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German Pages 208 [224] Year 1962
DIE O R N A M E N T - G R O T T E S K E I N DER I T A L I E N I S C H E N RENAISSANCE
N E U E M Ü N C H N E R BEITRÄGE ZUR KUNSTGESCHICHTE H E R A U S G E G E B E N VOM K U N S T H I S T O R I S C H E N SEMINAR DER U N I V E R S I T Ä T M Ü N C H E N
Unter der Leitung von HANS SE DLMAYR
Band 3
1962 W A L T E R D E G R U Y T E R Sc C O . /
BERLIN
VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSB U C H H A N D L U N G - G E O R G REIMER - KARL J. T R Ü B N E R - VEIT & COMP.
DIE ORNAMENT-GROTTESKE IN DER ITALIENISCHEN RENAISSANCE Z U I H R E R K A T E G O RI A L E Ν S T R U K T U R
UND
ENTSTEHUNG
von
F R I E D R I C H PIEL
Mit 12 Tafeln und 10 T e x t a b b i l d u n g e n
1962
WALTE R D E G R U Y T E R & CO. /
BERLIN
VORMALS G.J.GOSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J.GUTTENTAG, VERLAGSB U C H H A N D L U N G - G E O R G R E I M E R - KARL J . T R Ü B N E R - V E I T & C O M P .
Zehn Exemplare dieser Schrift Hegen als Münchener Dissertation vor Archiv-Nr. 351962/ΠΙ Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch ni dit gestattet, dieses Buch, oder Teile daraus, auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopîe) zu vervielfältigen. © 1962 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit Û Comp., Berlin W 30, Genthiner Straße 13 (Printed in Germany)
FÜR WILLI R Ö S C H E I S E N
INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG Zur kategorialen Struktur Zur kategorialen Struktur Zur kategorialen Struktur Zur kategorialen Struktur Bemerkungen
der der des des
Gattungen Architektur Ornaments Bildes
A. D A S W E S E N D E R R E I F E N G R O T T E S K E I. Die Loggien Raffaele Ardiitektonisdie Grundlinien Stuck Malerei Dekoration Farbe Struktur Tendenzen Grottesken Grottesken; — erste Beschreibung Malgrund S. 25. — Muster S. 25. II. Phänomene der Grotteske Symmetrie Bildwertigkeit Zur Bildebene der Grotteske S. 28. — Bildebene und Bildgegenstand S. 34. Zur Raumstruktur der Grotteske Bewegungphänomene Pseudo-Symmetrie III. Motive der Grotteske „Seetiere" „Bild" — „Bild eines Teppichs" Perl- und Blütenketten Ein „Monstrum" Tennen Abstraktes Architektonisches
Seite ι 4 7 xo 13 rs 17 17 17 19 20 20 22 23 23 24 24 26 26 27
35 37 41 41 42 42 42 43 44 45 45 vn
IV. Zentralphänomen: Doppeldetermination Die Extreme der Spaltung These zur Entstehung der Grotteske „Monströse Struktur"
Seite 45 46 47 47
V. Die Grundstruktur der Grotteske Bildwertig — Plastisch Ornamentale „Restform" Zusammenfassung VI. Charakter und Wirkung der Grotteske Labyrinth und Minotaurus in der Mythologie Die Grotteske ist labyrinthisdi Die Grotteske ist ohne Licht S. 54. — Zur Zeitlichkeit der Grotteske S.56. „Zentrum" der Grotteske „Zentrum" der Peripherie S. 61. — „Zentrum" der Grotteske S. 63. Zur „Intention" der Grotteske Zur Anschaulichkeit des Mobilischen S. 66. — Zur Anschaulichkeit des Gitterigen S. 67. — Zur Anschaulichkeit des Gitter-Mobilis S. 67. — „Negative Selbstverfertigung" S. 68. — Zur „Wirkung der negativen Selbstverfertigung" S. 68. — Zur Wirklichkeit der Grotteske S. 71. — Intention und anschaulicher Charakter S. 74. VII. Akzentuierende Bestimmungen zur ontologischen Struktur Die Grotteske ist „weltlos" Grotteske als „Traumwesen" S. 76. — Die Grotteske ist kein Gegenstand S. 77. Die Grotteske ist ironisch Grotesk und Komisch S. 82. — Arabeske und Grotteske S. 82. Die Grotteske ist „Dialektikum" Zur Funktion der Grotteske im Dekorationsganzen S. 84. VTII. Das Strukturprinzip der Grotteske B. B E M E R K U N G E N Z U R E N T S T E H U N G D E R G R O T T E S K E I. Zur Raumstruktur des Ornaments Optische Ornamentsebene Hypothese Π. Historische Voraussetzungen Giotto Die Ghiberti VIII
48 49 50 50 51 51 53
61 64
75 76
79 83 86 88 90 90 92 93 94 96
Seite Eine kritische Form um 1470 98 Gemaltes Ornament 99 Träger als Raum 100 Graues Muster vor Goldgrund S. 101. — Farbiges Muster vor Goldgrund S. 101. — Graues Muster vor blauem Grund S. ior. — Farbiges Muster vor blauem Grund S. 102. III. Der Eintritt der Grotteske Motive S. 103. — Tendenzen S. 105.
102
IV. Grotteske und Bildkörper 106 Pinturicchio im Palazzo Colonna, 1485 106 Pinturicchio, Appartemento Borgia, 1492—1493 108 Gewölbekappen im Saal der Heiligenleben S. 109. — Pintarícchio: „Susanna im Bade" S. rio. — Pintuiicchio: Disputation der Hl. Caterina S. n r . Strukturtypen ir2 Zum Raumbegriff: Unendlicher Stellraum 113 Bildkörper und Ubersteigerung 117 V. Hilfskonstruktion: Rundbild und Grotteske
118
VI. Zwischenbilanz
121
VII. Entdeckung der domus ourea und die Entstehung der Grotteske Vorgang der Entdeckungen Frage Motive Volta dorata und unendlicher Stellraum Struktur der „Bilder" der Volta dorata S. 128. — „Version" des Unendlichen Stellraumes S. 13 r. Konstruktion: Bildgegenständlicher Fluchtpunkt Fluchtpunkt und Kandelaber S. 133. — Fluchtpunkt der Grotteske S. 137.
122 123 124 125 127
VIII. Tendenzen und Ergebnisse Tendenzen der „Inversion" Bildkörper S. 141. — Ornament S. 143. Tendenz des Bildkörpers und Grotteske C. D I E G R O T T E S K E A L S K R I T I S C H E S P H Ä N O M E N I. Die Einheit der Epoche (1460/70—1760/70)
131
141 141 143 146 149 IX
Seite II. Die kritischen Phänomene und die Grotteske 150 „Säulenordnungen-Wand" S. 150. — „Illusionistische Deckenmalerei" S. 153. — „Verschwinden des Goldgrundes" S. 156. III. Das Prinzip der Grotteske und der Manierismus 158 „Zweiheit der Intention" und „Intention der Zweiheit" 160 „Zweiheit der Intention" S. 161. — „Intention der Zweiheit" S. 165. D. Z U R T H E O R I E D E R G R O T T E S K E I. Die Grotteske ist übersteigertes Ornament
178 178
II. Die Grotteske entsteht aus der Tendenz zur Verselbständigung der Gattungen 178 III. Die Grotteske ist Antimonie
180
IV. Die Grotteske entsteht in einem Prozeß „Historisdier Dialektik" . . . . 180 V. Die Grotteske ist kritische Form einer Zweiheit
r8i
VI. Die Bestimmimg „übersteigertes Ornament" faßt die Grotteske als kunsthistorisdies Phänomen 181 ANHANG
184
LITERATUR
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BILDTEIL
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EINLEITUNG ι . In der Struktur der italienischen Kunst wird um 1460/1470 ein Wandel sichtbar, der jene Epoche, die mit Giotto di Bondone begann, und die mit dem achtzehnten Jahrhundert enden sollte, mit einer tiefen Zäsur versieht. Der Strukturwandel, der in der Geschichte der Malerei als Ubergang vom „Bildkörper zum Bildleib" (Theodor Hetzer) charakterisiert wird, ist begleitet von einer Ubersteigerung des Ornaments, die zur Grotteske führt. Diese Erscheinung, die sich den allgemeinen Gesetzlichkeiten einer Stilentwicklung nicht koordinieren läßt, ist eine ganz neue Kategorie der Dekoration und läßt sich nur genetisch als Ornament definieren. Die Tendenz zur Ubersteigerung des Ornaments ist schon zur Mitte des Quattrocento sichtbar, aber erst das letzte Jahrzehnt prägt die Struktur des Ornaments so um, daß von Grottesken gesprochen wird 1 . Meister der ersten Grottesken ist Bernardino Pintmicchio
(Appartemento Borgia). Von Rom aus
verbreiten sich die neuen „motive alla grottesca" über Italien — doch ist es wieder Rom, wo sie, in den Loggien Raffaels im Vatikan [1517/1519) ihren entschiedenen und für die weitere Entwicklung entscheidenden Höhepunkt erreichen. Hier findet die antike Dekorationsform ihre reifste „Renaissance", ist aber gleichzeitig überwunden: Die Struktur der Grotteske als Dekorationsmotiv hat sich gefestigt und wird nun in einem Dekorationsganzen verwendet, das von Grund auf verschieden ist von jedem dekorativen System der Antike. Die Loggien Raffaels sind — vor allem durch die Dekorationen des Meisters — n o c h Hochrenaissance und s c h o n Manierismus.
Die Grotteske kam ihrem innersten
Wesen nach dem Lebensgefühl des Manierismus besonders entgegen: auf einer bestimmten Ebene ist die „monströse Struktur" kritische Form des mittleren und späteren Cinquecento. So ist es nur folgerichtig, daß die Grotteske sich in diesem Jahrhundert ausbreitet. Der Manierismus bringt eine Fülle neuer Formen; Varianten und Metamorphosen jener Struktur, die sich um 1517 festigt, bilden die Grundlage alles Dekorativen, bis hin zur Rocaille, mit der die letzte dekorative Form ornamentaler Herkunft stirbt2. 1 Das Wort „Grotteske" leitet sich von „grotte" her; die Kunstgeschichte sollte den Terminus (wie Schmarsow, Der Eintritt... mit Redit vorschlug) einheitlidi mit Doppel-T schreiben. Die Literatur zur Grotteske ist gering. Außer dem immer noch fundamentalen Aufsatz von Schmarsow seien hervorgehoben: v. Salis, Antike und Renaissance; Forsman, Säule und Ornament; Gradmaaa, Phantastik und Komik. 2 Audi für die Grotteske der Renaissance wichtig die Arbeit von Bauer, Rocaille als kritische Form.
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2. Gerade zu der Zeit, da die großen Werke der neuen Kunst entstehen, zusammen mit dem „Bildleib", dessen ausgezeichnetes Signum das „Kontinuum" ist, reift die Grotteske, an tinomisch zu allem Großen. Der Frage, warum die Grotteske gerade tun 1495 auftaucht und gegen 1517 ihren Höhepunkt erreicht, werden wir auf verschiedenen Ebenen begegnen. Dabei bleibt es dahingestellt, ob die Vereinfachungen, die vorgenommen wurden, dem vielschichtigen Phänomen gerecht werden. Die Untersuchung geht aus von Grottesken Raffaels in den Loggien. Die Analyse ist so angelegt, daß die Grotteske an sich u n d als Element der Gesamtdekoration — d. h. als Strukturelement der Loggien — gesehen werden kann. Die entwicklungsgeschichtlich bedeutsame Stellung der Grottesken: der entschiedene Höhepunkt einer Tendenz, die um 1470 in Erscheinung tritt, der A u s g a n g neuer Entwicklungen von hier aus, die Nähe gleichmäßig zu Manierismus und Hochrenaissance — dies alles ließ es geboten erscheinen, die Analyse so aufzubauen, daß sich ein „Modell" ergibt. Ziel war die Einsicht in Strukturprinzipien, deren Entstehung im II., deren W a n d l u n g e n im III. Kapitel umrissen werden. Dieses Modell ist gleichzeitig Grundlage, die Grotteske mit anderen „Kritischen Phänomenen" der Epoche3 zu vergleichen. Führt die Frage nach der Entstehung der Grotteske auf das Problem „historischer Dialektik" 4 , so die nach der Grotteske als Kritischem Phänomen auf den Sachverhalt, daß die Kritischen Phänomene der Renaissance sich in gewissem Sinn dialektisch zueinander verhalten — historisch ein Vorgang, in dem das Gesamtkunstwerk des Barock entsteht. Das erste Kapitel geht aus von der Frage: Was ist die Grotteske um 1517? Das zweite Kapitel fragt: Wie wird die Grotteske, w a n n tritt sie zum ersten Mal in Erscheinung? Das dritte Kapitel versucht zu erkennen, was die Grotteske h i s t o r i s c h
bedeu-
t e t , warum sie gerade um 1495 erscheint, warum sie dem Manierismus nähersteht als der Hochrenaissance und was sie über diese beiden „Stile" auszusagen hat. 3. Die Frage nach dem Verhältnis der Grotteske zum Ornament, die in der Literatur niemals behandelt wurde, scheint nicht lösbar ohne Besinnung auf das Wesen der G a t t u n g . Die Behauptung auch, die Grotteske sei G r e n z p h ä n o m e n (eine Behauptung, die vor allem am Gegenständlichen gewonnen wird) ist vertretbar nur von einem Ansatz her, der das Ganze der Bildenden Kunst, der Architektur, Plastik, Bild und Ornament als ein Gefüge erfaßt, dessen Elemente die Gattungen sind, die entsprechend in bestimmten Beziehungen stehen, Entsprechungen und Beziehungen, die sich im Verlauf der Geschichte mit den individuellen Gebilden wandeln. Die Beobachtungen zur kategorialen Struktur der Gattungen, die einleitend mitgeteilt werden, fanden ihre entscheidende Anregung in verschiedenen Arbeiten meines 3 Zu Begriff und Methode der „Kritischen Phänomene" Sedlmayi, Die Wiedergeburt der antiken Götter. 4
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Vergi. Sedlmayi, Die Revolution der modernen Kunst, 46 ff.
Lehrers5. Die Beobachtungen wurden nur soweit formuliert, als sie für die Erkenntnis der besonderen Struktur der Grotteske von Bedeutung sind. 4. Die T h e s e , die dieser Untersuchung zugrunde liegt, sei vorausgeschickt: a) Die Grotteske entsteht gegen 1495 nicht aus der Rezeption antiker Dekorationsformen, sondern aus der allgemeinen Tendenz, jede Gattimg ihrem Selbst entsprechend auszugestalten. Die Tendenz zur Grotteske, in der Ornamentik seit etwa 1470 sichtbar, erreicht in der Rezeption antiker Dekorationsmotive lediglich ihren ersten Abschluß. Gleichzeitig gewinnt im letzten Jahrzehnt des Quattrocento der „Bildkörper" die Form letzter Möglichkeiten des Bildes. Der Bildleib hat in seiner Entstehung die Grotteske als Gegenbild. Beide aber, Bildleib und Grotteske, entstehen aus einer Wurzel: der Ubersteigerung des Bildkörpers. Der Struktur nach ist die Grotteske Antinomie zum Bildleib. b) Die Grotteske, Kritisches Phänomen der Zeit von 1470—1770, entsteht in einem Prozeß „historischer Dialektik", in dem sie Antithese ist. So ist sie im Insgesamt der Kunst der Epoche nicht vagant, sondern in bestimmten Beziehungen zur großen Kunst. Soweit sie im Gesamtkunstwerk ästhetische Funktion hat, ist sie als Dialektikum zu werten. c) Die Grotteske ist nur „genetisch" als Ornament definierbar. Als k u η s t historisches Phänomen bedeutet Grotteske Ubersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments. Damit ist die G r u n d - T h e s e gegeben: Die Ubersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments führt mit Notwendigkeit zur Grotteske. Diese Ubersteigerung differenziert sich in der historischen Entwicklung von 1470 bis 1495 aus. Die Definition der Grotteske als „übersteigertes Ornament" faßt dieses Kritische Phänomen als k u n st historische und als kunsth i s t o r i s c h e Erscheinung. Gelingt es, die These zu begründen, so bedeutet das Ergebnis unserer Untersuchungen eine k u n s t h i s t o r i s c h e T h e o r i e der G r o t t e s k e . Sie ist eine T h e o r i e , wenn sich alle Phänomene aus wenigen Prinzipien methodisch ableiten lassen. Sie ist eine kunsthistorische Theorie, wenn sie die Grotteske als Strukturelement eines größeren Ganzen der Bildenden Kunst methodisch abzuleiten ermöglicht. Sie ist eine k u n s t h i s t o r i s c h e Theorie, wenn das Prinzip der „Ubersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments" auch in der geschichtlichen Entwicklung anschaulich ist. Diese Behauptungen können nicht getrennt werden. Untersuchung und Darstellung haben ihre besondere Schwierigkeit, wo die Analyse der Grotteske zu verschiedenen Ergebnissen kommt, sobald der „Standpunkt" gewechselt wird. So ist die Grotteske g r o t e s q u e , wo sie losgelöst aus dem Dekorationsganzen, D i a l e k t i k u m , wo sie 5
Vor allem in Verlust der Mitte und Die Grenzen der Stilgeschichte.
3
als Strukturelement der Dekoration, Antinomie, wo sie als Strukturelement der E p o c h e betrachtet wird. Die Theorie der Grotteske muß versuchen, diese verschiedenen Aspekte (die zum Wesen der Grotteske gehören) zu integrieren. 5. Es war vorgesehen, die Arbeit in einem abschließenden Kapitel auf Texte der Kunstliteratur des Cinquecento zu beziehen und die Grotteske in ihrem sensus allegoricus zu erfassen. Doch bestehen für ein solches Unternehmen zu wenig Vorarbeiten. So muß diese ikonologische Untersuchung späterer Arbeit vorbehalten bleiben. 6. Die vorliegende Untersuchung folgt Prinzipien meines Lehrers, dem idi für die große Freiheit, in der ich das Thema behandeln durfte, aufrichtig dankbar bin.
Z U R KATEGO RIALE Ν STRUKTUR DER
GATTUNGEN
a) Architektur, Plastik, Bild und Ornament treten in der historischen Entwicklung in sich wandelndem Verhältnis zueinander und in ihrer eigenen Struktur sich wandelnd auf, und sie differenzieren sich in gewissen Unterarten aus. Die Kunstgeschichte bedient sich der Klassifikation nach Gattungen, ohne in der Regel die Relationen von Werken verschiedener Gattung zu berücksichtigen. Und doch ist gerade das eine Forderung®. Sie kann jedoch nicht erfüllt werden, solange es nicht gelingt die Gattungen in ihren G r u n d s t r u k t u r e n zu erkennen und zu sehen, aus welchen k a t e g o i i a l e n S t r u k t u r e n sie ermöglidit sind7. Der gemeinsame Kristallisationspunkt wird — zumindest für das mittlere Weltalter — die Architektur sein. „Den ersten archaischen Hochkulturen ist eigen die Verbindung des Megalithbaus und des strengen Ornaments mit dem großen Bild der Urzeit. Ihre Architektur tektonisiert erstmals die Elemente des Bauens, in denen die drei orthostatischen Dimensionen sich entschieden darstellen: in behauenen und geglätteten Steinquadern, in kantig behauenen Holzpfosten und Balken. An der Architektur, auf sie bezogen und mit ihr verbunden, erwächst Rundplastik wie Relief, Wandmalerei und Mosaik. D i e A r c h i tektur wird Ordnungsmacht..."8 b) Die Klassifikation nach Gattungen ist Ergebnis der Einsicht in eine natürliche Hierarchie der Bildenden Künste. Sie ist sinnvoll dort begründet, wo in den Werken einer Gattung Strukturen realisiert sind, die von anderen Gattungen nicht realisiert werden können. Dem System liegt das Wissen darum zugrunde, daß Gattungen „ k a t e g o r i a l e Strukturen" haben, in deren Grenzen sich die Gestaltung der einβ 7 8
4
Die ζ. B. von Th. Hetzer immer wieder gestellt wurde. Vergi. Klings, Fragen und Aufgaben der Ontologie. Randa, Handbuch der Weltgeschichte, 1956, II. Bd. Sp. 2649—54 (Sedlmayr).
zelnen Werke bewegt. In den kategorialen Strukturen sind die M ö g l i c h k e i t e n , aber auch die W e s e n s g r e n z e n d e r K u n s t angelegt9. c) Wir gehen bei den folgenden Überlegungen von einzelnen Gattungen und vom Komplex der Gattungen aus. Hypothese ist, daß jede Gattung auf wenige Kategorien reduziert werden kann, deren Dialektik die Gestalt des Werkes prägt, und daß alle Gattungen, unter sich in Relation, in analogischen Bezügen sich gegenseitig tragen. Die Gattungen hätten demnach Eigenstrukturen, im Insgesamt der Kunst wären sie aber nur verschiedene A s p e k t e des einen Ganzen. In der kategorialen Struktur einer jeden Gattung ständen wenige Relate jeweils so in Beziehung, daß e i n Relat gleichzeitig (faktisch oder analogisch!) zur kategorialen Struktur einer anderen Gattung gehörte. So stünden schließlich — über eine ausgezeichnete Kategorie — alle Gattungen miteinander in Beziehung; diese Kategorie wäre ein Ordnungsfaktor. Die Hypothese ist, daß über diese Kategorie des Künstlerischen alle Gattungen nicht nur je als Gattung i n s i c h e i n h e i t l i c h , sondern (indem alle Gattungen ihrer bedürfen) als Beziehungsganzes einheitlich sind. D i e G a t t u n g e n , so v e r s u c h e n w i r z u e r w e i s e n , o r d n e n s i c h a u f d i e A r c h i t e k t u r h i n , w e l c h e selbst, die G a t t u n g e n e r m ö g l i c h e n d , mehr i s t a l s e i n e G a t t u n g : O r d n u n g s m a c h t 1 0 . Das hat zur Voraussetzimg, daß sich Architektur nicht nur im Gebäude darstellt. Träger aller Gattungen ist „ d a s A r c h i tektonische". d) Die Frage nach den „kategorialen Strukturen der Gattungen" entzündete sich an dem Problem: „Grotteske = Grenzsituation". Wir behaupten, die Grotteske sei nur g e n e t i s c h n o c h als Ornament definierbar, da sie die Wesensgrenzen des Ornaments überschreite. Ist in der kategorialen Struktur einer Gattung die Wesensgrenze angelegt, so muß die Grotteske von der kategorialen Struktur des Ornaments her faßbar und deutbar sein, gleichzeitig aber muß i h r Wesen als Grenzsituation der Bildenden Kunst überhaupt zu interpretieren sein. Die Grundstruktur des Ornaments wird seit Alois Riegl11 aus dem Verhältnis von Muster und Grund gefaßt. Das Ornament als Form (Muster) steht in einem spezifischen Verhältnis zu einem Träger (Grund). Aus dem Verhältnis dieser Beziehungs9 Uber die „Lehre von den wesensmöglidien Richtungen des Kunstwollens" bei Alois Riegl, vergi. Sedlmayi, Die Quintessenz der Lehren Riegls, XX f. 10 Vergi. Sedlmayr, Die Revolution der modernen Kunst. 11 Nach Riegl „folgen aus dem Wesen des Ornaments ,Muster auf Grund' zu sein, a priori verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten (s. KI, p. 327). Die Zusammenschau dieser Grundmöglichkeiten des Gestaltens in den (vier) verschiedenen Gebieten der ,bildenden' Kunst ergibt dann zwischen ihnen Korrelationen. Zu einem bestimmten letzten Grundtypus architektonischer Gestaltung g e h ö r t ein bestimmter Typus ornamentalen Gestaltens und so fort. Es ergeben sich letzte Typen des Kunstwollens" (Sedlmayr, Die Quintessenz..XXI). Diese Korrelationen dürfen aber nicht „medianisch" aufgefaßt werden; sie sind abhängig von einem menschlichen Gestalter, und es kann der Fall eintreten, daß eine Gattung die allgemeinen Tendenzen nicht mitmacht.
S
glieder dürfen wir nicht nur erwarten, die Struktur des Ornaments, sondern darüber hinaus die Verfassung des Trägers zu erkennen. Indem nun dieser Träger einer anderen Gattung — ζ. B. der Architektur — zugehören kann, ist das Ornament besonders geeignet, die Beziehungen und Entsprechungen zu erkennen, in denen die Gattungen untereinander stehen. Dafür ist von besonderer Wichtigkeit: „Das Ornament ist die einzige Gattimg der Kunst, die autonom nicht bestehen kann" 12 . e) Entscheidend für den Strukturzusammenhang der Gattungen ist nicht, ob eine Gattung f a k t i s c h einer anderen ein Relat „leiht", — das Entscheidende ist, daß sich in der Struktur aller Gattungen das O r d n u n g s p r i n z i p findet. Dieser Sachverhalt verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn weitaus die meisten Werke einer Gattimg sind von den Werken einer anderen Gattung äußerlich vollkommen unabhängig. So wird es vor allem darauf ankommen, zu sehen, in welcher Weise „das Architektonische" sich mit dem Ornament, dem Bild und der Plastik ,, vermählt" und wie Ornament, Bild und Plastik „das Architektonische tragen"13. Indem jede Gattung spezifische Grundrelate hat, muß das Prinzip, über welches alle Gattungen in Beziehung stehen, v e r s c h i e d e n e D i m e n s i o n e n haben. Und jede dieser Dimensionen des Architektonischen wird in einer Gattung aktualisiert. f) Die Werke einer jeden Gattung lassen sich auf eine Grundstruktur reduzieren. Alle Gattungen stehen über e i n Prinzip in übergreifender Relation. Diese übergreifende Relation — die sich im Wandel der Geschichte ausdifferenziert — wird als kategorial für die Bildende Kunst gesehen. Die Gattungen, denen ein je spezifisches „ S e l b s t " eignet, richten sich auf die Verwirklichung e i n e s Prinzips. In der Relation der Gattung mit diesem Prinzip besteht die w e s e n s b e g r ü n d e n d e Relation der Gattung, gleichzeitig bestimmt diese Relation die Struktur der sich mit ihr verwirklichenden Ordnung14. Das „Architektonische" manifestiert sich in der Vermählung plastischer und tektonischer Momente. Es steht zu den Gattungen in einem Verhältnis, das als dialektisch angelegt zu begreifen ist. P r i n z i p u n d a r t m ä ß i g e s S e l b s t d i f f e r e n z i e r e n s i c h , i m V e r l a u f der h i s t o r i s c h e n E n t w i c k l u n g s i c h w e c h s e l s e i t i g b e f r e i e n d , aus. So sind Wesensgrenzen der Gattungen gegeben, wo die Dialektik in der Autonomie des Prinzips oder des artmäßigen Selbst e r s t a r r t . Dabei gehen die ganzheitlichen Entsprechungen der Gattungen notwendig verloren. g) Damit ist gesagt, daß die Einsicht in kategoriale Strukturen der bildenden Kunst nicht nur für die Erfassung „zeitloser" Beziehungen der Gattungswerke, sondern ebenso für die Präzisierung einer historischen Situation der bildenden Kunst wertvoll Sedlmayi, Die Revolution. So genügt es nicht, Grandtypen architektonischer Struktur zu bestimmen. Die Frage ist vielmehr die nach jenen Momenten, aus denen die Grundtypen e r m ö g l i c h t sind. 1 4 Die Struktur dieser d o p p e l t e n Bezogenheit ist in gewissem Sinne als dialektisch angelegt aufzufassen: Die Gattung steht mit dem „Ordo" so in einem Verhältnis wie das Selbst der Gattung mit einer Dimension des Ordo integriert ist. 12
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ist. Das typisch Geschichtliche läßt sich aus dem Wandel im Verhältnis der Gattungen zueinander präziser fassen als aus dem Wandel einer einzelnen Gattung. D a b e i z e i g t s i c h , d a ß die G a t t u n g e n n i c h t s t e t s d i e s e l b e n T e n d e n zen v e r w i r k l i c h e n , daß sie sich v i e l m e h r s e l b s t a n t i n o m i s c h z u e i n a n d e r v e r h a l t e n k ö n n e n : das a b e r h a t e i n e P e r v e r s i o n der k a t e g o r i a l e n S t r u k t u r j e n e r G a t t u n g zur V o r a u s s e t z u n g , w e l c h e die Antinomie verkörpert. h) Dem Versuch, die kategorialen Strukturen der Gattungen zu erkennen, sollte notwendig der andere parallelgehen, „ I n t e g r a t i o n s f o r m e n " zu f i n d e n , in denen nicht nur alle Elemente der Gattungen integrieren, sondern sich auch integriert darstellen. Das heißt, daß Integrationsformen Phänomene sind, über deren Erfahrung die Transzension bzw. der Riickbezug des Betrachters auf sich selbst erfolgen. Ähnlich wie es R e a l s t r u k t u r e n gibt (die aus kategorialen Strukturen ermöglicht sind) so Strukturen von Integrationsformen, denen wiederum kategoriale Strukturen als Ermöglichungsgründe zugrunde liegen. In solchen Integrationsformen wird die Spannung von Mensch und Kunstwerk aufgehoben. Es ist zu vermuten, daß sie mit den kategorialen Strukturen der Gattungen aufs engste in Zusammenhang stehen. i) Auf die Gattung „Plastik" — die von allen am weitaus schwersten zu fassen ist — nehmen wir hier keinen Bezug. Ins Schema dieses Versuchs fügt sie sich dort, wo drei Dimensionen der Architektur (der ganze Orthostat), d. h. die dritte Dimension des Architektonischen gestaltet werden. Die Integration von plastischen und tektonischen Momenten geschieht in der Statue, überhöht durch die Gestaltung des Wesens, das einzig frei alle natürlichen Dimensionen beherrscht, als einziges frei sich bewegen kann: des Menschen. In der Statue vermählt sich das Architektonische mit dem Bild des Menschen15. ZUR KATEGORIALEN STRUKTUR DER
ARCHITEKTUR
Architektur ist primär nicht der umbaute R a u m , sondern „das G e b a u t e " , — ein materialiter Existierendes, das seine Existenz dadurch hat, daß es plastische und tektonische Werte vermählt. In sich gegliedert und gliederbar, setzt es ein „Mal", einen „Ort", durch den der Mensch sich seines besonderen Seins vergewissert. Diese Architektur, in ihren Formen stets am menschlichen Leibe als Bezugszentrum gemessen, eignet dem tektonischen Weltalter, „dessen Grundgestalt der ,Bauer' im umfassendsten Sinn des Wortes ist" (Sedlmayi). Zur Architektur treten die Gattungen der Kunst in Beziehung. Architektur steht immer zum Raum — der Naturwirklichkeit — in Beziehung. Doch ist der Raum zuerst lediglich E x i s t e n z m e d i u m der Architektur und erst später (in der historischen Entwicklung später) Ziel des gestaltenden Willens. 15 Vergi. Kaschnitz-Weinberg, Von der zweifachen Wurzel der statuarischen Form im Altertum.
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Grundstrukturen der Architektur sind — wie Guido Kaschnitz-Weinberg gezeigt hat — nach dem Verhältnis der beiden Kategorien Raum und plastisch-tektonischer Körper unterscheidbar. So ist die griechische Architektur durch die Dominanz des plastisch-tektonischen Körpers, die römische durch Dominanz des Raumes ausgezeichnet16. Zwischen diesen Extremen gibt es viele Möglichkeiten für die Realisierung individueller Strukturen. Im Zusammenhang unserer Betrachtungen geht es jedoch nicht um G r u n d s t r u k t u r e n der Architektur, sondern darum, zu sehen, welche Struktur d a s A r c h i t e k t o n i s c h e prägt, aus dem Architektur und andere Gattungen ermöglicht sind. Notwendiges Moment einer jeden Architektur ist, daß ihre plastisch-tektonischen Elemente zum Raum in Beziehung stehen. Dieser kann zwar dominant werden, — dennoch werden die plastisch-tektonischen Elemente mehr sein als Existenzmedium des Raumes. Sie bilden — vor allem, indem s i e Analoga des menschlichen Leibes sind — die Grundkategorie der Architektur, die wir als das A r c h i t e k t o n i s c h e fassen. Nur sie können das Relat sein, über das die anderen Gattungen mit der Architektur und untereinander in Beziehung stehen. Das Architektonische ist, unabhängig von individuellen Strukturen, dadurch ausgezeichnet, daß es sich (als plastisch-tektonische Gestalt) in den drei orthostatischen Dimensionen fügt. So prägt es sich nicht allein in der Architektur aus, sondern ebenso in der Plastik, schließlich auch im Bild. Das zeigt sich auch in der Geschichte: „Architektur und Plastik stehen von der ersten Hochkultur angefangen in der ganzen Welt in engstem Konnubium. Manche ihrer Formen sind sogar aus derselben gemeinsamen Wurzel erwachsen: aus dem Menhir entstehen sowohl die monumentale Freifigur wie der tektonische Obelisk und vielleicht auch die Säule"17. Allen „architektonischen" Gestalten ist eigen, daß sich in ihnen das P l a s t i s c h e mit dem T e k t o n i s c h e n vermählt, und daß sie am menschlichen Leibe gemessen sind18. Plastisch und tektonisch sind Kategorien, aus denen sich das Architektonische bestimmt. Eine Dominanzverschiebung in ihrem Verhältnis zueinander ist durchaus 14
„Die grundsätzliche Bedeutung dieses Problems bringt es mit sich, daß hier Blickpunkte
und Hilfsmittel rein kunstgeschichtlicher Methoden nicht als ausreichend empfunden werden können. Ohne das Vordringen zu den eigentlichen Grundelementen der Struktur, das heißt zu ihrer schöpferischen Konstitution, besteht m. E. keine Aussicht, je zur Definition des Neuen und Nichtgriechischen zu gelangen, das wir beim Betrachten eines römischitalienischen Kunstwerks immer als wesentlich empfinden, aber trotz aller Bemühung nicht in klare und endgültige Begriffe zu fassen vermögen." Kascbnitz-Weinberg, Vergleichende Studien, 89 f. Damit ist gesagt, daß Bemühungen um Einsicht in kategoriale Strukturen durchaus nicht unhistorisch sind, sondern den Ubergang zum Historischen dort ermöglichen, wo sie „Neues" erkennen lassen. Vergi. Sedlmayi, Kunstwerk und Kunstgeschichte (bes. 34 ff.).
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Sedlmayi,
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Zum Begriff des Leibes in der Philosophie vergi. Klings, Fragen und Aufgaben
Die Revolution, r8.
denkbar und bildet im Grunde den Gestaltenreichtum der Kunst. Doch hat das Ausscheiden einer dieser Kategorien sowohl für die Architektur als auch für die Plastik die schwerste Folge: den Tod der Gattung 19 . Wo die Grundkategorien des Architektonischen „zuerst" zusammentreten, entsteht der Orthostat, die „geringste Gestalt" der Architektur. Als Element des Bauens ist er gleichzeitig die geringste Gestalt des Architektonischen. In ihm sind jene Dimensionen, über welche die Gattungen sich auf die Architektur beziehen, mit dem Plastischen integriert, das immer einen organischen Sinn repräsentiert. Ornament, Bild und Plastik treten mit den verschiedenen Dimensionen des Orthostaten in Relation: Das Ornament mit der O b e r f l ä c h e , das Bild mit der F l ä c h e , die Plastik mit dem K u b u s . Ornament wird der Oberfläche aufgemalt, eingekerbt oder -gemeißelt. Aktualisiert werden die Möglichkeiten der s t o f f l i c h r e a l e n O b e r f l ä c h e d e s O r t h o s t a t e n . Das Orthostatische ist für die kategoriale Struktur des Ornaments nur insofern von Bedeutung, als der T r ä g e r von ihm bestimmt ist. Das Bild wird der orthogonal bestimmten F l ä c h e aufgemalt oder -gezeichnet. Es aktualisiert die Möglichkeiten der Fläche, in der Raum und Materie integriert sind20. Die Plastik erfaßt den Orthostaten in seinen drei Dimensionen. Die Gestalt des Menschen oder die Figur des Tieres werden aus ihm „befreit". Die Plastik aktualisiert die Möglichkeit, die in der Vermählung des Plastischen mit dem Tektonischen gegeben sind. Dabei tritt sie mit dem Raum der Naturwirklichkeit in Beziehung. Indem sich das Architektonische aus der Vermählung plastischer und tektonischer Werte realisiert, manifestiert es sich überall dort, wo die Integration dieser Werte intendiert ist. Das ist der Fall im Bild, das ist der Fall in der Plastik. In den Gattungen nun treten die architektonischen Werte um so mehr in Erscheinung, als diese sich von ihrem faktischen Bezug zur Architektur emanzipieren. „Das Ornament ist die einzige Gattung der Kunst, die autonom nicht bestehen kann" 21 . So ist diese Gattung am wenigsten auf die Verwirklichung plastischer oder tektonischer Werte, und ebensowenig auf deren Integration gerichtet. Das Architektonische manifestiert sich nicht in der ornamentalen Gestalt, sondern in der Gestalt ihres T r ä g e r s , — ist also nicht von der Struktur des Ornamentmusters abhängig, sondern von deren Beziehung zum Träger. Jedes Ornament ist direkt auf einen Träger angewiesen — ein stoffliches Substrat —, d e r das Architektonische repräsentiert. Das Ornament kann sich also nicht von seinem Träger lösen, ohne seine Existenzmöglichkeit zu verlieren oder s i n n l o s zu werden. Oberfläche, Fläche und Kubus als Dimensionen des Orthostaten — Dimensionen, 19
Sedlmayi, Die Revolution, 18. Zum Verhältnis von Raum und Materie und zum Begriff der Fläche vergi. ConiadMaitius, Realontologie. 21 Sedlmayi, Die Revolution, 48. 20
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die stofflich real sind — haben in sich verschiedene Möglichkeiten, die von den Gattungen aktualisiert werden. In diesen Dimensionen sind ganz bestimmte Grenzen angelegt, und zwar, was die Struktur der einzelnen Gattungswerke angeht, auch in Hinsicht auf die g e g e n s t ä n d l i c h e n Momente, die in den Gattungen zutage treten. Es gibt k a t e g o r i a l e B i l d g e g e n s t ä n d e , die jedesmal jenen Dimensionen entsprechen, mit denen die Gattungen in Relation treten. So erfordert die O b e r f l ä c h e als Grundrelat des Ornaments einen Gegenstand, der sich in der Naturwirklichkeit nur in einer Richtung entfaltet. Die F l ä c h e als Grundrelat des Bildes birgt in sich die Möglichkeit (indem in ihr Raum und Materie integriert sind), daß a l l e G e g e n s t ä n d e der Naturwirklichkeit gestaltet werden. Dabei ist die Struktur der Gegenstände bestimmt aus der Beziehung, in der Fläche und plastische Werte zueinander stehen: Je mehr die Fläche als Phänomen der Wahrnehmimg verlorengeht, desto unendlicher wird der Raum und desto gestaltloser der Gegenstand. Das Ornament kann sich nicht von einem Träger befreien, in dem sich das Architektonische manifestiert. Das Bild — indem es in sich plastische und tektonische (Fläche) Werte besitzt — kann in relativer Autonomie bestehen. Die Plastik, welche alle Dimensionen des Architektonischen aktualisiert, kann (und zwar als Statue) in größter Selbständigkeit sein. Die Statue, in der plastisch-tektonische Werte mit dem Bild des Menschen vermählt sind (des einzigen Wesens, das sich in allen Richtungen f r e i bewegen kann) repräsentiert in diesem Sinne das Architektonische in der höchsten Form. Die kategoriale Struktur der Architektur besteht in der Relation von Elementen, in denen das Plastische mit dem Tektonischen vermählt ist. Zur kategorialen Struktur der Architektur gehört, daß ihre Elemente von den Gattungen aktualisiert werden können. ZUR KATEGORIALEN STRUKTUR DES ORNAMENTS Die Gattung, welche in der Geschichte der Kunst zuerst auftritt und — entsteht Architektur — in engster Bindung an diese existiert, ist das Ornament. D i e k a t e g o r i a l e S t r u k t u r des O r n a m e n t s i s t d u r c h d i e R e l a t i o n v o n „ o r n a m e n t a l e m S e l b s t " und der O b e r f l ä c h e eines O r t h o s t a t e n b e s t i m m t , eines Trägers, d e s s e n Ornament es ist. Wenn diese Relation die kategoriale Struktur des Ornaments bezeichnet, so muß in ihr der Wesensverfall angelegt sein. Dieser wird aktuell, wo die Relation aufhört zu bestehen, wo das „ornamentale Selbst" den Bezug zur Oberfläche aufgibt. In dieser Emanzipation des Ornaments wird der Träger selbst entwertet, indem seine Oberfläche die stofflich-reale Bestimmtheit verliert, d. h. indem er in seinem plastischen Kem negiert wird. Der Wesensverfall wird aktuell ebenso dort, wo die Relation sich zugunsten des T r ä g e r s löst: Das Ornament verliert seine Eigenwerte, „schrumpft" gewissermaßen io
zum bloßen Muster, ein Sachverhalt, der voraussetzt, daß die Architektur (der Träger) das plastische Moment ausgestoßen hat zugunsten rationalistischer Tektonik22. Die Struktur des „ornamentalen Selbst" ist durch die Struktur der Oberfläche des Trägers (d. i. der ersten Dimension des Architektonischen) gegeben. Diese Dimension ist nidit räumlich bestimmt, sondern materiell: so ist die ornamentale Form a priori auf die s t o f f l i c h e n Qualitäten des Trägers verwiesen. So ist das Wesen des Ornaments durch eine Relation bestimmt, die kategorial ist: Eine Form, die im Bereich der Kunst nicht autonom sein kann, steht in Beziehung zu einem Träger, der — architektonisch — auch o h n e die ornamentale Form sein kann. Indem das Ornament nicht autonom sein kann, muß es seine Gestalt aus der Beziehung einer Form, die gegenständlich kategorial aus den Bedingungen der Oberfläche bestimmt ist, zur Oberfläche des Orthostaten bekommen. Aus der Grundrelation von Muster (ornamentaler Form) und Grund (Träger) ergeben sich die Gestaltmöglichkeiten des Ornaments, aber auch seine Wesensgrenzen — als die Grenzen zur Un-Gestalt — die dort erreicht sind, wo entweder der Träger dominant wird oder das Selbst sich an sich selbst zu aktuieren versucht. — Dort ergibt sich „Reine Architektur", — hier die Grotteske. Ornament kann auf keines der Grundrelate verzichten, ohne sein Wesen einzubüßen. Keines der Relate kann sich emanzipieren ohne das andere zu n e g i e r e n . Das heißt aber auch, daß Muster und Grund in einer Beziehung stehen, deren Dialektik die ornamentale Gestalt ergibt. Wird im Bild, je mehr die F l ä c h e als Phänomen der Wahrnehmung verlorengeht, der Gegenstand um so gestaltloser, so wird im Ornament das Muster um so gestaltloser, je mehr die O b e r f l ä c h e (als materielles Substrat) für die Wahrnehmung verlorengeht. Andererseits geht das Muster, je mehr der Träger in seinen materiellen Eigenschaften herausgestellt wird, um so mehr verloren, um schließlich ganz ausgeschieden zu werden. In diesem Prozeß verliert, wie die Geschichte der Kunst zeigt, der Träger seine a r c h i t e k t o n i s c h e n Qualitäten. Er ist auf Zweck gerichtet, nicht auf S i n n , der erfüllt ist, wo das Architektonische Analogon des M e n s c h e n ist23. Zur Frage nach den Strukturgesetzen des Ornaments (nach denen sich ornamentale Gestalten ergeben) sind die „Bemerkungen zur Entstehung des Akanthusomaments" von Carl Noidenfalk, die sich aus der Beschäftigung mit den Untersuchungen und Gedanken Alois Riegls entwickelten, von großer Bedeutung. Aus Riegls Einsicht: „ O r n a m e n t i s t M u s t e r auf G r u n d " 2 4 , entwickelte Noidenfalk sein „Strukturgesetz", in welchem er die Beziehung von Muster und Grund derart formulieren konnte, daß relative Ungegenständlichkeit und relative Freiräumlichkeit in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen. Das Bedeutsame an dieser Einsicht ist, daß das Verhältnis von Morphologie und 22 23 M
Ibid. Dazu Klings, die Philosophie des Leibes, s. Anm. 18. Spätrömische Kunstindustrie, vergi. Anm n . II
Raumstruktur sich in dieser historischen Entwicklung nadi einer bestimmten Gesetzmäßigkeit entwickelt: „Je stilisierter eine Ornamentform ist" — und Stilisierung heißt ihre Entfremdung von gegenständlicher Bedeutung — „um so enger müssen die Ornamente an der körperlichen Masse ihres Trägers haften . . . Die ungegenständlichste Ornamentik überhaupt, die wir kennen, ist zugleich die flächengebundenste Ornamentik, die es überhaupt gibt. In dem Maße, als in der griechischen Kunst des fünften Jahrhunderts die eingeschlagene Entwicklung zur Schöpfung vollkörperlicher, d. h. nur mittelbar von der materiellen Grundfläche abhängiger Ornamentformen führte, mußten die neuen Ornamente die Lockerung ihrer Abhängigkeit von dem gegenständlichen Träger (etwa dem Block des Kapitells) durch eine Steigerung ihrer eigenen Gegenständlichkeit ersetzen"23. In dieser Gesetzmäßigkeit ist das „ornamentale Selbst" implizit: es ist eine Form, die, abhängig von den Gegebenheiten der „körperlichen Masse des Trägers", sich nur dann realisieren läßt, wenn „relative Flächenbindung" gegeben ist. Relative Flächenbindung ist aber nur dann gegeben, wenn die Form der O b e r f l ä c h e (der ersten Dimension des Architektonischen) folgt. Der „Spielraum" des Selbst ist also durch die Potenzen der Oberfläche vorbestimmt. Das flächengebundene Muster abstrakter Form haftet an der Oberfläche; diese ermöglicht aber auch, daß sich ein ornamentales Muster freiräumlich in einer seichten Raumschicht vor ihr entfaltet, eine Raumschicht, die der Aktion des bildgegenständlich kategorial bestimmten Musters entspricht. Vegetabilisierung ist das prinzipielle Endstadium einer Ornamententwicklung, die von abstraktem (d. h. vom Gegenständlichen abs-trahierten) und folglich flächengebundenem Muster ausgeht. Die Pflanze ist die letzte Möglichkeit, die Dimension der O b e r f l ä c h e zu gestalten, ohne diese in ihrer Dimensionalität anzugreifen. Das Nordenfalksche Strukturgesetz gibt die Beziehung an, in welcher das „Muster" des Ornaments zu seinem Träger steht. Indem es zeigt, wie mit Vergegenständlichung des Selbst Verräumlichung notwendig verbunden ist, faßt es gleichzeitig das Verhältnis von Ornament und Architektur. Nur, wenn eine neue „Raumauffassung" sich bildet, k a n n das Ornament sich in einer der beiden Richtungen (abstrakt auf vegetabilisch oder umgekehrt) verändern. In der Entwicklung kommt den Relaten als solchen keine initiatorische Bedeutung zu. V e r b i n d l i c h f ü r die E n t w i c k l u n g i s t der W a n d e l im I c h - B e w u ß t s e i n d e s M e n s c h e n , der a l l e D o m i n a n z v e r s c h i e b u n g e n im V e r h ä l t n i s d e r G r u n d r e l a t e b e d i n g t . Dieses Ich-Bewußtsein hat seine kritische Form in der Raumgestalt. So ist, wollen wir einen „Initiator" annehmen, initiatorisch das „räumliche Klima", in dem die Ornamentik gedeiht. „Der gleiche Vorgang wie in der griechischen Plastik wiederholt sich achtzehnhundert Jahre später in der gotischen Klassik. Wieder einmal sehen wir eine wesentlich stilisierte flächenhafte Ornamentik bei der Verpflanzung in ein freiräumlicheres Stilklima neue gegenständliche Ornamentformen treiben. Und wieder ist es die Reliefplastik, in der die neuen Formen zuerst auftauchen, während die Malerei erst später 12
folgt. Dieser Vorgang ist nicht nur eine Analogie zu jenem, von dem Riegl und Nordenfalk ausgegangen waren, sondern zugleich eine Bestätigung des von Noidenfalk gefundenen Strukturgesetzes. Denn Verräumlidiung ist ja ein Grundzug des sich bildenden gotischen Architektursystems: die Bildung eines echten Baldachinsystems ist der prägnante Ausdruck für diese Tendenz. Von dem Nordenfalkschen Strukturgesetz her wäre, ohne Kenntnis der Tatsachen, mit Sicherheit zu erwarten, daß dieses neugebildete räumliche ,Klima' zu einer Verpflanzung des Ornaments führen muß" 2 4 . So, wie es einer Gesetzmäßigkeit u n t e r l i e g t , daß mit Verräumlichung Vergegenständlichung erfolgt, so s c h e i n t es einer Gesetzmäßigkeit zu unterliegen, daß dieses Gegenständliche nur dann den Bezug zum Träger a u f g e b e n kann, wenn sein Vorbild in der Naturwirklichkeit sich frei bewegt Geschieht dies, so sind die Wesensgrenzen des Ornaments angegriffen: Mit der Abbildung solcher Wesen (Menschen, Tiere), ist eine Dimension eingeführt, welche die e r s t e Dimension des Architektonischen negiert, wenn nicht das Bild dieser Wesen auf den puren Gestaltumriß reduziert und so der Oberfläche angeglichen ist. Mit der Einführung von Gegenständen, die von sich aus einen d r e i d i m e n s i o n a l e n Aktionsraum produzieren, wird der Ornamentträger spontan als z w e i d i m e n s i o n a l e B i l d e b e n e gewertet, d.h. als zweite Dimension des Architektonischen. Wird an diesem Punkt extremer Vergegenständlichung nicht der Ubergang zur B i l d s t r u k t u r gefunden, so entsteht die Grotteske. Die Gesetzmäßigkeit, die Noidenfalk erkannte, findet in dieser Ubersteigerung ihre letzte Konsequenz. Damit ist aber nicht allein die Dialektik der Bezogenheit von Muster und Grund, sondern auch die von Ornament und erfahrendem Subjekt aufgehoben. In der Ubersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments kann sich der Träger nicht mehr in seinen Eigenschaften darstellen: Die Oberfläche wird durch das emanzipierte Muster in ihrer stofflich-realen Bestimmtheit „ausgezehrt" und t r i t t w e d e r a l s O b e r f l ä c h e n o c h als Fläche, sondern als U n d e f i n i e r t e r R a u m in Erscheinung. Ornament ist ein Beziehungsganzes, das aus der Aktualisierung der materialiter bestimmten Oberfläche Gestalt bekommt. Die Frage ist, ob die von Noidenfalk beschriebene Situation der Vegetabilisierung die l e t z t e Möglichkeit des Ornaments ist, ob die „Verpflanzung in ein freiräumliches Stilklima gegenständliche Formen treiben" m u ß , o d e r ob sich nicht auch der Fall ergeben kann, daß das Ornament andere als die herrschenden Tendenzen verkörpern, u n d i n e i n e m s o l c h e n F a l l n o c h O r n a m e n t sein kann.
