . . . . . . . . . . . . . . . . .

182 183 191 194

2.5 Stufe *mnoV(W) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Varianz im Versbestand . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Abweichungen, die über einen Einzelvers hinausgehen . . .

194 195 202

2.6 Stufe *mno(W) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Varianz im Versbestand . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Abweichungen, die über einen Einzelvers hinausgehen . . .

213 213 218

2.7 Stufe *no(m2W) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.1 Varianz im Versbestand . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2 Schreibstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222 222 223

2.8 Zusatzverse in W . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228

2.9 Die Eigenart der Texte und Textensembles

232

1.1.4.1 1.1.4.2 1.1.4.3 1.1.4.4 1.1.4.5

Typen der Kontamination . . . . . . . . . . . . . . . Die Kontamination in V . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Einfügung ursprünglich fehlender Verse in den Text Veränderung bereits vorhandener Wörter, Versteile oder Verse . Konsequenzen des Befundes für die Beurteilung der mittelalterlichen Kontaminationspraxis . . . . . . . . . . . . . .

1.2 Die Handschriftengruppe *m . . . . . . . 1.2.1 Der Stellenwert von *m innerhalb der Gruppe 1.2.2 Weitere Vertreter der *m-Gruppe . . . . . 1.2.3 Bearbeitung oder Fassung? . . . . . . . . 1.2.4 Textanalyse und Kohärenz . . . . . . . . 2 Textschichten

. . *D . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

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. . . . . . . . .

VII

Inhalt

IV Gliederungsmittel

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 Gliederungszeichen in Handschriften der *m-Gruppe 2 Gemeinsamkeiten der Gliederungssysteme . . . . . 2.1 m, n und o . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 V und W . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Fazit zur Kleingliederung in *m . . . . . . . 2.5 Großgliederung . . . . . . . . . . . . . . .

237

. . . . . . .

239 247 247 253 257 263 264

. . . .

271

3.1 Überschriftenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

3.2 Analyse der Großgliederung . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Großeinschnitte von m, n und o . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Die Gahmuretgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Fazit zur Unterteilung der Gahmuretgeschichte . . . . . . . 3.2.1.3 Die erste Parzival-Partie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.4 Fazit zur Unterteilung der ersten Parzival-Partie . . . . . . . 3.2.1.5 Die erste Gawan-Partie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.6 Fazit zur Unterteilung der ersten Gawan-Partie . . . . . . . 3.2.1.7 Buch IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.8 Fazit zur Unterteilung des neunten Buchs . . . . . . . . . 3.2.1.9 Die zweite Gawan-Partie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.10 Fazit zur Unterteilung der zweiten Gawan-Partie . . . . . . 3.2.1.11 Der Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.12 Fazit zur Unterteilung des Schlusses . . . . . . . . . . . 3.2.2 Schichtung und Funktionen der Überschriftengliederung . . 3.2.3 Weitere Gliederungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Nummerierung und Kapitelverzeichnis . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Blattweiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Großeinschnitte von W . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.1 Die Unterteilung der Gahmuret-Handlung . . . . . . . . . 3.2.4.2 Fazit zur Unterteilung der Gahmuret-Handlung . . . . . . . 3.2.4.3 Die erste Parzival-Partie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.4 Fazit zur Unterteilung der ersten Parzival-Partie . . . . . . . 3.2.4.5 Die erste Gawan-Partie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.6 Das neunte Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.7 Die zweite Gawan-Partie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.8 Fazit zur Unterteilung der zweiten Gawan-Partie . . . . . . . 3.2.5 Erweiterungen des Überschriftenprogramms in Einzelexemplaren 3.2.6 Fazit zur Erweiterung der Kapitelgliederung im Nürnberger Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278 279 279 300 305 340 346 360 362 375 376 400 402 411 412 417 417 420 423 424 430 430 442 443 443 444 450 453

. . . . . . .

3 Großgliederungsprogramme der einzelnen Handschriften

. . . . . . .

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464

VIII

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

1 ›Parzival‹-Verständnis im 15. Jahrhundert – das Dresdner Exemplar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

1.1 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

1.2 Das Programm . . . . . . 1.2.1 Namen und Wissenswertes 1.2.2 Abschnittsbezeichnungen . 1.2.3 Kommentare . . . . . . 1.2.4 Korrekturen . . . . . .

. . . . .

468 468 471 475 476

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

VI Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

480

VII Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

485

1 Ausgaben und Faksimiles . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

485 487

V Benutzerspuren

2 Weitere Benutzer

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511

Verzeichnis der Handschriften, Drucke und Fragmente . . . . . . Konkordanz der vollständigen Handschriften . . . . . . . . . .

511 513

Siglen

Register

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

516 519 520 524

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

551

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

551 565

Historische Personen, Autoren Forscher . . . . . . . . . Handschriften und Drucke . Parzival-Stellen . . . . . . Abbildungen Anhang 1 Anhang 2

515

und . . . . . .

Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner 2007 von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern angenommenen Dissertation. Sie ist im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Forschungsprojekts ‚Wolframs ›Parzival‹ als unfester Text. Eine neue überlieferungskritische Ausgabe im Spannungsfeld traditioneller Textkritik und elektronischer Darstellung‘ entstanden. Mein Dank gilt daher zunächst dessen Leiter, Michael Stolz, der mir die Möglichkeit gegeben hat, in diesem innovativen Projekt mitzuarbeiten. Durch seine Anregungen und seine Unterstützung ist das Zustandekommen der Arbeit erst ermöglicht worden. Dem Schweizerischen Nationalfonds möchte ich für die Förderung der Projektstelle danken. Weiterer Dank gebührt Andre´ Schnyder für die Übernahme des Zweitgutachtens. Nicht vergessen möchte ich auch meinen akademischen Lehrer in Wien, Leopold Hellmuth, bei dem ich Grundlegendes über philologische Genauigkeit und Redlichkeit lernen durfte. Für Auskünfte, Anregungen, Diskussionen, Korrekturen und den Austausch von Material danke ich Kathrin Chlench, Matthias Miller, Martin Roland, Beat von Scarpatetti, Thomas Franz Schneider, Robert Schöller und Martin Steinmann. Simone Hiltscher habe ich besonders für ihre wertvolle Hilfe bei der Bildbearbeitung zu danken. Heiko Hartmann und dem Verlag de Gruyter danke ich für die kompetente und freundliche Zusammenarbeit, den Herausgebern der ‚Quellen und Forschungen‘ für die Aufnahme in die Reihe. Wolfram Schneider-Lastin und der Firma swissedit danke ich für den sorgfältigen Satz der Arbeit. Der Schweizerische Nationalfonds (SNF), die UniBern Forschungsstiftung, die Karl-Jaberg-Stiftung sowie die Donation Maria Bindschedler haben durch ihre Beiträge die Finanzierung der Drucklegung gefördert, wofür ich ebenfalls danken möchte. Das meiste verdanke ich jedoch ohne Zweifel meiner Mutter Martina Viehhauser, die mich nicht nur aufs großzügigste unterstützt hat, sondern mir auch stets ein Beispiel dafür war, wie ein vom Ideal der Bildung erfülltes Leben aussehen kann. Yvonne Mery danke ich für die letzten elf Jahre – einen hoffentlich nicht zu großen Teil davon hat sie mit dem Korrekturlesen meiner Arbeit verbracht, auch dafür Danke.

X

Vorwort

Gewidmet ist die Arbeit Günter Viehhauser, Emma Viehhauser-Hirschele und Eleonore Ammerbauer-Kircher. Bern, im Juni 2009

Gabriel Viehhauser-Mery

I Einleitung 1 Textkritik und Überlieferungsgeschichte Die Erforschung der Überlieferungsgeschichte von Wolframs ›Parzival‹ ist lange vernachlässigt worden.1 Ein wesentlicher Grund hierfür mag in der außergewöhnlich reichen Verbreitung liegen, die der Text gefunden hat. Noch heute sind nicht weniger als 16 annähernd vollständige Handschriften, 69 Fragmente und eine Druckausgabe aus dem Mittelalter erhalten. Damit steht der ›Parzival‹ an der Spitze der mittelhochdeutschen höfischen Epik. Zieht man zudem den mit ca. 25 000 Versen relativ großen Umfang des Textes und die für mittelalterliche Werke üblichen verwirrenden Überlieferungsverhältnisse in Betracht, dann wird deutlich, dass der Versuch einer Aufarbeitung der nur schwer überschaubaren Textgeschichte nicht unerhebliche Probleme bereitet. Als Karl Lachmann mit seiner ›Wolfram‹-Ausgabe von 18332 den Grundstein für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ›Parzival‹ legte, war zwar erst ein verhältnismäßig geringer Teil der heute verzeichneten Überlieferungsträger bekannt, dennoch ist Lachmanns textgeschichtliche und editorische Arbeit nicht anders denn als eine Meisterleistung zu bezeichnen. Mit beinahe ebenso großem Gespür für das Pragmatische wie für das Philologische und zudem einer glücklichen Selektion der Textzeugen3 gelang es Lachmann, eine Edition zu schaffen, die bis heute die Grundlage für so gut wie alle interpretatorischen Versuche zum ›Parzival‹ geblieben ist. Der Weg zum Text der Ausgabe führte dabei über die Erkenntnis, dass sich die Überlieferung in die beiden Hauptstränge *D und *G aufspalten lässt. Auch diese Zweiteilung ist bislang akzeptiert worden und hat die Vorstellungen von der Textgeschichte des ›Parzival‹ wesentlich geprägt.4 Sie 1 Vgl. die Einschätzung Joachim Bumkes in seinem kurzen Forschungsüberblick in Ders., Wolfram von Eschenbach, S. 253–255. 2 Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Karl Lachmann. Berlin 1833. Zur besseren Nachvollziehbarkeit werden Zitate aus der Vorrede der ersten Auflage zusätzlich in eckiger Klammer mit den entsprechenden Seitenzahlen des Wiederabdrucks bei Schirok, Wolfram von Eschenbach Parzival. Studienausgabe. 2. Auflage, versehen. 3 Vgl. Schirok, Wolfram von Eschenbach Parzival. Studienausgabe. 2. Auflage, S. LXXV−LXXVI. 4 Vgl. hierzu ausführlicher Kap. III, 1 (S. 103 ff.).

2

I Einleitung

erlaubte es, den beiden Gruppen *D und *G, deren Lesarten Lachmann für von grundsätzlich „gleichem werth“ erachtete,5 sämtliche erhaltenen Handschriften unterzuordnen. Als namensgebende Haupthandschriften der Gruppierungen fungierten dabei der St. Galler Codex 857 (Sigle D)6 und der Münchner Cgm 19 (Sigle G), für die Herstellung des Ausgabentextes gab Lachmann trotz seiner Einsicht in die prinzipielle Gleichwertigkeit der ‚Klassen‘ dem *D-Zweig den Vorzug.7 Viel weiter brauchte Lachmann nicht in die Textgeschichte vorzudringen, denn ihm ging es in erster Linie darum, „die echte lesart aus den quellen zu holen“, oder zumindest einen Text herzustellen, wie ihn „ein guter vorleser in der gebildetsten gesellschaft des dreizehnten jahrhunderts aus der besten handschrift vorgetragen hätte“.8 Die Untersuchung „bis ins kleinliche“ zu führen,9 blieb daher späteren Zeiten vorbehalten. Lachmanns Selbstbeschränkung bei der Erforschung der Textgeschichte auf lediglich das, was zur Herstellung des ‚echten‘ Textes nötig war, erfolgte somit vorsätzlich; in ihrer Pragmatik hat sie die Ausgabe letztlich erst möglich gemacht. Das Absehen von der Fülle der Überlieferung und die Einengung des Blicks auf den ‚originalen‘ bzw. ‚originalnahen‘ Text brachte als Nebenwirkung mit sich, dass der Arbeitsaufwand und der Umfang der Edition wenigstens einigermaßen in Grenzen gehalten wurden. Zu den bekanntesten pragmatischen Entscheidungen zählt etwa Lachmanns Entschluss, die Lesarten der Handschriften im Apparat nicht detailliert, sondern nur unter Verwendung von Gruppensiglen anzuführen.10 Auch der Apparat gibt damit im Wesentlichen nur insoweit Aufschluss über die Überlieferungsverhältnisse, als diese für die Rechtfertigung des rekonstruierten Ausgabentextes von Bedeutung sind.11 5 Lachmann, Wolfram von Eschenbach, S. XVIII [Schirok, S. XIX]. 6 Da das alte, auf Lachmann zurückgehende Siglensystem mit lateinischen bzw. griechischen Exponenten nicht auf die hohe Zahl der mittlerweile bekannten Textzeugen ausgelegt war und heute unüberschaubar geworden ist, wird in der vorliegenden Arbeit gemäß den Gepflogenheiten des Basler und Berner Parzival-Projekts (Leitung Michael Stolz) auf die von Joachim Heinzle vorgenommene Neusystematisierung der Siglen zurückgegriffen (vgl. Heinzle, Klassiker-Edition heute, S. 62). Die Bezeichnung der Fragmente erfolgt nach der Zusammenstellung bei Bonath und Lomnitzer, Verzeichnis der Fragment-Überlieferung. 7 Vgl. ebd., S. XVIII [Schirok, S. XIX]. 8 Lachmann, Wolfram von Eschenbach, S. VI [Schirok, S. XII]. 9 Ebd., S. XVIII [Schirok, S. XVIII]. 10 Zur Verwendung kommen (neben den Sonderfällen der Fragmente E und F) die Siglen D und G für die entsprechenden Handschriften, g und d für eine andere Handschrift sowie gg und dd für mehrere andere Handschriften der jeweiligen Gruppe. Klassenlesarten sind durch ein Gleichheitszeichen (‚=‘) getrennt. 11 Vgl. grundlegend zur Entwicklung der ‚Lachmann’schen Methode‘: Timpanaro, La

1 Textkritik und Überlieferungsgeschichte

3

Die Qualität von Lachmanns Ausgabe wurde in der Folge indirekt von den weiteren editorischen Bemühungen um den ›Parzival‹ bestätigt. Karl Bartsch12, Paul Piper13 und auch Ernst Martin14 wichen in ihren Editionen kaum vom Text Lachmanns ab.15 Während Bartsch und Piper sich auch bei der Einschätzung der textkritischen Fragen im Wesentlichen an Lachmann hielten, kam Martin zu einer differierenden Beurteilung der Überlieferung, indem er die von Lachmann noch als gleichwertig herausgestellte Gruppe *G als Bearbeitung diskreditierte, die darauf abziele, die Eigenheiten der Wolfram’schen Sprache zu glätten. Diese These wurde von Ernst Stadler weiter zugespitzt, der in *G den Versuch einer Angleichung an den Stil Hartmanns erkennen wollte, die, wie im Anschluss daran wiederum Friedrich Ranke vermutete, von dem im ›Willehalm von Orlens‹ des Rudolf von Ems genannten Literaturkenner Meister Hesse vorgenommen wurde.16 Mit dem Verweis auf Stadler schließlich erledigte Albert Leitzmann die textgeschichtlichen Probleme seiner Edition, die sich stärker als Lachmanns Ausgabe an D als Leithandschrift orientiert und daher den bis heute am meisten divergierenden Text bietet.17 Eine wirkliche Alternative zu Lachmann konnte Leitzmann jedoch nicht etablieren. Die Herausgeber neuerer Ausgaben des

12 13 14

15 16 17

genesi del metodo del Lachmann; Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung; Ganz, Lachmann as an Editor of Middle High German Texts; Weigel, ‚Nur was du nie gesehn wird ewig dauern‘; Meves, Karl Lachmann (1793–1851); Roloff, Karl Lachmann, seine Methode und die Folgen. Wolfram’s von Eschenbach Parzival und Titurel. Hrsg. von Karl Bartsch. 3 Bde. Leipzig 1870/71 (Deutsche Classiker des Mittelalters 9–11), 4. Auflage bearbeitet von Marta Marti. 1927–1932. Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Paul Piper. 3 Bde. Stuttgart 1890–92 (Deutsche National-Litteratur 5). Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Hrsg. und erklärt von Ernst Martin. Bd. 1: Text, Halle a. S. 1900, Bd. 2: Kommentar Halle a. S. 1903 (Germanistische Handbibliothek IX,1/2). Vgl. zu den Abweichungen von Lachmann die Rezensionen von Albert Leitzmann und Samuel Singer. Vgl. den Forschungsüberblick bei Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung, Bd. I, S. 22–27; sowie Schweikle, Edition und Interpretation, S. 93–95. Stadler, Über das Verhältnis der Handschriften D und G; Ranke, Die Überlieferung von Gottfrieds Tristan, hier S. 414–415. Die Thesen Stadlers und Rankes wurden widerlegt von Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung, Bd. I, S. 27–36. Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Albert Leitzmann. Bd. 1: Parzival buch I−VI. Bd. 2: Parzival buch VII−XI. Bd. 3: Parzival Buch XII−XVI. Halle a. S. 1902/03 (Altdeutsche Textbibliothek 12–14). 6. und 7. Auflage revidiert von Wilhelm Deinert. Tübingen 1961–65. Die Zustimmung zu Stadlers Thesen findet sich im Vorwort zur 2. Auflage, S. IV.

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I Einleitung

›Parzival‹ halten sich durchwegs an Lachmanns Text18 und mussten sich auf die Berichtigung von Druckfehlern bzw. die Beigabe von Hinweisen zur Benutzung des Lachmann-Texts beschränken, da „angesichts der Forschungslage [. . .] vorläufig nur der Anschluss an eine allgemein anerkannte Edition in Frage“ komme.19 Der Lachmann’sche Text hat sich somit bislang gleichsam als praktikable Kompromisslösung durchgesetzt, die einer intensiven und fruchtbaren interpretatorischen Auseinandersetzung mit Wolframs Roman zumindest keinen Abbruch getan hat. Auch aus diesem Grund wurde die Erforschung der textgeschichtlichen Zusammenhänge nicht weiter virulent.20 Abgelöst von den Editionen erschienen ebenfalls nur wenige übergreifende Arbeiten zur Text- bzw. Überlieferungsgeschichte. Neben der bereits erwähnten Studie von Stadler ist hier zunächst die Dissertation von Theobald Gebert zu nennen,21 der eine umfassende Untersuchung der Gruppe *D in Angriff nahm, sich jedoch auf eine Beschreibung der Wiener Handschrift m und von Teilen des Drucks W beschränken musste.22 Da die Dissertation zudem nur handschriftlich vorliegt, erfuhr die äußerst sorgfältig gearbeitete Studie nicht die verdiente Beachtung. Nur wenig einflussreicher war eine Reihe von weiteren Dissertationen, 18 Wolfram von Eschenbach, Parzival. Text, Nacherzählung, Worterklärungen. Hrsg. von Gottfried Weber. Darmstadt 1963. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn Bd. 1: Text. Bd. 2: Text und Kommentar. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8,1/2). Wolfram von Eschenbach Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin, New York 1998, 2. Auflage 2003. 19 Nellmann, Wolfram von Eschenbach, Parzival, Bd. 2, S. 427. Dennoch stellen insbesondere die kommentierte Ausgabe von Nellmann sowie die Studienausgabe von Schirok mit ihrer ausführlichen Einleitung verdienstvolle Neubearbeitungen dar. 20 Freilich erweist sich dessen ungeachtet die Diskrepanz zwischen den interpretatorischen Bemühungen und der vernachlässigten Textgrundlage als höchst unbefriedigend, weshalb Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 254, „eine neue kritische Ausgabe des Textes“ als „wichtigste Aufgabe der ›Parzival‹-Forschung“ genannt hat. Neue Möglichkeiten zur Gestaltung einer künftigen ›Parzival‹-Ausgabe werden derzeit im Berner ›Parzival‹-Projekt erarbeitet. Vgl. dazu: Stolz, Wolframs ›Parzival‹ als unfester Text; Ders., ‚New Philology‘ und ‚New Phylogeny‘. Aspekte einer überlieferungskritischen ›Parzival‹-Ausgabe; Ders., New Philology and New Phylogeny; Ders., Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹. Eine elektronische Teiledition als Voraussetzung einer neuen kritischen Ausgabe. 21 Theobald Gebert, Untersuchungen zu den Handschriften der Gruppe „D“ von Wolframs Parzival: I. Die Handschrift ‚m‘ und der alte Druck ‚p‘. Wien 1920. 22 Weitere Teile der ursprünglich mehrbändig angelegten Untersuchung sind nicht erschienen, vgl. zur Arbeit ausführlicher unten, Kap. II, 1, S. 56 ff. und III, 1.1 (S. 103 ff.).

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die sich von vornherein mit der Beschreibung von Einzelhandschriften begnügten.23 Der „erste Vorstoß in das unbekannte Land der [*G]-Handschriften“24 wurde von Feodor Kittelmann unternommen, dessen Untersuchung trotz methodischer Ungenauigkeiten einige Einzelergebnisse liefern konnte.25 Eingehender mit der *G-Gruppe beschäftigte sich dann Eduard Hartl, der nicht nur als Bearbeiter der sechsten und siebten Auflage der Wolfram-Ausgabe von 1833 die Nachfolge Lachmanns antreten wollte, sondern auch die quasi monopolistische Stellung bei der Erforschung der Textgeschichte übernahm. Die große überblickende Darstellung, die Hartl vorschwebte und deren Ankündigung andere Forscher von weiteren philologischen Bemühungen abgehalten haben mag, konnte Hartl jedoch nicht oder nur teilweise bieten. Von seiner auf die gesamte Erfassung der Überlieferung angelegten Textgeschichte ist lediglich der erste Band erschienen, der der „Wiener Mischhandschriftengruppe *W“ gewidmet war, die Hartl als Untergruppierung von *G identifizierte.26 Weitere Beobachtungen versuchte Hartl in den Vorreden und im Variantenapparat der sechsten und insbesondere der siebten Auflage der Lachmann’schen Ausgabe sowie einer Auswahl-Edition unterzubringen.27 23 Zu Hs. R: Werner Kupferschmid, Über den Wortschatz der Berner ParzivalHandschrift. Bern 1923. Zu U: Helmuth Glaser, Schreibsystem und Mundart der ›Parzifal‹ Handschrift Gm (2775) der Wiener National-Bibliothek. Wien 1934. Zu O: Francis Jay Nock, The Parzival Manuscript Gk. New York 1935. Zu L: Albert van Eerden, Eine Beschreibung der Parzivalhandschrift Gs und anderer Stücke des Codex Germanicus 6 der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek. New York 1938. Zu Q: George Kreye, Die Parzivalhandschrift Gt (Donaueschingen Nr. 70). New York 1940. Zu G: Elisabeth Felber, Die Handschrift G von Wolframs Parzival (Cod. Germ. 19). Wien 1946. Hinzu kommt noch die Arbeit von Fritz Schnelbögl, Die Heidelberger Handschriften 364 (Parzival Gk und Lohengrin A), 383 und 404, die sich mit Z, daneben aber auch noch mit der ›Willehalm‹- und der ›Jüngeren Titurel‹-Abschrift aus demselben Skriptorium beschäftigt. 24 Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung. Bd. I, S. 37. 25 Kittelmann, Mischhandschriften von Wolframs Parzival. Vgl. die kritische Besprechung bei Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung. Bd. I, S. 37–38. 26 Hartl, Die Textgeschichte des Wolframschen Parzival. Eine Neubewertung sowie die Unbenennung der Gruppe wird jetzt in der ebenfalls im Rahmen des Berner ›Parzival‹-Projekts entstandenen Arbeit von Robert Schöller, Die Fassung *T des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, vorgenommen. Die Bezeichnung *T orientiert sich an der Leithandschrift T der Gruppe und wird auch in der folgenden Arbeit beibehalten. 27 Wolfram von Eschenbach. 6. Ausgabe von Karl Lachmann. Hrsg. von Eduard Hartl. Berlin, Leipzig 1926, Wolfram von Eschenbach von Karl Lachmann. 7. Ausgabe. Neu bearbeitet und mit einem Verzeichnis der Eigennamen und Stammtafeln versehen von Eduard Hartl. Bd. 1: Lieder, Parzival und Titurel. Berlin

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I Einleitung

Hartls Ergebnisse sind jedoch auf zum Teil heftigen Widerstand gestoßen: Die siebte Auflage wurde aufgrund von Inkonsequenzen in Normalisierung und Orthographie von ihrem Rezensenten Werner Wolf derart scharf kritisiert, dass sich der Verlag veranlasst sah, künftig nur mehr die sechste Auflage nachzudrucken.28 Die Ungenauigkeiten der Arbeit Hartls zur Gruppierung *T wurden schließlich von Gesa Bonath aufgezeigt, die sich ihrerseits in einer eigenen Studie an einer umfassenden Rekonstruktion der textgeschichtlichen Zusammenhänge versuchte.29 Angesichts der enigmatischen Darstellung der Überlieferungsverhältnisse bei Lachmann und der ungenügenden weiteren Versuche der philologischen Forschung sah Bonath die Aufgabe ihres Neuansatzes in erster Linie darin, „bloßzulegen, was in Lachmanns Ausgabe an wertvoller philologischer Arbeit geleistet worden ist, und zu zeigen, was an Fragen offengeblieben ist“.30 So konnte Bonath etwa Stadlers These, dass die Bearbeitungsintention der Gruppe *G in der Angleichung des Wolfram’schen an den Hartmann’schen Stil liege, zurückweisen. Gleichwohl ging aber auch Bonath von einer ‚Trivialisierung‘ des ‚echten‘ Textes in *G aus. Bonaths Hauptaugenmerk lag wie bei Lachmann auf dem Archetypus und der Bestimmung der ‚richtigen‘ Lesart. Ihre Kennzeichnung der *G-Überlieferung als von zahlreichen Kontaminationen geprägt beruhte daher auf einem sehr rigide angewandten ‚Fehler‘-Begriff.31 Dass die Verhältnisse durchaus auch anders gesehen werden können, demonstrierte Joachim Heinzle in seiner Rezension der Arbeit Bonaths.32 Sein Verdikt, dass Bonath „die Leistungsfähigkeit der Textkritik überschätzt“ habe, wurde fortan in Forschungsüberblicken zur Überlieferung des ›Parzival‹ als ständiger Begleiter der Arbeit Bonaths zitiert. Heinzle zeigte sich „ratlos [. ..] angesichts des wissenschaftlichen Optimismus, mit dem [Bonath] immer wieder Lesarten als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ bezeichnet und als Faktum ausgibt, was doch nur auf das

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1952. Wolfram von Eschenbach, Parzival. In Auswahl hrsg. von Eduard Hartl. Bern 1951 (Altdeutsche Übungstexte 12). Vgl. Wolf, Rezension von Eduard Hartl (1952); Vgl. hierzu den Überblick zur Editionsgeschichte bei Schirok, Wolfram von Eschenbach Parzival. Studienausgabe. 2. Auflage, S. LXXIX−LXXXI. Vgl. Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung. Die Auseinandersetzung mit Hartls Ergebnissen erfolgt Bd. 1, S. 39–51; vgl. hierzu ausführlich unten, Kap. III, 1 (S. 103 ff.). Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung, Bd. 1, S. 5. Nur geringfügig erweitert wurden Bonaths Vorstellungen von den Überlieferungsverhältnissen durch die ebenfalls der klassischen Textkritik verpflichtete, ein Jahr später erschienene Studie von Nock, Die *M-Gruppen der Parzivaˆl-Handschriften, die eine genauere Bestimmung der *G-Filiation versucht, jedoch weit weniger ausführlich als Bonath bleibt. Heinzle, [Rezension zu] Gesa Bonath. Vgl. auch die Besprechung der Arbeit durch Nellmann, [Rezension zu] Gesa Bonath.

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subjektive Urteil des Textkritikers sich gründet“.33 Es ist aber davor zu warnen, aufgrund dieser Einwände die Untersuchungen Bonaths vorschnell als erledigt zu betrachten. Anders als bei Hartl richtet sich die Kritik nämlich nicht in erster Linie auf Einzelfragen der textkritischen Arbeit – unbestreitbar zeugen Bonaths Untersuchungen von bewundernswertem Scharfsinn und äußerster Genauigkeit, so dass es nur als höchst bedauerlich bezeichnet werden kann, dass Bonath ihre Arbeit an der Überlieferung des ›Parzival‹ nicht fortsetzen konnte.34 Bonaths Ergebnisse sind auch heute noch ernst zu nehmen und stellen oftmals die plausibelste Erklärungsmöglichkeit dar, auch wenn sie nicht mit jener unumstößlichen Sicherheit behauptet werden können, auf die sich die klassische Textkritik Lachmann’scher Prägung berufen zu können glaubte.35 Die Einwände Heinzles gehen jedoch über die Kritik an Details hinaus und berühren Grundsätzliches, treffen sie sich doch mit einem spätestens seit dem Erscheinen von Karl Stackmanns richtungweisendem Aufsatz ‚Mittelalterliche Texte als Aufgabe‘ spürbaren generellen Vorbehalt gegenüber der Lachmann’schen Methode und ihrem Versuch, einen ‚originalen‘ Text aus der Masse der Textzeugen zu rekonstruieren. Ab der Mitte der sechziger Jahre trat zunehmend die Einsicht ins philologische Bewusstsein, dass die Geschlossenheit der Überlieferung als wesentliche Bedingung für die Anwendbarkeit der Lachmann’schen Stemmatologie bei mittelhochdeutschen Texten nicht vorauszusetzen war und dass aus dieser Erkenntnis Konsequenzen für die textkritische Arbeit zu ziehen sind.36 Mit dem Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten der Rekonstruktionsphilologie stieg zugleich das Interesse an der Einzelhandschrift als Größe sui generis.37 Die bereits von der Würzburger Forschergruppe zunächst für die Gebrauchsliteratur eingeläutete ‚überlieferungsgeschichtliche Wende‘38 wurde allmählich auch bei den literarischen Gattungen vollzogen, etwa bei der Helden33 Heinzle, [Rezension zu] Gesa Bonath, S. 157. 34 Die Arbeiten des abgebrochenen Forschungsprojektes zur Überlieferungsgeschichte des ›Parzival‹, das Bonath an der Universität Erlangen leitete, konnten wenigstens zum Teil verwertet werden in der bislang umfangreichsten Studie zur Fragmentüberlieferung von Sabine Rolle (Dies., Bruchstücke). 35 Fast mehr noch als Störfaktor erweist sich zudem neben Bonaths zu großem Vertrauen in die ‚Lachmann’sche Methode‘ die für die Forschung der Zeit nicht untypische Überbetonung der Bedeutung von Zahlenkonstellationen, die Bonath zur Athetese ganzer Dreißiger veranlasst hat, wodurch ein rundzahlengemäßer Versbestand des Textes erreicht werden sollte. Vgl. dazu ausführlicher unten, Kap. III, 1.2.1, S. 153 ff. 36 Vgl. Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe. 37 Vgl. Fromm, Die mittelalterliche Handschrift, S. 50. 38 Vgl. (in Auswahl) Ruh, Votum für eine überlieferungsgeschichtliche Editionspraxis; Ders. (Hrsg.), Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung; Williams-Krapp, Die überlieferungsgeschichtliche Methode; Steer, Überlieferungsgerechte Edition.

