Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance 9783110288346, 9783110282627

This volume deals with different attempts undertaken during the Italian Renaissance to define the nature of the “lyrical

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German Pages 298 [300] Year 2012

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Table of contents :
Vorwort
1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural
2. Lyrik als Makrogattung: Integrativ orientierte Lyriktheorien im Kontext aristotelischer Poetik
2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekäres Projekt der Systematisierung
2.2 Die Integration formalistischer Poetologie in den Aristotelismus: Giovan Giorgio Trissinos Poetica
2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’: Die heterogene Poetologie des Julius Caesar Scaliger
2.4 Das Scheitern des Systematikers? Antonio Sebastiano Minturnos Lyriktheorie zwischen Aristotelismus, rhetorischer Perspektivierung und literarischer Praxis
2.5 Der moralisierte Aristoteles: Pomponio Torellis wohlanständige Neujustierung der systematischen Lyriktheorie
2.6 Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie und typologisches Gattungskonzept im Kontext mimetischer Poetik
3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen
3.1 Die lyrischen Einzelgattungen zwischen Systembildung und Pluralisierung
3.2 Sonett und Epigramm
3.3 Canzone und Ode
3.4 Madrigal und Ballata
3.5 Elegie und affine Formen
4. Die lyrischen Genera und die Musik: Theoretische Entwürfe zwischen Mythos und konkreter Medialität
Bibliographie
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 9783110288346, 9783110282627

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Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance

Pluralisierung & Autorität Herausgegeben vom Sonderforschungsbereich 573 Ludwig-Maximilians-Universität München

Band 30

De Gruyter

Bernhard Huss · Florian Mehltretter Gerhard Regn

Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance

De Gruyter

ISBN 978-3-11-028262-7 e-ISBN 978-3-11-028834-6 ISSN 2076-8281 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Lyrik als Makrogattung: Integrativ orientierte Lyriktheorien im Kontext aristotelischer Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekres Projekt der Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.2 Die Integration formalistischer Poetologie in den Aristotelismus: Giovan Giorgio Trissinos Poetica . . . . . . . . . 26 2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’: Die heterogene Poetologie des Julius Caesar Scaliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.4 Das Scheitern des Systematikers? Antonio Sebastiano Minturnos Lyriktheorie zwischen Aristotelismus, rhetorischer Perspektivierung und literarischer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.5 Der moralisierte Aristoteles: Pomponio Torellis wohlanstndige Neujustierung der systematischen Lyriktheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.6 Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie und typologisches Gattungskonzept im Kontext mimetischer Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die lyrischen Einzelgattungen zwischen Systembildung und Pluralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Sonett und Epigramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Canzone und Ode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Madrigal und Ballata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Elegie und affine Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Die lyrischen Genera und die Musik: Theoretische Entwrfe zwischen Mythos und konkreter Medialitt . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Vorwort Der vorliegende Band ist aus der Forschungsarbeit des italianistischen Teilprojekts „Autoritt, Autor, Text: Kanonisierung und ‘neue Hermeneutik’ im Lyrikkommentar der italienischen Renaissance“ hervorgegangen, das seit Beginn der Laufzeit des SFB 573 zunchst unter der Leitung von Gerhard Regn, dann von Bernhard Huss (unter Mitarbeit von Florian Mehltretter) ttig war und mittlerweile an der Universitt ErlangenNrnberg als DFG-Einzelprojekt unter modifizierter Perspektive fortgesetzt wird („Im Windschatten Petrarcas. Fixierung und Sprengung von Autoritt in der italienischen Lyrik der Frhen Neuzeit“, Leitung B. Huss). Aus der eingehenden Beschftigung mit dem Prozess der Kanonisierung Francesco Petrarcas als eines solitren Vorbildautors der Renaissance, deren Ergebnisse in mehreren Sammelbnden, einer Monographie von Florian Mehltretter und in der einschlgigen Dissertation der frheren Projektmitarbeiterin Catharina Busjan vorliegen, ergab sich die Frage nach den Auswirkungen dieses Prozesses auf das Feld der volkssprachlichen Lyrik insgesamt. Die theoretische Dimension dieser Frage betrifft den Bereich der Gattungspoetologie, deren lyriktheoretische Bemhungen geprgt sind vom Spannungsfeld eines von Pietro Bembo installierten ‘orthodoxen’ Petrarkismus einerseits und der Ziele einer neuartigen systematischen Gattungskonzeption andererseits. In diesem thematischen Kontext situiert sich der Band, der das Resultat gemeinschaftlicher Arbeit der drei Verfasser ist und insofern monographischen Charakter hat. Unsere Studie basiert auf umfangreichen Vorarbeiten und hat von vielfacher Hilfestellung profitieren kçnnen. Wir danken fr die Mitarbeit bei der Vorbereitung und Drucklegung des Bandes insbesondere Carolin Hennig, M.A., Wienke Moß, M.A., und Simona Oberto, M.A., sowie den studentischen Hilfskrften Lena Burgheim, Mirela Heidel, Katharina Jakob, Marlies Kralicek, Nina Wiegand, Nora Weinelt, Alexander Winkler (alle Mnchen) und Marina Benker, Sophia Bretting, Ilka Kuffert, Laura Kersten, Gerd Kçnig, Christina Sontowski und Kristin Thiel (alle Erlangen). Fr die freundliche Untersttzung dieser Publikation sind wir dem Sprecher des SFB 573, Prof. Dr. Andreas Hçfele, sehr zu Dank verpflichtet. Die Zusammenarbeit mit dem Publikationsbro des SFB gestaltete sich

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Vorwort

reibungslos, wofr wir uns stellvertretend bei Dr. des. Eva-Maria Wilhelm bedanken drfen. Mnchen und Erlangen, im Februar 2012 Die Verfasser

1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural Unter den literarischen Genera, die fr die Kultur der Renaissance in Italien besonders starke Prgekraft erlangt haben, steht die Lyrik in der Volkssprache ganz obenan. Die Lyrik war die Gattung, die es den Eliten einer zunehmend hçfisch geprgten Gesellschaft relativ leicht machte, literarische Kompetenz unter Beweis zu stellen und so dem Ideal kultivierten Verhaltens optimal zu entsprechen. Die Versiertheit im Schreiben von Versen und Prosa, die Castiglione seinem Hofmann abverlangt („Sia […] esercitato nel scriver versi e prosa, massimamente in questa nostra lingua vulgare“, Cortegiano 1.44),1 zielt zuallererst auf die Lyrik, und zwar vornehmlich eine ‘poesia amorosa’, die zum galanten Spiel mit der Liebe gehçrte und die darber hinaus mit der Musik als festem Bestandteil hçfischen Lebens in lockerer Verbindung geblieben war. Von der großen gesellschaftlichen Bedeutung der Lyrik zeugt nicht zuletzt die Myriade rinascimentaler ‘rimatori’, von deren Hervorbringungen die zahl- und umfangreichen Gedichtanthologien der Zeit einen anschaulichen Eindruck vermitteln.2 Der Erfolg der Lyrik als Gattung ist aufs Engste mit dem Erfolg ihres wichtigsten Reprsentanten verbunden: Petrarca. Mit seiner volkssprachlichen Lyrik stellte Petrarca ein Ausdrucksrepertoire bereit, das nicht nur durch gefllige Eleganz bestach, sondern das, anders etwa als die gedanklich eher komplexen Gedichte der mittelalterlichen Stilnovisten, semantisch eingngig, wenig widerstndig und somit produktiv gut handhabbar war.3 Doch nicht nur dies: In der Manier Petrarcas zu dichten wurde in dem Maße zu einer prestigetrchtigen Angelegenheit, in dem Petrarca als Klassiker der Volkssprache kanonisiert wurde. Dieser Kanonisierungsprozess, dessen Analyse im Zentrum des Teilprojektes A4 des Mnchner Sonderforschungsbereiches „Pluralisierung und Autoritt“ stand, hat mehrere Dimensionen. Eine erste betrifft die 1 2 3

Zitiert nach Castiglione 1960, 75. Zur Lyrikanthologie in der italienischen Renaissance vgl. Quondam 1974 sowie Quondam 1991. Exemplarisch fr die stilnovistische Komplexitt im Gedanklichen steht Cavalcantis Donna mi prega. Vgl. dazu bes. Fenzi 1999. Die Opposition von philosophischem Anspruch bei den Stilonovisten und eingngiger Eleganz bei Petrarca thematisiert bes. Torquato Tasso. Vgl. Tasso 1823a, 48 f.