Z U R K A T E G O R I A L E N S T R U K T U R DES
BILDES
Das ornamentale Selbst aktualisiert die e r s t e Dimension des Architektonischen. Es ist nicht an planimetrische Begrenzungen gebunden und kann ohne Rahmen gestaltet werden.
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Das ist in nuce die Frage nach dem Wesen der Grotteske. Im Bild wird die F l ä c h e aktualisiert. In der Fläche durchdringen sich plastische und tektonisdie Werte, die i n s B i l d eingehen28. Wir sprechen in der Malerei dann von einem „Bild", wenn mit Farben und Formen auf einer Fläche ein Bildtiefenraum erzeugt wird, so daß die Eigenstofflichkeit der Fläche (also die Oberfläche der Fläche) in der Erfahrung der B i l d o r d n u n g aufgehoben ist. Die Fläche ist (wahrnehmungsmäßig) einerseits a u f g e h o b e n durch die Imagination eines Bildtiefenraumes, andererseits ersdieint sie als zweidimensionaler Träger des „Bildmusters". Diese Doppelstruktur2® des Bildes integriert im Phänomen der „optischen Bildebene"27. Wird durch Farben und Formen auf einer Fläche ein B i l d t i e f e n r a u m erzeugt, so gleichzeitig ein bildgegenständliches Gefüge. In der Bezogenheit von Bildgegenständen und Bildraum (Kategorien, die in der Fläche integriert sind) besteht die kategoriale Struktur des Bildes. Bildgegenstände und Bildraum bilden dabei das Selbst des Bildes. In der Integration von Selbst und Fläche ist die O b e r f l ä c h e nidit vernichtet, sondern auf eine Kategorie des Selbst übergegangen: auf die Bildgegenstände, die der Wahrnehmung als stofflich-real erscheinen. Das Bild aktualisiert die zweite Dimension des Orthostaten: die in der F l ä c h e (und durch die Fläche) gebannte Dialektik von Materie und Raum. Diese Dialektik findet im Bild ihre Synthese in der Doppelstruktur, durch die alle räumlichen und plastischen Werte auf die Fläche (ideale Bildebene) zurückbezogen sind. So spannt sich im Bild eine doppelte Dialektik aus: einerseits die zwischen den Bildgegenständen und dem Bildraum, anderseits die zwischen dem Innerbildlichen und der Fläche. Die Struktur dieser doppelten Dialektik prägt die Gestalt des Bildes. Nur, wenn das im Bildtiefenraum Imaginierte auf die Ordnung der Fläche zurückbezogen ist, ist auch die Beziehung auf das erfahrende Subjekt möglich. D i e k a t e g o r i a l e S t r u k t u r des B i l d e s b e s t e h t in der D i a l e k t i k der Bezogenheit von Bildraum—Bildgegenstand zur Fläche. Die dreidimensionale innerbildliche Ordnung wird gewissermaßen in einer vierten Dimension (der gleichzeitigen Flächenordnung des Innerbildlichen) auf den Betrachter zurückbezogen. Wie das Ornament auf die erste Dimension des Architektonischen verwiesen ist, und wie sich von daher die kategorialen Bildgegenstände bestimmen, so bestimmen sich die kategorialen Gegenstände des Bildes aus der z w e i t e n Dimension des Architektonischen: Das Bild kann alle Dinge der äußeren Wirklichkeit — richtungsgebundene und -ungebundene — gestalten. 25
Siehe Hetzer, Aufsätze und Vorträge II, 139 ff.
24
Vergi. Pächt, Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei des 15. Jahrhunderts, 79.
21
Zur „Optischen Bildebene": Schöne, Das Licht in der Malerei, 32.
H
BEMERKUNGEN Die kategorialen Strukturen der Gattungen sind aus der Bezogenheit bestimmter Kategorien gegeben, die gewisse Potenzen des Architektonischen zu aktualisieren erlauben. Indem die Bezogenheit jeweils dialektisdi angelegt ist, können sich die Kategorien in ihrem Verhältnis zueinander verschieben, — können sich die Kategorien des Selbst aus dem Bezug zum Architektonischen mehr oder minder befreien. Doch führt sowohl das Ausscheiden einer Kategorie des Selbst, als audi die Beziehungslosigkeit des Selbst zum Architektonischen auf die Gestaltlosigkeit bzw. auf die Un-Gestalt. Dominanz einer Kategorie des Selbst einer Gattung führt zur Ubersteigerung der kategorialen Struktur, wobei die Gestalt Prinzipien einer anderen Gattung verwirklichen kann (so führt in der Malerei die Verselbständigung des Plastischen zur Grisaille = Relief). Die Verselbständigung des Raumes führt zur Entkörperlichung der Gegenstände, Verselbständigung der Farbe zur Auflösung des Gegenständlichen und des Raumes. Diesen „Eigenbewegungen" von Teilaspekten des Bildes entspricht das jeweilige Verhältnis der idealen Bildebene zu den Formen des Selbst. Emanzipiert sich das Selbst des Bildes, so geht die „optische Bildebene", geht die Integrationsform verloren. Die Bildgegenstände erscheinen wie farbige Plastiken in einem Raum, der ohne Bezug zu ihnen ist. Emanzipiert sich das Plastische, so entstehen Bildgegenstände, die den Raum negieren, emanzipiert sich der Raum, so entstehen letztlich amorphe Gebilde, die in einen unendlichen Raum gestellt sind. Emanzipiert sich die Farbe, so drängt alles in die Fläche — die aber in keinem der genannten Fälle als F l ä c h e , d. h. als zweite Dimension des Architektonischen bestehen bleibt. In den angedeuteten Möglichkeiten der Emanzipation werden die Wesensgrenzen des Bildes angegriffen, überschritten werden die Wesensgrenzen dort (und das gilt für alle Gattungen) wo eine Kategorie des Selbst absolut gesetzt wird. Die kategorialen Strukturen der Gattungen sind aus Beziehungen zu bestimmen, deren Dialektik die Gestalt der Werke prägt. Die Beziehungen sind für die Gattungen wesensbegründend, ihre Dialektik strukturbestimmend. Wo eine Gattung sich an sich selbst aktuiert, geht die Physiognomie des Darzustellenden verloren. Dort geht der Bezug zum Architektonischen verloren, und das heißt: der Bezug zum Menschen. Der Sinn der im vorhergehenden angestellten Überlegungen zur kategorialen Struktur des Ornaments — die sich auf die Erkenntnis der besonderen Struktur und des Wesens der Grotteske richten — und des Bildes war, zu sehen, wie im Ordo der Bildenden Künste sich ein Netz von Entsprechungen entfaltet, in dem die individuellen Werke der Kunst wirklich sind. Den Ordo der Kunst in seiner vollen Wirklichkeit zu erfassen ist nur dem möglich, der gleichzeitig die gesamte G e s c h i c h t e der Kunst vor Augen hätte, das spezifisch IS
K ü n s t l e r i s c h e des Werkes erkennte, im Individuellen des Kunstwerks das Allgemeine der Geschichte, in der Geschichte den „zeitfreien Zustand" des individuellen Werkes erführe; wer die Dialektik der Bezogenheit von Raum und Materie als Gestaltursprung und in ihrer Beziehung zu Licht und Schwere begriff. Das hierzu nötige Bewußtsein kann nur erlangen, wer die Dialektik der Bezogenheiten als ein Lebendiges bei sich lebendig hat. In diesem Augenblick aber wäre das Bewußtsein selbst in der Lebendigkeit der Dialektik aufgehoben. Die u r s p r ü n g l i c h e Erfahrung anschaulicher Charaktere, das Offensein des Menschen gegenüber dem Ursprünglichen der Kunst hat so alle theoretischen Bemühungen überflüssig gemacht.
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Α. DAS W E S E N DER R E I F E N GROTTESKE Wir gehen aus von einem Denkmal, das in der gesamten Literatur1, die sich mit der Grotteske der italienischen Renaissance befaßte, als historisch höchst bedeutsam bezeichnet wurde: In den Loggien Raffaels im Vatican, zwischen 1517 und 1519 dekoriert, erkennt man den Höhepunkt der Entwicklung des Quattrocento-Ornaments,· — gleichzeitig betont man, daß hier die weitere Entwicklung ihren Ausgang nimmt. Beides macht dieses Denkmal für unser Vorhaben besonders geeignet. Wir versuchen zunächst eine Beschreibung der Grundstruktur der Galerie, dann eine Analyse der Grotteske; — abschließend soll diese im Strukturzusammenhang der Loggien erfaßt werden, ein Unternehmen, das ganz erst dann gelingen könnte, wenn jedem der unzähligen Details, vor allem auch in ikonographischer Hinsicht (eine Aufgabe, die wir hier ganz ausklammern), Beachtung geschenkt wäre. Die Versuche werden nur soweit durchgeführt, wie es für die Einsicht in Strukturprinzipien der Grotteske wichtig schien: Sie sind Näherungsbestimmungen und wollen als solche gewertet sein. I. D I E L O G G I E N R A F F A E L S Die Loggien Raffaels, eine offene Galerie im zweiten Obergeschoß des Cortile di S. Damaso im Vatican, wurden von Bramante, begonnen und ab 1514 von Raffael fortgeführt. Unter Raffaels Leitung wurden sie seit 1517 von einer großen Anzahl seiner Schüler und Gehilfen dekoriert; 1519 war diese Dekoration beendet2. Durch die Dekoration wurde die Architektur in großem Maße umgedeutet. Wir beginnen mit der Beschreibung konstruktiver und konstitutiver Elemente der Loggien. ARCHITEKTONISCHE
GRUNDLINIEN
Die Galerie ist zur Hofseite in dreizehn rundbogigen Arkaden geöffnet. Niedrige Steinbaluster bilden zwischen den Bogenstellungen eine Brüstung. Bögen, über den den Arkadenpfeilern vorgelegten Pilastern, korrespondieren kassettierten Stirnbögen über flachen Nischen der Palastwand. Breite, kassettierte Gurte sind von den 12 Arkadenpfeilern zu den entsprechenden Pilastern der Palastwand gespannt. Die dreizehn Joche sind durch muldenförmige Gewölbe geschlossen, die über einem Gesims ü b e r dem Scheitel der Teilungsbögen ansetzen, so daß die Zwickelfelder senkrecht emporsteigen. 1
Vergi. Anhang S. 184. ' Darüber Vasaii-Milanesi, IV, 362 S.¡ Redig de Campos, RaSaelo e Michelangelo.
17
Die Gliederung der Palastwand ist durch ein System von Pilastern, Lisenen, rechteckigen Mauerfeldern und Zwickeln bestimmt. Der Hauptwandpfeiler, der dem Pilaster entspricht, der dem Arkadenpfeiler vorgelegt ist, trägt mit diesem den Teilungsbogen. Die Hauptwandpfeiler sind der Wand vorgestellt und bestimmen durch die Verbindung mit den Teilungsgurten r3 Wandeinheiten. In diesen Wandeinheiten treten paarig Nebenpilaster auf, die ihr Gegenüber im Profil der Gewändepilaster haben. Diese tragen die Arkadengurte und bilden an der Palastwand Fußpunkte der Archivolten. In Höhe des Balustradengebälks in den Wandabschnitten ein stukkiertes Band, das die Nebenpilaster in dieser Höhe „zerschneidet". In jedem Wandabschnitt sind außerdem paarig Lisenen vorhanden, die in einem Plan mit den rechteckigen Mauerfeldern stehen, die ehemals ,finti di bronzo' trugen. Uber diesen Flächen Fenster. Die Lisenen sind kassettiert und nach unten durch das Stukkoband begrenzt, unterhalb dessen sie sich in einer Art Piedestal fortsetzten, dessen ursprüngliche Inkrustation afrikanischen Marmor imitierte. Die Wandnischen haben seitlich die Lisenen als Begrenzung, die durch ein kassettiertes Band, das auf ein Gebälkstück oberhalb der Lisenen aufsetzt, überwölbt wird. Nach oben werden sie durch dieses Band begrenzt. Eingestellt in die Nischen sind Fenster, deren reich abgestufte, flachgiebelige Verdachungen in Höhe der Kapitelle von Haupt- und Nebenpilaster ansetzen und bis über die vom Hauptwandpfeiler bestimmte Ebene hinaus vorgekragt sind. Die Palastwand ist in dreizehn Abschnitte geteilt. Diese Teilung ist für den Eindruck wichtig: Die Galerie staffelt sich von Nord nach Süd, was durch andere Elemente unterstrichen wird*. Die Palastwand (als Frontebene gedacht) ist in vier Teilschichten gegliedert, die durch schon genannte Elemente der Architektur bestimmt sind, ι.
Spiegel dei
Hauptwandpfeilei;
2.
Nebenpilaster,·
3.
Lisenen;
4. Maueigmnd der Nische und die jeweils zugehörigen Glieder. Wichtig, daß der Mauergrund blau gemalt ist4. Die Arkadenwand ist analog geschichtet: ι.
Spiegel dei
Aikadenpfeilei;
2. Nebenpilastei, (der hier das Profil des Gewändepilasters ist); 3. die Balustiade;
4. die Atmosphäie des realen Außen, die dem blauen Mauergrund analog ist. Die Hauptwandpfeiler bestimmen eine erste Schicht im Insgesamt der Galeriewand. 3
Diese Staffelung wird nicht nur unterstrichen, sondern mit produziert durch die „aufgestellten" Bilder der Bilderbibel. * Vergi. S. 22 (Burdcíwrdt-Zitat). 18
Gleichzeitig t r e n n e n sie die Wand in dreizehn Abschnitte, die untereinander kongruent sind. In der Grundstruktur entsprechen sich die Abschnitte der Arkadenwand und der Palastwand. Die Grundstraktur erscheint auch in den aus Hauptwandpfeilem und Zwickelfeldern gebildeten Einheiten, die Arkaden- und Palastwand verspannen. Das Grundgerüst der Architektur kann aus einer einzigen formalen Einheit erstellt werden. Diese Einheit hat die Gestalt: a) eines Abschnittes der Fensterwand (Palastwand); b) eines Abschnittes der Arkadenwand (ohne Füllglieder); c) eines Abschnittes, gebildet durch einen Hauptwandpfeiler, Teilungsbogen und Arkadenpfeiler; d) des südlichen oder nördlichen Abschlusses der Galerie. Vier solcher formalen Einheiten ergeben ein Joch, dreizehn foche das „Modell" der Galerie: dreizehn hintereinandergeschaltete Raumeinheiten, die durch die Dekoration in verschiedener Weise gegeneinander abgesetzt, verklammert und vereinigt sind.
STUCK Wichtiges Element der Dekoration ist die Stukkatur, deren Ausführung Giovanni da Udine oblag. Giovanni wird das Verdienst zugesprochen, die antike Zusammensetzung des Stucks wiedergefunden zu haben 5 . Durch die Stuckierung verschiedener Teile der Loggien wird das architektonische Skelett umgedeutet. Stuck ist vor allem verwendet: im Gewölbe, in Zwickeln, den Pilasterspiegeln appliziert®, zur Kassettierung der Lisenen, Gurte und Archivolten, zur Herstellung des umlaufenden Bandes. Die Stuckierung wirkt auf das architektonische Grundgerüst in verschiedener Weise. Zunächst v e r k l a m m e r t sie die formalen Einheiten der Joche. Weiter grenzt sie Zonen der Palastwand im Vertikalen durch Betonung von Horizontalen gegeneinander ab. (Diese Zonen betreffen die Abschnitte, nicht die ganze Wand!) ι . Eine G r u n d z o n e reicht vom Fußboden 7 bis zum Stuckband; 2. eine M i t t e l z o n e wird durch das Stuckband, die Kapitelle und die Basis des Fenstergiebels bestimmt; 3. eine O b e r z o n e ist bestimmt durch das stuckierte Gesims über dem Scheitel der Archivolte und durch die Kapitellinie. β β 7
Vasari-Milanesi, VI, 55 a. Wie dieses „appliziert" zu verstehen ist, muß im weiteren Text deutlich werden. Uber den alten Fußboden der Loggien: Tesozone, L'Antico pavimento. 19
Dieses Gesims scheidet eine untere Sphäre, zu welcher die Galerie im ganzen gehört, von einer oberen, der Sphäre der Gewölbe. In den Gewölben wird Stuck verwendet zur plastischen Gestaltung der Impressen und zur Hervorhebung der Rahmung einiger Bilder der Bilderbibel. Die Teilung in drei Zonen läßt sich an den Hauptwandpfeilern nicht beobachten: Eine Zäsur gibt hier das Kapitell, während sich das Stuckband an den Seiten der Hauptwandpfeiler „staut". Das Stuckband, dem an der Arkadenseite das Balustradengebälk entspricht, wirkt gewissermaßen als „Sperre". Dadurch bekommen die hintereinandergeschalteten Raumeinheiten die Richtung des Ganges. Diese Richtung wird unterstützt: Bezieht man irgendeinen Standpunkt in der Galerie mit dem Blick auf die Schlußwände, immer entsteht der Eindruck, die Grundeinheiten befänden sich in einer „Flucht". Die vier formalen Einheiten einer Travée sind miteinander durch dekorative Mittel verspannt. a) Eine wichtige Verspannung erfolgt durch das über den Scheiteln der Teilungsbögen umlaufende Gesims. b) Die Verbindung von Hauptwandpfeilern und Nebenpilastern geschieht durch applizierte Rosetten; während der Nebenpilaster wiederum durch den laufenden Hund intensiver dem Hauptabschnitt zugeordnet ist. MALEREI
Wichtiges Strukturelement der Dekoration ist die Malerei, welche die „dekorativen" Elemente und die Bilder der „Bilderbibel" gestaltet. Die Gewölbe tragen je vier Bilder dieser Bilderbibel, insgesamt 52s. Die Pilaster, Nebenpilaster und Lisenen sind mit Grottesken dekoriert, ebenso die Zwickelfelder. In den Mauerfeldern unter den Fenstern befanden sich ehemals „finti di bronzo". DEKORATION
Stuck und Malerei bilden zusammen die Grundlage der Dekoration. Deren Beschreibung geht zweckmäßig aus von den Grundelementen der Architektur, der die Dekoration „angeheftet" (Stuck) oder aufgemalt (Fresko) ist. Die Hauptwandpfeiler und die Pilaster der Arkadenpfeiler sind auch durch die Dekoration besonders betont. Von der Basis bis zum Kapitell sind sie durchgehend mit Grottesken versehen. Nach einem für alle Pilasterspiegel gleichen Schema sind im oberen Drittel stuckierte Medaillons appliziert, die in ihren Feldern mythologische Szenen tragen. Ihr Grund ist blau (grünstichig); sie sind braungolden gerahmt, die Figuren weiß stuckiert. Die Gurte der Teilungsbögen, die Lisenen und Zwickel8
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48 Bilder haben als Vorwurf Geschehnisse des Alten, 4 solche des Neuen Testaments.
felder sind stuckiert. In den Kassetten mythologische Szenen und Einzelfiguren. In jedem Gurt zweimal L. X. P. M. (Leo X. pontifex
maximus).
Die Zwickelfelder sind nicht gleichmäßig dekoriert. Abwechselnd: Engel (Victorien), Medaillons, Mythologisches. Die Zwickel sind von einem farbigen Stuckwulst gerahmt. Die Nischen sind blau gemalt, darüber Fruchtgehänge. Blau bedeutet Raum: Die Nische korrespondiert dem realen Außen. Die Gewölbe sind auf die (aus Grundeinheiten gebildeten) Raumzellen „aufgesetzt". Die körperliche Masse der Gewölbe tritt nicht in Erscheinung: Schon durch die Mulden wird ein freier Eindruck bewirkt, durch die Dekoration wird jeder Eindruck von Schwere ausgeschlossen. In der Untersicht erscheint die Grundform der Gewölbedekoration als griechisches Kreuz: In das mittlere Quadrat sind, in jedem Joch, die Impresen der Medici, in die Felder der Kreuzarme Szenen des Alten und Neuen Testaments stuckiert, — die durch das Kreuz entstehenden Eckfelder sind in den einzelnen Gewölben verschieden dekoriert. In einigen sind Scheinarchitekturen angebracht, welche die Realarchitektur fortsetzen und über denen ein freier Himmel sichtbar wird. In anderen sind die Gewölbe mit einem Netz bedeckt, durch dessen Maschen schwebende Engel gesehen werden; andere Gewölbe sind mit Teppichen und Grottesken versehen. Innerhalb der Gewölbedekoration (die nach dem Prinzip der „Volta dorata" angelegt ist ¡sind prinzipiell drei Schichten festzustellen 9 : ι . Eine Schicht durch den Raum der Bilderbibel (Bildraum); 2. eine Schicht durch die Teppiche etc., hinter bzw. über den Bildern angebracht; 3. eine Schicht, die durch den Freiraum der illusionistischen Deckenmalerei gebildet wird; diese Schicht ist nur in vier Gewölben aktuell, in den anderen Gewölben aber latent. Bezieht man einen Standpunkt in den Loggien, von dem aus die Bilder als B i l d e r gesehen werden (also nicht in der reinen Untersicht, in der sie Teile des griechischen Kreuzes sind), so erscheinen sie spontan wie Tafelbilder, die auf dem Gesims über dem Scheitel der Teilungsbögen aufgestellt sind. Was von der Architektur her als Flucht von Grundeinheiten gesehen wird, erscheint unter Einbeziehung der Dekoration als Flucht von triumphbogenartigen Ordnungen. Die formale Einheit wird in der Dekoration dem Triumphbogen genähert, der als „Motiv" viermal in jeder Raumzelle erscheint. Die Trennimg von unterer und oberer Sphäre, die in der Architektur durch die Muldengewölbe vorgegeben ist, wird durch die Dekoration intensiviert. Uber den aus dem Triumphbogenmotiv als konstitutivem Element gebildeten Raumzellen entfaltet die Gewölbesphäre auch durch die Dekoration ein Eigenleben. 9
Vergi. Lanckoionska, Zu den Loggien Raffaele. 21
FARBE Den allgemeinen Farbcharakter der Dekoration bestimmt das Weißtonige der Grundierung. Daneben ist Gold von Bedeutung (Braungold), das die architektonische Lineatur der Galerie markiert und den Charakter der malerischen Dekoration in jenes Rostfahle taucht, das sich in den — heute verwitterten — finti di bronzo, in den rechteckigen Mauerfeldern unter den Fenstern der Palastwand, gewissermaßen rein darstellte. Der dritte Faktor ist Blau. „Was die Fenster der Mauerseite von der Wandfläche übrigließen, wurde durchsichtig gedacht und erhielt auf himmelblauem Grunde jene unübertrefflich schönen Fruchtschnüre, in denen der höchste dekorative Stil sich mit der schönsten Naturwahrheit verbindet, ohne daß nach einer optischen Illusion gestrebt worden wäre 10 ." Die Raumwertigkeit des blauen Grundes hat ihre Analogie in der oberen Sphäre, wo die S c h e i η architektur wie ein Gerüst die .Realarchitektur der Galerie bis an den blauen (als wirklich vorgestellten) Himmel h e r a n f ü h r t , ohne diesen aber in den Standort irineinzunehmen, wie auch die Scheinarchitektur (durch das Gesims am Fuß des Gewölbes) keine echte Fortsetzung der Realardiitektur bedeutet. „Außen" und „Standort" sind zwar einander genähert, bleiben aber, gegeneinander abgegrenzt, in einer Spannung: Die Scheinarchitektur stellt ein z u objektives Bindeglied zwischen Standort und Illusion des realen Außen dar, das mit der blauen, aufgeweißten Raumfolie nur vorgestellt wird. Das B l a u kontrastiert den allgemeinen Farbcharakter, der durch Weiß und Gold entsteht. Denn das Blau ist einmal, in der Sphäre der R e a l architektur, der Wanddekoration als Raumfolie hinterlegt, daneben als Farbe des Äthers verwendet; — in der Gewölbesphäre bedeutet es den realen Raum eines „Außen". Im Zusammenwirken der Grundfaktoren Weiß, Gold und Braun erscheint das Dekorationsganze dem ersten Eindruck als rostfahle Membran, in der das architektonische Gerüst seltsam verschwimmt. Präzisiert sich die architektonische Struktur, die von Goldleisten (Stuck) akzentuiert ist, so ergibt sich spontan eine Scheidung in zwei Sphären, an der die Farbe ebenso beteiligt ist wie die architektonische Struktur: Gold und Weiß produzieren „unten" jenes homogen Rostfahle, in dem die Architekturelemente wie eingehüllt in eine Haut erscheinen. Das Blau neben den Fenstern, das „durchsichtig gedacht" ist, läßt die Fensterarchitektur stärker hervortreten. Das inhomogene Blau hinter der Scheinarchitektur, das durch Wolken aufgelichtet ist, intensiviert die Scheidung, in der allgemein der Illusionsraum der Scheinarchitektur von dem Raum der Realarchitektur getrennt ist. Das bedeutet für die Bilderbibel, daß ihre Bilder von dem Raum der Realarchitektur differenziert sind. Dadurch aber, daß sie b e i d e n Räumlichkeiten zugehören, werden diese, an und für sich getrennt, wieder zusammengeführt. 10
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Burckhardt, Cicerone, 226.
STRUKTUR Die Grundstruktur der Loggien ist durch verschiedene Elemente ausgezeichnet. Die architektonische Struktur kann als zusammengesetzt gedacht werden aus hintereinandergeschalteten Raumzellen. Diese Raumzellen konstituieren sich aus vier gleichartigen triumphbogenartigen Grund-Motiven, die von einem muldenförmigen Gewölbe „gedeckelt" sind. Durch Stukkaturen sind die Raumzellen miteinander verklammert. Ein Stuckband in Höhe des Balustradengebälks bedeutet gleichzeitig Trennung und Verbindung der Zellen. Die Dekoration ist darauf angelegt, die Grundmotive zu sondern u n d zu verbinden. Sie ist — den Techniken nach — an der Plastik (stucchi) und der Malerei (Fresko) orientiert. Die Tendenz, Gewölbe- und Wandsphäre der Architektur zu sondern, wird durch die Dekoration hervorgerufen. Gleichzeitig tendiert die Dekoration dazu, die beiden Sphären zu verbinden (Bilderbibel). Durch die Dekoration wird die Farbe zum wichtigen Strukturelement. Farbe ist wirksam in wesentlich drei Faktoren: Weiß, Gold und Blau. Auch durch die Farbe wird die Tendenz unterstützt, zwei Sphären zu sondern. Die Farbe bestimmt den ersten Eindruck, aus dem sich dann sekundäre Strukturelemente ausdifferenzieren. TENDENZEN In den Loggien ist vor allem eine Tendenz wirksam; — diese zielt darauf, die komplizierte und zwiespältige Struktur aus Elementen architektonischer, plastischer und malerischer Herkunft einer Einheit zuzuführen. Der „Ausgestaltung der Tendenz", die man im Sehen erfährt, geht ein Zerfall des ersten Eindrucks voraus,· die Flucht des Ganges, der im ersten Eindruck wie eingehüllt in eine rostfahle Haut erscheint, löst sich in Teileinheiten, die durch die architektonische Struktur und die Dekoration bestimmt sind. Die Raumzellen, die sich ergeben, werden geschieden durch Hauptwand- und Arkadenpfeiler. Diese, der architektonischen Struktur zugehörig, sind durch dekorative Motive besonders ausgezeichnet: Sie sind weißgründig und mit farbigen Grottesken versehen. Ihre Spiegel (1:10 ca.) sind freskiert, im oberen Drittel ist ihnen, nach einem für alle Pilaster gleichen Schema, ein System von stucchi appliziert. Die Pilaster und die stucchi sind von braungoldenen Leisten gerahmt. Die Hauptwand- und Arkadenpfeiler sind trennende Elemente. Gleichzeitig aber sind sie verbindende Teile; — denn sie gehören jeweils zwei Raumzellen alternierend an. An der Teilung der Wand in horizontal bestimmte Zonen sind sie nicht beteilgt. Es lassen sich zwei widersprüchliche Tendenzen ersehen: Eine eiste Tendenz geht auf Separierung von Raumzellen, verbunden mit der Separierung von Wandabschnitten. Sie ist angelegt in der „Flucht" der konstitutiven
3
Piel
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Elemente, der Dominanz der Hauptwand- und Arkadenpfeiler und der besonderen Gestaltung von zwei Sphären. Eine zweite Tendenz geht auf Synthese der Raumzellen zur R a u m e i n h e i t der Galerie. Diese Tendenz ist angelegt in der einheitlichen Schichtung der Galeriewände, in den Verklammerungen durch die Dekoration und, vor allem, in dem fortlaufenden „Text" der Bilderbibel. Diesen Tendenzen, die für die ganze Galerie gelten, entsprechen Tendenzen in den einzelnen Raumzellen. Eine eiste Tendenz zielt auf Separierung zweier Sphären: die Gewölbesphäre wird von der Wand-(Standort-)Sphäre gesondert. Eine zweite Tendenz zielt auf Einheit der Sphären, die durch die Bilderbibel bewirkt wird. GROTTESKEN Bedeutsam für die Struktur der Loggien und deren Stellung in der historischen Entwicklung ist die so reiche Verwendung von Grottesken. Grottesken finden sich: Auf Hauptwand- und Aikadenpfeilem, in Gewölbeeckfeldem, in Zwickeln. Die hervorragendste Verwendung geschah bei den Hauptwand-und Arkadenpfeilern, deren Spiegel durchgehend mit Grottesken dekoriert sind. Sie sind für die folgenden Beobachtungen der Ausgang; — nur an wenigen Stellen nehmen wir auf Grottesken in anderen Kompartimenten der Loggien Bezug. Diesem Vorgehen liegt audi die Tatsache zugrunde, daß sich die Dekoration der übrigen Kompartimente genetisch nicht so leicht aus quattrocentesken Vorstufen begreifen läßt wie die der Pilaster, welche als „Endstufe" der Pilasterdekorationen des Quattrocento gesehen werden kann 11 . G R O T T E S K E N , - ERSTE B E S C H R E I B U N G Die Hauptwandpfeiler gehören der ersten Schicht der Palastwand an. Ihnen korrespondieren die Arkadenpfeiler, im Motivischen der Dekoration genau gleich, abweichend voneinander lediglidi in den Szenen der stucchi. Farbe des Musters: Die Farben der Grotteske sind ins Weißliche gebrochen. Grün, Blau, Rot, Gelb und Violett-Schwarz, die sich als Grundfarben angeben lassen, sind in schilfiges Vitriol, wäßriges und gleichzeitig öliges Blau (Petrol), das Gelb ins Ausgeblichene des hellen Ocker, Rot ins Branstig-Fahle, Violett-Schwarz ins Grau „entkeimt und zugleich vergiftet". 11
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Vergi, das II. Kap. dieser Arbeit.
Neben Flächenfarben ausgesprochene Körperfarben. Hintergründe von ornamentalen Gefügen, Teppiche, Versatzstücke unbestimmter und unbestimmbarer Funktion sind mit oberflächendichten Farben, pompejanischem Rot, blauem Schwarz „bedeckt" im wörtlichsten Sinn. Raumarme Folien, korrespondieren sie den Gründen der stucdii, die, braungolden gerahmt, mit Reliefszenen auf blauem, grünstichigem Grund weiß „gesiegelt" sind. Das Braungold der Rahmen findet sich in der Lambrequin-Innenleiste wieder, die den Pilaster an den Seiten begrenzt. Malgrund Der Malgrund war ursprünglich sehr glatt. Die Struktur seiner stofflichen Oberfläche wird sich (soweit der Verfasser erkennen kann) zur Entstehungszeit kaum in Erscheinung gesetzt haben. Der Grund, der in den Musterintervallen in ganz verschiedener Weise und abweichender Quantität erscheint, ist weiß. Dieses Weiß spielt in ganz helles Blau, wodurdi es etwas Kaltes bekommt. (Kopien aus dem Ende des Cinquecento im Palazzo Venezia in Rom haben hellblauen Grund. Sofern dies nicht auf chemische Veränderungen der Farbsubstanz zurückzuführen ist, hat der Kopist das Weiß sehr stark vom Blau her, einem Grundfaktor der Farbigkeit in den Loggien, erlebt.) Muster Der erste Eindruck, bei dem der Betrachter, frontal zu der hochrechteckigen Fläche, sich recken und zurücktreten muß, um einen Uberblick zu gewinnen, ist der eines unruhigen Fluktuierens und Verhäkeltseins. Weder Farben nodi einzelne Gegenstandsgefüge treten deutlich hervor. Doch prägt sich hier verschiedenes aus: ι. Unbestimmte Horizontalen werden wahrgenommen,· 2. der Blidc klettert an einer Mittelsenkrechten empor, durch ungewisse Horizontalen seitlich herausgeführt, durdi den Rahmen des Spiegels zusammengehalten,· 3. man erkennt Mischungen von Ornamentalem, Ungegenständlich-Abstraktem und sehr gegenständlichen Figurengefügen und Szenen. Die beweglichen Form- und Gegenstandsgefüge scheinen als Fragmente zu flattern, zu schweben, zu stürzen — werden aber durch die Mittelsenkrechte „aufgefangen". Verhältnis von Mustei und Grund Dem ersten Eindruck ist das Verhältnis von Muster und Grund unklar. Man nimmt weiße Musterintervalle wahr — die ins Bläuliche spielen — von denen sich das Muster farbig abhebt. Während sich die Musterintervalle als durchgehender einheitlicher Grund erweisen, ergibt sich eine Stückelung von Mustereinheiten. In dem IV. Pilasterspiegel z. B.
3·
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ist eine Menge von Stücken zu sehen: e i n Paar schwebender Mischwesen, ein Teppich über einem Gebälk, auf dem z w e i Genien stehen, eine Säule, z w e i Termen, e i n e kleine Baldachinenarchitektur, ein Bild mit einer Landschaft, darüber z w e i Körbe, ein Medaillon, zwei Schwäne, eine rechteckige Tafel mit einer Reiterszene (Stuck), zwei Sphingen, ein Medaillon (Stuck), zwei Mischwesen, ein Amazonenschild, zwei Hühnervögel (Abb. 6). Diese Einheiten, die entweder in der Mittelsenkrechten liegen oder eine Horizontale andeuten, sind untereinander kaum verbunden. In der bekannten Weise stehen sie auf Blüten, schweben in der Luft etc. Für das Verhältnis von Muster und Grund ist das nur sekundär interessant; von primärem Interesse ist, wie malerisch und plastisch bestimmte Einheiten aufeinander bezogen sind.
II. P H Ä N O M E N E D E R G R O T T E S Κ E Nach den allgemeinen Beschreibungen versuchen wir Teilphänomene, deren Eigenschaften angedeutet wurden, genauer zu erfassen. SYMMETRIE
Das komplizierte Gegenstandsgefüge der Grotteske ist in allen Pilastern entweder direkt in der vertikalen Achse befindlich oder aber auf diese Achse derart bezogen, daß es doppelt gegeben ist. Im allgemeinen ist ein gewisser Rhythmus zu beobachten: ein Motiv in der Mittelsenkrechten wird durch zwei höherliegende abgelöst, — diese Motive sind horizontal aufeinander bezogen, sehr ähnlich, aber nicht unbedingt kongruent. Ein Vogel ζ. B. auf der linken Seite hebt die Flügel, während sein Gegenüber schlafhockend gegeben ist (Abb. 3). Symmetrie findet sich vor allem in der Form, daß alle Teile des Gegenstandsgefüges auf die Mittelsenkrechte bezogen sind. Die Horizontalen bestimmen für sich bestehende und in sich abgeschlossene Gefüge; — Symmetrie wirkt sich in Stücken des Ganzen aus, Stücke, die für sich ganzheitlich, im Ganzen jedoch Stückwerk sind. Das wird des weiteren deutlich werden: Es zeigt sich in Bewegungsphänomenen, im Motivischen, in der Farbgestaltung etc., daß es in der Struktur so etwas gibt wie einen „Riß, der ignoriert wird". Die in den Stücken des Ganzen angelegte Symmetrie kann sich im Ganzen nicht auswirken. Zwar hat der erste Eindruck eine Mittelsenkrechte „konserviert", der Blick verirrt sich jedoch in dieser Symmetrieeinheit, und der Ubergang zur nächsten ist nur durch einen „Sprung" zu erreichen. Beispiel: Ein Volutenkrater ist eingestellt in ein abstrakt-architektonisches Versatzstück. Er bildet, zusammen mit den volutig sich ausrollenden Pflanzen die Achse. Abgeschlossen ist das Motiv durch die Horizontale, an der zwei Masken hängen und die den abstraktanorganischen Rahmen nach oben begrenzt. 26
Geht der Blick vom Krater aus, so führt er über die Mittelsenkredite zur Horizontalen, von da aber an der Linie der festoni herunter zu den Genien, zurück auf den Krater oder auf den Rahmen,· es bedarf geradezu der Gewalt, um zum nächsten Teilgefüge zu gelangen, das ganz anders geartet ist: Eine Tafel, ein Bild, breit gerahmt (Abb. s a). Nun könnte man vermuten, daß d o c h Symmetrie bestünde: In der Abfolge von Teilgefügen. Das läßt sich aber am eindeutigsten abweisen durch die Tatsache der ungleichmäßigen Verteilung der Musterintervalle im Ganzen der Pilasterspiegel. Im Gegenstandsgefüge selbst tritt diese Ungleichmäßigkeit der Verteilung ebenso auf: Jener Pilaster ζ. Β., wo unten in dem langen Rechteck ein Bursche in seltsam raumzeugender und gleichzeitig -negierender Bewegung einen schwanken Baum, der die Mittelsenkredite bildet, umfängt. Das monströse Schilfrohr, dessen Schaft durch Hühnervögel wächst, ist ein anderes Beispiel. Die ästhetische Bedeutung der Symmetrie liegt dort, wo durch sie als Gestaltungsprinzip im „Normalfall": a) relativ strenge Bindung des Gegenständlichen an die Oberfläche des Trägers, b) eine Bewegung, die a l l e Teile des Gebildes erfüllt und durchwebt und miteinander verwebt geschaffen wird 12 . Durch diese Bewegung, die a l l e Teile des Gebildes erfüllt, bekommt das Gebilde D a u e r , — Bestand im Erleben. Diese Dauer ist in der Grotteske angezehrt. So eignet also Symmetrie, die bei erster Betrachtung festgestellt wird, nicht dem G e b i l d e , sondern (in je horizontal bestimmten Zonen) seinen S t ü c k e n , einheitlich durchgeprägten Gegenstandsgefügen. (Einheitlich? — auch das werden wir näher zu erfassen haben.) Ein „ornamentales Prinzip", aus dem die O b e r f l ä c h e gestaltet wird, ist dort, wo Symmetrie einem Gegenständlichen beigegeben ist, beibehalten, aber aufgegeben, wo die Gegenstände von sich aus Raum erzeugen!