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epik39 oder bei der Lyrik.40 Demgegenüber blieb die höfische Epik lange Zeit „der klassische Ort der Textkritik“, bis Joachim Bumke mit seiner Musteredition und Untersuchung der ›Nibelungenklage‹ auch hier die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Ausweitung des Blicks auf die Überlieferungsgeschichte demonstrieren konnte.41 Bumkes Erkenntnis, dass die Aporien des Überlieferungsbefundes mit einer ausschließlich stemmatologischen Herangehensweise immer nur ungenügend zu kaschieren sind, mündete in der Entwicklung des Konzepts der ‚autornahen Parallelfassungen‘, das den andersartigen Produktionsbedingungen der mittelalterlichen Literatur im Spannungsfeld zwischen Aufführung und Schrift Rechnung trägt und derart die partielle ‚Unfestigkeit‘ auch der höfischepischen Texte betont.42 Die Unmöglichkeit, die Überlieferung zu hintergehen, führte somit zu einem Innehalten bei ihren Gegebenheiten. Es braucht nicht mehr eigens betont zu werden, dass die ‚New Philology‘ in ihrem Nominalismus zu dieser Entwicklung in erster Linie den provokativen Ansporn beitrug und in der Regel nur insoweit Zustimmung gefunden hat, als sich ihre Ziele mit den bereits vorhandenen Tendenzen zur Rückbesinnung auf die Einzelhandschriften deckten.43 39 Vgl. Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik; und, zum ›Nibelungenlied‹, Brackert, Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes. 40 Vgl. insbesondere die Beiträge von Günther Schweikle, zusammengestellt in: Ders., Minnesang. 2., korrigierte Auflage; sowie Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. 41 Bumke, Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹, Zitat S. 3; Die ›Nibelungenklage‹. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. v. Joachim Bumke. Vgl. auch Ders., Epenhandschriften. Vorüberlegungen und Informationen zur Überlieferungsgeschichte; Ders., Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik; Ders., Der unfeste Text; sowie die Besprechungen bei Stackmann, Joachim Bumkes Ausgabe der ›Klage‹; Hausmann, Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe; Haustein, [Rezension zu:] Joachim Bumke; Lienert, [Rezension zu:] Joachim Bumke; sowie Strohschneider, [Rezension zu:] Joachim Bumke. 42 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Bumkes Konzept und der daran anknüpfenden Forschungsdiskussion erfolgt in Kap. III, 1.2.3 (S. 160 ff.) dieser Arbeit. 43 Zur ‚New Philology‘ und der darin anschließenden Debatte vgl. in Auswahl: Cerquiglini, E´loge de la variante; sowie die Beiträge im Speculum-Heft 65 (1990). Zur Diskussion vgl. den Sammelband: Alte und neue Philologie. Hrsg. von MartinDietrich Glessgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8), darin insbesondere Schnell, Was ist neu an der ‚New Philology‘?; sowie Rieger, ‚New Philology‘? Einige kritische Bemerkungen; des Weiteren die Beiträge im Sonderheft der ZfdPh 116 (1997): Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel; sowie die Einzelbeiträge von Stackmann, Die Edition – Königsweg der Philologie?; Ders., Neue Philologie?; Ders., Autor – Überlieferung – Editor; zusammenfassend Wolf, New Philology / Textkritik; Löser, Postmodernes Mittelalter?; und Strohschneider, Innovative Philologie?, der auf die Besonderheiten der Kanonisierung der ‚New Philology‘

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Der angesprochene Paradigmenwechsel ist demnach künftig auch bei der Arbeit an der Überlieferung des ›Parzival‹ zu berücksichtigen. So hat etwa zuletzt Bumke betont, dass bei der Erforschung der Textgeschichte, deren gründlichere Aufarbeitung zu den wichtigsten Aufgaben der ›Parzival‹-Forschung zähle, „die Aufmerksamkeit nicht mehr, wie früher, auf das vorausgesetzte Original fixiert“ werden sollte und „die erhaltenen Handschriften und die in ihnen überlieferten Texte [. ..] mehr Aufmerksamkeit“ verdienten, „als ihnen die ältere Forschung zugestanden hat“.44 Doch bereits vor Bumkes richtungweisender Arbeit zur ›Klage‹ fanden sich auch im Bereich der höfischen Epik immer wieder zumindest Ansätze zur Aufnahme der überlieferungsgeschichtlichen Anregungen. Zu nennen sind im vorliegenden Zusammenhang vor allem die Arbeiten Jürgen Kühnels zum ›Parzival‹,45 der seine Vorstellungen von mittelalterlichen volkssprachigen Texten als ‚offen‘ anhand einer vergleichenden Untersuchung der beiden Haupthandschriften G und D im dritten Buch des ›Parzival‹ entwickelte: Im Gegensatz zu neuzeitlichen Texten sind mittelalterliche Texte weitgehend variabel, was Orthographie, Lautstand, Morphologie und sogar einzelne bedeutungsgleiche oder -verwandte Wörter betrifft, die jederzeit im Prozess der (mündlich geprägten) Überlieferung ausgetauscht werden können.46 Dieser Austausch erfolgt nach Kühnel jedoch nicht regellos und aufgrund von Schreiberwillkür, sondern nach gewissen Normen, die das individuelle Gepräge einer Handschrift erkennen lassen.47 Die Variabilität mache eine historisch-kritische Ausgabe nach dem Lachmann’schen Muster sogar unmöglich.48 Mit der Gegenüberstellung von G und D werden die Texte in ihrer Eigenart, und nicht als bloße Stütze des ‚originalen‘ Textes wahrgenommen, womit Kühnel ein frühes Beispiel für den Vollzug des Perspektivenwechsels in der Philologie bietet.49

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(Cerquiglini, Speculum-Heft) in der germanistischen Diskussion hinweist (S. 909– 915). Die Gleichzeitigkeit der gegen die ‚New Philology‘ gerichteten Vorwürfe „Alte Wahrheiten“ und „Neue Irrtümer“, die Strohschneider moniert (S. 918), scheint mir unproblematisch zu sein, solange diese sich nicht auf gleiche, sondern auf unterschiedliche Referenzpunkte (Aufwertung der Materialität – Verzicht auf jegliche Hierarchisierung) beziehen. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 255. Kühnel, Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ in der Überlieferung; Ders., Der ‚offene Text‘. Kühnels Materialgrundlage ist zusammengestellt in: Wolfram von Eschenbach ›Parzival‹. Lachmanns Buch III. Abbildung und Transkription der Leithandschriften D und G. Hrsg. v. Jürgen Kühnel. Göppingen 1971 (Litterae 4). Vgl. Kühnel, Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ in der Überlieferung, S. 210. Vgl. ebd., S. 210–212. Vgl. ebd., S. 210. Der Vergleich von D und G wurde in jüngerer Zeit von Martin Baisch anhand

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Nahezu gänzlich unbeachtet geblieben sind die Arbeiten von Rudolf Hofmeister, der die Lachmann’sche Edition und deren zugrunde liegende Methodik im Rückgriff auf die Überlieferung zu kritisieren trachtete.50 Für die gebotene Revision des durch die Verwendung der Gruppensiglen verschlüsselten Apparats stellte Hofmeister umfangreiche Informationen zu Gliederung und Versbestand der Handschriften bereit, durch die in Ansätzen ein genaueres Bild der einzelnen Textzeugen ermöglicht wird. Auch werkübergreifende Untersuchungen zur Überlieferung der höfischen Epik sind vereinzelt erschienen. Peter Jörg Becker etwa rückte 1977 ‚Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen‘ ins Zentrum seiner Untersuchung,51 wobei tendenziell bereits eine ähnliche Akzentverlagerung auf die Situation des Spätmittelalters ersichtlich ist, wie sie in der wenige Jahre später folgenden Studie von Hans-Joachim Koppitz zur ‚Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert‘ vorgenommen wurde.52 Ebenfalls auf die Rezeption der Texte richtete sich die zeitlich wieder weiter ausholende, dafür aber auf den ›Parzival‹ beschränkte Einzelstudie zur ‚Parzivalrezeption im Mittelalter‘ von Bernd Schirok.53 Neben den Textzeugen werden in ihr auch intertextuelle und außerliterarische Zeugnisse der Aufnahme des Romans berücksichtigt. Den genannten Arbeiten von Kühnel bis Schirok gemein ist eine stärkere Berücksichtigung der Überlieferung, eine Verschiebung des Fokus hin zu den Einzelhandschriften und eine Zurückdrängung oder Ausklammerung der Rekonstruktion. Die Zusammenstellung soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Studien unterschiedlichen Ausrichtungen und Fragestellungen verpflichtet sind. Die Hinwendung zur Überlieferung bedeutet nicht immer im gleichen Maße eine Abkehr vom Vertrauen in die Möglichkeiten der Textkritik. Dies beweist etwa Beckers Auseinandersetzung mit dem Standpunkt Kühnels, der dessen radikalere Aufwertung der Schreiber der einzelnen Handschriften höchstens für die Anfangszeit der Überlieferung gelten lassen will:

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einiger ausgewählter Problemstellen von „auktorialen Selbstentwürfen“ wieder aufgegriffen (vgl. Baisch, Die Bedeutung der Varianz). Hofmeister, Manuscript Evidence in Wolfram’s ›Parzival‹; Ders., A New Aspect of the Parzival Transmission; Ders., A Criterion for Eliminating Spurious Readings; Ders., Lachmann’s Role in the Transmission of Parzival; Ders., Rhyme and Manuscript Evidence in Wolfram’s Parzival; Ders., The Plus-verses in Wolframs Parzival. Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Koppitz, Studien zur Tradierung. Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter.

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Bei den Parzivalhss D und G [. . .] hat es mit [Kühnels] Befund [der systematisch verfahrenden Schreiber] cum grano salis seine Richtigkeit, wie überhaupt bei vielen älteren Epenhss, die von Schreibern, die in Kloster- und Hofschulen gut ausgebildet worden waren und für dichtungskundige Abnehmer arbeiteten, denen nicht nur der von der Fama vorgetragene Ruhm eines Textes vage vorschwebte. Im 14. oder gar im 15. Jh. aber werden die von Kühnel postulierten, fallweise ‚mehr oder weniger eng gefaßten Normen‘, die meist selbsterteilt gewesen sein mögen und die jeweils von einem ganz verschiedenen Bewußtseinsgrad und Ausbildungsstand und der Gunst oder Ungunst der Stunde beeinflußt waren, oftmals zu einer euphemistischen Umschreibung für Schlamperei, Unlust oder Unfähigkeit.54

Schlamperei, Unlust oder Unfähigkeit – diese oder ähnliche subjektbezogene Urteile wurden nicht selten auch im Zusammenhang mit der Handschriftenproduktion der elsässischen Werkstatt des Diebold Lauber laut, die vor allem in der älteren Forschung geradezu als Paradefall für die Nachlässigkeit der Hersteller und den Verfall der Handschriftenkultur im 15. Jahrhundert angesehen wurde. Das Verdikt der ‚fabrikmäßigen‘ und ‚mechanistischen‘ Machart der Lauberhandschriften traf zunächst die ebenso stereotyp wie rückschrittlich anmutende Illustration der Codizes, übertrug sich aber oft auch auf die Textgestalt. Am Ende der Epoche der mittelalterlichen Überlieferung – das im Übrigen nicht selten durch eine allzu rigide Vorstellung von einem medialen Bruch zwischen Handschriften- und Druckproduktion markiert wurde55 – galten die Lauberhandschriften oft nicht als mehr denn ein Verfallsprodukt, dem der doppelte Makel der Abnutzung und der sich durch die quasi technische Reproduzierung ergebenden Entauratisierung anhaftete. Trotz der Vorbehalte gegenüber dem künstlerischen Wert der Lauber’schen Codizes war die Neugier an der elsässischen Werkstätte als Paradefall spätmittelalterlicher Handschriftenproduktion jedoch nicht einzudämmen, und je intensiver sich die Forschung mit ihr beschäftigte, desto mehr wurden die Rufe nach einer positiveren Neubewertung laut.56 Diese Tendenz zur Aufwertung auch der ‚schlechten‘ oder ‚falschen‘ Texte korrespondiert natürlich unübersehbar mit dem Bedeutungszuwachs, den die Einzelhandschriften in der überlieferungsgeschichtlichen Wende der Textkritik erfahren haben. Der Blick richtete sich auch hier weg vom Ausgangspunkt der Überlieferung auf die Bedingungen der Text-Reproduktion. Dass sich der Tradierungsprozess als Prozess einer andauernden ‚Wiederverwertung‘ fassen lässt, kann ungeachtet aller Vorbehalte über eine ‚Verwilderung‘ auch und gerade anhand der Literatursituation des 15. Jahrhunderts gezeigt werden: 54 Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 193–194. 55 Vgl. hierzu zuletzt exemplarisch-grundlegend Schnell, Handschrift und Druck, mit Überblick über die Forschung zur medialen ‚Revolution‘ der Frühdruckzeit. 56 Vgl. hierzu ausführlich Kap. I, 2.1 (S. 15 ff.).

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I Einleitung Auch für die deutschen Texte des 15. Jhs kann es keine Literaturtheorie und -soziologie des Autors und seiner Leser geben – sondern nur eine des ‚Machens‘ und des Lesens und Hörens von Literatur. Dies nicht etwa, weil noch jetzt – und noch durch die nächsten Jahrhunderte – das historische Material für beide, Autoren und Leser, dürftig fließt oder überhaupt fehlt. Sondern ‚Autor‘ und ‚Rezipient‘ übertragen anachronistisch Begriffe von und Reaktionen auf Literatur, die grundsätzlich erst seit dem 18. Jh. gelten. Und das heißt weiter: den jeweiligen Text konstituiert hier nicht seine ‚Negativität‘, seine Offenheit für die Rezipienten, sondern seine ‚positive‘ Endgültigkeit als je einzelne Kulturerscheinung. Gerade in diesem Zeitalter des TexteVerbrauchs eignet noch der zufälligste Verbrauchszustand einer Handschrift dem Text eine je eigene situationelle Konsistenz zu, die sich keineswegs aus dem Verhältnis Autor-Rezipient ergibt, sondern aus dem Verhältnis Machen-Lesen in spezifischen Gebrauchs-Situationen. 57

Die Akzentverlagerung auf das ‚Machen‘ und den ‚Gebrauch‘ von Literatur führt von selbst auf die Berücksichtigung nicht nur ‚neuerer‘ Literatur, sondern auch die der Tradierung bereits überkommener Texte: Darum auch ist es naiv, Literaturgeschichte und Sozialgeschichte der Literatur fürs 15. Jh. aufgrund nur der Neuproduktionen, ihrer Autoren und ihrer Leser zu schreiben, was noch immer fast unreflektiert geschieht. Die Überlieferung älterer Literatur [. . .], Abschriften, Bearbeitungen, Übersetzungen, Umsetzungen in Prosa, WertSignale durch Pergament oder Illustration, Verbrauchssignale durch Schrift, Format, Material, schließlich auch Übergang in den Buchdruck mit seinen Wert- und Verbrauchssignalen durch Drucker und Druckorte, Auflagen, Ausstattung mit Holzschnitten usw. – all dieses Weitertradieren konstituiert jetzt die Literaturbegriffe für Typen und Gattungen, für Mittelalterliches und Humanistisches, für ‚literarische‘ und ‚pragmatische‘ Literatur, für ihre Machart und ihre Lese-Situation fast mehr als die Neuproduktionen, die ja selbst auch wesentlich Rezeptionen sind.58

Gerade in der Lauber-Forschung wurde der Schwerpunkt naturgemäß immer schon auf das ‚Machen‘ von Texten gelegt. Über die Betonung des Produktionsaspektes wurde jedoch oft genug auf die Untersuchung der Einzelhandschriften vergessen. Trotz Hinwendung zur Überlieferung also wurden die einzelnen Textund Bildzeugen weiter vor allem als Bausteine für die Re-Konstruktion der Vorgänge in der Handschriftenwerkstätte angesehen und in das größere Ganze eingefügt. Die Rückbesinnung auf die Eigenart der Codizes als Größe sui generis, als ‚je einzelne Kulturerscheinung‘, ist daher erneut einzufordern.59

57 Kuhn, Versuch über das fünfzehnte Jahrhundert, S. 22. 58 Ebd., S. 22–23. 59 Vgl. Fasbender, Hu´bsch gemolt – schlecht geschrieben? Auch hier lassen sich im Übrigen Parallelen zur textkritischen Diskussion ziehen, haben doch dort ebenfalls die theoretischen Debatten um die Eigenart der Überlieferungsträger lange Zeit deren Untersuchung in den Schatten gestellt.

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Die angesprochenen Probleme sind wohl im gleichen Maße bei der Erforschung der Erzeugnisse der ersten Buchdrucker zu bedenken, die – bei sehr grober Betrachtung und unter Unterstellung eines Entwicklungszusammenhangs – im Vergleich zur Lauberwerkstätte als weiterer Schritt auf dem Weg zur modernen Massenanfertigung angesehen werden können. Auch hier führt die Neuartigkeit der Herstellungsweise unweigerlich zunächst auf den Produktionsaspekt, hinter dem die Betrachtung der Einzelexemplare zurücktritt. Das Verbindende der Produktionsweise soll jedoch den Blick auf die Unterschiede nicht verstellen: Dies gilt sowohl auf der Ebene der Einordnung der Einzelexemplare als auch auf jener des Vergleichs der beiden Produktionsformen ‚Handschriftenwerkstätte‘ und ‚Druckoffizin‘. In der vorliegenden Arbeit wird die Hinwendung zu den Einzelhandschriften mithin, durchaus im Bewusstsein einer Umkehrung der von der klassischen Textkritik gesetzten Prioritäten, anhand von vier spätmittelalterlichen Extrembeispielen der ›Parzival‹-Überlieferung erfolgen, die die zuvor angeführten prominenten Positionen in der Literatur(produktions-)geschichte des 15. Jahrhunderts besetzen. Es handelt sich um die drei ›Parzival‹-Handschriften der Lauberwerkstatt (Siglen m, n und o) sowie den in der Straßburger Offizin Johann Mentelins entstandenen Druck (Sigle W). Aus dem 15. Jahrhundert sind acht der 17 vollständigen ›Parzival‹-Überlieferungsträger erhalten. Diese anhaltend reichhaltige Überlieferung des Textes zeugt vom ungebrochenen Interesse, das dem Wolfram’schen Roman aus der höfischen Blütezeit noch im späten Mittelalter zu Teil wurde. Angesichts der Besonderheiten der semi-oralen Kultur des Mittelalters ist es nur zu verständlich, dass der ›Parzival‹ im 15. Jahrhundert – am vorläufigen Ende seiner lang andauernden Überlieferungsgeschichte – in einer Textgestalt rezipiert wurde, die sich von einer ursprünglichen, autornahen Fassung in vielfältigen beabsichtigten wie unbeabsichtigten Transformierungsprozessen entfernt hat. Der alleinige Rekurs auf eine ‚Verderbnis‘ der Überlieferung erscheint jedoch auch im Fall des ›Parzival‹ zur Klärung der Frage nach der Eigenart der spätmittelalterlichen Textaneignung, die in der formalen und inhaltlichen Gestaltung der Textzeugen aus dem 15. Jahrhundert manifest wird, nicht ausreichend. Bei ihr ist neben der mentalitätsgeschichtlichen, sprachlichen und stilistischen Distanz zum Ausgangspunkt der Überlieferung insbesondere auch die sich verändernde mediale Ausgangslage sowie der Wandel in der Publikumsschicht im 15. Jahrhundert in Rechnung zu stellen. Die drei ›Parzival‹-Handschriften aus der elsässischen Werkstätte sowie der Druck aus der Straßburger Offizin erweisen sich dabei als besonders geeignet zur Dokumentation dieses Spannungsverhältnisses von sich verändernden Produktions- und Rezeptionsbedingungen und deren Auswirkungen für die Textzeugen

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I Einleitung

als je einzelne Kulturerscheinungen, da sie nicht nur markante Stationen des medialen Umbruchs repräsentieren, sondern darüber hinaus auch durch die räumliche Nähe ihrer Entstehung – die Codizes sind nicht nur in derselben Region, sondern wohl auch im Umfeld desselben Mäzens angefertigt worden60 – das Aufzeigen von Kontinuitäten und Brüchen im Übergang vom skripto- zum typographischen Medium ermöglichen. Die Rede von ‚Kontinuitäten‘, ‚Brüchen‘ und ‚Übergängen‘ verweist nun aber erneut auf die Dialektik von Einzelfall und größerem Zusammenhang, von situativer Konkretisation und situationsabstrakter Formiertheit,61 von Auto- und Heteronomie. Bei der Berücksichtigung des Individuellen soll und kann nicht auf die Einordnung verzichtet werden, da sich die Eigenart ohnedies erst in der Differenz erschließt.62 Dies gilt für das Verhältnis von ‚serienmäßiger‘ Herstellung und ‚Einzelexemplar‘, führt aber auch zurück zu den Möglichkeiten des Aufzeigens textgeschichtlicher Zusammenhänge. Es stellt sich die Frage, ob man dem Text oder der Einrichtung der Einzelhandschrift als Größe sui generis überhaupt gerecht wird, wenn man nicht deren Besonderheiten im Vergleich zur Überlieferung hervorhebt. Die Tendenz einer ‚Bearbeitung‘ kann nur vor dem Hintergrund des Ausgangspunktes der ‚Bearbeitung‘ erfasst werden. Eine Abschrift ist definitionsgemäß immer an die Vorlage rückgebunden. Streng genommen lassen sich Änderungen und Übernahmen nur bei vollständiger Kenntnis der Vorlage erkennen und in ihrer Bedeutung einschätzen. Da diese in den meisten Fällen fehlt, ist man auf Rekonstruktion und interpretatorische Erschließung angewiesen. Dennoch ist die Situation für die Abschätzung der Eigenart der Handschrift für den modernen Interpreten besser als für den mittelalterlichen Rezipienten, der die überlieferungsgeschichtliche Differenz ja zumeist gar nicht erkennen konnte, da er in der Regel nur den einen Text der Handschrift ‚präsent‘ vor sich hatte.63 Es wird daher in der vorliegenden Arbeit zu demonstrieren versucht, dass der Blick auf die Einzelhandschrift zwangsläufig zurück auf die Überlieferungsund Textgeschichte führt, und dass sich eine veritable ‚material philology‘ im Spannungsfeld zwischen Allgemeinem und Besonderem zu bewegen hat.64 Im 60 Sowohl Lauber als auch Mentelin standen in engem Kontakt zu dem Straßburger Bischof Ruprecht von der Pfalz-Simmern, vgl. dazu ausführlich unten, Kap. I, 2 (S. 15 ff.). 61 Vgl. Strohschneider, Situationen des Textes. 62 Zu dieser Konsequenz führen letztlich auch die Überlegungen von Lichacˇev, Grundprinzipien textologischer Untersuchungen, hier S. 314. 63 Vgl. Müller, Neue Altgermanistik, S. 449, Anm. 6. 64 Zur ‚material philology‘ in engerem Sinn vgl. Nichols, Why Material Philology? Some Thoughts. Bereits das Konstatieren eines ‚medialen Wandels‘ von der ‚offenen

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folgenden Abschnitt steht daher zunächst der ‚größere Zusammenhang‘ im Vordergrund, wenn die allgemeinen Produktionsbedingungen der Lauberwerkstatt und der Mentelin’schen Druckoffizin überblickt werden, womit die Einordnung der Untersuchungsobjekte in die Gesamtsituation des 15. Jahrhunderts ermöglicht werden soll.

2 Werkstatt und Offizin – Der Codex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit 2.1 Die Lauberwerkstatt 2.1.1 Das Forschungskonstrukt Die heutigen Vorstellungen von der Lauberwerkstätte beruhen auf den kunstgeschichtlichen Untersuchungen von Rudolf Kautzsch.65 Kautzsch hatte eine Reihe von illustrierten, durchwegs in elsässischer Mundart geschriebenen Handschriften des 15. Jahrhunderts zusammengestellt, die sich schon aufgrund ihrer typischen Einrichtung als verwandt erwiesen haben. Das deutlichste Kennzeichen dieser Einrichtung ist die Ausstattung der Codizes mit ganzseitigen kolorierten Federzeichnungen, welche einem konservativen Stilideal verpflichtet sind. In den Handschriften begegnen zudem immer wieder dieselben Zeichner, die sich daher zu einer Gruppierung von miteinander in Beziehung stehenden Arbeitskräften zusammenfassen lassen. Das Kernstück der Gruppe bilden dabei jene Illustratoren, die an der Ausstattung der fünfbändigen Heidelberger Bibel (Cpg 19–23) beteiligt waren und somit nachweislich miteinander kooperiert haben.66 Da die Zeichner dieser Bibel auch in anderen Codizes in Erscheinung treten und dort zum Teil mit weiteren Illustratoren zusammenarbeiten, konnte Kautzsch einen Grundbestand von 16 Handschriften und ebenso vielen Malern eruieren, an den sich durch Stilvergleich 22 zusätzliche Codizes anschließen ließen. Die unterschiedlichen Illustratoren hat Kautzsch mit den alphabetischen ‚Notnamen‘ ‚Meister A‘ bis ‚Meister Q‘ versehen und anhand dieser Kategorisierung eine Charakterisierung der Hände vorgenommen.67 Kautzsch’ Leistung Manuskriptkultur‘ zu den ‚geschlossenen‘ Texten des Druckzeitalters impliziert eine historische Dimension der Materialität. 65 Kautzsch, Einleitende Erörterungen; Ders., Diebolt Lauber und seine Werkstatt; Ders., Notiz über einige deutsche Bilderhandschriften; sowie Ders., Diebolt Lauber und seine Werkstatt. Eine Nachlese. 66 Vgl. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 1–2. 67 Von den drei letzten Illustratoren der von Kautzsch zusammengestellten Liste, die

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bei der ‚Entdeckung‘ der Werkstatt bestand nicht zum unwesentlichen Teil darin, dass er sich von der abschätzigen Behandlung, die die ältere Forschung den mit Federzeichnungen ausgestatteten Codizes des 15. Jahrhunderts zu Teil werden ließ, insofern distanzieren konnte, als er die Illustrationen überhaupt einer eingehenden Betrachtung für wert erachtete. Dennoch ist die Einschätzung Ute von Blohs zutreffend, dass „seine Urteile noch ganz von den Anschauungen einer normativen Ästhetik des 19. Jahrhunderts abhängig sind“.68 In jüngerer Zeit hat daher Lieselotte Saurma-Jeltsch in ihrer Habilitationsschrift eine erneute umfassende Charakterisierung der Illustratoren unternommen.69 Saurma-Jeltsch konnte die Ergebnisse von Kautzsch dabei insbesondere durch die wichtige Erkenntnis korrigieren, dass es sich – zumindest in einigen Fällen – bei den von Kautzsch identifizierten ‚Meistern‘ nicht um Einzelpersonen, sondern um ganze Illustratorengruppen handelt, die in ihrer stilistischen Darstellungsweise sehr eng miteinander verwandt sind.70 Die genannten Gemeinsamkeiten in der Einrichtung und der Bebilderung der Handschriften legten für Kautzsch die Annahme nahe, dass es sich bei den Codizes um die Erzeugnisse einer Werkstatt handelt; dies umso mehr, als er sie in einem weiteren Schritt mit den schon länger bekannten Bücheranzeigen des bis ca. 1470 tätigen Hagenauer Schreibers Diebold Lauber in Verbindung bringen konnte.71 Insgesamt sind fünf dieser Anzeigen erhalten, und zwar als Einträge in den Handschriften Heidelberg Cpg 314 (Sammelhandschrift: Boner, ›Edelstein‹; Freidank; ›Disticha Catonis‹ dt.; ›Dietrichs Flucht‹; ›Rabenschlacht‹) [B]72, London, British Library Ms. Add. 28752 (Johannes von Hildesheim: Dreikönigslegende) [C], Berlin, StBPK Mgf 18 (Konrad Fleck ›Flore und Blanscheflur‹) [D] und Straßburg, Bibliothe`que Nationale et Universitaire Ms. 2539 (Deutscher Psalter, ursprünglich aus dem Kloster Lichtenthal) [E]. Hinzu kommt ein heute

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von ihm mit den Abkürzungen ‚Meister O‘, ‚P‘ und ‚Q‘ benannt wurden, ist streng genommen keine Zusammenarbeit mit den anderen Zeichnern bekannt, sie können aber aufgrund von Analogieschlüssen (beispielsweise durch die Feststellung von Schreiberidentitäten oder Ähnlichkeiten in der Einrichtung) zugerechnet werden. Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 62. Vgl. von Bloh, Die illustrierten Historienbibeln, S. 31–34, dort auch eine Zusammenstellung der abwertenden Urteile der älteren Forschung. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 66. Vgl. die Erwähnungen bei Mone, Geschichtliche Notizen, S. 254–256; Kirchhoff, Beiträge zur Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 3–6; sowie Ders., Die Handschriftenhändler des Mittelalters, S. 125–126. Im Folgenden werden als Referenzsiglen für die Anzeigen die Großbuchstaben A−E verwendet, wie sie in der Reihenfolge bei Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 239–243, aufgeführt werden. Dort auch Abdruck, Literatur und ausführlicher Kommentar zu den Anzeigen.

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in der Hagenauer Bibliothe`que Municipale unter der Signatur Ms 4.8 (1) aufbewahrter Brief [A], der sich früher im vorderen Innendeckel des Straßburger Psalters (E) befand. In den Einträgen B−E wird jeweils der Name Laubers, der Ort Hagenau sowie die Bezeichnung schriber erwähnt. Zusätzlich finden sich unterschiedlich ausführliche Angaben zu den bei Lauber erhältlichen Büchern, wobei insbesondere auf die Illustrierung der Codizes und das breit gefächerte Angebot an weltlicher und geistlicher Literatur hingewiesen wird.73 Dass diese Anzeigen – bis auf eine Ausnahme – tatsächlich eigenhändig von Lauber geschrieben worden sind, lässt sich durch den Vergleich mit der Selbstnennung Laubers im Schreiberexplizit des Psalters (E) belegen (Hie hat der tütsche psalter ein ende des frowent sich myn Diebolt Loubers hende).74 Dieselben Schriftzüge wie das Explizit weisen die Anzeigen A, C und D auf, diese stammen also von Lauber selbst. Einzig B unterscheidet sich in der Schrift und auch in der Schreibsprache von der Selbstnennung Laubers, ist somit offensichtlich eine spätere Kopie einer Lauber’schen Buchanzeige.75 73 E (Rückwärtiger Buchdeckel innen): was materien man gerne hat von hübschen buechern groß oder clein / geistlich / oder weltlich hübsch gemolt / die findet man alle by Diebolt Louber schriber zue Hagenow; D (Bl. 2v): Jte(m) zu´ hagenowe vil e hu´b*cher buchere gei*tlich oder weltlich hu´b*ch gemolt by´ diebolt louber schriber vnd e e gute latinsche buchere. C (Bl. 2): Item welicher hande buecher man gerne hat groß oder clein geistlich oder weltlich hübsch gemolt die findet man alle by diebolt louber schriber In der burge zue hagenow. Es folgt eine Liste von 38 weltlichen und geistlichen Titeln (aufgeführt bei Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher v Buchherstellung, Bd. 1, S. 241–242). B (Bl. 4*): Jt(em) zu hagenow py´ dy´pold laber v schrey´b(er) lert die kinder sind die bu ch(er) tu tsch Jt(em) gesta ro(ma)no(rum) gemalt [. . .]. Es folgen 20 weitere Titel (vgl. ebd., S. 240–241). – Transkriptionen von D und E nach Saurma-Jeltsch, von B nach dem unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/cpg314/0013 abrufbaren Faksimile (Zugriff 13. 8. 2008), von C nach der Abbildung bei Becker, Diebold Lauber, S. 131. (Fehlerhaft sind die Nachbildungen bei Burger, Buchhändleranzeigen des 15. Jahrhunderts, Taf. 1; und Widmann, Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen, S. 15). – Zum Lauber’schen ‚Verlagsprogramm‘ vgl. allgemein Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber, S. 138–141; von Heusinger, War Diebold Lauber Verleger?; sowie Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 39–50. Während fast alle Klassiker der ‚höfischen‘ Erzählliteratur bis ins 13. Jahrhundert in den Bücherlisten und unter den erhaltenen Exemplaren vertreten sind (mit der Ausnahme des ›Nibelungenliedes‹), findet sich verhältnismäßig wenig aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Lauber hält also in derselben konservativen Weise an bewährten Texten fest, wie dies in späterer Zeit auch bei den ersten Druckern zu beobachten sein wird. Zu den Ähnlichkeiten mit den Verlagsprogrammen der Frühdrucker und der durch die Programme angesprochenen Publikumsschicht vgl. Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 48. 74 Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 243. 75 Vgl. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 16.

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Die Verbindung dieser Buchanzeigen mit der Gruppe der illustrierten elsässischen Handschriften kann wiederum aus der Einrichtung der sie enthaltenden Codizes erschlossen werden: Die Handschriften aus Berlin und Straßburg (D und E) sind zwar unbebildert geblieben, weshalb ein Stilvergleich der Illustrationen nicht möglich ist, sie stimmen aber zumindest im charakteristischen Layout mit der elsässischen Handschriftengruppe überein. Als ‚Kronzeuge‘ verbleibt zudem die Londoner Dreikönigslegende (C), deren Zeichner, von Kautzsch mit dem ‚Notnamen‘ ‚Meister K‘ benannt und als Hans Schilling identifiziert, in einem – allerdings losen – Zusammenhang zum Kernpool der Illustratoren steht.76 Schließlich wird die Beziehung zwischen Lauber und der Handschriftengruppe noch weiter durch den Umstand gestützt, dass in vielen Handschriften Urkunden als Makulatur verwendet wurden, in denen Hagenau und andere umliegende elsässische Orte erwähnt werden.77 Es lag für Kautzsch somit nahe, den Hagenauer Schreiber und Buchhändler Diebold Lauber als leitende Figur einer Werkstatt anzusehen, in der die Zeichner aus dem Illustratoren-Pool tätig waren. Während diese Annahme als einigermaßen gesichert angesehen werden kann, sind detailliertere Aussagen zum Elsässer Handschriftenbetrieb mit einem größeren Maß an Spekulation verbunden. In der älteren Forschung haben sich die pejorativen Urteile über die stereotype und ‚kunstlose‘ Ausführung der Illustrationen – trotz differenzierender Gegenstimmen – zu der Vorstellung einer gleichsam auf ‚Fließband‘ produzierenden Handschriftenmanufaktur verdichtet. Dieses oft unkritisch übernommene Bild ist jedoch nicht haltbar. Streng genommen bereitet bereits die Abgrenzung der Lauber’schen Produktion Schwierigkeiten. Dies wird schon bei der von Kautzsch und seinen Nachfolgern geübten Praxis ersichtlich, weitere Handschriften aufgrund ihres vergleichbaren Illustrationsstils der Werkstatt zuzuordnen.78 Auf die methodischen Probleme dieser Vorgangsweise machte Auguste Hanauer in einer noch im selben Jahr wie die Untersuchung von Kautzsch erschienenen Studie aufmerk76 Vgl. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 16–18; Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 114–118 und S. 142–154. 77 Vgl. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 3, und Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 67 und S. 88–91. 78 In der Nachfolge von Kautzsch brachten Vollmer, Ober- und mitteldeutsche Historienbibeln, weitere sieben Historienbibeln und Kurth, Handschriften aus der Werkstatt des Diebolt Lauber, drei Epenhandschriften bei, ehe Kautzsch selbst in einem Nachtrag zu seinen Studien (Diebolt Lauber und seine Werkstatt. Eine Nachlese) die Zahl nochmals um vier Exemplare erhöhte. Weitere Nachträge bei Koppitz, Studien zur Tradierung S. 37, Anm. 17. Die heute gültige – allerdings nicht nur durch Stilvergleiche gewonnene – Zusammenstellung der Lauberhandschriften bietet der Katalog von Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 2.

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sam.79 Es ist nämlich keineswegs gesichert, dass eine Handschrift, die von einem der Illustratoren aus dem Pool ausgestattet wurde, automatisch auch in der Werkstatt hergestellt worden sein muss: Quelle que soit l’organisation suppose´e a` l’atelier de Lauber, il ne saurait de´limiter la carrie`re des hommes qui l’ont traverse´. La plupart ont e´crit, dessine´, peint, avant d’y entrer; ils auront continue´ a` e´crire, a` dessiner et a` peindre, apre`s en eˆtre sortis. Ces traits de plume, ces proce´de´s plus ou moins artistiques, ces manie`res de repre´senter les hommes et les choses, tous ces caracte`res en un mot qui permettent de les distinguer, les seize dessinateurs reconnus chez Lauber ne les ont pas tous adopte´s en se mettant a` son service, ils ne les ont pas perdus en le quittant. On n’est donc pas en droit d’attribuer avec une assurance comple`te a` l’officine de Haguenau tout manuscrit illustre´ par l’un d’entre eux.80

Die Zuordnung etwaiger weiterer Handschriften allein aufgrund des Illustratorenund Stilvergleichs bietet somit keine Sicherheit. 2.1.2 Zu Person und Umfeld Diebold Laubers Ebenfalls mit Unsicherheiten belastet ist die genauere Auslegung der aus den Bücheranzeigen erschließbaren biographischen Informationen zu Diebold Lauber. Auch hier hat bereits Hanauer korrigierend eingegriffen, indem er umfangreiches Archivmaterial aus Hagenauer Quellen beitrug, das sich bei der genaueren Deutung der in den Anzeigen erhaltenen Informationen als nützlich erwiesen hat. Vor diesem Hintergrund ergibt sich zunächst ein differenzierteres Bild von der Tätigkeit und der Profession Laubers: Allein aus den Bezeichnungen Laubers als schriber geht noch nicht hervor, dass sich Lauber als solcher tatsächlich in einer gesicherten Stellung befand, wie dies von der älteren Forschung oftmals angenommen wurde.81 Dies gilt auch für die nähere Spezifizierung in Anzeige C, die auf die Möglichkeit des Büchererwerbs by diebolt louber schriber In der burge zue hagenow verweist. Aus ihr hatte Kautzsch ursprünglich abgeleitet, dass Lauber Schreiber in der dort befindlichen Landvogtei war.82 Es ist jedoch fraglich, ob der Eintrag tatsächlich auf diese Weise verstanden werden darf. Sehr wahrscheinlich ist die Bezeichnung schriber von der Ortsangabe In der burge zue hagenow zu trennen.83 In den noch erhaltenen Rechnungsbüchern aus der Zeit von 1422–1457 findet sich nämlich von Lauber keine Spur. Unter der 79 Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes. 80 Ebd., S. 487. 81 Vgl. hierzu zusammenfassend auch Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 67. 82 Vgl. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 4. 83 Vgl. Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 9.