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1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

Sprachenfrage, die im Diskursuniversum der europischen Renaissancekultur von zentraler Bedeutung ist. In Italien markieren den Hçhepunkt der ‘questione della lingua’ Pietro Bembos Prose della volgar lingua, die nach langem Vorlauf 1525 in Venedig bei Tacuino erstmals publiziert wurden. Mit Bembo wurde die Sprachenfrage nicht nur zugunsten des Toskanischen entschieden, sondern das toskanische Italienisch wurde zugleich mit der Aura von Klassizitt ausgestattet und so in ein Verhltnis der Ebenbrtigkeit zum Lateinischen gebracht. Grundlage dafr war die bertragung des humanistischen Prinzips der ‘imitatio veterum’ auf die Volkssprache, und zwar in seiner entschieden klassizistischen Variante einer Nachahmung der ‘optimi’. In Analogie zum Lateinischen, wo fr Bembo Vergil Leitinstanz fr den vollendeten Gebrauch der Verssprache war und Cicero fr die Prosa, wurden fr das Italienische die mit dem Vorzug der Anciennitt belehnten ‘scrittori’ Petrarca4 (fr die Dichtung) und Boccaccio (fr die Prosa) in den Rang der Besten erhoben, an denen man sich zu orientieren hatte. Zwischen Verssprache und Prosa besteht fr Bembo nun ein prinzipieller Rangunterschied, der sich nicht nur aus dem gelufigen Verstndnis von Dichtung als inspirierter Rede herleitet, sondern der auch mit einer Besonderheit der Volkssprachen zu tun hat: Ein Vorzug des Italienischen gegenber den Sprachen der Alten ist fr Bembo das potenziell hçhere Maß an Wohlklang, dessen optimale Entfaltung wiederum durch eine gebundene Rede ermçglicht wurde, die, anders als die Dichtungssprachen der Antike, den Reim als ihr Konstituens hatte. So kommt es, dass in den Prose della volgar lingua Petrarca als vollkommener Reprsentant des Sprachklassizismus Profil gewinnt und Boccaccio gewissermaßen auf den Status einer halben Autoritt zurckgestutzt wird.5 Die Kanonisierung des Sprachmodells ging mit der Kanonisierung eines Dichtungsmodells einher, fr das vor allem die Lyrik des Canzoniere 6 einsteht. Bevorzugtes Instrument waren die kommentierten PetrarcaAusgaben, die die Druckgeschichte von Petrarcas Werk in der Volkssprache von Anfang an begleiten und die im Verlauf des 16. Jahrhunderts dann zu maximaler Verbreitung gelangen. Die Kommentierung bezog sich nicht nur auf die Lyrik, sondern sie schloss auch das Terzinenepos der Trionfi, mit dem Petrarca der Commedia Konkurrenz machen wollte, mit ein; doch im 4 5 6

Zur Verschrnkung von Anciennitt und Schriftlichkeit im Kontext der italienischen Nachahmungsdebatte vgl. Kablitz 1999. Vgl. Kennedy 1994, 82 – 102 sowie Regn 2004a. Im originalen lateinischen Titel Rerum vulgarium fragmenta (RVF, so bei den Stellennachweisen jeweils zitiert).

1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

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16. Jahrhundert trat das allegorische Weltgedicht immer strker hinter die Lyrik zurck: Der Laura-Dichter war nun mehr als alles andere der Klassiker der Liebeslyrik. Bei der Kommentierung des Canzoniere sind die Schwerpunkte verschieden gesetzt. Einige Kommentatoren akzentuieren auf der Linie Bembos die formale Seite. Die Installierung Petrarcas als Autoritt poetischer Form geschieht am wirksamsten dort, wo den kommentierten Ausgaben ‘tavole’ beigegeben sind, in denen das Ausdrucksrepertoire Petrarcas in handlicher Weise fr die Zwecke der Nachahmung aufbereitet ist, wie dies besonders eindrucksvoll in Dolces Petrarca-Edition von 1560 der Fall ist. Bei Dolces ‘tavole’ handelt es sich um Aufstellungen des petrarkischen Vokabulars, um Listen seiner rhetorischen Figuren, vor allem der Metaphern, Vergleiche, Antithesen oder Epitheta, sowie um Reimlisten und hnliches mehr: Den Nutzern soll, wie unschwer zu sehen ist, ein Instrumentarium an die Hand gegeben werden, das Hilfestellung fr das Dichten in der Manier Petrarcas sein kann.7 Andere Kommentare – hier ist prominent Alessandro Vellutellos vielfach nachgedruckte PetrarcaAusgabe von 1525 zu nennen – fokussieren die Laura-Liebe und erçrtern vordringlich Fragen der Liebestheorie, der Moralphilosophie und der biographischen Exemplarik.8 Wieder andere Kommentare zeichnen ein noch umfassender angelegtes Petrarca-Bild, indem sie dem Snger der Laura die epochale Bedeutung eines Kulturerneuerers zuschreiben. Am nachdrcklichsten geschieht dies bei Andrea Gesualdo, der 1533 den umfangreichsten unter allen Petrarca-Kommentaren vorgelegt hat.9 Gesualdo, der die Trionfi ganz explizit nur noch als Annex der petrarkischen Lyriksammlung behandelt, prsentiert den Canzoniere als mustergltige Verwirklichung rinascimentaler Kultur. Denn fr den gelehrten Kommentator ist die Laura-Lyrik und damit die Versdichtung im ‘volgare’ das diskursive Feld, auf dem das humanistische Ideal der Verbindung von Eloquenz und Weisheit seine vollkommene Gestalt gewinnt.10 Petrarca ist damit zunchst einmal der Erneuerer der ‘litterae’, der den Weg fr die ‘studia humanitatis’ gebahnt hat: 7 Vgl. Neumann 2004a. 8 Vgl. Busjan 2004. Die Akzentuierung der liebestheoretischen Dimension ist auch fr die Petrarca-Exegese in den Akademievortrgen des 16. Jahrhunderts charakteristisch. Vgl. dazu grundstzlich Huss / Neumann / Regn 2004. 9 Zu Gesualdo vgl. Belloni 1992, 189 – 225 sowie die demnchst erscheinende Mnchner Dissertation von Catharina Busjan: Kanonisierung und Auslegung: Die Petrarca-Kommentare Vellutellos, Gesualdos und Daniellos. 10 Zur humanistischen Denkfigur der Verbindung von Eloquenz und Weisheit, mit besonderem Fokus auf Petrarca, vgl. Seigel 1968.

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1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

egli [Petrarca] fu il primo, che come da profonde e lunghe tenebre  guisa d’un luminoso Sole richiam in aperta e viva luce le bone lettere latine, cos in Italia la Greca lingua […] rinovell, e […] dest molti leggiadri ingegni alli studi […] d’humanitate, i quali in fin allhora vilemente abbandonati s’erano in terra giaciuti.11

Doch dies ist nicht alles. Er hat nmlich zugleich die Literatur in der Volkssprache zum Ort einer humanistisch inspirierten Kultur gemacht,12 die den Vergleich mit den Alten nicht nur nicht zu scheuen braucht, sondern diese sogar zu berbieten in der Lage ist. Weil er wusste, dass die Alten auf ihrem eigenen sprachlichen Terrain nicht mehr bertroffen werden konnten, habe Petrarca sich der Dichtung in der Volkssprache zugewandt, wo er noch nicht erschlossene Mçglichkeiten der Entwicklung gesehen habe.13 Entmutigt durch die Kulturferne der eigenen Zeit habe er jedoch von diesem Unterfangen abgelassen. Obschon der Canzoniere in den Augen Gesualdos deshalb Fragment geblieben ist, gebe er ungeachtet seiner fehlenden Vollendung Zeugnis von der Strahlkraft einer volkssprachlichen Dichtung, die aus der innigen Vertrautheit mit der Literatur der ‘veteres’ erwachsen sei.14 Denn mit seinem Canzoniere – und das heißt: mit seiner Lyrik – habe Petrarca alle kanonisierten Grçßen berboten, und zwar sogar Pindar, von dem Horaz gesagt habe, dass er unnachahmbar sei. Als Fazit ergibt sich die Unvergleichlichkeit des Laura-Dichters: „ne greco, ne latino poeta ho letto anchora, ch’al giudicio mio agguagliar se gli possa“.15 Petrarcas Rang als fhrender Lyriker wird nicht nur von anderen Kommentatoren des Canzoniere besttigt,16 er geht auch wie selbstverstndlich in die zeitgençssischen Poetik-Traktate ein: Noch in den 1594 erstmals publizierten Discorsi del poema eroico hlt Torquato Tasso lapidar fest, dass Petrarca alle antiken Lyriker hinter sich gelassen habe.17 11 Gesualdo 1533, fol. b4r. 12 Toffanin hat dafr die treffende Bezeichnung des ‘umanesimo volgare’ geprgt. Vgl. Toffanin 1941, 83. 13 „E perche vedeva il suo stile Thoscanamente in pregio, non possendo mica Latinamente ne alle prose, ne ai versi de gli antichi aggiungersi da’ moderni ingegni, hebbe un tempo in animo di spendere il suo studio nella materna lingua, e gi nella giovinezza grande opera cominciato n’havea […], quando riguardando meglio nell’et sua, e veggendola madre di superbia, e d’ignorantia […], lasci la nobile impresa“ (Gesualdo 1533, fol. b5r). 14 Gesualdo 1533, fol. b4r. 15 Gesualdo 1533, fol. c3v. 16 So z. B. bei Bernardino Daniello. Vgl. Daniello 1541, fol. *3r. 17 „[…] Virgilio super tutti i poeti eroici di gravit, il Petrarca tutti gli antichi lirici di vaghezza“ (Tasso 1977, Bd. 2, 341 f.). ‘Vaghezza’ fungiert bei Tasso als das Kri-