Das „Bild"—Muster dei Giotteske stellt sich dai als Stückelung von Symmetrieeinheiten; die Obeiflächenbindung kann diesem Prinzip nicht standhalten. Die angewendete Symmetrie kann nicht als .ornamental' bezeichnet Wieden. Wir nennen sie „Pseudo-Symmetrie". BILDWERTIGKEIT
Das komplizieite Gegenstandsgefüge dei Giotteske kann von vornherein nicht als Ornament angespiochen weiden. Andererseits unterscheidet diese sich vom Bild. Von ornamentalen „Restbeständen" her kann sie dem Ornament verglichen, von Eigentümlichkeiten des Gegenständlichen (Figurales, Szenisches, Bilder) dem Bild a n g e n ä h e r t werden, — vom Bild unterscheidet sich die Grotteske zunächst durch das Prinzip der Kom-Position. In welchen Struktureigenschaften es begründet ist, daß die Grotteske eine Zwischenstellung einnimmt, muß w. u. herausgestellt werden. Daß sie „bildwertig" ist, gibt uns den Anlaß nach ihrer „Bildebene" zu fragen. 12
Vergi. Anhang S. r84. 17
Z u r Bildebene der
Grotteske
Für die Struktur des neuzeitlichen Bildes ist die Beziehung zwischen Gegenständen im Bildraum und der Bildoberfläche, die als Projektionsebene aufgefaßt wird, entscheidend. Die Beziehung zwischen der O b e r fläche und den im Bildraum befindlichen Gegenständen ist dialektisch angelegt. Sie „ . . . bringt als die wahre künstlerische Bezugsebene eine Ebene hervor, die zwar bildparallel verläuft, jedoch mit der faktischen Bildoberfläche nicht identisch ist, sondern in unbestimmt-bestimmter Weise hinter ihr schwebt, und zwar nicht als ein Phänomen der Vorstellung, sondern der Wahrnehmung. Diese ideale Bildebene, auf der das Künstlerische Ereignis wird, bezeichnen wir seit Riegl als die ,optische Ebene'. Das im illusionistischen Bildtiefenraum und auf der Bildoberfläche sozusagen ,zwiefach' Dargestellte integriert im Phänomen der optischen Ebene." (Schöne, Licht . . . >47 13 ·) Um einen einfachen Ausgangspunkt für die folgenden Beschreibungen zu haben, nennen wir die Oberfläche der Pilasterspiegel „A". „A" bezeichnet also nicht die ideale Bildebene, sondern jenen stoölich realen Plan, dem Muster und Grund aufgemalt bzw. -stuckiert sind. „ A " trägt zwei Kategorien: den weißen Grund und das Bildmuster. Für die Beschreibung ist eine Einstellung des Betrachters angenommen, die dem Pilasterspiegel frontparallel ist. In dieser Einstellung erscheint „ A " als zweidimensionale weiße Ebene, die von den braungoldenen Lambrequins so gerahmt ist, daß der Grund, genau begrenzt, als stofflich reales Ding erscheint. Der weiße Grund wirkt als Oberfläche, in bestimmter Distanz zum Betrachter, die der realen Distanz entspricht. Die Synopsis der Kategorien Muster und Grund läßt aber die Erscheinung des Weiß als Oberflächenfarbe nicht zu. Sobald (und das heißt dann, wenn die Rahmung an Bedeutung verliert) das farbige Muster — auch ohne gegenständliche Qualitäten — zusammengesehen wird mit den Musterintervallen, nimmt das Weiß die Erscheinungsweise der Flächenfarbe an. Das heißt: der Grund, durch die Musterintervalle vertreten, rückt in eine unbestimmte Entfernung vom Betrachter, zwischen Gegenständen des Grottesken-Musters und Grund entfaltet sich eine indifferente Raumschicht14. „ A " tritt nicht mehr in Erscheinung. M a n kann nicht sagen, „ A " sei „zurückgetreten" — es hat sich völlig gewandelt. Es entsteht also eine indifferente Raumschicht zwischen Grottesken-Muster und Grund, der in unbestimmte Entfernung vom Betrachter gerückt ist. Dieses Phänomen wurde von Strauß beschrieben: ls
Vergi. Pacht, Gestaltungsprinzipien. Hierzu v. Allesch, Die ästhetische Erscheinungsweise der Farben (dazu Sedlmayi, in Kritische Berichte) ¡ Schöne, Uber das Licht, 240 ff. 14
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„Die Grotteske läßt sich ihrer Natur nach nicht in der Fläche darstellen wie ungegenständliches Ornament, sie setzt den Raum voraus, da sie ja zum Teil mit den Beziehungen lebender oder lebend gedachter Wesen arbeitet, die den Raum als Grundbedingung ihrer Existenz, ihrer Bewegungsfreiheit brauchen. — Und doch war dieser Raum nicht zu allen Zeiten gleich faßbar. Betrachtet man irgendeine der LoggienGrottesken Raffaele, von denen die ganze neuere Grottesken-Entwicklung ihren Ausgang genommen hat, so ist der entscheidende Eindruck der, daß die ganze GrotteskenDarstellung sich in einer schmalen Vordergrundlage abspielt; sie ist wie eine Soffitte zwischen den seitlichen Pfeilergrenzen herabgelassen,· der helle Grund ist ganz indifferent d. h. er bleibt deutlich hinter der Grotteskenschicht und hat mit dem Aktionsraum der Figuren nichts zu tun 15 ." Damit ist gesagt, daß Muster und Grund voneinander unabhängig geworden sind und die Musterintervalle als gegenstandsfreier weißer Grund die Tendenz haben, sich gegen das Muster abzusetzen. Dabei muß aber berücksichtigt werden, daß der weiße Grund sich nicht nur gegen das Muster, sondern auch gegen die Rahmung absetzt. Und zwar in doppelter Weise: ι. Geht der „materielle" Verband verloren, wo „ A " nicht mehr in Erscheinung tritt; 2. hat die Erscheinimg des weißen Grundes als ein Flächenfarbiges die Tendenz, die Rahmung, das „tektonische Element" der Pfeilergrenzen, abzustoßen. Der Tendenz der Musterintervalle, in unbestimmte Entfernung zum Betrachter zu rücken, kommt das Gegenstandsgefüge des Grotteskenmusters in ganz besonderer Weise entgegen. Wie beschrieben, gehört das Gegenstandsgefüge von der Technik her zwei verschiedenen Realitätsebenen an: dem Plastischen und dem Malerischen. Diese stehen in der Grotteske n e b e n e i n a n d e r , — stucchi und gemalte Teile bilden das Muster, ihre Verbindung läßt erst zustande kommen, was Stiauß als „Soffitte" bezeichnete, was aber in der Beziehungslosigkeit von gemaltem Muster und gegenstandsfreiem weißen Grund angelegt ist. Wir haben drei Elemente genannt, die für die Wahrnehmung — abgesehen von allem Gegenständlichen — bedeutsam sind: ι. Den weißen Grund, dessen Erscheinungsweise die der Flächenfarbe ist; 2. das gemalte Grottesken-Muster, eine Mischung aus Flächenfarbe und Oberflächenfarbe und 3. die stucchi, ihrer Natur nach Plastik, goldgerahmt, blaugründig. Diese drei Elemente stehen in eigentümlichen Wechselbeziehungen, die näher betrachtet werden müssen, weil sie über die Struktur der „Bildebene" der Grotteske Auskunft geben. Sieht man Muster und Grund zusammen, so „tritt der Grund zurück", während das Muster stärker vordrängt. Unterscheidbar sind in diesem Vordrängen zwei Ebenen: die der stucchi und die der gemalten Formen — deren Gegenstandsgefüge durch Architektonisches und Plastisches von vornherein den stucchi affin ist —; das entschei15
Strauss, Uber einige Grundfragen. 29
deride Moment,
Augenblick
ver-
ändert wird, tritt ein, wenn diese beiden Ebenen, die an und für sich getrennt
durch welches
sind,
im Gegenstandsgefiige
das ganze Kompartiment
zusammengezogen
in einem
werden.
A m deutlichsten wird dieses Phänomen an Pilastern, deren Mittelsenkrechte durch einen schwanken Baum oder eine Pflanze gebildet wird. Die Medaillons „befinden" sich dann nicht mehr „irgendwie" in der Achse, sondern sind an diesen Bäumchen oder an großen Pflanzen aufgehängt (Abb. 5 b). Dieser Sachverhalt findet sich in entsprechenden Formen in allen Pilastern. Die Medaillons können entweder an Gegenständen des Musters oder an der oberen Leiste der Rahmung befestigt sein. In anderen Pilastern sind die stucchi in ein (gemaltes) System von Stäben, U- und T-förmigen Gliedern gebracht (wie eingehängt), das durch dünne Drähte vertakelt ist. Im Zusammenschluß dieser beiden Ebenen i n der W a h r n e h m u n g tritt der w e i ß e G r u n d in einer dritten Form in Erscheinung. Während er für „ A " Oberfläche bedeutet, für das Z u s a m m e n s e h e n v o n Muster u n d Grund Fläche, ist er für die M o m e n t e , in denen sich i m Muster das, w a s in Material und Technik verschieden ist, z u einem N e u e n verdichtet, v o n der Erscheinungsweise einer Raumfarbe. D a m i t aber ist „ A " nicht nur völlig in seiner Erscheinungsweise verwandelt, sondern negiert. In dieser Ausgestaltung i m Sehen ergibt sich schon für die Raffaelische Grotteske der Loggien das, w a s Strauß f ü r den Ornamentstidi der nachraffaelischen Grotteske gesehen hat. „Betrachten w i r hingegen die Groteske in einem späteren Stadium . . . so ist der Hauptunterschied . . . daß zwischen den einzelnen Formen mehr freier R a u m i s t . . . Hier k a n n m a n eigentlich nicht m e h r v o n ,Füllung' sprechen, eher v o n einem Formengitter, durch welches gleichsam i n einen luftleeren R a u m hindurchgeblickt wird." Es wurde festgestellt, daß der w e i ß e Grund prinzipiell i n drei (faktisch in zwei) Weisen i n Erscheinung tritt. ι.
V o n N a t u r aus hat er die Erscheinungsweise der Oberflächenfarbe.
2. Im Zusammensehen m i t dem Muster n i m m t er die Erscheinungsweise der Flächenfarbe an. 3. Fixiert m a n das Grotteskenmuster, so b e k o m m t der w e i ß e Grund ausgesprochene „Raumwerte". In dieser Einstellung verdichten sich plastische u n d malerische Elemente des M u sters, entsteht ein „Kondensat", das der T e n d e n z der Musterintervalle, sich der Erscheinungsweise der Raumfarbe z u nähern, entgegenkommt. In dieser Erscheinungsweise des w e i ß e n Grundes, die w. u. näher beschrieben wird, bleibt der Grund nicht nur gegenstandsfrei, der entstehende „ R a u m " wird gegen das Kondensat abgesetzt, verfremdet. D i e ideale Bildebene, die m a n i m ersten Eindruck dem Gebilde beimißt, ist hier vernichtet; w o stucchi und gemalte Formen des Bildmusters sich i m Sehen verdichten, stellt sich das Bildmuster als ein Wahrnehmungsgebilde dar, das für sich, ohne den G r u n d besteht.
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Ein Bildtiefenraum wird angesetzt, jedoch, ohne daß sich in ihm Gegenständliches dargestellt fände. Der dialektische Bezug von Oberfläche und im Bildtiefenraum imaginierten Gegenständen, deren Ergebnis die ideale Bildebene ist, ist auf die Form übergegangen: Spannungsfeld der Grotteske ist nicht die Beziehung, a) von Form und Oberfläche, und auch nicht b) von Form und Fläche, sondern das Bildmuster. Die Grotteske ist so weder Bild nodi Ornament. Die Ausgestaltung der Grotteske bis zu dem Punkt, wo sich die Ebenen verdichten, sich auf der einen Seite das Kondensat, auf der anderen der weiße Grund als Raum („luftleer") ergibt, kann sich nur vollziehen, wo die Form einen gewissen Zwang ausübt. Indem aber in jedem Augenblick eine Dominanzverschiebung auftreten kann (und auftritt, solange nicht der Pilasterspiegel in seiner Totalität erfaßt ist) ist das Kondensat in jedem Augenblick dem Zerfall anheimgegeben: der Grund kann als Fläche und als Oberfläche auftreten. „A" kann sich rekonstituieren. Dabei treten die stuckierten ebenso wie die gemalten Formen für sich in Erscheinung, wobei sich eine Art ideale Bildebene wiederherstellen kann. (Die möglichen „Umschläge" in der ästhetischen Erscheinungsweise der Grotteske können erst aus eingehenderer Analyse ganz einsichtig gemacht werden. Mit dem Beschriebenen sind Grundelemente fixiert, das Gebilde ist stark vereinfacht worden.) Das Kondensat, in dem Bildgegenständliches so „plastisch" hervortritt, daß der umgebende Raum wahrnehmungsmäßig ausgeschaltet wird, ist in allen Pilastern durch ein wesentliches Moment modifiziert. Eine Architektur (ohne typische Form) erstreckt sich perspektivisch nach rückwärts. In der vordersten Lage ist sie von einem Menschenpaar gestützt, nach rückwärts freischwebend. Der perspektivische Kalkül scheint eindeutig zu sein. Indem aber a) die weiblichen Gestalten, b) die Diana von Ephesos, c) die eingestellten Säulen als Basis jene Ebene haben, die von dem Menschenpaar gestützt wird, kann die Perspektive ebenso als trapezförmige Fläche aufgefaßt werden, wozu dann auch der Schwan Anlaß gibt, der zwar auf der abschließenden „Wadn" des Tempelchens steht, dessen Hals aber unter den vorn begrenzenden Architrav sich legt. Eine ursprünglich als tiefenräumlich aufzufassende Form des Bildmusters wird in die Fläche umgedeutet, wobei soviel Widersprüchliches offen bleibt, daß diese Form jederzeit als räumlich bestimmt aufgefaßt werden kann. Dieses irreale Moment, das in nicht zu beschreibender Häufigkeit auftritt, hat seine Analogie im „Bild im Bilde" schlechthin. Zweifellos handelt es sich bei dem Beschriebenen um ein Teilgefüge des Grotteskenmusters, das anderen Teilgefügen gleichwertig 31
ist: Architektur steht gleichbedeutend neben anderem; der tiefenräumliche Kalkül entspricht in seiner Unentschiedenheit den Momenten, durch die seinsmäßig Diverses in der Wahrnehmung zusammengezogen wird, — kondensiert. Das Kondensat, in dem Bildgegenständliches (in besonderer Weise) freiräumlich ist, wird im Prinzip dort modifiziert, wo die genannten Momente auftreten, wo eine Architektur perspektivisch gegeben, aber nur in einer vorderen Lage gestützt ist, wo Bilder im Bilde auftreten, ohne als Bilder gekennzeichnet zu sein. Das genannte Moment des Umschlags der ästhetischen Ebenen erfährt hier Bestätigung und Erweiterung: Der Raum, auf den das Kondensat verwiesen ist, wird durch die „Nester" (mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Raumbild, das von gegenständlichen Momenten her greifbar wird) gestört. Bildet sich der Apparat des Gegenstandsgefüges der Grotteske l e d i g l i c h aus d e n Momenten, in denen solche Raumnischen („Nester") nicht gegeben sind, so ist der weiße Grund eindeutig als Gegenstandsfreies definiert, das besonderen und ganz bestimmten Erscheinungsweisen unterliegt. Der weiße Grund als gegenstandsfreie Bezugsfläche ist, wird er mit dem Grotteskenmuster zusammengesehen, von der Erscheinungsweise einer Flächenfarbe: In unbestimmter Entfernung vom Betrachter, nicht mehr oberflächig, ist er das wahrnehmungsmäßige Korrelat des Kondensats. Bestimmt jener Strukturzusammenhang eine flache Raumschicht unbestimmter Ausmessung, so ergibt sich mit den Raumnischen, also mit dem Auftreten einer eigentlichen Bildstruktur, die Frage nach der Tiefenerstreckung der Räumlichkeit, in der das Kondensat freiräumlich ist, eine Frage, die sich auf die Erscheinungsweise von „ A " richtet, denn als Bildstrukturen widerstehen die Raumnischen dem Zerfall von „ A " . Wo Bilder im Bilde, wo eine gegenständlich faßbare „Bildtiefenräumlichkeit" erscheint, wird der Begriff der „optischen Ebene" thematisch, jedoch nur in Hinsicht auf die T e i l gefüge, nicht das Gefüge der ganzen Pilasterfüllung. Die Grotteske tritt in verschiedenen Weisen in Erscheinung, die sich ablösen, je nachdem, welches Grundelement der Struktur fixiert wird. Grundelemente sind der weiße Grund, das Gefüge des Bildmusters und die Bilder im Bilde. Der weiße Grund kann wahrgenommen werden als Oberfläche, als Fläche und als Raum (dazu der nächste Abschnitt). Das Gefüge des Bildmusters kann wahrgenommen werden als Addition von Teileinheiten oder als Kondensat. Die Bilder im Bilde können wahrgenommen werden als tiefenräumlich bestimmt oder als oberflächengebunden. Jede dieser Erscheinungsweisen ist von einer bestimmten Dominanzverteilung abhängig. Dominiert ein Grundelement, so verändern sich die anderen. Durch die Raumnischen wird die Spannung, in der die primären Strukturelemente der Grotteske stehen, an eine Grenze geführt. Das Kondensat konstituiert sich so, daß die zwei ästhetischen Ebenen, gemaltes Bildmuster und stucchi, vom Gegenständlichen her zusammengezogen werden. Die Raumnischen und das Kondensat entsprechen einander: Schon das Bewußtsein des Betrachters, die Kenntnis der 32
realen Unmöglichkeit, daß beispielsweise Architektur sich, „in der Luft" befindet, rückt die Bildgegenstände der Raumnischen in den Zusammenhang nicht nur des Kondensats, sondern darüber hinaus der Oberfläche, mit der sich „A" rekonstituiert. Hier aber, ehe „A" sich als ausgesprochene Oberfläche darstellt, gibt es ein Moment „optischer Ebene". Die erste Durchsicht der Grotteske, ohne den Zusammenhang eines dekorativen Ganzen, ergibt eine Reihe von inneren Widersprüchen der Struktur. Der Begriff der idealen Bildebene ist dabei ein Instrument, das sich nur „von Zeit zu Zeit" bewährt. Indem aber die Grotteske durch verschiedene Momente (die w. u. genauer bestimmt werden) bildwertig ist und sich nicht allein von den Grundstrukturen des Ornaments her fassen läßt, versuchen wir vom Begriff der optischen Ebene her in erster Näherung eine Bestimmung der Struktur. Die Grundtendenz der Grotteske geht auf Stückelung: Stückelung von Symmetrieeinheiten, von Realitätsebenen. Die „optische Ebene" ist in der Wahrnehmung der Grotteske ebenso vernichtet, wie im Ansatz vorhanden, je nachdem, welchem Element die größte Aufmerksamkeit geschenkt wird. „Ästhetische Synthese" kann sich in verschiedenen Wahrnehmungsgebilden ergehen — ebenso wie sie sich einstellt, zerfällt sie: das Erscheinungsbild der Grotteske ist von größter Fragilität. Die Struktur ist eine „Stückelung von Einheiten" und kann für Momente als „Einheit von Stückwerken" erscheinen. Das „Spiel", das in dem „Umschlag" von zwei ästhetischen Ebenen in eine dritte und aus dieser in eine andere besteht, kann jederzeit beginnen und jederzeit aufhören. Definiert man Labilität als ständige Bereitschaft zu allem, so ist die Grotteske in höchstem Maße labil. Nun ist aber ihr Spiel kein bewegtes, gleichmäßig lockeres, gleitendes oder schwebendes, sondern hektisches Hin und Her, Umklappen von Augenblick zu Augenblick. Der dauernd mögliche U m s c h l a g aus zwei ästhetischen Ebenen in eine dritte und von einer ästhetischen Ebene in drei, der Zerfall weniger Ebenen in viele, bestimmt den Schein der Grottesken-Irrealität, in der Bewegung sich als das ruhelose Hin und Her des Augenblicks darstellend. Dabei ist die optische Ebene ebenso vernichtet, wie sie sich von Augenblick zu Augenblick konstitutiert. Bedenkt man diese Erfahrung im Sehen vor dem Denkmal, das ruhelose Nebeneinander, das in der Stückelung von Teilgefügen sich auswirkt, ohne daß ein kontinuierliches Zueinander zustandekommt, so kann die Grotteske als Spiel mit der optischen Ebene charakterisiert werden. Dieser Begriff, in der Umschreibung Hans Jantzens, wird uns w. u. die Möglichkeit bieten, die „Zeitstruktur" der mit ihm abgetasteten Gebilde zu erfassen. Hier versuchen wir vorbereitend die „optische Ebene der Grotteske" zu bestimmen. Hans Jantzen definiert die optische Ebene als „ . . . das Zugleich allei im Bildtiefen33
räum imaginierten Tiefenweite im Nebeneinander dei zweidimensionalen Bildebene, einerlei, ob es sidi um Linien, Körper, Farben oder Helligkeiten handelt 18 ". In der Grotteske gibt es einen Bildtiefenraum nur im Ansatz in jenen Teilgefügen, die in gewisser Weise eine B i l d struktur besitzen. Tiefenwerte werden in der Grotteske hergestellt durch das Kondensat, das — konstituiert es sich — die zweidimensionale Bildebene negiert. Das Nebeneinander der angesetzten Tiefenwerte ist in der Grotteske gegeben als Addition von Teilgefügen. Tiefenwerte werden vor allem durch das Kondensat imaginiert, durch das der ganze gegenstandsfreie weiße Grund einen unbestimmten Raumwert bekommt. Die vereinzelten Tiefenwerte des Grotteskenmusters können als solche nur im Nebeneinander der Teilgefüge erlebt werden, da die zweidimensionale Bildebene nur dann ein Nacheinander tragen könnte, wenn das Nebeneinander das echter Gegenstandsgefüge wäre. Im Moment des Kondensats fallen Nebeneinander und Zugleich zusammen. Die „optische Ebene der Grotteske" definieren wir als Addition aller imaginierten Tiefenwerte im Nebeneinander der zweidimensionalen Bildebene. Das Zugleich konstituiert das Kondensat, mit dessen Konstitution das, was im Nebeneinander als optische Ebene erscheint, zerfällt. Bildebene und Bildgegenstand Bildwertigkeit ist in der Grotteske a n g e s e t z t ; — es ergibt sich jedoch kein B i l d wert. Die „optische Ebene" gehört zur Struktur des neuzeitlichen B i l d e s als ein ausgezeichnetes Strukturelement. V e r b u n d e n mit ihm ist eine bestimmte Struktur des Bildgegenstandes. Wir charakterisierten die Grotteske als „labil" (Labilität = „ständige Bereitsdiaft zu allem"), als „Spiel mit der optischen Ebene" und anders. All diese Charakterisierungen sind gebunden an bestimmte gegenständliche Momente. Jenseits des Gegenstandsgeftiges gibt es eine ideale B i l d e b e n e ebensowenig wie ein B i l d m u s t e r : Eine B i l d struktur jenseits gegenständlich faßbarer Momente ist nicht denkbar. Die Elemente des Bildes lassen sich nicht trennen: Weder in der (Struktur-)Beschreibung noch im Erleben. Dies wirft die Frage auf, ob Monstrosität des Gegenstandsgefüges strakturhaftgesetzmäßig dem „Spiel mit der optischen Ebene" korreliert ist; — ob Bildebene und Bildgegenstand in ihren anschaulichen Qualitäten aufeinander verwiesen sind. Die Frage lautet im Zusammenhang mit der Grotteske: Ob die Bildwertigkeit der Grotteske sich in der Monstrosität der Motive allein verwirklichen kann, oder ob das „Spiel mit der optischen Ebene" hinzutreten muß ; auf einer anderen Ebene: Kann 16
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Schöne, Das Licht. 247, Anm. 432.
eines der beschriebenen Momente wegfallen, ohne daß die Struktur der Grotteske von Grund auf verändert wird? Wir werden diese Frage erst beantworten können — und auch dann nur im Ansatz — wenn wir die Struktur genauer erkannt haben. Die These für den Zusammenhang ist, daß sich die Bildwertigkeit in dem Spiel mit der optischen Ebene ebenso ausdrückt wie in der Stückelung von Symmetrieeinheiten, der Realitäten, der Monstrosität des Bildgegenständlichen etc. Daß in der Bewegung des knienden Burschen dasselbe Prinzip verwirklicht ist wie in der dreifachen Erscheinungsweise des weißen Grundes. Daß sich die Bildwertigkeit in dem Gegenständlichen so ausprägt wie in gegenstandsfreien Wahrnehmungsphänomenen. Daß die Struktur der Grotteske monströs ist. (Bedeutsam ist, daß sich im „Kondensat" ein „optisches" und ein „haptisches" Feld gegenüberstehen und „vereinen", eine Vereinigung, die aber eben nicht Integration bedeutet, sondern den Verlust aller anschaulichen Eigenschaften „provoziert".) ZUR RAUMSTRUKTUR DER
GROTTESKE
Indem wir die Grotteske mit dem Begriff der optischen Ebene in Zasammenhang brachten, wurde ein Begriff eingeführt, der dem Bild zugehört; es erübrigt, den „Raum" der Grotteske näher zu umschreiben. Die Strukturelemente, die auf R a u m angelegt sind: Musterintervalle und Kondensat, gestalten sich im Sehen aus. Das Kondensat nimmt eine starre, kalte und spröde Form an, die der Räumlichkeit des Grundes (Musterintervalle) entspricht. Die optische Ebene erscheint für Augenblicke, die Erscheinungsweise der Grotteske kann als dauernde „Selbstverfertigung/Selbstvernichtung" der optischen Ebene charakterisiert werden. Für diese Erscheinungsweise ist das, was als Kondensat bezeichnet wurde, unerläßlich. Im Kondensat gestaltet sich das in der Fläche gegebene Bildmuster zur Freiräumlichkeit um. Dabei wird die Fläche in den eigenräumlichen Kalkül umgedeutet. Auf einem Sockel, über sechs Stufen, neben denen in starker Verkürzung gegebene Hirsche stehen, die Diana von Ephesos. Über ihrem Haupt eine Ädikula, aus deren First ein zarter Baum wächst. Der Sockel perspektivisch, durch die Verkürzung der Hirsche ein Tiefenzug, — beides Bestätigung für die Freiräumlichkeit der Statue. Präzisiert wird diese Freiräumlichkeit durch die ausgebreiteten Hände, die Tiere, die (Einhörner, Pferde, Stiere) den Seiten verbunden sind und eigentümlich starr hervorstehen (starr in dem Sinn von „Waffen starren"). Die Gruppe repräsentiert einen Bildraum, der jedoch nicht von vornherein als Raum gekennzeichnet ist. Zwar tendiert die vollplastische Form darauf, um sich herum Raum zu verbreiten,· der aber ist als Existenzmedium der plastischen Form an diese Form gebunden. Denkt man die Formen des Bildmusters fort, so bleibt eine weiße Fläche, die durch die seitlichen Pfeilergrenzen als Oberfläche, niemals als Raum gewertet wird. 35
Nun ist in einigen Pilastern der Loggien das Bildmuster h i n t e r der oberen Rahmenleiste aufgehängt. Dadurch wird eine flache Raumschicht vor dem weißen Grund geschaffen. Es ist unmöglich, die Oberfläche des weißen Grundes mit der Oberfläche des Pilasters zu identifizieren. Treten die plastischen Werte des gemalten Musters und die stucchi zusammen, so wird die Raumwertigkeit der Musterintervalle gesteigert. Die extreme Ausformung der Relation ist im Sehen dort erreicht, wo Raum und Kondensat gegeneinander stehen. Das, was ursprünglich Muster und Musterintervall ist, gestaltet sich aus zu Kondensat und gegenstandsfreiem Raumgrand. Betrachten wir die Grotteske vom Ornament her, so ist einsichtig, daß sich in ihr die Relate der ornamentalen Grundstruktur entfremdet haben. Das Muster verselbständigt sich gegenüber dem Grund im Kondensat, der Grund tritt nidit als Oberfläche, nicht als Träger in Erscheinung, sondern grundsätzlich als „Raum", vor dem das Muster kondensiert. Der gegenstandsfreie Grund, dessen Oberflächenstruktur in der Konstitution des absoluten Musters negiert wird, tritt als gegenstandsfreier Raumgrund in Erscheinimg. So ist er nicht mehr (wie zunächst erfahren) Existenzmedium der plastisch vortretenden Form, sondern „für sich", so wie das Muster „für sich" Kondensat ist. Den gegenstandsfreien Raumgrund, dessen Erscheinungsweise genauer beschrieben werden muß (sich aber nur aus der Erscheinungsweise der ganzen Grotteske erklärten läßt), bezeichnen wir als Undefinierten Raum. Darunter verstehen wir einen „Raum", der existiert, ohne Existenzmedium einer Form zu sein, und der jederzeit in die Erscheinungsweise der Fläche zurückschlagen kann. Der Undefinierte Raum der Grotteske ist weder eine flache Raumschicht, nodi ein präzis „luftleerer Raum". Definiert sei er als Potenz, welche die v e r s c h i e d e n e n Erscheinungsweisen der Form (des Musters) wie sie beschrieben wurden, ermöglicht, wobei er selbst jeweils „für einen Augenblick" definierbar wird, — sei es als flache Raumschicht, sei es als „Vacuum". Die materielle Oberfläche des Trägers tritt in der Grotteske nicht nur zurück (als Grund einer f l a c h e n Raumschicht), sondern zergeht — hat sich die Grotteske bis zu einem gewissen Grad ausgestaltet — in Eigenräumlichkeit : für die Wahrnehmung hört sie an diesem Punkt als stofflich Bestimmtes auf zu bestehen. Der Undefinierte Raum ist — vom Ornament her gesehen — nicht mehr als ursprüngliches Relat zu fassen. Mit der wechselseitigen Verabsolutierung der Relate des Ornaments geht die R e l a t i o n mehr und mehr verloren, und mit dieser die Entsprechung der Relate, die sich dann — durch den Umschlag eines Relats in sein eigenes Negat — pervertiert konstituiert. Der Undefinierte Raum hätte sich so als der absoluten Form entsprechend auszuweisen. Dabei — womit die Verfremdung der ornamentalen Form gegen den Träger begriffen ist — bezeichnen wir das Kondensat als „ O r n a m e n t k ö r p e r " . Die Elemente des Gegenstandsgefüges, die Träger der Bewegung sind, wollen auf 36
die Entsprechung von Ornamentkörper und Undefiniertem Raum hin ebenso betrachtet werden, wie es gelingen müßte, die Grotteske — in möglichst vielen Phänomenen — unter ein Strukturprinzip zu bringen. BEWEGUNGSPHÄNOMENE In der Grotteske sind nach unten zugespitzte oder verjüngte Formen häufig. Sie bilden geradezu „integrierende" Bestandteile, die nicht fortgenommen werden können, ohne das Ganze empfindlich zu stören. Mit diesen Formen ist der A n s a t z einer Bewegung gegeben, die sidi als „Schweben" manifestieren möchte, dodi nicht zustandekommt. Denn dem Prinzip des Schwebens stehen Momente entgegen, welche die schwebende Form an die Fläche binden oder „in der Luft" erstarren lassen. Die stark sprechende Umrandung einzelner Formen, das Kondensat und der Umstand, daß der Ornamentkörper „aufgehängt" ist, stehen einem Schweben entgegen. „Während die stark sprechende Umrandung die Form unverrückbar macht, die Erscheinung gleichsam festlegt, liegt es im Wesen der malerischen Darstellung, der Erscheinung den Charakter des Schwebens zu geben17." Dünne Fäden, wie „ausgesägt" oder wie gemeißelt erscheinende Formen, Drähte, flache Stäbe und dergleichen repräsentieren ein lineares Moment und bewirken das „Festgelegte", das auch dort angetroffen wird, wo gemalte Formen — etwa in der Gestalt von kleinen Tafeln — in flächiger Breitung gegeben sind. Ist Bewegung durch nach unten zugespitzte Formen und durch die „Aktion" der Grottesken-Wesen der A n l a g e nach gegeben (hat also der Ornamentkörper dadurch den Charakter eines „Mobils") so wird durch lineare Momente das Körperlich-Plastische bis zur Zerbrechlichkeit modifiziert. Es fehlt der Lufthauch, dem das Mobil zum Spiel dienen könnte18. Der Ausdruck „Mobil" soll nicht nur das Bewegungsmoment mit einem Wort versehen; was in Details als ein Mobiles anschaulich ist, ist in manchen Pilasterfiillungen wie moderne „Mobiles" beschaffen (Abb. 5). Das Schema der stucchi wie beschrieben. Die breitrechteckigen Tafeln mit breiten U-förmigen Stäben verbunden, die stucchi ebenfalls in stabförmige Gerüste wie eingehängt. Die Stäbe sind durch dünne Drähte vertikal verspannt. Zum Mobil gehören auch Elemente wie die Tücher, Falter, Vögel und dergleichen „Luftiges", in dem vom Gegenstand her ein Bewegungsmoment gegeben ist. Die motivischen Möglichkeiten wurden angedeutet: Genien können ein Bauwerk tragen, können zudem auf Blütenkelchen stehen; chimärische Wesen „schweben" auf Grund real möglichen Flügelschlags, — durch die Verbindung mit der „ornamentalen Symmetrie" der Ranken, die sich aus ihren „Leibern" bilden, wird das Schweben in 17
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Wölfflin, Kunstgeschichtlidie Grundbegriffe. Vergi. Anhang S. 184. 37
eine eigentümliche Starre gebracht: Das Ding wird zum einfachen „Ding in der Luft" (Abb. 6). In einem Pilaster der Loggien zuunterst ein kniender Bursche, der einen schwanken Baum umfängt, an dessen Zweigen die stucchi aufgehängt erscheinen. Die Vögel, die um den Baum flattern, befinden sich in eigentümlichem „Dazwischen", das für die ganze Dekoration auffällig ist. Der Flug der Vögel ist kein Flug; das A u f w ä r t s , durch die Flügelstellung a n g e d e u t e t , wird mit derselben Flügelstellung z u r ü c k g e n o m m e n . Der R a u m , durch die Musterintervalle gegeben, ist kein Raum für einen Flug. Durch die „Drehung in sich" des Knienden wird Raum angesetzt; — durch das „in sich der Drehung" diese Tendenz gleichzeitig zurückgenommen: Die Andeutung der „figura serpentinata", in der Stellung des Burschen, deutet Raum lediglich an, ohne ihn zu verwirklichen. Der Raum wird durch Elemente des Gegenstandsgefüges nicht definiert. Akanthus-Wellenranken (darin kleines Getier: Käfer, Schnecken, Mäuse, Schlangen, Vögel) sind durch die Fortsetzung über ein so hohes Rechteck in dieser Gleichmäßigkeit nicht mehr als R a n k e n geartet: Die natürliche Welle ist in ihrer Natürlichkeit überbetont und in dieser Uberbetonung an die Starre des allgemeinen Schemas gebunden; — „wirklich" kann sie nur einer Einstellung erscheinen, welche das „Uberzüchtete" als natürlich akzeptiert (Abb. 3). Vögel, die an einem Schilfrohr „sich befinden" (das übrigens, monströs, Rosen und Trauben als Blüten und Früchte hervorbringt) sind von analoger Konstitution wie die im vorhergehenden Beispiel. Das Schilfrohr ist mit einem Ring h i n t e r der oberen Rahmenleiste befestigt. Es h ä n g t bis zu jener Stelle, wo ein Hühnervogel es s t ü t z t ; — hier ist der Stengel gekappt und r u h t auf dem Rücken des Vogels. Der Vogel s t e h t auf einer Blattrosette, die den von unten a u f w a c h s e n d e n Strunk des Schilfrohrs krönt (Abb. 5 b). Ein „ W a c h s e n " , im Ansatz durch den unteren Teil, den Strunk des Schilfrohrs, gegeben, wird unterbrochen, das „Tragen" des Vogels wird nicht beansprucht, indem das Rohr aufgehängt ist. Die Motive der Grotteske sind auf die Aussage des Schwebens g e r i c h t e t : All die (an einer äußeren Realität gemessen) möglichen und unmöglichen Gegenstände schichten sich übereinander, stützen, fliehen sich, sind aber, nur scheinagil, an die Starre einer Kompositionsidee gebunden, die ihnen Leblosigkeit und Spröde verleiht. B e w e g u n g ist d e r A n l a g e nach gegeben, m i t der Anlage jedoch schon aufgehoben. Innerhalb der Pilasterdekoration der Loggien lassen sich drei wichtige Grundelemente unterscheiden, die den Eindruck bestimmen und aus denen die Grotteske sich gestaltet: a) ein Grundgerüst aus dünnen Fäden, leichtem Gerät, festoni etc.; b) ein plastisches Element, das seinen Ansatz in den stucchi hat, aber im gemalten Muster wiederkehrt, wo Figurales (etwa die Diana von Ephesos) plastisch hervortritt. In diesen Elementen ist eine relativ strenge Statik gewahrt; c) die weißen Musterintervalle. Das Grundgerüst ist zunächst gefügt aus dünnen Verspannungen und Vertake-
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hingen, die es gegen den Grund isolieren. Das Bewegungsmoment, das darin angelegt ist, erfährt durch Elemente des figuralen Gefüges Zuwachs. Flatterndes, Fliegendes, Sitzendes und Hängendes bringt das Mobil-Gerüst in Unruhe. Betrachtet man einen Ausschnitt aus dem Kompositionsganzen, so bleibt diese Unruhe der Gegenstände. Die Bewegungsmotive werden, in der Einstellung auf isolierte Details, in ihrer Agilität gesteigert. Verbindet man mehrere Teilgefüge im Sehen, so macht sich eine merkwürdige Starre bemerkbar und zwar um so stärker, je mehr der weiße Grund als räumlich in Erscheinung tritt. Dieser eigentümliche Sachverhalt führt auf die Vermutung, daß die Bewegung zu der Erscheinungsweise des Grundes, anders als in anderen Bereichen der Bildenden Kunst, in der Grotteske in umgekehrtem Verhältnis steht: Je mehr die Formen des Grottesken-Musters sich zum Kondensat zusammenschließen, um so mehr nimmt der weiße Grund die Erscheinungsweise des Raumes an, um so mehr aber auch erstirbt jede Bewegung. Starre liegt also nicht in der Gestaltung figuraler Teilgefüge, sondern in der Kompositionsidee, muß sich also im Sehen ausgestalten. Die Kompositionsidee wurde oben charakterisiert als Stückelung von Symmetrieeinheiten. Nun ist weiter zu vermuten, daß das „Kritische" der Kompositionsidee in dieser Stückelung von Symmetrieeinheiten liegt, und daß von der Symmetrie des Ganzen die „Bewegung zur Starre" abhängig ist. Die Bewegungsphänomene der Grotteske sind nicht allein von Bewegungsmotiven her beschreibbar: Das so und so geformte Motiv der Grotteske verändert sich im Sehen mehr, als es von anderen Werken der Bildenden Kunst her bekannt ist. Was im Motivischen sich als Bewegimg darstellt, wird in der Bindung an anderes Motivisches gefesselt und erstarrt. Nun wird in Werken der Bildenden Kunst Bewegung nicht allein konstituiert als Abbild eines bewegten Gegenstandes. Das Moment der Eigenbewegung des abgebildeten Körpers gehört notwendig zur Konstitution von Bewegung. Die eigentliche Konstitution aber wird durch das B i l d der R e l a t i o n in ihren Relaten erreidit19. Das Bild der Elemente eines dreidimensionalen Gegenständlichen im Bildraum verlangt die gleichzeitige Relation des Bildmusters in der zweidimensionalen Bildebene. Wird durch die Gestaltung eines Bildgegenständlichen Bildtiefenraum konstituiert, so verlangt das figurale Gefüge, soll mit ihm Bewegung konstituiert werden, die Bindung des Raumbildes, das dem Gegenstandsgefüge verhaftet ist, an die Projektionsebene. In der idealen Bildebene, die zweidimensional bestimmt ist, stehen plastische Werte und Raumwerte gleichwertig nebeneinander. (Vgl. die Definition der optischen Ebene von Hans Jantzen.) Die Kompositionsidee der Grotteske bestimmt das Gebilde: 1. aus Symmetrieeinheiten gestückelt (Komposition), 2. gestückelt aus „Bildern". 19
Vergi. Anhang S. 184. 39
4
Piel
Stückelung bedeutet in diesem Zusammenhang, daß Dinge zusammengebracht werden, die s e i n s m ä ß i g verschieden sind, die sich gegenseitig h e m m e n . Vom Gegenstandsgefüge her werden wir w. u. die gegenseitige Beeinflussung verschiedener Eigenschaften zu beschreiben versuchen. Das Prinzip der Bewegung sehen wir, wo das Mobilisdie gegeben ist und sich ausgestalten möchte, sich abei nicht ausgestalten kann, wo es von Eigenschaften, die ihm entgegengesetzt sind, gehemmt wild. Die Konstitution des Kondensats bedeutet einen Punkt im Erleben, wo aus der Orientierung an sich ausschließenden Prinzipien ein „sprödes Dazwischen" geschaffen wird. Die Starre steht der Bewegung entgegen. Mobilisch und starr, deren Durchdringung Ideal ist, sind in der Grotteske zunächst nebeneinander und produzieren im Zugleich ein Wahrnehmungsphänomen, in dem alles „einfach Ding in der Luft"; nicht nur unbewegt und unbeweglich, sondern auch weitgehend qualitätslos ist. Daß sich Starres und Mobiles in der Grotteske nebeneinander finden, und im Zugleich der Wahrnehmung ein „sprödes Dazwischen" ergeben, entspricht der „optischen Ebene" der Grotteske. Die Durchdringung von Starre und Mobil, als Ermöglichendes von Bewegung, war im Z u g l e i c h der Wahrnehmung gegeben. Wo aber in der Grotteske dieses Zugleich geschieht, konstituiert sich ein Phänomen, das auf die Negierimg der anschaulichen Qualitäten tendiert. Damit — Starre und Mobil sind im Zugleich gegeneinander — zerfällt, was im Neben- und Nacheinander als „optische Ebene" erscheinen kann. Mit der Konstitution der gehemmten Bewegung im Kondensat wird der weiße Grund zum „Vacuum". Zunächst haben die Füllungen der Pilasterspiegel eine Struktur, die konkret der eines Mobils entspricht. Gleichzeitig sind sie aber flach ausgebreitet wie ein Gitter, durch das man in einen unerfüllten Raum schaut. Das Gitterige ist anschaulich in Stäben, Stangen, abstrakt-architektonischem Gerüst, das Mobilische in Fäden, dem Flattern etc. Im ersten Eindruck herrscht ungeordnete, chaotische Bewegung, die bald von starren Elementen aufgezehrt wird. „Sprödes Dazwischen" ist das Ergebnis des Widerspruchs. Dieses Ergebnis (einer Ausgestaltung im Sehen) nennen wir Gitter-Mobil. Viele Mischwesen sind geflügelt, Vögel und Falter häufige Motive. Stehen sie schon i n der Gitter-Mobilstruktur, so „verkörpern" sie das Bewegungsmoment des spröden Dazwischen selbst, dort z. B., wo die ornamentale Symmetrie der Ranken, die sich aus den „Trieben" der Mischwesen bilden, diese s c h w e b e n d e n Wesen an die S t a r r e des Schemas bindet. Dieser Charakter wird aufdringlich, wo z. B. große und schwere Tiere (Löwen, Stiere) mit L i b e l l e n f l ü g e l n angetan sind. „Gitter-Mobil" ist auch die paarige Kombination von Mischwesen, die, mit den Schwänzen ineinander verdreht, „ornamental" mit Pflanzenranken verbunden sind. Im „Gitter-Mobil" stehen zwei Seinsweisen der Bewegung, deren Durchdringung Bewegung erst ermöglicht, gegeneinander. Das Ergebnis dieser „Entfremdung" ist der Verlust der anschaulichen Qualitäten, zu dem das Gitter-Mobil tendiert. 40
Ρ SE U D O - S Y M M E T R I E Wie es unmöglich ist, eines stofflichen Gebildes ohne Raumäquivalent in der Vorstellung habhaft zu werden, ebenso unmöglich ist es, eine Form ohne Basis darzustellen. Die Möglichkeit der Vorstellung ist zwar erreicht, wo die Form s c h w e b t : mit einem Schweben aber ist das Medium fixiert, in dem und durch das die Form auf eine Basis bezogen ist. Eine Form ohne Bezug zu einem „Unten" oder „Oben", einem „Woher" und „Wohin", starr, eine „Welt", die ihre Bezogenheit nur in sich hat, ist absurd. Die Grotteske ist eine Form, die ihre Bezogenheit nur in sich hat. Die Bezüge, die über sie hinausweisen, sind gehemmt. Die Grotteske ist b i l d w e r t i g , aber sie ist kein Bild. Bewegung ist in ihr a n g e s e t z t , aber gehemmt. In ihr sind Figuren gestaltet, aber diese Figuren haben keine Schwere. Die Grotteske ist o r n a m e n t a l e r H e r k u n f t , aber sie ist kein Ornament mehr. Fragen wir, was für diese Eigentümlichkeit verantwortlich ist, so werden wir auf die Symmetrie zurückgeführt, ein Moment, von dem wir ausgingen. Ist zum einen die Symmetrie zerstückelt, so macht sich zum andern das Prinzip der Symmetrie um so stärker geltend: Symmetrie wird dort, wo Symmetriestücke zusammengesehen weiden, zur Starre. Bindet strenge Symmetrie die dreidimensional erscheinende Form notwendig an die Oberfläche des Trägers, wobei dieser zurücktreten kann, und zurücktritt, je „natürlicher" die Form gestaltet ist, so wird die Symmetrie dort, wo die Natürlichkeit ihre höchste Ausprägung erfährt, um so weniger in Erscheinung treten und schließlich aufgehoben sein, wo Formen absolut freiräumlich und in einer Gegenständlichkeit gestaltet sind, die über Vegetabilisierung hinausgeht. Der Träger dieser Formen wird sich als Bildtiefenraum darstellen. Die Formen der Grotteske sind von einer Gegenständlichkeit, die über das Vegetabilische hinausgeht. Sie sind dreidimensional gegeben, die Bindung an den Träger ist verloren. Die Symmetrie ist soweit beibehalten, daß es nicht zum Bildraum kommt; - sie ist soweit aufgegeben, daß die optische Ebene vernichtet ist. In dieser Form bezeichnen wir sie als „Pseudo-Symmetrie". Pseudo-Symmetrie ist ein Moment, das die Struktur der Grotteske wesentlich bestimmt: Es ermöglicht ihre Bild Wertigkeit und verhindert die Ausgestaltung der Grotteske zum Bild. III. M O T I V E D E R
GROTTESKE
Alle Beschreibungsversuche zeigen, daß die Struktur der Grotteske von formalen Erscheinungen her nicht faßbar ist. Form- und Gegenstandsstruktur sind verschränkt. Die umrissenen Phänomene sind nur möglich aus Eigenschaften der Motive, ebenso wie diese Eigenschaften ohne die Grundstruktur nicht sein könnten. Der „irreale" Charakter der Grotteske besteht darin, daß Teilgefüge sich gegenseitig beeinflussen, daß sich die Grottesken mehr als andere Werke der Bildenden
Kunst, im Sehen verändern. Trotzdem gibt es ein gewisses Vokabular, dessen Teile für die Grotteske stehen und die allgemeine Tendenzen verraten. „SEETIERE" Ein Strunk mit vielen Zweigen; es bleibt unentschieden, ob er aus der Erde wächst, ob dieses nicht gar ein Baumstamm ist. Eine Blattrosette trennt den Strunk von dem oberen „Gewächs", einem senkrecht verlaufenden Zweig, der mit kleinen Blättern dicht gefiedert ist. Seitwärts andere Zweige, sehr schwach, jeweils in Rosetten an den Mittelzweig angesetzt. Seetiere (Muscheln, Fische, Sepia und Krebse) sind an den Zweigen aufgehängt, — jedoch o h n e d a ß s i c h d i e Z w e i g e d u r c h b i e g e n . Dieses Mißverhältnis von Widerstand und Schwerkraft ist analog der mykenischen Säule: Die Schwerkraft, wenn nicht aufgehoben, ist in jenem Moment eines „spröden Dazwischen" gebannt, die Bewegung an einen „Nullpunkt" geführt, — höchste Fragilität, in der man an das Gebilde nicht rühren darf, soll es nicht zerbrechen. „BILD" -
„BILD E I N E S
TEPPICHS"
Zwei Mischwesen „schweben" auf Grund ihres Flügelschlags; auf den Köpfen balancieren sie ein Gefäß, aus dem lotrecht eine Pflanze sprießt, die in einen Doppelsproß endigt. Dieser Doppelsproß, sowie das Gefäß darüber mit einem folgenden Doppelsproß, können sowohl Bildgegenstand an sich als audi eingewebtes Bild des Teppichs sein, der hinter allem herabhängt. Entscheidbar ist das nicht. Das Kritische dieses Motivs ist das Unentschiedene (Abb. 6). PERL- U N D
BLÜTENKETTEN20
Ein winzig dünner Faden, der nur selten unter dem Gerät, das auf ihn gereiht ist, zum Vorschein kommt: Blüten, Blättchen, opake und transluzide, farbige und farblose Perlen. Das Schema ist einfach; meist eine Blüte als Absdiluß, einige Perlen, wieder eine Blüte, zwischendurch ein Medaillon, von Perlen gesäumt etc. Das Prinzip interessiert. Zunächst weist es auf die Tendenz, die ornamentale Form vom Grund zu lösen 21 ; nimmt man aber die vielfältigen, teils lotrecht hängenden, teils verschlungenen Schnüre und Fädchen weg (vor allem in Kompartimenten, die nicht durch eine eigentliche Mittelsenkrechte ausgezeichnet sind), so ändert sich die Erscheinungsweise eines solchen Kompartiments gründlich. 20 „Perl- und Blütenketten" steht hier für das sehr häufige Moment des „Fädigen", durch das die meisten Motive (vom gegenständlich bestimmten bis zum gegenstandsfreien) bestimmt sind. 21 Diese Tendenz wird in krasser Form in graphischen Grottesken, so des Enea Vico — (Abb. bei ¡essen} deutlich. Vergi, auch das Schwarzornament des E. van Hülsen Abb. 14.