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Bezeichnung landvogtei schriber werden hingegen andere Namen geführt, so dass es nicht plausibel ist, dass Lauber in dieser Stellung tätig war.84 Die Beziehungen zur Hagenauer Burg könnten sich lediglich über einen urkundlich bezeugten Boten bzw. loiffer ergeben haben, der zwar ebenfalls den Namen Lauber trug, aber wohl nicht mit Diebold Lauber identisch war.85 Möglicherweise handelt es sich hier um einen Verwandten des Schreibers Lauber, der unter Umständen auch den Kontakt zur Burg hergestellt hatte.86 Dass Lauber zumindest von Zeit zu Zeit einer anderen Nebentätigkeit nachgegangen sein könnte, geht aus der Anzeige B hervor, in der für Bücher erhältlich py´ dy´pold lavber schrey´b(er) lert die kinder geworben wird. Jedoch ist auch bei dieser Beschäftigung über die näheren Umstände wenig bekannt. Indizien könnten sich lediglich aus dem Befund ergeben, dass Lauber nicht als Magister angesprochen wird, woraus Hanauer schloss, dass er wohl nicht in der Lateinschule, sondern allenfalls in einer der beiden deutschen Schulen von Hagenau tätig war.87 Zudem kann Lauber nach Hanauers Ansicht nur zeitweilig als Lehrer tätig gewesen sein. Betrachtet man den Kontext der Bezeichnung in einer Werbeanzeige, so erscheint es sogar möglich, dass Lauber hier nur eine potentiell einsetzbare ‚Zusatzqualifikation‘ angepriesen hatte.88 Unüblich war die Verbindung von Schul- und Schreibtätigkeit jedenfalls nicht.89 84 Vgl. Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 414–415; Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 6–8; und Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 68. 85 Vgl. Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 415–420. Darauf könnte die ausdrückliche Unterscheidung der beiden Lauber in den Urkunden durch die Hinzufügung der jeweiligen Berufs- bzw. Tätigkeitsbezeichnung hinweisen. Nie ist ‚Lauber der Schreiber‘ mit ‚Lauber dem Boten‘ vermengt, außer ansatzweise in einer Abrechnung der Hagenauer Georgskirche aus dem Jahr 1449. Sie lautet auf den Namen Diebold (gestrichen: loif ) louber der schriber (vgl. ebd., S. 415, Anm. 2) Hanauer erklärt sich diese Fehlleistung des Schreibers (S. 416) gerade dadurch, dass dieser zunächst die beiden verschiedenen Lauber durcheinander gebracht hatte. Ob loif aber tatsächlich der Wortbeginn der Berufsbezeichnung des ‚Läufers‘ Lauber ist, wie Hanauer annimmt, ist nicht sicher, es könnte sich auch um eine Schreibvariante des Namens louber handeln, vgl. Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 6, Anm. 30. 86 Vgl. Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 415–418, Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 9. Hanauer verweist darauf, dass die Tätigkeit eines ‚Läufers‘ nicht nur bloße Botengänge beinhaltete, sondern auch die Begleitung höhergestellter Persönlichkeiten. Auf diese Weise hätten sich für ‚Lauber den Läufer‘ gute Kontaktmöglichkeiten zu potentiellen Kunden von ‚Lauber dem Schreiber‘ ergeben können. 87 Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 414. 88 Vgl. ähnlich Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 240, Anm. 26. 89 Vgl. Karin Schneider, Berufs- und Amateurschreiber, S. 12; und Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 188, Anm. 24.

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Schließlich konnte Hanauer in den Dokumenten noch eine weitere Einnahmequelle Laubers eruieren: In den Jahren 1451–1455 wird Lauber in einigen Rechnungsbelegen der Landvogtei genannt, die über die Bezahlung einer Stallmiete für Pferdeeinstellplätze an ihn Auskunft geben.90 Genauere Aufschlüsse über das Umfeld und im Speziellen über den Kundenkreis Laubers bietet die prominenteste der erhaltenen Buchanzeigen, der aus dem deutschen Psalter stammende so genannte ‚Lauber-Brief‘ (Buchanzeige A). In ihm wird von einer Bücherbestellung eines Herzogs Ruprecht berichtet, die offensichtlich einem weiteren potentiellen Kunden ans Herz gelegt wird:91 Gnedig(er) lieber Junch(er)re als hat mich Em(m)erich ein zedel lo**en le*en hat my´n x x gnedig(er) h(er)re hertzog Ruprecht (etc) *elbs ge*chriben vmb *u´ben *tu´ck buch(er) x Nemlich die zwey´ bucher der heiligen leben winterteil vnd *u(m)merteil Jte der x heiligen drige ku´nig buch gemolt / Vnd morolff gemolt (etc) Jte wilhelm von orli[e]ns x gemolt Vnd der parcifal die beiden bucher gar hu´b*ch gemolt / Vnd Bellial Vnd das x *u´benmei*ter buch die zwey ouch gar hu´b*ch gemolt (etc) Vnd wolten ir ouch der o heiligen drige ku´nige buch gemolt / Vnd Adams leben darJnne *o *chickent Eberlin ein zedel *o wurt es uch (etc) Ouch lieber Juncher als ir gerne ku´nig Artu*z vnd her y´bin hetten / die *chribe ich x y´etz / Vnd wolt uch die gerne v(er)geben *chriben / das ir geben den ko*ten zu m:l: 92 Vnd Jn zu´ binden / Vnd mir ein fru´n[t]liche(n) bede brieff an Mei*ter / Vnd Rat mahtent das ich uwer genie**en mo hte / da(n)n zu´ allen molen etwas lidig wurt / das x m:r gefuglichen were / das wolt ich ewiclic:: Vmb uwe(r) gnade verdienen (etc) x Ouch *o *chribent dem Apt von *ant waltpurg der hat die glo*e dis buchs gar hu´b*ch (etc)

Über die Identität des genannten Herzogs Ruprecht ist sich die Forschung einig: Es handelt sich hier aller Wahrscheinlichkeit nach um Ruprecht von der Pfalz-Simmern, der von 1439–1478 Bischof von Straßburg war.93 Der Umstand, dass Ruprecht im Brief nicht als Bischof angesprochen wird, könnte auf eine 90 Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 418–419. 91 Transkription nach dem Faksimile bei Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 262–263. Unklare diakritische Zeichen, deren Bedeutung und Aussehen aufgrund der im Spätmittelalter allgemein zu beobachtenden Auflösungserscheinungen der Supraskripta nicht eindeutig festzulegen ist, werden gemäß den Richtlinien des Berner ›Parzival‹-Projekts mit übergestelltem ‚x‘ wiedergegeben (Vgl. zu den Richtlinien: Stolz, Schöller und Viehhauser, Transkriptionsrichtlinien des Parzival-Projekts). 92 Zu lesen ist wohl molen. 93 Vgl. schon Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 7. Alternative, nicht plausiblere Möglichkeiten sind angeführt ebd., S. 8, sowie bei Burdach, Die pfälzischen Wittelsbacher, S. 126; und bei Flood, Johann Mentelin und Ruprecht von Pfalz-Simmern, S. 200–201.

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Datierung des Briefs vor 1449, also dem Jahr der eigentlichen Amtseinsetzung Ruprechts in Straßburg, hindeuten.94 Eine weitere eindeutige Identifizierung kann bei dem am Schluss erwähnten Apt von *ant waltpurg vorgenommen werden. In Frage kommt hier nur Burkhard von Müllenheim, der 1430–1479 die genannte Funktion in der im Umfeld von Hagenau gelegenen Abtei innehatte.95 Umstrittener ist hingegen der ungenannte Adressat des Briefes. Von Kautzsch wurde zunächst der Oberlandvogt Pfalzgraf Ludwig IV. in Erwägung gezogen.96 Hanauer hat dagegen eingewandt, dass die Anrede lieber Junch(er)re eher auf einen Unterlandvogt als Empfänger hindeutet.97 Hier kommen insbesondere zwei Namen in Betracht: Peter von Talheim (Unterlandvogt 1457 bis 1458) und der Wild- und Rheingraf Johannes IV. in Dhaun und Kirburg (1451 bis 1457 und 1463 bis 1471). Für Peter von Talheim hat sich zuerst Werner Fechter ausgesprochen,98 für Johannes IV. haben Hanauer und später insbesondere SaurmaJeltsch optiert.99 94 Vgl. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 7–8. Für eine spätere Datierung plädiert aber Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 71. Vgl. auch Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 421–424. 95 Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 239, Anm. 16. Die Angabe der hat die glo*e dis bu chs bezieht sich wahrscheinlich auf den deutschen Psalter aus dem Kloster Lichtenthal (E), heute Straßburg Ms 2539, in dem sich der Brief befand. 96 Vgl. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 7. Es handelt sich hier um den jüngeren Bruder der bekanntermaßen literarisch interessierten Pfalzgräfin Mechthild. Für ihn spricht, dass sich eine größere Anzahl von Lauberhandschriften in der Heidelberger Bibliothek befindet. Vgl. zur Beziehung Laubers zu den pfälzischen Wittelsbachern auch Backes, Das literarische Leben am kurpfälzischen Hof, S. 59. 97 Vgl. Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 424. 98 Vgl. Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber, S. 123–124. Peter von Talheim ist 1461 als Rat im Dienst des Markgrafen von Baden nachweisbar, 1463 als Hofmeister bei Karls Gattin Katharina. In deren Besitz befand sich eine ›Willehalm von Orlens‹-Handschrift aus der Lauberwerkstatt (vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 69). Zudem geht Fechter davon aus, dass Peter von Talheim auch derjenige gewesen ist, der den Straßburger Psalter (E), in dem sich der Brief befand, dem unter besonderen markgräflichen Schutz stehenden Kloster Lichtenthal geschenkt hatte. 99 Vgl. Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 424; und Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 70–71. Auch Johannes IV. Dhaun hat enge Beziehungen zum Lichtenthaler Kloster und zu Besitzern von Lauberhandschriften. Darüber hinaus ist er mit zwei für den Literaturbetrieb am pfälzischen Hof wichtigen Persönlichkeiten verwandt: mit Ruprecht von PfalzSimmern (bei dem es sich ja wahrscheinlich um den im Brief angesprochenen Herzog Ruprecht handelt) und mit dem bekannten Literaturliebhaber Wirich VI. von Daun

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Der Kreis der Personen ist somit zumindest einigermaßen abgrenzbar. Es lässt sich auf jeden Fall mit Gewissheit annehmen, dass Lauber „mit hohen Herren Südwestdeutschlands in Geschäftsverbindung stand“.100 Der Brief gibt jedoch auch Auskunft über den näheren Ablauf dieser Geschäftsbeziehungen und liefert damit Hinweise zur Klärung der Frage, ob man dem Lauber’schen Betrieb tatsächlich eine (proto)moderne Produktions- und Vertriebsweise unterstellen darf, die bereits mehr derjenigen des heutigen, anonymisierten Buchmarkts ähnelt als einer von der engen Beziehung zwischen Schreiber und Auftraggeber geprägten mittelalterlichen Produktionssituation. Berichtet wird, dass ein Herzog Ruprecht, der aller Wahrscheinlichkeit nach mit Pfalzgraf Ruprecht gleichzusetzen ist, sieben Handschriften weltlicher und geistlicher Literatur bei Lauber bestellt hat, unter denen sich auch ein vermutlich zweibändiger ›Parzival‹ befand.101 Diese Bestellung sollte offensichtlich auch den Empfänger des Briefes zu weiteren Aufträgen anregen.102 Der Brief wendet sich also an Lauber bekannte Personen. Davon, dass Lauber für einem anonymen, unberechenbaren Kundenkreis und nicht mehr wie im Mittelalter bislang üblich den Wünschen eines Auftraggebers gemäß produzierte, ist zumindest hier nicht die Rede.103 Allerdings ist insofern eine Umkehrung der Verhältnisse zu beobachten, als die Initiative nicht mehr vom Besteller, sondern vom Handschriftenproduzenten ihren Ausgang nimmt, der auf seine potentiellen Kunden zugeht. Zudem wird man die im Brief angesprochene Situation nicht bedenkenlos für die Gesamtproduktion Laubers verallgemeinern können, werden doch beispielsweise in den anderen bekannten Bücheranzeigen (B−E) keine Adressaten benannt.104 Darüber hinaus weisen weitere werbetechnische Maßnahmen, wie die in einigen Codizes dem Text

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zu Oberstein, über dessen Person eine weitere Verbindung zum Heidelberger Literaturkreis um Friedrich den Siegreichen und auch zu den Grafen von Manderscheid-Blankenheim, in deren Besitz sich Lauberhandschriften befanden, hergestellt werden kann. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 8. In dieser Weise ist die Angabe der parcifal die beiden bu cher gar hu´b*ch gemolt wohl zu verstehen. Zur Identifizierung dieser Ausgabe mit dem Heidelberger Codex vgl. unten, Kap. II, 2, S. 69. Für die Namen der Überbringer der Bücherbestellung, E(m)merich und Eberlin, konnte Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 423, mögliche Deutungen beibringen: Bei E(m)merich könnte es sich um Emmerich Ritter handeln, der 1451– 1461 Schöffenschreiber der Landvogtei war, 1461 bis 1471 Gerichtsschreiber in Hagenau und 1471 bis 1496 Zinsmeister der Landvogtei; bei Eberlin um Diebold Eberlin, der 1480 Stadtschreiber von Hagenau und 1471 wahrscheinlich Nachfolger von Emmerich Ritter als Gerichtsschreiber wurde. Vgl. auch Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 234. Woraus aber wiederum nicht der Umkehrschluss gezogen werden darf, dass sie für gänzlich unbekannte Personen bestimmt waren.

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vorangestellten stoffangebenden Werktitel, die in manchen Fällen sogar mit dem ausdrücklichen Hinweis versehen wurden, dass das vorliegende Buch mit Bildern ausgestattet ist,105 ebenfalls darauf hin, dass potentielle Käufer erst für die Produkte interessiert werden sollten. Dennoch wird man wohl auch in diesen Fällen nicht von einer Produktion für den ‚freien Markt‘ im modernen Sinn auszugehen haben, sondern lediglich von der Erweiterung eines letztlich immer noch im Blickfeld befindlichen Abnehmerkreises.106 Mit Saurma-Jeltsch könnte man insofern von einer „Teilvorratsproduktion“ sprechen, „als die Werke mit einem ungefähr berechenbaren Risiko für eine zwar nicht namentlich, aber zahlenmäßig und als soziale Schicht bekannte Kundschaft hergestellt wurden“.107 Und schließlich war der Werkstatt offensichtlich auch das konservative Distributionsmodell noch nicht völlig fremd, denn es gibt weiterhin einige Codizes aus der Werkstatt, die eindeutig nach den Wünschen eines bestimmten, im vorhinein bekannten Auftraggebers eingerichtet wurden.108 Sehr wahrscheinlich ist also von einem Nebeneinander der unterschiedlichen Herstellungsweisen ‚Auftragswerk‘ und ‚partielle Vorratsproduktion‘ auszugehen. Offensichtlich rekrutierte Lauber seine Abnehmer vorrangig im Umfeld der Landvogtei. Die Institution wird sogar entscheidend für den Standort in Hagenau gewesen sein.109 Keinesfalls waren die Erzeugnisse Laubers für die ‚breite Masse‘ gedacht, wie Hans Wegeners Bezeichnung der Produkte als ‚Volkshandschriften‘ 105 Vgl. dazu das nächste Kap. I, 2.1.3, S. 28, zur Ausprägung des Lauber’schen Markenartikels. 106 Vgl. von Bloh, Die illustrierten Historienbibeln, S. 212, Anm. 580: „Dafür, daß Diebolt Lauber für einen ‚Markt‘ produziert hat, gibt es keine Anhaltspunkte. Die von Diebolt Lauber einigen verkauften Büchern beigefügten Anzeigen legen nur nahe, daß er diejenigen Bücher, die er herstellte oder herzustellen in der Lage war, potentiellen und potenten Abnehmern zur Kenntnis brachte. Für diese Werkstatt bedeutet das, daß nicht immer ein Auftrag für die hergestellten Bücher vorgelegen haben muß. Bei der Herstellung wird er jedoch ein Interesse an der Produktion seiner Werkstatt mitkalkuliert haben. Die Handschriften entstehen demgemäß immer noch unter typisch mittelalterlichen Verbreitungsbedingungen, denen zufolge für jede Abschrift mindestens ein mögliches Interesse seiner etwaigen Abnehmer vorausgesetzt wird.“ Vgl. auch die ähnliche Einschätzung bei Müller, Medialität. Frühe Neuzeit und Medienwandel, S. 56. 107 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 108. Saurma-Jeltsch äußert diese Einschätzung in Hinblick auf die Produktion von Historienbibeln in der ersten von ihr identifizierten Werkstattphase (vgl. zu den Phasen das nächste Kap. I, 2.1.3 [S. 26 ff.]). 108 Beispiele bei von Bloh, Die illustrierten Historienbibeln, S. 211–212; sowie Stamm [= Saurma-Jeltsch], Auftragsfertigung und Vorratsarbeit. 109 Vgl. Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 420; und Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 188.

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impliziert.110 Diese Auffassung wurde bereits durch die Untersuchungen Werner Fechters widerlegt, der den Kundenkreis aufgrund seiner Auswertung der in den Codizes nachweisbaren Besitzvermerke in der vermögenden Oberschicht situierte.111 Die Lauber’sche Produktion ist daher nicht als „bewußte Reaktion auf höfische und klösterliche Kunst“112 zu verstehen, sondern als „Fortsetzung einer Tradition mit anderen Mitteln“.113 In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Lauber im Brief anbietet, ku´nig Artu*z vnd her y´bin unentgeltlich (v(er)geben) zu schreiben, wenn er dafür 110 Vgl. Wegener, Die deutschen Volkshandschriften des späten Mittelalters. 111 Vgl. Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber. Zusammenstellung der nachweisbaren Benutzer ebd., S. 125–137. Zur Zurückweisung des Begriffs vgl. auch Stammler, Bebilderte Epenhandschriften, S. 138; und Ott, Überlieferung, Ikonographie – Anspruchsniveau, Gebrauchssituation, S. 357. Alfred Schmid (Die Schweizer Bilderchronik des Luzerners Diebold Schilling 1513, S. 694, Anm. 93), schlägt alternativ die Bezeichnung ‚Gebrauchshandschriften‘ vor, die jedoch ihrerseits den Repräsentativitätsanspruch der Handschriften zu überdecken droht. Zudem bleibt es unklar, ob sich die Funktionen ‚Gebrauch‘ und ‚Repräsentation‘ klar trennen lassen. – Das verwandtschaftliche Geflecht der adeligen Lauber’schen Klientel wird näher beleuchtet bei Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 158–160. Auf Lauberhandschriften in klösterlichem Besitz verweist Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber, S. 135–136. 112 Wegener, Volkshandschriften des späten Mittelalters, S. 316. 113 Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 190. Zwar betont Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 215, dass die Codizes verstärkt auch von Bürgerlichen gekauft worden seien, deren Besitz aufgrund der im Vergleich zu den Adelsbibliotheken unsteteren Aufbewahrungsverhältnisse schlechter nachzuweisen sei, diese bürgerliche Käuferschicht ist aber nicht im Gegensatz zum Adel zu sehen. Schon Becker, S. 190, weist darauf hin, dass die Vorstellung, „daß der Adel im 15. Jh. langsam vom aufstrebenden Bürgertum überwunden worden sei“, nicht haltbar ist: „In einer prinzipiell feudal strukturierten Welt führte sozialer Aufstieg des Bürgertums in den Adel. Das emporgekommene Bürgertum paßte sich der feudalistischen Ideologie auch in seiner Lektüre an“ (vgl. auch ebd., S. 217–218; und von Bloh, Die illustrierten Historienbibeln, S. 104–106). Vgl. zum Verhältnis von Adel und Bürgertum grundlegend Brunner, Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte; Ders., Zwei Studien zum Verhältnis von Bürgertum und Adel; Müller, Melusine in Bern; Grubmüller, Der Hof als städtisches Literaturzentrum; sowie Peters, Literatur in der Stadt (insbesondere S. 48–59). SaurmaJeltsch (in: Stamm [= Saurma-Jeltsch], Buchmalerei in Serie, S. 134) weitet daher das Publikumsspektrum vom ‚Adel‘ zur ‚städtischen Oberschicht‘ aus. Hinter Koppitz’ Vermutungen verbirgt sich letztlich die abwertende Einschätzung der Lauber’schen Produkte als billige „Massenarbeit“, deren Machart darauf hinweise, dass Lauber „auch den nicht sehr begüterten Kunden ansprechen wollte, den Bürger mit durchschnittlichem Literatur- und Kunstverständnis, der mit der etwas altertümlichen Aufmachung der Bücher zufrieden war“ (Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 49).

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als Gegenleistung ein Empfehlungsschreiben an Mei*ter vnd Rat erhalte.114 Offensichtlich bemühte sich Lauber hier um eine gesicherte Stellung, die der Empfänger vermitteln sollte (das ich uwer genie**en mo hte / da(n)n zu´ allen molen etwas lidig wurt / das m[i]r gefuxglichen were). Dieses ‚Bittgesuch‘ könnte auf eine finanzielle Notlage Laubers hindeuten, die sich aus der Verlegung der Landvogtei von Hagenau nach Lützelstein im Jahr 1455 und dem damit verbundenen Verlust des unmittelbaren Kontakts zur Kundschaft ergeben haben mag.115 Der Brief wäre in diesem Fall also gerade in einer Krisen- bzw. Umbruchphase der Werkstatt entstanden, in der sich Lauber vielleicht mit dem Gedanken gespielt hatte, seinen Betrieb zugunsten einer sichereren Anstellung aufzugeben. 2.1.3 Werkstattphasen Die Momentaufnahme des Lauber’schen Briefs deutet somit bereits darauf hin, dass der Hagenauer Handschriftenbetrieb über die Jahre hinweg wohl keineswegs unverändert geblieben ist und mitunter auch Umbrüche erlebt hat. Gegen die früher oft bedenkenlos vorausgesetzte Annahme einer stets gleichförmigen Produktion, die nicht zuletzt die Vorurteile über eine stereotype, ‚maschinelle‘ Handschriftenherstellung impliziert, hat insbesondere Saurma-Jeltsch Einspruch erhoben; dies forciert in ihrer Habilitationsschrift, die den vorläufigen Abschluss einer in zahlreichen Einzelstudien dokumentierten intensiven Beschäftigung mit der Werkstätte darstellt.116 In ihr versucht sich Saurma-Jeltsch 114 Zudem sollte der potentielle Auftraggeber die Kosten für das Malen und Einbinden x der Bücher übernehmen (das ir geben den ko*ten zu m[o]l[en] Vnd Jn zu´ binden), was sich darauf zurückführen lassen dürfte, dass diese beiden Arbeitsschritte erheblich teurer waren als das Schreiben der Bücher. Die Angabe spricht neben anderen Indizien (wiederkehrende Verwendung gleichartiger Makulatur, verwandte Einbände) auch dafür, dass Lauber in engem Kontakt mit einer Buchbinderwerkstatt stand. Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 88–91. Manche der Bücher erhielten also wahrscheinlich noch von der Werkstatt bzw. dem angebundenen Betrieb einen eigenen Einband. Da sich die Kosten durch dieses Einbinden beträchtlich erhöht haben, ist in diesen Fällen wohl eindeutig von Arbeiten auf Bestellung durch einen Auftraggeber und nicht von einer Produktion für einen ‚offenen‘ Buchmarkt auszugehen. In letzterem Fall wären die Handschriften ungebunden verkauft worden. 115 Vgl. Hanauer, Diebolt Lauber et les calligraphes, S. 421; Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 69. Die Datierung des Briefs wäre in diesem Fall also später anzusetzen, als Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 7–8, vermutet hatte. 116 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Zur Forderung nach einer differenzierten Betrachtung auf dem Gebiet der häufig in der Werkstätte hergestellten Historienbibeln vgl. auch von Bloh: „Die vielfältigen und voneinan-

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verstärkt an einer zeitlichen Differenzierung einzelner Produktionsphasen des Betriebs. Dabei erweist sich schon die Frage nach dem Beginn der Tätigkeit Laubers als schwierig, da eine genaue Abgrenzung zu der so genannten ‚Werkstatt von 1418‘, einem in Ansätzen ähnlich arbeitendem Vorgängerbetrieb der Lauberwerkstätte, nur schwer möglich ist.117 Lauber selbst als Schreiber lässt sich erst ab der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre nachweisen.118 Ob er zu dieser Zeit schon Organisator der Werkstatt war, ist letztlich nicht zu sichern. Die erhaltenen Bücheranzeigen von seiner Hand, die auf seine führende Rolle hinweisen, sind erst ab der Mitte des Jahrhunderts entstanden. Es wäre immerhin möglich, dass die Leitung des Betriebes im Laufe der Jahre gewechselt hatte oder von Anfang an nicht Lauber allein, sondern einer Gruppe von Personen unterlag. Letztlich ist nicht einmal sicher, ob die Werkstätte die ganze Zeit in Hagenau angesiedelt war. Schon aufgrund der makulierten Urkunden ist es aber wahrscheinlich, dass sich der Arbeitsort zumindest im Umkreis von Hagenau und Straßburg befunden haben muss. Nach Auswertung unterschiedlichster Kriterien (Papierverwendung, beteiligte Schreiber, Einbände, Makulatur etc.) gelangte Saurma-Jeltsch zu einer Einteilung in drei bzw. vier zeitliche Abschnitte. Auf eine „Zeit des Übergangs oder der parallelen Arbeit der Lauberwerkstatt und derjenigen von 1418“ folgen drei Phasen der eigentlichen Lauber’schen Produktion: [1.] eine Konsolidierung in den späten zwanziger und dreißiger Jahren, [2.] eine Erweiterung in den vierziger und fünfziger Jahren und [3.] eine Rückkehr zur kleineren, aber wesentlich sorgfältigeren Produktion in den sechziger Jahren. In diesen Abschnitten dürften sich die Kontakte unter den Teilnehmern jeweils sehr der abweichenden Belegbeispiele in den Historienbibeln widerstehen dem Versuch, daraus eine Norm oder eine generelle Organisation des Arbeitsablaufs in einer spätmittelalterlichen Werkstatt abzuleiten. Deshalb muß jede Historienbibel für sich betrachtet werden“ (vgl. Dies., Die illustrierten Historienbibeln, S. 208). Der Umstand, dass die Zusammenarbeit der Zeichner und Schreiber „sich nicht pauschal charakterisieren“ lässt und „flexibel nach Bedarf geregelt“ wurde, wird zudem auch bei Rapp angedeutet (vgl. hier Andrea Rapp, Die Standardisierung eines mittelalterlichen Textes durch den Verleger, S. 99). 117 Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 75. Ausführlich zur ‚Werkstatt von 1418‘ ebd., S. 5–59. 118 In den ‚Otto von Passau‘-Fragmenten aus Regensburg und Los Angeles. Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 87 und Bd. 2, S. 138 bzw. 139–140. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 60, Anm. 1, möchte die Beteiligung Laubers bis ins Jahr 1427 nachweisen, da er die Schrift des sich im datierten Kölner Plenar (Historisches Archiv, Best. 7010 (W) 251) selbst nennenden Schreibers Diebold de Dachstein für identisch mit derjenigen Diebold Laubers hält. Gegen diesen Zusammenhang hat sich jedoch SaurmaJeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 72, ausgesprochen.

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I Einleitung verschieden gestaltet haben. Wegen der zunehmend normierten Arbeitsweise, der komplexer werdenden Organisation der Arbeit und der immer deutlicheren Gestaltung des Produkts als ‚Markenartikel‘ [muss] eine zentral koordinierende Stelle angenommen werden.119

Trotz aller Schwankungen lässt sich nach Saurma-Jeltsch also eine Konstante in der Produktion benennen, nämlich die Ausbildung eines gleichförmig ausgestatteten ‚Markenartikels‘. Saurma-Jeltsch greift hier auf bereits früher – von ihr selbst und insbesondere von Andrea Rapp120 – gemachte Beobachtungen zu den ‚Markenzeichen‘ der Lauber’schen Handschrifteneinrichtung zurück und vervollständigt diese bzw. unterzieht sie einer zeitlichen Differenzierung: Der ‚Markenartikel‘ wird in der ersten Phase entwickelt, erscheint in der zweiten Phase etabliert, und wird in der dritten Phase schließlich durch neue Ausdrucksformen abgelöst.121 Die volle Ausprägung dieses standardisierten Handschriftentyps ist zunächst durch die bereits erwähnte Gliederung des Textes mit ganzseitigen Illustrationen und roten Überschriften gekennzeichnet.122 Inhaltlich sind diese zumeist eher handlungsferne, plakative ‚Situationsetiketten‘.123 Zusätzlich finden sich in der prononciertesten Form auch ein vorangestelltes Register,124 das die Bildtitel anhand einer Nummerierung in römischen Zahlen aufgreift,125 eine Eingangsillustration126 und eine gemalte Eingangsinitiale. Das Register führt in manchen Fällen zu Beginn den Werktitel auf und weist auf die Ausstattung des Textes mit den figuren gemolet hin.127 Der Beschreibstoff der Handschriften ist in der Regel 119 Ebd., Bd. 1, S. 92. 120 Vgl. Rapp, Standardisierung eines mittelalterlichen Textes; und Dies., bücher gar hu´bsch gemolt. Zu den möglichen Vorbildern des Lauber’schen Layouts vgl. ebd., S. 185–230. 121 Vgl. zusammenfassend Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 224–227. 122 Zur Beschreibung der gliederungstechnischen Einrichtung insbesondere der Historienbibeln vgl. Rapp, Standardisierung eines mittelalterlichen Textes, S. 100–105; und Dies., bücher gar hu´bsch gemolt, S. 154–185. 123 Vgl. hierzu ausführlich unten, Kap. IV, 3.2.1, S. 304. 124 Vgl. Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 180–183. 125 Die Zählung des Registers korrespondiert dabei mit der Zählung der Überschriften im Text. Vgl. ebd., S. 174–175. 126 Vgl. ebd., S. 157–160. 127 Zu den Werkankündigungen vgl. von Bloh, Die illustrierten Historienbibeln, S. 162–172; Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 154–160; und Dies., Standardisierung eines mittelalterlichen Textes, S. 100–101. Sie erfüllen laut Rapp bereits eine ähnliche Funktion wie die später aus „einer buchhändlerischen Notwendigkeit“ heraus entstandenen differenzierenden Titel bzw. Titelblätter des Buchdrucks, da sie die einzelnen Texte referenzierbar machen. Zudem erhält der interessierte Kunde

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Papier; für den ‚Markenartikel‘ wurde also nicht der Typus der pergamentenen Prunkhandschrift gewählt. Mit Hilfe der großzügigen einspaltigen Einrichtung und der ganzseitigen Illustrationen wurde aber offenbar dennoch ein ähnliches gehobenes Anspruchsniveau angestrebt, das nun auf eine neuartige, der modernen Papierhandschriftenproduktion angemessenere Weise erreicht werden sollte.128 Schließlich begegnen noch vereinzelte weitere Konstanten: Einige Exemplare weisen gleich geartete Einbände,129 ähnliche Makulatur und einen gemeinsamen Papierbestand auf. Bei den beteiligten Schreibern ergeben sich zum Teil ähnliche Überschneidungen in der Zusammenarbeit wie bei den Illustratoren.130 Das Auftreten dieses ‚Markenartikels‘ wird somit zum entscheidenden Kriterium, das den Zusammenhalt des Forschungskonstrukts der Lauberwerkstätte überhaupt gewährleistet. Gerade die viel kritisierte Standardisierung stellt demnach die grundlegende Leistung dar, die eine mit dem Namen Laubers verknüpfte zentrale Organisationsstelle erst hervortreten lässt bzw. deren Annahme unabdingbar notwendig macht.131 Mit dieser Zurückweisung des ahistorischen

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in zum Teil ausführlichen Werkankündigungen einen raschen Überblick über den Inhalt des Codex. – Vgl. allgemein zu deutschsprachigen mittelalterlichen Werkbezeichnungen Düwel, Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur, zum Titel grundlegend Schröder, Aus den Anfängen des deutschen Buchtitels. Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 236. Dies deutet nach Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 88–91, auf die Assoziierung eines eigenen Betriebs hin, der für das Einbinden zuständig war. Vgl. zusammenfassend Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 91. Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 114–146, identifiziert bei den Historienbibeln aus der Werkstatt 19 verschiedene Schreiberhände. – Eine weitere charakteristische Eigenheit einiger Handschriften stellt eine besondere Art der Papierverwendung dar, die darin besteht, dass die einzelnen Lagen aus jeweils zwei auf Pergamentfalzen befestigten ganzen Doppelblattbögen zusammengesetzt sind (vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 78). Dadurch ergibt sich eine Verdoppelung des normalen Folio-Formats, durch die wohl ein besonderer Anspruch in der Gestaltung demonstriert werden sollte. Diese Eigenheit findet sich jedoch nicht bei den ›Parzival‹-Handschriften. Ob damit im Umkehrschluss auf eine gegenüber diesen Großcodizes nur sekundäre Bedeutung geschlossen werden kann, lässt sich aber nicht sichern. Die Ausstattung dürfte bei weltlichen epischen Werken grundsätzlich seltener zur Anwendung gekommen sein, so sind etwa die Handschriften Bonn Cod. S 500 (›Karl der Große‹) und Heidelberg Cpg 362 (›Flore und Blanscheflur‹) in normalen Bögen gebunden. Die Handschriften des ›Trojanerkrieges‹ (Berlin, SBPK, Mgf 1, Würzburg, UB M. ch. f. 24, Leutkirch ZAMs 37) weisen allerdings ausnahmslos Übergröße auf. Der Befund der Gleichförmigkeit wurde insbesondere in der älteren Forschung mit

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Originalitätsanspruchs hat die neuere Forschung unzweifelhaft zugleich den Weg frei für eine angemessene Bewertung des Lauber’schen Betriebes gemacht wie überhaupt die Grundlage für eine einigermaßen verlässliche Abgrenzung der Hagenauer Produktion geschaffen. Christoph Fasbender hat allerdings in jüngster Zeit darauf verwiesen, dass durch dieses Modell das Urteil über die ‚Stereotypie‘ der Produkte genau genommen lediglich umgewertet, aber noch nicht abgelöst wird.132 Wo genau die Einzelhandschriften der Lauberwerkstätte im Spannungsfeld zwischen Gleichförmigkeit und Individualität zu verorten sind, ist daher stets von neuem zu bestimmen. Die Verwandtschaft in der „äusseren Anlage“ der Handschriften galt ja schon Kautzsch als Kriterium;133 dieser Umstand geht im Bemühen Saurma-Jeltschs um eine Dekonstruktion des ‚kunsthistorischen Topos‘134 der Lauberwerkstätte etwas verloren. Es soll immerhin erwähnt werden, dass die Identifizierung der ‚typischen‘ Einrichtung eines Laubercodex die letztlich bereits bei Hanauer angedeuteten methodischen Probleme135 der Zuordnung von Handschriften zu

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einem abwertenden Urteil über die Qualität der Handschriften verbunden. Prägend war hier schon Mone, Geschichtliche Notizen, S. 255, der die Verknüpfung der Attribute „handwerksmäßig“, „roh und schlecht“ sowie „auf den Kauf gemacht“ vorgab (vgl. zu den Negativurteilen zusammenfassend Stamm-Saurma [= SaurmaJeltsch], Zuht und wicze, S. 42–43). Demgegenüber sieht Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 229–230, gerade in der Stereotypie die Errungenschaft Laubers: „Gerade die Gleichförmigkeit, die den Lauberhandschriften in der älteren Forschung immer vorgeworfen wurde, ist die besonders hervorzuhebende Leistung, mit der der Verleger für die volkssprachige Literatur in neuer Weise ein eigenes Qualitätsprodukt geschaffen hat, was ihn schließlich zu einem erfolgreichen Verleger werden ließ. Die Gleichförmigkeit ist hier ein Garantieversprechen für einen sorgfältig geschriebenen Text mit einem bestimmten Ausstattungsniveau. Gleichzeitig wird der Text für jeden möglichen Benutzer offen, [. . .], die tatsächliche Benutzbarkeit steht im Vordergrund“. Von Bloh, Die illustrierten Historienbibeln, S. 216, macht darauf aufmerksam, dass das Prinzip der Wiederholung keinesfalls den mittelalterlichen ästhetischen Vorstellungen entgegenläuft. Auch sie weist auf die positiven Auswirkungen der stereotypen Ausführung der Bilder hin, die eine leichtere Lesbarkeit und Wiedererkennbarkeit ermöglicht (ebd., S. 220). Gerade die Gleichförmigkeit könnte also den Erfolg beim Publikum bewirkt haben. Dieser Erfolg hatte schon Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber, S. 142, zur Warnung davor veranlasst, die Lauber’schen Erzeugnisse „als ‚kunstlos‘ abzutun und ihnen in ständiger Wiederholung jeden ästhetischen Wert abzusprechen“, hatten die Produkte doch offensichtlich den Geschmack des Publikums getroffen. Fasbender, Hu´bsch gemolt – schlecht geschrieben?, S. 70. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 2. So die Bezeichnung der Lauberwerkstatt in der Überschrift zum IV. Kapitel der Arbeit von Saurma-Jeltsch (Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 61). Vgl. dazu oben, S. 18.