1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

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Die rinascimentale Kanonisierung Petrarcas stattet das literarische Genus der Lyrik mit einer großen Geltungsmacht aus, die brigens durch die mythischen Ursprungserzhlungen vom Ineinander von Lyrik und Musik zustzlich verstrkt wird. Die Kommentare zum Canzoniere fokussieren durchgngig die Exzellenz des Lyrikers Petrarca, gleichwohl gibt es in ihnen kaum Erçrterungen gattungspoetologischer Art. Dies erklrt sich aus dem Genre des Kommentars18 ebenso wie aus der Kanonisierungsintention. Primres Anliegen von Petrarcas Kommentatoren ist es, ber fortlaufende Stellenkommentare ein auslegungs- und erçrterungsbedrftiges Werk fr eine kulturinteressierte Leserschaft verfgbar zu machen und auf diese Weise die Vortrefflichkeit seines Autors in hellem Licht erstrahlen zu lassen. Lediglich in den diskursiv angelegten Introduktionsteilen, die ein kompaktes Portrt von Mensch und Dichter zeichnen, finden sich vereinzelte Hinweise zu Aspekten der Gattungspoetik. Will man also Aufschluss gewinnen, wie in der italienischen Renaissance ber Lyrik als Gattung nachgedacht wurde, und zwar unter besonderer Bercksichtigung der Dichtung in der Volkssprache, dann muss man das Augenmerk ber die Petrarca-Kommentare hinaus richten. Dies soll in der vorliegenden Studie geschehen. Ziel ist es, in einem ausgewogenen Verhltnis von Systematik und Exemplarik die Haupttendenzen der Lyriktheorie eines Kulturraumes sichtbar zu machen, der den brigen europischen Literaturen ber eine lange Zeit hinweg Orientierungsinstanz war. Dabei wird sich zeigen, dass im poetologischen Schrifttum der Zeit die Fragen der Lyrik vor allem in zwei Zusammenhngen verhandelt wurden, die einerseits konzeptionell unterschiedlich, andererseits aber doch zueinander komplementr sind. Mit der Lyrik befassen sich zum einen Ausfhrungen, in denen es – oft ohne Rekurs auf einen expliziten Begriff von ‘Lyrik’ – um die Regularitten der metrisch-strophischen Kleinformen geht, die sich im Verlauf der Renaissance mehr und mehr zum Ensemble der lyrischen Einzelgattungen fgen werden. Im Vordergrund stehen dabei die kurrenten Gattungen der volkssprachlichen Tradition, und hier wiederum vor allem Canzone, Sonett, Ballata, Madrigal; von Belang sind aber auch – nicht zuletzt wegen ihrer zunehmenden Verschrnkung mit den eben genannten Genera – Ode, Epigramm, Elegie und affine Formen. Zum anderen gewinnt die Lyrik im Zusammenhang bergreifend angeterium, das die Lyrizitt der Lyrik ausmacht: Vortrefflichkeit im Bereich der ‘vaghezza’ meint Vortrefflichkeit als Lyriker. 18 Zum Kommentar als Gattung vgl. Neumann 2004b.

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1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

legter Dichtungslehren gattungspoetologische Bedeutung. Zentral ist hier vor allem die Prgung der Poetologie durch die Rezeption der Poetik des Aristoteles, die – wie tastend auch immer – um Einiges frher einsetzt, als es die ‘opinio communis’ will: Sie ist bereits in den ersten vier Teilen von Trissinos Poetica (1529) greifbar und bleibt das ganze 16. Jahrhundert hindurch tonangebend.19 Die aristotelische Poetik der Renaissance zielt auf eine Systematik der Dichtung, in deren Rahmen die wichtigen Gattungen Ort und Profil erhalten sollen. Dies gilt auch fr die Lyrik, die, obschon bei Aristoteles nicht behandelt, aufgrund der Prominenz Petrarcas nicht einfach ignoriert werden konnte: Viele der rinascimentalen Dichtungstheoretiker, die der aristotelischen Poetik Tribut zollen wollten, versuchten deshalb die Lyrik in das System einer mimetisch fundierten Dichtungslehre20 einzupassen, um ihr auf diese Weise die Kontur einer dichterischen Makrogattung zu verleihen.21 Zwei unstrittige, aber einander widerstrei-

19 Zu den Grundzgen der Rezeption der aristotelischen Poetik vgl. Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 349 – 423. Zu diversen Anstzen, die Lyrik vor Beginn der Rezeption der aristotelischen Poetik in ein berwçlbend konzipiertes Gattungssystem einzufgen, und zwar ohne ihr den Status einer veritablen Makrogattung zuzuerkennen, vgl. die verstreuten Bemerkungen bei Behrens 1940, 29 – 77. Meist wurde Lyrik als (hufig nicht nher definierter) Teil eines auf Diomedes rckfhrbaren ‘genus mixtum’ gedacht. So etwa bei Equicola 1541, o.S.: „Di poemi tre modi sono stimati. Attivo […]. Enarrativo […]. L’ultimo il Misto, il qual contiene maest Heroica, soavit lirica, et miserabili elegie.“ Der enumerative Konnex, der Lyrik und Elegie als Elemente einer Reihe behandelt, legt nahe, dass Equicola Lyrik als quivalent der horazischen Ode verstanden wissen will. 20 Wobei es in der Regel nicht um die Etablierung einer Gattungstrias ging, sondern um eine Systematik, die auf drei, vier oder auch noch mehr Makrogattungen zielte. 21 Von einigen – auch prominenten – Aristotelikern wurde der Lyrik die Eigenschaft, vollgltige Realisierungsform von Dichtung zu sein, abgesprochen; zu dieser Position tendiert etwa Vettori, vgl. Victorius 1560, bes. 13 – 14. Vgl. dazu auch Hathaway 1962, 35. Derartige Positionen waren aber die Ausnahme. In der Regel wurde der Versuch unternommen, der Lyrik – in welcher Form und mit welcher Begrndung auch immer – ihre Position in einem mimetisch fundierten Dichtungssystem zu geben. Die Behauptung von Teresa Chevrolet, dass „[l]e silence d’Aristote autour de la po sie lyrique provoque une totale absence de consid ration pour cette forme de po sie dans les trait s aristot liciens de la Renaissance“ (Chevrolet 2007, 449), geht an den historischen Gegebenheiten vçllig vorbei, selbst wenn man das Verstndnis von ‘aristotelisch’ in Bezug auf die poetologischen Abhandlungen des Cinquecento sehr eng fasst. Ergnzend ist noch darauf hinzuweisen, dass natrlich auch noch in der aristotelischen Phase der italienischen Renaissance Bestrebungen existieren, Dichtung unabhngig vom Kriterium der Mimesis zu bestimmen. Diese freilich sind sekundr gegenber dem aristotelischen

1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

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tende Autoritten, Aristoteles und Petrarca, waren also in die Balance zu bringen. Das Unterfangen war schwierig, die Lçsungsversuche waren vielfltig, und sie gingen einher mit Verwerfungen und Brchen, die man nicht selten mit rhetorischen Finten zu kaschieren versuchte. So erstaunt es nicht, dass im Neuen das Alte fortleben konnte. Im Kontext des Aristotelismus bleibt etwa die tradierte Lyrikdefinition der horazischen Ars poetica weiter prsent:22 In horazischer Optik wurde die Lyrik ungeachtet der aristotelischen Dichtungskriterien immer wieder auf eine Poetik der Ode (bzw. auf die Poetik jener volkssprachlichen Gedichtarten, die zu Odenquivalenten deklariert werden konnten) eingeengt, fr die Gçtteroder Heldenlob ebenso Gegenstand der Darstellung sein konnten wie die Liebe oder eine konviviale Thematik. Doch dies ist nicht alles. Auch die prskriptive Erçrterung der metrisch-formalen Regularitten fristet im Kontext der aristotelischen Dichtungslehre weiter ihr keineswegs nur krgliches Dasein, wie schon der Blick auf den Untertitel von Minturnos Arte poetica (1564) zeigt, wo es heißt: L’arte poetica / […] / con la dottrina de’ sonetti, e canzo-/ni, & ogni sorte di Rime Thoscane, dove s’insegna il mo-/do che tenne il Petrarca nelle sue opere. In der italienischen Renaissance werden erstmals Bemhungen um ein bergreifendes Lyrikkonzept greifbar: Ziel war, die Lyrik als Makrogattung mit einer einheitlichen Matrix in das Gebude (systematisch angelegter) Dichtungstheorie einzupassen. Die Bestrebungen freilich waren nur bedingt erfolgreich und stießen in den diversen Poetiken in je unterschiedlicher Weise, im einen Fall frher, im anderen spter, an ihre Grenzen: Dispersive Vielfalt lyrischer Gegenstnde und integrative Kraft des Gattungsdesigns verblieben in einem ungelçsten Spannungsverhltnis, Extension und Intension der Lyrik waren konzeptionell nur unzureichend in Einklang zu bringen. Damit zeichnet sich bereits am historischen Beginn der Theoretisierung der Lyrik als einer Makrogattung, die das Ensemble der metrisch-strophischen Kleinformen zu integrieren sucht, jene Konstellation ab, die die Lyriktheorie im Grunde bis in die Gegenwart kennzeichnet: Bis heute wird stets aufs Neue versucht, Lyrik als einheitliches Genre zu konzipieren, die angestrebte Einheit freilich wird durch die historische Vielfalt der lyrischen Gegenstnde immer wieder untermiMainstream. Bekanntester Vertreter dieser Tendenz ist Francesco Patrizi. Vgl. dazu bes. Hathaway 1962, 9 – 22. 22 Zur Rolle der horazischen Poetik in der italienischen Renaissance vgl. Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 71 – 249.