42
Der mobile Charakter, der sich in Ketten und Kettchen, Fäden und Fädchen kundtut und durch die Bindung von Dünngliedrigstem (feinen Drähten, spuligem Pflanzenornament, auf Drähte geraschtem Laub) und relativ Grobem (wie dem schweren Architekturstück) zum Gitter-Mobil versteift und versprödet, wird fortfallen, denkt man diese Elemente fort. Die Grotteske o h n e diese Elemente gestaltet sich nicht zum Gitter-Mobil aus, aber auch nicht zum Gitter. Ohne diese Vertakelungen hat der Grund nicht die Erscheinungsweise des Raumes, sondern tritt — unterstützt durch die Stuckatur, welche das subtile Element nicht ersetzen kann — als Oberfläche in Erscheinung. (Der Undefinierte Raum ist „latent". Das heißt, daß er nicht in der Beschreibung, sondern nur im Sehen ganz aufgeschlossen werden kann, und daß er im Sehen nachvollzogen werden muß. Die Eigenschaften der Grotteske lassen sich nicht unmittelbar aus ihren Formen, sondern nur aus dem ausgestalteten Gebilde erkennen. Die Wahrnehmung der „latenten" Struktur läßt sich aber nachprüfen durch ein „Gedankenexperiment". Nimmt man wichtige Elemente weg oder verändert sie, so verändert sich alles22.) In den Perl- und Blütenketten hat die Grotteske „kritische" Motive. EIN
„MONSTRUM"
Ein Mensch, doch nur zur oberen Hälfte; das Gesicht Blattmaske, die Lenden in Akanthusblättern, — Löwenpranken, die in Akanthus ausgehen. Das Wesen „steht" auf einer Sockelplatte. Der Akanthus fächert sich zusammen zu einem Gehäuse; darin eine Blattmaske, von Schlangen umwunden, die sich seitwärts aus dem Gehäuse ringeln. Die Beine des Monstrums starr, gespannt; zwischen ihnen, in der Symmetrieachse, Anorganisches, in das die Beine aushäuten, mit einem muschelartigen Ding verknotet (Abb. 7). Die Figur ist nicht klassifizierbar, sie gehört in ihren „Stücken" verschiedenen Realitätsebenen an. Ein Mensch, — doch nur im oberen Teil. Im oberen Teil? — Das Gesicht ist mit Vegetabilischem kombiniert. Die Sockelplatte verrät die Plastik. Doch eine Plastik? Die Grundvoraussetzung für Plastik-Sein ist das elementare Vorhandensein von Masse, von Stofflichkeit. Aber gerade die Masse fehlt: Der Leib ist ausgehöhlt. Das Wesen trägt, es ist „Atlas". Mißt man es an den Verhältnissen der äußeren Wirklichkeit, wird es brechen. Das Monstrum ist nicht klassifizierbar. Klassifizierbar wird es erst in der Ebene der Irrealität, dort aber „klassenlos", indem Irreales, als Kombination von Gegenständlichem, das verschiedenen Realitätsebenen zugehört, e i n e Klasse bildet: das ontologisch nicht Klassifizierbare, das Scheinbare. Die Kombination von seinsmäßig Veischiedenem 22
geht nicht so voz sich, daß die
Vergi. S. 88 f. dieser Arbeit. 43
Grenzen
geschieden
bleiben.
„Abbild"
und „Realität",
sches, Mensch, Tier, Pflanze und Stein, Plastik, gekoppelt ander. Die Grenzen
des Physiognomischen
Oiganisch.es und
Anorgani-
mit Malerei, laufen
beginnen sich zu
inein-
verwischen.
Wird durch die Kombination von seinsmäßig Verschiedenem, v o n w i r k l i c h Heterogenem, Irrealität produziert, so eignen dieser Irrealität nicht jene Ubergangsmomente, die Bewegung konstituieren. Das Monstrum, der Realitätsebene der Plastik durch den Sockel zugeordnet, durch die Entsetzung der Leiblichkeit aber dem PlastikSein widersprüchlich, repräsentiert in der V e r s p r ö d u n g
als Gegenstand jenen
Scheincharakter, der als Gitter-Mobil formuliert wurde. Ihm eignet in der Versprödung keine Schwere,· es stellt ein Stützen dar, das Bewegung verlangte, durch die Fragilität des Unterbaus und durch die Sockelplatte wird das im Ansatz und dem Verlangen nach gegebene Stemmen und Lasten versprödet, verkaltet, vertotet. Für das Phänomen, daß sich ein Gegenständliches an zwei (oder mehreren) Realitätsebenen orientiert, wird der Begriff „Doppeldetermination" (bzw. Polydetermination) verwendet 23 . Das „Monstrum" ist polydeterminiert. A l s Monstrum steht es für einen Gegenstand der Grotteske, der in der Gestalt v o n Harpyen, Sirenen, Chimären, Sphingen und Kentauren der antiken Mythologie entnommen, in Form anderer Mischwesen aber freie Erfindung der „Grottesken-Phantasie" ist. Dabei frappieren und choquieren vor allem solche Kombinationen, in denen das Heterogenste zusammengebracht ist: Mensch und
Anorganisches. TERMEN
V o n vornherein ist ein Unterschied z u machen zwischen mythologisch Vorgegebenem und Grottesken-Monstrum. Der Unterschied ist phänomenal, und faßbar in der Differenz der Stofflichkeit (Leiblichkeit) der Gebilde. D a ß in dem besprochenen „Monstrum" Leiblichkeit (konkret mit der Gestaltung des L e i b e s zu verbinden) verloren ist, wurde beschrieben und soll in der A n w e n d u n g des Ausdrucks „Gerüst" sein Wort finden. Für diese Vernichtung der Leiblichkeit gibt es zahlreiche weitere Motive, vor allem die Terme, die sehr häufig auftritt 24 . In der Terme (und in termenartigen Gebilden) ist die menschliche Halbfigur mit dem (anorganischen) Stein zusammengebracht; der nach unten nicht nur verjüngte, sondern zugespitzte Schaft ist zwar geformt, aber seine kalte und spröde Form scheidet das plastische Moment, das der antiken Herme eignet, aus. Die antike Herme 25 rührt nicht an die Integrität des menschlichen Leibes. Ihr Schaft ist ebenso p l a s t i s c h durchgestaltet wie die Büste. Der Schaft der Terme ist nach unten spitz ausgezogen, die Spitze berührt eben die Standfläche, — die Terme kann in der Grotteske aber ebensogut aus einem Faden sich entwickeln, kann in der Luft 23 Der Begriff wurde wohl von Iven, Versuch einer Deutung des Manierismus, in die kunstgeschiditliche Literatur eingeführt. 24 Vergi. S. 135 ff. 25 Vergi. S. 13s ff.
44
„stehen". In der Terme hat „das Atektonische" sein kritisches Motiv: Nicht nur das plastische, auch das tektonische Moment ist ausgeschieden. In termenartigen Motiven, wie sie die Grotteske auch der späteren Zeit liebt, kann der Schaft durch einen Blattstengel ersetzt werden. Häufig ist das „Gerüst" berockt, was das Fehlen der Leiblichkeit in Uberschärfe deutlich werden läßt. ABSTRAKTES Schon die Vertakelungen könnte man als Abstraktes bezeichnen. Aber sie sind ebenso, als Vertakelung, Gegenstände. Nun finden sich in der Grotteske Dinge, die nicht nur nichts Bestimmtes sind, sondern audi keine bestimmte Funktion in der Struktur besitzen. Dazu gehören vor allem Versatzstücke, die nicht zu klassifizieren sind. Man kann nicht entscheiden, ob sie architektonischer Herkunft oder Erfindung sind. ARCHITEKTONISCHES Kleine Tempelchen, Architrave, Säulen und dergleichen sind dem übrigen Motivschatz verbunden. Unter den Motiven architektonischer Natur oder Herkunft fällt vor allem eines auf, das gewisse Tendenzen in Überspitzung zeigt: eine ,mykenische Säule' (Abb. 6). Uber architravartigem Steg, zwischen zwei Genien, die flammende Gefäße handhaben, eine Säule, nach unten verjüngt. Das Besondere dieses Motivs: die Säule ist in Schaft und Basis zerlegt, der Schaft gehoben, zwischen Schaft und Basis sind drei Kugeln eingefügt. IV. Z E N T R A L P H Ä N O M E N :
DOPPELDETERMINATION
Den bis jetzt beschriebenen Phänomenen und Motiven ist gemeinsam, daß sie doppeldeterminiert sind. Sie lassen sich nur über den Ansatz: Gestaltung aus dem Widerstreit zweier oder mehrerer kategorial sich ausschließender Axiome der künstlerischen Gestaltung fassen. Zentralphänomen der Grotteske ist D o p p e l d e t e r m i n a t i o n 2 ® . Diese Doppeldetermination zeigt sich in der Struktur des Gegenstandsgefüges und ist Prinzip des unfruchtbaren Antagonismus von Starre und bloßer Bewegung, der zum Gitter-Mobil führt und nicht allein die Struktur des Gegenständlichen in der Vernichtung der Leiblichkeit prägt, sondern die ästhetische Erscheinungsweise der Grotteske überhaupt. Das Erzeugende dieser Doppeldetermination (Doppelorientierung) vernichtet nidit nur die Leiblichkeit der gegenstandsnahen Motive, sondern die Leiblidikeit des G e b i l d e s , die Ganzheit, die sich in der Integration von Licht und Schwere erhält. Zum Begriff und zur Methode der Zentralphänomene vergi. Sedlmayi: Die Revolution der modernen Kunst, — Kunstgeschichte auf neuen Wegen, — Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Die Methode läßt sich zur Erfassung der Strukturen von Gattungen verwenden. 26
45
Ist Doppeldetermination Zentralphänomen, so muß sich auf sie eine Menge von Teilphänomenen reduzieren lassen. Diese Reduktion muß gleichzeitig die Stellung der Grotteske in ihrem Verhältnis zu den Gattungen (vor allem zum Ornament) berücksichtigen. So ist es möglich, das Zentralphänomen auch für Einsichten in die historische Entwicklung fruchtbar zu machen. Der Sachverhalt, der als Doppeldetermination bezeichnet wird, ist folgender: Die Grotteske ist in ihrer Grundstruktur gespalten. Es ergeben sich zwei Kategorien, welche die Struktur der Spaltung bestimmen. Diese beiden Kategorien sind die Extreme, an denen sich die Struktur der Grotteske orientiert. Doppelorientierung ist das Prinzip, von dem her alle Strukturelemente bestimmt sind. Es ist das Erzeugende der Doppeldetermination, in der sich die „Zweiheit" zeigt, die intendiert ist. Doppeldetermination wirkt sich im Sehen so aus, daß ein Wahrnehmungsgebilde entsteht, das von Formen, die zunächst „registriert" werden, stark differiert, und in dem sich zwei Prinzipien zu einer „Einheit" binden, in der die anschaulichen Qualitäten der physischen Struktur nach einem Punkt der „Versprödung", mehr und mehr sich auflösen. DIE EXTREME DER
SPALTUNG
Das Gebilde, das in seiner Struktur doppeldeterminiert ist, orientiert sich an Extremen. Die Extreme der Grotteske lassen sich von der Grundstraktur des Ornaments her beschreiben. Die Spannung des Grundgefüges o r n a m e n t a l e r Gebilde, die sich — genetisch und formal — als der Grotteske am nächsten erweisen, ist in der Grotteske einer Überspanntheit gewichen. Die beiden Kategorien, die sich in der Uberhebung der für das Ornament verbindlichen Relation als Extreme des ornamentalen Grundgefüges darstellen, sind „Ornamentkörper" und „Undefinierter Raum". Sie sind d i e Relate, welche die Struktur der Grotteske ermöglichen, und in diesem Sinn sind sie für die Grotteske kategorial. Der Undefinierte Raum, dessen Konstitution Negierung der Oberfläche, Negierung des T r ä g e r s bedeutet, ohne daß sich die optische Bildebene als Integrationsform ergäbe, ist p o t e n t i e l l Bildraum der Malerei; indem die Oberfläche nur räum w e r t i g ist, nicht aber ausgestaltet im Sinne der Bildordnung, ist er b l o ß potentiell Bildraum. Der Undefinierte Raum ist, als Signum des Gespaltenseins, ein Extrem der Doppeldetermination, das, vom Ornament her, n i c h t m e h r , und das von der Malerei n o c h n i c h t Relat ist. Ist die Grotteske dem A n s a t z nach Malerei, so ist sie doch gehemmte Malerei, wozu die Pseudo-Symmetrie wesentlich beiträgt. Korrelativ dem Undefinierten Raum ist der Ornamentkörper, als das invertierte Ornamentmuster. Er ist das, was sich im Ornament als so und so gegebene Form in relativer Oberflächenbindung findet. Mit der Konstitution des Undefinierten Raumes (die vom Kondensat als einer Erscheinungsform des Ornamentkörpers abhängig 46
ist) wird die Oberfläche negiert. Dabei wird die neue Bildmöglichkeit nicht aufgegriffen; der Grund wird zwar raumwertig, nicht aber im Sinne eines Bildtiefenraumes, dem die Dimensionen des Ornamentkörpers entsprechen würden. Die ausgesprochen plastischen Qualitäten des Ornamentkörpers werden durch den Undefinierten Raum an ihrer Entfaltung ebenso gehindert wie der Undefinierte Raum durch das Kondensat „entleert" wird. Der Undefinierte Raum tritt, wird die zweite Dimension durch das Kondensat aufgerissen, an die Stelle des Trägers; dessen Bestimmung aber ist im Bereich des Ornaments, in der Einheit mit dem Muster die Integrationsform der optischen Ornamentebene zu schaffen und so der Form erst jenes Plastische zu leihen, was dem vollrunden Körper das organische Leben mitteilt. In der Doppelorientierung der Grotteske an zwei sich ausschließenden Extremen vernichten sich jedoch die anschaulichen Qualitäten. Die optische Ebene jeder Form wird negiert, in einem Prozeß der Wechselentwirklichung steigern sich die Extreme in ein Stadium, in dem die anschaulichen Qualitäten entleert sind. (Diesen Punkt, Höhepunkt „negativer Selbstverfertigung", werden wir w. u. beschreiben.) THESE Z U R E N T S T E H U N G DER GROTTESKE Die Grotteske orientiert sich an zwei Extremen. Diese Extreme, deren Durchdringung durch einen noch zu klärenden Faktor verhindert wird, „entwirklichen" sich gegenseitig. So kommt es nicht zu einer „Spannung", sondern zu der Selbstvernichtung des in seiner Grundstruktur gespaltenen Gebildes. Ist nun Doppeldetermination Zentralphänomen, so bedeutet die Grotteske seinsmäßig: Orientierung an zwei sich ausschließenden Prinzipien, Orientierung an der Reinheit zweier sich in der Bildenden Kunst nicht ausschließender „Welten" — an der Welt des Bildes und an der Welt der Plastik. Das Strukturprinzip Doppelorientierung ergibt sich aus der Emanzipation eines Relates der für das Ornament verbindlichen Grundstruktur, der „Inversion" der ornamentalen Form. Dieser an Phänomenen der Raffaelischen Grotteske erkannte Sachverhalt muß sich auch in der historischen Entwicklung darstellen. Die These für die Entstehung der Grotteske lautet also: Die Giotteske entsteht in dei historischen Entwicklung aus dei Veiselbständigung dei ornamentalen Foim. „MONSTRÖSE
STRUKTUR"
„Die Benennung aber ist nicht eigentlich. Denn wie die Alten sich vergnügten Monstra zusammenzusetzen, indem sie die Gestalten der Ziegen, Kühe und Stuten verbanden, so sollten auch diese Verbindungen verschiedener Pflanzen- und Blätterarten Monstra und nicht Grottesken genannt werden . . . " (Benvenuto Cellini}27. 27
Cellini, Leben. 47
Der monströse Charakter der Grotteske, der immer hervorgehoben wurde, bezeichnet nicht allein den Antinaturalismus in der Besonderheit des Gegenständlichen, sondern ihre Struktur. Diese Doppeldetermination geht über die gemeine Monstrosität hinaus: Die Orientierung an sich ausschließenden Extremen (Axiomen), an w i r k l i c h Heterogenem, führt zur Produktion von Gebilden, die nicht nur im Bereich des Bildgegenständlichen, sondern darüber hinaus in der Totalität28 der Struktur monströs sind: So sind monströser Bildgegenstand und monströse Struktur der Grotteske ähnlich aufeinander verwiesen wie Undefinierter Raum und Omamentkörper, Pseudo-Symmetrie und Antinaturalismus, Gitter, Mobil und Gitter-Mobil. Lichtlosigkeit und Schwerelosigkeit der gegenständlichen Gefüge. V. D I E G R U N D S T R U K T U R
DER
GROTTESKE
Aus den bisherigen Beobachtungen an der Raffaelischen Grotteske ist es möglich ihre, und, da die Grotteske der Loggien die Grotteske überhaupt repräsentiert, die Grundstruktur der Grotteske überhaupt darzustellen. Diese Darstellung verbinden wir mit prinzipiellen Erwägungen, wobei wir uns auf das, was in dem Kapitel über die „Kategoriale Struktur der Gattungen" gesagt wurde, zurückbeziehen. Geht ein Relat einer wesensbegründenden Relation zunidite und zwar zugunsten der Absolutheit des anderen, so hat es keinen Sinn mehr, von einer wesensbegründenden Relation zu sprechen. Relation bezeichnet ein Spannungs-Gefüge. Wo das G e f ü g e sich zersetzt, tritt an die Stelle von Spannung Überspanntheit. Ist die Relation wesensbegründend, so weicht bei der Uberspannung das Wesen von dem Gegenstand. Durdi die Bestimmung, ornamentale Form aktualisiere die Oberfläche, ist das Ornament in eine übergeordnete Relation einbezogen: Hier ist der Träger Glied einer Beziehung, welcher das Ornament selbst untergeordnet ist. Wird nun dieser Trader zugunsten des ornamentalen Selbst z u n i c h t e , so ist das Ornament aus der übergreifenden Relation herausgenommen, — das S e l b s t des Ornaments ist a b s o l u t . Es bezieht sich nicht mehr auf Architektur, sondern lediglich auf sich selbst. Bezogen nur in sich, ist es invertiert. Dieses Invertierte h a t kein Wesen: lediglich in sidi bezogen, ist es ein b l o ß V o r h a n d e n e s . Es e n t s p r i c h t n i c h t , sondern ist lediglich es selbst, was im Spannungsgefüge des Ordo der Kunst zur Grotteske führt. Geht die Relation als die Rückbezogenheit auf ein Ubergeordnetes verloren, so ist das Gebilde unmöglich Gegenstand. Taucht nun das Gebilde, in dem ein Relat sich vernichtete, nicht ins Abstrakte 38
48
Vergi. Anders, Anhang S. 188 (Anm. 55).
(d. h. von 3er Erscheinungsform der äußeren Wirklichkeit Abgezogene) unter, so muß sich das Negierte in anderer als in der ursprünglichen Erscheinungsform zeigen, und zwar als Negat seiner selbst. D i e Relation von ornamentaler Form und Oberfläche, in welcher das Muster sich emanzipiert, ist nicht aufgehoben, sondern in eine andere u m g e s c h l a g e n . Die Oberfläche zeigt sidi nicht als stofflich bestimmter Träger, der Grund der absoluten Form ist ein Negat. Die Materie tritt in indifferenter Räumlichkeit in Erscheinung. Ist die kategoriale Struktur des Ornaments dergestalt übersteigert, so stellen sich die Relate des Produktes der Ubersteigerung anders dar als in der ursprünglichen Relation: Die absolute Form löst sich vom Träger, dieser jedoch wird nicht mehr als stofflich bestimmte Oberfläche, sondern undefiniert-räumlich in Erscheinung treten. Die u r s p r ü n g l i c h e Relation von ornamentaler Form und Oberfläche gestaltet sich bei der Ubersteigerung so ins Extrem aus, daß die Relate sich transformieren. Die Ubersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments begründet die Grundstruktur der Grotteske. Indem die ursprüngliche Relation überspannt wird, emanzipiert sich nicht allein die ornamentale Form,· — der Träger als Undefinierter Raum ist das notwendige Korrelat des absoluten Musters. Aus dieser Selbständigkeit der „Extreme" ist die Grotteske in ihrem Gespaltensein erst möglich. Sagen wir nun, daß die Wechselbefreiung der Relate sich hier erschöpft, so heißt das, die kategoriale Struktur eines Ursprünglichen habe dort die Möglichkeit der Selbstvernichtung (als Selbstverfertigung des Un-Wesens — negative Selbstverfertigung), wo die Relate sich „in sich selbst verkriechen". Im Wesen-Verfall des ursprünglich Gemeinten treibt das Gebilde, als zwar Vorhandenes, doch bloß-Vorhandenes, sein Un-Wesen. Die im Gespaltensein des Gebildes verfremdeten Relate sind durch eine Kluft getrennt und entfalten, in Hinsicht auf ein Ubergeordnetes, ein Eigenleben, das rücksichtslos, rückhaltlos sich gibt. In der Grotteske ist die kategoriale Struktur des Ornaments übersteigert. Der Träger hat sich der stofflichen Realität begeben, die Form des Musters erreicht in der Verabsolutierung des ornamentalen Selbst jenes Leiblos-Gegenstoffliche, das im „Gerüst" anschaulich wird. Diese Ubersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments begründet die kategoriale Struktur der Grotteske, für die zwei widerstrebende Tendenzen bedeutsam sind29. BILDWERTIG - PLASTISCH Das Grottesken-Muster vereinigt in sich zwei widerstrebende Tendenzen, deren Vereinigung zum „Kondensat" führt: gemalte Formen und plastische Formen treten über ein gegenständliches Moment zum Kondensat zusammen. Das plastische Moment, das in den stucchi angelegt ist, versprödet dabei, die bildhaften Momente sind von vornherein lediglich bildwertig. In der Vereinigung dif29
Vergi. Anhang S. 185. 49
ferenziert sich das Bildmuster gegen den gegenstandsfreien Grund, der als Undefinierter Raum erscheint. Die Struktur der Grotteske ist bild-wertig. ORNAMENTALE
„RESTFORM"
Den Faktor, der verhindert, daß sich ein B i l d ergibt, nennen wir Pseudo-Symmetrie. In der Pseudo-Symmetrie hat die Grotteske d i e ornamentale Restform. Die Pseudo-Symmetrie bewirkt gleichzeitig, daß bildhafte, malerische und plastische Formen sich zum Kondensat zusammensdiließen. Aus der Pseudo-Symmetrie als „Kondensationskern" ist die Doppelorientierung ermöglicht. Die Frage, ob die Grotteske O r n a m e n t sei, kann nur negativ beantwortet werden. Nun ergibt sie sich aber in der historischen Entwicklung eindeutig aus dem Ornament (II. Kap.). D. h., daß sie audi genetisch doppelorientiert ist: sie entwickelt sich v o m Ornament zum Bild hin. ZUSAMMENFASSUNG Ehe wir zu den folgenden Abschnitten übergehen und Charakter und Wirkung der Grotteske, sowie ihre Erscheinungsweise als Strukturelement eines größeren Zusammenhangs zu untersuchen beginnen, fassen wir das bisher Besdiriebene zusammen. Die Grotteske Raffaels, besonders die der Pilasterdekoration, ließ sich, ohne Rücksicht auf ihre innere oder äußere „Umgebung", einem Strukturprinzip unterordnen: D o p p e l o r i e n t i e r u n g . Dieses Prinzip zeigt sich im Gegenstandsgefüge des Grottesken-Musters, im Verhältnis der Kategorien „plastisch" und „malerisch" in diesem Muster und im Zentralphänomen der Doppeldetermination. Die Grotteske ist gleichsam von „zwei Seiten" her festgelegt, Seiten, die nur in der Näherung ihrer Eigenqualitäten sich durchdringen können, in der Behauptung ihrer Eigenqualitäten aber sich gegenseitig zu einem Gebilde zusammenschließen (Kondensat), das zur Vernichtung der Eigenqualitäten beider Kategorien tendiert. Das Zentralphänomen Doppeldetermination findet sich im Gegenstandsgefüge in Monstrositäten, aber auch in dem Zwiespalt von Räumlichkeit und Flächigkeit des Musters wie des Grundes. Der Undefinierte Raum hat die Tendenz, als Fläche gewertet zu werden30, sobald sich die Qualitäten des Kondensats wechselentwirklicht haben. Die Grotteske ist in ihrer Struktur gespalten. Das Grottesk-Muster vereinigt in sich zwei Tendenzen, die zum Kondensat führen: Dabei bekommt der weiße Grund Raumqualitäten Undefinierter Wertigkeit. Verdichtung dieser Tendenzen und Raumqualität des Grundes stehen in strengen Entsprechungen. Je mehr sich diese Entsprechungen ausgestalten, desto mehr werden (das gilt es im nächsten Kapitel zu zeigen) die anschaulichen Qualitäten des Musters zunichte. 30
50
Vergi. Anhang S. 186.
Gleichzeitig damit geht das Mobilische in der Doppeldetermination mit einem Moment äußerster Starre — in einem anschaulichen Phänomen, das wir als „GitterMobil" bezeichneten — verloren, dodi kann sich darin auch die Starre nicht halten. Die Grotteske wurde von der kategorialen Struktur des Ornaments aus betrachtet. Das führte auf den Sachverhalt, von dem her die Grotteske in ihrer kategorialen Struktur gefaßt wurde : Die Grotteske
ist in ihrer Grundstruktur
übersteigertes
Ornament.
In dieser Bestimmung der kategorialen Struktur ist die Möglichkeit gegeben, Charakter und Wirkung der Grotteske näher zu erfassen, was in den nächsten Abschnitten versucht wird: Die Ubersteigerung, die in ihrer Struktur begründet ist, muß sich auch in ihrer Wirkung auf den Betrachter zeigen. Zudem gibt diese Bestimmung die Möglichkeit, die Genese der Doppelorientierung zu verfolgen. These ist, daß die Grotteske auch in der historischen Entwicklung aus einer Ubersteigerung entsteht, daß die Tendenz dazu sich analog in anderen Gattungen der Kunst greifen läßt und der „Antinomie", aus der die Grotteske entsteht, ein Prozeß „historischer Dialektik" entspricht. Die „historische Antinomie": Auseinanderstreben von der gleichen Ausgangsposition, und die „historische Dialektik": Umschlag in das Gegenteil, stehen in einem Entsprechungsverhältnis31. VI. C H A R A K T E R U N D W I R K U N G D E R G R O T T E S K E 3 2 Die Eigenschaften der Grotteske ermöglichen sich aus ihrer kategorialen Struktur. Diese wurde aus Teilphänomenen der Raffaelischen Grotteske gewonnen. Dabei wurden aber nicht alle Eigenschaften der Grotteske genannt; manches, was von zentraler Bedeutung ist, wurde am Rande erwähnt. Alle Eigenschaften der Grotteske glauben wir unter einer übergreifenden Charakterisierung fassen zu können: Die Grotteske ist labyrinthisch. In dem Labyrinth der Mythologie sind Momente anschaulich, die sich entsprechend in der Grotteske finden, und die sich von den Phänomenen des Lichts, der Zeit und der Schwere her begreifen lassen. Diese Phänomene hängen im Ontischen zusammen; aus ihrem Aufeinanderverwiesen-sein in der Grotteske ergeben sich weitere Bestimmungen, mit denen sich „das Wesen" der Grotteske charakterisieren läßt: Die Grotteske ist weltlos, ironisch, Antinomie. LABYRINTH U N D M I N O T A U R U S I N D E R M Y T H O L O G I E 3 5
Minos hatte Pasiphae zur Frau, „die allen Leuchtende", die Tochter des Helios und der Perseis. Es wurde erzählt, daß Pasiphae sich in einen wunderschönen, weißglänzenden Stier verliebte, den die Götter (Zeus oder Poseidon) nach Kreta geschickt 31 32
H i s t o r i s c h e Dialektik meint etwas anderes als „Die Grotteske ist Dialektikum". Kerényi, Die Mythologie der Griechen; Hocke, Die Welt als Labyrinth. 51
hatten. Sie ließ sich vom geschickten Meister Daidalos eine falsche Kuh verfertigen und versteckte sich darin. Der Stier ließ sich täuschen und zeugte mit der Königin den Minotaurus, den Minosstier, mit Namen Asterios, ein Kind mit einem Stierkopf, das verborgen werden mußte. Es wuchs im Labyrinthos auf, einem Bauwerk aus Irrwegen, das Daidalos zu diesem Zweck erdacht hatte. Theseus von Athen tötete schließlidi den Stiermenschen. Ariadne war die Helferin des Theseus bei der Ermordung ihres Bruders, des stierköpfigen Minossohnes, den man unter dem Namen Minotaurus vornehmlich als Ungeheuer kennt. Nach seinem anderen Namen Asterios war er aber „ein Stern" für die Seinigen. Ariadne gab dem Helden den Faden, wodurch er aus dem Labyrinth, der Wohnung des Minotaurus, wieder hinausgelangen konnte. Es wurde auch erzählt, daß Dyonisos schon auf Kreta Ariadne zu seiner Frau gemacht habe. Damals schenkte er ihr den goldenen mit Edelsteinen geschmückten Kranz, den er selber von Aphrodite bekommen hatte. Mit dem leuchtenden Kranz machte Ariadne dem Theseus dieses möglich, und dafür wurde sie bestraft. In der Mythologie von Minotaurus und dem Labyrinth sind Verflechtungen anschaulich, denen wir hier insgesamt nicht nachgehen können. Wie Licht und Finsternis, Monstrum (das für die Seinigen ein „Stern" war) Theseus und Dyonisos, Pasiphae und Daidolos zusammengehören, darzustellen, soll nicht unsere Aufgabe sein. Uns interessieren hier Eigenschaften des Labyrinths, die der Grotteske analog sind und in analoger „Komplexion" stehen. Claude Mignault hebt im Kommentar zum XII. Emblem des Alciat (non vulganda Consilia) Eigenschaften des Labyrinths und des Monstrums hervor34. Das Labyrinth ist ein aedificium obscurum et inextricabilibus erroribus clausuni (73 a). Labyrinthus, quod se belle non explicet, nullaque utatur methodo. (406 b) Uber das Monstrum heißt es: Monstrum enim est, quod fit contra naturam (35 a). Monstra autem vocantur errores naturae (3s a). Physici monstra vocant ca corpora naturalia, quae non habent iustum situm membrorum, neque consuetam naturae proportionem partium (73 b). Die Mitte des Labyrinths ist das Monstrum. Im Labyrinth, einem Gewirr von unterirdischen Höhlengängen, hat es seine Behausung, „irgendwo" im Unbegehbaren, Ungeheuren seinen Ort. Das Labyrinth ist (im wörtlichen Sinne) sous-realistisch. Es hat keinen Anfang, kein Ende, „irgendwo" verlaufen seine Grenzen, unerfahrbar, ungewußt selbst von seinem Erfinder: Daidalos, „faber ingeniosissimus" {Mignault), konnte sich, als es ihm zum Gefängnis bestimmt war, selbst nur mit großer Mühe (und im Fluge!) aus seinem Machwerk befreien. Im Labyrinth, so wenig es in ihm Grenzen gibt, gibt es kein Licht. (Ariadne gab Theseus den leuchtenden Kranz, damit er sich zurückfinden konnte.) 83 34
5*
Nach Kerényi, op. cit. Alciati, Emblemata.
Darin besteht eine Entsprechung: daß es im Labyrinth kein Licht gibt und keine Grenzen: In ihm sind die Zeiterfahrung und das Maß der Zeitlidikeit verloren. Wer sich in das Labyrinth begibt — (und sei es sein Erfinder!) — irrt umher. Das Labyrinth ist „erroribus clausuni". Das Ende der Irrsal ist der Schrecken der plötzlidien Vernichtung, das Monstrum. Das Irren in dem Labyrinth ist endlos; die Grenzen sind begangen unbegehbar, das Labyrinth ist grenzenlos; es ist die unendliche Endlichkeit, die grenzenlose Begrenztheit. Das Irren ohne Ausweg, das, was sich darstellt als das In-sich-Verkrochene, das keinen „Ort" hat; in dem „irgendwo" das Monstrum ist, das freilich sidi auskennt an „seinem Ort". DIE
GROTTESKE
IST
LABYRINTHISCH
„Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer" schrieb Goya 1797 unter das Titelblatt seiner „Caprichos"45. Die Zeugung des Minosstieres ist Produkt eines soldtien Traumes, der Minosstier ein solches Ungeheuer. Der Traum der Vernunft g e b i e r t Ungeheuer — dodi ist es die Vernunft, die das Ungeheuer in das Labyrinth sperrt, das, „erroribus clausum", dann wiederum ihr selbst, gerät sie in seinen Bann, zum Verhängnis werden kann. Die Mythologie schließt noch mehr in sich: Nicht nur „ U r s p r u n g " und „ O r t " , sondern auch das „ A n s e h e n" des Monstrums, das zwar ins Labyrinth verbannt wird, aber noch einen anderen Namen hat: A s t e r i o s , Stern für die Seinigen! Carl Boiinski formuliert anläßlich einer Äußerung über die Entdeckung der antiken Grottesken: „Denn sdion damals scheint sich das Rätselhaft-Geheime der Wirkung beizugesellen dem Unterirdisch-Geheimen in der Herkunft aus verschütteten Ruinen und Katakomben. Nicht von „grotte" im buchstäblichen Sinn sei es herzuleiten, sondern aus dem Versteckten, Verhohlenen, das die Höhle und Grotte ausdrückt®6." Das Geheime, das dem Minotaurus, das Rätselhafte, das dem Labyrinth, dem Versteck des Monstrums eignet, der „hieroglyphische" Geist37, welcher der Grotteske zugrunde liegt, bringen Labyrinth und Grotteske zunächst zusammen. Wo die Behauptung des „intellektuellen" Spiels38 akzeptiert wird, fließt der Ursprung der Grotteske in eine ähnliche Zone wie der des Labyrinths: Dem Traum der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, sind diese Ungeheuer „Sterne". Das führt auf die „Grotteske" als capriccio: Verstecktes Bilderrätsel, das seinen Zweck erfüllt hat, sobald es in seinem Sinn erkannt wurde, was nur dem Eingeweihten möglich ist38. Die Grotteske — das zu zeigen soll versucht werden — ist nicht bloß m e t a p h o r i s c h , sondern seinsmäßig labyrinthisch. Wie das Labyrinth ist sie „ohne Licht", 35 36
Sedlmayi, Verlust der Mitte, Abb. 35. Borínski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie.
37
Vergi. Anhang S. 186.
38
Vergi. Anhang S. r86.
39
Vergi. Anhang S. r86.