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einer Werkstatt nicht völlig löst. So wäre etwa denkbar, dass die in den Bücheranzeigen erwähnte Produktion lateinischer Handschriften, von denen sich heute kaum noch Spuren finden lassen, anderen formalen Kriterien verpflichtet war. Es ist bekannt, dass bei lateinischen Texten und deren wohl andersgeartetem Publikumskreis durchaus unterschiedliche Strategien der Texterschließung angewandt werden können, die weniger auf Verständniserleichterung (etwa durch Illustrierung und Gliederung) ausgelegt sind.136 Eine Identifizierung anhand der typischen Einrichtung ist also unter Umständen bei lateinischen Lauberhandschriften unmöglich.137 Die Festlegung eines Typus und die daran anschließende Einordnung von Exemplaren ist und bleibt ein Zirkelschluss, der sich aber letztlich nicht überwinden lässt. Wie bereits angedeutet, richtet sich der von Saurma-Jeltsch unternommene Versuch, die Lauberforschung auf eine neue Grundlage zu stellen, vor allem gegen die Übertragung eines allzu modernen ‚Werkstatt‘-Begriffs, der mit einer immer gleichförmigen, fabrikmäßigen bzw. kapitalistisch-rationalisierten Produktionsweise assoziiert wird. Sie betont daher insbesondere jene Aspekte, die darauf hinweisen, dass sich die Lauber’sche Produktionsform von der „üblichen Vorstellung einer Werkstatt“138 unterschieden hat. Während sie etwa für die erste Phase den ‚Werkstatt‘-Begriff „im Sinne einer räumlichen Verbindung der Mitarbeiter“ lediglich für die Maler gelten lässt, „nicht aber für den gesamten Verband aller an der Arbeit beteiligten Kräfte“139 erscheint ihr die Organisationsform der zweiten Phase sogar noch weiter entfernt, so dass es zutreffender sei, von 136 Vgl. etwa Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 46. 137 Es verbleiben zwar noch die ‚handfesteren‘ Merkmale Einband, Makulatur und Schreiber. Diese sind jedoch erstens keine notwendigen Kriterien und zweitens weniger offensichtlich, daher auch noch weniger erforscht. Zur Problematik der Identifizierung von lateinischen Lauberhandschriften vgl. Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 38 und insbesondere S. 46. 138 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 111. Mit diesen ‚üblichen Vorstellungen‘ sind genauer wohl die Annahmen über eine „Gemeinsamkeit des Ortes“ und eine „Kontinuität der Personen oder zumindest der Produkte“ gemeint, vgl. ebd., S. 222. Diese Kontinuität lasse sich im Falle Laubers nicht, „oder jedenfalls nicht für die gesamte Zeit der Tätigkeit dieser Organisation feststellen.“ Zudem richtet sich die Kritik am ‚Werkstatt‘-Begriff gegen die z. B. bei Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 34; und Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 187–192, ersichtliche Vorstellung, im Lauber’schen Werkbetriebe sei arbeitsteilig und auf Vorrat produziert worden. Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 106–114, weist darauf hin, dass es der germanistischen Forschung bislang noch nicht genügend gelungen ist, das Phänomen der Schreiberwerkstatt genauer zu fassen. In der Literaturwissenschaft sind die ‚üblichen Vorstellungen‘ von Ateliers daher besonders unklar. 139 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 108.

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einem „Produktionszirkel“ zu sprechen, mit dem eine „elastische Zusammenfügung von nur lose oder gar nicht miteinander verbundenen Kräften“ gemeint ist, „die unter der Koordination eines Unternehmers einzelne Aufgaben bei der Herstellung eines Produkts erfüllen“. Diese „Kombination eines noch werkstattähnlichen Kleinbetriebs mit einer variablen Zahl unverbundener, jeweils nach den Bedürfnissen verfügbarer Mitarbeiter“ lässt sich nach Saurma-Jeltsch dabei einordnen in allgemeine wirtschaftliche Entwicklungen des 15. Jahrhunderts, die auch anderorts zur Ausprägung ähnlicher Arbeitsorganisationsformen geführt haben.140 Dennoch ist für beide Phasen die Existenz einer zentralen Organisationsstelle, die die Produktion koordiniert, und eines – wie lose auch immer – verbundenen Mitarbeiterstabs nicht zu leugnen.141 Die Abfolge der unterschiedlichen Betriebsphasen der Lauberwerkstätte dürfte sich nicht zuletzt auf eine Veränderung der ökonomischen Voraussetzungen zurückführen lassen. In der ersten Phase hat sich die Werkstatt Saurma-Jeltsch zufolge vor allem auf die Produktion von Historienbibeln spezialisiert und auf diese Weise eine gut abschätzbare Kundschaft gesichert. Die zweite Phase, die von einer Ausweitung des Sortiments auf historische, naturwissenschaftliche, juristische und epische Texte geprägt ist, kann als eigentliche Blütephase des Unternehmens bezeichnet werden. Sie wurde vermutlich in erster Linie durch die Kontakte zu den hochgestellten Persönlichkeiten des südwestdeutschen Raums

140 Ebd., S. 111. 141 Zur Organisationsstelle vgl. ebd., insbesondere S. 108 und 111 f. Zu den nur spekulativ erfassbaren „graduelle[n] Unterschiede[n] zwischen dem Status eines gelegentlichen, eines geschäftlich vertrauten oder eines fest verbundenen Mitwirkenden“ vgl. ebd., S. 135. Anstelle des ‚Werkstatt‘-Begriffes schlägt SaurmaJeltsch vier unterschiedliche Termini gemäß ihrer Phasen-Differenzierung vor: Auf den ‚Materialverlag‘ der Werkstatt von 1418 folgt der ‚Kleinbetrieb‘ in der ersten Phase, der bereits genannte ‚Produktionszirkel‘ in der zweiten, und schließlich die ‚Gelegenheitsgesellschaft‘ in der dritten (vgl. ebd., S. 225–227). Wenn in der vorliegenden Arbeiten trotzdem durchgängig von der Lauber-‚Werkstatt‘ gesprochen wird, dann geschieht dies aus pragmatischen Gründen, und nicht, um in die ‚üblichen Vorstellungen‘ zurückzufallen. Die sicher notwendige begriffliche Unterscheidung kann hier als immer mitgedacht vorausgesetzt werden, und muss nicht ähnlich energisch vertreten werden wie in Saurma-Jeltschs Neuorientierung der Forschung (auch Saurma-Jeltsch verzichtet zudem nicht gänzlich auf die Verwendung des ‚Werkstatt‘-Begriffs. Vgl. auch die Kritik an den Dekonstruktionsversuchen Saurma-Jeltschs von Fasbender, [Rezension zu] Lieselotte E. Saurma-Jeltsch; und Ders., Werkstattschreiber). Da darüber hinaus alle drei Parzival-Handschriften in die zweite Produktionsphase – also in den Zeitraum des ‚Produktionszirkels‘ – fallen, lässt sich bei ihnen eine Differenzierung ohnehin erst auf der Ebene der Einzelhandschriften profilieren.

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ermöglicht, wie sie im Lauberbrief (A) dokumentiert sind. Die mit der Erweiterung der Produktion einhergehende Erschließung neuer Kundenkreise dürfte sich auf einer relativ soliden finanziellen Basis vollzogen haben.142 Dennoch wurde offensichtlich auch in dieser Periode nicht für ein gänzlich unbekanntes und unvorhersehbares Publikum auf Vorrat produziert, sondern ein Abnehmerkreis im Umfeld der Landvogtei gesucht. Die Handschriften wurden wohl auch weiterhin auf Auftrag, und nicht für einen ‚freien Markt‘ geschrieben.143 Dieser gesicherte Absatzmarkt könnte mit der Verlegung der Landvogtei nach Lützelstein 1455 verloren gegangen sein, ist doch die letzte Phase des Lauberbetriebs durch einen Produktionseinbruch gekennzeichnet.144 Offenbar als Reaktion auf die Krise lassen sich eine Abkehr von den früher praktizierten Herstellungsmethoden und die Suche nach neuen formalen Ausdruckmöglichkeiten beobachten. Nach Saurma-Jeltsch begegnen in der letzten Phase auch ‚Halbfertigprodukte‘: bei einigen Codizes wurde die Illustrierung noch nicht ausgeführt, vielleicht weil noch Unklarheit über die formale Neuausrichtung herrschte. Insgesamt lässt sich aber eine Zurückdrängung und allmähliche Abkehr vom standardisierten ‚Markenartikel‘ feststellen. Ihm gegenüber wird die Eigentümlichkeit und Kostbarkeit der zum Teil nun aufwendiger gestalteten Codizes betont, offenbar auch, um den neu aufkommenden Produktionsmethoden des Buchdrucks entgegenzutreten.145 Am Schluss der Geschichte der ‚Werkstatt‘, den Saurma-Jeltsch in den späten Sechzigern ansetzt, steht somit eine Re-Individualisierung, in die sich der Werkverband auflöst.146

142 Indizien hierfür liefert etwa der aus der Gleichartigkeit der Wasserzeichen zu erschließende umfangreiche Papiervorrat, der der Werkstatt in dieser Phase zur Verfügung stand, vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 135. 143 Vgl. ebd., S. 235. 144 Vgl. ebd., S. 151. 145 Vgl. hierzu auch von Bloh, Die illustrierten Historienbibeln, S. 229. 146 Nicht zuletzt, da die Konstante des ‚Markenartikels‘ an Kontur zu verlieren beginnt, stellt Saurma-Jeltsch die Frage, inwieweit in dieser letzten Phase überhaupt noch von einer zentralen Koordination ausgegangen werden kann. Auch die Rolle Diebold Laubers als Organisator in dieser Zeit wird Saurma-Jeltsch fraglich. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Tatsache, dass sich manche der von der Forschung behaupteten Verbindungen nicht beweisen lassen, noch nicht per se gegen ihre Existenz sprechen: Nur weil Lauber als Organisator nicht nachzuweisen ist, lässt sich eine solche Stellung nicht ausschließen. Die Annahme, dass Lauber sich „weitgehend auf seine eigenen Abschriften beschränkt“ habe (SaurmaJeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 227) ist kaum besser zu belegen als jene, er sei seiner Position treu geblieben.

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2.2 Der Straßburger Frühdrucker Johann Mentelin 2.2.1 Biographie eines Aufsteigers Zu den führenden Repräsentanten der während der letzten Phase der Lauberwerkstatt neu aufgekommenen und möglicherweise konkurrierenden Buchdruckerkunst zählt zweifellos der Straßburger Prototypograph Johann Mentelin.147 Bereits Zeitgenossen strichen die Bedeutung Mentelins hervor, wobei sich insbesondere von humanistischen Dichtern positive Äußerungen erhalten haben. Neben Lobgedichten von Rudolf von Langen und einem Verfasser namens Sigismundus148 sind vor allem die Bemerkungen Jakob Wimpfelings in seiner ›Epithoma rerum Germanicarum‹ bekannt geworden, wonach Gutenberg zwar als inventor, Mentelin aber als erster erfolgreicher Anwender der Druckerkunst zu gelten habe (id opificii genus inceptans), der durch das neue Verfahren binnen kurzem sehr reich geworden sei (imprimendo factus est brevi opulentissimus).149 Wimpfelings Hervorhebung des unternehmerischen Erfolgs ist keineswegs als topisch zu unterschätzen, denn Mentelins Lebensgeschichte ist in der Tat die eines beachtlichen Aufstiegs. Mentelin wurde um 1410 in Schlettstadt als Sohn von Nicolaus und Elisabeth Mentelin geboren.150 Er stammte vermutlich aus einer alteingesessenen Bürgerfamilie, die seit dem 14. Jahrhundert bezeugt ist. Wohl noch vor 1447 übersiedelte er nach Straßburg, wo er am 19. April 1447 durch Kauf das Bürgerrecht erwarb. Wie aus dem entsprechenden Vermerk im alten Bürgerbuch hervorgeht, trat Mentelin in die Schilter- oder Malerzunft ein.151 In einem Straßburger Zollbuch wird er als Herr Johans Mentele Goltschriber bezeichnet. Schorbach nahm an, er habe demnach „die Kunst erlernt, kalligraphisch hergestellte Handschriften zu illuminieren, sie mit farbigen Initialen auf Goldgrund zu versehen und außerdem mit zierlichen Randornamenten (kolorierten Federzeichnungen und Anderem) 147 Zum Teil ist auch die Kurzform ‚Mentel‘ überliefert. Vgl. zu Mentelin noch immer die grundlegende Arbeit von Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin; ferner den Artikel von Peter Amelung, ‚Mentelin‘, in der NDB. 148 Es handelt sich wahrscheinlich um Sigismund Meisterlin, der als Käufer eines Mentelin’schen Terenz-Drucks nachgewiesen ist. Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 223–226. Dort auch Abdruck der beiden Gedichte. 149 Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 220; und Mertens, Eine Mentelin-Handschrift, S. 170. 150 Vgl. zum Folgenden Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 6–35. 151 Zitiert ebd., S. 8: Item Johanns Mentelin hat das Burgreht koufft Tercia post Quasimodo, vnd wil dienen mit den Molern.

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auszuschmücken.“152 Mit dem Titel des ‚Guldenschreibers‘ wurden vom 15. Jahrhundert an aber häufig auch Schreiber, Schreib- oder Rechenlehrer bezeichnet.153 Dass Mentelin in jedem Fall Schreibarbeiten durchführte – und dabei überdies auch über solide Lateinkenntnisse verfügt haben musste – bestätigt seine Bestellung zum bischöflichen Notar bei dem aus dem Lauber-Brief bekannten Straßburger Bischof Ruprecht von der Pfalz-Simmern. In Dokumenten aus der Mitte des 15. Jahrhunderts wird Mentelin als notarius et scriba genannt. Mentelin diente demnach also demselben Herren, in dessen Auftrag Handschriften der Lauberwerkstatt entstanden sind. Während Schorbach noch das Fehlen von Schriftstücken, die Mentelin verfasst hatte, beklagen musste, konnte Dieter Mertens eine zweibändige, nur teilweise illustrierte Abschrift der ›Vita Christi‹ Ludolfs von Sachsen ausfindig machen, in der sich Mentelin als Kopist zu erkennen gibt.154 Die Existenz dieser bereits vor der Mitte des Jahrhunderts geschriebenen Handschrift legt nahe, dass die Bezeichnung Mentelins als Goltschriber in der späteren Bedeutung als die eines Schreibers aufzufassen ist.155 Dafür, dass Mentelin darüber hinaus auch als Illuminator tätig gewesen wäre, gibt es hingegen keine Belege, Illustrationen mit seinem Namen sind nicht erhalten. Zu Beginn seiner Karriere war Mentelin also wahrscheinlich Berufsschreiber, der für seine Abschriften zum Teil sogar nur nach Stückzahlen entlohnt wurde.156 Der Gedanke, die Rendite durch Erhöhung der Produktion auf neuem, drucktechnischen Weg zu steigern, muss daher für Mentelin sehr nahe gelegen haben.157 Im Dienste Bischof Ruprechts lernte Mentelin vermutlich seinen späteren Berufskollegen Heinrich Eggestein kennen, der das bischöfliche Insiegleramt innehatte und somit einer der Vorgesetzten des notarius Mentelin war.158 Eggestein hatte also eine höhere soziale Stellung als Mentelin inne und verfügte dementsprechend über größere finanzielle Mittel, die er für die Errichtung der ersten

152 Ebd., S. 8. 153 Vgl. Dieter Mertens, Eine Mentelin-Handschrift, S. 180; sowie den entsprechenden Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch. 154 Vgl. Mertens, Eine Mentelin-Handschrift. Die Handschrift ist heute in der British Library in London unter der Signatur Ms. Add. 10935 aufbewahrt. Abbildung des Kolophons (Per man(us) Johannis mentilij Anno d(o)m(ini) M o cccc o xliiij o Jn vigilia pasche etc.) ebd., S. 187. 155 Vgl. ebd., S. 181. 156 Darauf deutet ein in der Mentelin-Abschrift der ›Vita Christi‹ erhaltener Rechnungsbeleg hin, vgl. ebd., S. 183–185. 157 Vgl. ebd., S. 184. 158 Vgl. ebd., S. 180–181.

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Straßburger Druckerei aufgebracht haben könnte, in der Mentelin möglicherweise als sein Partner wirkte.159 Die Verdienstmöglichkeiten des früher nach Stückzahlen entlohnten Goldschreibers Mentelin dürften sich durch den Einsatz der neuen Vervielfältigungstechnik bald gebessert haben.160 Dennoch behielt Mentelin, auch nachdem er Drucker geworden war, zunächst die Position als Notar bei. Ab dem Jahr 1461 sind einige Abrechnungsbelege seiner Drucke erhalten, in denen er weiterhin als notarius bezeichnet wird.161 Wie bei seinem Kollegen Eggestein hatte Bischof Ruprechts offensichtlich nichts gegen die ‚Nebentätigkeit‘ seines Beamten einzuwenden und diese mit Wohlwollen verfolgt. Erst am 4. Oktober 1468, zu einer Zeit, in der sich die Produktion seiner Presse intensivierte, wurde Mentelin durch den Baccalaureus Stephan Widersdorff im Amt ersetzt. Zu diesem Zeitpunkt war Mentelin offenbar schon derart erfolgreich, dass er die Einkünfte aus dem Notariats-Dienst nicht mehr benötigte. Bereits zuvor, vielleicht schon 1463/64, spätestens aber 1466, hatte sich Mentelin auch von Eggestein getrennt, was ebenfalls darauf schließen lässt, dass er eine ausreichende finanzielle Basis erworben hatte, die zur Führung eines eigenen Betriebs nötig war.162 Mentelins Ambitionen beschränkten sich jedoch offensichtlich nicht bloß auf das unternehmerische Gebiet, sondern betrafen auch den sozialen Status. Ein deutlicher Hinweis hierauf erschließt sich aus der Betrachtung seiner ‚Heiratspolitik‘: Insgesamt war Mentelin zweimal verheiratet.163 In seiner ersten Verbindung, die wahrscheinlich noch vor seinem Umzug nach Straßburg zustande kam,164 ‚begnügte‘ er sich noch mit einer nicht näher bekannten Bürgerlichen mit dem Namen Magdalene. Dieser Ehe entstammten zwei Töchter, die in den Siebziger Jahren mit den Straßburger Druckern Adolf Rusch und Martin Schott verheiratet wurden, welche ihr Gewerbe vermutlich in der Mentelin’schen 159 Sichere Hinweise darauf gibt es nicht, für die Kooperation mit Eggestein sprechen jedoch die nachweisbare Zusammenarbeit der Buchführer der beiden Druckherren sowie die Kompatibilität ihrer Verlagsprogramme. Vgl. Geldner, Unbekanntes vom ältesten Straßburger Buchdruck, S. 117–119; und Mertens, Eine MentelinHandschrift, S. 181. Auf eine enge Verbindung der Drucker, nicht aber unbedingt auf eine Zusammenarbeit deutet auch ein heute verlorener Vertrag zwischen Mentelin und Eggestein hin, von dem der Humanist Hieronymus Gebwiler 1521 berichtet. Darin verpflichten sich die beiden Drucker, das neue Verfahren geheim zu halten. Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 38–39. 160 Vgl. Mertens, Eine Mentelin-Handschrift, S. 184–185. 161 Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 9–13. 162 Vgl. Geldner, Unbekanntes vom ältesten Straßburger Buchdruck, S. 119. 163 Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 13–14. 164 Hätte Mentelin erst in Straßburg geheiratet, hätte er das Bürgerrecht nicht erst käuflich erwerben müssen.

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Offizin erlernt hatten.165 Um 1460 starb Magdalene. 1466, also in der Zeit, in der Mentelin offenbar schon finanziell genug abgesichert war, um sich von Eggestein zu trennen, heiratete er als zweite Frau die Patrizierin Elisabeth von Matzenheim, die aus einem seit dem 14. Jahrhundert belegten Adelsgeschlecht stammte. Im selben Jahr, am 27. Oktober 1466, erhielt Mentelin von Kaiser Friedrich III. ein Familienwappen verliehen, das in Nachbildung des Schlettstädter Wappens, jedoch mit anderer Farbgebung, einen gelben Löwen im roten Schild zeigt.166 Wie Schorbach darlegt, gibt es keine Gründe zur Annahme, der Kaiser hätte Mentelin das Wappen als Anerkennung für seine buchdruckerischen Leistungen zugedacht. Die Initiative ging demgegenüber offensichtlich vom aufstiegswilligen Mentelin selbst aus: „Aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgte vielmehr die Wappenverleihung an Mentelin auf sein Ansuchen in Wien und gegen die Entrichtung der üblichen taxa.“167 Die Verbindung zwischen adeligem Konnubium und Erwerb des Wappenbriefs ist kaum zu übersehen. Schon Schorbach hatte einen Zusammenhang zwischen Mentelins zweiter Heirat mit einer Patrizierin und der Wappenverleihung hergestellt: Auf die Frage, wodurch wohl Mentelin veranlaßt wurde, sich um das kaiserliche Privilegium zu bewerben, gibt es eine sehr naheliegende Antwort. Zu jener Zeit hatte nämlich unser Meister die Patrizierin Elisabeth von Matzenheim als zweite Gattin heimgeführt. Ihrer Einwirkung wird man es mit großer Wahrscheinlichkeit zuschreiben dürfen, daß Mentelin damals danach strebte, ein eigenes Familienwappen für sich und seine Nachkommen zu besitzen und lehensfähig zu werden.168

Inwieweit es der ‚Einwirkung‘ der Elisabeth von Matzenheim bedurfte, mag dahingestellt sein; in jedem Fall beweisen sowohl die ‚Heimführung‘ der Patrizierin als auch der Wappenkauf Mentelins Ambitionen, sich nach außen hin 165 Zur Etablierung und weiteren Entwicklung der Mentelin’schen ‚printing dinasty‘ vgl. auch Chrisman, Lay Culture, S. 15–16. 166 Vgl. das Faksimile des entsprechenden Eintrags im Registraturbuch Friedrichs III. bei Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, Tafel I. Der Wappenbrief ist nicht mehr erhalten. 167 Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 21. 168 Ebd., S. 21. Dass Mentelin gleichzeitig mit dem Wappenbrief auch die Lehensfähigkeit erlangte, erschließt Schorbach aus der Schlussformel des Registraturbucheintrags, die darauf hinweist, dass der Wappenbrief vt in forma cum artic[u]lo der lehenschaft etc. verliehen wurde. Vgl. auch die eng an Schorbach angelehnte Darstellung von Wolf, Untersuchungen zur Literatursoziologie des deutschen Buches, S. 157: „Man sieht, daß der Drucker Wert darauf legte, seine geachtete Stellung auch öffentlich anerkannt zu sehen; die Eheschließung mit der Patrizierin mochte der unmittelbare Anlaß dafür sein, sichtbar zu beweisen, wie weit er es gebracht hatte.“

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sichtbar in die Welt des Adels einzufügen.169 Das Mentelin’sche Wappen befand sich daher auch – zusammen mit dem althergebrachten Matzenheim’schen Wappen – auf einem Gedenkstein, den Mentelin 1473 anlässlich des Ablebens seiner zweiten Frau im Kreuzgang des St. Wilhelmsklosters errichten ließ.170 Dass die neu erworbene Familientradition zudem in den folgenden Generationen hochgehalten wurde, zeigt das Beispiel von Mentelins ebenfalls in Straßburg druckendem Enkel Johann Schott, der einige seiner Erzeugnisse mit dem Familienwappen schmückte.171 In der Zwischenzeit hatte sich Mentelins finanzielle Situation ungeachtet der Trennung von Eggestein kaum verschlechtert. 1473, zur Zeit der Errichtung des Gedenksteins, muss Mentelin bereits ein nicht unerhebliches Vermögen besessen haben, denn laut den Einträgen in städtischen Stallregistern gehörte er zu jenen Bürgern, die aufgrund ihres Geldbesitzes dazu verpflichtet waren, auf eigene Kosten ein Pferd für den öffentlichen Dienst der Stadt zu unterhalten. Gemäß der Straßburger Stallordnung von 1443 befand sich Mentelin demnach immerhin in 169 Zu Wappenbrief, Lehensfähigkeit und adligem Konnubium als Attributen der Adelszugehörigkeit vgl. Alioth, Gruppen an der Macht, S. 183; Andermann, Zwischen Zunft und Patriziat, S. 376–378; Fouquet, Zwischen Nicht-Adel und Adel, S. 426–427; und Spiess, Aufstieg in den Adel, S. 10–15 und 22–25, der auf die vielfältigen Differenzierungen des Graubereichs zwischen Adel und Nicht-Adel hinweist. Mentelin ließe sich in die vierte der von Spiess unterschiedenen Aufsteiger-Gruppen einordnen, der bürgerlichen Oberschicht, die sich weiter in zwei Untergruppierungen differenzieren lässt: „Zum einem die bis zum 15. Jahrhundert vom Landadel als gleichrangig akzeptierten, aber jetzt zunehmend ausgegrenzten Patrizier, die mit einer betonten Hinwendung zu landadligen Lebensformen sowie mit Wappen- und Adelsbriefen die eingetretene soziale Distanz zum Landadel zu überbrücken suchten. Zum anderen sind diesen eher defensiv operierenden Bürgern die aggressiven Aufsteiger aus dem Zunftbürgertum gegenüberzustellen, bei denen die kaiserlichen Privilegien anscheinend in erster Linie dazu dienten, Anschluß an das Patriziat der eigenen Stadt zu finden“ (Spiess, Aufstieg in den Adel, S. 6). In einer Straßburger Denkschrift des 15. Jahrhunderts werden denn auch die Aufstiegsmöglichkeiten von Zunftangehörigen in das Patriziat der ‚Constofler‘ explizit angesprochen: welicher ouch von romischen keisern oder kunigen briefe hat, das er edel oder wopensgenosz sin sol, der sol des genyessen und von den antwercken zu den constofelern kummen. Vgl. ebd., S. 7 und ausführlich zur Situation in Straßburg Alioth, Gruppen an der Macht, besonders S. 242–250. Der Erwerb eines Wappenbriefs war beim Aufstieg in den Adel insofern relevant, als das äußerlich sichtbare Führen eines Wappens „in Deutschland angesichts des Fehlens von rechtlichen Vorgaben über die Wappenfähigkeit der Exklusivität“ entbehrte (Spiess, Aufstieg in den Adel, S. 13). Die kaiserliche Bestätigung eines Wappens war daher von großem Wert, allerdings noch keine Garantie für den Aufstieg, „denn die Wirksamkeit hing von der Akzeptanz der Standesgenossen ab“ (ebd., S. 22). 170 Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 22–23. 171 Vgl. ebd., S. 21.