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1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

niert.23 Und trotzdem gilt bereits fr die italienische Renaissance, was das Nachdenken ber Lyrik bis heute bestimmt: Es gilt die – oft unausgesprochene – berzeugung, dass es so etwas wie eine Einheit des Lyrischen gebe, selbst wenn sich die Identitt des Lyrischen nicht ber ein (semantisch) klar konturiertes Lyrikkonzept dingfest machen lasse. Die gattungstheoretische Antwort auf diese Situation – die die Poetiken der Renaissance natrlich noch nicht explizit geben konnten – ist die von Wittgenstein her gedachte Idee der Familienhnlichkeit:24 Die Exemplare der Lyrik verhalten sich zueinander wie die Mitglieder einer Familie, sie stehen in einem Verhltnis der hnlichkeit, ihre Gemeinsamkeiten greifen ineinander, ganz so wie das „lckenlose bergreifen“ vieler Fasern beim Spinnen am Ende einen durchgehenden Faden bildet.25 Die Familienhnlichkeit konstituiert sich also ohne die „Rekurrenz eines einzelnen Merkmals“ und damit ohne Vorhandensein eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“.26 Wie gut sich die impliziten Voraussetzungen fr die Formierung des rinascimentalen Lyrikverstndnisses auf der Grundlage des Gedankens der Familienhnlichkeit fassen lassen, zeigt sich, wenn man das Augenmerk auf die Begriffsgeschichte lenkt und dabei die Entwicklung der Bezeichnungsvarianten von ‘Lyrik’ in ihrer Verflechtung mit affiner Gattungsterminologie analysiert. Ein guter Ansatzpunkt dafr findet sich in den Petrarca-Kommentaren, auf die deshalb nochmals kurz zurckgeblickt sei. Im Introduktionsteil seines Kommentars hlt Gesualdo fest, dass Petrarca seiner Meinung nach unter die Lyriker einzuordnen sei: non mi pentir d’haver il Poeta [d.i. Petrarca] in questo libbro locato tra Lyrici. che benche egli nel suo cantare in guisa d’Elegia sovente si lamenti, e pianga, nondimeno piu simile  quel di Pindaro, e d’Horatio, ch’ quel di Callimacho e di Tibullo mi par lo stile.27

Die Einordnung erfolgt auf der Basis des horazischen Lyrikkonzeptes, und sie geschieht in Abgrenzung zur Elegie: Petrarca wird in eine Reihe mit den Lyrikern Pindar und Horaz gestellt und dabei von den Elegikern Kalli-

23 Zur Situation der Lyriktheorie vgl. Wolf 2005. 24 Zum Konzept der Familienhnlichkeit in der Gattungstheorie vgl. zuletzt Hempfer 2010. 25 Wittgenstein 2001, 287 f. 26 Hempfer 2010, 19. 27 Gesualdo 1533, fol. c3r.

1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

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machos28 und Tibull abgehoben. Lyrik, die in der Lesart antiker Poetik deckungsgleich mit der Ode ist, und Elegie werden von Gesualdo also als unterschiedliche Gattungen begriffen, wobei im Fall der Lyrik Kanonbegriff und Gattungsbezeichnung bereinandergeblendet sind.29 Die Referenz auf die an Ars Poetica 83 – 85 anschließende Gattungsbezeichnung30 ist impliziert, whrend der Kanon der Lyriker exemplarisch aufgerufen ist. Fr die griechischen ‘lyriko ’ ist als deren berragender Fhrer Pindar genannt,31 fr die lateinischen Horaz. Gesualdo rekurriert hier ganz offenkundig auf Minturno,32 dessen Name nur wenige Stze spter fllt, und damit auf den dort durch Horaz auf zehn Lyriker erweiterten Kanon.33 Ergnzend fgt Gesualdo noch die Bemerkung hinzu, dass es sich bei Petrarcas Sonetten und Canzonen um lyrische Metra bzw. Gedichtformen handle: „volendo io dimostrarvi […] i versi de Sonetti e de le Canzone esser lyrici“.34 Mit der Trennung von Lyrik und Elegie stellt sich Gesualdo in eine gattungspoetologische Traditionslinie, die ber das Mittelalter bis in die Antike zurckreicht und die in der Tat noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts ungebrochen zu sein scheint.35 Bei nherem Zusehen freilich

28 Kallimachos ist hier offenkundig als Autor der Locke der Berenike und damit als Elegiker genannt. 29 Zur Duplizitt von ‘Lyrik’ als Kanon und als Gattungsbezeichnung vgl. Primavesi 2008. 30 „Musa dedit fidibus divos puerosque deorum / et pugilem victorem et equum certamine primum / et iuvenum curas et libera vina referre.“ 31 „il quale disse Horatio non potersi imitare“ (Gesualdo 1533, fol. c3v). 32 Gesualdos Kommentar ist in enger Verbindung mit Minturno und dessen ominçser Akademie entstanden, die ihren Reflex in den spteren Poetiken des Neapolitaners finden wird. 33 Vgl. Minturno [1564] 1971, 169, wo es von den Lyrikern heißt: „dieci furono i pi chiari, che propriamente lyrici son detti, e di loro  giudicio di tutti Pindaro il primo“. Die neun Griechen, die durch Horaz komplettiert werden, sind mit Einschluss Pindars Bakchylides, Sappho, Anakreon, Stesichoros, Simonides, Ibykos, Alkaios und Alkman. Der griechische Kanon war um 200 v. Chr. fixiert, die Kanonisierung selbst ist Produkt der hellenistischen Philologie, vgl. Primavesi 2008, 17. Die Erweiterung des griechischen Kanons durch Horaz findet sich bereits bei Quintilian, vgl. Primavesi 2008, 29. 34 Gesualdo 1533, fol. c3v. 35 Dies gilt hauptschlich fr die Dichtungstheorie, schlgt sich aber durchaus auch in der Dichtungspraxis nieder, wie exemplarisch das Beispiel Alamannis belegt, der eine elegische von einer petrarkistischen (und damit implizit als ‘lyrisch’ verstandenen) Liebesdichtung abgrenzt und dabei – anders als Gesualdo – die metrische Differenzierung zu einer konstitutiven Basis der Trennung beider Gattungen macht: Alamannis petrarkistische Liebeslyrik bedient sich der bei Petrarca vor-

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1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

erweist sich, dass die Dinge weniger klar liegen, als es zunchst den Anschein hat. Gesualdos Zuordnung des Canzoniere zur (horazisch verstandenen) Lyrik erfolgt nmlich nicht mehr auf der Grundlage klassifikatorischer Differenzierung, die nach Maßgabe des Entweder-oder funktioniert, sondern auf der (ein typologisches Gattungsdenken voraussetzenden) Basis des Mehr oder Weniger. Petrarca, so erfahren wir, habe sich, obschon der Canzoniere schlussendlich als ‘lyrisch’ zu verorten sei, dennoch oft der Modi der Liebeselegie bedient: „in guisa d’Elegia sovente si lamenti“. Zwischen den horazischen „amorose giovenili cure“36 und den „lamenti“ der Elegiker37 besteht offenkundig ein Verhltnis der Familienhnlichkeit – wenn Gesualdo trotzdem das miteinander Verwandte noch trennt, dann deshalb, weil Petrarca die der elegischen Liebesklage antiker Provenienz immanente Tendenz zur sensualistischen Erotik gebremst und die elegische „Laszivitt“ vermieden habe.38 Ermçglichungsbedingung fr die potenzielle Verquickung von Elegie und Lyrik ist der Ausfall metrischer Distinktion, die ja in der Antike das notwendige Kriterium fr die Differenzierung der beiden Gattungen war. Die Gedichtformen der volkssprachlichen Tradition sind nach Gesualdos Auffassung nmlich prinzipiell fr beide Modalitten, die lyrische wie die elegische, offen: „E nei Sonetti, e nelle Canzoni piu dicevolmente trattarsi quelle cose, ch’i Greci, e Latini nell’ode, e nell’Elegie trattarono.“39 Die Drift zur Verschmelzung von Lyrik und Elegie ist im Cinquecento allgegenwrtig. So trennt etwa Daniello in seiner Poetik von 1536 die beiden Gattungen40 und stellt den Canzoniere als Ganzes auf die Seite der Lyrik;41 in der Einleitung zu seinem PetrarcaKommentar von 1541 jedoch macht er bei seiner Charakterisierung von Petrarcas Praxis der ‘imitatio’ berdeutlich, dass fr den Dichter der Laura vor allem die Bezugnahme auf die Liebeselegiker – genannt werden Properz, Tibull und Ovid – wie auf den Neoteriker Catull im Vordergrund

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gegebenen Gattungsformen, seine elegische dagegen nutzt die ‘terza rima’ als volkssprachliches quivalent des elegischen Distichon. Vgl. Penzenstadler 1993. So die Wiedergabe von „iuvenum curas“ (Ars poetica 85) bei Daniello [1536] 1970, 249. Vgl. Daniello [1536] 1970, 249. Im Canzoniere sei Petrarca „senza lascivia leggiadro“ (Gesualdo 1533, fol. c3v) gewesen. Bei Tasso wird ein paar Jahrzehnte spter ‘lascivo’ zur Bezeichnung fr einen der typischen Realisierungsmodi der Lyrik werden. Vgl. dazu Kap. 2.6. Gesualdo 1533, fol. c3r. Daniello [1536] 1970, 249. Er spricht vom Canzoniere als von Petrarcas „lirico amoroso poema“ (Daniello [1536] 1970, 245).