SB
wie der Minotaurus „monströs", verkrochen. Die „Zeitlichkeit" des grenzenlosen und doch begrenzten Labyrinths ist die Zeitlidikeit der Grotteske. Dessen „Mitte" ist das Monstrum, so wie es die „Mitte" der Grotteske ist. Die Grotteske ist ohne Licht Eine bisher nicht genügend hervorgehobene Eigenschaft der Grotteske ist, daß sie kein Licht hat, — wo Teilgefüge der Grotteske leuchten, ist es der phosphoreszierende Glanz des Verwesenden. Und die Grotteske hat keinen S c h a t t e n . Diese Licht- und Sdiattenlosigkeit der Grotteske läßt sich aus der beschriebenen Grundstruktur ableiten. Das Phänomen „Licht" wäre in der Grotteske dort zu suchen, wo sich der Undefinierte Raum ergibt. Aber schon darin, daß dieser U n d e f i n i e r t ist, liegt, daß die Grotteske kein Licht haben kann. Denn Licht definiert den Raum und macht Entfremdung von vornherein unmöglich. In gewissem Sinn ist das Licht Träger der anschaulichen Qualitäten des Bildkunstwerks. Der Undefinierte Raum kann charakterisiert werden als „Raum als Raum", als Rinde des Trägers, die in eigenartiger Räumlichkeit als entsprechendes Extrem der absoluten Form sich ausdifferenziert. Der Vorgang, daß ein stofflich bestimmter Träger in eine Raumbestimmtheit umschlägt, ohne Raum zu werden, bringt das Licht als Potenz, doch ebenso als gehemmte Aktualität in den Phänomenbereich. Wo, im gehemmten Umschlag von Materie in Raum, Licht a n g e s t r e b t , nicht aber gewonnen wird, ergibt sich der Undefinierte Raum, der also nicht allein von seinen R a u m sondern ebenso von seinen Lichtqualitäten her Undefiniert ist, eine Unbestimmtheit, die sich in der Wahrnehmung bis an einen Punkt ausgliedert, wo sich absolute Form und Undefinierter Raum in jeder Weise wechselentwirklicht haben. Notwendige Voraussetzung ist der w e i ß e G r u n d der Musterintervalle. Dieses Weiß ist von sich aus gestaltindifferent: Auf der einen Seite ist es virtuell Licht, die Möglichkeiten der Farbigkeit in sich beschließend, auf der anderen Seite aber bedeutet Weiß vernichtete Materie40. Der Prozeß, der sich mit der Entstehung des Undefinierten Raumes ausspielt, bedeutet den W i l l e n aus einem Aggregatzustand in einen anderen überzugehen, ein Wandel, der nicht vollzogen wird. Die Transzendenz der Materie, die a n g e b a h n t ist, wird in ein Zwischenmedium verdrängt. „Wo ein Stoff aus der Immanenz zur Transzendenz hervorbricht, wird er dadurch und damit lichthaft. In und mit dem Entzündungszustand erhebt sich die betreffende Entität an sich selbst zur Phänomenalität, d. h. zur Erschaubarkeit, d. h. zur Lichthaftigkeit" (Conrad Maitius). In der Grotteske müßte sich der Träger dergestalt zur Transzendenz erheben, daß in der dialektischen Ubersteigerung der Grundrelation des Ornaments nicht allein der Träger aus seiner Stofflichkeit zur Räumlichkeit erhoben würde, — gleichzeitig müßten 40
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Vergi. Anhang S. 187.
sich die Formen des „ornamentalen Zwanges" entkleiden. Die Pseudo-Symmetrie müßte freieren Prinzipien weichen. So würde die zweite Dimension in der Gestalt der zweidimensionalen Bildebene nicht lediglich „aufgerissen", sondern g e s t a l t e t . In dieser Transzendenz der O b e r f l ä c h e zur zweidimensional bestimmten Fläc h e erhöbe sich die Materie aus der Immanenz zur Transzendenz und so zur Lichthaftigkeit. In der Grotteske ist die Oberflädie negiert, sie tritt nicht mehr in zweidimensionaler Bestimmtheit auf, sondern, im Undefinierten Raum, gewissermaßen in drei Dimensionen,· diese sind aber nicht auf etwas bezogen, sondern „für sich". Der „Raum als Raum" der Grotteske bezieht sich nidit auf das Grottesken-Muster. Damit ist auch nicht die zweidimensionale Bildebene gewonnen. Die Oberfläche ist negiert, ohne daß es zu einem Bildtiefenraum kommen könnte. So ist die F l ä c h e angelegt und tritt als gestörte Fläche in Erscheinung. Der Undefinierte Raum ist p o t e n t i e l l Bildtiefenraum, aktuell aber Raum an sich. Die Form der Grotteske ist auf sich selbst bezogen. Sie steht dem Weiß des Grundes von vornherein fremd gegenüber, was sich im Sehen intensiviert, wobei die Form sich versteift, verhärtet, kondensiert, während der Grund sich als eigenständiger Raum ausbildet. Dem Licht kommt vermittelnde Funktion zu. Das Licht bringt die dreidimensionalen Körper mit dem Raum in Verbindung. Es durchwebt den Körper und bringt ihn in einen anderen Modus der Anschaulichkeit. Wo (wie in der Grotteske) zwar dreidimensional erscheinende Körper und ein Raum existieren, das Licht aber fehlt, ist die Möglichkeit nicht gegeben, daß Körper und Raum in Beziehung treten. Sie stellen sich dar in bloßer Dimensionalität. Je mehr die Dimensionalität der beiden Kategorien als solche hervortritt, desto größer ist der Entfremdungseffekt. Dreidimensional erscheinende Körper und Undefinierter Raum stehen nebeneinander. Dieses Nebeneinander gestaltet sich im Nacheinander der Wahrnehmung aus, wobei der Eindruck der zweidimensionalen Bildebene, der in einem ersten Stadium der Wahrnehmung gegeben ist, zerfällt. Zwei voneinander unabhängige Wahrnehmungsfelder ergeben sich, die, je intensiver sie wahrgenommen werden, um so unabhängiger voneinander werden — das „Zugleich" dieser Felder in der Wahrnehmung löscht die Anschaulichkeit. Zwischen Standortraum und Undefiniertem Raum gibt es keine Vermittelung. Der Ubergang vom einen zum anderen erfolgt „ruckartig", wobei die Identifikation von Betrachter und Grotteskenmuster um so stärker wird, je mehr die Kategorien des Musters kondensieren. Hier übt die Grotteske einen Zwang, dessen Ende durch den Verlust der anschaulichen Qualitäten gegeben ist. Das Licht, das die Vermittelung tragen würde, ist im A n s a t z mit dem Weiß des Grundes gegeben, zieht sich aber mehr und mehr in sich zurück. Die Grotteske ist doppelorientiert an zwei verschiedenen Gattungen der Bildenden Kunst. Sie kommt vom Ornament her und strebt zum Bild. Die vorigen Betrach-
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Piel
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tirngen wurden wesentlich aus einem Vergleich mit der Bildstruktur bestimmt. Das neuzeitliche Bild kennt, im Unterschied zum mittelalterlichen, das Bildlicht. Ornament hat an sich kein Lichteigentum. Es lebt vom Licht des Standortraumes, vom „natürlichen" Licht, wenn man so will. Betrachten wir die Grotteske, ausgehend von der Doppelorientierung, auf die LichtVerhältnisse zu Bild und Ornament, so ergibt sich auch von hier aus eine Doppeldetermination. Das Ornament ist beleuchtet nur vom Licht des Standorts. Diese Beleuditung fällt in der Grotteske vollständig aus. Sie würde sich zeigen in tiefenräumlich gegebenen Teilgefügen, und zwar als Schatten, die in diese Teilgefüge weisen. Das plastisch gedachte Muster würde Schatten auf der Grundebene hervorrufen. Auch diese Schatten sind nicht vorhanden, — sie widersprächen dem Undefinierten Raum. In der ästhetischen Erscheinungsweise der Grotteske ist die Bewegung „abgeschnitten". Im Bereich des Kondensats hat die Form, ehe sie ihre anschaulichen Qualitäten verliert, auch keine Schwere. Nun ist zu vermuten, daß, ebenso wie die „Form als Form" (Kondensat) keine Bewegung und keine Schwere, der Undefinierte Raum kein Licht haben kann. ZUR ZEITLICHKEIT DER GROTTESKE So wie die Grotteske an zwei verschiedenen Gattungen der Bildenden Kunst orientiert ist und in einer seltsamen „Zwischenlage" existiert, in der sie aktuell kein Licht haben kann, ist sie auch in ihrer „Zeitlichkeit" von eigentümlicher Prägung, und von anderen Werken der Bildenden Kunst verschieden. Um die „Zeitstruktur" der Grotteske zu bestimmen, gehen wir von zwei Fragen aus: welche „Zeit" die Grotteske dem Betrachter „vermittelt", und: in welcher Weise in der Grotteske die drei Dimensionen des Zeitlichen zusammengeführt sind. Diese Fragen lassen sich nicht voneinander trennen, ebenso wie sie sich nicht von den Phänomenen der Bewegung, des Lichts und der Schwere trennen lassen. Die Seinsweise von Materie und Raum entspricht der Seinsweise der Bewegung als dem Bezogensein von Licht und Schwere. Die Zeit hängt im Ontischen über die Bewegung mit der Schwere und dem Licht zusammen. Nach Franz von Baader*1 gibt es drei Seinsweisen der Zeitlichkeit, die „wahre" Zeit, die „Scheinzeit" und die „falsche" Zeit, in denen die Abmessungen der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) in bestimmten Verhältnissen stehen: „.Alles Wesen ist in dei falschen Zeit in dei Vergangenheit' — wie, kommentieren wir, in der wahren Zeit alles Sein in der Gegenwart ist. ,Wenn die wahre Zeit' — heißt es bei Baader weiter — ,drei (integrierte) Abmessungen hat, die Scheinzeit deren nur zwei, so kann die falsche Zeit nur eine haben.' Oder anders gefaßt: Alle ,Abmes41
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Baader, Uber den Begriff der Zeit; Sedlmayr, Die wahre und die falsche Gegenwart.
sungen der Zeit' sind sozusagen aufgezehrt von dem Modus der Vergangenheit! In der falschen Zeit ist die Vergangenheit das, was immer vergangen ist, die Gegenwart, was immer vergeht, und die Zukunft das, was schon der Nichtigkeit und Vernichtung geweiht, immer vergehen wird. Weder Gegenwart noch Zukunft haben strikte Wirklichkeit. Wirklich ist nur das Vergangene, also — weil durch keine Gegenwart mehr am Leben erhalten — gerade das nicht mehr Seiende. Diese dritte Zeitlichkeit hat mithin den Charakter des Desintegrierten, des Heillosen, des Unseligen. In tantalischem Streben sucht sie zu einer Gegenwart zu kommen, aber dieses Streben ist nicht nur vergeblich, es ist Vergeblichkeit. — /Ausschließlich in der Vergangenheit zu existieren ist aber nach Baadeis tiefer Erkenntnis Unseligkeit, ja, es ist die zeitliche Seinsweise der ,Hölle'. ,Die Hölle ist, wenn man s c h o n n i c h t m e h r lieben kann' (Dostojewski)42." Vermutung Ist Doppelorientierung Strukturprinzip der Grotteske, so ist zu vermuten, daß dieses Prinzip audi die Zeitlichkeit der Grotteske bestimmt. In der Grotteske müßten zwei Abmessungen der Zeit sich gegenseitig so beeinflussen, daß sie sich in der „Ausgestaltung" vernichten. Weiter ist von vornherein zu vermuten, daß — ist Grotteske übersteigertes Ornament und Antinomie — die „Falsche Zeit" die Zeitlichkeit der Grotteske ist. Wir gingen von Phänomenen aus, besonders von solchen, in denen Doppelorientierung sich auswirkt, in denen Doppeldeterminationen vorhanden sind. Als hervorragende Phänomene dieser Art wurden das Gitter-Mobil, in dem anschaulich zwei Seinsweisen der Bewegung gegeneinander stehen und das Kondensat, in dem anschaulich zwei Realitätsebenen zusammengezogen sind, beschrieben. Diese Phänomene haben ihre Bedeutung nicht so sehr für die faktische Form der Grotteske als für die Wahrnehmung, — womit das betrachtende Subjekt in direkte „Mitleidenschaft" gezogen wird. Bewegung „Die vollendete Bewegung oder Veränderung des Lebens kreist in den drei Momenten des Ausganges, des Bestandes und des Wiedereingangs, oder mit anderen Worten: der Hervorbringimg (des Herabsteigens), der Erhaltung (Konservation) und der Wiederausgleichung (als Wiederaufsteigens)" (Baader). Wir gehen aus vom Phänomen Gitter-Mobil. Ein A u f s t e i g e n ist motivisch durch die Pflanze gegeben. Im gleichen Kompartiment wird, und zwar durch die gleiche Pflanze, ein H e r a b s t e i g e n ausgesagt. Die B e w e g u n g , sowohl im Aufsteigen als im Herabhängen, ist unterdrückt — in der Doppeldetermination ist die Bewegung g e h e m m t . Das unruhige Hin- und Herjagen der Motive ist ein S c h e i n : Die Bewegungen sind im Ansatz erstickt; an das Schema der 42
5*
Sedlmayi, op. cit. 57
Doppeldetermination gekettet. Die Motive sind ihrer Leiblidikeit entkleidet; mit der Leiblichkeit (Masse) ist die Schwere verloren, — jedoch ohne daß sich Lévitation ergibt. Versuchen wir in einer ersten Näherung die Transponierung der Erkenntnis Baadeis auf die Grotteske, um zu sehen, wie diese sich zur vollendeten Bewegung erhält, so ergibt sich, daß die drei Momente des Ausgangs, des Bestandes und des Wiedeieingangs nicht zusammen angelegt sind, daß nur die Momente des Ausgangs und des Wiedeleingangs vorhanden sind. Die Bewegung kann in diesen Momenten aber nicht k r e i s e n . Die momentanen Ansätze sind im Gitter-Mobil gehemmt, die Bewegung ist so aufgehoben,· a u f g e h o b e n heißt hier aber nicht, daß in einer Selbstbeschließung die Bewegung zur „Ruhe der vollendeten Bewegung" gekommen wäre, aufgehoben heißt, daß die Bewegung, die im Ansatz (Ausgang) gegeben ist, in diesem Ansatz, durch versuchten Wiedereingang, vernichtet ist. Dabei ist wichtig, daß die m o m e n t a n e n Ansätze im A n s a t z vernichtet sind. Werden die A n s ä t z e zur Bewegimg im Gitter-Mobil aufgehoben, das Bewegungsmoment also durch die Doppelorientierung in der Doppeldetermination g e h e m m t (was wesentlich zur Vernichtung der optischen Ebene und zur Konstitution des Kondensats führt), so ist in der „optischen Ebene der Grotteske" das Bewegungsmoment implizit. Kaum „gegenwärtig", ist die Bewegung des Details schon dem Verfall geweiht, indem ein anderes, das wiederum nur in Doppeldetermination mit ihm Bestand haben kann, sidi verselbständigt. Ist aber die „Einheit" der Grotteske erreicht, so erlischt spontan jede Bewegung. Das Hin und Her der Details und ihre Agilität sind ScheinBewegung, die sich nur einstellen kann in der Hinsicht auf D e t a i l s , wobei Doppeldetermination von untergeordneter Bedeutung für die Wahrnehmung ist: Ein Blick auf das Ganze fixiert jede Bewegung. Was sich in diesem Stadium darstellt, das Gitter-Mobil, ist nicht das letzte Wahrnehmungsgebilde. Das Gitter-Mobil selbst zerfällt in wesenlos-Geometrisches, in Qualitätsunabhängiges. Was das Moment der „Starre" aus einer unansdiaulidien Sphäre erfahren läßt. Schwere und Bewegung „Die Betrachtung der Bewegimg führt" (bei Michelangelo) „unweigerlich wieder zurück zur Erfahrung der Schwere. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen, weder im Erlebnis noch in der Beschreibung43." Nun haben wir schon festgestellt, daß in den Motiven der Grotteske keinerlei Schwere herrscht. Nicht nur die real möglidien Verhältnisse der Statik, nicht nur das Prinzip der Schwerkraft ist überdehnt: Die Masse der Bildgegenstände, ihre Leiblidikeit, ist ausgezehrt, die Wesen sind des Leibes als dem Schwerezentrum beraubt. Wo das mobile Moment in der Kettung an das Gitterige erstarrt, versprödet das ganze Gebilde. Dem entspricht die Wahl von grellen Farben, die im Zusammenklang 43
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Sedlmayi, Michelangelo, 23.
mit den Kondensationsflädien erkalten, erlöschen. Im Kondensat ,verblaßt' die Farbe — „entkeimt und zugleich vergiftet" — das Inkarnat der Figuren nimmt „Leichenfarbe" an. Mit der Leiblichkeit der M o t i v e , mit der Entstehung des Kondensats aber geht die Leiblichkeit der S t r u k t u r verloren. S c h e i n l e i b l i c h k e i t entspricht der Scheinbewegung. Chionophagie „Der Prozeß des Schaffens erreicht durch den wahren Künstler einen zeitfreien statischen End-Zustand, in dem am Kunstwerk nichts mehr geändert werden könnte, ohne das erreichte Gleichgewicht — welches die Ruhe hervorruft, und die Dauer garantiert — zu stören. Das bedeutet aber, daß sich das vollkommene Kunstwerk der korruptiblen Zeit entzogen hat . . . Wo dieses Vollkommenwerden nur intendiert, aber nicht geleistet wird, dringt die vulgäre Zeit als Langeweile und ,Eitelkeit' in jene Gebilde ein, die eigentlich an der wahren Zeit teilhaben sollten. Sobald das Kunstwerk sich von seinem Schöpfer abgelöst hat, ist es nun in der Geschichte und für die Geschichte da. Aber die Gegenwart seines Leibes ist dann nur mehr jene Scheingegenwart, von der wir anfangs gesprochen haben. Seine wahre Gegenwart erwartet es von dem, der fähig und würdig ist, ihm zu begegnen. Als geschaffenes Werk ist das Kunstwerk vergangen und hat nun in jeder Weise teil an der Vergänglichkeit. Um wahrhaft wirken zu können, muß es ,wahre Gegenwart' gewinnen, muß im Geiste wiedererschaffen werden. Dieses Wiedererschaffen ist von der ersten Schöpfung zwar graduell, aber nicht prinzipiell verschieden44." Diesem Wiedererschaffen, das der Ausgestaltung im Sehen bedarf, kann sich das Werk selbst entgegensetzen. Der Akt des Wiedererschaffens kann in Wirklichkeit Reduktion des Werkes auf Unwesentliches, Gleichgültiges, Langweiliges sein. Im Prozeß „negativer Selbstverfertigung" gibt sich das Werk als dem Kunstwerk antinomisch zu erkennen. Doch braucht im Rahmen eines größeren Ganzen ein solches Werk durchaus nicht sinnlos zu sein. In der Grotteske können Teilgefüge figuraler oder abstrakter Art eine gewisse „Dauer" haben: Momente wollen sich einprägen; indem sie aber an andere, zutiefst widersprüchliche gekettet werden, hält die Dauer nicht an. Das Auge wird von einem Motiv zu einem anderen geführt; was j e t z t sich anschickt Dauer zu gewinnen, zergeht sogleich mit dem Anblick des nächsten. Der A u g e n b l i c k , der im Kunstwerk anschaulich durchcharakterisiert wird und in den Teilen des Ganzen Dauer gewinnt, ist in der Grotteske flüchtig. Auch ein Kunstwerk wie die Decke der Sixtina kann nicht mit einem Augenblick erfaßt werden. Auch dieses Werk verlangt Anteil an der geschichtlichen Zeit, die „nebenher" abläuft. Das jedoch, was man gesehen h a t , verflüchtigt sich nicht, sondern wird in dem, was 44
Sedlmayi, Die wahre und die falsche Gegenwart. 59
man s i e h t , bestätigt und ergänzt, und beides läßt das, was man sehen w i r d , schon vorwegnehmen: die Dauer dessen, was man insgesamt wahrnimmt, läßt die geschichtliche Zeit, das was „nebenher" abläuft, vergessen. E i n anschaulicher Charakter hat seine Analogien in den Teilen. E i n anschaulicher Charakter führt alle Bewegungen (des Betrachters) in der vollendeten Bewegung (des Werkes) zusammen.
In der G r o t t e s k e stehen anschauliche Charakterisierungen in Antagonie: Dieser Teil, der gesehen w u r d e , wird von dem Teil, der gesehen wird, „aufgezehrt". Der Teil, der n o c h n i c h t wahrgenommen wurde, zieht, beide ersten verschlingend, den Blick auf sich. In dieser Ausgestaltung gibt es keine Bestätigungen, sondern lediglich Negierungen. Jedes neue Wahrnehmungsgebilde ist einem eigenen Augenblick verhaftet; jeder neue Augenblick bedeutet für die Struktur der Grotteske ein „Gefalle" bis zu einem letzten Augenblick, in dem sich der Charakter, den man zunächst wahrzunehmen vermeint, aufgelöst hat. Der Augenblick gewinnt keine Dauer, im Gefalle von Augenblicken erstarrt die Bewegung, fallen die anschaulichen Qualitäten bis zu einem Moment ab, in dem sich das Langweilige manifestiert. Die Bewegung wird in diesem Gefalle vernichtet; so ist in der Grotteske nicht nur vollendete Bewegung unmöglich, Bewegung überhaupt erlischt. Wo sie sich eingangs als das unruhige Hin und Her fluktuierender Agilität zeigt, handelt es sich nur um „Teile", nicht um die Grotteske selbst. Die „Bewegung der Grotteske" ist in der H e m m u n g . In der Hemmung manifestiert sich aber weder Gegenwart noch Zukunft. In ihr zeigt sich die Vergangenheit in ihrem Sterben. Das, was sich im ersten Eindruck als Bewegung zeigt, ist „Bewegung a u f " ; — ein Moment, mit dem Zukunft gesetzt wird. Wo die Starre eindringt, an welcher diese Bewegung sich voreilig orientiert, stehen dynamisches und statisches Moment n e b e n einander,· wo aber die G e g e n w a r t ausfällt — die durch die Neugier des Betrachters ausgeklammert ist — stehen diese Momente g e g e n e i n a n d e r und, wo sie sich vereinigen wollen, verzehren sie einander. Die Erscheinungsweisen, die sich im Sehen der Grotteske „ablösen", gehören zwei Seinsweisen der Zeitlichkeit an, analog jedem Kunstwerk. Was die Grotteske von ihrer Zeitlichkeit her von anderen Werken der Bildenden Kunst (und, das wäre gesondert zu zeigen, von allen Gattungen der Kunst) unterscheidet, sind die S e i n s weisen. Das große und hohe Kunstwerk gehört der Scheinzeit und der wahren Zeit zu. Wie alles Existierende lebt es in der geschichtlichen Zeit; — im Wiedererschaffen offenbart es seine „wahre Gegenwart" und läßt den Betrachter an der „wahren Zeit" teilhaben. Die Grotteske gehört der Scheinzeit und der falschen Zeit zu. Auch ist sie an die Bedingung der geschichtlichen Zeit gebunden; und diese Zeit zeigt sich in der Scheinbewegung des ersten Eindrucks, der Unruhe etc. Wo sich die Grotteske ausgestaltet, d. h. das Moment der Starre dominant wird, 60
das Kondensat wirksam ist und die anschaulichen Qualitäten „abfallen", manifestiert sich die falsche Zeit. Die Scheinzeit zeigt sich in dem P r o z e ß der „negativen Selbstverfertigung", die falsche Zeit in dem P r o d u k t . Was die Grotteske von hohen Kunstwerken unterscheidet, liegt auch in der Erfahrung, die im Sehen gewonnen wird, Dauer gewinnt und sich zu einem Beglückenden verdichtet. Diese „Katharsis", die von jedem Kunstwerk erreicht wird, leistet die Grotteske nicht. „Gerade am Beispiel des Dramas wird dabei klar, daß in solchem Kunstwerk sehr wohl Vergänglichkeit, ,Eitelkeit', Schuld, Sorge, Geworfenheit und Entschlossenheit g e z e i g t werden kann, daß aber diese Elemente der existenziellen Zeitlichkeit a u f gehoben sind und ihren Lastcharakter verloren haben, indem sie in der Seinsweise der inkorruptiblen Zeit gezeigt werden. Daher die Katharsis, das Abwerfen des Bedrückenden, die das dramatische Kunstwerk leistet. Nicht aber das „ungeleistete", das schlechte Kunstwerk dieser Art, zum Beispiel ein schlechter Film . . . , bei dessen Abspielen ja rein faktisch gleichfalls Zeit verstreicht, aber die Transsubstantiation der vulgären Zeit in die höhere Zeitregion nicht geleistet wird und daher eine Katharsis auch nicht eintritt, sondern nur Neugier und Langeweile 45 ." Wo die Grotteske die vulgäre Zeit — und so den Betrachter — in eine n i e d e r e Zeitregion „bringt" zu sagen, daß sie ein ,schlechtes Kunstwerk' sei, ist nicht gerechtfertigt. Jedoch kommt es auf die Funktion an, welche ein solches Werk (das die vulgäre Zeit in eine niedere Zeitregion bringt), in einem Insgesamt hat. Nur für sich, als selbständige Schöpfung, ist die Grotteske ein ungeleistetes Kunstwerk. Die C h r o n o p h a g i e , die sich in dem Sich-Selbst-Vernich ten der anschaulichen Qualitäten zeigt, führt zur Manifestation der „dritten Zeitlichkeit": „alle ,Abmessungen der Zeit sind sozusagen aufgezehrt von dem Modus der Vergangenheit'" 48 , was sich darstellt in dem Fragmentarischen des Motivs, dessen Künstlichkeit im Sehen an eine unerträgliche Grenze geführt wird. „Bei längerem Betrachten wirkt die forcierte Witzigkeit dieses Ornaments quälend" (P. Meyer). „ZENTRUM" DER
GROTTESKE
Bewegung, Zeitlichkeit und Licht in ihren Wechselbezügen, die angerührt wurden, bieten die Möglichkeit, die Grotteske auf ihre Stellung im Ganzen der Bildenden Kunst hin zu betrachten. Dabei ist uns besonders wichtig zu sehen, was das Vermittelnde zwischen den Gattungen, und zu erkennen, was die „Mitte" der Grotteske ist.
„ Z e n t r u m " der P e r i p h e r i e „Nicht mit Unrecht ist öfter die Bewegung des Lebens in der Schein-Zeit mit der peripherischen Bewegung verglichen worden, indem diese nur entsteht, wie man weiß, 40
Sedlmayi, op. cit. 6i
weil weder die Macht, welche das Zentrum (die Einheit) bejaht oder setzt, nodi die entgegengesetzte Macht, welche es (sie) verneint, imstande ist, sidi ausschließlich geltend zu machen. Dieser im organischen und nicht bloß mechanischen Sinne aufzufassende Vergleich würde weit unterrichtender geworden sein, wenn man wohl erwogen hätte, daß die Begriffe des Zentrums und der Peripherie hier in ihrem gegenseitigen Bezug zu einem und demselben organischen Systeme zu nehmen sind. Denn in einem solchen bewirkt nur die Ruhe, das Gesetztsein (le posement) des Zentrums die freie Bewegung in seiner Peripherie (in seinem Äußeren), weil jede Bewegung nur aus dem Unbeweglichen hervorgeht, wie nur durch die Nichtruhe dieses Zentrums (d.h. seine Öffnung oder sein Verschwinden) die Q u a l der H e m m u n g der f r e i e n B e w e g u n g " (Franz v. Baader, 24). Die Bewegung des Lebens in der Schein-Zeit wird von Baader mit einem Zentrum so in Zusammenhang gebracht, daß die peripherische Bewegung von dem Gesetztsein des Zentrums abhängig, daß die f r e i e Bewegimg auf die R u h e des Zentrums verwiesen und angewiesen ist. Ist das Z e n t r u m geöffnet, so verliert die peripherische Bewegung ihre Freiheit, die N i c h t r u h e des Zentrums bewirkt die „Qual der Hemmung der freien Bewegung". Peripherie und Zentrum stehen so in einem Verhältnis, in dem sie einander bedingen. „Der Gedanke, daß das Verschwinden des Zentrums durch Öffnung eines Verschlossen-bleiben-sollenden (weil jede Manifestation durch eine ihr entsprechende Okkultation bedingt ist) geschieht, verdient sorgfältig aufgefaßt zu werden" (Franz v. Baader, 24). Z w e i Zentren stehen in einem Verhältnis, von dem die B e w e g u n g (überhaupt die Erscheinungsweise) des Wesens abhängig ist. Baader spricht von „Doppelheit des Zentrums". Wie kann diese Doppelheit des Zentrums für die Grotteske (bzw. für das Ornament) thematisch sein? Was bedeutet für das Werk der Bildenden Kunst Doppelheit des Zentrums? Der Grundkonzeption nach haben wir die Doppelheit im System der Gattungen, im „ordo" der Bildenden Kunst zu suchen. Die Gattungen sind auf Aktualisierung der Dimensionen des Architektonischen gerichtet. So stehen alle Gattungen der Bildenden Kunst zu einer Einheit zusammen. Für das Ornament können wir das e r s t e Z e n t r u m in der Einheit von Ornament und Gattungen sehen. Das z w e i t e Z e n t r u m sehen wir in der spezifischen Beziehung des Selbst der einzelnen Gattung und dem Architektonischen, im Falle des Ornaments in der Beziehung von ornamentaler Form und der ersten Dimension des Architektonischen, der stofflich bestimmten Oberfläche des Trägers. Von der Verfassung des e r s t e n Zentrums hängt die des zweiten ab: Die Einheit des Beziehungsgefüges aller G a t t u n g e n ist korrelativ der Einheit der Gestalt des einzelnen W e r k e s der Gattung. Sind also Architektur, Bild, Plastik und Ornament 61
in einer bestimmten Ordnung, ist das e r s t e Zentrum gewahrt, so kann sich das zweite Zentrum in möglichster Vollendung entfalten. Zentrum des Ornaments wäre die Einheit der Kunst, sein Erscheinungsbild die Peripherie. „ Z e n t r u m " der G r o t t e s k e Mit der G r o t t e s k e ist in der Bildenden Kunst eine Form existent, die sich an einer „Grenze" befindet. Sagen wir an der Grenze des Ornaments, so ist das von einem Imperfectum, vom Ornament her gesehen, das nur als „Rest" in der Grotteske ist. Sehen wir sie als Grenze, zum B i l d , so ist das von einem Futurum her ausgesagt. Beide, Imperfectum und Futurum, sind (stückhaft) an der Grotteske beteiligt, ohne daß eine Dimension des Architektonischen voll aktualisiert würde. Die kategoriale Struktur des Ornaments ist n i c h t m e h r , die des Bildes n o c h n i c h t verwirklicht. Die Grotteske verwirklicht so keine der Grundstrukturen, die für die Bildende Kunst gattungsbildend sind. Von ihrer Erscheinungsweise her ist sie auf dem Weg zur Lösung vom Träger, was Lösung des Bezugs zur Architektur heißt. Ihre Form ist absolut, und gegen den Träger (der sich als Undefinierter Raum darstellt) verfremdet. So ist in der Grotteske das Band, durch welches Ornament und Insgesamt der Kunst zusammenhalten, abgeschnitten,· das erste Zentrum ist geöffnet: die Spannung zerrissen, dodi soweit gehalten, daß es nicht zu einem neuen „zweiten" Zentrum kommt; die Bildwertigkeit wird durch den ornamentalen Rest verzehrt. Das Zentrum des Wesens des Ornaments, Einheit von ornamentaler Form und Träger, hat sich geöffnet, was sich darstellt in der Wandlung des Aggregatzustandes des Trägers. Dieser Öffnung eines Verschlossen-bleiben-sollenden entspricht die Schließung eines Offen-bleiben-sollenden: die Bewegung der Grotteske ist in der „Qual der Hemmung der freien Bewegung". „Der Gedanke, daß das Verschwinden des Zentrums durch Öffnung eines Verschlossenbleiben-sollenden (weil jede Manifestation durch eine ihr entsprechende Okkultation bedingt ist) geschieht, verdient sorgfältig aufgefaßt zu werden. Eben diese Öffnung dieses Feuers, welche alle Substantiation vernichtet,... ein Feuer, welches m a n auch das zehrende Feuer der Angst und des Abgrundes genannt hat, weil jedes Wesen, welches sein Zentrum verloren hat, sich entgründet zeigt. Übrigens wird nur das in der Folge . . . Vorgetragene ganz verständlich machen, warum die Entgründung eines Wesens durch die Öffnung seines Zentrums geschieht, weil nämlich diese Öffnung eines Verschlossen-bleiben-sollenden nur durch die Verschließung desjenigen möglich ist, welches offen bleiben soll, das heißt durch die Verschließung eines anderen Zentrums oder des Lebens dieses Wesens. Das erste Zentrum nannte Jacob Böhme das Zentrum der Natur; und ihm verdanken wir die vollkommene Kenntnis der Doppelheit des Zentrums eines jeden Wesens." (Fr. v. Baader, a. a. O.)
In der Grotteske ist die Einheit von ornamentaler Form und Träger verloren. Das erste Zentrum ist geöffnet, das zweite dagegen verschlossen: Die Öffnung des ersten 63
Zentrums manifestiert sich in dem Phänomen des Undefinierten Raumes, die Verschließung des zweiten Zentrums (oder des Lebens des Ornaments) in der Erstarrung der Bewegung. In der Grotteske sind zwei Seinsweisen der Zeitlichkeit manifest: S c h e i n z e i t und f a l s c h e Zeit. Diese führen in der f a l s c h e n Gegenwart zusammen, mit deren Konstitution sich die „Intention" der Grotteske erfüllt48. Z U R „INTENTION" DER
GROTTESKE
Die Ergebnisse unserer Näherungsbestimmungen weisen vor allem auf ein Zentralphänomen: In der Grotteske gibt es kein Licht und keine Schwere. In der Struktur dieser Bezogenheit muß das „Zentrum" der Grotteske, ihre Intention47 begründet sein. L i c h t , so wurde festgestellt, gibt es mit dem Undefinierten Raum nur als P o t e n z , — vom Ornament aus gesehen ist ihm die Grotteske g e ö f f n e t , von der Malerei her ist es reduziert. S c h w e r e ist im Gitter-Mobil ebenso aufgezehrt, wie jede Bewegung mit dem Phänomen des Gitter-Mobils erstirbt. Die Grund-Relate des O r n a m e n t s sind in der Grotteske soweit ihrer Qualitäten verlustig gegangen, daß das Gebilde gerade noch ornamental ist, von der Malerei her besitzt die Grotteske gerade schon soviel Qualitäten, daß sie bildwertig ist. In Wirklichkeit aber ist die Grotteske weder Ornament noch Bild. Postulieren wir, daß die Einheit von Licht und Schwere Wesensverwirklichung ermöglicht, deren Integration also kategorial ist für Bildende Kunst, so ist in der Grotteske Verwirklichung überhaupt unmöglich. Der Undefinierte Raum ist Licht als Licht, nicht aber ein „Lichtes", der Raumwert bedeutet „Raum als Raum", der Undefinierte Raum ist nichts „Räumliches". Analog steht die Bewegung in der Grotteske als Bewegung, daneben Schwere als Schwere. Wo die Durchdringung in der Ausgestaltung verhindert ist, entsteht das Gitter-Mobil, in dem die anschaulichen Qualitäten „sich sammeln", das selbst aber keinerlei anschauliche Qualitäten halten kann. Es zerfällt der Wahrnehmung in der Ausgestaltung im Sehen; nur auf sich bezogen, hat es alle Schwere in sich und ist gleichzeitig entleert. Die Leiblichkeit des Gebildes ist in der Überheblichkeit des Grottesken-Anspruchs „verwirkt", das Gebilde, aus Doppelorientierung produziert, entleiblicht sich in der Wirksamkeit der Doppeldetermination selbst. Betrachten wir die Grotteske von den Gattungen „Ornament" und „Bild" her, so müßte dem Raum als Lichtes (sollte mit der Ubersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments das P r o d u k t dieser Ubersteigerung nicht „grottesk" sein), das figurale Gefüge als ein Schwerseiendes entsprechen. 46 47
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Hier erfüllt sich die Intention der Grotteske a l s G r o t t e s k e . Vergi. Anhang S. 187.
Die Realisierung der Bildtendenz der Grotteske, die durch die Pseudo-Symmetrie gehemmt ist, würde die Öffnung des Zentrums des Ornaments wieder aufheben. Der Lichtreduktion des Undefinierten Raumes entspricht die Un-Schwere der Bildgegenstände. Was in dem Gebilde „Zeit" und „Dauer" setzen könnte, die Schwere, hat keinen Träger: Die Dinge in der Grotteske sind „entleert". Dem Raum als Raum ist der Ornamentkörper, dem Licht als Licht das Gitter-Mobil zugeordnet. Damit haben wir eine neue Bezugsebene in die Betrachtung eingeführt: Daß der Ornamentkörper, die Form des invertierten Grotteskenmusters, dem Raum als Raum entspricht, ein Bezug, der sich im Sehen ausdifferenziert und ein qualitätsunabhängiges Wahrnehmungsphänomen produziert, in dem das Licht nicht nur reduziert, sondern absolut reduziert ist, das invertierte Muster selbst der Reduktion auf WesenlosGeometrisches verfallen ist. Der Undefinierte Raum hat nadi unseren Ausführungen drei „Erscheinungsweisen", die der ästhetischen Erscheinungsweise der Farbe als Körperfarbe, Flächenfarbe und Raumfarbe analog sind. Die Erscheinungsweise des gegenstandfreien weißen Grundes verläuft in der Richtung von „Flächenfarbe" auf „Raumfarbe", wobei die Körperfarbe von untergeordneter Bedeutung ist. Für die „Intention" der Grotteske, einem „Drängen nach Ausgestaltung", das in der Struktur angelegt ist, wird nun die Korrelation wichtig, in der sich die Erscheinungsweisen des gegenstandsfreien Raumgrundes und die entsprechenden Erscheinungsweisen des Grottesken-Musters befinden. Im Produkt der Ausgestaltung im Sehen, mit dessen Konstitution sich die Grotteske als Grotteske darstellt, sehen wir das Intentionszentrum. Die Intention der Grotteske hat sich dort erfüllt, wo, in der ,Relation' von Ornamentkörper und Undefiniertem Raum (als „Raum als Raum"), sich „das Grotesque" zeigt. Für die Wahrnehmung gibt es jenseits der bisher beschriebenen „Stufen" eine weitere, die sich nur aus dem Strukturzusammenhang der Loggien darstellen läßt. In einem neuen Ansatz soll versucht werden, die Ausgestaltung der Grotteske akzentuierend zu beschreiben. Verdichten sich im Sehen eines großen Kunstwerks die anschaulichen Charaktere, wobei zunächst Wahrgenommenes immer gestalthafter („dichter") wird, so ist in der Grotteske gerade das Gegenteil der Fall. Anschauliche Charaktere, die zunächst wahrgenommen werden, beeinflussen sich so, daß sie ihre Eigenqualitäten mehr und mehr verlieren. Auch hier prägt das Prinzip der Doppelorientierung die Grotteske. Wir gehen aus von Eigenschaften, die in der Grotteske nebeneinander stehen, nacheinander erlebt werden, in diesem Nacheinander sich gegenseitig beeinflussen und im Zugleich, in der Konstitution des Gitter-Mobils, die optische Ebene zerstören. M i t der Konstitution des Gitter-Mobils ist dabei ein (dialektischer) Punkt erreicht, wo das Gitter-Mobil selbst zerfällt. Die Eigenschaften fallen ab, mit der Konstitution des qualitätsunabhängigen Omamentkörpers erfolgt ein „Hinweis" auf „etwas" außerhalb der Grotteske48. 48
Dazu S. 83 fí.: Die Grotteske ist Dialektikum.