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der zweithöchsten Steuerklasse,172 was für ein Mitglied der Goldschmiede-Zunft höchst ungewöhnlich war.173 Nach dem Tod seiner zweiten Frau war Mentelin offenbar dazu verpflichtet, die Mitgift an Elisabeths Mutter Anna von Matzenheim zurückzugeben.174 Vom o

172 In der Ordnung heißt es: welcher 800 Lib. wert gutes hett, sol ein ganz pfert ziehen; o welher 2000 pfunde wert gutes hett, der sol ein hengst ziehen. Mentelins Vermögen wurde demnach auf 800–2000 Pfund Denare geschätzt. Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 23–24. 173 1467 gab es offensichtlich nur ein anderes Mitglied der Goldschmiedezunft, das eine ähnliche zur Stellung eines Pferdes verpflichtende Vermögenshöhe erreicht hatte, vgl. Mertens, Eine Mentelin-Handschrift, S. 185, Anm. 64. Ein ausreichendes Vermögen gehörte zwar zu den unabdingbaren Voraussetzungen des sozialen Aufstiegs (vgl. Andermann, Zwischen Zunft und Patriziat, S. 368; Gerhard Fouquet, Zwischen Nicht-Adel und Adel, S. 422), Mertens weist jedoch darauf hin, dass Mentelin im angesprochenen Stallregister noch unter dem Titel eines ‚Goldschmiedes‘ geführt wurde, was darauf hindeuten könnte, dass es ihm trotz seiner Ambitionen noch nicht gelungen war, sich „wie viele ähnlich situierte Zünftler den Zugang zu einer Konstofflerstube“ zu verschaffen (vgl. Mertens, Eine Mentelin-Handschrift, S. 185, Anm. 64). Ein solcher Übertritt, noch dazu bereits in der ersten Generation, war in der Zeit um 1470 in Straßburg allerdings nur relativ schwer möglich, vgl. Alioth, Gruppen an der Macht, S. 249. Insbesondere wird Mentelin seine auswärtige Herkunft im Wege gestanden haben. Alioth berichtet, dass Meister und Rat von Straßburg im Dezember 1471 eine Verordnung zur Regelung der Übertritte von Zünftlern zu den Constoflern erließen, wonach bereits der Großvater des Kandidaten Hengste oder Pferde für die Stadt gestellt haben musste. – Insgesamt gesehen war die Einstellung der Straßburger Constofler zu den Übertritten während des 15. Jahrhunderts offenbar höchst widersprüchlich (vgl. ebd., S. 244–249): In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war das Stadtpatriziat anscheinend beinahe gänzlich abgeschlossen. Nachdem die Gruppe der Constofler jedoch keinen Zuzug mehr erhielt und immer mehr an Bedeutung verlor, setzte 1457 ein Umdenken zugunsten einer Öffnung ein, die den Aufstieg von finanzkräftigen Zünftlern ermöglichen sollte. Dennoch galt es weiter, die ‚Standesdünkel‘ der Alteingesessenen zu beachten: „Die neuen Constofler sollten alle mindestens einen Hengst für die Stadt halten und im Falle einer Ratswahl unterhalb der geborenen Constofler sitzen, die neben den AltAmmeistern sassen, um Streit mit den alten Constoflern zu vermeiden“ (ebd., S. 246). Die neu ermöglichte Mobilität sorgte offensichtlich für Unruhe und wurde in der Folge wieder eingeschränkt. Zudem fürchteten nun auch die Zünfte eine Abwanderung ihrer reichen Mitglieder. Andermann berichtet, dass die Zünfte in Straßburg bereits seit 1362 eine Sonderregelung durchgesetzt hatten, wonach jeder, der im Handwerkerstand geboren war, für ewige Zeiten den Zünften angehören sollte, damit eine solche Abwanderung ins Patriziat vermieden wurde. Diese Verordnung wurde erst 1472 aufgehoben, also erst ein Jahr vor dem erwähnten Eintrag, in dem Mentelin zu den Zünftlern gerechnet wird. Vgl. Andermann, Zwischen Zunft und Patriziat, S. 372. 174 Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 24–25. Auf die hohen Kosten eines adeligen Konnubiums weist Andermann, Zwischen Zunft und

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18. Mai 1474 ist eine Notariatsquittung erhalten, in der Anna den Rückerhalt des Heiratsgutes bestätigt. Für eine noch ausstehende Summe von 900 rheinischen Goldgulden wurde eine Zahlung auf Raten vereinbart, 1477 hatte Mentelin den Betrag jedoch nachweislich abbezahlt. Die Quittung bietet zudem einen weiteren Hinweis auf Mentelins Vermögensverhältnisse, da in ihr erwähnt wird, dass Mentelin das Haus ‚zum Dornen‘ in der Dornengasse in Straßburg besessen hat. Der schon von Wimpfeling vermittelte Eindruck, dass Mentelin mit seiner Druckertätigkeit finanziell sehr erfolgreich wurde, kann somit durch die Lebenszeugnisse nur bestätigt werden. 2.2.2 Das Mentelin’sche Verlagsprogramm Wo Mentelin die Druckerkunst gelernt hat, ist nicht bekannt. Oftmals vermutete Kontakte mit Gutenberg lassen sich nicht beweisen.175 Das erste datierbare Werk seiner Offizin, die 49zeilige Bibel, wurde im Jahr 1460 rubriziert und 1461 gehandelt.176 Die meisten von Mentelins Erzeugnisse sind ohne Angabe seines Namens erschienen, Schorbach hat jedoch mithilfe des Typenvergleichs insgesamt 40 Druckwerke (einschließlich 8 Einblattdrucken) identifizieren können. Der Umfang der Mentelin’schen Produktion war also sicherlich „für die damalige Zeit ein bedeutender“177 und beinhaltete Werke aus durchaus unterschiedlichen Gebieten. Zu Beginn seiner Tätigkeit produzierte Mentelin – wohl im Auftrag und mit Unterstützung Bischof Ruprechts – vornehmlich für die Kirche. Bereits sein erstes erhaltenes Produkt, die ›Biblia latina‹, könnte den Grundstein für seinen geschäftlichen Erfolg gelegt haben, denn offensichtlich gelang es Mentelin, durch Vereinfachung und Verkleinerung des Letternmaterials eine konkurrenzlos billige Bibel herzustellen.178 Möglicherweise erarbeitete sich Mentelin bereits mit diesem Erzeugnis eine solide finanzielle Basis, auf der riskantere Unternehmungen möglich wurden, wie etwa der bald darauf folgende erste Bibeldruck in deutscher Sprache, der jedoch ebenfalls zum Erfolg wurde.179

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Patriziat, S. 377, hin: „Aufstiegswillige wurden dabei mitunter kräftig zur Kasse gebeten und mußten das Prestige, das sie zu erheiraten gesonnen waren, teuer bezahlen.“ Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 35–42. Vgl. ebd., S. 42. Schorbach schließt daher nach Einberechnung der für die Vorbereitung der Drucklegung aufzubringenden Arbeitszeit auf 1458 als Gründungsjahr der Mentelin’schen Offizin. Ebd., S. 174. Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 175, zum folgenden Überblick über Mentelins Verlagsprogramm ebd., S. 174–214. Vgl. zur deutschen Bibel Reinitzer, Oberdeutsche Bibeldrucke. Neben der deut-

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Nach den Bibeldrucken wandte sich Mentelin der gelehrten theologischen Literatur der Scholastiker und Kirchenväter zu (Thomas von Aquin, Johannes Chrysostomus, Hieronymus und insbesondere Augustinus), zudem ist mit den zwei Auflagen des ›Scrutinium scripturarum‹ des Paulus von Burgos und dem ›Fortalitium fidei‹-Druck des Alfons de Spina eine auffallende Häufung antijüdischer Literatur zu beobachten.180 Ab 1468, dem Jahr, in dem Mentelin als bischöflicher Notar abgelöst wurde, bildeten die Texte der antiken Klassiker einen weiteren Schwerpunkt der nun zusätzlich auch humanistisch ausgerichteten Produktion (Aristoteles, Vergil, Terenz und Valerius Maximus). Daneben finden sich aber ebenso juristisch-theologische Werke in Mentelins Sortiment, etwa der besonders erfolgreiche Druck der ›Summa de casibus conscientiae‹ des Astesanus de Ast, der drei Auflagen erreichte. Hilfestellung für Predigt und Bibelstudium boten zudem die beiden Drucke der ›Postillae‹ des Nikolaus von Lyra und der Bibelkonkordanz Konrads von Halberstadt. Am Ende von Mentelins Druckertätigkeit gehörten schließlich noch weitere wichtige Texte der Wissensliteratur zum Verlagsprogramm: Isidor von Sevilla, Albertus Magnus und insbesondere das kostspielige und aufwendige Projekt des Drucks der ›Specula‹ des Vinzenz von Beauvais, das Mentelin in Zusammenarbeit mit seinem Schwiegersohn Adolf Rusch durchführte.181 Für den Druck der ›Specula‹ stellte Mentelin eine neue Drucktype her, die auch in den letzten beiden Erzeugnissen der Offizin,182 den Drucken des ›Parzival‹ und des ›Jüngeren Titurel‹ von 1477, Verwendung fand. Die Aufnahme dieser Texte stellt nicht nur im Verlagsprogramm von Mentelin eine ungewöhnliche Erweiterung dar – die Mentelin’sche Ausgabe ist überhaupt der einzige Versuch der Frühdruckzeit geblieben, Werke der ‚höfischen‘ Epik in der originalen VersGestalt im neuen Medium zu präsentieren. Wie schon Schorbach bemerkte, lag für Mentelin „der Gedanke [...], eine Ausgabe des beliebten Ritterepos zu unternehmen“, offenbar deshalb nahe, weil er die beim Adel des 15. Jahrhundert augenscheinlich ungebrochene Vorliebe für den Text „ebenfalls in den Kreisen der Straßburger Patrizierfamilien vorgefunden“ hatte, aus denen seine zweite Frau schen Bibel und dem unten zu besprechenden ›Parzival‹- und ›Titurel‹-Drucken sind vereinzelt noch weitere Texte in deutscher Sprache erhalten, so etwa eine deutsche ›Ars moriendi‹-Übersetzung 1461 (veranlasst durch das Ableben seiner ersten Frau 1460? Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 180–183) und drei Einblatt-Almanache aus den Jahren 1473, 1476 und 1477 (vgl. ebd., S. 210). 180 Vgl. Winteroll, Summae Innumerae, S. 257–260. 181 Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 99 und S. 203– 205. 182 Mentelin starb ein Jahr später, am 12. Dezember 1478.

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Elisabeth von Matzenheim stammte.183 Zudem könnte das Unternehmen natürlich auch von Bischof Ruprecht ausgegangen sein, der ja, wie aus dem Lauberbrief hervorgeht, schon früher einen parcifal gar hu´b*ch gemolt in Auftrag gegeben hatte.184 Mentelin hatte also seinen Abnehmerkreis unmittelbar vor Augen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit im Falle der beiden Drucke überhaupt von einem anonymen oder nicht einschätzbaren Publikum ausgegangen werden kann. Zwar stellte Mentelin natürlich nicht mehr jedes Einzelexemplar auf Bestellung her, aber er könnte einen nicht unerheblichen Teil der Käufer persönlich gekannt haben. Ähnlich wie schon bei den Lauberhandschriften ist also gar nicht gesichert, ob sich eine der wesentlichen Neuerungen, die der mediale Umbruch von der Handschrift zum Druck mit sich brachte, die Orientierung an einem unbekannten Publikum oder gar an einer völlig neuen Publikumsschicht, als bestimmender Faktor auf die Textreproduktion ausgewirkt haben könnte.185 Dennoch ist bei den Drucken noch stärker als bei den Produkten der Lauberwerkstatt in Rechnung zu stellen, dass Mentelin eine standardisierte Textgestalt für alle Kunden im Vorhinein festlegen musste. Der Straßburger Drucker war also sehr wohl gezwungen, die Interessen seiner Abnehmer noch vor dem Verkauf abzuschätzen; diese Interessen dürften aber nicht allzu uneinheitlich und Mentelin nicht völlig unbekannt gewesen sein.186 Darüber hinaus ist zu erwägen, ob die unmittelbare Nähe zu den Bücherliebhabern der Adelsschicht nicht nur Mentelins unternehmerische Einschätzung eines potentiellen Absatzmarktes, sondern auch seinen Wunsch nach Integration befördert haben könnte. Mentelins Wappenkauf von 1466 verdeutlicht seine Ambitionen, sich mit sichtbaren Zeichen der Zugehörigkeit zur adeligen Gesellschaft zu vergewissern; die Herausgabe des Textes von ›Parzival‹ und ›Jüngerem Titurel‹, zweier ‚Ikonen‘ adeliger Gesellschaftskultur, könnte Ausdruck derselben Absichten gewesen sein.187 Vor diesem Hintergrund wäre es sogar möglich, dass 183 Ebd., S. 209. 184 Vgl. Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 206; Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 243. 185 Vgl. zu den möglichen Implikationen des Publikumswandels exemplarisch die Fallstudie von Dicke, Heinrich Steinhöwels ›Esopus‹. 186 Dass Frühdrucker nicht in jedem Fall auf Breitenwirkung bedacht sein mussten, belegen die bei Müller, Medialität, S. 57, zusammengestellten Beispiele (Schönsperger, Drach), die lediglich für einen begrenzten Benutzerkreis produzierten. 187 Mentelin könnte somit versucht haben, mit der Herausgabe der Drucke seine ‚soziale Akzeptanz‘ in Adelskreisen zu erhöhen, die nach Spiess, Aufstieg in den Adel, S. 17–18, und Andermann, Zwischen Zunft und Patriziat, S. 378–379, letztlich das entscheidende Kriterium der Adelszugehörigkeit darstellt. Vgl. auch Alioth, Gruppen an der Macht, S. 183, der eine Reihe von Beispielen des Aufstiegs von – allerdings bereits dem Patriziat angehörenden – Straßburger Bürgern in den

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der ökonomische Aspekt für Mentelin bei diesen beiden Werken im Vergleich zum ‚ideellen‘ Wert nur zweitrangig gewesen ist; der am Ende seines Lebens stehende, finanziell gut abgesicherte Mentelin könnte sich die Ausgabe dieser beiden für ein Frühdruckerprogramm unüblichen Texte gleichsam als ‚Luxus‘ bzw. als ‚Statussymbol‘ geleistet haben. Am wahrscheinlichsten erscheint es freilich, dass beide Aspekte – ‚ideeller‘ und ‚materieller‘ Wert – zusammengespielt haben. Eine finanzielle Absicherung als Voraussetzung für Mentelins Beschäftigung mit ›Parzival‹ und ›Jüngerem Titurel‹ vermutete auch Becker: Erst als Mentelin sich durch seine vorhergehenden Erfolge finanziell gesichert glaubte, konnte er das Risiko eines solchen Experiments auf sich nehmen, ohne schwerwiegende Folgen für seinen Betrieb fürchten zu müssen, wenn der Absatz schlecht war.188

Die beiden Drucke stellen für Becker allerdings scheinbar Fremdkörper in Mentelins Verlagsprogramm dar, das fast ausschließlich theologischen, wissenschaftlichen und klassischen Texten gewidmet war. [. . .] Abgesehen von der ersten gedruckten deutschen Bibel und wenigen Einblattdrucken verlegte Mentelin nur Bücher in lateinischer Sprache, sehr zum Unterschied von Lauber, der nur volkssprachige Werke kopierte. Möglicherweise trug die noch lebendige Tradition des Lauber’schen Unternehmens dazu bei, Mentelin zu ermutigen, deutsche Versromane zu veröffentlichen. Es ist zu vermuten, dass Mentelin als Drucker gelehrter Werke den Ehrgeiz hatte, gerade den schwierigen und esoterischen J[üngeren] T[iturel] gedruckt vorzulegen; jedenfalls verzichtete er auf die Produktion eines Prosaromans.189 Adel zusammenstellt und resümiert: „Diese Beispiele mögen genügen zur Veranschaulichung der Tatsache, dass der Aufstieg von den Burgern zu den Edlen möglich war. Die Bedingungen, die der Aufsteiger dabei zu erfüllen hatte, sind in der Quelle nicht fassbar, aber es scheint, dass seine Heiratspolitik eine gewisse Rolle dabei spielte. Da armiger bzw. Edelknecht ‚ungeschützte‘ Titel waren, musste der Einzelne wohl durch Lebensstil und Umgang seine Gruppenzugehörigkeit öffentlich dokumentieren“. Diese Dokumentation war offensichtlich auch deshalb nötig, damit man den Vorbehalten der Alteingesessenen begegnen konnte (vgl. etwa den bei Alioth, ebd., S. 207, dokumentierten Fall, in dem der Ritter Hug Zorn den bürgerlichen Aufsteiger Wolfhelm Bock als geburen bezeichnete), und könnte unter anderem mit Hilfe der Literatur erfolgt sein. Bereits Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 190, hat darauf hingewiesen, dass sich insbesondere „das emporgekommene Bürgertum [. . .] der feudalistischen Ideologie auch in seiner Lektüre an[passte].“ 188 Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 244. 189 Ebd., S. 244. Wie Becker jedoch selbst dargelegt hat (ebd., S. 203), besteht zwischen humanistischen Interessen und der Verbreitung von höfischer Literatur keineswegs ein deutlicher Widerspruch. Mentelins Ehrgeiz auf sozialem Gebiet, seine Ambitionen als Aufsteiger übersieht Becker überdies in diesem Zusammen-

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Dennoch – oder gerade aufgrund der Esoterik der Texte – wird man die Absatzmöglichkeiten für den ›Parzival‹ und den ›Titurel‹ besonders in den Kreisen um Herzog Ruprecht auf keinen Fall zu gering veranschlagen dürfen.190 Sucht man nach Hinweisen auf die potentielle Käuferschicht der Mentelin’schen Drucke, so fallen zunächst Mentelins Bücheranzeigen ins Auge. Ähnlich wie Diebold Lauber hat auch Mentelin seine Produkte mithilfe von Listen erhältlicher Bücher beworben.191 Insgesamt sind vier Annoncen erhalten, die hang. Gerade wenn es Mentelin nur um das Beweisen seiner ‚Gelehrtheit‘ gegangen wäre, wäre die Hinwendung zu deutschen statt lateinischen Texten in der Tat ungewöhnlich gewesen; man wird Becker zwar folgen können, dass der Faktor der ‚Selbstdarstellung‘ nicht zu unterschätzen ist, diese richtet sich aber wohl eher auf die oben angesprochenen sozialen Statusfragen. – Vgl. zum umfangreichen Themenkomplex Humanismus – höfische Literatur – ‚Ritterromantik‘: Christelrose Rischer, Literarische Rezeption und kulturelles Selbstverständnis; Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 166–168; Müller, Gedechtnus; Strohschneider, Ritterromantische Versepik im ausgehenden Mittelalter; Gottschalk, Geschichtsschreibung im Umkreis Friedrichs I. des Siegreichen, S. 124–185; Backes, Heidelberg im 15. Jahrhundert, S. 170, 188 und 210; Bastert, Der Münchner Hof und Fuetrers „Buch der Abenteuer“; sowie Graf, Ritterromantik? 190 Das finanzielle Risiko der beiden Ependrucke, auf das Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 133, hinweist, wird also durchaus kalkulierbar gewesen sein. Koppitz listet später (ebd., S. 167–168) denn auch selbst den ›Parzival‹ und den ›Titurel‹ unter jenen Werken der älteren Literatur auf, deren Beliebtheit sich bereits „seit Jahrhunderten“ erwiesen habe, und deren Druck daher als geringeres Risiko einzustufen sei als der von zeitgenössischen Werken „von oft noch unbekannten Autoren und unbekannten Inhalts“. Ähnlich widersprüchlich argumentiert auch Becker, der zunächst ebenfalls auf das finanzielle Risiko hinweist (vgl. das angeführte Zitat), dann aber feststellt, dass Mentelin seinem Kundenkreis, der immerhin „bei den humanistisch beeinflußten Gebildeten, gleichviel ob beim Adel, im Patriziat, bei in der Kirchenhierarchie fortgeschrittenen Klerikern, bei hohen fürstlichen, bischöflichen oder kommunalen Beamten“ zu finden sei, „durch persönliche Beziehungen nahe“ stand (Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 249). Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 208, vermutete eine Nachfrage insbesondere für den ›Jüngeren Titurel‹: „Auch zu Mentelins Zeiten war der Titurel ein viel gelesenes Buch, dessen handschriftliche Verbreitung der großen Nachfrage nicht mehr genügte“. Insgesamt wird man also der ausgewogenen Einschätzung von Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter, S. 58, zustimmen können: „Selbst wenn man annehmen kann, daß Mentelin durch vorangegangene Unternehmungen finanziell abgesichert war und daß er durch den Straßburger Bischof Herzog Ruprecht von Pfalz-Simmern und den Erfolg Diebold Laubers in seinem Vorhaben bestärkt wurde, [. . .] wird er seinen Entschluß sicher nicht ohne eine genaue ‚Marktanalyse‘ getroffen haben.“ 191 Vgl. zu den Buchanzeigen insbesondere Hans Michael Winteroll, Summae Innumerae; und Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 146– 161, dort auch eine Zusammenstellung der älteren Literatur.

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jedoch anders als bei Lauber nicht handschriftlich geschrieben, sondern gedruckt wurden. 1469 wird in einer Einzelanzeige der Druck der ›Summa‹ des Astesanus als utilissima pauperibus und zugleich accomoda diuitibus beworben.192 Schorbach noch unbekannt war die Ankündigung des ›Scrutinium scripturarum‹ des Paulus von Burgos, die um 1470 zu datieren ist.193 Während diese beiden Anzeigen ausführlich die Vorzüge des beworbenen Werkes anpreisen, verzeichnet die dritte von 1471 nur relativ kurz neun zum Verkauf angebotene Drucke vornehmlich lateinischer Klassiker.194 Wie bei der ersten Ankündigung war die handschriftliche Einfügung der Adresse eines lokalen Buchhändlers vorgesehen, bei dem die Titel zu erwerben waren.195 Auf 1474 zu datieren ist schließlich die letzte, nur fragmentiert erhaltene Anzeige, die die eben fertig gestellte Bibelkonkordanz des Konrad von Halberstadt und vier weitere lagernde Titel ankündigt.196 Ob Mentelin die Anregung zur Abfassung der Anzeigen durch das Lauber’sche Vorbild erhalten hat, muss offen bleiben. Im Unterschied zu Lauber sind sämtliche Mentelin’schen Annoncen in lateinischer Sprache verfasst. Deutsche Ankündigungen, etwa für den ›Parzival‹ und den ›Jüngeren Titurel‹, sind hingegen nicht erhalten. Ob sich dieser Umstand darauf zurückführen lässt, dass Mentelin den Interessentenkreis für diese Werke näher gekannt oder ihren kommerziellen Erfolg weniger Bedeutung zugemessen hat, ist freilich nicht zu klären. Ungewiss bleibt damit auch, inwieweit das Argument der Kostengünstigkeit der Drucke, auf das Mentelin in seinen Werbeanzeigen hingewiesen hat, für die Käufer von ›Parzival‹ und ›Jüngerem Titurel‹ eine Rolle gespielt haben könnte.

192 Faksimile bei Schorbach, ebd., Tafel VI und VII; sowie bei Winteroll, Summae Innumerae, S. 170, dort auch Transkription (S. 171–172), ausführliche Besprechung der Anzeige sowie der Ausgabe der Summa (S. 173–216) und Vorüberlegungen zu den Konsequenzen einer Hinwendung an ein anonymes Publikum (S. 14–19). 193 Entdeckt von Ehrman, Two Unrecorded Early Book-Advertisements. Abbildung, Transkription und Kommentar bei Winteroll, Summae Innumerae, S. 217–260. 194 Faksimile bei Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, Tafel VIII. 195 Mentelin verfügte wie jeder bedeutende Drucker über Fernhandelsbeziehungen und Wanderlager. Seine Buchführer „bereisten Bayern und Österreich und zogen den Rhein abwärts“ (Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 254). Zum Wirkungskreis der Mentelin’schen Buchführer vgl. auch Ferdinand Geldner, Ein unbeachteter Einblattdruck, S. 289–290, und Ders., Unbekanntes vom ältesten Straßburger Buchdruck. Zu den Mentelin’schen Absatzmärkten vgl. auch Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, S. 141– 144. Die Rolle Straßburgs als „Exportzentrum“ betont Künast, „Getruckt zu Augspurg“, S. 18. 196 Faksimile bei Schorbach, Der Strassburger Frühdrucker Johann Mentelin, Tafel IX.

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2.2.3 Die Käufer des Zwillingsdrucks Nähere Aufschlüsse über die Abnehmer von ›Parzival‹ und ›Jüngerem Titurel‹ ergeben sich erst durch die Auswertung der in den Druckexemplaren aufzufindenden Besitzvermerke. Der Name Herzog Ruprechts, der ja bereits einen parcifal gar hu´b*ch gemolt aus der Lauberwerkstätte besessen hatte, ist in keinem der erhaltenen Exemplare genannt. Es erscheint jedoch kaum vorstellbar, dass der bibliophile Ruprecht keinen ›Parzival‹-Druck seines ehemaligen Angestellten erworben bzw. zumindest als Dedikationsexemplar erhalten hat. Der unmittelbare Beweis, dass Mentelins Epen-Drucke dieselbe Käuferschicht angesprochen haben wie die Handschriften der Lauberwerkstatt, fällt damit aber zunächst aus; er kann allerdings über den Umweg anderer Personen, die nachweislich Produkte aus der Lauberwerkstatt und von Mentelin besessen haben, erbracht werden. Als eine der bemerkenswertesten spätmittelalterlichen Sammlungen weltlicher deutscher Texte hat jener Handschriftenbestand zu gelten, der sich in der bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf Schloss Blankenheim in der Eifel angesiedelten gräflich Manderscheid-Blankenheimischen Bibliothek befand.197 Der Schöpfer dieser Sammlung ist vermutlich der erste in Blankenheim residierende Manderscheider Graf Kuno (1444–1489) gewesen, der um 1471 mit dem Erwerb von Handschriften begonnen hat.198 Kunos literarisches Interesse war „anscheinend durch den eine Generation älteren Edelherrn Wirich VI. von Daun zu Oberstein (um 1415/20–1501) geweckt worden, der als Handschriftenbesitzer und Literaturliebhaber unter seinen Zeitgenossen bekannt war und über gute Beziehungen zu den Literarkreisen am Hofe des Pfalzgrafen Friedrich des Siegreichen [. ..] in Heidelberg und am Hofe seiner Schwester Mechthild [. ..] in Rottenburg verfügte“.199 Wirich war zudem ein Verwandter des Unterlandvogts Johannes IV. von Dhaun, den Saurma-Jeltsch als Empfänger des Lauber-Briefes favorisierte.200 Unter den Besitzstücken der Manderscheider befand sich auch eine Gruppe von Codizes aus der Lauberwerkstätte: eine Historienbibel (Köln, Historisches 197 Vgl. Deighton, Die Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim; Beckers, Handschriften mittelalterlicher deutscher Literatur; und Ders., Literarische Interessensbildung bei einem rheinischen Grafengeschlecht. 198 Vgl. Deighton, Die Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim, S. 268–275; Beckers, Handschriften mittelalterlicher deutscher Literatur, S. 63–65; Ders., Literarische Interessensbildung bei einem rheinischen Grafengeschlecht, S. 12–17. Zum sozialen Aufstieg der Manderscheider im späten 15. Jahrhundert vgl. auch Neu, Die Grafen von Manderscheid. 199 Beckers, Handschriften mittelalterlicher deutscher Literatur, S. 64. 200 Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 69– 71.

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Archiv der Stadt, Best. 7010 (W) 250), ein Plenar (Köln, Historisches Archiv der Stadt, Best. 7010 (W) 251) und die Brüssler Handschrift von Rudolfs von Ems ›Alexander‹ (Brüssel, Koninklijke Bibliotheek Albert I, Ms. 18232), die vermutlich schon von Kuno selbst erworben wurden.201 Die Manderscheider gehörten also nachweislich zu dem durch verwandtschaftliche Beziehungen geprägten Kreis der Lauberkunden.202 Auf Blankenheim war man offensichtlich besonders an ‚Klassikern‘ der mittelhochdeutschen Epik interessiert. Daher überrascht es zunächst, dass sich unter den erhaltenen Stücken der Sammlung bislang keine Handschrift von ›Parzival‹ und ›Jüngerem Titurel‹ auffinden ließ. Während Deighton das Fehlen des ›Parzival‹ noch als unerklärliche Lücke im sonst außergewöhnlichen Bestand werten musste,203 konnte Beckers in einer Inventarliste von 1803 immerhin ein verschollenes Exemplar des ›Parzival‹ nachweisen, das jedoch nicht als Handschrift vorlag, sondern, wie aus dem Zusatz gedruckt im Jahr 1477 hervorgeht, ein Exemplar des Mentelin-Drucks war.204 Während also Wolframs Klassiker für die Sammlung gesichert war, blieb für Beckers „das Fehlen von Albrechts ›Jüngerem Titurel‹“ weiterhin auffällig, „da dieser im deutschen Nordwesten an sich durchaus geschätzt wurde“.205 Wie bislang noch nicht bekannt wurde, haben die Manderscheid-Blankenheimer jedoch sehr wohl einen ›Jüngeren Titurel‹, und zwar ebenfalls in der Form des Mentelin-Drucks besessen. Es handelt sich um das Exemplar Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inc. 25300.206 Im Anschluss an das Kapitelverzeichnis auf Blatt 307vb befindet sich dort ein handgemaltes Wappen (vgl. Abb. a1 in Anhang 2), das von Barbara Hellwig folgendermaßen beschrieben wird: „gespalten, heraldisch rechts geteilt, oben in Gold roter Zickzackbalken, unten in Gold nach rechts gewendeter steigender Löwe, darüber Turnierkragen; heraldisch 201 Vgl. Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber, S. 126–127 und S. 132–133; Deighton, Die Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim, S. 270– 271; Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 155– 159. 202 Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 158– 160. 203 Vgl. Deighton, Die Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim, S. 276. 204 Vgl. Beckers, Handschriften mittelalterlicher deutscher Literatur, S. 60–61, mit Transkription der Inventarliste. 205 Beckers, Literarische Interessensbildung bei einem rheinischen Grafengeschlecht, S. 7. 206 Das Exemplar enthält nur den ›Titurel‹ und nicht den ›Parzival‹-Druck. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass die Manderscheider den Druck ursprünglich gemeinsam mit dem in der Archivbeschreibung genannten ›Parzival‹ erworben haben.

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links in Gold 7 (4:3 gestellte) rote Rauten.“207 Dies ist das Allianzwappen von Manderscheid-Blankenheim-Virneburg, deutet also auf Kuno von ManderscheidBlankenheim und seine zweite Ehefrau Mechthild, die Tochter des Grafen Wilhelm von Virneburg, hin. Die Hochzeit von Graf Kuno und Mechthild erfolgte 1479, also zwei Jahre nach der Drucklegung der Inkunabel. Ihr gemeinsames Wappen lässt sich, wie Deighton dargelegt hat, noch in einem weiteren Stück der Sammlung, in der um 1480 geschriebenen Handschrift des ›Ehebüchleins‹ Albrechts von Eyb (Evanston, Illinois, Northwestern University Library, Western Ms. nr. 3) nachweisen.208 Einen zweiten Hinweis auf die Manderscheider liefern zudem die in der Inkunabel eingetragenen Buchstaben M A N (vgl. Abb. a2 in Anhang 2), die auch in anderen Codizes aus der Sammlung begegnen.209 Dass das Exemplar bereits in den Anfängen zur Sammlung gehörte, legt schließlich ein weiterer charakteristischer Texteintrag nahe, der sich im ›Titurel‹ finden lässt: Wie die Untersuchungen zur Manderscheider Bibliothek gezeigt haben, ging es den Grafen offensichtlich nicht nur darum, Codizes als Repräsentationsstücke zu besitzen, sondern auch um eine qualitativ möglichst hochwertige Textgestalt. Dieses ‚proto-philologische‘ Bemühen wird etwa an den beiden in der Sammlung befindlichen ›Tristan‹-Handschriften ersichtlich: Hier wurde eine Lücke des in Hs. B (Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7020 (W*) 88) nur gekürzt vorliegenden Textes nach der ebenfalls in der Bibliothek befindlichen Hs. N (Berlin, SBPK, Mgq 284) von einer Hand des 15. Jahrhunderts ergänzt.210 Ebenso wurde der ›Alexander‹ aus der Lauberwerkstatt offensichtlich nachträglich korrigiert.211 Ein solches Beispiel früher Textpflege lässt sich nun auch im Nürnberger ›Titurel‹ beobachten: Auf Blatt 298r ist in der a-Spalte von einer Hand des 15. Jahrhunderts vor Strophe 6144212 ein Korrekturzeichen eingetragen, das auf den Nachtrag einer weiteren Strophe am Spaltenende verweist. Bei dieser Strophe handelt es sich um einen 207 Hellwig, Inkunabelkatalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, S. 297. 208 Deighton, Zwei unbekannte Handschriften des ›Ehebüchleins‹, S. 135. 209 Vgl. Deighton, Die Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim, S. 270, und Abb. 4. 210 Vgl. Deighton, Die Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim, S. 270. Vgl. zum Eintrag auch Brüggen und Ziegeler, Der Tristanstoff und die Manuskriptkultur des Mittelalters, S. 31. 211 Vgl. Deighton, Die Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim, S. 271; Junk, Die Überlieferung von Rudolfs von Ems ›Alexander‹, S. 394–396. 212 Nach der Ausgabe: Albrechts Jüngerer Titurel. Nach den Grundsätzen von Werner Wolf kritisch herausgegeben von Kurt Nyholm. Band III/2. (Strophe 5418–6327) Berlin 1992 (DTM 77).

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Einschub zwischen 6143 und 6144, der sonst nur in der Handschriftgruppe I vorkommt (vgl. Abb. a3 in Anhang 2).213 Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieses Zeugnis der philologischen Textbehandlung eines Benutzers aus dem 15. Jahrhundert auf die Manderscheider zurückzuführen ist.214 Die Indizien sprechen also dafür, dass das Exemplar unmittelbar nach der Drucklegung 1477 in die Sammlung gelangte; alles deutet darauf hin, dass Graf Kuno, der auch an Lauberhandschriften interessiert war, der Erstbesitzer war. Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck, auf die in der jüngeren Forschung wiederholt hingewiesen wurde, zeigt sich demnach auch in der Sammlung der Manderscheid-Blankenheimer.215 Wenngleich auch nicht auszuschließen ist, dass die Manderscheider nur deshalb auf den Mentelin-Druck zurückgriffen, weil entsprechende handschriftliche Exemplare nicht verfügbar waren, deutet der Erwerb der Inkunabel doch darauf hin, dass die Grafen keine allzu großen Berührungsängste mit dem neuen Medium hatten und den Druck nicht als minderwertig gegenüber den Handschriften empfanden.216 213 Vgl. Albrechts Jüngerer Titurel, Bd. III/2, S. 440. 214 Es wäre durchaus möglich, die Korrekturtätigkeit der Manderscheider mit einem frühhumanistischen ad fontes-Prinzip in Verbindung zu bringen, das – wie etwa an Ulrich Fuetrers Textbehandlung ersichtlich – auch auf dem Gebiet der deutschen Rittererzählungen von Einfluss gewesen sein könnte. Vgl. hierzu Graf, Ritterromantik?, S. 522. Ein solches ad fontes-Prinzip im weitesten Sinn ist ja überhaupt ausschlaggebend für die Aneignung von ‚Klassikern‘ wie dem ›Parzival‹ und dem ›Jüngeren Titurel‹. Kauf der Drucke (bzw. der Handschriften) und anschließende Textkorrektur führen also in dieselbe Richtung. Zudem zeigt sich einmal mehr, dass kein Widerspruch zwischen Rezeption höfischer Texte und humanistischen Tendenzen besteht. 215 Keine Indizien gibt es dafür, dass die ebenfalls im Germanischen Nationalmuseum aufbewahrte Inc. 32204, die nur den ›Parzival‹ enthält, zum ›Titurel‹ gehörte und daher im Besitz der Manderscheider war. Dagegen spricht ein eingemaltes Wappen, das nicht von den Manderscheidern stammt, aber ebenfalls noch ins 15. Jahrhundert zu datieren ist. Vgl. dazu unten, Anm. 219. 216 Die Haltung des Adels zum Buchdruck scheint von Fall zu Fall verschieden gewesen zu sein. Aufschlussreich ist etwa die Einstellung der mit Bischof Ruprecht verwandten Heidelberger Pfalzgrafen, vgl. Backes, Heidelberg im 15. Jahrhundert, S. 66–73: Während sich im Büchervermächtnis Kurfürst Friedrichs I. bereits 18 gedruckte Titel finden lassen, geht Backes davon aus, dass für Philipp den Aufrichtigen „fürstliches Repräsentationsobjekt [. . .] allein die kostbare, individuell ausgestatte Handschrift [blieb], auch wenn manche der zeitgenössischen Drucke die Handschriften in allem nachzuahmen versuchten und ihnen an Prachtentfaltung zuweilen kaum nachstanden“. „Anerkennung und Verwendung des neuen Mediums“ waren daher am Heidelberger Hof „offensichtlich auf den Verwaltungsbereich beschränkt“. Als ausschlaggebend für die konservative Einstellung sieht Backes „die ausgesprochene Exklusivität der kostbaren Pergament- oder Papierhandschriften, die der wertvollen Sammlung eines bibliophilen Fürsten oft wür-

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In den erhaltenen Exemplaren von ›Parzival‹ und ›Jüngerem Titurel‹ finden sich darüber hinaus zahlreiche weitere Einträge, die auf ein adeliges Publikum hindeuten.217 Noch ins 15. Jahrhundert verweist das eingemalte Wappen im Kölner Exemplar,218 und wohl auch jenes in einem der Bände des Nürnberger Nationalmuseums.219 Der ›Titurel‹ der Universitätsbibliothek Erlangen, Inc. 773, ist in einem prächtigen Nürnberger Lederschnittband gebunden, der dem Wappen auf dem Vorderdeckel zufolge für einen Angehörigen der alten fränkischen Familie von Redwitz angefertigt wurde. Die von Redwitz nahmen in der Gesellschaft des Einhorns an den Turnieren von Heidelberg 1481, zu Ansbach 1485 und zu Bamberg 1486 teil. Später gehörte der Druck vermutlich dem mit dem Hause Redwitz verwandten Bamberger Domherren Georg von Schaumberg.220 Ein Kaufvermerk aus dem Jahr 1481 im Exemplar Besanc¸on, Bibliothe`que Municipale, Inc. 343 lautet Dieß buch ist Hans wilhelm von ratwilen amptman zu herenstein vnd frag Mergelin siner hußfragen wart kaufft in lxxxj jor fir v b, verweist also auf den im Dienst der Stadt Straßburg stehenden Amtmann Hans Wilhelm von Ratwilen und seine Frau.221

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diger erschienen als die ‚vulgären‘ Drucke, die für immer mehr Menschen erschwinglich wurden“ (ebd., S. 72). Zum Nebeneinander von Handschrift und Druck in Sammlungen vgl. auch Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 60–64; weitere Belege für eine ablehnende Haltung (Zimmern, Montefeltro, Trithemius) sind zusammengestellt bei Kiepe, Die Nürnberger Priameldichtung, S. 183. Ein unkonventionelles Beispiel adeliger Exklusivitätsversicherung behandelt Neudeck, Der ‚verkehrte‘ Text. Zum grotesken Überlieferungsstil des Schreibers Gabriel Sattler. Vgl. den Überblick bei Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 249–259. Köln, UuStB, ADbl 311.Vgl. die Beschreibung bei Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 249, Anm. 2: „Der Wappenschild mit schrägrechtem Wellenbalken, darüber ein schreitender Löwe; auf dem bewulsteten Helm ein Flügel mit dem Wellenbalken belegt; die Helmdecken zu Bändern zusammengeschrumpft.“ Das Wappen hat zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem der Manderscheider, deren Handschriften heute zu einem großen Teil in Köln aufbewahrt werden, ist aber nicht identisch. Es handelt sich also offensichtlich nicht um das in der Inventarliste beschriebene Exemplar aus deren Bibliothek bzw. das Schwesterexemplar des zuvor beschriebenen ›Titurel‹-Drucks. Vgl. Beckers, Handschriften mittelalterlicher deutscher Literatur, S. 80, Anm. 21. Nürnberg, GNM, Inc. 32204. Vgl. Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 251; Beschreibung des Wappens bei Hellwig, Inkunabelkatalog des Germanischen Nationalmuseums, S. 296–7: „in e. Kreis m. blauem Rand auf punziertem Goldgrund Wappenschild in Gold: aus grauem Dreiberg wachsender grauer Steinbock“. Hellwig vermutet Besitz der Nürnberger Familie Volckamer. Vgl. Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 252. Vgl. ebd., S. 252.