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steht.42 Petrarcas „lirico amoroso poema“43 ist also stark elegisch ‘durchsetzt’. Der Wechsel von der antiken zur volkssprachlichen Metrik treibt das thematisch begrndete Nahverhltnis von (Liebes-)Elegie und lyrischer Odendichtung voran in Richtung einer Fusion beider Gattungen. Diese Tendenz zur Konvergenz von Elegie und Lyrik ist dabei gewissermaßen der Nukleus fr die Entfaltung einer Dynamik, die auf die Zusammenschau des ganzen Ensembles metrisch-strophischer Kleinformen zielt. Dass dies mit mannigfachen Unsicherheiten einherging, tut der Wirkkraft der Tendenz keinen Abbruch. Bei Minturno ist, wie zu sehen war, die Lyrik durchaus noch horazisch definiert und damit eingegrenzt: Lyrik als (horazische) Ode also, die als eine bestimmte Spezies des bergreifenden Genus der melischen Poesie44 gesehen wird – der erudite Humanist vertritt hier grosso modo die Position, wie sie schon in der griechischen Antike formuliert war.45 Doch diese Position ist nicht durchgehalten. An anderer Stelle ist die Hierarchie von Melik und Lyrik nmlich geschliffen, und die beiden Kategorien sind in eins gesetzt: Auf die grundstzliche Frage von Vespasiano Gonzaga, wie viele Teile (sprich: Makrogattungen) die Dichtung denn nun habe, antwortet Minturno: Tre generali. L’una si chiama Epica, l’altra Scenica, la terza Melica,  Lyrica che dir ui piaccia.46

Hier ist Lyrik als ein Sammelbegriff gebraucht, der das ganze Ensemble der metrisch-strophischen Kleinformen bndelt, vor allem der Sonette, der Canzonen und all der anderen „Rime Thoscane“, um die es Minturno laut Titelblatt in der volkssprachlichen Version seiner Poetik ja ganz besonders zu tun ist (s. o.). Die Behandlung der Kleinformen als ein Ensemble zusammengehçriger Einzelgattungen kommt immer strker in den Fokus. Ein prominentes Beispiel ist Lodovico Castelvetro, der 1570 in seinem Kommentar zur Poetik des Aristoteles vier Makrogattungen auffhrt und

42 Daniello 1541, fol. *3r : „Vedranno [gli studiosi] […] con qual giuditio […] de Poeti Latini si servisse; come di Catullo, Tibullo, e Propertio ( i quali in bene esprimere gli amorosi suoi concetti non pure uguale, ma fu di gran lunga superiore […]), di Virgilio, d’Horatio, d’Ovidio […].“ 43 Daniello [1536] 1970, 245. 44 „[…] sotto il nome del Melico cos il Lyrico, come il Dithyrambico, & il Nomico si comprenda“ (Minturno [1564] 1971, 169). 45 Zum (komplexen) Verhltnis von ‘melik t chne’ und ‘lyrik po esis’ vgl. im Detail Primavesi 2008, 17 – 20. 46 Minturno [1564] 1971, 3.

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1. Einleitung: Lyriktheorie im Plural

dabei neben der Komçdie, dem Epos und der Tragçdie die Gruppe der „poemi brievi e varii“ nennt: Ora noi, generalmente parlando, dividiamo tutti i poemi in quattro parti: e sotto la prima constituiamo la comedia, sotto la seconda la epopea, sotto la terza la tragedia, sotto la quarta: ode, epigrammi, elegie, canzoni e simili poemi brievi e varii.47

Die Passage ist in doppelter Weise signifikant. Sie belegt zum einen, dass sptestens im letzten Drittel des Cinquecento die Kleinformen48 ohne Unterscheidung ihrer antiken oder nachantiken Herkunft von fhrenden Dichtungstheoretikern als Teile eines gemeinsamen Gattungszusammenhanges angesehen wurden; zum anderen signalisiert die Absenz eines vereinheitlichenden terminologischen Nenners – also die Abwesenheit des Lyrikbegriffs – die Schwierigkeit, das als zusammengehçrig Empfundene auch konzeptuell ber einen integrativen Gattungskern zu bestimmen: Castelvetro begngt sich also damit, die vierte Makrogattung der „poemi brievi e varii“ nach Maßgabe des Konzeptes der Familienhnlichkeit zu behandeln. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wird Pomponio Torelli die Familie noch weiter anwachsen lassen – er ergnzt sie nicht nur um den satirischen Iambus, sondern sogar noch um die petrarkische Terzinendichtung;49 er wird des Weiteren Lyrik als Bezeichnung fr die Großgattung verwenden – die Abhandlung trgt den Titel Trattato della poesia lirica –; und er wird schließlich versuchen, ber die elastische Interpretation konstitutiver Kriterien der aristotelischen Poetik, und zwar unter besonderer Betonung der Reprsentation der Affekte,50 der Gattungsfamilie eine einheitsstiftende Matrix zu geben. Wie anderen Poetikern vor ihm – man denke nur an Minturno – zerrinnen ihm seine Bemhungen dann letztlich aber doch zwischen den Fingern. So sieht sich das Verstndnis von Lyrik als Gattungszusammenhang am Ende wieder auf eine implizite Vorstellung von dem Genre als einem bloßen Verbund von Familienmitgliedern zu47 Castelvetro 1978 – 1979, Bd. 1, 257. Zu Castelvetros impliziter Behandlung der Lyrik als Makrogattung vgl. auch Hempfer 2008, 50 f. 48 Wobei Kleinform natrlich ein relativer Begriff ist – es gengt, an die eine oder andere Canzone der italienischen Renaissance zu denken: Bembos Canzone Alma cortese, die ein Trauergedicht auf den Tod seines Bruders Carlo ist, zhlt immerhin 214 Verse. 49 Vgl. dazu Hempfer 2008, 53. 50 Die Nachahmung der Affekte wird gleichzeitig auch von Alessandro Guarini zum Spezifikum des lyrischen Genus erhoben, vgl. Guarini [1599] 1728, 349 f. In diesem Zusammenhang prgt Guarini den Begriff der „favola lirica“, vgl. dazu auch Chevrolet 2007, 471 f.

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rckverwiesen. Die weitere Entwicklung der Lyriktheorie allerdings zeigt, dass die in der italienischen Renaissance begonnenen Versuche stets aufs Neue aufgenommen werden: Die Rede ist von der Sisyphosarbeit, der Lyrik eine unverwechselbare Identitt zu geben, und zwar ber das Konzept der Familienhnlichkeit hinaus.

2. Lyrik als Makrogattung: Integrativ orientierte Lyriktheorien im Kontext aristotelischer Poetik 2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekres Projekt der Systematisierung Die Sisyphosarbeit, Lyrik als Makrogattung zu konzipieren, wurde in der italienischen Renaissance insbesondere im Rahmen der aristotelisierenden Lyriktheorie ein erstes Mal umfassend angegangen. Diese Theorie erstellt auf einer abstrakten Ebene durch den Rekurs auf die fundamentalen Theoreme der Mimesispoetik des Aristoteles51 ein auf dialektisch eingesetzten Differenzkriterien (‘diaphora ’) fußendes System einer diversifizierenden Rasterung von Gattungen durch die jeweilige Zuweisung eines Bndels unterscheidender Merkmalskonstellationen.52 Die Differenzkriterien des Aristoteles sind unter der Begrifflichkeit der ‘Mittel’, des ‘Gegenstands’ und des ‘Modus’ der dichterischen Mimesis bekannt. Die anhand jeder dieser drei Rubriken jeweils separat vorzunehmenden Merkmalsdifferenzierungen literarischer Textgruppen ergeben abstrakt ein Raster, das sich in Form einer Tabelle ausdrcken ließe und die Konfiguration und differenzielle Positionierung voneinander unterscheidbarer Makrogattungen erlaubte.53 Wie sich zeigen wird, ist das Problem der Renaissance aber nicht erst die Fllung eines solchen Rasters, sondern bereits die Instabilitt der ‘diaphora ’selbst, weil ihr theoretischer Zuschnitt hufig unterschiedlich interpretiert wird. Denn da das aristotelische 51 Vgl. zu Aristoteles’ Definition von Dichtung als Mimesis allg. Kpper 2009, zur frhneuzeitlichen Rezeption der aristotelischen Mimesispoetik Kablitz 2009. 52 Zum systematischen Ansatz der aristotelisierenden Gattungspoetologie vgl. allg. Solervicens 2011. 53 So ist nach Aristoteles selbst (Poetik Kap. 5) die Tragçdie hinsichtlich des Mittels der Mimesis durch heterometrisch versifizierte Sprache, hinsichtlich des Gegenstands durch Darstellung ‘guter’ Menschen (d. h. Darstellung ethisch positivierter menschlicher Handlungen), hinsichtlich des Modus durch die direkte (nichtnarrative) Handlungsvermittlung mittels Figuren-Akteuren (dramatischer Modus) gekennzeichnet. Vom Epos weicht sie hinsichtlich des Mittels und des Modus ab, stimmt mit ihm dagegen hinsichtlich des Gegenstands berein. Die logische Erweiterbarkeit und Generalisierbarkeit des Systems liegt aus rinascimentaler Perspektive auf der Hand.