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Es wird versucht, den Ablauf von Prozeß, Produkt und Wirkung „negativer Selbstverfertigung" in seiner Beziehung zu Licht, Schwere, Raum und Zeit und in seiner Bedeutung für die Leibbezogenheit zu betrachten. Die Problematik wird, nachdem die Anschaulichkeit des Mobilischen und des Gitterigen sowie des Gitter-Mobils rekapituliert und ergänzt wurden, auf die des Raumes bezogen. Z u r A n s c h a u l i c h k e i t des M o b i l i s c h e n Als Grundelemente der Struktur wurden stucchi, Farbigkeit des Musters, Motive, weißer Grund u. a. beschrieben. Sie befinden sich in dem hohen Rechteck der Pilasterspiegel nebeneinander und sind nur lose miteinander verbunden, gestalten aber, wo sie sich ,verbinden', das Ganze entscheidend aus. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß in der Wahrnehmung der Doppeldeterminationen das Wahrgenommene umgedeutet wird; die Teilgefüge, zunächst beziehungslos nebeneinander, werden voneinander abhängig. Diese Abhängigkeit ist z u n ä c h s t eine lose : Die Motive sind durch d ü n n e F ä d e n verbunden, s c h w e b e n d ; ein u n r u h i g e s Flackern durch w e b t das Kompartiment und bewegt den Betrachter, das N e b e n e i n a n d e r der i n s i c h b e w e g t e n , a g i l geschichteten vertikalen Motivstaffel, die an der Linie des ,aufgeschlitzten Rückgrats' hochklettert, herabhängt, f i b e r i g s p r i e ß t , die hängenden festoni, flatternden Falter, das Geflügelte, die Insekten, das Fädige und Spulige, giftiges Stichgrün, Vitriol, die transluziden Farben, als o s z i l l i e r e n d e s feines Gewebe, als ein i r i s i e r e n d e s Farbglas, als eine zarte Bewegung zu erfassen. Die Bewegung wird aber rasch verwirrend. Das Nebeneinander wird zum Durcheinander, die Motivstaffel zur Motivflucht, zum Unbeständigen, bloß Bewegten. Die Bewegung wird hektisch, irritierend, das Giftige drängt sich vor, die Monstren werden agiler, aktiver; das Gelb dringt ins Schweflige, das Grün des Schilfigen wird unerträglich und gleichzeitig träge. Die Bilder ziehen sich zusammen, dehnen sich, das Rot wird branstig, flackert, Gelb mischt sich mit Grün. Der weiße Grund wird in der ersten Wahrnehmung als ein oberflächig bestimmter Hintergrund gesehen; — jetzt tritt er zurück, die Erscheinungsweise der Flächenfarbe annehmend, eine unbestimmt entfernte, indifferente Raumfolie, die zergeht, zerfällt, mürbe wird, — hin und wieder zeigt sie sich als stumpfflimmernde Trübe, immer aber dem Aktionsbereich des Motivischen ausweichend, stattgebend, Platz machend, und ermöglicht so die Aktivität, Agilität, die Metamorphose des Falliblen. Die Rahmung tritt zurück, das Muster kondensiert vom Gegenständlichen her, das Tektonische wird vom bloß Mobilischen, das auch noch das Kondensat beherrscht, ausgeschieden, der Blick, der diesen Prozeß verfolgt, verwirrt sich, verliert sich in ihm. Die Richtungsangaben (Symmetrie, Rahmen, Horizontal- und Vertikalbestimmungen im Motivischen) haben im ersten Eindruck keine Bedeutung; das Mobilische läßt das Gegebene im Nacheinander von Bewegungsaspekten erfahren, ohne Richtung. 66
Z u r A n s c h a u l i c h k e i t des G i t t e r i g e n Neben das Mobilische tritt sehr rasch das Gitterige: Der Eindruck wird mitbestimmt von Spiralig-Fädigem, dem starren Gerüst, Spalier und Gewinde, das, für sich, n e b e n dem Mobilischen steht, doch seinen Einfluß übt a u f das Mobilische, das in der Verbindung mit dem Sperrigen, Spitzigen, Drahtigen, Stieligen, dem Sparrigen und Spröden, Spindeligen und Spilligen, Gestelzten und Spreitigen zunächst ans Fragile herangeführt wird, aus dem es sich larvig und lauchig ins Pilzflechtige verstockt. Das Aufgezäunte des Ganzen, das Stängige, die Fächer und Fackeln, das Gefräse und Holz-Geschweife der Täfelchen, die Masken und Termen, die Versatzstücke unbestimmter und unbestimmbarer Herkunft ,färben' auf das Irisierende des Mobilischen ,ab', das, gewissermaßen in einer ,letzten Bewegung', verfällt und vom Gerüst des Gitterigen aufgefangen und versprockt wird. Das Fiberige der Vertakelungen wird zum Fädigen, Agilität zur Maske, Gift zum Fahl, Ziefer zur Larve, Oszillieren zur Spreitung, Irisieren zum Spalen. Der weiße Grund tritt intensiver in Erscheinung. Je mehr die Gegenstände „erlahmen", desto heller wird der Grund, ohne die Erscheinungsweise der Flächenfarbe einzubüßen. Ein kurzer Augenblick, in dem er sich als Oberfläche darstellt, wird in der Konstitution des Gitter-Mobils aufgehoben. Z u r A n s c h a u l i c h k e i t des G i t t e r - M o b i l s Gitterig und Mobilisch stehen in der Grotteske zunächst nebeneinander, Eigenschaftsstücke, die als Stückwert nacheinander erlebt und in diesem Nacheinander aneinandergekettet werden. Bilder im Bilde, Plaketten, kleine Szenen, einzelne gemalte Motive können für sich betrachtet werden. So haben diese Stücke e i g e n e n C h a r a k t e r . Stückhaft nebeneinander je eigenen Charakters, bewirkt die Wahrnehmung im Nacheinander von n- Stücken die Veränderung der Eigencharaktere. Das Wahrgenommene wird in einer ersten Sukzessiv-Wahrnehmung mit Gitterigem verpilzt, flechtig, um zu versprocken. Das spröde Moment, das dabei durchwirkt, läßt das Spreitige stärker werden. Das Oszillieren wird zur Spreitung. Damit sind die Voraussetzungen gegeben, daß sich das Plaque konstituiert. Gemalte Formen treten mit den stucchi zusammen, oberflächendidite Teile treten stärker hervor, das Opake dominiert das Transluzide, die Terme den Papillon; Bewegung (des Falters) und Ruhe (der Herme) werden gegeneinander verbunden, in der Starre der Terme zusammengeführt. Die Opferschalen brennen nicht mehr, qualmen, ersticken. Die Erdstege trocknen zu Luftplaggen. Das Symmetriegerüst hemmt die Bewegung, die Gegenstände kondensieren kalt. Das Kondensat erweist sich hier als Produkt der Pseudo-Symmetrie. Das Mobilische wird vergittert, ohne daß das Gitter fest, gefügt, dauerhaft wäre. Das Gitter-Mobil konstituiert sich in der gehemmten Durchdringung aller Elemente, 67
die i n der Konstitution die Eigenschaften verlieren. Das Gitter-Mobil, ein greifbares Phänomen der Wahrnehmung, ist von äußerster Fragilität: Das Zugleich aller in der Grotteske gegebenen Stücke, die Simultanwahrnehmung, führt in ihm zusammen. Die neben- und nacheinander wahrgenommenen Elemente sind in dem Zugleich der Wahrnehmung in einen eigenartig zerbrechlichen Zustand aggregiert, in dem das Grotteskenmuster der Erscheinungsweise des gegenstandsfreien Grundes als Raum korreliert ist. Diesen Punkt des Erlebens (der für die Zeitstruktur von entscheidender Bedeutung ist) bezeichneten wir als „dialektischen" Punkt: Hier i s t die optische Ebene zerstört, hier der Punkt, wo das Gitter-Mobil seine anschaulichen Qualitäten verlieren und der gegenstandsfreie Raumgrand als „Raum als Raum" erscheinen kann. „Negative Selbstverfertigung" Dieser Prozeß der Ausgestaltung der Grotteske ist ein Prozeß „negativer Selbstverfertigung": Anschauliche Charaktere, die der Grotteske im Ansatz eignen, werden in dieser Ausgestaltung so gegeneinander gestellt, daß sie ihre Qualitäten verlieren. Was sich im großen Kunstwerk verdichtet, sich immer dichter darstellt, vernichtet sich in der Grotteske. Dem P r o z e ß der negativen Selbstverfertigung, der sich b i s zum Gitter-Mobil ausspielt, entspricht die Erscheinungsweise des weißen Grundes als Flächenfarbe,· dem P r o d u k t der Undefinierte Raum in seiner Dimensionalität: Raum als Raum. Dem Prozeß ordneten wir die Schein-Zeit zu. In ihm sind zwei Erstreckungen der Zeit aktuell: Vergangenheit und Zukunft, die sich gegenseitig verzehren, wobei es nicht zu einer Gegenwart kommt. Dem P r o d u k t versuchen wir die falsche Zeit zuzuordnen: In ihm ist nur eine Erstreckung aktuell: die Vergangenheit, in der alles „verschwindet". In der falschen Gegenwart, die sich hier manifestiert, sind die widerstrebenden Momente des Zeitlichen nicht aufgehoben, nicht integriert, sondern „aufgefressen". Z u r „ W i r k u n g der n e g a t i v e n S e l b s t v e r f e r t i g u n g " Die Intention der Grotteske hat sich erfüllt, wo sich das Grotesque zeigt. Wir versuchen zu sehen, in welchen Eigenschaften der Struktur der Grotteske es begründet ist, daß, wo das Gitter-Mobil zerfällt, in der Korrelation von Ornamentkörper und „Raum als Raum", sich das Grotesque zeigt. Das Grotesque als „Wirkung negativer Selbstverfertigung" ist mit der Erscheinungsweise des Raumes eng verbunden, und darüber hinaus mit der Erfahrung des Bewußtseins von Eigenbewegung (Kinästhese). Das heißt, daß in einer spezifischen Leibbezogenheit der Grotteske das Grotesque begründet ist. Es käme also darauf an zu sehen, wie der „ganze Mensch" auf die Grotteske reagiert. 68
„Lächerliche Giotteske" Für die Wirkung der Grotteske auf den Betrachter sind zunächst jene Quellen von Bedeutung, welche sie als lächerlich bezeichnen. Die Definition des Lächerlichen, von der wir im folgenden ausgehen, entnehmen wir Sulzers „Theorie der Schönen Künste", einer Schrift, welcher der Surrealismus nodi nicht so auf den Leib gerückt war, daß sie die Grotteske als „forciert witzig", der das Schöne nicht so fraglos war, daß sie die Grotteske als „heiter" hätte bezeichnen können49. „Die Dinge, worüber wir lachen, haben allemal nach unserem Urtheil etwas ungereimtes, oder etwas unmögliches, und der seltsame Zustand des Gemüths, der das Lachen verursachet, entsteht aus der Ungewißheit unseres Urtheils, nach welchem zwei widerprechende Dinge gleich wahr scheinen. In dem Augenblicke, da wir urtheilen wollen, ein Ding sey so, empfinden wir das Gegentheil davon, indem wir das Urtheil bilden, wird es auch wieder zerstört" (I, 103). Die Definition gibt präzis die Wirkungsweise der Grotteske wieder, wie wir sie zu bestimmen versuchten. „In dem Augenblicke, da wir urtheilen wollen, ein Ding sey so, empfinden wir das Gegentheil davon" — das heißt: das Urteil über das im Proz e ß Befindliche ist einer dauernden Widersprüchlichkeit verfallen. „Indem wir das Urtheil b i l d e n , wird es auch wieder zerstört" . . . Nun heißt es bei Sulzei weiter. „Man lacht beim Kützlen über die Ungewißheit, ob man Schmerzen oder Wollust empfinde; bei seltsamen Taschenspielerkünsten, weil man nicht weiß, ob das, was man sieht, würklich oder eingebildet ist. Wenn ein Narr klug, ein junger Mann alt, ein furchtsamer Hase beherzt thut; oder wenn einer etwas sucht, das er in der Hand hat; so fühlen wir uns zum Lachen geneigt, weil wir Dinge beysammen zu sehen glauben, die unmöglich zugleich seyn können . . . Nichts ist wunderbarer und überraschender, als daß man zwei einander gerade entgegengesetzte Handlungen zugleich thun, daß man zugleich ja und nein sagen soll. Dieses scheint man doch in den erwähnten Fällen zu thun, und daher kommt das Belustigende in der Sache, wenn sie blos als ein Gegenstand der Neugierde betrachtet wird." Das bedarf in Hinsicht auf die Grotteske keiner weiteren Besprechung. Gitterig und Mobilisch können nicht zugleich sein. Was räumlich getrennt ist, kann nicht gleichzeitig in Erscheinung treten. Geschieht diese Erscheinung als Täuschung, so reizt sie zum Lachen. „Das Lachen hat seinen Grund blos in der Vorstellungskraft, in so fern sie die Beschaffenheit der Sachen als einen Gegenstand der Neugierde beurtheilet: so bald das Herz daran Antheil nimmt, hört das Lachen auf. Ich habe bei der unvermutheten Erscheinung einer Person, die man hundert Meilen entfernt glaubte, ein lautes Lachen gehört, das bald den Thränen der zärtlichsten Freude Platz machte. In dem ersten 48
Sulzer, Allgemeine Theorie. 69
Augenblick der Erscheinung würkte blos die Vorstellungskraft, die das Seltsame und Unmögliche der Sache fühlte, daß eine Person a b w e s e n d und doch g e g e n w ä r t h i g seyn sollte. So bald die wirkliche Gegenwart entschieden, und das Ungewisse verschwunden war, überließ man sich den Empfindungen des Herzens. Also dauert das Lachen, so lange die Ungewißheit dauert, und so lange die Sache räthselhaft ist" (Sulzer, ibid.). Das Lächerliche bezieht sich so nicht allein auf die Unmöglichkeit eines Dinglichen, sondern vor allem auf die Unmöglichkeit, daß zwei Dinge gleichzeitig sind, denen man räumliche Differenz zudenkt. Gleichzeitige An- und Abwesenheit ist dem Bewußtsein unerklärlich. Sobald nun die wirkliche Gegenwart über die Erscheinung Bescheid hat, überläßt man sich den „Empfindungen des Herzens" oder dem Intellekt. Jedenfalls hört das Lachen auf. „Darum belustigt sich kein Mensch mehr an den seltsamsten Taschenspielerkünsten, so bald er weiß, wie es damit zugeht; darum lachen einige Menschen über Dinge, wobey andere völlig gleichgültig bleiben; die Lacher haben nicht Scharfsinn oder Aufmerksamkeit genug, das Räthsel aufzulösen, oder die Ungewißheit zu heben. Deswegen wird schon eine künstlichere Verwicklung der Sachen gefordert, scharfsinnige, als einfältige Menschen lachen zu machen" [Sulzer, ibid.). (Diese Aussagen Sulzeis führen in eine andere Problematik, die uns hier nicht beschäftigen kann: Die Grotteske als capriccio. Grotteske und capriccio gehörten derselben intentionalen Schicht an.) Das Lächerliche der Grotteske hat einen spezifischen Bezug auf „Leiblichkeit". Es gehört der ersten Erscheinungsweise der Grotteske zu, in der die Intention sich e n t w i c k e l t , dem P r o z e ß negativer Selbstverfertigung. Ist das „Zentrum" erreicht, so erlischt spontan das Lächerliche. Dieses Zentrum aber ist e r r e i c h t , wo Ornamentkörper und Undefinierter Raum völlig spannungslos, absolut gegeneinander verfremdet sind. In dieser Situation entspricht die Gleichungsseite „Ornamentkörper" der anderen Seite der Gleichung nicht, die beiden Seiten werden i d e n t i s c h . Mit dieser Identität zerfällt nicht nur das Lächerliche, sondern die Anschaulichkeit. (Jean Paul: „Der kalte Fontenelle sagte einmal mit einer Allegorie, welche zwei gleichbedeutende Metapher für zwei ungleiche Ideen hielt, ein Nichts . . . " (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, II, 32). Dieses „Nichts" gestaltet sich aus, wo in der Grotteske zwei Glieder identisch werden, eine Identität, die nicht a priori gegeben, vielmehr das Produkt der Doppeldeterminationen ist. Zum Prozeß der Wirkung Die Wirkung der negativen Selbstverfertigung der Grotteske verläuft in einem Prozeß, der zusammenfassend beschrieben werden kann. A. Das erste ist der Eindruck des Mobilischen, des Bewegten, dem der Betrachter folgt.
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Die Menge der Details ist erst anflutend, dann werden einzelne Motive wahrgenommen, als jeweils nebeneinander vor weißer Grundfläche. Das Gitterige dringt ins Erleben, das Mobilische verpilzend etc. Der weiße Grund wird zur seichten Trübej Flächenfarbe. Das Mobilische wird fach, giftend, der weiße Grund zur seichten Raumschicht. In diesem Stadium kann die Grotteske lächerlich wirken. Das „Unmögliche" und „Erlogene" ihrer Gegenstandswelt treibt sein Unwesen, die Doppeldeterminationen pressen sie noch nicht ins Schema. B. Sobald diese Doppeldeterminationen ins Bewußtsein dringen, bekommt das Gitterige mehr Macht. Das Stängige versprockt, der weiße Grund zerfällt als „stumpfflimmernde Trübe". Gitterig und Mobilisch verstocken, der erste Eindruck wird vernichtet, verliert zunächst das Irisierende, wird irritierend, immer mehr der Bindung verfallend. Der weiße Grund tritt als Fläche in Erscheinung, seltsam kalt. Das Plaque dominiert, Gitterig und Mobilisch kondensieren, das Gitter-Mobil entsteht. C. Der Prozeß ist mit der Konstitution beendigt, das Gitter-Mobil stellt ein Datum zwischen Beendigung des Prozesses und Konstitution eines endgültigen Produktes dar. D. Diese Situation der Manifestation des Produktes der Grotteske ist augenblicklich. Die Wahrnehmung der Identität von Undefiniertem Raum und Ornamentkörper ist ein dialektischer Punkt, eine „Spitze", an welcher der Umschlag erfolgt: Im Prozeß werden die Seiten der Gleichung einander identisch, im Produkt sind sie es. Hier ist der Punkt, wo die Gleichung dem B e t r a c h t e r gleichgültig ist. Das Lächerliche fällt ab, „bei längerem Betrachten wirkt die forcierte Witzigkeit quälend"; wo dieser Standpunkt erreicht ist, hat die Grotteske ihre Macht verloren. Z U R W I R K L I C H K E I T DER G R O T T E S K E Korrelation von Undefiniertem Raum („Raum als Raum") und Ornamentkörper bedeutet Identität verfremdeter Relate. Damit ist gesagt, daß die Relate verfremden, um schließlich identisch zu werden. Mit dieser Identität stellt sich momentan „das Grotesque" dar; dann zerfällt die Grotteske, ihre Wirkung hat sich aufgezehrt. An diesem Prozeß, der sich im Sehen ausgestaltet, ist der Betrachter nicht nur beteiligt, in gewissem Sinn ist er der Träger. Denn die Wirklichkeit der Grotteske ist bestimmt durch die doppelte Beziehung, die sich ausspielt zwischen der Grotteske, dem Betrachter und jenem Ganzen, in dem die Grotteske ihren Ort hat. Das Verhältnis von Betrachter und Grotteske läßt sich von der Intention her einsichtig machen. „Den Hinweis darauf, daß sämtliche Bewußtseinsakte nie leer, sondern stets auf Inhalte gerichtet sind, loten den Begriff der Intentionalität nicht vollständig aus: 71 β Piel
dieser besagt vielmehr, daß man im Gerichtetsein über die verzeichneten Akte auf ein jeweiliges Etwas hinausgreift, das dann als Gegenstand gilt. Der konkrete Gegenstand, der sowohl sinnlich erfahrbares Objekt, psychischer oder denkmäßiger Vollzug sein kann, liegt nicht jenseits der Bewußtseinsakte, gleichsam sprungbereit, sondern wird im Hinausgreifen überhaupt erst konstituiert50." Die Überlegung zum Begriff der Intentionalität bei Husserl steht über das ,Transzendieren' in enger Beziehung zum Raumbegriff, der von Gosztonyi diskutiert wird. Die Frage nach dem „objektiven Raum" beantwortet die Phänomenologie „im Sinne des transzendentalen Idealismus: Raum gewinnt nur im und durch das Raumbewußtsein Geltung, außerhalb seiner ist jede Frage nach Raum sinnleer". Die Bewegung ist dabei Träger aller raumgestaltenden Phänomene: „Bewegungsbewußtsein kommt zunächst nur durch Anzeige der Eigenbewegung zustande. Sie heißt Kinästhese. Kinästhese ist nicht einfach Empfindung von Eigenbewegung, sondern das Bewußtsein einer Empfindung." Damit, und das ist von besonderem Interesse für das Phänomen Grotteske, ist die Problematik des Raumes in die der Leibbezogenheit transponiert. Kinästhese gehört zu jenen „Bewußtseinsmomenten, die ohne Voraussetzung des Leibes nicht zustande kommen, denn Empfindung verweist indirekt auf die Abhängigkeit des Bewußtseins vom Leib. Die Frage nach Abhängigkeit intendiert nicht die Beziehung zwischen Bewußtsein und Leib im Sinne der Psychosomatik, sondern sie sucht jene Bewußtseinsmomente auf, die auf Leib unmittelbar Bezug nehmen. Die Art und Struktur dieser Bewußtseinsmomente ergibt aber das Bewußtsein von Leiblichkeit. Da nun Kinästhese als ausgezeichnetes Phänomen der Leiblichkeit fungiert, ermöglicht die Klärung der Leiblichkeit zugleich die Verdeutlichung des Raumbewußtseins. Das Raumproblem mündet in das Problem der Leiblichkeit" (a. a. O. 534). Bewegung ist Träger aller raumgestaltenden Phänomene. Die Bewegung, die im Mobilischen der Grotteske aktuell ist, gestaltet aber nicht den Undefinierten Raum aus. Die Bewegung der Grotteske gestaltet Raum nur als „seichte Raumschicht". Kinästhese ist in der Grotteske dort also aktuell, wo die Formen, im Prozeß der Ausgestaltung, sich bewegen. Diese Bewegung vermittelt das Bewußtsein der Empfindung von Eigenbewegung. Der Bewegung ist die Erscheinungsweise des weißen Grundes als F l ä c h e n f a r b e korrelativ, ein Stadium, in dem die Grotteske lächerlich wirken kann. Wirken sich nun die Doppeldeterminationen aus — d. h., erstirbt die Bewegung — so ergibt sich erst Räumlichkeit: der w e i ß e Grund nimmt hier die Erscheinungsweise der Raumfarbe an, ein Moment der S t ö r u n g der Leiblichkeitsbezogenheit. Die Richtungsangabe ist in der Grotteske von vornherein gestört. Der Betrachter weiß nicht, woran er sich orientieren soll; orientiert er sich, so wirkt sich die Doppelorientierung nicht nur in den Doppeldeterminationen des Gebildes aus, die Hemmung der Bewegung überträgt sich auf den Betrachter. Der Widerspruch mag ihn 50
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Vergi. Anhang S. r87.
zum Lachen reizen, — ein Lachen, das wiederum als spezifisches Merkmal der Störung der Leiblichkeitsbezogenheit ausgewiesen ist 51 . In der Bewegung der Grotteske ist die Richtungsangabe gestört, was Störung der Kinästhese bedeutet. Die Orientierung aber bedeutet Ersterben der Kinästhese, denn die Doppeldeterminationen wirken dahin, die B e w e g u n g zu hemmen. Hier ergibt sich nun der Widerspruch, daß gerade mit dem Ersterben der Kinästhese der weiße Grund als R a u m in Erscheinung tritt. Sollen „Qualitätsgrenzen räumlich sein, so müssen sie mit Richtungsangabe verbunden sein" (Gosztonyi). Zeichnen sich in der Grotteske mit dem Vordrängen des Gitterigen Qualitätsgrenzen ab, so sind diese aber doch nicht richtungweisend im Sinne von Kinästhese. „Richtung wird unter bereits aufgenommene Richtungsangabe eingeordnet; man koordiniert sie. Koordination bedeutet Aufeinanderbezogenheit von Richtungen. Richtung gilt als leiblidikeitsbezogenes Bewußtseinsmoment; das Koordinieren spezifischer Leiblichkeitsbeztige sichert die räumliche Relation der Qualitäten. Die qualitätsunabhängige Struktur der Koordination erscheint aber als Gestalt" (Gosztonyi). In der Grotteske werden zunächst disparate, voneinander unabhängige Richtungen koordiniert. Mit dieser Koordination erstirbt die Bewegung, die Träger aller raumgestaltenden Phänomene ist. Mit dem Ersterben der Bewegung aber zeigt sich gerade der Raum, der um so intensiver wird, je mehr sich die Doppeldeterminationen auswirken. Richtung wird in der Grotteske gewissermaßen in „zwei Systemen" koordiniert: dem Muster und dem Grund. Das heißt (indem der Grund als Raum, das Muster als Ornamentkörper entsteht), daß die Richtung verkehrt wird, und zwar bis zu jenem Punkt der Wahrnehmung, wo die beiden Seiten i d e n t i s c h werden. Bezugssystem für Koordination bildet die Leiblichkeit. Ist nun der Ornamentkörper die qualitätsunabhängige Struktur der Grotteske, so mtißte der aktuelle Bezug auf Leiblichkeit in dem Augenblick hergestellt sein, wo dieser Omamentkörper qualitätsabhängig wird. Dort erscheint er aber als Gitter-Mobil, das zwar den Leib erreicht, die Leiblichkeit jedoch nicht integriert. „Gestalt ist das Wissen um die Möglichkeit, spezifisch koordinierte Richtungsverschiebungen hervorzurufen. Jeder Gestalt entspricht eine nur ihr zukommende Koordination von Richtungen 51 ." Gestalt ist die qualitätsunabhängige Struktur, die im Sehen qualitätsabhängig wird. Das „Wissen um die Möglichkeit, spezifisch koordinierte Richtungsverschiebungen hervorzurufen", geht in der Ausgestaltung der Grotteske verloren. In einem großen Kunstwerk verdichtet sich dieses Wissen. Die anschaulichen Qualitäten werden voller und (gerade im „Bildleib") bewirken die Integration von Raum, Licht, Bewegung, Schwere, eine Integration, die in der Grotteske nicht nur nicht geschieht, sondern geradezu verunmöglicht wird. Die Grotteske ist primär qualitätsabhängig, im Sehen aber kristallisiert sich ihre qualitätsunabhängige Struktur heraus, 51
6·
Vergi. Anhang S. 188. 73
die „Ziel" der Grotteske ist. Normaliter ist in dem Augenblick, wo sich ein Kunstwerk ausgegliedert hat, aktuell Leibbezogenheit, ein Moment, das den ganzen Menschen ergreift. In der Grotteske aber, konstituiert sie sich als die Identität von Ornamentkörper und Raum als Raum, geht — indem jede Bewegung erlischt — das Bewußtsein der Empfindung von Eigenbewegung verloren. Die Starre überträgt sich auf den Betrachter. Dieses Moment bedeutet größten Identifikationszwang. Nicht nur GrotteskenMuster und Grottesken-Grund, sondern Grotteske und Betrachter „fallen identisch zusammen". Dimensionalität tritt „in der Struktur der Leiblichkeit nur durch die Richtung des Schwergewichts als Orientierungsursache auf. Denn Struktur der Leiblichkeitsbeziige imzpliziert ebensowenig von vornherein Ausdehnung wie ein beliebiger Körper: nicht das Faktum der Räumlichkeit des Leibes oder eines Körpers, das gar nidit vorausgesetzt wird, ermöglicht Registrieren von Räumlichkeit, sondern besondere Werte und Funktionen des Bewußtseins", durch welche die Kinästhese dann erreicht wird. Die Lage des Bezugssystems ist im menschlichen Leibe mitgegeben. „Das Moment zur Festlegung der Lage des Bezugssystems findet sich aber in der Lage selbst: es ist das Schwergewicht. Schwergewicht ist ein mit Richtungsangabe versehenes Bewußtseinsmoment, dessen Richtung in jede Koordination als Achse des Bezugssystems eingeht. Richtungsangabe orientiert sich vorerst stets in der Richtung des Schwergewichts, die Orientierung der Leiblichkeit überhaupt erst ermöglichend" (Gosztonyi 540). Die qualitätsunabhängige Struktur der Grotteske ist das Z i e l der Grotteske. Diese qualitätsunabhängige Struktur, die Identität von Ornamentkörper und Raum als Raum, ist durch und durch auf sich bezogen. Die Möglichkeiten der Konstitution von Bewegung sind in ihn implizit. Die Grotteske ist jedoch durch und durch auf sich bezogen, invertiert; alle Richtungsangaben weisen aktuell auf die qualitätsunabhängige Struktur. So ist die Bewegung, konstituiert sich das Vollphänomen Grotteske, in ihr aufgezehrt. Damit ist die Schwere negiert, die Kinästhese vernichtet. „Richtung orientiert sich vorerst stets in der Richtung des Schwergewichts, die Orientierung erst ermöglichend." Tritt „Dimensionalität" in der Struktur der Leiblichkeit nur durch die Richtung des Schwergewichts als Orientierungsursache auf, so ist die Grotteske, konstituiert sie sich, dimensionslos. Die B e w e g u n g gestaltet Raum als seichte Raumschicht, der Ornamentkörper gestaltet Raum als Raum. So führt letztlich die Doppelorientierung zur Manifestation der Dimensionalität an sich. Damit aber haben wir eine Grenze erreicht: die Grotteske tendiert zur Gestaltung eines Qualitätsunabhängigen, was nichts anderes heißt, als daß die Grotteske extreme Position gegen jenes Kunstwerk ist, in dem sich anschauliche Charaktere v e r d i c h t e n . Intention und anschaulicher
Charakter
Ehe wir zu akzentuierenden Bestimmungen der ontologischen Struktur der Grotteske übergeben, fassen wir zusammen; — gleichzeitig soll der Konstitutionsprozeß so 74
dargestellt werden, daß er für die Versuche zur Bestimmung des Bildleibes (Kontinuum) Vergleichsebene ist. A l s Intention sahen wir qualitätsunabhängige Struktur. Diese Intention erfüllt sich mit der Manifestation des Produktes negativer Selbstverfertigung, dessen Konstitution sich als Identität von Ornamentkörper und Raum als Raum vollendet. Mit der Erfüllung der Intention fallen aber die anschaulichen Qualitäten ab, das Ende eines Vorgangs, der, auf einer anderen Ebene, als „Chronophagie" charakterisiert wurde. Damit aber ist die Ausprägung eines Ursprünglichen negiert: Die hat keinen anschaulichen
Giotteske
Charakter.
Wollen wir das Erscheinen der Grotteske im Raum des Bewußtseins festlegen, so ergeben sich Schwierigkeiten, sobald das Produkt bestimmt werden soll. Denn ι . erlischt das Bewußtsein, wo die Identität der Relate sich ergibt; 2. ist das Gitter-Mobil das letzte anschauliche Qualitative, das schon dort, wo es sich g a n z konstituiert, nicht mehr es selbst ist. „Logisch" lokalisierbar ist die Grotteske als „erfülltes" Wahrnehmungsgebilde, wo sie ι . n o c h Gitter-Mobil ist, und 2. s c h o n qualitätsunabhängig. Die Fragilität des Gebildes hat hier eine — für den Wahrnehmenden unerträgliche — S p i t z e erreicht. Für Gitter-Mobil und Ornamentkörper ergibt sich ein „Zwischendatum": n o c h und n o c h n i c h t . Dieses Datum ist ein Wahrnehmungsphänomen. Während bis zu diesem Punkt die Grotteske lächerlich erscheinen kann, erstirbt das Lachen an diesem Punkt. A n diesem Punkt (der ,am eigenen Leibe' erfahren wird wie jede GrenzSituation), manifestiert sich das ,Zentrum' der Grotteske. Leiblichkeitsbezogenheit erstarrt im Ersterben der Kinästhese. Das Leiblichkeitsbezogensein zerreißt in der Erfahrung des bloßen Raumes: Der Betrachter gerät in den ,Bann' der Grotteske, wird von der Erscheinung d e s Grotesquen ,fixiert'.
VII. A K Z E N T U I E R E N D E B E S T I M M U N G E N ONTOLOGISCHEN STRUKTUR
ZUR
Die Betrachtungen zur „kategorialen Struktur" und zur „Intention" der Grotteske bieten die Möglichkeit, die „ontologische Struktur" der Grotteske herauszustellen. Diese wurde bisher lediglich als Herausgelöstes betrachtet. Bestimmt sich aber die Wirklichkeit eines Kunstwerkes aus der doppelten Dialektik: zwischen Kunstwerk und Insgesamt der Kunst einerseits und Kunstwerk und Betrachter andererseits, so müssen wir mehr als bisher die Loggien als Ganzes in die Betrachtung einzuführen versuchen. Es wird sich zeigen, daß die Grotteske w e l t l o s ist (S. 75), i r o n i s c h (S. 78) und D i a l e k t i k u m ; diese letztere Aussage bezieht sich auf die Stellung der Grotteske im „Gesamtkunstwerk". 75
DIE GROTTESKE IST
„WELTLOS"
In der Einheit von Raum und Zeit, die sich in der Äquivalenz von Licht und Schwere und in der Ausprägung aller Schichten des Kunstwerks durch einen anschaulichen Charakter manifestiert, ist die Möglichkeit gegeben, daß das Kunstwerk Welt setzt. Wo aber in der Perversion29 das Seiende in seinem Leiblichsein als Fragwürdiges bedeutet wird, wo es als ein b l o ß Seiendes und so sich Vernichtendes „gezeigt" wird, ist Weltgestaltung durch Kunst unmöglich. Die „Gestalt" dieses Gebildes ist in sich verschlossen, gerichtet auf s i c h , d e s o r i e n t i e r t und desorientierend. Der analogische Charakter des Seienden ist negiert. Hier gelangt das Gebilde selbst nicht zur „wahren Gegenwart", und es v e r h i l f t nicht zur „wahren Gegenwart"; so, nur für sich, steht es nicht für die Welt und die Welt steht nicht in ihm. In dieser Weise: in bloßer Existenz, ohne Bezug auf Wesen, ist die Grotteske w e l t los. G r o t t e s k e als „ T r a u m w e s e n " Ihr irrealer Charakter wurde in der Theorie des Cinquecento, vor allem von den Vitruv-Kommentatoren, immer wieder betont und fand anschauliche Umschreibungen. So sagt V. Scamozzi52: „Denn es stellt solch Gemachte doch endlich nichts natürliches und wahrhafltiges für/ und hat meistens nichts als ungestalte Possen/ so selber nicht recht stehen/ und viel weniger etwas anderes unterstützen können: daher sie mehr Träumen und Chimären gleich sehen/ und ist also/ wider etlicher Meynung/ nichts darauf zu halten." Dabei geht es Scamozzi nicht so sehr um die „Natürlichkeit" einer Bildung als vielmehr um den „Wahrheitsgehalt" der Gebilde, der dann in solchen Texten ungleich deutlicher zur Sprache kommt, welche die Grotteske als „Träume der Malerei" bezeichnen. Dieser Vergleich der Grotteske mit dem menschlichen Traum entbehrt, gerade in Hinsicht auf den genannten Gehalt, nicht der Legitimität. „Die Psychoanalyse sieht in den Träumern lauter unbedingte Wahrheitssucher. Im Gegenteil, sie sind etwas anderes, nämlich Spieler. Wie in den Künstlern ist das Kind in ihnen erwacht, das sich an Spielsucht gar nicht genug tun kann und gerade an Selbsttäuschungen und Irrungen sein Gefallen findet, — zur Erheiterung des Traumgottes, der es sicher genießt, daß in den Analysen Nachtspäße und Burlesken ernst genommen werden 53 ." „Certo si come la fantasia nel sogno ci rappresenta confusamente le imagini delle cose, et spesso pone insieme nature diverse: cosi potemo dire, che facciano le Grottesche, le quali senza dubbio potemo nominare sogni della pittura" (Daniele Barbato)M. 52 63 64
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Grundregeln der Baukunst, Nürnberg 1678. Lion, Die Form der Träume. Barbaro-Vitruv, pag. 321.
„Die Tatsache, daß wir in unseren Träumen nicht oder nur äußerst selten lachen, soll nicht so gedeutet werden, als ob sie nur tragisch zu nehmen wären. Der ödipusKomplex entstand freilich i m Bereich der Tragödie. Die Nicht-Wiedererkennungsszenen sind oft hochtragisch, aber sie können auch Komödien der Irrungen ergeben, nicht nur zwischen fremden Personen, sondern innerhalb der eignen Person des Träumers, der sein Ich nicht erkennt, sich verloren zu haben u n d sich befreit fühlt, wenn er nahe daran ist, wieder identisch mit sich zu werden. Was plastisch sichtbar, realer als jede Wirklichkeit zu sein scheint, m u ß vom Träumenden von Augenblick zu Augenblick erschaffen werden, er improvisiert wie der Schauspieler in der comedia del arte. Dadurch werden Personen und Landschaften, Taten und Schicksale, so schwer sie seien, ins Schwebende gehoben . . . Vielleicht birgt das Traumwesen beide Form e n zugleich, die des Tragischen, und die des Komischen: im bedrohlichen angstvollen Alptraum finden sich komische Elemente, im komischen Traum scheint das Tragische durch 53 ." Lions Sätze charakterisieren das Traumwesen derart, daß die Parallele zur Grotteske in die Augen springt: Das Wiedererschaffen von Augenblick zu Augenblick (Chronophagie), die Nicht-Wiedererkennungsszenen zwischen der eigenen Person des Träumers (Doppelorientierung); Personen und Landschaften, „so schwer sie seien, ins Schwebende gehoben" (Gitter-Mobil), das erweist die Grotteske als „sogno della pittura" und bestätigt gewissermaßen von der Struktur her, Baibaios Aussage. Baibaio macht den „ S c h e i n " der Grotteske von einem anderen Begriff her einsichtig, der bei i h m vom Vergleich mit der Dichtung gezogen wird. „Simil cosa vedemo noi nell'arte del parlare, imperoche il Dialetico si forza di satisfare alla ragione, il Oratore al senso, et al diletto, che alle ragione, il Sofista fa cose mostruose, et tali, quali ci rappresenta la fantasia, quando i nostri sentimenti sono chiusi dal sonno. Quanto mô, che sia da lodare u n sofista, io lo lascio giudicare, a chi sa fare differenza tra il falso, e'I vero, tra il vero e'I verisimile." Wie sich im Sophismus das Seiende, kraft der a u t o n o m logischen Imagination, verändert, mag ein bekannter Trugschluß (cornutus) illustrieren: Was D u nicht verloren hast, das hast D u noch; Hörner hast Du nicht verloren, — also hast Du Hörner! Der Gegenstand wird in dem Schein der Monstrosität seiner Identität enthoben, er bekommt die Struktur des Alogischen; ist selbst zwar einer bestimmten Logizität unterworfen, aber nicht mehr ontisch, sondern existenziell, bloß-existenziell begründet. Die G r o t t e s k e ist k e i n
Gegenstand
Wirklich ist die Manifestation des „ordo" im Ding. Wirklichkeit ist die Entsprechung von Wesen und Existenz im Ding, über die das Ding in der Kinästhese als Gegenstand erfahren wird. Steht das Kunstwerk als Moment e i n e s partiell und in der Verstellung Seienden, und b l o ß als dieses, so ist es unwirklich. In dieser Unwirklichkeit, in welcher der analogische Charakter des Seienden vernichtet ist, steht es gegen die Wirklichkeit, die „Welt" auslöschend. 77
„Gegenstand" ist ein in sich Wirkliches, das aber erst in der Leibbezogenheit zum Gegenstand wird. Wo Inversion ist, da ist Leibbezogenheit unmöglich, denn die Richtungen sind in dem Ding koordiniert, so daß alle „Richtungen auf . . . " negiert sind. In dieser Weise ist die Grotteske kein Gegenstand. Gehen wir zurück auf die Definition des Gegenstandes bei Gosztonyi50. „Der Begriff der Intentionalität... b e s a g t . . . daß man im Gerichtetsein . . . auf ein . . . Etwas hinausgreift, . . . das dann als Gegenstand gilt. Der konkrete Gegenstand . . . liegt nicht jenseits der Bewußtseinsakte, gleichsam sprungbereit, sondern wird im Hinausgreifen erst konstituiert . . . Das Erreichen des Gegenstandes zeigt keinen Austritt aus der Bewußtseinssphäre an . . . " Die Intention eines in sich Wirklichen erfüllt sich in der Anschauung, in der es Gegenstand wird. Ist dieses Dingliche raumbezogen, so ist es leibbezogen und somit Gegenstand. Alles, was das „Gegenständliche" bezeichnet (die Reize des Anschaubaren), wird im Leibbezogensein integriert, geht im Anschauen des Gegenstandes auf. Die räumlichen und zeitlichen Dimensionen werden im Leibbezogensein aufgehoben. Mit der Konstitution des Gegenstandes ist die Richtungsangabe des Dinglichen „erledigt": Das Schwerezentrum des Objekts hat das des Subjekts erreicht: Die Bewegungen „heben sich gegenseitig auf". Kinästhese ist in gewissem Sinn die Brücke zur Intention und so Vergegenwärtigen der Intentionalität. Das Vergegenwärtigen bezieht sich auf die konkrete Bestimmung der Teilphänomene, über die das Kunstwerk sich als Gegenstand konstituiert. In der Konstitution wird die „Brücke" selbst „hochgezogen"; das Bewußtsein der Empfindung von Eigenbewegung geht in der wahren Anschauung auf. Hier ist die Bewegung v o l l e n d e t . Man fühlt sich befreit (gehoben, ergriffen, beschämt), das Kunstwerk i s t hier Gegenstand, und nur als Gegenstand ist ein Werk Kunstwerk55. Die Intention der Grotteske nimmt den Teilgefügen ihre Eigenqualitäten. Nach der Konstitution des Gitter-Mobils ergibt sich ein qualitätsunabhängiges Wahrnehmungsgebilde. Die räumlichen wie zeitlichen Bestimmungen ,fallen ab'. Hier ist der Punkt, wo die Grotteske Gegenstand w ü r d e . Hier wird aber die Kinästhese nicht aufgehoben in der Anschauung, sondern erstirbt. Die Ausgestaltung der Grotteske vernichtet die anschaulichen Qualitäten, — die Grenzen des Physiognomischen verwischen sich, um endlich zusammenzufließen: Die Grotteske wird namenlos, — grotesque56. Leibbezogensein ist in der Erfüllung der Intention der Grotteske unmöglich, Kinästhese vernichtet. D a s Grotesque erfüllt die Intention d e r Grotteske. Geht Kinästhese, in der Konstitution des Gegenstandes, in der A n s c h a u u n g a u f , so in der Konstitution dessen, was kein Gegenstand ist, u n t e r . Die Intention dei Grotteske erfüllt sich in dei Erfahrung des Nichts. 55 56
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Vergi. Anhang S. 188. Vergi. Anhang S. 189.
DIE GROTTESKE
IST
IRONISCH"
Gewissen Arten des D e n k e n s sind gewisse Verhaltensweisen des Künstlers, gewissen Denkakten gewisse physiognomische Qualitäten des Produktes analog. Im vorliegenden Zusammenhang ist eine Einstellung von besonderer Bedeutung, die sich als jenes reflektive Denken darstellt, das in der Reflexion über einen Gegenstand nicht den Gegenstand, sondern sich sucht. Dieses Denken ist analog einem Ästhezismus, in dem das Kunstwerk isoliert wird und aus der Sphäre des absoluten Anspruchs in die relative des subjektiven Erlebens tritt. Anschauliche Charaktere der Werke werden in dieser Einstellung ebenso unverbindlich wie anschauliche Charaktere, die in der Natur erfahren werden. Dieses Denken erlebt im romantischen seine Hochzeit. Es gipfelt in Aussagen wie: „Das Vermögen der in sich selbst zurückkehrenden Tätigkeit, die Fähigkeit das Ich des Ich zu sein, ist das Denken. Dies Denken hat keinen anderen Gegenstand als uns selbst" (Friedrich Sdilegel). Hier sind Denken und Selbstreflexion gleichgesetzt. Wir postulieren, daß diese Version ihre Entsprechung dort hat, wo in der Bildenden Kunst das Selbst des Werkes sich an sich selbst, nicht an einer vorgegebenen Potenz aktuiert. Heißt das für die Kunst: Die Form als Form der Form, so allgemein: Der Mensch als Mensch des Menschen. Am Kunstwerk vollzieht sich dieses Denken als „projektive Identifizierung": Das erfahrende Subjekt identifiziert sich in dieser Einstellung nicht mit dem Kunstwerk, sondern mit der Projektion seiner selbst i n das Kunstwerk. Dessen Einheit geht in diesem Prinzip des Sehens verloren: Die Identifizierung vollzieht sich stets und je nur an einzelnen Schichten des Werkes, das sich so nicht zur wahren Einheit ausgestalten kann. Das Werk, indem es sich (beispielsweise) nur in seinen plastischen oder farbigen (rein plastischen und rein farbigen) Qualitäten dem Betrachter öffnen kann, wird sich im Betrachter nur in dieser reinen Qualität breiten. öffnet diese Einstellung in der B e t r a c h t u n g die Möglichkeit des r e i n e n Sehens, so in der künstlerischen Produktion die Möglichkeit der reinen Künste58. Diese Einstellung, die in der Autonomie des menschlichen Ich gründet, begründet die Möglichkeit, daß sich die Gattungen bloß in ihren Selbsten, nicht aber als Selbstheiten manifestieren, d. h. die Möglichkeit der Ubersteigerung der kategorialen Struktur der Gattungen. Sowohl in der Betrachtung als auch in der Produktion wird in diesem Vorgang das Kunstwerk ausdifferenziert aus einer objektiven Sphäre in die subjektive (nur-subjektive) der Autonomie. Betrachtung und Produktion erschöpfen sich in der Reflexion der Identität des Selbst. In diesem Akt absoluter menschlicher Freiheit59 ist deren Selbstvernichtung ebenso 57
Dazu: Sedlmayi, Bild und Wahrheit. Zum Phänomen der „Reinen Künste" vergi. Sedlmayi, Verlust der Mitte, — Die Revolution der modernen Kunst. 59 Vergi. Anhang S. 189. 58
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beschlossen wie die Vernichtbarkeit dessen, was das autonome Ich hervorbringt. Die Kennzeichen des Ich wie seiner Produkte sind die der Ironie. „Was nun den näheren Zusammenhang Fichtescher Sätze mit der einen Richtung der Ironie angeht, so brauchen wir in dieser Beziehung nur den folgenden Punkt herauszuheben, daß Fichte zum absoluten Prinzip alles Wissens, aller Vernunft und Erkenntnis das Ich feststellt, und zwar das durchaus abstrakt und formell bleibende Ich. Dieses Ich ist nun dadurch zweitens schlechthin in sich einfach, und einerseits jede Besonderheit, Bestimmtheit, jeder Inhalt in demselben negiert — denn alle Sache geht in diese abstrakte Freiheit und Einheit unter — andererseits ist jeder Inhalt, der dem Ich gelten soll, nur durch das Ich, und was durch mich ist, kann ich ebensosehr vernichten... Insofern nun aber die Ironie ist zur Kunstform gemacht worden, bleibt sie nicht dabei stehen, nur das eigene Leben und die besondere Individualität des ironischen Subjekts künstlerisch herauszugestalten, sondern außer dem Kunstwerk der einzelnen Handlungen u. s. f. sollte der Künstler auch äußere Kunstwerke als Produkte der Phantasie zustande bringen."60 Dieser „Ästhetische Nihilismus" ist in der Autonomie des menschlichen Ich begründet, was die Handlung des ironischen Subjekts angeht: Indem das Ich autonom ist, sind es auch seine W e r k e . Deren Grund ist die „ungebundene", absolute Phantasie. Phantasie ist die Fähigkeit, aus Elementen der Vorstellung, ohne Rücksicht auf deren Zugehörigkeit zu bestimmten Sachverhalten, lediglich auf dem Ich als Prinzip der Vorstellung, neue Sachverhalte hervorzubringen, die eigener Logik unterworfen sind. Die Phantasie ermöglicht, Dinge zu produzieren, die primär keiner begrifflichen Erfassung zugänglich sind, und die sich fassen lassen nur unter Berücksichtigung ihrer eigenen, jeder Realität fremden Axiome. Werden, auf dem Grunde des Ich, aus erfahrenen Sachverhalten an Seiendem, neue Sachverhalte hergestellt, so ist mit dieser Produktion die M ö g l i c h k e i t , nicht aber die Notwendigkeit gegeben, daß der Identitätsbezug des Seienden verlorengeht. Autonome Phantasie aber spaltet nicht nur die Identität der W e l t , sondern auch die Identität der Dinge mit sich selbst. U n d indem die Phantasie an ein Ich gebunden ist, zerfasert sie in der Absolutheit auch den Identitätsbezug des Ich zu den Dingen. Die Produkte aber, haben sie sich von ihrem Produzenten gelöst, stellen dem Betrachter das Seiende als ein in sich Gespaltenes vor, das ihn an seiner eigenen Identität z w e i f e l n läßt. Das S e l b s t aktuiert sich an dem, was e s selbst hervorgebracht hat. Damit ist die Dialektik der Bezogenheit von Wesen und Existenz zutiefst in Frage gestellt: Indem das Wesen von dem Ich abhängig wird, wird die Existenz zum Wesen. „Das Ich nun drittens ist l e b e n d i g e s , tätiges Individuum und sein Leben besteht darin, seine Individualität für sich wie für andere zu machen, sich zu äußern und zur Erscheinung zu bringen. In Rücksicht auf das Schöne und die Kunst erhält diese d e n Sinn, als Künstler zu leben und sein Leben k ü n s t l e r i s c h zu gestalten. Als Künstler aber, diesem Prinzip gemäß, lebe ich, wenn all mein Handeln und Äußern überhaupt, insoweit es irgendeinen Inhalt betrifft, nur ein S c h e i n für mich bleibt, und eine Gestalt annimmt, eo
80
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, I, ro3.
die ganz in meiner Macht steht. Dann ist es mir weder mit diesem Inhalt noch seiner Äußerung wahrhafter Ernst. Denn wahrhafter Ernst kommt nur durch substanzielles Interesse, eine in sich selbst gehaltvolle Sache, Wahrheit, Sittlichkeit u. s. f. herein, durch einen Inhalt, der mir als solcher schon als wesentlich gilt, so daß ich mir für mich selbst nur wesentlich werde, insofern ici in solchen Gehalt mich versenkt habe, und ihm in meinem ganzen Wesen und Handeln gemäß geworden bin. Auf dem Standpunkt, auf welchem das alles, audi sich setzende und auflösende Ich der Künstler ist, dem kein Inhalt des Bewußtseins als solcher absolut und an und für sich, sondern als selbst gemachter zernichtbarer Schein erscheint, kann solcher Emst keine Stätte finden, da nur dem Formalismus des Ich Gültigkeit zugeschrieben ist."61 Hier ist die Identität jene, die der „Form als Form der Form" und dem „Menschen als Mensch des Menschen" zukommt. Daß damit die analogischen Qualitäten des Seienden vernichtet sind, leitet sich daraus ab, daß alles identisch in dem in seiner Identität sich selbst in Frage stellenden Ich zusammenlaufen kann. Anschaulich ist es in dem Produkt, dem keine R e a l i t ä t 6 2 , und dem „Dauer" nur in den Augenblicken zukommt, wo es vom absoluten Ich „wohlwollend" wahrgenommen wird, von dem es aber, als von dem „Ich als Ich des Ich" im selben Augenblick der Vernichtung anheimgegeben ist. Die Bezogenheit des Produktes ist seinem Ursprung nach (aus dem absoluten Ich) lediglich auf dieses gegeben. Wird das Produkt jedoch vagant, so das Ich des Produzenten identisch mit dem des Produktes, in dem das ironische Subjekt weiterwirkt. Die Vernichtung der Bezogenheit von absolutem Ich und Produkt ist in der Vernichtbarkeit dessen, was das absolut sich setzende Ich hervorbringt, ebenso beschlossen, wie die Vernichtung der Identität des Betrachters im Zwang des ironischen Werkes. Dieses ironische Werk verwirklicht „Wesen" ebensowenig wie das absolute Ich. Auch gewinnt es, in der dauernden Selbstvernichtung, keine Dauer. Die Grotteske ist ironisch. Die Irrealität, die ihr im P r o z e ß der negativen Selbstverfertigung eignet, ist Erscheinung des Ironischen. Doch tendiert die Ironie der Grotteske zu ihrer eigenen Vernichtung63, die Ironie ist ein Aspekt der Grotteske, ebenso wie die Chronophagie. Diese, der Zeitlichkeit des Ironischen adäquat64, manifestiert sich in dem P r o z e ß der negativen Selbstverfertigung, der Erscheinung des Ironischen, in der die Grotteske sich vernichtet, so wie sie die Selbstidentität des Betrachters in Frage stellt. Sagen wir, die Grotteske sei ironisch, so denken wir an die Verfassung ihrer Struktur, die sich im Sehen selbst negiert, und die den Betrachter in diesen Prozeß negativer Selbstverfertigung einbezieht. Das Selbst einer Gattung ist es, in dem die Neigungen des Künstlers am ehesten sich zeigen65. Uber dieses Selbst steht der Mensch mit dem ordo der Kunst in Beziehung; über die Einheit von Selbst und der entsprechenden 61 62 63 64 65
Hegel, Ästhetik I, ιοί. In dem Sinne „Die Grotteske ist,weltlos'" und „kein Gegenstand". . . . die dort erreicht ist, wo die Grotteske „Dialektikum" ist. Vergi. Anhang S. 189. Vergi. Anhang S. 189 (Anm. 59). 81
Dimension des Architektonischen ist die Rückbeziehung ermöglicht, in welcher der Mensch sich seines Seins vergewissert, in welcher er sich als mit sich identisch seiend erfährt. Grotesk und Komisch Grenzen von Grotesk und Komisch präzisierte Manfred Thiel™. „Grotesk ist in Richtung des Komischen eine ins Extrem gehende Verzerrung. Grotesk ist das Unwahrscheinlich-Ausgefallene, das im Vollführen oder im einfachen Ausgehen das Übertriebene bis zur Künstlichkeit (Unnatürlichkeit) des AbsichtlichArrangierten spürbar werden läßt. Die Diskrepanz in den Bezügen wird so groß, daß sich alles ins Zufällige des Zusammentreffens wandelt. Dabei gelangt das Groteske bis an die Grenze, wo sich das sinnlebendige Bezugszentrum selber aufhebt und eine Angemessenheit überhaupt nicht mehr möglich wird oder umgekehrt wohl gar selber als etwas nur äußerlich Zufälliges erscheint. Insofern löst sich im Grotesken eine von allen ernsthaften Wirklichkeitsbezügen gelöste vagabundierende Phantasie aus. Statt wirklichkeitsgebundener Komik wird nur noch eine alle normalen Wirklichkeitsmaße sprengende Ausgelassenheit des Spielimpulses manifest. Die Kombination des Unwahrscheinlichen, sogar des Unmöglichen, bis an den Rand des ZusammenhanglosBeliebigen ergibt sich in Erweisung phantastischer Ungebundenheit." Diese Charakteristik d e s Grotesken scheidet auch die (ironische) Erscheinungsweise d e r Grotteske gegen das Komische. Dessen Abgrenzung wiederum gegen das Ironische gibt Hegel: „Diese (ironische) Form, abstrakt genommen, streift nahe an das Gebiet des Komischen heran, doch muß das Komische in dieser Verwandtschaft wesentlich vom Ironischen unterschieden werden. Denn das Komische muß darauf beschränkt sein, daß alles, was sich vernichtet, ein an sich selbst Nichtiges, eine falsche und widersprechende Erscheinung, eine Grille ζ. B., ein Eigensinn, eine besondere Caprice, gegen eine mächtige Leidenschaft oder auch ein vermeintlich haltbarer Grundsatz und feste Maxime sei. Ganz anders aber ist es, wenn nun in der Tat Sittliches und Wahrhaftes, ein in sich substanzieller Inhalt überhaupt, in einem Individuum und durch dasselbe sich als Nichtiges dartut. Dann ist solch Individuum in seinem Charakter nichtig und verächtlich, und auch die Schwäche und Charakterlosigkeit ist zur Darstellung gebracht. Es kommt deshalb bei diesem Unterschiede des Ironischen und des Komischen wesentlich auf den Gehalt dessen an, was zerstört wird 60 ." Arabeske und Grotteske Die Grotteske ist ironisch. An ihrer Entstehung im späten Quattrocento muß also das relative Streben nach Autonomie beteiligt sein. Ein relatives Streben nach Autonomie, das durch das Gesamt der Kunst kompensiert wurde. 66
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Thiel, Die Auflösung der Komödie.