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Zahlreiche adelige Besitzer lassen sich auch in Einträgen des 16. Jahrhunderts nachweisen, sogar im nach 1520 verfassten Inventar der in Innsbruck verwahrten Bücher Kaiser Maximilians I. erscheint ain Titturel gedruckt.222 Aber nicht nur die höchsten Herren, sondern auch vergleichsweise niedere Adelige interessierten sich für den Druck. Einige Male begegnet die Inkunabel im Besitz von aufgestiegenen Geschlechtern des Dienstadels, die offensichtlich „ihre mangelhafte Adelgalerie und ihre abhängige Stellung durch die Übernahme altadeligen Bildungsgutes“ zu kompensieren trachteten.223 Diese Käufer befanden sich somit in einer gar nicht unähnlichen Situation wie Mentelin als Produzent des Druckes. In jedem Fall wurde der Zwillingsdruck noch Ende des 16. Jahrhunderts von einem weiten Spektrum der Adeligen als standesgemäße Lektüre empfunden. Die Leser der Drucke unterschieden sich also nicht grundsätzlich von denen der Handschriften.224 Trotz des medialen Umbruchs sind sowohl auf der Rezeptions- wie auf der Produktionsseite (Textbehandlung, Ausstattung, Einrichtung) Kontinuitäten zwischen der handschriftlichen Herstellung, wie sie in der Lauberwerkstatt betrieben wurde, und dem Mentelin’schen Druckunternehmen zu beobachten. Da das Hervorheben der Kontinuitäten wie angedeutet jedoch nicht dazu führen soll, die Unterschiede zwischen den einzelnen Überlieferungsträgern als je eigenen Kulturerscheinungen zu vernachlässigen, werden im folgenden Hauptteil 222 Vgl. ebd., S. 250; Gottlieb, Ambraser Handschriften, S. 104. 223 Vgl. Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 250– 252. Im Exemplar des ›Jüngeren Titurel‹ aus der Newberry Library, Chicago Ill. (Inc. 216–217) finden sich Einträge eines Freiherren von Frundsberg von 1553. Vgl. zu diesem Exemplar ausführlich Puff, Ein Rezeptionszeugnis zu Wolfram von Eschenbach, zu den Einträgen insbesondere S. 76. Der steirische Freiherr Ferdinand Hoffmann zu Grünpühel und Strechau (1540–1607) war laut Exlibris Besitzer des Exemplars Houghton Library, Harvard University, Cambridge, Mass. Inc. 216. Im gesellschaftlichen Aufstieg war auch die schwäbische reichsfreie Familie Syrg von Syrgenstein begriffen, deren Vertreter sich 1594 in das Exemplar der StB Lindau (Ca I 70) eintrugen. Zur höheren Beamtenschaft gehörte hingegen Joachim Soyter van Windach, der 1520 Bürgermeister in Landsberg am Lech war und den Druck der SB München (Rar. 297) besaß. 224 Wie bereits bei der Analyse des Publikums der Lauberwerkstätte ausgeführt, widerspricht dem auch nicht, dass sich Drucke auch in klösterlichem Besitz (das Benediktinerkloster Benediktbeuern erwarb 1486 das heute in der UB München (2o Inc. germ 28) aufbewahrte Exemplar, vgl. ebd., S. 252) und bei Bürgern bzw. Patriziern nachweisen lassen (StB Ulm: Einträge der Ulmer Patrizier Schad; Library of Congress, Washington D.C.: Einträge der Ulmer Familie Weishaupt; Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek 275.8 Hist. 2o: Eintrag noch aus dem 15. Jahrhundert: Das buch ist Narcis Liebers, nach Becker [ebd., S. 253] handelt es sich entweder um Tiroler Adelige oder Ulmer Patrizier). Zu den Besitzeinträgen späterer Zeit vgl. ebd., S. 254–256.

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der Untersuchung die einzelnen ›Parzival‹-Handschriften und der Druck genauer in ihrer Eigenart betrachtet. Dabei stehen die drei Aspekte ‚materielle Beschaffenheit‘ (Kapitel II), ‚Textgestalt‘ (Kapitel III) und ‚Texteinrichtung und -strukturierung‘ (Kapitel IV) im Vordergrund. In einem weiteren Kapitel (V) soll schließlich der Tatsache Rechnung getragen werden, dass auch der ‚Textzeuge W‘, den der Druck darstellt, in unterschiedlichen Ausformungen – den Exemplaren – vorliegt, die in ihrer Individualität wahrgenommen werden können.

II Beschreibung der Textzeugen 1 Handschrift m – Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2914 Papier, VII + 540 Bll. – Format: 27,8 x 20 cm (Schriftraum 19 x 11,5–12 cm) – einspaltig, 20–30 Zeilen – eine Hand1 – um 1440–14452 – elsässisch – 25 ganzseitige Bilder (mit rubrizierten Überschriften, dazu noch 6 weitere Überschriften ohne Bild3). L a g e n : 4 (V+2)12 + 5 VI72 + VII86 + 12 VI230 + VII244 + 16 VI436 + VII450 + 7 VI534 + 6.

1 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 2, S. 114, hält die Hand für „verwandt“ mit jener der Dresdner ›Parzival‹-Handschrift o und der ›Virginal‹-Abschrift Heidelberg Cpg 324. Damit ist wohl „eine Gemeinsamkeit der Schriftbilder“ gemeint (ebd., Bd. 1, S. 87), der allerdings in Anbetracht der ohnehin gleichförmigen Bastarda-Schriften nicht allzu viel Aussagekraft zukommen dürfte. Aus späterer Zeit stammt die Hand eines Korrektors, der fallweise in den Text eingreift. Zur seiner Charakterisierung vgl. ausführlich Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 19–20. Nach Gebert könnte der Korrektor, der oftmals auch Anstoß an alemannischen Formen nahm und daher wohl nicht diesen Dialekt sprach, aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammen. Aus textgeschichtlicher Perspektive führte Geberts Durchsicht der Korrekturen zu dem Schluss, „daß der Korrektor nicht nach einer Vorlage schematisch gearbeitet [hat]; es sind Zufallskorrekturen, die sich beim Lesen ergaben.“; vgl. ebd., S. 20. 2 Datierung Saurma-Jeltsch: 1440–43 (nach Wasserzeichen). 3 Die Überschriften sind – wie in den anderen Lauber’schen ›Parzival‹-Handschriften auch – vom Schreiber des Haupttextes geschrieben worden. 4 In der ersten Lage befindet sich irreführenderweise auf Blatt 8v eine Reklamante, die jedoch funktionslos ist, da sie mitten in der Lage zu stehen kommt. Vielleicht wurde die Reklamante irrtümlich aus der Vorlage abgeschrieben. Am Doppelblatt, das auf das erste Quinternio folgt, wurde auf Blatt 12v ein Papierstreifen eingefügt, der offensichtlich zur Verstärkung dienen sollte. Auf dem Streifen ist der Wortanfang Jte (ergänze zu Jtem) zu lesen, der in einer zumindest ähnlichen, wenn nicht sogar gleichen Schrift wie der des Hauptschreibers von m geschrieben wurde. Es handelt sich also offensichtlich um ein Stück Makulatur aus der eigenen Werkstatt. Wie Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 90, beobachtet hat, begegnen solche Papierverstärkungen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren häufig. Zum Teil dürften dabei sogar Stücke von in der Werkstatt entstandenen Vorlagenhandschriften verwendet worden sein (vgl. ebd., S. 90). Bei der

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II Beschreibung der Textzeugen

Wa s s e r z e i c h e n : 5 Zwei Varianten eines Ochsenkopfes, eine ähnlich Piccard, Ochsenkopf, I 253 (1442), zwei Varianten eines Ochsenkopfes mit Stange, eine ähnlich Piccard, Ochsenkopf, VII, 323 (Basel 1440–1444); drei Varianten eines Ankers, am ähnlichsten Piccard, II, 855 und 856 (1441, 1442) bzw. II, 847 und 868 sowie Briquet 377 (1442, 1447 und 1439–1441), viele Varianten einer Krone, Typus Piccard Krone, I, 341–327. Zwei Varianten einer Traube, ähnlich Piccard, Früchte, I 283, 285, 287, 323 (1441/42) bzw. I, 307 (1442). L i t e r a t u r : 6 Obermaier, Lesen mit den Augen der Illustratoren; Stephan-Chlustin, Artuswelt und Gralswelt im Bild, S. 41–200 und S. 244–284, Abb. 1 ff.; Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung; Saurma-Jeltsch, Zum Wandel der Erzählweise, S. 138–149, Abb. 25 f.; Ott, Zur Ikonographie des Parzival-Stoffs, S. 120 und 123, Abb. 25 f.; Saurma-Jeltsch, Die Illustrationen und ihr stilistisches Umfeld, S. 47– 48; Flood, Johann Mentelin und Ruprecht von Pfalz-Simmern, S. 203–207; SaurmaJeltsch, Textaneignung in der Bildersprache, S. 4518; Stamm-Saurma, Zuht und wicze; Schirok, Die Bilder der illustrierten Handschriften, S. 5, 16–41, 185–6; Traband, Diebolt louber schriber zu hagenowe, S. 62, 65 und 90; Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter, S. 31; Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 34–50; Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 79–80; Ulzen, Überlieferung des Prologs, S. VII, und 22–24; Unterkircher, Die Buchmalerei, S. 115 und Abb. 77; Schirok, Der Aufbau von Wolframs ›Parzival‹, S. 85–87; Hofmeister, Manuscript Evidence in Wolfram’s Parzival; Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival; Stammler, Bebilderte Epenhandschriften, S. 142; Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, S. 615–616; Holter und Oettinger, Les principaux manuscrits a` peintures, S. 101–103; Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber, S. 126; Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt. Eine Nachlese, S. 43; Gebert, Handschriften der Gruppe „D“; Kurth, Handschriften aus der Werkstatt des Diebolt Lauber, Sp. 9–18; Benziger, Parzival in der deutschen Handschriftenillustration, S. 58–60 und Tafeln 35–41; Martin, Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, S. XX−XXI; Beer, Die Zimmernsche Bibliothek, S. 403; Modern, Die Zimmernschen Handschriften der k. k. Hofbibliothek, S. 143–144; Gottlieb, Ambraser Handschriften, S. 104; Gottlieb, Zimmernsche Handschriften in Wien, S. 308–309 und 312; Pfeiffer, Quellenmaterial zu altdeutschen Dichtungen, S. 34; Goedeke, Deutsche Dichtung im Mittelalter, S. 738; Tabulae codicum manu scriptorum, Bd. 2, S. 155; Hoffmann von Fallersleben, Verzeichnis der altdeutschen Handschriften, S. 37; Graff, Diutiska, Bd. 3, S. 342; Büsching, Docen und von der Hagen, hier verwendeten Makulatur handelt es sich jedoch offenbar nicht um die Abschrift eines längeren Textes; das Wort scheint schräg über die Seite geschrieben worden zu sein, unter- und oberhalb sind keine weiteren Zeilen zu erkennen. Die Zusammensetzung der letzten Lage ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. 5 Nach der Katalogbeschreibung von Martin Roland, die im Band Mitteleuropäische Schulen VI (ca. 1410–1450). Österreich ohne Wien und Niederösterreich, Deutschland, Schweiz (Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek 15), Wien 2008, erscheinen wird. Ich danke Herrn Dr. Roland sehr herzlich für die freundliche Überlassung des Typoskripts. 6 Die Angaben erfolgen in chronologischer Reihenfolge, wobei die jüngsten Titel zuerst genannt sind.

1 Handschrift m

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Museum für altdeutsche Literatur und Kunst, 1 (1809), S. 553; Büsching und von der Hagen, Literarischer Grundriss, S. 106. A r c h i v b e s c h r e i b u n g : Hermann Menhardt, November 1928 (2 Bll.), online unter: http://dtm.bbaw.de/HSA/Wien 70044939000.html

Die Geschichte der Handschrift lässt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen: Der Ledereinband7 aus dieser Zeit trägt die Initialen IGVZ 1552, die darauf hinweisen, dass sich der Codex im Besitz von Johann Christoph von Zimmern (1516–1556) befand, der seit 1542 Domdechant in Straßburg war. Nach dessen Tod 1556 kam die Handschrift zunächst in die Zimmern’sche Sammlung, 1576 nach der ‚Schenkung‘ des Grafen Wilhelm von Zimmern an Erzherzog Ferdinand weiter in die Ambraser Sammlung, wovon die alte Signatur Ms. Ambras 420 zeugt. An ihren heutigen Aufbewahrungsort gelangte die Handschrift schließlich nach dem Aussterben der tirolischen Linie der Habsburger, als sie 1665 zusammen mit einem Großteil des Bestandes von Leopold I. nach Wien in die Hofbibliothek überführt wurde. Auch über die Entstehung der Handschrift können einige Vermutungen angestellt werden. Die großzügige einspaltige Texteinrichtung mit durchschnittlich ca. 20–26 Zeilen pro Seite8 und die ganzseitigen, mit roten Überschriften betitelten lavierten Federzeichnungen legen auf den ersten Blick eine Herkunft aus der Lauberwerkstätte nahe.9 Gemäß den Untersuchungen von Saurma-Jeltsch fällt ihre Abschrift – wie die der anderen Lauber’schen ›Parzival‹-Handschriften n und o auch – in die mittlere Phase des Werkbetriebs (ab den 1430er Jahren bis ca. 1455), die durch eine Ausweitung des Gattungsspektrums gekennzeichnet ist:10 Neben religiösen Texten wie Historienbibeln und Andachtsbüchern werden nun auch historische, naturwissenschaftliche, juristische und epische Texte in das Programm der Werkstatt aufgenommen. Diese mittlere Phase lässt sich weiter in zwei Unterperioden unterteilen: bis 1445 ist der Erweiterungsprozess abgeschlossen, bis 1455 erfolgt eine völlige Umstrukturierung der Organisation der Werkstatt.11 Wenn die genauere Datierung der Wiener Handschrift auf 1440–1445, die aufgrund der stilistischen Einordnung und der Wasserzeichenanalyse nahe7 Vgl. zum Einband und den darauf befindlichen Signaturen ausführlicher Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 18–19. 8 Nur zu Beginn der Handschrift (bis Bl. 14r) liegt die durchschnittliche Anzahl pro Seite etwas höher, nämlich im Bereich von 27–29, einmal sogar bei 30 Zeilen (12v). Danach begegnen mehr als 26 Zeilen nur mehr in Ausnahmefällen. 9 Vgl. zur Seitengestaltung Abb. 1 (Eingangsinitiale), 2 (Textseite mit Großinitiale) und 10 (Bildseite mit Überschrift) in Anhang 1. 10 Vgl. dazu oben, S. 27. 11 Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 109.

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II Beschreibung der Textzeugen

gelegt wird, zutreffend ist, dann ist die Abschrift also am Ende der ersten Erweiterungsperiode einzuordnen. m ist damit der älteste der drei erhaltenen Lauber’schen ›Parzival‹-Codizes. Dieser Befund lässt es möglich erscheinen, dass sie eine frühe Stufe der Aneignung des klassischen Wolfram’schen Romans in der Werkstätte repräsentiert. Tatsächlich deuten einige Merkmale (insbesondere der Gliederung) darauf hin, dass die Handschrift einen solchen ersten Versuch der Texterschließung darstellt.12 Dem ‚Entdecker‘ der Lauberwerkstatt, Rudolf Kautzsch, war die Wiener Handschrift noch unbekannt gewesen. Ihre Einordnung in den Kreis der Lauber’schen Produkte erfolgte in einer kurzen Studie von Betty Kurth, die die Gleichartigkeit in Layout und Illustrationsstil mit den zuvor von Kautzsch aufgeführten Handschriften der Werkstatt erkannt hat.13 Sie hat die Bilder dem von Kautzsch identifizierten Hauptzeichner der Lauberwerkstatt, dem so genannten Meister A zugewiesen, dessen stilistische Merkmale auch in den Illustrationen der Dresdner ›Parzival‹-Handschrift o anzutreffen sind. Bereits Kurth war aufgefallen, dass trotz dieser formalen Gemeinsamkeiten große Unterschiede in der Komposition der Bildmotive in den beiden Handschriften bestehen. Das Spannungsfeld von Gleichartigkeit und Verschiedenheit, das als zentrales Thema der Lauberforschung gelten darf, wird bei m und o somit besonders deutlich. Eine ausführliche Untersuchung wurde m wenig später in der nur handschriftlich vorliegenden Dissertation von Theobald Gebert zu Teil.14 Sie ist die erste – und bislang einzige – detaillierte Einzelstudie zu einer ›Parzival‹Handschrift der Lauberwerkstätte. Angesichts der insbesondere von Fasbender monierten Neigung der Lauberforschung, die Beschreibung der einzelnen Handschriften gegenüber jener der Produktionsstätte hintanzustellen,15 ist es bezeichnend, dass die Arbeit von einem Verfasser stammt, dem die Existenz der Lauberwerkstätte offensichtlich noch verborgen geblieben war.16 Allerdings ging es auch Gebert nicht in erster Linie um die Einzelhandschrift an sich, sondern um Gesamtzusammenhänge, da er die Abhängigkeitsverhältnisse in der Textgruppe *D untersuchen wollte. Dieses Unternehmen konnte Gebert aufgrund 12 13 14 15 16

Vgl. dazu ausführlich unten, Kap. IV, 3.2.1.4, S. 340. Kurth, Handschriften aus der Werkstatt des Diebolt Lauber, Sp. 5–18. Gebert, Handschriften der Gruppe „D“. Vgl. Fasbender, Hu´bsch gemolt – schlecht geschrieben?, S. 70. Allerdings lag für Gebert der Verdacht einer „handwerksmäßigen Tradition“ von m, n und o bereits sehr nahe. Er ahnte sogar, dass nicht nur m, n und o, sondern auch „ihre (teilweise gemeinsamen) Vorfahren aus einer und derselben Schreibstube stammen“, konnte diesen Gedanken aber nicht weiter ausführen, da er keine Möglichkeit hatte, n und o einzusehen. Vgl. Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 7, Anm. 1.

1 Handschrift m

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der „ungünstigen Zeitläufte“ aber nicht vollenden, weshalb er sich mit einer Untersuchung von m und Teilen des Mentelin-Drucks W begnügen musste.17 Aus der heutigen Sicht einer mehr auf die Überlieferungsgeschichte ausgerichteten Philologie war diese Beschränkung jedoch fast ein Glücksfall, da Gebert die Untersuchung von m mit einer äußersten Genauigkeit und Ausführlichkeit durchführte, die selbst modernen Ansprüchen einer nicht mehr länger auf die Rekonstruktion eines Autororiginals fixierten Philologie gerecht zu werden vermag. Gebert verzeichnete nicht nur die materiellen Aspekte der Textgestalt und der Einrichtung des Codex, sondern auch sämtliche Lesarten, in denen m vom Lachmann’schen Text abweicht. Aufgrund seiner detaillierten Kenntnisse der Handschrift konnte Gebert wertvolle Hinweise ausfindig machen, die der Codex auf die Produktionsbedingungen in der Werkstatt zu geben vermag. So war es Gebert nicht entgangen, dass m im Bereich der Blätter 225r bis 230v einige größere Umstellungen, Auslassungen und Verdoppelungen ganzer Versgruppen aufweist, die Schlüsse auf die äußere Gestalt einer der Vorstufen von m zulassen.18 Die Verteilung der Verse der Lachmann’schen Ausgabe gestaltet sich in diesem Abschnitt wie folgt: Bl. 225r: Bl. 225v: Bl. 226r: Bl. 226v: Bl. 227r: Bl. 227v: Bl. 228r: Bl. 228v: Bl. 229r: Bl. 229v: Bl. 230r: Bl. 230v:

350,7–30 351,25–352,16 351,1–23 351,24; 352,17–353,8 353,9–354,1 354,2–25 354,26–355,16; mit zwei Zusatzversen nach 354,2619 356,11–26; 355,17–22 355,17–356,10 356,11–14; 356,27–357,14 357,15–20; 357,25–358,12 358,18; 358,17; 358,19-a20; 358,20-a; 358,21–359,11

17 Ebd., S. I. 18 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 5–8. 19 Die beiden Zusatzverse gehen auf eine frühere Stufe zurück, die bereits vor der behandelten Textumstellung liegt (*mnoV, vgl. dazu unten, Kap. III, 2.5 [S. 194 ff.]). 20 358,19-a und 358,20-a sind Umformulierungen der Lachmann’schen Verse 358,19 bzw. 20. Den Konventionen des Berner Parzival-Projekts gemäß werden diese Versvarianten mit der Versnummer nach Lachmann und einem mit Bindestrich nachgestellten Kleinbuchstaben bezeichnet. Zusatzverse erhalten als Referenz die Nummer des letzten Verses der Lachmann-Ausgabe, vermehrt um Schrägstrich (‚/‘) und Zahl. Auf wiederholte Verse wird durch die Erweiterung ‚-r‘ nach der Versnummer hingewiesen.

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II Beschreibung der Textzeugen

Wie Gebert ausführt, bietet den Schlüssel zum Verständnis dieser Textverwirrung der Ausfall von je vier Versen (357,21–24 bzw. 358,13–1621) auf Bl. 230. Die Übereinstimmung in der Zahl der entfallenen Verse ließe sich nämlich plausibel dadurch erklären, „daß sie der gleichen Stelle der Vorder- bzw Rückseite eines Halbblattes angehörten, die abgerissen wurde und in Verlust geriet“.22 Diese Vermutung lässt exakte Rückschlüsse auf die Einrichtung der beschädigten Seite in der Vorstufe zu: „Da zwischen den beiden Lücken 18 Verse stehen, muß die Zahl der Verse auf der r[ecto]-Seite des zerstörten Blattes 22 gewesen sein, wenn wir annehmen, die vier Verse hätten am obern Rand des Blattes gestanden. Entsprechendes gilt für die v[erso]-Seite, wenn der Verlust den unteren Rand betraf. Zugleich müßte das Blatt einspaltig geschrieben gewesen, im Äußern also einem Blatt von m nicht unähnlich gewesen sein.“23 Die Ähnlichkeit der Vorstufe mit m lässt sich durch weitere Berechnungen noch bestätigen: Nimmt man an, dass sich der abgerissene Streifen mit den verloren gegangenen Versen am unteren Rand des betreffenden Blattes befunden hat und zählt jeweils 22 Verse zurück, so erhält man folgende Rekonstruktion der beschädigten Stelle und ihrer vorangehenden Seite:24 (0v) (0r) (-1v)

Beschädigtes Blatt verso Beschädigtes Blatt recto Vorangehendes Blatt verso

358,16–357,25 357,24–357,3 357,2–356,11

Dass Vers 356,11 zu Beginn einer Seite zu stehen kommt, spricht für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Denn mit diesem Vers beginnen in m sowohl Bl. 228v als auch Bl. 229v; es erschien Gebert daher nahe liegend, dass 356,11 auch in der gestörten Vorstufe der oberste Vers einer Seite war, da anzunehmen ist, dass sich die Doppelung der Verse 356,11 ff. auf ein irrtümliches zweimaliges Abschreiben dieser Seite zurückführen lässt. Ebenso tritt 355,17 zweimal als Anfangsvers einer doppelt gesetzten Partie auf (Bll. 228v und 229r) und kann somit an den Beginn einer Seite gestellt werden. Die Rekonstruktion lässt sich also folgendermaßen fortsetzen: 21 Die auf diese Lücke folgende Umstellung von 358,18 und 17 sowie die beiden Ersatzverse 358,19-a und 358,20-a sind wie die Zusatzverse nach 354,26 ebenfalls bereits für die ältere Stufe *mnoV bzw. *mno anzusetzen, daher für den hier behandelten Sachverhalt nicht von Relevanz. Vgl. dazu unten, Kap. III, 2.5 (S. 194 ff.). 22 Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 5. 23 Ebd., S. 5–6. 24 Um die bessere Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, sind die rekonstruierten Blätter in den folgenden Tabellen mit einer zu Beginn der Zeile in Klammern stehenden Referenznummer versehen. Das beschädigte Blatt erhält dabei als Ausgangspunkt der Rekonstruktion die Zahl 0. Die Verszahlen sind aufgrund der rückläufigen Zählung im Format Blattende bis Blattanfang angegeben.

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1 Handschrift m (-1r)

Vorangehendes Blatt recto

356,10–355,17,

wobei diese Seite eine Zeilenzahl von 24 aufweist. Genau wie in den drei Lauber’schen ›Parzival‹-Handschriften m, n und o schwankt also auch in der Vorstufe die Anzahl der Verse pro Seite um einen Mittelwert von 22 bis 24. Bewegt man sich weiter in Richtung Textbeginn vor, stößt man auf die 92 Verse von 355,16 bis 352,17 (mit zwei Zusatzversen, vgl. die obige Übersicht), die im Wiener ›Parzival‹ ohne Störung wiedergegeben werden. Aufgrund der Ähnlichkeit mit m ist auch in der Vorstufe eine entsprechende Verteilung auf 4 Seiten zu erwarten, sie füllen daher in der Rekonstruktion die Blätter 2 und 3 vor dem beschädigten Blatt, so dass man schließlich an den Beginn der falsch abgeschriebenen Stelle gelangt: (-4v) (-4r)

4. Blatt vor dem beschädigten Blatt verso 4. Blatt vor dem beschädigten Blatt recto

352,16–351,25 351,24–351,1

In m kommen die Verse der verso-Seite vor denen der recto-Seite zu stehen. Die Umstellung lässt sich relativ einfach durch die Annahme erklären, dass das Halbblatt lose war und bei der Abschrift verkehrt zu liegen gekommen ist. Komplizierter gestaltet sich die Auflösung der verbleibenden Verwirrung der Verse 355,17–356,26. Folgt man der Rekonstruktion, geht sie auf eine Störung auf dem Blatt zurück, das der beschädigten Stelle vorangeht (-1). Gebert hielt sich an das einmal bewährte Erklärungsmuster und nahm auch hier eine materielle Beeinträchtigung an: Das Blatt „muß nicht nur von seinem zugehörigen Halb-Blatt getrennt gewesen sein, sondern auch querdurch einen Riß gehabt haben, der auf der v[erso]-Seite zwischen den Versen 356,26 und 27 durchging; auf der r[ecto]Seite mag er den Vers 356,4 oder 5 betroffen haben u. zw. diesen in der Schrift, was der Grund gewesen sein muß, daß die beiden Teile für diese Seite richtig zusammengepaßt wurden.“25 Man erhält daher die folgende Disposition der Verse auf die einzelnen Stücke: Oberer Teil: Unterer Teil:

(recto) 355,17–356,4 (recto) 356,5–10

(verso) 356,11–26 (verso) 356,27–357,2

Der Verfasser der Abschrift begann demnach mit der verso-Seite des oberen Teils und ließ dann dessen recto-Seite folgen, die bis zum Vers 355,22 auf Bl. 228v Platz hatte. Auf Bl. 229r brach er jedoch seine Abschrift ab und begann von neuem mit 355,17, also der recto-Seite des oberen Teils. Gebert erklärte sich diesen Umstand dadurch, dass der Schreiber aufgrund eines lädierten Verses (356,4 oder 5) auf den Fehler in der Vorlage aufmerksam wurde und die Teile nun richtig zusammenzusetzen vermochte. Gebert ging also davon aus, dass der Schreiber 25 Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 7.

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II Beschreibung der Textzeugen

„wohl nach einer Arbeitspause“26 auf die Idee verfallen ist, auf das Ende des vorliegenden Blatt-Teiles zu blicken. Diese Vermutung ist zumindest dahingehend zu präzisieren, dass sich der Schreiber offensichtlich erst dann zum Umdenken veranlasst sah, als er zu Beginn von Bl. 229r bemerkte, dass er mit der Seiteneinrichtung in der Vorlage, der er über weite Strecken ja gefolgt war, nicht mehr konform gehen konnte. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass der Vers 355,23, der eigentlich auf den Abbruch folgen sollte, mit einer Initiale beginnt. Man könnte also annehmen, dass sich der Schreiber auch an der Position dieser Initiale auf der Vorlagenseite orientieren wollte.27 Nach dem Neubeginn gab der Schreiber zunächst die zwei Teile der recto-Seite richtig wieder, blätterte dann um und setzte der Reihenfolge entsprechend mit dem oberen Teil der verso-Seite fort, ging aber bereits nach dem vierten Vers (356,14), „wohl weil er inzwischen merkte, daß er die Verse schon einmal geschrieben hatte“,28 zum unteren Teil über und konnte danach die Partie ab 357,3 anschließen. Mit diesem Vers ist aber jenes Blatt erreicht, an dessen unterem Ende der Randstreifen mit den jeweils vier Zeilen fehlte. Es lässt sich daher annehmen, dass dieses Halbblatt (0) mit dem vorangehenden (-1) das innerste Blatt einer Lage gebildet hatte, das in vier Teile zerrissen oder geschnitten wurde, von denen einer verloren ging. Das verkehrt abgeschriebene Blatt und der entfallene Randstreifen bilden zweifellos die Fixpunkte in der Argumentation Geberts. Weit weniger zwingend bleibt die Erklärung der Konfusion der Verse 355,17–356,26, denn es ist merkwürdig, dass der Schreiber die doch wohl recht offensichtliche Zerstörung dieses Blattes zunächst nicht bemerkt haben sollte oder ignorierte, um dann erst wieder zur richtigen Reihenfolge zurückzukehren. Auch wenn man die Annahme einer Orientierung an der Einrichtung der Vorlagenseite zu Hilfe nimmt, lässt sich nicht erklären, wieso der Schreiber anschließend ausgerechnet vier Zeilen doppelt wiedergab und danach beschloss, sich die restlichen Verse zu ersparen – und damit eine Entscheidung gegen das vorgegebene Layout traf.29

26 Ebd., S. 7. 27 Noch eine weitere Initiale erscheint an einer für die Umstellung relevanten Stelle, nämlich bei 356,27. Beide Textblöcke auf Bl. 228v (356,11–26 und 355,17–22) enden somit jeweils unmittelbar vor einer Initiale. 28 Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 7. 29 Auffällig ist jedoch, dass dieser Abweichung zum Trotz auf Bl. 230v, also nach der Textverwirrung, die formale Konkordanz zum rekonstruierten Kodex wieder hergestellt ist und Bl. 230v genau mit demselben Vers wie die auf (0v) folgende Seite beginnt. Dieser Befund bestätigt die Tendenz zur seitengenauen Abschrift.