2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekres Projekt der Systematisierung

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‘System’ – auch bedingt durch den knappen, kryptischen und z. T. fragmentarischen Status der aristotelischen Poetik – erluterungsbedrftig war, wurden seine Rubriken von den einzelnen rinascimentalen Theoretikern vorab einer kontrren Exegese unterworfen. Daraus resultiert, dass es ‘das’ aristotelisierende System der Poetologie nicht gibt und dass die aristotelisierenden Poetologen insgesamt weder zu einer schlssigen abstrakten Theoretisierung von ‘Lyrik’ noch zu einer kohrenten gattungsmßigen Untergliederung konkreter Textgruppen der italienischen Literatur gelangen. Ein hufiges Strategem der Renaissancepoetologie ist angesichts der augenscheinlichen, sogleich noch nher zu erluternden Instabilitt der aristotelischen Klassifizierungsinstrumentarien der Rckfall in eine Suche nach jenen ‘rekurrenten Merkmalen’ bzw. einem gattungskonstitutiven ‘kleinsten gemeinsamen Nenner’, die einer flexiblen Gattungstypologie gerade entgegenstehen (s. o.): So wird oftmals eine einzelne aristotelische ‘diaphor ’ als allgemeine Richtschnur der Gattungsdefinition aus dem Gebude der Poetik herausgelçst, und es wird versucht, anhand dieser einen Kategorie unterscheidende rekurrente Merkmale festzulegen bzw. einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu definieren, wonach sich Texte trennscharf zu Gattungsgruppierungen formieren lassen – ein Unternehmen, das regelmßig scheitert und das berdies die durch Aristoteles ermçglichte tabellarische Matrix eines durch Merkmalskombinationen zustande kommenden Gattungsrasters durch die Isolierung einzelner Merkmalsgruppen unterluft. Ungeachtet dieser Prekaritt war die aristotelische Poetik fr die Lyriktheorie des 16. Jahrhunderts eine unumgngliche Grçße. Denn sie gewann binnen kurzer Zeit fr die Diskussion anderer Gattungen, v. a. der hochlagigen Gattungen Tragçdie und Epos, eine derart berragende Bedeutung, dass sie zu einem zentralen Referenztext fr Literaturtheorie insgesamt wurde: Nachdem die Poetik in Sptantike und Mittelalter nahezu unbekannt war, begann gegen Ende des 15. Jahrhunderts der Text seinen Siegeszug als Ankerpunkt der emergierenden frhneuzeitlichen Gattungstheorie.54 Obwohl der 1481 in der lateinischen bersetzung des Hermannus Alemanus (13. Jh.) gedruckte Poetik-Kommentar des Averros (Determinatio in poetria Aristotilis) ebenso wie die 1498 publizierte lateinische Poetik-bersetzung von Giorgio Valla ein vergleichsweise gemßigtes Echo fanden, war doch durch sie und durch den 1508 bei Aldus 54 Vgl. zur rinascimentalen Rezeptionsgeschichte der Poetik sehr detailliert Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 349 – 423.

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2. Lyrik als Makrogattung

Manutius in Venedig erfolgten Erstdruck des griechischen Originals in den Rhetores Graeci der Text des Aristoteles allgemein zugnglich gemacht. Diese Publikationen waren die Voraussetzung fr eine beginnende Auseinandersetzung mit der Poetik, wie sie auf dem Gebiet der Lyriktheorie ein erstes Mal umfassend von Giovan Giorgio Trissino in Angriff genommen wurde.55 Einen Durchbruch der Rezeption der Poetik und den Grundstein fr ihren europaweiten Erfolg brachte dann die in handlichem Format auf den Markt geworfene griechisch-lateinische Ausgabe von Alessandro de’ Pazzi (1536). Bereits fnf Jahre nach Pazzis Erstverçffentlichung wurde von Bartolomeo Lombardi in Padua die Poetik çffentlich interpretiert, und seit diesen Jahren etablierte sie sich als Berufungstext der rinascimentalen Literatur- und Gattungstheorie schlechthin. Ihr oben kurz skizzierter systematischer Grundansatz (bzw. ihre differenziellen Kategorien, die als in ihrer Intention auf eine systematische Gattungspoetik hin gerichtet zu deuten waren) erzeugte dabei nicht einfach nur das allgemeine Bemhen, literarische Gattungen im Rahmen eines theoretischen Systems zu definieren,56 sondern entsprach seinerseits bereits dem epochentypischen epistemischen Bedrfnis nach einer ‘verwissenschaftlichenden’ normativen Systematisierung.57 55 Vgl. neben der ersten Fassung von Trissinos Poetik bereits seine Vorrede zur Tragçdie Sofonisba von 1524, dazu Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 369 f. Wie die anderen hier kurz vorgestellten aristotelisierenden Poetologien, so wird auch die Poetik von Trissino im Verlauf des vorliegenden Bandes ausfhrlich diskutiert. In dieser Einleitung werden daher nur knappe globale Hinweise auf diese Texte gegeben. 56 Zur generellen systematischen Gerichtetheit der aristotelischen Poetologie der Renaissance vgl. exemplarisch Cave 1990, 56 f.; Javitch 1999b, 64 f. 57 Diesen Aspekt hat v. a. Daniel Javitch wiederholt herausgestrichen; vgl. Javitch 1991, 5 f. („il suo [der Poetik des Aristoteles] metodo ed il suo orientamento si confacevano adesso alla nuova necessit di concepire la poesia nei termini delle forme e funzioni proprie ai suoi vari generi“, 5); Javitch 1998a, 140 („Undoubtedly, the Poetics had a fundamental impact on the development of early genre theory. That does not mean, however, that the Greek treatise was responsible for its genesis. There is more reason to believe that the unprecedented interest in the Poetics was generated by a new desire to define poetry according to the form and function of its genres. It was the compatibility of Aristotle’s approach to poetry with this new need that gave the Poetics relevance and value“); Javitch 1999b, 58. Javitch spielt allerdings demgegenber die systematischen bzw. fr eine Gattungspoetik systematisierbaren kategorialen Anstze des Aristoteles allzu sehr herunter, so dass die systematische aristotelisierende Gattungspoetik nahezu wie eine von Aristoteles gnzlich abgekoppelte Erfindung der Renaissance wirkt; vgl. Javitch 1998a, 141; Javitch 1999b, 59. – Zu den generellen Systematisierungs-

2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekres Projekt der Systematisierung

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Gerade der systematische Charakter der aristotelisierenden Gattungstheorie war aber Grund fr die grçßten Schwierigkeiten ihrer Applikation. Denn er bedeutete einen umfassenden, nicht sektoral begrenzbaren Erklrungs- und Klassifizierungsanspruch auf dem Gebiet der Literaturtheorie. Daher waren Kollisionen mit vorgngigen Anstzen einer gattungsmßig klassifizierenden Theoriebildung unvermeidlich. Dies betrifft dreierlei konkurrierende Perspektivierungen von Dichtung: Zum Ersten betrifft es die herkçmmliche formalistische Dichtungstheorie, die Gattungen nach metrischen, strophischen und reimtechnischen Kategorien einteilen mçchte. Hufig werden selbst innerhalb von eigentlich aristotelisch angelegten Traktaten und Abhandlungen derlei formalistische Argumentationsmuster zu Selbstlufern. Wenn beispielsweise Trissinos frhere seiner beiden Poetiken die formalistisch-metrische Beschreibung einzelner lyrischer Formen (nicht zuletzt des Sonetts) unter das Rubrum der aristotelischen ‘Mittel der Mimesis’ stellt, so ist in der Forschung weniger wegen Trissinos recht frhen Rekurses auf Aristoteles als vielmehr wegen seiner diesen Rekurs schier quantitativ in den Schatten stellenden metrischen Analysen gar nicht recht bewusst geworden, dass hier ein erster (ziemlich weitreichender) Versuch vorliegt, den Bruch zwischen aristotelisierender Systematik und formalistisch-deskriptiver Gattungseinteilung zu sanieren. Zum Zweiten betrifft es die tradierte Poetik horazisch-rhetorischer Prgung, die im Verbund mit aus der Rhetorik abgeleiteten Vorstellungen dichterischen Decorums auf eine Wirkung von Dichtung abzielt, die oratorischer Performanz vergleichbar ist. Postuliert werden in diesem Kontext ziemlich regelmßig neben dem Effekt des ‘movere’ eine belehrende Wirkung von Dichtung im Sinne von Horaz’ ‘prodesse’; das ‘utile’ wird dem ‘dulce’ ebenso wie das ‘prodesse’ dem ‘delectare’ zumeist programmatisch vorgeordnet. Die auf Erbaulichkeit bzw. moralisierende Wirkeffekte abzielende rhetorische Dichtungsauffassung filtert in den poetologischen Aristotelismus ein. Resultat sind komplexe Konglomerate, deren Heterogenitt streckenweise nur mehr sehr bedingt von einer ‘aristotelisierenden’ Poetologie sprechen lsst. Nicht zuletzt wird aus der Rhetorik die Vorstellung einer epideiktischen (lobenden bzw. tadelnden) Funktion von Dichtung abgeleitet und in den Aristotelismus integriert, was die Parallelisierung lyrischer Texte mit dem oratorischen ‘genus demonstrativum’ mit sich bringt. Damit wird eine aristotelische Vorstellung der tendenzen der cinquecentesken Literaturtheorie vgl. Mller / Robert 2007, 20 – 30, bes. 25 – 30.

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2. Lyrik als Makrogattung

Wirkung literarischer Texte unterlaufen, wie sie an sich der Renaissance mit Blick auf die Wirkaffekte ‘phbos’ und ‘ leos’ und auf das damit eng verbundene Theorem der ‘k tharsis’ gut vertraut war.58 Symptomatisch fr die Klitterung der aristotelisierenden Linie mit der rhetorischen Dichtungsauffassung ist bspw. Antonio Sebastiano Minturnos Versuch, in einen generell aristotelisierenden Ansatz eine Definition der Lyrik ber das fr die Gattung vermeintlich zentrale funktionale Charakteristikum des Lobens und Tadelns zu integrieren und vor diesem Hintergrund der epideiktisch aufgefassten Lyrik gegenber allen anderen literarischen Gattungen historisch die grçßte Ursprnglichkeit zuzuschreiben. Epideixis als Definiens von Lyrik mochte den Anschein erwecken, als ließe sich mit einem solchen Ansatz das große Spektrum der realiter vorhandenen dichterischen Kleinformen unter Kontrolle bringen; mit der Mimesispoetologie aristotelischer Prgung war sie aber letztlich unmçglich zu verrechnen. Auch aufwendigere Versuche einer Integration rhetorischer Theoreme in aristotelisierende Argumentationsmuster brachten letztlich keinen Erfolg: Pomponio Torellis Einspielung der eigentlich tragçdientypischen Katharsis-Lehre ins Gebiet der Lyrik und deren Koppelung mit einer moralisierenden Funktionszuweisung, die der Dichtung bei Torelli widerfhrt, will Aristotelismus und die protreptische bzw. apotreptische Grundtendenz des rhetorischen ‘docere’ in eins bringen. Damit ist aber nur in flagranter Weise belegt, welche argumentativen Schachzge erforderlich schienen, um neben einer fr sich genommen schon schwierigen Aufgabe, eine aristotelisierende Lyriktheorie plausibel zu machen, die rhetorisch perspektivierte Wirkauffassung von Dichtung gleichermaßen zu bercksichtigen. Neben solch plakativen Phnomenen gibt es freilich auch diffizilere bergangsbereiche zwischen aristotelisierender und rhetorisch fundierter Dichtungslehre: Die Tatsache etwa, dass man neben der rhetorischen Theorie-Antithese ‘Þthos’ vs. ‘p thos’ (des Redners bzw. der Wirkung seiner Rede) auch die durch Aristoteles belegte poetologische Antithese einer ‘ethischen’ vs. einer ‘pathetischen’ Tragçdie kannte, erçffnete die Mçglichkeit, nicht nur ‘ethische’ vs. ‘pathetische’ Wirkungen von Literatur in oratorischer Manier zu diskutieren, sondern auch ‘ethische’ vs. ‘pathetische’ Ausprgungen einzelner Literaturgattungen (nicht nur der Tragçdie) herauszuprparieren. 58 Die aristotelischen Wirkaffekte und die Katharsislehre werden in der Renaissance sogar des fteren auf andere Gattungen als die Tragçdie projiziert (siehe das oben Folgende).