Aber nicht allein die G r o t t e s k e ist ironisch, sondern audi ihr formales Gegenbild, die Arabeske, — definiert nicht so sehr als „stilisiertes Pflanzenornament" sondern als ein „Gebilde aus gegenstandsfreien Linien und Bewegungen." Daß beide das Ergebnis e i n e s Vermögens sind, nämlich der sich, absolut setzenden Phantasie, wird authentisch von Charles Baudelaire dokumentiert. Vor allem im Kreis der deutschen und französischen Romantik nahm die Beschäftigung mit der Grotteske und dem Grotesken stark zu87. Baudelaire erkannte Arabeske und Grotteske als aus einem Kern entstanden, der Phantasie, die er als die „wissenschaftlichste aller Fähigkeiten" bezeichnete. Dazu bemerkt Friedrich: „Die in dem Satz liegende Paradoxie wird heute kaum weniger paradox wirken als damals. Es ist die Paradoxie, daß eben diejenige Dichtung, die . . . in die Irrealität ausbricht, in der Herstellung des Irrealen die gleiche Genauigkeit und Intelligenz beansprucht, durch welche die Reälität eng und banal geworden ist." Der Gedankengang Baudelaires führt folgerichtig zu einem neuen Begriff: A b s t r a k t i o n . „Schon bei Novalis war er zur Wesensbestimmung der Phantasie verwendet worden. Das ist verständlich, weil Phantasie als die Fähigkeit zur Erzeugung des Irrealen aufgefaßt wird. Bei Baudelaire heißt,abstrakt' vornehmlich ,geistig' im Sinne von ,undinglich'. Weitere Ansätze zur abstrakten Poesife und Kunst werden hier sichtbar, gewonnen aus dem Begriff einer unbeschränkten Phantasie, deren Äquivalent die gegenstandsfreien Linien und Bewegungen sind. Letztere nennt Baudelaire ,Arabesken' ... ,Die Arabeske ist die geisthaltigste aller Zeichnungen' (S. 1192). Groteske und Arabeske waren von Novalis, Gautier, Poe einander nahegerückt worden. Baudelaire rückt sie einander noch näher. In seinem ästhetischen System gehören Groteske, Arabeske und Phantasie zusammen: die letztere ist das Vermögen sachentbundener Bewegungen des freien Geistes; die ersteren sind das Erzeugnis dieses Vermögens."®* Wir machen bei dieser Gelegenheit auf eine Graphik aufmerksam, die in gewisser Weise gleichermaßen Grotteske und Arabeske ist. Ein Blatt des Esaias van Hülsen (ca. 1615), Vorlage für ein Niello, gibt im Schattenriß das Grottesken-Gut im Gegenstandsgefüge wieder (Abb. 18). Die Flächenbreitung des Musters bringt das Blatt der Arabeske nahe. Daß es sich aber nicht um reine Flächenbreitung handelt (und daß auch vom Künstler an anderes gedacht war) zeigt eine kleine Rauchwolke, die sich aus dem Flächenmuster bildet und h i n t e r diesem Muster aufsteigt. Daß in solchen graphischen Blättern eine (Undefinierte) Raumdimension latent ist, kann dieses Beispiel zeigen. Gleichzeitig aber bestätigt es ein „Prinzip der geringen Differenz", das ja audi in den Sätzen Baudelaiies eine Rolle spielt. DIE GROTTESKE IST
„DIALEKTIKUM"
Die I r o n i e der Grotteske, die sich im Prozeß negativer Selbstverfertigung zeigt, — in dem sich die Grotteske ausgestaltet — tendiert zur Vernichtung der anschaulichen Qualitäten. Die Grotteske a l s Grotteske ist so in ihrem Wesen bestimmt. Darüber hinaus hat sie im Zusammenhang des Dekorationsganzen ein anderes Ziel. βτ ββ
Reiches Material dazu bei Kayser, Das Groteske. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. 83
Die Intention der „Grotteske an sich" erfüllt sida in der Erfahrung des Nichts: Hier ist ein Punkt erreicht, wo in der Wahrnehmung ein „Umschlag" erfolgt. Die Betrachtung „spießt" sich, und der Betrachter wird auf das Insgesamt der Loggien verwiesen. In diesem Sinne bezeichnen wir die Grotteske als „Dialektikum" 69 . Die Grotteske ist i n s i c h dialektisch angelegt; diese Dialektik (negative Selbstverfertigung) führt zur Vernichtung der anschaulichen Eigenqualitäten des Gebildes, ein Prozeß, an dessen Ende der Verweis auf Anderes erfolgt. Die Grotteske steht in bestimmbaren Verhältnissen zur großen Kunst und hat im Gesamtkunstwerk Funktion: Der Betrachter wird in der Erfahrung des Nichts nicht auf s i c h verwiesen, sondern auf Nicht-Grotteskes, durch welches die (an sich desintegrierende) Erfahrung der Grotteske integriert wird. Uber d i e s e Integration wird der Betrachter auf sich selbst zuückgeführt. „Eine Analyse des Ganzen würde ein umfangreiches Buch werden. Wie hier Stukkatur und Malerei, Figur und Ornament, die Farben der Gegenstände und ihrer Gründe sich zueinander verhalten (oder verhielten), davon muß das Auge sich im Detail überzeugen" (J. Burckhardt). Was im folgenden versucht wird, ist der Umriß eines Modells. Z u r F u n k t i o n der G r o t t e s k e im
Dekorationsganzen
Dieses Modell kann nur Hauptphänomene der Dekoration berücksichtigen. Die Träger der beschriebenen Grottesken, die Hauptwand- und Arkadenpfeilern, also der a r c h i t e k t o n i s c h e n Struktur zugehören, sind für das Insgesamt der Loggien trennende Elemente. Gleichzeitig aber (sie gehören alternierend zwei Raumzellen an) haben sie verbindende Funktion. Im ersten Eindruck sind sie in eine rostfahle Haut wie eingehüllt, die durch den Zusammenklang der Farbfaktoren Blau, Gold und Weiß entsteht. Diese Membran z e r f ä l l t , wo einer der Faktoren unwirksam wird. Dort also, wo die G r o t t e s k e n gesehen werden. Die rostfahle Membran z e r f ä l l t , und die Pilaster treten zunächst in ihren architektonischen Qualitäten hervor: Der weiße Grund der Grottesken hat zunächst die ästhetische Erscheinungsweise der Oberflächen-(Körper) Farbe. Gestalten sich die Grottesken aus, so werden die tektonischen Qualitäten (die sich in den — vergoldeten! — seitlichen Pfeilergrenzen darstellen) ausgestoßen, — aber vom Bewußtsein gewissermaßen noch „mitgenommen". Wo sich dann die Grottesken ausgestaltet h a b e n , die Kinästhese erstirbt, wird ein Moment erreicht, in dem sich die tektonischen Qualitäten wieder einstellen. Hier ergibt sich ein „Null-Punkt" : Jedes andere Element der Loggien ist zurückgetreten, und der weiße Grund als R a u m · g r u n d (Korrelat des qualitätsunabhängigen Ornamentkörpers) gibt die Möglichkeit, daß der S c h i r m der Grotteske wirksam wird. Darunter wird der Hintergrund verstanden, auf dem die Grottesken „dargeboten" werden. Für das Detail einer Dekoration gilt, wie für die Wahrnehmung einer Farbe 69 wir verwenden den Begriff „Dialektikum" analog dem der „Historischen Dialektik": Umschlagen in das Gegenteil. 84
oder eines Farbenpaares, daß e s , . . . „trotzdem es der einzige Gegenstand ist, auf den sich der Betrachter richtet oder gerichtet sein sollte, dodi nicht der einzige optisch wirksame Gegenstand ist. Die Farben erscheinen im Ausschnitt eines großen Schirmes, da sich der Versuch, das ganze Gesichtsfeld farbig auszufüllen, als undurchführbar erwiesen hat" 70 . Der Begriff des Schirmes, der einen größeren optisch wirksamen Bereich meint, von welcher der speziell wahrgenommene Gegenstand nur einen Ausschnitt darstellt, ist für die Loggien (vor allem die bisher behandelten Grottesken) unter verschiedenen Aspekten von Wichtigkeit. Denn: die Hauptwandpfeiler werden in der frontparallelen Einstellung des Betrachters für sich angeschaut, die „Umgebung" dieser Pilaster wird zurückgedrängt, bleibt aber bestehen, und macht sich dann, wenn die Grotteske gesehen w u r d e , um so stärker in ihren Qualitäten geltend. Dabei werden die anfänglich wahrgenommenen Spältigkeiten „geheilt". Auf der Höhe des Prozesses der negativen Selbstverfertigung der
Grotteske
erfolgt (gewissermaßen an einem Nullpunkt] ein Umschlag in der Wahrnehmung. Er geschieht spontan als plötzlicher Einstellungswechsel. Was in dem Erlebnis der Grotteske „ausgelaufen" war, flutet zurück: Der Schirm, auf dem die Grotteske dargeboten wird, wird dominant. Dieser Schirm ist in seiner Grundstruktur tektonisch.
Wird er dominant,
so
rekonstituiert sich zunächst die orthogonale Rahmung, und über dieses tektonische Element erfolgt der „Umschlag" auf den Pilaster als architektonisches Strukturglied der Loggien, über das die Loggien als Architektur erlebt werden. Damit ist die Hinwendung des Betrachters vom grotesquen Einzelphänomen über die tragenden Glieder auf das Ganze (in dem die Grotteske selbst E l e m e n t ist) erfolgt. Die Grotteske erweist sich als Dialektikum. Sie ist nicht nur in ihrer eigenen Struktur dialektisch angelegt (negative Selbstverfertigung), sondern, sieht man zunächst nur die u n t e r e Zone, eine These, welche die „Antithese" der „Ordnungen" in dem Augenblick provoziert, da ihre grotesque Vollendung den Umschlag in ihr Gegenteil fordert. Betrachten wir, anschließend an die anfängliche Deskription, die o b e r e Zone, so wird auch hier die zu Beginn festgestellte Spannung zwischen dem Bereich der Bilder der Bilderbibel und dem der Scheinarchitektur integriert. Die „Versöhnung" dieser Elemente und die Versöhnung der beiden Zonen geschieht über das G o l d der tektonischen Glieder b e i d e r Zonen, das sich aber als Integrationsfaktor erst d a n n bewähren kann, wenn die extreme Dominanzverschiebung der beiden anderen Faktoren Blau und Weiß in den beiden Zonen ausgeglichen ist. In der unteren Zone gehört Blau ebenso wie Gold zum Schirm der Grottesken. Es findet sich als Raumfolie auf dem Mauergrund zwischen den Fenstern und den Hauptwandpfeilern 71 . Nimmt nun der weiße Grund der Grottesken in der Ausgestaltung die Erscheinungsweise der Raumfarbe an, so wirkt der Schirmfaktor Blau der70 71
Vergi. Anhang, S. 190. Vergi, das Burckhazdt-Zitat S. 22. 85
art, daß sich der Undefinierte Raum gewissermaßen atmosphärisch füllt 72 . Die Dominante Weiß wird in diesem Stadium genähert jenem Blau, das in der Gewölbezone dominiert. Auf diese Weise werden die beiden Zonen einander genähert. Gleichzeitig tritt das Gold, als die architektonische Struktur auszeichnendes Element, das beiden Zonen angehört, hervor. Was vorher, in der o b e r e n Zone, als Spannung zwischen Scheinarchitektur und Bildern der Bilderbibel gesehen wurde, ist hier der Integration genähert. Die Faktoren Weiß, Blau und Gold tauchten die Architektur in eine rostfahle Membran; — nun, nachdem sie in ihren Eigenwerten in Erscheinung treten, sind die extremen Dominantenverteilungen ausgeglichen. Das Gold repräsentiert die A r c h i t e k t u r , Weiß und Blau sind „versöhnt". Nun ergibt sich nicht mehr der Eindruck, daß die Scheinarchitektur wie ein Gerüst an den blauen Himmel h e r a n g e f ü h r t wird: Die Bilder der Bilderbibel existieren nicht mehr in einer Zwischensphäre, sondern sind den Triumphbögen wie Tafelbilder, wie Kronen, aufgesetzt. Das künstliche Moment, das man zunächst erfuhr, ist überhöht. Diese grobe Skizze, die nur eine allererste Näherung bedeuten kann, zeigt, daß das Gold im Spiel von Wechselwirkungen vielfältiger Phänomene der Loggien, in allen Schichten den nämlichen tektonischen Elementen verhaftet, immer wieder auftaucht und schließlich, dem tektonischen Gerüst der Loggien verhaftet, eine Konstante ist: Am goldenen Gerüst der Loggien-Architektur werden die Spältigkeiten in der Dekoration dem Kontinuum anverwandelt. Diese Erfahrung läßt die Loggien als eine Einheit sich konstituieren, in der die Grottesken an den Rand des Bewußtseins rücken. Die Erfahrung des Kontinuums durchwaltet die zunächst gesonderten Zonen und bringt real und scheinhaft Konstituiertes in ein Insgesamt. Innerhalb des „Gebäudes" fluktuiert die Dekoration im Gesamteindruck; — ihre einzelnen Elemente geben dabei gewissermaßen den „Motor" einer Bewegung ab, die zur Ganzheit der Loggien tendiert.
VIII. D A S S T R U K T U R P R I N Z I P D E R
GROTTESKE
Die Bestimmungen, die in den vorhergehenden Abschnitten vorgenommen wurden, und die sich auf die Raffaelische Grotteske beziehen, ermöglichen, das Strukturprinzip anders zu formulieren. Auf Seite 49 nannten wir als Strukturprinzip der Grotteske „Doppelorientierung". Die Grotteske ist orientiert an zwei verschiedenen Gattungen: an dem Bild und an dem Ornament. Daraus ergibt sich, daß die Grotteske übersteigertes Ornament ist, das zum Bild tendiert, — dieses Bild aber nicht erreicht, wo es ornamentale Rückstände' gibt, ,Reste', die das Bild sich nicht verwirklichen lassen. Vom Bereich der Gattungen her gesehen, ist Doppelorientierung Strukturprinzip. Vom Denkmal her gesehen, zeigt sich Doppelorientierung in Doppeldeter72
Daß sich der Undefinierte Raum atmosphärisch füllt, ist überspitzt gesagt, um jenes Moment zu betonen, das zwischen der Erscheinungsweise des weißen Grundes als quasi „leerer" Raum und als Oberfläche besteht. 86
minationen: — doppeldeterminiert ist die Grotteske im Motivisdien, wie in dem weißen Grund, der „sowohl als auch" sein kann. Dieses ,sowohl als auch' heißt nicht, daß zwei Strukturelemente der Grotteske sich gegenseitig auf ein Ziel hin, das im Anschaulichen liegt, steigern: die Strukturelemente steigern sich in eine H e m m u n g , in der die anschaulichen Qualitäten zunichte werden. Doppelorientierung zeigt sich in der „Zeitlichkeit" der Grotteske. Die Grotteske ist orientiert an zwei Seinsweisen der Zeit — der Vergangenheit und der Zukunft — eine Doppeldetermination, welche Manifestation der Falschen Zeit ist. Wo die Grotteske an zwei Gattungen der Bildenden Kunst orientiert ist, steht sie „zwischen" diesen Gattungen. Sie gehört einem „Grenzbereich" der Kunst an, der nur in der Beziehung zu anderen Bereichen legitim ist. So ist die Grotteske orientiert am Betrachter, dem sie ihre eigene Doppelorientierung überträgt: In der Doppelorientierung des Betrachters an der Grotteske und anderen Bereichen der Kunst wird dort, wo sich die Grotteske ausgestaltet hat, auf ein „anderes" übergegriffen, über das dann die R e i n t e g r a t i o n erfolgt. Die Intention der Grotteske führt zur Vernichtung der anschaulichen Qualitäten; bringen wir jene mit dem Strukturprinzip „Doppelorientierung" in Beziehung, so wäre die Intention der Grotteske „Intention der Zweiheit". Intention der Zweiheit aber ist das Prinzip der Kunst Michelangelos". Wird aber dort der Konflikt g e l ö s t , indem er als unabwendbar, als tragisch, erfahren wird, so hebt sich die Spannung der Grotteske, in der absoluten Fremdheit ihrer Grundrelate, in Nichts auf. Postulieren wir ein „Prinzip der geringen Differenz", so sdilägt in der Grotteske das Prinzip der Intention der Zweiheit in „Zweiheit der Intention" um. Diese „Zweiheit der Intention" sehen wir jetzt als Strukturprinzip der Grotteske. Intendiert ist die Einheit von „Axiomen", die seinsmäßig verschieden sind; — seinsmäßig verschieden sowohl von der Art der Bildgegenstände als auch von der kategorialen Struktur her: Die Zweiheit der Intention zeigt sich in der „Monströsen Struktur" der Grotteske.
" Zur „Intention der Zweiheit" bei Michelangelo: Sedlmayr, Michelangelo, — Borromini. 87 7
Piel
Β. BEMERKUNGEN ZUR E N T S T E H U N G DER GROTTESKE In diesem Kapitel wird skizziert, wie sich gegen Ende des Quattrocento die Spaltung des Ornaments vollzieht, wie der dialektische Bezug von Muster und Grund sich zerspannt und in einem Relat verfestigt. Dem Undefinierten Raum kommt in diesem Vorgang besondere Bedeutung zu: Von ihm her ist die Möglichkeit gegeben, Phänomene des Bildes solchen der Grotteske zu korrelieren74. Der Undefinierte Raum, der an den w e i ß e n Grund gebunden ist, tritt in der historischen Entwicklung zum ersten Mal gegen 1517 in den Loggien des Raffaele in Erscheinung; — die Grottesken der Loggien, im vorhergehenden Kapitel untersucht, werden von uns jetzt als Modell aufgefaßt: Sie werden gesehen als Endprodukt eines Prozesses, der „um 1470" beginnt, und in dem die Wesensgrenzen des O r n a m e n t s überschritten werden. Fassen wir im Sinne Riegls „Entwicklung" als das „schrittweise Enthüllen der potentiellen Eigenschaften des Gebildes" (mit Einschränkungen, die weiter unten zu formulieren sind) so wird die Ubersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments, die in den Grottesken Raffaele aktuell ist, auch in der Entwiddung anschaulich. Synchron mit der Entstehung der Grotteske ist die Wandlung vom „Bildköiper zum Bildleib" {Hetzer), von der Früh- zur Hochrenaissance. Für diese Wandlung ist die Zeit 1470—1500 gegeben. In der Hochrenaissance wird die Grotteske von jener Generation getragen, die um 1450 geboren wurde. In gewisser Weise ist sie bis 1517 unterirdisch; — wo sie wieder auftaucht, hat nicht nur sie sich gewandelt. Um 1520 setzt der Manierismus an, für den die Grotteske in grundsätzlich anderer Weise als für die Hochrenaissance von Bedeutung ist. Den 50 Jahren — 1470/15 20 — gilt unser Hauptinteresse. Aus Gründen der Methode wäre es geboten, den Zeitraum nach oben und unten zu erweitern. Auf diese Weise würde es möglich, Eigenschaften, die aus den Grottesken der Loggien erschlossen wurden, als wirklich — wenn auch ,keimhaft' — und nicht von uns hineingedacht auszuweisen; so könnten sie auf ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung geprüft werden. Wir beschränken uns in den Bemerkungen dieses Kapitels auf Hauptdenkmäler der Grotteske, werden aber versuchen, typische Bilder in ihrer Grundstruktur zu erfassen und, wie angedeutet, das Phänomen des Undefinierten Raumes in analogen Phänomenen des „extremen Bildkörpers" zu sehen. Die These für diesen Versuch 74
Dieses Kapitel unternimmt n i c h t eine entwicklungsgeschichtliche Systematik der Grotteske. Das ist nach der ganzen Anlage der Arbeit — aus inneren und äußeren Gründen — unmöglich. Es wird versucht zu sehen, wie sich das Strukturprinzip, das im ersten Kapitel erarbeitet wurde, — Doppelorientierung — auch in der Geschichte zu erkennen gibt. 88
ist, daß die Grotteske im Bereich des Ornaments eine allgemeine Tendenz ad absurdum führt, die im Bereich des Bildes zur Schöpfung des „Bildleibes" führt75. Der Versuch n i m m t seinen Ausgang von der Frage nach der Bedeutung des Goldstucks als Strukturelement der Fresken Pintuiicdiios im Appartemento Borgia, die synchron mit den „ersten Grottesken" sind. Hier taucht die Frage nach der Bedeutung der „Rezeption" der m a l e r i s c h e n Dekoration der Antike auf; die Steindekoration verliert den Primat als Vorbild, ein neues ,Stoffgefühl' kündigt sich in der Richtung auf die Wiederbelebung der Struktur an. Daß Grottesken- und Bildstruktur zusammengesehen werden, beruht auf der einleitend skizzierten Überlegung: Ist im Bereich der Bildenden Kunst e i n phänomenal Gegebenes aus Grund-Relationen ermöglicht, und zwar so, daß e i n e s der Relate jeweils Relat eines übergreifenden Sachverhaltes ist, so wird die Tendenz dieses Gebildes sich nicht nur in ihm selbst und in gleichzeitigen Werken derselben Gattung zeigen, sondern in synchronen Sachverhalten a l l e r Gattungen. Alle Gattungen werden die gleiche Tendenz in analogen Struktureigenschaften aufweisen, oder aber sich zueinander antinomisch verhalten™. Für das Verhältnis von Ornament und Bild ergibt sich: Daß gegen 1470 Ornament und Bild auf das gleiche Ziel sich richten, um 1495 nur in gewissen Eigenschaften (und Werken) analog sind, um „1500—1520" sich antinomisch zueinander verhalten, um gegen 1520 sich einander zu nähern. Die Gattungen gehen von derselben Wurzel aus — dem mit Giotto begründeten „Bildkörper" — und streben auseinander. Gegen 1495 ist ein Punkt der größten Selbständigkeit gegeben. Dann schließen sich Plastik, Bild und Architektur zusammen, — während die Grotteske als Antinomie die Ubersteigerung des O r n a m e n t s ganz verwirklicht. Das Problem der „Historischen Dialektik", das mit diesem Sachverhalt gegeben ist, wird im dritten Kapitel behandelt. Die Grundthese für dieses Kapitel ist, daß die Übersteigerung dei kategoiialen Struktur des Ornaments zur Grotteske führt. Im Ornament als Grotteske ergibt sich der Undefinierte Raum, der an die Stelle des stofflich bestimmten Trägers ornamentaler Gebilde rückt. Diese Ubersteigerung ist in der historischen Entwicklung anschaulich, vor allem im Ornament; die Tendenz zur Ubersteigerung der kategorialen Struktur zeigt sich aber auch im Bild. Nim ist der „Träger" des Ornaments kategorial die erste Dimension des Architektonischen77. Er ist ursprünglich das Relat, über welches das Ornament im übergeordneten Zusammenhang der Künste steht. Wird durch die Grotteske das „Architektonische" in seiner Wirklichkeit verleugnet, so geht doch parallel mit der Entstehung der Grotteske eine neue Auflassimg der Wand; die Grotteske steht im engen Zusammenhang mit der Stukkatur — auch daran wird die Dialektik, in welcher die Grotteske von Bedeutung ist, aufzuzeigen sein. 75 78 77
Vergi. Anhang S. 190. Hierzu S. 5 f. Vergi, die Einleitung. 89
Die Wand wird durch die Grotteske modifiziert, sie wird in ihren plastisch-tektonischen Werten angegriffen. Gleichzeitig mit der Inversion des Ornament-Musters erwächst im Bereich der Architektur die „Säulenordnungen-Wand" 78 . Das Ornament wird von der „Säule" — die nicht so sehr konstruktives als vielmehr konstitutives Element ist — gewissermaßen „abgelöst". A u d i das gehört in das dritte Kapitel. Im Piozeß der Entstehung der Giotteske spielt sich also eine „doppelte Dialektik" aus: Die Entstehung des Undefinierten Raumes als Konelat dei Entstehung des „Ornamentkörpers" ist ebenso ein dialektischer Prozeß wie die Entwicklung, in der die Grotteske Antinomie ist. Die Übersteigerung der kategorialen Struktur des Ornaments, die zur Grotteske führt, hat im Ganzen der Gattungen ihre Analogie in der Abspaltung des Ornaments als Grotteske.
I. Z U R R A U M S T R U K T U R D E S
ORNAMENTS
Die Grotteske ist der Herkunft nach Ornament 79 . Sprechen wir hier von der „Entstehung des Undefinierten Raumes", so sind einige terminologische Fragen genauer zu umreißen, vor allem die Begriffe „optische Ebene" und „Ornamentkörper" zu präzisieren. OPTISCHE
ORNAMENTEBENE
Das Phänomen „Optische Ebene" wurde oben beschrieben. Es wurde ausgeführt, daß in der Grotteske die optische Ebene, mit der Ausdifferenzierung von Undefiniertem Raum und Ornamentkörper, zerfällt80. Dort bedienten wir uns des Begriffs der „optischen Bildebene". Im Phänomen der optischen Bildebene integrierten das bildtiefenräumlich Gegebenes und die zweidimensionale Bildebene. Dabei erscheinen die Bildgegenstände „hinter" der idealen Bildebene. Mit dem Begriff „optische Ornamentebene" fassen wir das Phänomen, das dort auftritt, wo das Ornament-Muster auf dem Grund gegeben ist und gleichzeitig vor diesem erscheint. Das Muster kann sich also vollkörperlich entfalten, — der Grund wird so lange mit dem Muster in einer „optischen Ebene" erscheinen, bis das Muster sich vom Grund gelöst hat. „Tritt die verräumlichte Palmette wieder in flächiger Ausbreitung auf, so bedeutet dies ihre Angleichung an eine flache Raumschicht vor der Grundebene, an eine optische Ornamentebene, wenn man so sagen darf 81 ." Ein t i e f e n r ä u m l i c h e r Kalkül fällt im Ornament fort; — jeder räumliche Kalkül bezieht sich von der Ebene des Ornamentträgers aus auf den Standort. Im Β i 1 d ist die Ebene des Musters die dem Betrachter n ä c h s t e , im Ornament diese Ebene die dem Betrachter fernste Gegebenheit. Liegt nun die Dominanz bei dem G r u n d , so Vergi, das Kapitel „Die Grotteske als Kritisches Phänomen". Diesen Sachverhalt, dessen Konsequenzen genau durchdacht werden müßten, bezeichneten wir, indem wir sagten, die Grotteske sei mit dem Ornament g e n i d e n t i s c h . 80 S. 27 f. 81 Nordenfalk, Bemerkungen. 78
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wird es im Extremfall zu einem abstrakten, flächengebundenen Ornament kommen; liegt die Dominanz beim Muster, so wird es zu vollkörperlichen Bildungen kommen. In der Vermittelung zwischen diesen Extremen ergibt sich die optische Ornamentebene, in der Muster und Grund eine Einheit bilden. Der dialektische Bezug zwischen projektiver Form (Bildmuster) und Projektionsmedium (Bildtiefenraum) bestimmt Möglichkeiten des Bildes-, der dialektische Bezug zwischen Grundebene des Ornaments und ornamentalem Muster die Möglichkeiten des Ornaments82. In der historischen Entwicklung stehen ornamentale Form und Grundebene in jenem Verhältnis, das Carl Noidenfalk beschrieben hat: „Je stilisierter eine ornamentale Form ist, um so enger müssen die Ornamente an der körperlichen Masse des Trägers haften 83 ." Kategorial ist mit Verräumlichung Vergegenständlichung verbunden (wobei dahingestellt bleiben muß, ob diese oder jene initiatorisch ist). Vergegenständlichung bedeutet nun aber — indem mit ihr etwas „verkörpert" wird — die Einführung eines haptischen Moments. Wird dieses haptische Moment dominant, so wird das auf Kosten der materiellen Bestimmtheit, der stofflichen Struktur des „Trägers" geschehen, von dem im stark gegenständlichen Ornament sich die Form löst. Wenn nun das materielle Substrat nicht nur zurücktritt, sondern aufhört als solches überhaupt zu bestehen, so geht notwendig mit der Form eine Veränderung vor sich. Handelt es sich um „plastisches" Ornament, so entsteht Freiplastik, handelt es sich um „gemaltes" Ornament, so entsteht das „Bild". Wird im Gegenständlichen aber nicht der Schritt zum „kategorialen Bildgegenstand" der neuen Gattung vollzogen, so kann das Substrat als solches nicht aufhören zu bestehen, sondern muß sich in einen anderen Aggregatzustand transformieren. Im Ornament entsteht auf der einen Seite der Undefinierte Raum, mit dem die „optische Ornamentebene" unmöglich wird, auf der anderen Seite entsteht der „Ornamentkörper", in dem sich haptische Werte derart verselbständigen, daß die „Körperlichkeit" des „Bild"-Gegenstandes zunichte wird. In der Grotteske liegen extrem haptische und extrem optische Werte im Widerstreit und verfallen, in Antagonie, dem Unwirklichen, so, wie die gegenständlichen Werte des Grottesken-Musters sich auszehren. Die Tendenz zur Grotteske müßte sich in der historischen Entwicklung so zeigen, daß gleichmäßig optische und haptische Werte im selben Denkmaltyp sich zu verwirklichen suchen. Sieht man diese Entwicklungsmöglichkeit als „finalen Prozeß", so ist er im Phänomenbereich der Raffaelischen Grotteske beendet und muß doit beginnen, wo nicht mehr die Steindekoration der Antike, sondern deren m a l e r i s c h e 82 Es wird nochmals darauf hingewiesen, daß es sich hier um M ö g l i c h k e i t e n handelt, daß der Spielraum für das individuelle Werk sehr reich ist. Vergi, das Zitat nach Pindei zu Anm. 224. 83 Noidenfalk, Bemerkungen.
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Dekoration Vorbild und Rezeptionsquelle wird. Richtet sich das Ornament auf die Realisierung optischer oder haptischer Werte, so ist die Entstehung der Grotteske dort anzusetzen, wo sich das Ornament auf Verwirklichung optischer u n d haptischer Werte richtet, die nicht in einem Zugleich integriert werden können. In der Transformation der Grundebene in einen anderen Aggregatzustand bekommt das Gebilde (die Grotteske) Eigenraum; dieser stellt sich dort, wo es omamentale Restformen gibt, die in sich extrem haptisdie Werte vereinen, als Undefinierter Raum dar, mit dessen Konstitution die optische Ebene negiert ist. Wo das Phänomen des Undefinierten Raumes auftritt und dessen Genese zum Problem wird, sind auch die farbigen Qualitäten des Gebildes (und zwar von Muster und Grund) von Interesse. Der weiße Grund tritt erst um 1517 auf. Wo nun die Grundebene gegenüber dem Muster differenziert wird, ergibt sich eine wesentliche Strukturwandlung an d e m Punkt, wo der Grund von der Farbe her als Raumwertiges, das Muster als Plastisches ausgewiesen wird, das mit dem Raumgrund nur in relativer Beziehung steht. Hier ergibt sich gewissermaßen eine Trennung in ein haptisches und ein optisches Feld, eine Trennung, die nur relativ ist, in der Entwicklung aber sich zur Spaltung ausdiflerenzieren kann. Der Grund bekommt Qualitäten einer „optischen Ebene", stellt ein optisches Feld dar; das Muster stellt mit seinen plastischen Qualitäten ein haptisches Feld dar. Damit ist eine Trennung von Standort und Wand angedeutet, die auf die Möglichkeit einer neuen Wand-Raum-Einheit zielt. Wand und Standortraum können hier als zwei Realitätsbereiche gesehen werden, zwischen denen die ornamentale Form sich erhält. Raumqualitäten des Grundes (der Wand) und Standortraum stehen in einer Spannung, und diese Spannung determiniert die Gestalt des ornamentalen Gebildes, das von hier aus als Symptom eines sich wandelnden Architekturprinzips verstanden werden könnte. Einem Wandel im Verhältnis von Raum und Raumgrenze in der Architektur entspräche die Spaltung von ornamentaler Form und Standortraum sowie ornamentaler Form und Grundebene einerseits, und die Spaltung des Gebildes in invertiertes Selbst und autonomes — im Aggregatzustand transformiertes — Substrat andererseits. Das Gebilde steht in einem „Dazwischen" zwischen Wand und Standort. HYPOTHESE
Wenn es dort, wo der Grund raumwertig ist, erlaubt wäre, von der Li c h t struktur des Gebildes zu reden, so verbietet dies doch gerade die besondere Raumqualität des Grundes: der Undefinieite Raum ist lichtlos. Den Ansatz auf Lichthaftigkeit des Grandes, der in Goldgrund-Grottesken gegeben ist, werden wir am Rande in dieser Arbeit behandeln. Auch aus einem Wandel der Lichtqualitäten könnte sich die S p a l t u n g und die Mündung der Extreme der Spaltung deutlich machen lassen. „Eigenlicht" des Grundes und „Beleuchtungslicht" der invertierten Form sind getrennt,· diese Trennung, die der Antagonie von „optisch" und „haptisch" vorausgeht, 92
läßt nicht eindeutig entscheiden, welcher Sphäre die Form zugehört. Sie kann dem Standortraum u n d dem Eigenraum nur d a n n zugehören, wenn Standortraum und Wand ausgeglichen sind; sie wird keiner der beiden Sphären zugehören, befinden sich Standortraum und Wand in Spannung. Bevor in der historischen Entwicklung der Undefinierte Raum entsteht, trennen sich Muster und Grund. Jedes Relat bekommt Eigenqualitäten, verselbständigt sich, wobei der Grund „optische", das Muster „haptische" Werte repräsentiert. Spricht man in diesem Zusammenhang von einer Spaltungstendenz im O r n a m e n t , so bedeutet das auf einer anderen Ebene, daß sich Innenraum und Wand in einer Spannung befinden, in der die Form des Musters den „Grad der Spannung" angibt. Im Bild werden sich Bildraum und Bildgegenstand auseinandersetzen, wobei es i m Bild zu einer Spannung zwischen haptischen und optischen Werten kommt. Das Phänomen der optischen Bildebene bedeutet Integration der heteronomen Ordnungsprinzipien des neuzeitlichen Bildes. Die optische Bildebene zerfällt, wo die „Doppelstruktur" des Bildes zugunsten eines Prinzips aufgehoben ist, den Primat also entweder das „Bildmuster" oder die im Bildtiefenraum imaginierten vollkörperlichen Bildungen haben. Nun liegt im Wesen der zentralperspektivischen Darstellung die Möglichkeit, die zweidimensionale Bildebene zu negieren, eine Tendenz, die das Bild des Quattrocento (der „Bildkörper") verfolgt, und die sich in Bildern Pinturìcchios im Appartemento Borgia zum Teil realisiert, während sich hier gleichzeitig die Brücke zum „Bildleib" ergibt, in dessen „optischer Ebene" optische und haptische Werte integriert sind. In den Bildern Pinturìcchios haben wir das Analogon zur entstehenden Grotteske zu sehen, vor allem aber den Scheideweg von „Ornament als Grotteske" und „Bildleib"; diesem, der in der historischen Dialektik entsteht, von großen Meistern geschaffen, ist die Grotteske antinomisch.