1 Handschrift m

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Zunächst beweisen Geberts Untersuchungen, dass mindestens eine Vorstufe von m ähnlich wie die Lauber’schen Codizes eingerichtet war. Es liegt nahe anzunehmen, dass diese Vorstufe ebenfalls in der Hagenauer Schreibstube entstanden ist. Ihre starke Beschädigung könnte als Indiz dafür angesehen werden, dass die Handschrift ein reines Werkstattexemplar war. Schon Kautzsch hatte die Tatsache, dass aus der Lauber’schen Produktion nur einander nebengeordnete Tochterhandschriften erhalten sind, die sich nicht voneinander ableiten lassen, zur Vermutung veranlasst, dass die Vorlagen „durch häufigen Gebrauch in der Werkstatt zu Grunde“ gingen.30 Durch die Rekonstruktionen Geberts scheint dieser Abnützungsprozess greifbar zu werden.31 Die Wiener Handschrift war demnach nicht der erste ›Parzival‹, der in der Lauberwerkstätte entstanden ist. Fraglich bleibt, wie viele Abschriften zwischen dem rekonstruierten Werkstattexemplar und m liegen. Es erscheint jedoch eher unwahrscheinlich, dass sich derart auffällige Umstellungen gleich über mehrere Stufen hindurch bewahrt haben. Dennoch glaubte Gebert an der Auffassung festhalten zu müssen, dass m nicht direkt aus der zerstörten Vorstufe geflossen sein kann. Seine Einschätzung stützt sich im Wesentlichen darauf, dass er die Veränderung der Verse 358,17–20, die auf die zweite durch Materialverlust entfallene Vierergruppe folgen, für einen bewussten Versuch zur Bewältigung der entstandenen Textkonfusion hielt: Aufgrund der Lücke kommt es bei der Szene, die von Gawans Ankunft auf 30 Kautzsch, Einleitende Erörterungen, S. 75. 31 Eigenprodukte der Werkstatt als Vorlagen nehmen auch von Bloh, Die illustrierten Historienbibeln, S. 213–215, und Rapp, bücher gar hu´bsch gemolt, S. 183, an, wobei letztere vor allem aufgrund der standardisierten Einrichtung des ‚Markenartikels‘ auf das Vorhandensein eines Werkstattexemplars schließt. Auf die Abnützung von Vorlagenexemplaren könnte zudem der Umstand hindeuten, dass sich immer wieder Lauberhandschriften finden lassen, in denen eindeutig in der Werkstatt entstandene Texte als Makulatur verwendet wurden (vgl. hierzu Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 90 und 106. Auch in m begegnet ja ein ähnlicher Makulaturstreifen, der den Anfang des Wortes Jtem in Bastarda-Schrift trägt [vgl. oben, Anm. 4], es handelt sich jedoch nicht um einen Ausschnitt aus dem ›Parzival‹-Text). Demgegenüber hat Saurma-Jeltsch bei ihrer umfassenden Untersuchung der Produktionsverhältnisse die Annahme eines in der Werkstatt einbehaltenen ‚Urexemplars‘ zurückgewiesen (vgl. Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 106: „Wegen dem meist bestehenden Produktionsengpaß scheint es im Gegenteil wie in anderen Werkstätten üblich gewesen zu sein, immer wieder neue Exemplare herzustellen.“). Zumindest im Einzelfall der ›Parzival‹-Handschriften scheint sich mit der hier nachgezeichneten Rekonstruktion aber eher die Position von Rapp und von Bloh zu bestätigen (Vgl. zusammenfassend zur bisherigen Diskussion um das Lauber’sche ‚Werkstattexemplar‘ Fasbender, Werkstattschreiber, S. 114–124).

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II Beschreibung der Textzeugen

Bearosche berichtet, zur Verschmelzung der direkten Rede Obilots, die den von ihr zu ihrem Ritter erkorenen Gawan vor den Schmähungen ihrer Schwester Obie verteidigen will, mit der Beschreibung, wie dieser das Streitgespräch über sich ergehen lassen muss. In der Lachmann’schen Ausgabe lautet die Passage: 358,8 358,9 358,10 358,11 358,12 358,13 358,14 358,15 358,16 358,17 358,18 358,19 358,20

si sprach ‚er mac si’s wol erholn: ich gib im noch gein ellen troˆst, daz er dıˆns spottes wirt erloˆst. er sol dienst gein mir keˆren, unde ich wil im freude meˆren. sıˆt du gihst er sıˆ ein koufman, er sol mıˆns loˆnes market haˆn.’ ir beˆder strıˆt der worte Gaˆwaˆn ze merke hoˆrte. als ez im doˆ getohte übersaz erz, swie er mohte. sol luˆter herze sich niht schemen, daz muoz der toˆt dervon eˆ nemen.

In m ergibt sich nach dem Ausfall der Verse folgendes Bild: 358,8 358,9 358,10 358,11 358,12 358,18 358,17 358,19-a 358,20-a

Die *prach er mag *ichs wol erholn Jch gib yme noch gegen ellen tro*t Das er dines *pottes wurt erlo*t Er *ol diene*t gegen mir keren Jch wil yme fro de meren Vnd u ber *as es wie er mohte Als es y˙me do gedohte Wand er was *chamlich vnd doch wi*e Das fugette yme dicke hohen prise

Gebert vermutete, dass einer der Schreiber in der Reihe der Vorstufen von m durch „das unvermittelte Nebeneinander von direkter Rede in erster und zweiter Person und von historischer Erzählung“ irritiert war und daher „V. 17 hinter V. 18 stellte und sie durch vnd an das Vorhergehende anknüpfte“, sowie „die störende allgemeine Sentenz im folgenden Verspaar durch zwei eigene Verse unter Verwendung des Wortschatzes jener beiden“32 ersetzte – ein Eingriff, den er dem sich sonst eher konservativ verhaltenden Verfasser von m offensichtlich nicht zutraute. In der Tat stammt diese Variation nicht vom Schreiber der Wiener Handschrift. Sie lässt sich allerdings bereits für eine Stufe ansetzen, die sogar noch vor der Abschrift aus dem beschädigten Exemplar liegt: Da Gebert bei seiner Beurteilung von n und o auf die Angaben der Lesarten bei Lachmann und Martin33 32 Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 5, Anm. 3. 33 Vgl. zu den beiden Ausgaben oben, S. 2 f.

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angewiesen war, die diese Variante nicht verzeichnen, war ihm entgangen, dass sich die Abänderung auch im Dresdner und im Heidelberger ›Parzival‹ finden lässt, die im Gegensatz zu m den vorangehenden Textverlust der Verse 358,13–16 nicht aufweisen.34 Bei der Umstellung handelt es sich daher nicht um einen bewussten Schreibereingriff zur Textglättung, sondern dieser lässt sich bereits für die gemeinsame Vorstufe der Lauberhandschriften *mno nachweisen. Im Hinblick auf die Methodengeschichte ist Geberts Interpretation dieser Varianz-Stelle dennoch bemerkenswert: Sie zeugt – wie seine grundsätzliche Detailgenauigkeit bei der Untersuchung von m – eindrucksvoll davon, dass eine Beschäftigung mit der Textgestalt von Einzelhandschriften und der Versuch einer Interpretation von Varianzbefunden bereits lange vor dem überlieferungsgeschichtlichen Paradigmenwechsel der Textkritik durchaus nicht undenkbar waren. Zugleich zeigt sich bei Geberts Auseinandersetzung mit der Lesart von m aber bereits ein gewichtiges methodisches Problem bei der Interpretation von Varianz, das in der vorliegenden Arbeit noch weiter von Interesse sein wird: Aus einer in einer speziellen Einzelhandschrift überlieferten Textabweichung kann nicht ohne weitere Erforschung vorgängiger Textmutationen auf einen bestimmten Gestaltungswillen des Handschriftenverfassers geschlossen werden. Die Eigenart des Textzeugen zeigt sich mithin immer erst im Vergleich mit dem rekonstruierten Vorlagenbestand. Dies hatte Gebert aufgrund der in seinem Fall erzwungenen Fixierung auf die Einzelhandschrift übersehen. Die Entlarvung der vermeintlichen Textglättung als bereits früher anzusetzende Überarbeitung bringt seine Argumentation zu Fall; es erscheint daher keineswegs ausgeschlossen, dass das rekonstruierte defekte Werkstattexemplar die unmittelbare Vorlage von m war. Weitere in der Lauberwerkstatt vorgenommene ›Parzival‹-Abschriften zwischen den beiden Handschriften lassen sich somit nicht nachweisen. In jedem Fall dürfte die Wiener Handschrift auf eine Vorlage zurückgehen, die m in der Anlage sehr genau entsprochen hat. Als weiteres Indiz hierfür kann die Tilgung eines ganzen Verses zu Beginn von Bl. 301r herangezogen werden, die auf einen mit der seitengenauen Wiedergabe in Zusammenhang stehenden Abschreibfehler schließen lässt. Unter der mit weißer Farbe durchgeführten Korrektur lassen sich die Worte min manlich sowie ein abschließendes t erkennen. Es dürfte sich somit um den Vers 461,16 J*t min manlich hercze wunt handeln, mit dem bereits Bl. 300v beginnt. Der Schreiber hat also offensichtlich irrtümlich damit begonnen, die vorangehende Seite der Vorlage noch einmal abzuschreiben – 34 Die Änderung der Verse 358,19 und 20 findet sich zudem – ohne die Umstellung von 358,17/18 – auch in Handschrift V. Vgl. zu den textgeschichtlichen Verhältnissen unten, Kap. III, 2.5 (S. 194 ff.).

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II Beschreibung der Textzeugen

ein Fehler, der nur deswegen hatte passieren können, weil die Vorlagenseite exakt mit der Abschrift übereinstimmte.35 Es bestätigt sich daher, dass die Vorlage dieselbe für die Handschriften aus der Lauberhandschrift typische Zeilenzahl aufgewiesen hat. Während diese Erkenntnisse Geberts Rückschlüsse auf nicht allzu weit zurückliegende Vorstufen von m zulassen, ergeben sich noch weitere Indizien auf zeitlich weniger genau bestimmbare Vorläuferhandschriften durch Geberts sorgfältige Analyse des Sprachstandes von m. Gebert zufolge lässt sich nämlich ein deutlicher sprachlicher Bruch um den 450. Dreißiger beobachten.36 Am auffälligsten zeigt sich dieser bei der Apokope im Reim37 und beim Wechsel zwischen flektierter und nicht flektierter Form des attributiven Adjektivs.38 Im zweiten Teil besteht ein deutlicher Hang zur Apokope und zum Gebrauch der unflektierten Form, der im ersten Teil noch nicht ausgeprägt war. Gebert verweist darauf, dass dieser Wechsel nicht auf Diskrepanzen „zwischen zwei Mundarten oder zwischen einer Mundart und einer der ‚Schriftsprache‘ angenäherten Sprachform“ hindeutet, sondern dass sich die Sprachform des zweiten Teils „mehr an die gesprochene Sprache“39 anlehnt. Dem ist hinzuzufügen, dass sich das geänderte Verhalten auch als Modernisierung der im ersten Teil noch konservativeren Formen interpretieren ließe.40 Da sich in m keinerlei Spuren einer Arbeitsunterbrechung bzw. eines Neuanfangs finden lassen und es merkwürdig wäre, wenn ein Schreiber mit einem Mal einige seiner Schreibgewohnheiten geändert hätte, ging Gebert davon aus, dass sich die Unterschiede auf zwei unterschiedliche Schreiber einer Vorstufe von m zurückführen lassen. Die alternative Möglichkeit, dass in einer Vorstufe oder bei der Abschrift von m die Vorlage gewechselt hat, hielt Gebert demgegenüber für unwahrscheinlich, da „das durchaus einheitliche Verhalten von m, was die Genealogie anlangt“, dagegen spreche; „es könnten höchstens zwei ganz verwandte Stücke gewesen sein“.41 Völlig ausgeschlossen werden kann die Annahme eines Vorlagenwechsels jedoch nicht. Angesichts der zuvor aufgezeigten offensichtlichen Zerstörung der Vorlage im Bereich von 355–358 scheint es sogar eher nahe liegend zu sein, dass 35 36 37 38 39 40

Vgl. Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 9. Vgl. ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 38–39. Vgl. ebd., S. 71–73. Ebd., S. 100. Zur zeitlich-regionalen Verlaufsbestimmung der Apokope und ihrer Problematik vgl. Reichmann und Wegera, Frühneuhochdeutsche Grammatik, § L 40, S. 80–81. Zur Flexionslosigkeit der Adjektive ebd. § M 46–48, S. 199–201. 41 Gebert, Handschriften der Gruppe „D“, S. 100. Zur textgeschichtlichen Einordnung vgl. unten, Kap. III, 1.1.2 (S. 105 ff.).

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genau dieses ältere, vielleicht schon stark abgenützte Vorlagenexemplar im zweiten Teil durch eine andere Handschrift ersetzte wurde und auf diese Weise der sprachliche Bruch in m zustande gekommen ist. Diese zweite Quelle hätte der ersten gewiss sehr ähnlich sein müssen; in Kenntnis der standardisierten Entstehungsbedingungen innerhalb der Lauberwerkstatt wird man diesem Umstand gegenüber jedoch weniger Vorbehalte haben als Gebert.42 Nicht erwähnt wird bei Gebert, dass auch die 31 rubrizierten Überschriften, die sich in der Handschrift finden lassen, einen charakteristischen Bruch in der sprachlichen Gestaltung zeigen, der sich ebenfalls genau an derselben Stelle lokalisieren lässt: Bis einschließlich der Überschrift vor 446,1 beginnen die Rubriken zumeist mit dem Einleitewort wie (13 Rubriken), nur einmal mit also und dreimal mit einem anderen Einleitewort. Dieses Verhältnis kehrt sich mit der nächsten Überschrift (vor 453,1) vollkommen um: Es folgen 11 Rubriken mit Al*o, nur eine mit Wie (verschrieben zu Vie) sowie 2 weitere Überschriften mit anderer Einleitung.43 Weitere Hinweise auf die Produktionsbedingungen der Handschrift lassen sich schließlich aus den Illustrationen von m beziehen. Sie tragen wie jene der Dresdner ›Parzival‹-Handschrift die stilistischen Merkmale des ‚Meisters A‘ bzw. der Illustratorengruppe A, die in der Werkstatt am häufigsten auftritt.44 Ihre charakteristische, stark normalisierte und dadurch für die Lauberwerkstatt geradezu repräsentative Arbeit lässt sich in nicht weniger als 29 Handschriften nachweisen. In der Zeit von 1425 bis 1445 hatte sie eine beinahe monopolistische Stellung bei der Illustrierung der Handschriften inne.45 Trotz der gleichförmigen stilistischen

42 Zur textgeschichtlichen Konsequenz des Bruchs vgl. unten, Kap. III, 1.1.2, S. 108 f. 43 Vgl. ausführlich zu den Überschriften und weiteren Gliederungsmaßnahmen der Handschrift unten, Kap. IV, 3.2.1 (S. 279 ff.). 44 Kautzsch vermutete im Hauptzeichner ‚Meister A‘ sogar Lauber selbst (Vgl. Ders., Diebolt Lauber und seine Werkstatt. Eine Nachlese, S. 43). Diese Annahme ist spätestens seit den Untersuchungen von Saurma-Jeltsch nicht mehr haltbar, die darauf hingewiesen hat, dass der Stil dieses ‚Meisters‘ trotz seiner Einheitlichkeit vermutlich nicht von einer Einzelperson, sondern von einem Kollektiv getragen wurde (Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 101, Charakterisierung ebd., S. 101–103 und 109–111). Diese Auffassung wird für den speziellen Fall der ›Parzival‹-Handschriften noch weiter durch die stilistischen Untersuchungen von Stephan-Chlustin, Artuswelt und Gralswelt, bestätigt, auch wenn Stephan-Chlustin zur Stützung der These von einer allzu sehr auf das ‚richtige‘ Textverständnis fixierten Auffassung der Text-Bild-Beziehungen ausgeht (Vgl. zur Kritik ihrer Methodik Viehhauser, Das Abenteuer der Interdisziplinarität). 45 Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 99.

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II Beschreibung der Textzeugen

Ausführung bestehen jedoch zum Teil erhebliche Unterschiede in den Bildmotiven im Vergleich zur Dresdner Handschrift.46 Erst in den vierziger Jahren – somit also in der Zeit der Entstehung der beiden genannten ›Parzival‹-Handschriften – verliert die Gruppe A ihre Vorrangstellung in der Werkstatt, es treten nun auch wieder vermehrt andere Zeichnergruppen hinzu. Die ›Parzival‹-Handschriften m und o gehören somit schon in die Spätzeit der Illustratorengruppe. Im Zusammenhang mit der Einstellung der Produzenten zum ‚höfischen Klassiker‘ ist insbesondere beachtenswert, dass sich die Gruppe A im Verlauf der Jahre stilistisch durchaus konservativ verhalten hat.47 Es wird in den späteren Kapiteln zu zeigen sein, inwieweit sich Parallelen zu dieser nostalgischen Einstellung auch bei der textlichen Aneignung des höfischen ‚Klassikers‘ auffinden lassen. Saurma-Jeltsch zufolge sind einige der Wappen, die in den Bildern der Handschrift zu sehen sind, als fränkisch zu identifizieren: So trägt etwa Segramors im Kampf gegen Parzival (Bl. 179v) „wahrscheinlich das Zeichen der von Hutten“. Parzivals Schild beim Kampf gegen Gramoflanz (B. 456v) kann „sowohl den von Masbach als auch den von Raitenbach zugeschrieben werden.“ Ob hier allerdings tatsächlich konkrete Bezüge auszumachen sind, lässt sich nicht sichern, zumal, wie Saurma-Jeltsch feststellt, die Interpretation des Befundes nicht unproblematisch ist: „Es fällt jedoch schwer, Gründe zu finden für die Verwendung 46 So schon Kurth, Handschriften aus der Werkstatt des Diebolt Lauber, Sp. 14–16. Vgl. dazu die ausführliche Analyse des Bild-Überschriftenprogramms unten, Kap. IV, 3.2.1. (S. 279 ff.). 47 Über die stilistische Gleichförmigkeit der Gruppe urteilt etwa Saurma-Jeltsch (Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 111): „Eine solche über dreißig Jahre sich haltende Kontinuität des Stils wirkt geradezu programmatisch, wenn man an den in der zeitgenössischen Kunst auch am Oberrhein einsetzenden Umbruch denkt. Man möchte fast von einer nostalgischen Verherrlichung des weichen Stils sprechen.“ Nach den Erkenntnissen von Saurma-Jeltsch (ebd., S. 119) wurden einige Arbeiten dieser Illustratorengruppe (die Initialseiten) in der in den vierziger Jahren entstandenen fünfbändigen Heidelberger Bibel (Cpg 19–23) sogar teilweise von anderen Zeichnergruppen überarbeitet, da sie „offenbar als veraltet“ empfunden wurden. Möglicherweise ist zu dieser Zeit das letzte Mitglied der Gruppe A aus dem Werkstatt-Verband ausgeschieden; hierauf verweisen auch einige Blätter dieser Gruppe im Cpg 23, die vermutlich nicht mehr fertig gestellt wurden. Danach wird A als richtungweisende Hauptgruppe von der Gruppe F abgelöst, die nach SaurmaJeltsch (ebd., S. 125) einen tief greifenden Wandel zu einer dramatischeren Bildauffassung mit sich bringt, vor der sich die alte statischere Darstellungsweise von A deutlich abhebt. Zur Charakterisierung des Stils von A vgl. auch Kautzsch, Diebold Lauber und seine Werkstatt, S. 57–71; für den ›Parzival‹ insbesondere StephanChlustin, Artuswelt und Gralswelt im Bild; zur Einordnung des Stils in das Umfeld der Werkstatt schließlich Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 167–168.

2 Handschrift n

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von fränkischen Wappen, deren Geschlechter [. ..] in keinen verwandtschaftlichen Beziehungen stehen.“48 Eine mögliche Verbindung ergebe sich aber durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur Adelsgesellschaft in der Fürspang von Franken.49 Die genannten Namen gehören somit zu einer auch für andere Lauberhandschriften nachweisbaren „Schicht von Dienstleuten, meist gebildete[n] Adelige[n], die eng mit den Höfen der Grafen von Württemberg, der Markgrafen von Baden und der Pfalzgrafen verbunden sind“.50

2 Handschrift n – Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 339 Papier, 2*–4* + 4a + 4b + 609 Bll. (gezählt bis 605 mit 335a, 336a, 352a, 516a) + 605*–609* in zwei Bänden – Format: 28 x 19 cm (Schriftraum 18–19 x 10,5–11 cm) – einspaltig, 20–25 Zeilen – eine Hand51 – um 145552 – elsässisch – eine ganzseitige Eingangsillustration53, 63 ganzseitige Bilder mit rubrizierten Überschriften und Zählung in römischen Zahlen, dazu noch zwei weitere gezählte Überschriften ohne Bild; die Überschriften sind in einem vorangestellten Inhaltsverzeichnis aufgelistet. L a g e n : 54 (IV–1)4 (mit 2*–4*; 4a und 4b neu dazu gebunden) + (VI–1)15 + 48 VI587 (mit 335a, 336a, 352a und 516a) + VII601 + (VI–4)609. 48 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 161. 49 Vgl. ebd., S. 161; zu den Fürspängern vgl. Andreas Ranft, Adelsgesellschaften, S. 37– 116. 50 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 162. 51 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 2, S. 65, nimmt zwei Hände an, verzeichnet aber nicht die Stellen, an denen der zweite Schreiber auftreten soll. Dies wird nachgeholt in der Katalogbeschreibung von Karin Zimmermann (Dies., Cod. Pal. germ. 339, S. 125). Der Wechsel erfolgt angeblich zwischen Seite 110v und 111r. Saurma-Jeltsch konzediert selbst in ihrem Handschriftenverzeichnis, dass die Hände „sehr nahe verwandt“ seien. 52 Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 2, S. 65 stellt ihrer „Stil- und Kostümdatierung“ auf 1455 eine „Datierung nach Wasserzeichen“ auf 1443–1446 zur Seite, der jedoch hier aufgrund der Unklarheit des Wasserzeichenbefundes nicht gefolgt wird. 53 Vgl. Abb. 9 in Anhang 1. 54 Da die Blätter bei der Restaurierung teilweise mit Falzen verstärkt wurden, lassen sich die letzten drei Lagen nicht mit Sicherheit bestimmen. Blatt 4a und 4b befanden sich zur Zeit der Archivbeschreibung von Jungbluth noch zwischen Blatt 4 und 5, also zwischen Register und Eingangsbild (vgl. Jungbluths Inhaltsbeschreibung auf Bl. 9, vgl. auch den Eintrag des Bibliothekars Hermann Finke am vorderen Innendeckel). Dies bestätigen auch die Abdrücke der Initiale auf Blatt 4*v und des Blattweisers auf 4bv. Blatt 4b war das jetzt fehlende Blatt der heutigen 2. Lage. In der

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II Beschreibung der Textzeugen

Wa s s e r z e i c h e n : Ochsenkopf mit einkonturiger Stange mit Stern (verschiedene Varianten), darunter vergleichbar Piccard 2 VII/537, Piccard 2 VII/269. Einmal (Bl. 503) Ochsenkopf mit Nase und einkonturiger Stange und Stern, vergleichbar Piccard 2 IX 85 oder 98. Krone ohne Bügel, ohne Beizeichen (verschiedene Varianten), darunter vergleichbar Piccard 1 I/313 und 316. Menschenkopf mit Haarbinde, ähnlich Briquet 15631. L i t e r a t u r : Obermaier, Lesen mit den Augen der Illustratoren; Stephan-Chlustin, Artuswelt und Gralswelt im Bild, S. 41–200, 243–264 und Abb. 1 ff.; Zimmermann, Cod. Pal. germ. 339, S. 125–127; Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung; Drecoll, Tod in der Liebe – Liebe im Tod, S. 24 f. und Abb. 16–17, 88–89; Zimmermann, Die Anfänge der Bibliotheca Palatina, S. 147–148; Saurma-Jeltsch, Der Brüsseler ›Tristan‹, S. 253, 283, 291–292, Abb. 3–4, 34, 40, 42; Ott, Die HandschriftenTradition im 15. Jahrhundert, S. 96; Ott, Zur Ikonographie des Parzival-Stoffs, S. 123, Abb. 27 ff.; Saurma-Jeltsch, Zum Wandel der Erzählweise, S. 146–149, Abb. 27–29; Ott, Auf dem Wege zur Druckgraphik, S. 6–7, Abb. 1; Backes, Das literarische Leben am kurpfälzischen Hof, S. 59, Anm. 35; Flood, Johann Mentelin und Ruprecht von Pfalz-Simmern, S. 202–203; Stamm-Saurma, Zuht und wicze, S. 66; Mittler und Werner, Mit der Zeit, S. 86–87; Schirok, Die Bilder der illustrierten Handschriften, S. 5, 42–79, 186–191; Schirok, Parzivalrezeption, S. 31; Traband, Diebolt louber schriber zu hagenowe, S. 85; Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 80–82; Frühmorgen-Voss, Mittelhochdeutsche weltliche Literatur und ihre Illustration, S. 21; Ulzen, Überlieferung des Prologs, S. VII, S. 25–27; Schirok, Der Aufbau von Wolframs ›Parzival‹, S. 87–90; Hofmeister, Manuscript Evidence in Wolfram’s Parzival; Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival; Stammler, Bebilderte Epenhandschriften, S. 142; Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber, S. 132; Wegener, Beschreibendes Verzeichnis der deutschen Bilderhandschriften, S. 46; Benziger, Parzival in der deutschen Handschriftenillustration, S. 27–33, 48–52, Abb. 24–27; Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 106–107; Schreiber, Neue Bausteine zu einer Lebensgeschichte, S. 116; Martin, Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, S. XXI; Bartsch, Die altdeutschen Handschriften der Universitätsbibliothek in Heidelberg, S. 81; Pfeiffer, Quellenmaterial zu altdeutschen Dichtungen, S. 34; Lachmann, Wolfram von Eschenbach, S. XVI; Wilken, Geschichte der Bildung, Beraubung und Vernichtung, S. 416–417; Adelung, Altdeutsche Gedichte in Rom, S. 21–28; Adelung, Nachrichten von altdeutschen Gedichten, S. 24. A r c h i v b e s c h r e i b u n g : Günther Jungbluth Februar 1937 (11 Bll.), online unter http://dtm.bbaw.de/HSA/Heidelberg 70035697000.html D i g i t a l f a k s i m i l e : http://digi.ub.uni-heidelberg.de/cpg339i und http://digi.ub.uniheidelberg.de/cpg339ii

Bibliothekarsnotiz ist noch ein Blatt 1* verzeichnet, dies könnte das fehlende Blatt der 1. Lage gewesen sein, das heute verloren ist. Vgl. hierzu Zimmermann, Cod. Pal. germ. 339, S. 125.

2 Handschrift n

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1623–1816 befand sich die Handschrift in der vatikanischen Bibliothek in Rom, wo sie mit einem „helle[n], aus Rom stammende[n]“ Schweinsledereinband des 17. Jh. versehen wurde, den Becker 1977 noch gesehen hatte.55 Dieser Einband wurde bei der Restaurierung im Oktober 1983 jedoch ersetzt, der alte römische Pergamentrücken ist heute am hinteren Spiegelblatt der Handschrift befestigt.56 Bei der Restauration wurde zudem der ursprünglich 11 cm dicke Buchblock in zwei Teile getrennt und diese separat als zwei Bände in moderne Einbände neu gebunden.57 Die heutige Zweiteilung von n ist also erst in jüngster Zeit entstanden, und es gibt keinen Beleg dafür, dass sie bereits früher einmal vorgenommen wurde, auch wenn die Unhandlichkeit des Codex eine Aufteilung in Bände nahe gelegt haben mag.58 Dies ist insbesondere deswegen von Bedeutung, da n wiederholt mit jenen Handschriften in Verbindung gebracht wurde, über deren Anfertigung für Herzog Ruprecht von Pfalz-Simmern im Lauber-Brief (A) berichtet wird.59 Unter den angeführten Titeln befindet sich auch der parcifal die beiden bu cher gar hu´b*ch gemolt. Mit der Angabe die beiden bu cher könnten zwei verschiedene Exemplare, aber auch zwei Bände einer Ausgabe gemeint gewesen sein.60 Die heutige Zweiteilung von n könnte dazu verführen, n mit diesen ‚beiden Büchern‘ zu identifizieren. Dies lässt sich jedoch nicht beweisen.61 Die Annahme, dass Herzog Ruprecht der Auftraggeber der Handschrift war, muss daher bloße Spekulation bleiben.62 55 Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 80. 56 Darauf ist laut Angabe von Zimmermann, Cod. Pal. germ. 339, unter der Quarzlampe zu lesen: 339 / Poema Historicum de rebus / gestis Parcifalis Principum (aus dem 17. Jh.; im 18./19. Jh. ergänzt:) Parcival. 57 Vgl. den am hinteren Spiegel des ersten Bandes befestigten Restaurationsbericht, der online unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/sammlung1/werk/cpg339i.xml?docname=cpg339i&pageid=PAGE0575 als Digitalfaksimile abrufbar ist. 58 Vgl. die geradezu prophetisch anmutende Anmerkung Beckers: „Der Parzival, der wegen der geringen Zeilenzahl pro Seite im Cpg 339 über 600 Bll füllt und einen unhandlichen Band abgibt, war anscheinend als zweibändige Ausgabe gedacht“ (Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 81, Anm. 3). 59 Vgl. dazu oben, S. 21. 60 Vgl. Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 81, Anm. 3. 61 Vgl. Flood, Johann Mentelin und Ruprecht von Pfalz-Simmern, S. 202–203. 62 Zuletzt hielt Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 71, die Annahme für eine „nicht unplausible Hypothese“. Oftmals wurde die These noch weitergeführt, indem in der angeblich Herzog Ruprecht zugehörigen Handschrift n die Vorlage für den Mentelin-Druck gesehen wurde, der ja ebenfalls im Umkreis Herzog Ruprechts anzusiedeln ist. Als alleinige Vorlage kommt sie jedoch schon aus textgeschichtlichen Gründen nicht in Frage. Vgl. Flood, Johann Mentelin und Ruprecht von Pfalz-Simmern, S. 203–207, und die ausführliche textgeschichtliche Untersuchung in Kap. III, 1.1.2 (S. 105 ff.) der vorliegenden

70

II Beschreibung der Textzeugen

Dass die Handschrift überhaupt in den Kreis der Lauber-Produkte gehört, geht auf den ersten Blick aus der charakteristischen Seitengestaltung sowie der unten näher zu besprechenden Textverwandtschaft mit m und o hervor.63 Eine Zuordnung über den Nachweis der Zeichneridentität mit anderen Handschriften der Werkstatt ist im Fall von n hingegen nicht möglich, da der Illustrator, von Kautzsch als ‚Meister O‘ benannt, nur in dieser einen Handschrift nachzuweisen ist.64 Während der Zeichner also mit n möglicherweise seine einzige Arbeit für die Lauberwerkstätte abgeliefert hat, könnte der Schreiber der Handschrift ein viel beschäftigter Mitarbeiter gewesen sein. Schon Mone und Lachmann haben auf die Übereinstimmung mit der Schrift der Brüssler Tristan-Handschrift R (Brüssel Ms. 14697) hingewiesen.65 Saurma-Jeltsch hat eine Reihe weiterer Handschriften genannt, die vom selben Schreiber stammen könnten.66

63 64

65

66

Arbeit. Zwar ist dadurch die „Annahme, Bischof Ruprecht könne Mentelin seine Lauber-Handschrift als Druckvorlage zur Verfügung gestellte haben, jede Grundlage entzogen“ (Flood, Johann Mentelin und Ruprecht von Pfalz-Simmern, S. 207), der Umkehrschluss, den Flood nahe legt („Dieser Befund dürfte geradezu beweisen, daß Mentelin eben keine Lauber-Handschrift aus dem Besitz des Bischofs als Vorlage benutzt habe“, ebd., S. 206), ist jedoch genauso wenig zulässig. Streng genommen lässt sich nicht einmal der – natürlich unwahrscheinliche Fall – ausschließen, dass Ruprecht neben n noch einen anderen, textgeschichtlich abweichenden Lauber›Parzival‹ zur Verfügung hatte, der dann die Vorlage für den Druck abgeben hätte können. Vgl. zur Seitengestaltung Abb. 3 (Eingangsinitiale), 4 (Textseite mit Überschrift) und 9 (Eingangsillustration) in Anhang 1. Zur Charakterisierung vgl. Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt in Hagenau, S. 106–107; Saurma-Jeltsch. Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 133; und Stephan-Chlustin, Artuswelt und Gralswelt im Bild. SaurmaJeltsch geht davon aus, dass der ‚Meister O‘ in einem nur losen Verhältnis zum ‚Werkstattkern‘ stand und lediglich fallweise beschäftigt wurde. Stilistisch gehört er zur jüngeren Generation der Lauber-Zeichner, die bereits von den neueren Entwicklungen des mittleren 15. Jahrhunderts beeinflusst ist. Trotzdem hält er sich an die bisher in der Werkstatt etablierten Muster, an die stereotype, figurenbezogene Darstellung, und erweist sich in dieser Hinsicht als verwandt auch mit den älteren Illustratoren des Lauber’schen Betriebs. Die Unabhängigkeit des ‚Meisters O‘ ist damit letztlich nur graduell bestimmbar. Vgl. Lachmann, Wolfram von Eschenbach, S. XVI [Schirok, S. XVII]. Vgl. auch Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 81. Obwohl die Identifizierung der Schreiberhände der Werkstatt durch den Einsatz einer „stark standardisierte[n], weit verbreitete[n] Bastarda“ (Rapp, Die illustrierten Historienbibeln, S. 116) sehr erschwert wird, ist in diesem Fall die Zusammengehörigkeit recht eindeutig. Zur Brüsseler ›Tristan‹-Handschrift vgl. Becker, Handschriften und Frühdrucke, S. 49–50. Die von ihr angesetzte „zweite Hand“ hält sie für „vermutlich identisch“ mit jener der Lauber-Handschriften Bonn Cod. S 500 (Inhalt: Der Stricker ›Karl der Große‹),

2 Handschrift n

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Kautzsch zufolge ist die vom Zeichner O bevorzugte Darstellung der Kleidung „die übliche der fünfziger Jahre: das üppige Zaddelwerk ist beschränkt und hat knapperen Formen Platz gemacht. Schon taucht der modische Rock mit Halskragen, vorerst noch vorn geschlossen, auf.“67 Wie Saurma-Jeltsch feststellt, verweist auch die Gestaltung diverser Rüstungsteile („Beintaschen [.. .], die Schiftbrust bzw. die breiten Schulterteile oder die Achseln mit Scheibe“) auf die Zeit um 1450.68 Die Handschrift wird von Saurma-Jeltsch somit – wie m und o auch – der durch die Öffnung zu weltlichen Gattungen gekennzeichneten mittleren Werkstattphase zugeordnet, allerdings etwas später als die beiden anderen Handschriften datiert. Dies würde bedeuten, dass die Entstehung von n weiter als bei m und o in die zweite, durch eine Umstrukturierung der Organisation gekennzeichnete Hälfte der mittleren Phase hineinreicht und nicht mehr der vielleicht noch etwas ‚experimentelleren‘ Erweiterungsperiode zuzuordnen ist. Während die ältere Handschrift m also wie angedeutet möglicherweise einen frühen Versuch zur Aneignung des ›Parzival‹-Textes darstellt, könnte in n ein bereits elaborierteres Exemplar des Lauber’schen ‚Verlags-Parzival‘ vorliegen. Ein ähnlicher sprachlicher Bruch wie in m lässt sich in n und – dies sei vorweggenommen – auch in o nicht finden. n und o verhalten sich im ganzen Text auf dieselbe Weise wie m im zweiten Teil (ab ca. 450,1). Dies beweist schon die folgende Übersicht, in der mit der Apokope von rıˆche (bzw. der entsprechenden Komposita) im Reim ein prägnantes Beispiel von Gebert, anhand dessen er den sprachlichen Bruch in m demonstrieren konnte, aufgenommen und in Beziehung zu n und o gesetzt wird:

Genf Cod. Bodmer 42 (Ulrich Boner ›Der Edelstein‹) und Heidelberg Cpg 19 (Deutsche Bibel, Bd. 1). Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 2, S. 65. Zur Problematik der Händescheidung im ›Parzival‹ vgl. jedoch oben, Anm. 51. Verwirft man Saurma-Jeltschs wohl überflüssige Aufteilung der ‚sehr nahe verwandten‘ Schreiberhände in n und geht von nur einem Schreiber aus, würde sich dies besser mit der von ihr selbst gemachten Beobachtung (ebd., Bd. 1, S. 111) in Einklang bringen lassen, wonach dieser ‚Vielschreiber‘ ein charakteristisches Beispiel dafür sei, dass sich der Kreis der Schreiber in der zweiten Werkstattphase auf einen Kernbestand reduziert habe. Der Reduzierung der Schreiber steht nach Saurma-Jeltsch in dieser Phase eine zunehmende Auslagerung der Illustrierung an nur lose der Werkstatt angeschlossene Kräfte gegenüber. 67 Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 106. Offensichtlich im Anschluss an Kautzsch datiert Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 80, auf 1445–1450. 68 Stamm-Saurma, Zuht und wicze, S. 46, Anm. 35.