2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekres Projekt der Systematisierung

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Zum Dritten betrifft es die stillagenpoetologische Klassifizierung von Dichtung. Schon im spten Mittelalter (verwiesen sei hier zumindest auf Dante, De vulgari eloquentia) hatte man versucht, einzelne lyrische Formen wie die Canzone bestimmten Stillagen zuzuweisen (bedeutsam war hier in erster Linie die Lehre von den drei Stilen: ‘humilis’, ‘mediocris’, ‘grandis’). Die im frhen Cinquecento von Pietro Bembo mit großer Wirkung vorgenommene Fixierung der Lyriktheorie auf stilistische Charakteristika vernachlssigt zwar die exakte Definition lyrischer Stillagen sehr weitgehend zugunsten des Entwurfs einer allgemeinen Charakteristik dichterischer Versrede zwischen den Polen ‘gravit’ und ‘piacevolezza’, wie sie fr den sthetisierenden Klassizismus bembistischer Prgung typisch ist. Dennoch verstrkte sich in der Folge von Bembos Przeption neben der systematischen Gattungspoetologie stillschweigend die alternative Theorieoption einer stillagenbasierten Lyrikdefinition. Diese Option machte sich gegen Ende des Cinquecento Torquato Tasso entschieden zunutze: Sein Versuch, die Lyrik primr ber ihre stilistische Physiognomie zu beschreiben, will das klassifikatorische Vorgehen der aristotelischen Theoretiker durch ein flexibilisiertes typologisches Lyrikverstndnis ersetzen. Voraussetzung dieses Versuchs ist freilich, dass Tasso zentrale Problemzonen der ihm sehr gut bekannten aristotelisierenden Lyriktheorie seines Jahrhunderts – etwa das hçchst umstrittene ‘Redekriterium’, das die typische Sprecherinstanz lyrischer Texte betraf (s.u.) – nicht ein weiteres Mal intrikat behandelt, sondern sie nach Mçglichkeit schlicht ausblendet. Nicht der geringste Grund fr die somit skizzierten Friktionen des dichtungstheoretischen Aristotelismus mit heterogenen Theoriebestandteilen ist, dass Aristoteles in der uns berkommenen Form der Poetik zwar etliches Allgemeine ber die Bestimmung von Dichtung als ‘Mimesis’ (Nachahmung bzw. Darstellung) sagt und seine Theoriebildung an Tragçdie und Epos eingehend konkretisiert, aber weder allgemein ber ‘Lyrik’ handelt noch auch spezielle Ausfhrungen ber lyrische Einzelformen ttigt. Dies war fr das systematisch ausgerichtete poetologische Denken der Renaissance eine große Herausforderung. Lcken in der aristotelisierenden Theoriebildung wurden oft durch Einspeisung jener heterogenen Theoreme notdrftig (und widerspruchstrchtig) gefllt. Unter Verweis auf den fragmentarischen Status der Poetik wollte man aber auch aus den erhaltenen Teilen des Textes die prsumptiven Aussagen des Aristoteles ber die von ihm nicht behandelten Gattungen, darunter zuvçrderst die Lyrik, extrapolieren. So kommt es bspw. zu dem Phnomen, dass die von Aristoteles eingehend besprochenen qualitativen Teile der Tragçdie (Mythos i.S.v. Handlungsfgung, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfhigkeit,

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2. Lyrik als Makrogattung

Inszenierung, Melodik; Poetik Kap. 6) ebenso wie bisweilen auch ihre quantitativen Teile (Prolog, Episodia als Hauptteile der Handlung, gliedernde Chorpartien, Exodos; Poetik Kap. 12) von der rinascimentalen Poetologie in gnzlich tragçdienfernen Literaturgattungen gesucht wurden. Ein Substitut fr den Ausfall der Behandlung lyrischer Gattungen (oder gar einer Makrogattung Lyrik) bei Aristoteles hatte unter diesen Auspizien allenfalls der gleich zu Beginn der Poetik (Kap. 1) neben Epos, Tragçdie und musikalischen Darbietungen genannte Dithyrambos zu bieten: Ihn fasste man in tendenziçser Weise bisweilen als „stellvertretend fr die Lyrik auf […], ja, er bedeutet geradezu ‘Lyrik im eigentlichen Sinn’“.59 Obwohl Aristoteles also nicht als Lyriktheoretiker greifbar ist, fhrt der systematisch orientierte gattungspoetologische Zugriff der rinascimentalen Theorie dazu, dass die grundstzlichen drei Differenzkriterien ‘Mittel der Mimesis’, ‘Gegenstand der Mimesis’ und ‘Modus der Mimesis’, zu denen sogleich im Einzelnen noch etwas zu sagen ist, neben der Differenzierung anderer Gattungen (Aristoteles selbst unterscheidet, wie gesehen, in Kap. 5 besonders prgnant anhand der drei ‘diaphora ’ die Tragçdie und das Epos) auch die Lyrik als Makrogattung profilieren sollen. Dies wollte man immer wieder erreichen, obwohl (wie bereits angedeutet) die aristotelischen ‘diaphora ’ in der Renaissance keineswegs einhellig aufgefasst und appliziert wurden und obwohl ihre Anwendung auf die realen literarhistorischen Gegebenheiten schwerwiegende Probleme aufwarf. Als Beispiel fr Letzteres ließe sich die aristotelisierende Epigrammtheorie nennen, die entweder abstrakte Systematisierungen entwirft, in die das Epigramm sich nur nominell, nicht aber in seinem konkreten literarisch-praktischen Profil einfgen lsst, oder die ausfhrlich auf die verschiedenen Ausformungen epigrammatischen Dichtens eingeht, ohne einen kongruenten, entsprechend flexiblen theoretischen Ansatz entwickeln zu kçnnen (ausgeblendet wird im ersten Fall also die literarische Praxis, whrend im zweiten Fall aristotelische Theoriebezge allenfalls selektiv eingebracht werden kçnnen). Die Aristoteliker sehen sich bisweilen gezwungen, angesichts der Widerstndigkeit literarischer Praxis zentrale Dogmata der eigenen Lehre – selbst das Mimesis-Kriterium als Dichtungsdefiniens, wie Robortello in der Theorie der Elegie – aufzugeben, um literarische Texte plausibel beschreiben zu kçnnen. 59 So Behrens 1940, 86 (zu Minturno), vgl. ebd. 93, wo u. a. aus Viperanos De poetica libri tres zitiert wird: „olim Dithyrambici iidem erant cum melicis sive lyricis“.

2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekres Projekt der Systematisierung

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Wo selbst das fr Aristoteles ganz grundstndige Mimesispostulat fraglich wurde, waren die drei Differenzkategorien der Mimesispoetik insgesamt instabil. Sie wurden oftmals wechselnd und (gegen die Programmatik der aristotelischen Poetik) isoliert herangezogen, um Gattungen zu definieren: Minturno etwa versucht in seinen beiden großen poetologischen Schriften, die von ihm angezielte Dreizahl von Makrogattungen einmal unter Rekurs auf die Kategorie der ‘Mittel der Mimesis’ zu etablieren (so in De poeta),60 einmal dagegen zieht er zum selben Zweck die Kategorie des ‘Modus der Mimesis’ heran (so in der Arte poetica). Die ‘diaphora ’des Aristoteles wurden nicht nur selektiv zur Gattungsdefinition verwendet, sondern auch ganz unterschiedlich interpretatorisch gefllt und sogar um weitere Unterscheidungskriterien ergnzt: Scaliger etwa evoziert an zentraler Stelle Mittel, Modus und Gegenstand dichterischer Nachahmung nicht nur in recht unaristotelischem Verstndnis,61 sondern ergnzt sie auch um eine vierte Kategorie, nmlich die Grundfrage nach dem Zweck der dichterischen ‘imitatio’. Der Zweck wird im Sinne des Erbaulichen und des gesellschaftlichen Nutzens gedeutet, was dem Schwerpunkt entspricht, den horazisch geprgte Dichtungslehre auf das ‘prodesse’ und das ‘utile’ literarischer Texte zu legen pflegte. So gelingt Scaliger neben der Integration formalistisch-metrischer Aspekte und stilpoetologischer Fragen (s. die Anm. unten) auch die Integration der Traditionslinie, die von der Ars poetica ausgegangen war. All dies hindert ihn (Ausweis der Heterogenitt seiner einzelnen definitorischen Anlufe) aber nicht, an anderer Stelle ziemlich nahe am Wortsinn der aristotelischen Kategorisierung zu