II. H I S T O R I S C H E
VORAUSSETZUNGEN
Um 149384 entstehen im Appartemento Borgia die Dekorationen des Bernardino Pintarìcchio, in deren Ornamentik sich Quattrocenteskes und „Grotteskes" mischen, in deren Fresken die Tradition des Bildes an eine Grenze geführt wird. In diesen Jahren entdeckt man die malerische antike Dekoration flavischen Stils, vor allem in der Domus aurea Neronis, die als Ruine unterirdisch erhalten war, als „grotta", besser als ein Labyrinth von „grotte", wovon die neue Dekorationsform ihren Namen: „Grotteske" bekam. Die Abwendung von der Stein- und Hinwendung zur Scheindekoration führen auf eine Wurzel der Grotteske; die sogenannten „Entdeckungen" selbst dagegen, die als ein Ferment kräftig gewirkt haben, sind das Ergebnis einer Tendenz, deren MögVergi. S. ιοί. Zur Chronologie der Fresken Pinturicchios: Bombe, Geschichte der Peruginer Malerei, 231 fi. 84
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lichkeit mit dem „Bildkörper", also mit der Kunst Giottos begründet wurde, in der das Plastische als Kategorie der Malerei mit der Fläche integriert ist. GIOTTO Das Ornament bekommt seit dem Ende des Dugento eine neue Bedeutung, welche der des „Bildes" gleichwertig ist; es steigert die neue Bildform. „Bei Giotto wird das Ornament ideale Form, es ist nicht an die Dinglichkeit des Steins oder Stoffes gebunden, wirkt daher mit der mathematischen und der tektonischen Form zu einer umfassenden Ordnung des Bildes zusammen und gewinnt wie die beiden anderen Formen durch Kontrast und Übereinstimmung Einfluß auf die Figuren und ihr Leben85." Nicht allein in Rahmungen — die nun in ein neues Verhältnis zur Wand kommen — gestaltet Giotto Ornament, sondern auch im Bilde, wobei er „das ganze Fresko so gliedert und jeden Teil so präzis formt, daß der Ubergang von der gegenständlidi bedeutenden Form zum reinen Ornament des abschließenden Rahmens wirklich ganz gering wird" (167). Bild und rahmendes Ornament schließen sich zu einer Einheit zusammen, wobei dem Bild „ornamentale" Bedeutung zufließen kann, das Bild auch „zu einer Zierat herabsinken" kann, wobei aber andererseits dem Ornament eine Eigenstruktur verliehen wird, die es von allem vorher Dagewesenen scheidet. Das Bild schließt sich mit dem Ornament zu einem selbständigen Organismus zusammen, der ohne den Zusammenhang mit der Wand Bestand hat. Das Ornament seit Giotto partizipiert an dem „Bildkörper". „Es entsteht also der neue dekorative Stil, der neue spielende Formsinn zusammen mit einem neuen Erblicken der Natur, mit einem neuen Sinn für das Leben in seinen mannigfaltigen Gestalten und Verknüpfungen. So besteht bei Giotto innigste Verwandtschaft zwischen der Schönheit und Klarheit des Ornaments und der geistigen Bedeutung seines monumentalen Schaffens. Das ganze herrliche Fresko „Johannes auf Patmos" gibt den Gehalt der Szene so großartig und vergeistigt, wie es sich nur denken läßt und zugleich in einer dekorativen Schönheit, die nun allerdings an das Höchste, an die Schönheit der Sternbilder reicht. Dekoration ist eine Form der Weltordnung, Kosmos ist Ordnung und Schmuck." Theodor Hetzei hat das Neue, das mit Giotto begann, in den meisten seiner Schriften beschrieben86. In einem Aufsatz von 1935 wies er auf die „nordische" Komponente hin, die seit dem hohen Mittelalter an der Bildung der italienischen Kunst beteiligt ist, national-italienische Kräfte aktiviert und an der Entstehung der Renaissance mitwirkt. „Die Position der Gotik war . . . nötig, um die Gegenposition der Renaissance entstehen zu lassen" (Hetzei, II, 79). 85
Hetzer, Giotto und die Elemente der abendländischen Malerei (Ges.Aufs. I, 164). Vor allem in seinem Buch: Giotto, außerdem in Tizian und in: Die schöpferische Vereinigung von Antike und Norden (Ges.Aufs. II). 86
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Mit Giotto, also an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, neigt sich die italienische Kunst dem Norden zu. Dieses Zusammentreffen von „Entstehung des Bildkörpers" und gotischem Einfluß kommt dort zustande, wo in der Struktur der gotischen Kunst Elemente vorhanden sind, die den italienischen Tendenzen entgegenkommen. Wie Hans Jantzen87 gezeigt hat, ist eine Berührung Giottos mit der nordischen Gotik von stilbildendem Einfluß auf die Paduaner Fresken gewesen. Um r300 nimmt die italienische Kunst, welche die Verbindung zur Antike nie aufgegeben hatte, Elemente der Gotik in sich auf. Ein in diesem Zusammenhang wichtiges Strukturelement der Kathedrale ist das Ornament, das um r230 in Reims eine besondere Entwicklungsstufe erreicht. Hier erfüllt sich das Nordenfalksche Strukturgesetz in der Geschichte der Kunst zum zweitenmal. „Der gleiche Vorgang wie in der griechischen Plastik wiederholt sich achtzehnhundert Jahre später in der gotischen Klassik. Wieder einmal sehen wir eine wesentlich stilisierte flächenhafte Ornamentik, bei der Verpflanzung in ein freiräumlicheres Stilklima, neue gegenständliche Ornamentformen treiben. Und wieder ist es die Reliefplastik, in der die neuen Formen zuerst auftauchen, während die Malerei erst später folgt 88 ." „Das Ornament löst sich nicht nur vom Grunde, sondern es verwandelt sich in ein naturalistisches, und zwar zunächst akanthusartiges Pflanzenornament. Uber das Griechische hinaus geht aber in diesem Vorgang der Zusammenhang mit der ungegenständlichen Ausgangsform verloren, und mehr und mehr dringen abgelauschte Motive der wirklichen Natur in den Ornamentschatz ein, so daß die Ornamentik zum Sdiluß geradezu führend in den ,naturalistischen' Bestrebungen wird und Grade der Naturannäherung erreicht, die die figurale Plastik nur selten aufweist. ,Erstmals in Reims öffnen sich diese Knospen zu heiter-natürlichem Blattwerk, und niemand wurde diesem taufrischen Laub von Ahorn, Rebe, Wildrosen, Erdbeeren, Efeu und anderen einheimischen Pflanzenarten ansehen, daß sie in gerader Folge von einer Art feingekräuseltem Akanthus abstammen' [Meyeill, 223). Trotzdem ist auch diese in ihrem Naturalismus über die Stufe des Akanthusmäßigen weit hinausgehende Stufe kein poetischer Einfall, sondern das notwendige Ergebnis einer folgerichtigen inneren Entwicklung: Verräumlichung bedeutet, ja bewirkt eben Versinnlichung und Poetisierung. Nun lösen sich die naturalistischen Zweige und Blätter so stark aus den Kapitellen, daß sie diese auflösen. Um den glatten zylindrischen Kopfteil der Fäulen' schwebt frei entfaltet das naturwahr bemalte Blattwerk — ein Vorgang, der um 1230 mit Reims beginnt und mit den wunderbaren Zweigkonsolen enden wird, auf denen in Grünewalds Isenheimer Altar Sebastian und Antonius stehen." Dieser Vorgang entspricht dem Vorgang der Vermenschlichung der Bildsäulen 87
Jantzen, Giotto und der gotische Stil, 441 ff. Sedlmayi, Die Entstehung der Kathedrale, 28a. Vergi, vor allem das Kapitel: Giotto und die Kathedrale, 459 f. 88
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{Sedlmayi, Kathedrale, 282/3), und was Giottos Bildstruktur dem „plastischen Moment" der Kathedrale verdankt, bezieht die Ornamentik seit Giotto bis zum Ende des 15. Jahrhunderts aus dem gotischen Ornament. „ Z u Beginn des 15. Jahrhunderts wandte sich Italien vom Gotischen ab. Es erfolgte das denkwürdige und neue Gewahrwerden der antiken Kunst, das nun etwas ganz anderes bedeutete als das stille Fortspinnen der Tradition, etwas anderes auch als das gelegentliche Getroffenwerden durch einen antiken Eindruck" (Hetzer). Was man aber jetzt an Antikem rezipiert, steht in der Tradition dessen, was sich im 5. vorchristlichen Jahrhundert erfüllte, und so ist die doppelte Wurzel Antike — Gotik doch eine. Das ändert sich erst gegen Ende des Jahrhunderts, wo sich der Sinn jener Antike zuwandte, die von römischitalischen Kräften getragen wurde. Für die Veränderung der Bildstruktur, deren bedeutsame Dokumente die Werke Giottos sind, lassen sich Antike und Gotik als Wurzeln angeben, — Antike und Norden, die von der Struktur her zusammenhängen89. Die Kathedrale ist von großer Bedeutung für die Kunst des Trecento, hört aber auch dann in ihrer Wirkung nicht auf, als sich die italienische Kunst im Quattrocento in eigener Richtung entfaltete: Die plastische Wurzel der Kathedrale, die für den Bildkörper entscheidend wurde, wird ,übersteigert'. DIE GHIBERTI Das Ornament des Quattrocento, das man als Kapitell, als Fries- und Pilasterschmuck, an Altären, Ciborien und Grabmälern, vor allem an Rahmungen aller Art beobachtet, steht in gewisser Weise schon g e g e n die Tradition der Kathedrale. — Nicht, weil das Motivische gegenüber dem gotischen Ornament verändert wurde. In eigentümlicher Körperlichkeit, der das Lebendig-Organische gotischer Ornamentik weithin mangelt, steht es in oberflächlichem Verband mit dem materiellen Substrat, was vor allem an Stein- und Erzdekorationen auffällig ist. Der Träger wird nicht negiert, er wird aber auch nicht in seiner Eigenwertigkeit gesteigert. Die ornamentale Form wird ausgestaltet, während der Träger neutral bleibt. Die Ornamentik hat dabei etwas Intellektuelles, Kühles. Im Motiv sind keine störenden Tendenzen vorhanden. Durch das Motiv wird der Träger weder angetastet noch betont. Ornament und Träger sind in gewisser Beziehung gleichwertig. Im Motiv keine Verkehrung der Richtung, kein Zwiespalt von Hängen und Wachsen, keine Möglichkeiten der Vertauschung von Muster und Grund. Die Relate des Ornaments werden auch durch die teilweise goldschmiedeartige Ziselierung streng voneinander geschieden. „Die Körperfeindlichkeit des frühen Mittelalters wirkt fühlbar nach. Mit einer gewissen gnadenlosen Pedanterie werden vollständige römische Gesims-Profilserien an Grabdenkmälern und anderen Kleinarchitekturen bis auf den Maßstab des Kunst80
. . . und zwar über die „Freiräumlichkeit". Wichtig ist, daß man erst um 1493 d i e antike Dekoration entdeckte, die durch die Ablösung griechisch-römischer durch italischrömische Kräfte zustandekam, und in der sich die „Negativwelt" {Buschor) der Kunst des r. Jhdts. besonders ofienbart: die gemalte Dekoration. 96
gewerblichen reduziert, messerscharf in Marmor geschnitten, ohne die lässige Großzügigkeit der Antike, die in solchen Fällen einzelne Glieder ausfallen ließ, um den verbleibenden noch einige Größe zu geben 90 ." Als Motive Blätter- und Blumengewinde, Akanthusranken mit kleinen Lebewesen, Tiere und Putti; Kandelaber und Girlande als Kompositionsachsen; Bukranien. „Selbst große Meister verschmähen nicht, sich des Ornaments anzunehmen, und so gibt es Akanthus-Rankenwerk von hinreißendem Schwung oder Fruchtkränze und -gehänge, umspielt von Putten, die menschliches Wesen in seiner ursprünglichsten, pflanzenhaft-vegetativen Form aussprechen, in der es sich allein ins Ornament einbauen läßt 91 ." „Die Ausbildung, . . . theils in üppiger Fülle und naturalistischer Treue, theils in idealster Leichtigkeit, ist das originale Erzeugnis der Künstlergeneration des Quattrocento, was . . . die Quattrocentisten auszeichnet, ist das enge Einverständnis mit der Natur" (Sdimarsowj, — das freilich in ein peinliches „Ubernatürlich" abgleiten kann. In der Entwicklung des Ornaments im Quattrocento sind drei Stufen wichtig. Die erste Stufe erreicht die plastische Ornamentik in den naturalistischen Bestrebungen, wie sie in den Girlanden an der Nordtür des Baptisteriums in Florenz gegeben sind, die Lorenzo Ghibeiti schuf. Diese Girlanden stehen zu ihrem Träger in einem Verhältnis, in dem beiden Recht geschieht. Die Blätter schmiegen sich an die Grundebene, die Grundebene ist Träger und doch in ihrer Eigenbedeutung als Rahmen unverletzt, und sie wird zu einem Teil der Bewegimg, die sich gleichmäßig durch das Meisterwerk zieht 82 . Eine ganze Generation später überspitzt Lorenzos Sohn Vittorio den Naturalismus seines Vaters. In den Girlanden der Südtür des Baptisteriums erreicht er jenen Höhepunkt, wo die ornamentale Form beginnt, die Struktur des Trägers zu verwandeln und die ornamentale Form den Träger dominiert. Abstrakte Formen mischen sich mit naturalistischen Formen sprödester, gespreiztester Art, die sich, in äußerster Dünngliedrigkeit, vom Träger abspreiten, und die gleichzeitig diesen Träger in den eigenen Aktionsbereich einbeziehen. Der Träger wird durch gitterartige „Wolken" als Raum vorgestellt. Blattwerk kräuselt sich zusammen und die eindeutige Richtung der Girlanden wird zerstört, wo sich das Motiv in Kompartimente auflöst, in Teilgefüge, die dann durch „abstrakte" Motive verbunden werden. Ist im Motivischen der Girlanden V i t t o r i o s das Gegenständliche, das L o r e n z o in reifer Form gestaltet hatte, a n einen Höhepunkt geführt, so ist dort, wo dieses zusammensteht mit dem „raumhaltigen" Träger, der Höhepunkt bereits überschritten; und zwar überschritten in Hinsicht auf eine doppelte Tendenz: auf A b s t r a k t e s und Phantastisches. 90
Meyer, Europäische Kunstgeschichte, II, 99. Meyer, op. cit. Abbn. bei Baum, Baukunst und dekorative Plastik. 92 Abbn. bei Planiscig, Ghiberti; Goldscheidei, Ghiberti. S1
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Wichtig für das Drängen der Ornamentik zur Grotteske ist der räumliche Kalkül, der sich in der Dekoration Vittorio Ghibeitis abzeichnet, und durch den das Ornament, das ohne stofflich bestimmtes Substrat nicht gedacht werden kann, in seiner Existenz bedroht ist. Dieser räumliche Kalkül, der nach der Mitte des Jahrhunderts ins Ornament eindringt, hat seine „kritische Form" in den Pilastern zuseiten des Medea-Grabmals in der Capp. Colleoni zu Bergamo93. E I N E K R I T I S C H E F O R M U M 1470 Das Grabdenkmal der Medea Colleoni des G. A. Amadeo, zwischen 1470 und 1474 entstanden, zeigt in seinen Pilastern die neue Tendenz in Uberschärfe. Die Ornamente dieser Pilaster sind im Motivischen gespalten. Vertikal wechseln Vasen und symmetrisch geordnete Pflanzenranken. Schon in deren verschiedener Gestaltung (die Pflanzen flächengebunden, die Vasen vollrund erscheinend, freiräumlich) ist ein Widerspruch gegeben, der überdeutlich wird, wo die Linearperspektive in Erscheinung tritt. Von der Verwendung der Linearperspektive (im unteren Teil der Pilaster) her gesehen, ist der Pflaster ein B i l d t i e f e n r a u m . Der Ornament-Grund ist jedoch trotz dieser eigenartigen Formung, die dem Ornament widerspricht, nicht aufgehoben, — er ist als Rückwand des Raumkastens denkbar, vor allem aber tritt er in den flächengebundenen Pflanzenranken in Erscheinung. Vom Begriff der optischen Ebene aus läßt sich dieses Ornament schwer fassen. Denn dort, wo die Pflanzen das Muster bilden, ist der Grund eindeutig, wo aber die Linearperspektive verwendet ist, und wo die Gefäße das vegetabilische Muster ablösen, ist von einer Bildebene zu sprechen. Optische Bild- und optische Ornamentebene sind hier nebeneinander verwendet und lassen sich zugleich, nicht aber als Einheit sehen94. Was später in der Grotteske P r i n z i p sein wird, Zweiheit der Intention, Doppelorientierung, bedeutet für dieses Denkmal M o m e n t . Doppelorientierung wirkt sich in der Grotteske in a l l e n Schichten der Struktur aus,· die Zweiheit ist prinzipiell intendiert. Hier ist sie im Nebeneinander von „optisch" und „haptisch" lediglieli angesetzt: Ornament und Bild stehen in einer Spannung, in der das O r n a m e n t dominiert. Der Ansatz von Doppeldetermination hat zur Folge, daß in d e n Teilen, die perspektivisch gegeben sind, das Muster durch diesen linearperspektivischen Kalkül in die Erscheinungsweise des Vollrund-Haptischen gebracht wird, in den übrigen jedoch die optische Ornamentebene erhalten bleibt. Der dialektische Bezug von Muster und Grundebene ist in diesem Denkmal so ge93 94
Vgl. Anhang S. 190.
Der Zwiespalt bleibt hier offen und, auch bei der Anstrengung Einheit zu gewinnen, an zwei Realitäten verhaftet — jedoch nicht doppeldeterminiert. Jede Ebene wirkt für sieb und unterdrückt die andere, wenn s i e fixiert wird. 98
steigert, daß die Grundebene zum Teil als Oberfläche vernichtet, der entstehende Raum als ein „Raumkasten" ausgewiesen ist, zum Teil aber erhalten bleibt, wobei sich die Körperlichkeit des Motivischen ins Fragile und Künstliche verästelt95. Die Pilasterdekoration zeigt die Situation des Ornaments „um 1470" in Uberschärfe: l e g i t i m - o r n a m e n t al e Möglichkeiten werden bis an eine Grenze hin ausgeschöft und durch Zweideutigkeiten der Struktur überspitzt, Zweideutigkeiten, die sich im Nebeneinander von Optisch und Haptisch zeigen, die sich anschaulich darstellen in der spröden Körperlichkeit, dem Kalten und Scharfen des gegenständlichen „Musters"98. GEMALTES
ORNAMENT
Was die Ornamentik des Medea-Grabmals für das plastische, bedeutet die Ornamentik der seitlichen Pilaster von Melozzo da Foilis „Bibliotheksbild" im Vatikan für das gemalte Ornament97. Im gemalten Ornament entsteht dort eine besondere Situation, wo durch die Farbgestaltung Muster und Grund differenziert sind, wo sie in ihrer ästhetischen Erscheinungsweise nach „optisch" und „haptisch" gewissermaßen divergieren. Eine solche Situation ist z. B. dort gegeben, wo einem räumlichen Farbgrund das Muster als Chiaroscuro vorgelegt wird, oder ein Farbmuster mit stark gegenständlichen Eigenschaften einem gegenstandsfreien Raumgrund aufgemalt ist, — wie es ja in den Loggien in entschiedener Form der Fall ist. Im Bibliotheksbild Melozzos gibt es verschiedene Ornamente: vergoldete Bauornamentik, Ornamente der Kassettendecke; vor allem die Ornamentik der seitlichen, frontalen Pilasterspiegel; sie ist es, die hier besonders interessiert. Aus einem Kessel steigen in vier Wellen sich überkreuzende Eichenzweige gleichmäßig auf. Die Zweige sind von der gleichen ockergrauen Farbe wie die steinernen Architekturelemente des Bildes. Die Eicheln dagegen (Wappenfrüchte der Della Rovere) sind leicht mit Gold gehöht. Der Grund ist blau gemalt. Diesen Grund nun ausschließlich als R a u m g r u n d zu werten, verbietet das gegenständliche Moment des Schattens, den eine (imaginäre) Lichtquelle im Standortraum erzeugt, und durch den der blaue Grund eine Oberfläche im Ansatz bekommt, — (welche er als Pilasterspiegel ohnehin besitzt). Nun ist zwar mit dem Blau zunächst ein Raumgrund gegeben, mit dem Blau sind aber nicht ausschließlich Raumqualitäten bezeichnet; die plastischen Qualitäten des Musters werden durch den Grund hervorgehoben. Dem Grund kommt ein „optischer", dem Muster ein „haptischer" Wert zu ; diese Momente tragen aber nicht zur Negierung der anschaulichen Qualitäten des Ornaments bei: Der Effekt ist eine Steigerung der plastischen Qualitäten des Musters. Das Bildlicht des ganzen Gemäldes, das man in die Betrachtung einbeziehen kann, 95 96 87
Abbn. bei Malaguzzi-Valeri, Amadeo. Vergi. S. 95. Farbige Abbildung in: Ztschr. f. Bild. Kst. N. F., s8. Jg. H. 5/6, Leipzig 1924. 99
ist geteilt: Es kommt einmal aus der linken Arkadenreihe der Bildarchitektur, daneben ( entsprechend dem, das die Pilasterornamentik beleuchtet) aus dem Standort. Das Licht des Standortes beleuchtet den Bildraum zu einem gewissen Teil; es ist ausschließlich verantwortlich für die Beleuchtung des Ornaments. Durch diese Verwendung zweier Lichtquellen wird die Struktur der Bildebene in eigentümlicher Weise gestaltet: Eine „optische Bildebene" gibt es erst jenseits der (in ihrer Körperlichkeit betonten) Personen im Bildtiefeniaum; — die Personen, der Sockel mit der Inschrift als unterer Bildrand stellen sich vor allem in haptischen Qualitäten dar. In der Brechung zweier Beleuchtungsarten ist im Bild der dialektische Bezug von zweidimensionaler Bildebene und den im Bildraum imaginierten Gegenständen und Personen aufgehoben (die dargestellten Personen befinden sich greifbar nahe auf einer schmalen Vordergrundbühne, hinter der darin durch die Architektur eine „optische Ebene" geschaffen wird) und gespalten: Im Bild stehen sich zwei Grundstrukturen gegenüber: eine als „haptisch" und eine als „optisch" ausgewiesen. Durch die Goldhöhung sind die Eicheln der Pilasterdekoration gegenüber den Ranken ausgezeichnete Gegenstände,· mit den Ranken zusammen bilden sie eine Einheit, die gegen den blauen Grund differenziert ist. Ist nun auch der Grund als Oberfläche durch die leichten Schatten betont, so schafft das Blau, als weitgehend gegenstandsfreier Grund, ein Gefühl von Weite und Durchsichtigkeit. Das Licht des Standortes dringt (wie die Schatten zeigen) bis auf die Oberfläche des Blau; so kann der Grund als Raum bezeichnet werden, der Oberfläche gewonnen hat, oder (was der historischen Entwicklung entspricht) als Oberfläche, die Raum gewonnen hat. Diese Disposition der Pilasterdekoration ist analog der Struktur des Bildes. Zwischen Betrachter und blauem Grund der Pilaster entfaltet sich, mit stark haptischen Werten, das ,Muster', so wie sich, vor der optischen Ebene im Bildmittelgrund, die Personen in greifbarer Körperlichkeit darstellen. Das Ornament-Muster entspräche den dargestellten Personen, der blaue Grund der optischen Ebene der Architektur. T R Ä G E R ALS R A U M Die wichtigsten Vorstufen zum Undefinierten Raum der Raffaelischen Grotteske sind Phänomene, die sich durch Trennung von omamentaler Form (Muster) und Farbgrund auszeichnen. Hier hat der dialektische Bezug von Muster und Grund einer „Inversion" stattgegeben, — das Muster besteht „in sich", seine plastischen Tendenzen tendieren zur Autonomie. Der Träger kann in solchen Gebilden als R a u m definiert sein, gegenständliche Momente (wie goldene Punkte als Sterne) kennzeichnen ihn als einen atmosphärisch erfüllten Raum. Um dem Träger solche Raumqualitäten zu verleihen, muß entweder jeder Bezug von Grund und Muster weggenommen oder ein gegenständliches Moment in den Träger eingeführt sein. So ergibt ein reines Blau, ohne Ebene für Schatten zu sein, die das Standortlicht hervorruft, einen Raumeindruck dann, wenn das Muster ioo
eigener Farbqualitäten entbehrt. Der Träger wird (durch blaue Farbe) dann als Raumgrund in Erscheinung treten, wenn das Standortlicht für das Muster unbedeutend, und das Muster selbst unfarbig ist. Ist nun das Muster f a r b i g gegeben, der Grund blau bis blau-schwarz, so wird das Muster immer den Glanz des Unheimlichen haben. Es steht vor einem Finsternisgrund, den zu dominieren es nur in der Lage ist, wenn sich Gold in ihm selbst findet. In einem solchen Falle aber wird der Raumeindruck des Grundes geschwächt. Ist das Muster farbig, der Grund golden, so ergibt sich eine Raumwertigkeit, die leicht ins Metallene umgedeutet werden kann. Während das invertierte Muster vor blauem Grund in dem Raum des Grundes erscheinen kann, steht das invertierte Muster vor goldenem Grund jedenfalls vor dem Goldgrund. Goldgrund und invertiertes Muster stehen in einer Spannung, die von dem Verhältnis von Goldgrund und Standortraum getragen wird. Das Muster steht dabei gewissermaßen im „Focus": es verbrennt (Asche, Sdiatten) oder aber es phosphoresziert. Danach ergeben sich vier Typen, mit deren Realisierung je ein besonderes Bewegungsmoment gegeben ist. G r a u e s M u s t e r v o r Goldgrund 9 8 Ein erster Typ ist gegeben durch die Form, in der vor einem Goldgrund ein Muster in chiaroscuro gegeben ist. Die goldenen Musterintervalle haben besondere Strahlkraft, die verhindert, daß der Grund als Ebene gesehen wird. Das Bewegungsmoment wird hier erreicht durch das Gold, während das graue Muster wie ein Gitterwerk starr ist, und dies um so mehr, je intensiver das Gold erscheint. Farbiges Muster vor G o l d g r u n d " Ein zweiter Typus unterscheidet sich hiervon dadurch, daß das Muster buntfarbig ist. Hier steigern sich die Bewegungsqualitäten der goldenen Musterintervalle und die Farbigkeit des Musters gegenseitig. Das farbige Muster vor Goldgrund huscht wie ein bunter Sdiatten irisierend hin und her, sich mit dem Gold der Musterintervalle vermengend und sich doch gleichzeitig wieder trennend. G r a u e s M u s t e r v o r b l a u e m Grund 1 0 0 Dieser Typ hat etwas „Totes" an sich. Das intervertierte graue Muster vor blauem (und blauschwarzem) Grund breitet sich ebenfalls wie ein Gitter, besitzt etwas Abschließendes gegen den Grund, der eigentümliche Selbständigkeit bekommt. 98
Vergi. Anhang S. 190. Vergi. Anhang S. 191. 100 Gerade die grottesken Kandelaber werden gem in dieser Weise gegeben. Filippino Lippi in der Capp. Strozzi, Bergognone im Querhaus der Certosa von Pavia, gegen 1495. 99
101
Farbiges Muster vor blauem Grund101 Dieser vierte Typus ist äußerst selten. Das Muster bekommt durch die Buntfarbigkeit in der Spannung mit dem Finsternisgrund etwas Unheimliches, und dies um so mehr, je dunkler der Grund ist. Der erste und der dritte Typus repräsentieren das Moment der Starre, der zweite und der vierte das der ,hemmungslosen' Bewegung, das Mobilisdie. Sie sind in der Grottesk-Dekoration des späten Quattrocento nebeneinander verwendet und werden in der Raffaelisdien Grotteske zusammengeführt. III. D E R
EINTRITT
DER
GROTTESKE102
Melozzos Bild der ,Gründung der Vatikanischen Bibliothek' entstand 1477, im gleichen Jahrzehnt wie die Pilasterdekoration des Medea-Grabmals. In der Absetzung von Ornamentform und Träger dieser Form verdeutlichen beide Beispiele eine allgemeine Tendenz, die sich rund zwanzig Jahre später in der Grotteske — soweit es das Ornament betrifft — erfüllen sollte. Die Ornamentik der siebziger und achtziger Jahre bewegt sich im Schema der beiden Denkmäler: das Muster emanzipiert sich, Kombination diverser Realitäten bestimmt das Motiv. Das plastische Moment, vor allem in der Steindekoration, erstarrt, „malerische" Qualitäten spielen sich frei, und der Blick der Künstler wird von der m a l e r i s c h e n antiken Dekoration angezogen103. Damit parallel geht eine Richtung, die dem Grund intensivere Eigenqualitäten gibt: Der Grund wird einerseits gegen das Muster abgesetzt, um schließlich ein e i g e n e s Muster zu bekommen, andererseits kann das Muster als Emanation des Grundes aufgefaßt werden 101 . „1493" Je mehr in den 70er und 80er Jahren der Raumkalkül — wie er in extremer Weise, linearperspektivisch, am Medea-Grabmal auftritt — in die monumentale Dekoration eingeführt wird, je mehr geht das ,Eigenlicht' des Musters verloren; — es gerät in den Brennpunkt zwischen Standortraum und Grund. Doch wird der Raumkalkül nicht zum Bild ausgestaltet; die Motive, die von sich aus nach einem Aktionsraum verlangen, werden in einer vorderen Bildzone versammelt, ohne den Grund zu erreichen, der nun selbst ausgesprochene Raumqualitäten gewinnen kann: mit goldenen Sternen versehen, bedeutet er den wirklichen Raum eines realen Außen, vor 101
Zu erinnern wäre an die Tafel des Hieron. Bosch in der Älteren Pinakothek in München. Die Höllenwesen stehen vor sehr dunklem (schwarz-blauem) Grund, während die Parben ausgesprochen phosphoreszieren. 102 Hierzu Schmaisow, Der Eintritt der Grotteske. 103 Vergi. Anm. 89. 104 Vergi. Anhang S. icjr. 102
dem, in einer Grenzzone, sich in flächiger Breitung das Ornamentmuster in vollrunder Form freiräumlich entfaltet. In der Dekoration des Palazzo dei Penitenzieri (1490 vollendet) ist das Pflanzenornament sehr stark ins Animalische verzerrt. Die Grundform der Motive ist durchsetzt mit Schnüren, Putti, Cherubköpfen und dergleichen. In den Dekorationen des Appartemento Borgia, das Bernardino Pinturicchio zwischen 1492 und 1495 ausgestaltete, ist das Motiv Grotteske in seiner eigentlichen Grundform da. Und auch in dieser Dekoration, in der die Grotteske zuerst greifbar ist, ist sie nicht gleichmäßig angewendet; — in den Jahren zwischen 1492 und 1495 entwickelt sie sich, gewissermaßen unter den Händen Pintaiicchios, wobei die Rezeption antiker Dekorationsformen immer stärker wird. „Anfangs ist von einem wirklichen Einfluß der antiken Grottesken noch nichts zu bemerken; auch im Saal der freien Künste" (i493) los „entspricht die Dekoration noch durchaus dem Quattrocentogeschmack. Die zuletzt in Angriff genommenen Zimmer jedoch, der Saal des Credo" (1494) „und der Saal der Sibyllen, sind nach dem antiken Muster ausgemalt, überall begegnen uns Motive aus dem Goldenen Haus. Immerhin sind hier . . . die dem Vorbilde des Altertums entnommenen Dinge örtlidi begrenzt, auf die rahmenden Glieder beschränkt; auch wechseln sie noch mit gleichwertig angewandten Ornamentmustern der alten quattrocentesken Manier 106 ." In diesen Jahren erfolgt die Wandlung, die für die weitere Entwicklung der europäischen Dekoration so wichtig wurde, aus der aber nicht nur die Grotteske, sondern ebenso der Bildleib hervorging. Die Rezeption von Formen des sog. vierten pompejanisdien Stils, die man in Fragmenten in der domus aurea fand, erfolgte spontan in den Jahren um 1493. In den Dekorationen Pintuiicchios im Appartemento Borgia, wo die ersten Einflüsse dieser Antike festzustellen sind, zeigt sich der „doppelte Sprung" von der Ornamentik des Quattrocento zur Grotteske und vom Bildkörper zum Bildleib. Die Bedeutung des Terminus r493 zeigt sich nicht nur in der Grotteske, sondern in einer Anzahl anderer Phänomene, die es im Zusammenhang mit der Grotteske zu betrachten gilt. Zunächst die Frage: Was zeichnet die Grottesken des neunten Jahrzehnts aus, was unterscheidet sie von der Ornamentik der vorhergehenden Jahre, was von den Grottesken Raffaels in den Loggien? MOTIVE August Schmaisow charakterisierte das neue Vokabular als ein „willkürliches Spiel mit phantastisch ohne jedes innere Gesetz der Wahl kombinierten Formen und Gegenständen: Menschen und Vierfüßler, Vögel, Insekten und allerlei Gethier drän105
Zur Chronologie der Fresken Pinturicchios im Appartemento Borgia Bombe, Peruginer Malerei; Steinmann, Pinturicchio. Abbildungswerk: Ehile-Stevenson, Gli affreschi. 108 v. Salis, Antike und Renaissance. 103 8
Piel
gen sich ein oder müssen Theile ihres Körpers zur Herstellung abentheuerlicher Fabelwesen hergeben; dazu Masken und Schleier, Geschmeide und Gefäße, Waffen und Schrifttäfelchen, selbst Architekturstücke in winziger haltloser Gestalt. Die Verbindungen werden aufs Subtilste in Fäden und Drähte ausgesponnen, oder gar zum bloßen Schein ; das Aufsteigen oder Herabhängen kommt nicht zu konsequenter Durchführung, die Andeutung des Tragens, Festhaltens, Wachsens ist wiederum nidit ernsthaft gemeint; denn im Grunde schwebt alles in der Luft107." Eine Zeichnung des Filippino Lippi108 zeigt neben ornamentalen Formen, die aus der Kombination von Vegetabilischem, Tierisdiem und Menschlichem bestehen, und sich v o r einem (durch Schraffur als stofflich bestimmten) Träger ausbreiten, eine Gruppe: ein Putto stützt einen wie trunken erscheinenden Mann. Das Kritische an dieser Gruppe ist, daß die Beine des Mannes nicht nur nach unten zu dünngliedrig werden, sondern wie ausgetrocknet sind, so daß der Mann die Stütze des Putto von einem Moment her braucht, welches das „Trunkene" schmerzhaft umdeutet: Der Mann ist in seiner Leiblichkeit gestört. Die Motive des neunten Jahrzehnts sind sämtlich stark vegetabilisch-animalisch. Architektonisches als Motiv der Grotteske ist äußerst selten und bleibt auf die Verwendung von kleinen „Stücken" (Tafel, Architrav, Säulenartiges) beschränkt. Der Mensch wird als Ganzes verwendet, Satyrn reiten mit Blättern kombinierte Chimären und Flügelpferde. Beispiele: Pinturícchio im Appartemento Borgia (Abb. 9), Perugino im Cambio in Perugia (Abb. 12), Signorelli in der Cappella di S. Brizio am Dom von Orevieto (Abb. 10). Die genannten Beispiele unterscheiden sich von der Ornamentik des Quattrocento durch die Einführung: a) der neuen Motive, vor allem von Menschlichem und Architektonischem, das freilich in sparsamer und untergeordneter Weise verwendet wird; antike Motive werden dabei mit eigenen gemischt; b) des Raumkalküls und der (entsprechend starken) plastischen Modellierung des Musters. Von der Raffaelischen Grotteske sind diese Formen unterschieden hauptsächlich durch: a) den Grund: zum Undefinierten Raum kann es in diesen Jahren nicht kommen, der Grund ist blau, golden oder rot; b) die Motive: Architektonisches wird erst mit Raffael als wesentlicher Bestandteil in die Grotteske eingeführt; c) die Bedeutimg im Ganzen der Dekoration. Bei Raffael wird die Grotteske zu einem Dekorationselement, das eine bestimmte Funktion hat, im Ganzen an wichtiger Stelle verwendet. Im Quattrocento ist die Grotteske auf rahmende Glieder beschränkt, auf untergeordnete Bereiche verwiesen; 107 108
104
Schmarsow, Der Eintritt der Grotteske. Abb. bei Schaif, Filippino Lippi.
d) die Bewegungsmomente. So sind die Grottesken Signorellis (Typus I und II) entweder wie Gitter vor dem Goldgrund gebreitet oder aber bewegt. Das Gitter-Mobil, das die Raffaelische Grotteske auszeichnet, kommt nicht zustande108. TENDENZEN Bei Alois Riegi lesen wir den Satz: „Der Akanthus bedeutete den äußersten Punkt, bis zu welchem sich das Pflanzenornament der Natur nähern durfte, ohne in kopistenhafte Abhängigkeit von dieser letzteren zu geraten" (Stilfragen, 224). Einen solchen Punkt gibt es in der Ornamentik des Quattrocento dort, wo L o r e n z o Ghibeiti in der größten Freiheit seine erzenen Girlanden schuf. Vittorio wird man an einem Punkt sehen dürfen, wo der Künstler in Abhängigkeit von etwas anderem geraten war. Was dieses andere war, bleibe dahingestellt. Neben der Möglichkeit, in kopistenhafte Abhängigkeit von der Natur zu geraten, gibt es die andere, diese Natur zu deformieren und in „kopistenhafte Abhängigkeit von der Phantasie" zu geraten. Wo dieses Moment einer Abhängigkeit von Nicht-Natürlichem aktuell wird, ergibt sich nicht nur die Tendenz, unmögliche und „erlogene" Gegenstände in das Ornament aufzunehmen; — damit parallel geht die andere den phantastischen Gegenständen einen Aktionsraum zu schaffen. Diese Tendenz hatten wir festgestellt: um 1470 in dem Pilaster Amadeos. Nun dringt das phantastische Vokabular in das Ornament, und der linearperspektivische Kalkül, der die Tendenz verriet, verschwindet, wo die Phantasiewesen von sich aus einen Aktionsraum schaffen. Neben der Tendenz zum Raumgrund geht die andere her, das Muster mit plastischen Werten zu versehen, und diese Tendenz entspricht der weiteren: das Ornamentmuster — in Richtung auf die Grotteske — mit Farbwerten zu versehen. Nun gibt es in dem neunten Jahrzehnt eine Menge von Phänomenen, die außerhalb der Ornamentik entstehen, dem Ubersteigerungsvorgang aber entsprechen. Den Tendenzen der Ornamentik zur Grotteske entsprechen ähnliche in den Bereichen der dekorativen Malerei und des Bildes. Der Goldgrund verschwindet aus der Malerei, — das Gold geht auf Bildgegenstände über. So findet sich im Appartemento Borgia die erste Verwendung von Goldstuck als ausgezeichnetes Strukturelement des Bildes, — gleichzeitig sind diese Bilder in gewisser Weise dem architektonischen Grundgerüst inadäquat. Nicht nur Ornament-Muster und Grund spalten sich, — das Bild emanzipiert sich von der Architektur, es tendiert dazu, das „Architektonische" in sich aufzunehmen und die Architektur zu einem Sekundären zu machen110. Die Gattungen der Kunst, die 111 im Quattrocento ausgestaltet und in all ihren 109 110 111
Vergi. Anhang S. 191. Diese T e n d e n z , deren kritische Form die Grotteske ist, realisiert sich nicht. Darauf hat Theodor Hetzer in verschiedenen Schriften aufmerksam gemacht.
105 8°
Möglichkeiten erprobt wurden, trennen sich in diesem neunten Jahrzehnt, — eine Trennung, die aber auf eine neue Einheit zielt. Das Ornament, die einzige Gattung, die autonom nicht bestehen kann, übersteigert sich dabei zur Grotteske, — diese begleitet (als Antinomie) die große neue Kunst. IV. G R O T T E S K E U N D B I L D K Ö R P E R Die Trennung von Ornament und Bild, ein Prozeß, aus dem die Grotteske und der Bildleib hervorgehen, läßt sich an Malereien des Appartemento Borgia verfolgen. Wir können nicht versuchen, eine Zusammenschau kritischer Phänomene zu geben, welche die Übersteigerung jener Gesetzlichkeit verdeutlicht, die Theodor Hetzer unter dem Begriff des Bildkörpers zusammenfaßte. Hinweise auf bestimmte Formen der dekorativen Malerei und gewisse Strukturelemente der Bilder Pintaiicdiios müssen genügen. Während in der Pilasterdekoration mit der „Undefinierten optischen Ebene" gegen r47o etwas ansetzt, das seine Tradition im früheren Quattrocento hat 112 , erscheint in der Gewölbedekoration um diese Zeit etwas ganz Neues: die illusionistische Dekkenmalerei, als Vorgang mit Mantegna beginnend und um 1517 einen ersten Höhepunkt erreichend. Synchron damit wird die „optische Ebene" im Ornament modifiziert. In der „Camera degli sposi" in Mantua bringt Mantegna monumentale Grisaillen an, teils als Nachahmung von Steinrelief, teils vor blauem Grunde 113 , analog den Pilastern Melozzos. Diese Gebilde sind als Vorstufen zu Dekorationstypen im Appartemento Borgia zu sehen, die zwischen ornamental bestimmter Dekoration und dekorativem B i l d stehen und zwischen Grotteske und Bild ihren Platz haben. P I N T U R I C C H I O IM PALAZZO COLONNA
1485
Aus diesem Jahr 114 sind Deckenmalereien Pinturicchios fragmentarisch im Palazzo Colonna erhalten. Es handelt sich durchgehend um chiaroscuri auf blauem oder goldenem Grund 115 . Kompositionszentrum unseres Beispiels (Abb. 21 bei Steinmann) ist ein Brunnen,· auf dessen Schalen Putti und Affen. Neben dem Brunnen symmetrisch Flußgottheiten. Die Bildgegenstände sind durch eine große Platte, an deren Kanten zwei Pfaue stehen, als gemalte Plastik ausgewiesen. 112
Vergi. Hetzer, Vom Plastischen in der Malerei (Ges. Aufs. II, r44). Abb. bei Fiocco, Mantegna. 114 „Um 1485" steht hier für Datierung in die „Mitte der achtziger Jahre" (Schmarsow, Der Eintritt der Grotteske). 115 Beschreibung bei Schmarsow, Pinturicchio in Rom: „ . . . grau in grau gemalte Figuren auf hellblauem Grunde überwiegen..." 113
106
Diese Dekorationen sind den Pilastern Melozzos analog, im Raumschema jedoch anders. Der Grund ist blau, die Gegenstände sind grau. Die Sockelplatte bewirkt zunächst eine entscheidende Modifizierung: Die Dekoration will als plastisches Relief gesehen werden. Das ist eindeutig aus dem perspektivischen Kalkül, der mit dem Sockel gegeben ist. Gleichzeitig kann das Blau aber noch nicht als Raum gewertet werden, sein Oberflächencharakter ist dadurch gewahrt, daß die Grisaillen Schatten werfen. Flächen- und Raumkalkül stehen so in Beziehung, daß weder dieser noch jener sich ganz realisiert. Für die Struktur dieser Dekoration ist es von Bedeutung, daß die Motive in chiaroscuro, der Grund als Raum f o l i e gegeben ist. Der Effekt der chiaroscuri ist der von Plastik. Dadurch sind sie dem Betrachter näher (greifbarer) als der Grund, der wiederum von den grauen Gegenständen dadurch distanziert ist, daß diese wie „Plastik" gegeben sind. Der Grund ist nicht ihr Raum. Der Grund ist also vom Bildgegenstand g e t r e n n t , gleichzeitig ist dieser dem Betrachter näher als der Grund. Der Grund tritt als O b e r fläche in Erscheinung, wenn man das Bildgegenständliche als plastisches R e l i e f wertet, was aber nicht ganz wirksam werden kann, wo dessen vordere Kante mit der Realarchitektur zusammenfällt. Hier macht sich der Tiefenzug geltend, der mit der Perspektive des Sockels eingeführt ist; die Gruppe kann als Freiplastik gesehen werden, — aber ihre symmetrische Fügung zieht die Bildgegenstände in die Fläche. Nim sind in dieser Dekoration drei verschiedene Realitätsebenen dargestellt, getrennt und verbunden. Das Bedeutsame ist, daß mit der Eigenqualität des Grundes Raum gegeben ist, der im B l a u (vor allem dann im Goldgrund) einen Raum darstellt. Indem aber die Trennung von Eigenlicht des Grundes und Standortlicht nicht ganz realisiert ist, bleibt ein Rückstand, ein Rest: Der Raum, der mit dem blauen Grund gegeben ist, hat Oberfläche gewonnen, die Oberfläche, die mit dem Blau des Grundes ausgezeichnet wird, hat Raum bekommen. Die Lichtstruktur ist dabei eigentümlich: In Pinturicchios Colonna-Dekoration gibt es kein Bildlicht. Eigenlicht hat lediglich der G r u n d , die Bildgegenstände „leben" im Standortlicht, das wiederum mit dem Eigenlicht des Grundes dort kollidiert, wo Schatten auftreten. Dadurch wird die Distanz zum Grunde, die durch den Kontrast von Grand und Grau gegeben ist, erhöht. Das Grau bedeutet, daß das Licht des Grundes den Gegenstand dominiert, womit jede Farbigkeit von sich aus in dieses Grau verwiesen ist, ins Graue, bloß Schattenhafte. Je heller nun der Grund ist, desto farbiger kann das Bildgegenständliche werden. „Sphäre" des G r u n d e s und „Sphäre" des Betrachters sind in Spannung gesetzt. In deren Focus s i n d die Bildgegenstände. Die Ornamentik repräsentiert nicht mehr die Architektur, sie ist im Begriff sich zu invertieren und interpretiert nicht mehr ihren Träger. Die Bildgegenstände sind „wie Plastik" gegeben, schaffen in ihrer Freiräumlichkeit aber nicht eine optische O m a r n e n t ebene, sondern stehen i n dem Standort. Dessen 107
Spannung zum Raumgrund ist es, aus der die Bildgegenstände ihren Charakter gewinnen. Anders als in den Loggien, wo das a b s o l u t invertierte Muster den Lichthin tergrund dominiert. Der in der Inversion des Musters reduzierte Raumgrund (Undefinierte Raum) i s t die Stätte der Grotteske, die nur dann vom Raum des Betrachters nicht differiert, wenn man die Grotteske a l s Grotteske sieht. Die d r e i Realitätsebenen, die ein invertiertes ornamentales Muster auf Raumgrund darstellt, werden bei goldgründigen Gebilden ungleich deutlicher. Gold ist seiner Erscheinungsweise nach durch und durch licht. Es zeigt sich, daß die Bildgegenstände auf d i e s e n Grund keine Schatten werfen. Die Trennung der drei Sphären wird evident: Goldgrund — invertiertes Muster — Standortraum. Uberspitzt formuliert: Das invertierte Muster ist von zwei Seiten beleuchtet, vom Licht des Standortes und vom Licht des Goldgrunds. Dabei wird das Muster selbst zum Grau, seiner Leiblichkeit entkleidet, Schatten. Die Spannung zwischen Grund und Standort stellt den Gegenstand als Schattenwesen dar. PINTURICCHIO, APPARTEMENTO BORGIA,
I49a-i49slle
Dem O r n a m e n t stehen die Dekorationen Pintaiicdiios durch die Symmetrie nahe. Bei goldgründigen Dekorationen entsteht der Eindruck eines völlig selbständigen, freistehenden Gebildes, das durch diese Symmetrie noch ornamental erscheint. Gleichzeitig aber werden „Horizonte" eingeführt, wie sie aus den LoggienGrottesken bekannt sind. Erd-Basen, welche die Bodenplatte der Plastik ersetzen, schmale Bühnen, auf denen das Gegenständliche des. Gebildes seine Raumstellen hat, h i n t e r der dann der eigentliche Grund als ein Raumqualitatives sich nun nicht mehr dem Bildgegenstand öffnet, sondern dem Standort. Dem B i l d stehen Pintuiicchios Dekorationen im Palazzo Colonna durch die Szenerie nahe. So wie die Grotteske nicht mehr Ornament und noch nicht Bild ist, muß man die vorliegenden Beispiele aus den neunziger Jahren als ein Konglomerat aus Bild, Ornament und Reliefplastik ansehen 117 . Symmetrie ist vorhanden, doch beginnt sie erst hinter dem Muster, das sich so in seinen plastischen Qualitäten manifestieren kann. Die optische O m a r n e n t ebene ist durch die Eigenraumqualitäten des Grundes aufgelöst. Dieser Grund-Disposition nach stehen die Zwickel im Palazzo Colonna sehr nahe gewissen Typen des Bildes dieser Zeit, was an wenigen Beispielen deutlich werden mag. Um 1493 treten Elemente in Erscheinung, welche die plastische Tendenz an eine Grenze führen. Die Fläche befindet sich in dieser Zeit in einem „Umbruch". Der 116 111
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Abbn. bei Ehile-Stevenson. Vergi. Anhang S. i