72

II Beschreibung der Textzeugen m

n

riche 1. Hälfte

52-mal

2. Hälfte

4-mal

rich 69

3-mal

o

riche 70

38-mal74

2-mal 2-mal

rich 71

riche

54-mal

10-mal

41-mal

3-mal

rich 72

45-mal73 38-mal75

Während sich in m in den beiden Hälften ein diametral entgegengesetztes Bild zeigt, bleibt der Prozentsatz der Apokopierung in n und ebenso in o konstant, wenngleich auch o weniger zur Auslassung neigt als n. Die im Vergleich zu m und o als etwas jünger anzusetzende Heidelberger Handschrift hat damit die Apokopierung am konsequentesten durchgeführt. Bestätigt wird der Befund, dass sich n und o wie m im zweiten Teil verhalten, zudem durch die sprachliche Gestaltung der Überschriften, die in n und o fast durchgängig mit dem Einleitewort Al*o beginnen. Nur einmal begegnet wie im ersten Teil von m Wie (bezeichnenderweise erst nach 450,1), zweimal Hie.76 Die Annahme, dass der Wechsel in der Verwendung des Einleiteworts in den Rubriken von m mit den anderen sprachlichen Änderungen in Beziehung steht, wird schließlich durch die Apokopierungs-Praxis innerhalb der Überschriften von n und o vollends gesichert: auch in den Rubriken von n und o erfolgt im ersten Teil Apokope, wo das in m bei gleich lautenden Überschriften nicht der Fall ist.77

69 70 71 72 73 74 75 76 77

Einmal korrigiert zu richte (312,13). Hinzu kommt 194,9, wo m richen schreibt. Stellen: 122,11; 188,20; 389,24. Stellen: 182,19; 367,28. Stellen: 137,21; 166,2; 171,8; 182,19; 191,21; 254,28; 324,7; 325,24; 344,3; 380,24. Ein rıˆche-Beleg (in 185,13) ist in o durch Versausfall verloren. Hinzu kommt 651,1 richen in m. o bricht mit 807,11 ab, es fehlen daher die letzten beiden Stellen. Ausführlicher zum Wortlaut der Überschriften unten, Kap. IV, 3.2.1 (S. 279 ff.). Vgl. die Überschriften vor 43,9 (erkante m, erkant no); vor 179,13 (erlo*te m erlo*t no); vor 224,1 (*ieche m, *iech no) und vor 338,1 (kampfe m, kampff no). Vgl. dagegen im zweiten Teil z. B. die Überschriften vor 503,1 (wunderlich offentu re mno) und vor 796,28/1 (erlo*t mno).

73

3 Handschrift o – Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, Mscr. Dresd. M 66 Papier, 548 Bll. – Format 28 x 20 cm (Schriftraum 18,5 x 11–12 cm) – einspaltig, 20–25 Zeilen78 – zwei Hände: von der zweiten Hand stammen nur kurze Passagen, und zwar: Bl. 1rv: 1,1–13; Bll. 13v und 14r: 19,3–20,15; Bll. 46v und 47r: 69,16–28, 70,7–15; Bl. 282v: 400,26–29; Bl. 503rv: 737,20–30.79 – um 1445–1450 – elsässisch – 46 ganzseitige Bilder80 (mit rubrizierten Überschriften und Zählung in römischen Zahlen); Reste eines Inhaltsverzeichnisses am Ende eingebunden.81 L a g e n : 82 7 + (VI–2)17 + (VI–1)28 + VII42 + (VI–2)52 + VI64+ (VI–1)75 + VI87 + (VI–1)98 + VI110 + (VI–1)121 + (VI–1)132 + 3 VI168 + (VI–1)179 + 7 VI263 + (VI–2)273 + 2 VI297 + 78 Mit Ausnahme der Blätter 131v bis 132v, die 28, 27 und 26 Zeilen aufweisen. Vgl. dazu unten, S. 86. 79 Die jeweils nur wenige Verse umfassenden Passagen der zweiten Hand lassen an einen Schüler oder aber einen Leiter der Schreibstube denken. Beispiele solcher Kurzeinsätze finden sich in der Parzivalüberlieferung schon im 13. Jahrhundert, etwa in D oder T (vgl. zu D: Palmer, Der Codex Sangallensis 857, S. 17–21; sowie die Einführung von Michael Stolz zum Digitalfaksimile der St. Galler Nibelungenhandschrift [Ders., Der Codex Sangallensis 857], S. 33–39; zu T: Hartl, Die Wiener Mischhandschriftengruppe, S. 2). Da die Wechsel zum Teil mitten in der Spalte erfolgen, müssen die beiden Schreiber an einem Ort gearbeitet haben. Ob sich daraus jedoch besondere Schlüsse auf spezifische Produktionsbedingungen der Lauberwerkstatt ziehen lassen, erscheint angesichts der angeführten Beispiele aus den anderen ›Parzival‹-Handschriften fraglich. Zur Debatte um die Identifizierung von Schreiberhänden in der Lauberwerkstatt und einer möglichen Arbeit ‚Schulter an Schulter‘ vgl. Fasbender, Werkstattschreiber, S. 118–122. – Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 2, S. 34, setzt alternativ zwei Hände an, die auf Bl. 131v wechseln. Der Wechsel im Schriftbild von 131v ist jedoch darauf zurückzuführen, dass die Seite mit 28 Zeilen wesentlich enger beschrieben ist als die vorigen (zur Erklärung dieser Erscheinung vgl. unten). Zudem sieht SaurmaJeltsch eine der Hände als „verwandt mit Heidelberg Cpg 324 und Wien 2914“ an (vgl. dazu die Angaben zum Schreiber von m, oben, Kap. II, 1, S. 53). Welche der beiden Hände gemeint ist, wird jedoch nicht ausgeführt. 80 Ursprünglich jedoch 63 oder 64 Bilder, vgl. dazu unten, S. 75. 81 Das Blatt weist ein anderes Wasserzeichen als die restliche Handschrift auf und gehört nicht zur letzten Lage. Die für die Lauberwerkstätte untypische Nachstellung war also offensichtlich nicht ursprünglich. Vgl. dazu unten, S. 78. 82 Bei der Restauration des Codex im Jahr 1990 wurden Falze zwischen den Blättern angebracht, die die Bestimmung der Lagen insbesondere bei den äußeren Blättern erschweren. Die erste Lage ist nicht mehr rekonstruierbar. Die bei Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 2, S. 34, angegebene Lagenformel ist mit dem Wasserzeichenbefund und der zu vermutenden Blattberaubung (siehe dazu unten, S. 75) nicht in Einklang zu bringen.

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II Beschreibung der Textzeugen

(VI–1)308 + (VI–1)319 + (VI–2)329 + 3 VI365 + (VI–2)375 + VI387 + (VI–2)397 + 2 VI421 + V431 + VII445 + (VI–1)456 + 2 VI480 + (VI–1)491 + VI503 + (VI–1)514 + (VI–2)524 + VI536 + (VI–1)547 + 1548. Wa s s e r z e i c h e n : Ochsenkopf mit einkonturiger Stange, typähnlich Piccard VII 263 (oder VII 286). Nur das letzte Bl. 548 (das einen Teil des Inhaltverzeichnis enthält): Waage (typähnlich Piccard IV 130 oder IV 166). L i t e r a t u r : Obermaier, Lesen mit den Augen der Illustratoren; Stephan-Chlustin, Artuswelt und Gralswelt im Bild, S. 41–200, 243–264 und Abb. 3 ff.; Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung; Saurma-Jeltsch, Zum Wandel der Erzählweise, S. 138–149, Abb. 22 ff.; Ott, Zur Ikonographie des Parzival-Stoffs, S. 119 f., Abb. 22 ff.; Flood, Johann Mentelin und Ruprecht von Pfalz-Simmern, S. 203–207; Stamm-Saurma, Zuht und wicze; Schirok, Die Bilder der illustrierten Handschriften, S. 5 f.; Traband, Diebolt louber schriber zu hagenowe, S. 62 und 81; Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter, S. 31 f., 136–142; Koppitz, Studien zur Tradierung, S. 39, 132 Anm. 40 und S. 175; Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 82–85; Frühmorgen-Voss, Mittelhochdeutsche weltliche Literatur und ihre Illustration, S. 21; Ulzen, Überlieferung des Prologs, S. VII, S. 28–30; Schirok, Der Aufbau von Wolframs ›Parzival‹, S. 90–97; Hofmeister, Manuscript Evidence in Wolfram’s Parzival; Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival; Rothe, Buchmalerei aus zwölf Jahrhunderten, S. 209 und Abb. 99; Stammler, Bebilderte Epenhandschriften, S. 142; Fechter, Der Kundenkreis des Diebold Lauber; Lachmann, Gottscheds Bedeutung, S. 70 f. und Anm. 102 (S. 95 f.); Martin, Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, S. XXI; Benziger, Parzival in der deutschen Handschriftenillustration, S. 54–57 und Tafeln 32–34; Kurth, Handschriften aus der Werkstatt des Diebolt Lauber; Bruck, Die Malereien in den Handschriften des Königreichs Sachsen, S. 302– 305; Kautzsch, Diebolt Lauber und seine Werkstatt, S. 68; Bartsch, [Rez. zu] Schnorr von Carolsfeld, S. 235; Schnorr von Carolsfeld, Handschriften der Königlich Öffentlichen Bibliothek, Abt. M, Nr. 66; Pfeiffer, Quellenmaterial zu altdeutschen Dichtungen, S. 34; Goedeke, Deutsche Dichtung im Mittelalter, S. 738; Falkenstein, Beschreibung der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden, S. 394; Ebert, Notitia codicum praestantiorum bibliothecae regiae Dresdensis; Büsching und von der Hagen, Literarischer Grundriß, S. 109; Adelung, Altdeutsche Gedichte in Rom, S. XIII−XIV. A r c h i v b e s c h r e i b u n g : Kurt Matthaei, Juli 1911 (3 Bll.), online unter: http:// www.bbaw.de/forschung/dtm/HSA/Dresden 700328010000.html D i g i t a l f a k s i m i l e : http://digital.slub-dresden.de/sammlungen/werkansicht/274276038/0

Die wie viele Exemplare der Dresdner Bibliothek durch Wasserschäden in Mitleidenschaft gezogene, jedoch glücklicherweise nicht unlesbar gewordene Handschrift83 befand sich im 18. Jahrhundert im Besitz von Johann Christoph Gottsched. Spuren weiterer Vorbesitzer konnten nicht eruiert werden. Die Vermutung 83 Vgl. zur Seitengestaltung Abb. 5 (Eingangsinitiale) und 6 (Textseite mit Überschrift) in Anhang 1.

3 Handschrift o

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Beckers, die in der Handschrift vorkommenden Wappen könnten Hinweise auf eventuelle Auftraggeber liefern,84 musste von Saurma-Jeltsch zurückgewiesen werden, da es sich bei diesen „um allzu allgemeine heraldische Zeichen“ handle.85 Laut der Archivbeschreibung von Kurt Matthaei aus dem Juli 1911 trug der Codex ursprünglich einen Holzeinband, „überzogen mit einem Pergamentblatt einer lateinischen liturgischen Hs. mit Noten; grüner Schnitt. (der Einband ist offenbar nicht alt). oben am Rücken steht. ‚Parcival‘“86 Diesen Einband hat auch Becker 1977 noch gesehen. Er wurde bei der Restaurierung 1990 durch einen modernen Buchenholzeinband mit Lederrücken ersetzt. Wie Schirok erkannt hat, war die Handschrift ursprünglich mit 63 Bildern annähernd ebenso reich – und fast ausnahmslos an denselben Stellen – illustriert wie n.87 17 Blätter mit Bildern wurden aber zum Teil schon in alter Zeit entfernt. Dies belegen zunächst charakteristische Stellen mit Textverlust vor oder nach den entsprechenden Blättern: Stand das entfernte Bild auf der recto-Seite eines Blattes, so wurden mit dem Bildblatt auch die folgenden 20–25 Verse der zugehörigen Verso-Seite beseitigt; diese Verse fehlen also heute im Text von o. Da zudem jene verso-Seiten, die den Bildern vorausgingen, in den meisten Fällen nicht vollständig ausgeschrieben wurden,88 lassen sich diese Stellen auf den ersten Blick aufgrund ihres charakteristischen Musters erkennen: Auf eine nur partiell mit Zeilen gefüllte Verso-Seite folgt eine vollständig beschriebene recto-Seite, deren Text erst 20–25 Verse später wieder einsetzt. Stand das Bild hingegen ursprünglich auf einer verso-Seite, beträgt der Textverlust in der Regel weniger als 20–25 Verse, da auch hier die dem Bild vorangehende Recto-Seite zumeist nicht vollständig gefüllt war. In diesem Fall sind die Fehlstellen nur bei genauerer Textuntersuchung zu erkennen; ein Indiz liefert jeweils eine auf das entfernte Blatt folgende farbige Lombard-Initiale, die ursprünglich den Neueinsatz des Textes nach der Illustration markiert hatte. Ein weiterer Hinweis auf die Entfernung der Bildseiten ergibt sich zudem aus dem Befund, dass die Durchnummerierung der erhaltenen Bildüberschriften an mehreren Stellen gestört ist. So folgt etwa auf die erste Illustration (Bl. 7v, vor 84 85 86 87

Vgl. Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 82. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 2, S. 34. Matthaei, Archivbeschreibung, Blatt 2. Vgl. zum Folgenden Schirok, Der Aufbau von Wolframs ›Parzival‹, S. 90–97. Zur Positionierung der Bilder vgl. die Einzelanalyse unten, Kap. IV, 3.2.1 (S. 279 ff.). 88 Die letztlich durch textimmanente Kriterien vorgegebenen Positionen der Bilder trafen – wie dies auch in den anderen Laubercodices üblich war – nur in den seltensten Fällen mit dem Seitenschluss zusammen. Vgl. zu den Gliederungsprinzipien der Handschriften unten, Kap. IV, 3.2.1 (S. 279 ff.).

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II Beschreibung der Textzeugen

11,9), der die Nummer j überschrieben wurde, als nächste Bildnummer (auf Bl. 28r, vor 43,9) die Zahl iij. Ein achtzehnzeiliger Versausfall (22,19–23,6) zwischen Blatt 15v und Blatt 16r bestätigt, dass hier die Darstellung mit der Nummer zwei entfernt wurde. Ähnliche Sprünge in der Nummerierung, begleitet von den charakteristischen Versausfällen, sind zwischen Bild iiij (Bl. 39r; vor 58,27) und Bild vij (Bl. 56r; vor 83,25), zwischen viij (Bl. 63r; vor 93,11) und x (Bl. 71v; vor 105,1), zwischen xij (Bl. 80v; vor 116,5) und xiiij (Bl. 96r; vor 138,9), zwischen xxv (Bl. 175r; vor 249,9) und xxvij (Bl. 188r; vor 267,9) sowie zwischen xxxiij (Bl. 259v; vor 336,19) und xxxvj (Bl. 280v; vor 398,7) auszumachen. Es fehlen also weiter die Bilder 5 und 6, 9, 13, 26 sowie 34 und 35.89 Die ausgelassenen Bildnummern weisen darauf hin, dass die Entfernung dieser Bildseiten von den Herstellern der Handschrift zunächst nicht beabsichtigt worden war. Die Beraubung der genannten Bilder erfolgte demnach möglicherweise erst außerhalb der Werkstätte; wann genau, lässt sich nicht mehr feststellen. Anders verhält sich dies bei den folgenden entfernten Bildseiten, denn nach der nächsten Lücke (nach Bild xxxviij) konnte Schirok bei den übergeschriebenen Bildnummern Spuren von Korrekturen ausmachen, die darauf hinweisen, dass die durch das Heraustrennen der Bildseiten entstandenen Lücken in der Zählung durch nachträgliche Änderungen verschleiert werden sollten. Ganz offensichtlich wurden also nicht alle Bilder gleichzeitig entfernt, sondern die Beraubung erfolgte in zwei unterschiedlichen Etappen, wobei bei der früher anzusetzenden Etappe noch auf die Richtigstellung der Bildzählung geachtet wurde. Diese erste Etappe könnte in der Werkstatt selbst durchgeführt worden sein, denn die ausgebesserten Zahlen unterscheiden sich in Farbe und Form kaum von den übrigen Ziffern, so dass es wahrscheinlich ist, dass sie vom Hauptschreiber der Handschrift oder zumindest einer ihm nahe stehenden Kraft eingefügt wurden. Dieser ersten Schicht sind einige der im Zyklus folgenden Entfernungen zuzuordnen: Wie eine charakteristische Stelle von Fehlversen beweist, wurde nach dem Bild xxxviij ein ursprüngliches Bild 39 entfernt; dessen ungeachtet trägt aber die nächste erhaltene Illustration heute dennoch die Nummer xxxix, die Entfernung des ursprünglichen Bildes 39 hat sich also nicht in einer Lücke der Zählung niedergeschlagen. Bei genauerer Hinsicht zeigt sich jedoch, dass die Zahl korrigiert wurde, und zwar möglicherweise aus xl (vgl. Abb. b1 in Anhang 2). Die Korrektur könnte sich also auf den Verlust des ursprünglichen Bildes 39 zurückführen lassen. Dazu passt, dass auch die nächste Bildnummer ausgebessert wurde, 89 Deren ursprüngliche Positionierung im Text lässt sich aus den entsprechenden Versverlusten rekonstruieren: Bild 5: vor 68,3 (Verlust 68,3–24); Bild 6: vor 74,5 (Verlust 74,5–26); Bild 9: vor 100,3 (Verlust 99,22–100,2); Bild 13: vor 132,25 (Verlust 132,12– 24); Bild 26: vor 256,1 (Verlust 255,21–30); Bild 34: vor 378,5 (Verlust 378,5–27); Bild 35: vor 386,1 (Verlust 386,1–23).

3 Handschrift o

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indem ein ursprünglich nach xl stehendes j ausradiert wurde. Diese Rasur ist, wie Schirok bemerkt, „folgerichtig“.90 Es ist jedoch festzuhalten, dass sich bei dieser Bildseite nicht nur nach, sondern auch bereits vor den heute sichtbaren Ziffern xl eine Rasur befindet, die sich nicht erklären lässt (vgl. Abb. b2 in Anhang 2). Offenbar wurde vor der Ziffer x ein nicht mehr genau erkennbares Zeichen getilgt, das am ehesten einem – an dieser Stelle allerdings sinnlosen – v zu gleichen scheint.91 Auch das folgende Bild wurde wieder entfernt. Die Illustration müsste die Nummer 42 aufgewiesen haben, oder, wenn sie erst in der zweiten Etappe entfernt wurde und bei konsequenter Anwendung der ‚Verschleierungstaktik‘, die Änderung der ursprünglichen Nummer 42 in 41. Überraschenderweise trägt aber das nächste erhaltene Bild nicht die Änderung von 43 in 41 oder 42, sondern die Zahl 43 ohne Spuren einer Rasur. Zudem begegnet nach einem weiteren Bildverlust (ursprünglich Bild 44) erneut ein Bild mit der Nummer 43, welche deutlich erkennbar erst mittels Korrektur hergestellt wurde. Schirok vermutete hier eine Rasur aus der Zahl 45 und schloss folgende Überlegungen an: Bei Bild 45 ist die Zahl in 43 geändert. Die Rasur ist so gut, daß die ursprüngliche Zahl nicht mehr aus dem Schriftbild erkannt werden kann. Die Zahl 43 taucht also zweimal auf: nicht verändert bei Bild 43, als Änderung bei Bild 45. Das könnte darauf hindeuten, daß die Zahl des ursprünglichen Bildes 43 noch in 42 geändert werden sollte, diese Verbesserung aber dann vergessen wurde. In diesem Falle wäre die Entfernung des ursprünglichen Bildes 44 bei der Änderung 45 in 43 berücksichtigt. Da die Änderung 43 in 42 jedoch sehr leicht durchzuführen wäre, ist es wahrscheinlicher, daß das ursprüngliche Bild 43 noch entfernt werden sollte, dies aber unterblieb.92

Auch im restlichen Teil des Codex wurde laut Schirok dasselbe Verfahren angewandt. Auf die korrigierte 43 folgt zunächst eine ebenfalls gebesserte 44, für die Schirok eine Entstehung aus 46 annimmt. Danach begegnet erneut ein ‚Ausreißer‘ aus dem Verschleierungs-System, den Schirok in Analogie zum ersten Fall (der unkorrigierten Bildnummer 43) erklärt: Bild 47 ist unverändert stehen geblieben. Bild 48 ist in 45 geändert. [. . .] Die Unstimmigkeit in der neuen Reihenfolge (43, 44, 47, 45) weist darauf hin, daß Bild 47 noch entfernt werden sollte, diese Entfernung aber unterblieb.

Ab dieser Stelle scheint sich die Änderung der Zählung bis zum letzten Bild konsequent fortzusetzen:

90 Schirok, Der Aufbau von Wolframs ›Parzival‹, S. 95. 91 Schirok erwähnt diese Rasur nicht; er konnte bei seiner Untersuchung der Handschrift lediglich auf eine Mikrofilmkopie zurückgreifen. 92 Ebd., S. 96.

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II Beschreibung der Textzeugen Die nächsten Änderungen sind folgerichtig. Die ursprünglichen Bilder 49 und 50 sind wohl später entfernt, ihre Zahlen dürften in 46 und 47 verbessert gewesen sein. 51 und 52 sind in 48 und 49 geändert. 53 ist später entfernt und dürfte die Änderung in 50 getragen haben. 54–59 sind in 51–56 geändert. 60–62 sind später entfernt worden und dürften die Änderungen 57–59 erhalten haben. Die Zahl 63 schließlich ist in 60 geändert.93

Eine Kontrollmöglichkeit für das ursprüngliche Bildprogramm bieten die Reste eines fragmentierten Inhalts- bzw. Bildverzeichnisses, die sich heute auf dem letzten, nachgebundenen Blatt von o befinden. Hier sind in der für einen Großteil der Lauberhandschriften typischen Weise die Bildüberschriften aus dem Text nochmals aufgenommen und zusammen mit der Kapitelnummer (mit der Einleitungsformel Das [Bildnummer] Cappittel ) aufgelistet. Normalerweise findet sich ein solches Verzeichnis zu Beginn der Handschriften;94 die heute anzutreffende Nachstellung des Verzeichnisses in o dürfte nicht ursprünglich sein, denn das Blatt trägt ein anderes Wasserzeichen als der restliche Text und gehört nicht zur letzten Lage. Erhalten ist das für die Beurteilung des Programmumfangs wichtige Ende des Verzeichnisses. Dieses beginnt mit dem zweiten Teil einer Rubrik mit der Nummer 55, die im Text derjenigen Bildseite entspricht, die heute die Nummer 52 trägt. In der Folge sind dann auch jene Überschriften anzutreffen, die heute nicht mehr im Text vorhanden sind. Die letzte Überschrift des Inhaltsverzeichnisses weist die Nummer 63 auf, und trifft sich daher mit Schiroks Rekonstruktion der ursprünglichen Zählung der Bilder im Text. Wenn Schiroks Thesen zuträfen, müsste angenommen werden, dass das Verzeichnis noch vor der Beraubung des Codex und vor der Verschleierung der Bildnummern erstellt worden war. Es könnte weiter vermutet werden, dass das Verzeichnis sogar deswegen verstümmelt und teilweise entfernt wurde, damit die Beraubung der Bilder vertuscht werden konnte.95 Die Autopsie kann Schiroks Rekonstruktionsversuch, den er lediglich auf der Grundlage einer Mikrofilmkopie entwickeln konnte, jedoch nur zum Teil bestätigen: Zunächst ist festzuhalten, dass sich gleich mehrere der heute noch sichtbaren Reste von Bildnummernkorrekturen nicht mit seinem Modell vereinbaren lassen. Als Beispiel sei hier das zweite Bild mit der Nummer 43 angeführt (vgl. Abb. b3 in Anhang 2): Wie Schirok vermutete, wurde die Zahl xliij tatsächlich durch Rasur hergestellt. Der Tintenfarbe nach zu urteilen begann die Rasur nach der Ziffer l, die Folge iij wurde neu eingetragen. Die ursprüngliche Fassung unter

93 Ebd., S. 96. 94 So auch in der Schwesterhandschrift n. 95 Vgl. Schirok, Der Aufbau von Wolframs ›Parzival‹, S. 91.

3 Handschrift o

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iij ist nicht mehr zu rekonstruieren, allerdings ist nach der Ziffernfolge ein radiertes Zeichen zu erkennen, das am ehesten einem j gleicht. Wahrscheinlicher als die von Schirok angenommene Korrektur aus xlv erscheint demnach eine Änderung aus xliiij, auch wenn das Ausradieren und Neueintragen aller Schäfte eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Dass dieses letztgenannte Ökonomie-Kriterium ohnedies keine allzu sichere Entscheidungshilfe bietet, zeigt die heutige Bildnummer Liij, die nach Schiroks Annahme aus 56 korrigiert wurde (vgl. Abb. b4 ebd.). Auch hier wurde die Folge iij neu eingetragen, wie aus der Änderung der Tintenfarbe ersichtlich wird. Wenn die ursprüngliche Fassung Lvj gelautet hätte, wäre der Neueintrag der letzten Ziffer überflüssig gewesen. Da allerdings die Ziffern der ursprünglichen Fassung sehr stark hervortreten, während unter dem abschließenden j keinerlei Reste zu sehen sind, ist ohnedies eher davon auszugehen, dass die Zahl vor der Korrektur Lv gelautet hatte, und nicht 56, wie Schirok vermutet hatte. Einen fixen Anhaltspunkt für die ursprüngliche Nummerierung sollte eigentlich die letzte Bildnummer bieten (vgl. Abb. b5 ebd.): Schirok hatte hier Korrektur aus 63 angenommen, wodurch sich eine Übereinstimmung mit dem Inhaltsverzeichnis ergeben hätte. Gerade in diesem entscheidenden Punkt kann die Rekonstruktion Schiroks jedoch nicht bestätigt werden, denn die Autopsie zeigt keinerlei Spuren von Korrektur. Die aufgrund von Wasserschäden verblasste Bildnummer ist zwar heute nicht mehr einwandfrei zu beurteilen, aber dass hinter x gleich drei i bzw. j radiert wurden, ohne dass irgendwelche Reste zu erkennen wären, erscheint doch sehr unwahrscheinlich. Damit wird jedoch einem wesentlichen Teil der Argumentation Schiroks die Grundlage entzogen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass bereits beim ursprünglichen Ersteintrag der Nummerierung – zumindest an dieser späten Stelle – der Ausfall von drei Bildern berücksichtigt worden war. Des Weiteren zeigt die Autopsie, dass die Korrektur der Bildnummern sogar viel umfassender war, als Schirok erkennen konnte. Beispielsweise zeigt bereits Bild xv (vgl. Abb. b6 ebd.) eine eindeutige Korrektur (wohl aus xiiij oder xviij), die nicht mit den anderen Bildern abgestimmt ist und daher auch nicht zur Verschleierung von Bildraub dienen konnte. Es ist in diesem Fall am wahrscheinlichsten, dass sich der Rubrikator schlicht verzählt hatte. Die Rasur deutet hier also nicht auf eine ausgeklügelte Strategie hin, sondern lediglich darauf, dass dem Rubrikator durchaus auch reine Versehen bei der Nummerierung unterliefen und er sich nicht scheute, diese durch aufwendige Rasuren in Ordnung zu bringen. Darüber hinaus tragen noch weitere Bildnummern vor dem Einsetzen der von Schirok rekonstruierten ‚Verschleierungstaktik‘ Änderungen. Die nächste auffällige Rasur ist bei Nummer xxviij zu erkennen (vgl. Abb. b7 ebd.). Hier wurde

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II Beschreibung der Textzeugen

ein abschließendes j rasiert und durch ij ersetzt, also 27 zu 28 korrigiert. Auch die folgende Bildseite (vgl. Abb. b8 ebd.) zeigt eine – allerdings kaum deutbare – Korrektur: Während die ersten beiden x wohl ursprünglich sind, dürfte ix nachträglich auf Rasur eingefügt worden sein. Bemerkenswerterweise war bei Bildnummer xxviij wie schon bei Nummer xv eine Erhöhung der ursprünglichen Bildzahl zu bemerken. Eine solche Erhöhung ist jedoch als ‚Verschleierungstaktik‘ unbrauchbar, so dass erneut an ein Versehen bei der ursprünglichen Zählung gedacht werden muss. Die Korrektur von xxvij zu xxviij wirkt auf den ersten Blick recht aufwendig, da zur Inkrementierung ja eigentlich nur die Ziffer j an die Zahl hätte angefügt werden müssen. Allerdings wäre in diesem Fall die Folge ijj statt iij entstanden, die die nachträgliche Verbesserung unter Umständen verraten hätte. Ein nochmaliger genauerer Blick auf die restlichen Bildnummern zeigt nun aber, dass der Rubrikator nur in diesem einen Fall auf dieses Detail Rücksicht genommen hat und dass sich tatsächlich eine relativ große Zahl von Bildern finden lassen, wo der Rubrikator demgegenüber genau diese einfachere, aber ‚verräterische‘ Vorgangsweise gewählt hat. Die Anfügung einer Ziffer ist hier an der abweichenden Tintenfarbe ebenso wie an der auffälligen Doppelfolge jj zu erkennen, wie die Beispiele xxxjj, xxxvjj, xlijj und xlvjj (vgl. Abb. b9-b12 ebd.) zeigen. Nur aufgrund abweichender Tintenfarbe sind zudem solche Korrekturen zu erahnen, wo an ein v oder x ein zusätzliches j hinzugefügt wurde (vgl. Abb. b13 ebd.). Es ist also festzuhalten, dass die meisten Änderungen eine Inkrementierung der Nummern um eins mit sich bringen. Alles in allem erweist sich das Korrektursystem als sehr komplex, so dass wohl von einer Aufeinanderfolge ganz unterschiedlicher Verbesserungen ausgegangen werden muss. Aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes sind die Korrekturreste nicht mehr in jedem Fall klar zu beurteilen; mit der folgenden Übersicht der Bildnummern ab dem heute fehlenden Bild 26 soll ein Rekonstruktionsversuch vorgeschlagen werden, der zwar notgedrungen nicht bis ins letzte Detail zu sichern ist, aber dennoch eine zumindest ungefähre Vorstellung vom Herstellungsprozess zu vermitteln vermag:

81

3 Handschrift o Bildseite96

Bildnummer

Vermutlich korr. aus97

* vor 180 188r 197r 207r 226r 239r 247v 259v *vor 268 *vor 273 280v 285v 294r *vor 299 304v 313v *vor 318 318v *vor 325 338v 349v 352v 361v *vor 368 *vor 374 383r 386v *vor 393 401v 411v 423r 436v

*26 27 (xxvij) 28 (xxviij) 29 (xxix) 30 (xxx) 31 (xxxj) 32 (xxxjj) 33 (xxxiij) *34 *35 36 (xxxvj) oder 35 (xxxv)98 37 (xxxvjj) 38 (xxxvijj) *39 39 (xxxix) 40 (xl) *41 43 (xlijj) *42 43 (xliij) 44 (xliiij) 47 (xlvjj) 45 (xlv) *46 *47 48 (xlviij) 49 (xljx) *50 51 (li) 52 (lii) 53 (liij) 54 (liiij)

– 26 (xxvi) < 27 (xxvij) < ? 28 ? 29 < 30 (xxx) 31 (xxxj) ? 32 *33 *34 < 35 (xxxv) oder 36 (xxxvj) < 36 (xxxvj) < 37 (xxxvij) *38 < ? 40 (xl), korr. aus 39? < ? 41 (xlj), korr. aus 40? *41, korr. zu 42? < 42 (xlij) *43, korr. zu 44? < 44 (xliiij), korr. zu 45? < ? 45 (xlv), korr. zu 46? < 46 (xlvj) < 48 (xlvijj), korr. aus 47 *48, korr. zu 49? *49, korr. zu 50? < ? 51 (xlj), korr. aus 50? < ? 51, korr. zu 52? *52, korr. zu 53? < ? 53 (liij) 54 (liij) < 55 (lv) < 56 (lvj)

96 Rekonstruierte Angaben für heute entfernte Bilder sind mit * versehen. Die Blattangabe bezieht sich in diesen Fällen auf jenes Blatt, das der Bildseite ursprünglich gefolgt ist. 97 Felder mit annähernd sicheren Rekonstruktionen sind durch < gekennzeichnet. Ein Fragezeichen in einem solchen Feld besagt, dass mit Sicherheit Korrektur erfolgt ist, sich die ursprüngliche Fassung jedoch nicht mehr erkennen lässt. Bei Feldern mit Fragezeichen ohne