60 Dabei muss Minturno zur Ausdifferenzierung der Makrogattungen allerdings die aristotelische Kategorie der dichterischen ‘Mittel’ bereits ausdehnen und von der Rede ber Rhythmus, Sprache und Melodie (s.u.) auf die Dimension performativer Darbietung erweitern: Dieses inszenatorische Moment, das der Lyrik eignen soll, bezieht er bezeichnenderweise aus der Diskussion des Aristoteles zur Gattung der Tragçdie und ihrer qualitativen Teile. 61 Unter den ‘Mitteln der Mimesis’ diskutiert er bspw. in aller Ausfhrlichkeit metrisch-verstechnische Fragestellungen, ganz wie es eine berkommene Formalpoetik getan htte. Er integriert also in einen (sich zumindest an der Oberflche als solchen gebenden) aristotelisierenden Argumentationsaufbau typische Verfahren einer formalistisch-metrischen Poetik, hnlich wie das Trissinos erste Poetik getan hatte, aber mit einer weitaus grçßeren Oszillation der Hin- und Weg-Bewegung vom Text der aristotelischen Poetik. Unter dem ‘Modus’ der Mimesis bespricht Scaliger dominant nicht das Redekriterium (s.u.), sondern verhandelt detailliert stilistische Fragen. Neben der metrischen Formalpoetik ist also zugleich auch eine Stilpoetologie in den aristotelisierenden Rahmen eingelassen.

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2. Lyrik als Makrogattung

bleiben und sich punktuell sogar einer aristotelisierenden Gattungsmatrix zu nhern, die auf allen drei Differenzkriterien der Poetik aufgeruht htte. Im Einzelnen behandelte man die ‘diaphora ’ des Aristoteles, wie angedeutet, sehr divergent: Die Mittel der Mimesis waren von Aristoteles (Poetik Kap. 1) auf das gattungsspezifisch je wechselnde Zusammenspiel von Rhythmus, Sprache und Melodie festgelegt worden. In diesem Zusammenhang hatte Aristoteles das Verskriterium zur Definition von ‘Dichtung’ ausdrcklich ausgeschlossen (und bes. das Lehrgedicht als zwar versifizierte, aber nicht mimetische Textform aus dem Bereich der ‘Dichtung’ ausgegrenzt). Immer wieder versuchten nun die Poetologen der Renaissance, gegen das Verdikt des Aristoteles anzugehen und den Vers als Dichtungsdefiniens zu rehabilitieren. Dies geschah sehr hufig unter Verweis auf die volkssprachliche Dichtung, v. a. die Lyrik, deren Versifizierung und im Verbund damit deren Reimschemata als ‘differentia specifica’ von ‘Dichtung’ in rinascimentaler Sicht nicht ohne Weiteres aufgegeben werden konnten. Das Festhalten am Verskriterium bot zugleich das Einfallstor fr die bereits angesprochene Integration metrischer Fragestellungen in einen aristotelisch systematisierenden Gesamtkontext. Zugleich und ergnzend waren die Bemerkungen des Aristoteles zum ‘Rhythmus’ und v. a. zur ‘Melodie’ willkommener Anlass, die Filiation der Dichtung (wiederum bes. der Lyrik) zum Medium von Musik und Gesang zu diskutieren. Unter dem Gegenstand der Mimesis hatte Aristoteles (Poetik Kap. 2) ethisch relevante, d. h. moralisch als ‘gut’ oder ‘bçse’ bewertbare Handlungen von Menschen verstanden. Dies bot fr eine rinascimentale Diskussion von Epos oder Tragçdie zunchst keine grçßeren Reibungsflchen, war aber ein eminentes Problem fr die Bestimmung von ‘Lyrik’. Lyrischen Texten eignet keine Handlungsfgung im Sinne des ‘Mythos’-Begriffs der Poetik. Wollte man dennoch im Sinne der aristotelischen ‘diaphor ’ Lyrik theoretisch beschreiben, so gab es mehrere Optionen, die allesamt problematisch waren: Man konnte zunchst recht angestrengt an einem eng gefassten Handlungsbegriff auch fr die Lyrik festhalten, was unweigerlich zu einer Projektion der Frage nach der ‘Einheit der Handlung’ aus dem Bereich der Poetik von Epos und Tragçdie in den Bereich der Lyrik fhrte und explizit Probleme wie die Definition der Peripetie im lyrischen Text oder die Bestimmung einer lyrischen ‘Wahrscheinlichkeit’ nach sich zog (so erwogen von Minturno, whrend Aristoteles die Kategorie des ‘verisimile’ eng an die Abwicklung eines syntagmatischen Handlungsablaufs in den von ihm besprochenen Makrogattungen gebunden hatte). Man konnte ferner den aus Aristoteles bezogenen Begriff der ‘azione’ als Dichtungs-

2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekres Projekt der Systematisierung

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gegenstand erweitern auf die Darstellung von Emotionen (‘affetti’) und charakterlich relevanten Befindlichkeiten und Verhaltensweisen (‘costumi’).62 Da ‘affetti’ und ‘costumi’ in der Lyrik viel problemloser nachweisbar schienen als ‘azione’, sollte auf diese Weise die aristotelische ‘diaphor ’ fr die autoritative Bestimmung von Lyrik salviert und nutzbar gemacht werden. Fr die Diskussion der ‘costumi’ bediente man sich der Implikate des Begriffs ‘Þthos’, damit freilich erneut einer Grçße, die Aristoteles bei den qualitativen Teilen der Tragçdie in deren systematische Diskussion eingebracht hatte. Man konnte ferner den Begriff der aristotelischen ‘azione’ durch Generalisierung zu entschrfen versuchen und, wie Trissino, darunter abgeblasst soviel wie das ‘Thema’ einer Dichtung begreifen – geradezu tautologisch wird somit der Gegenstand von Literatur zu ihrem Thema. Und schließlich konnte man – so die ingeniçse Lçsung von Minturno – unter der ‘azione’ von Lyrik nicht eine in ihr zur Darstellung kommende Handlung sehen, sondern die ‘Handlung’ des poetischen Sprechakts selbst: Da alle Lyrik in diesem Sinn Sprechhandlung impliziert, schien sie insgesamt durch eine aristotelische Kategorie abgedeckt, die dazu freilich vollkommen umgedeutet werden musste. Der Modus der Mimesis war von Aristoteles (Poetik Kap. 3) gemß dem Redekriterium differenziert worden nach (a) Texten, in denen eine berichtende Sprechinstanz unverndert vorwaltet (also ein narrativer Modus ohne Einmischung von Figurenrede vorherrscht), (b) Texten, in denen gleichfalls ein narrativer Modus festzustellen ist, der Erzhler allerdings in die „Rolle eines anderen“ schlpft (also Figuren direkt redend in seine Narration integriert), (c) Texten, in denen alle Figuren unmittelbar als handelnd prsentiert werden (in denen also ‘dramatische’ Mimesis waltet). Die Anwendung des Redekriteriums wird fr die Renaissancetheoretiker einerseits dadurch kompliziert, dass Aristoteles als Beispielgattungen nur an Epos und Drama zu denken scheint, andererseits dadurch, dass sie stets auch die alternativen Versionen der einschlgigen Ausdifferenzierung bei Platon und bei Diomedes prsent haben.63 Dies fhrt zu einer Verunkla62 Die Behauptung, in Lyrik wrden Affekte (statt Handlungsablufe) mimetisch dargestellt, war ein rekurrentes Strategem zur aristotelisierenden Definition von Lyrik; es findet sich in unterschiedlicher Ausprgung bei Trissino, Minturno, A. Piccolomini, G. del Bene, A. Guarini, J. Mazzoni, L. Giacomini Tebalducci Malespini, A. Segni und Torelli. Vgl. allg. Chevrolet 2007, 468 – 481. 63 Platon ordnet die Gattungen Tragçdie und Komçdie der dramatischen Mimesis zu, den Dithyrambos dem narrativen Modus der Dihegesis, eine Mischform aus dramatischem und narrativem Modus dagegen dem Epos. Diomedes spricht von einem ‘genus dramaticon / activum’, fr das nicht nur Tragçdie und Komçdie,

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2. Lyrik als Makrogattung

rung der Systematik durch die Vervielfltigung von Theorieoptionen auf engem Raum. Bisweilen wird (wie oben am Beispiel Scaligers kurz ausgefhrt) das Redekriterium als Fllung der Modus-Kategorie aufgegeben bzw. mit der aristotelisch ganz anders gelagerten ‘diaphor ’ der mimetischen Mittel kurzgeschlossen (so phasenweise bei Torelli, wenn er unter Modus eine spezifische Kombination mimetischer Darstellungsmittel verstehen will). Zumeist aber versuchen die Theoretiker am Redekriterium festzuhalten und verwenden es bisweilen als alleiniges Instrument zur Ausdifferenzierung von Makrogattungen; so macht es etwa Trissino, wenn er durch die Annahme einer Einheitlichkeit der Sprecherrolle des ‘poeta’die Elegie mit Oden, Canzonen, Ballaten und Sonetten und hnlichen Texten zu einer lyrischen Gruppe zusammenschließen will. Wo immer das Redekriterium in solcher Weise in den Vordergrund der Argumentation gespielt wird, tritt das fundamentale Problem auf, dass die Poetologen eigentlich auf eine trennscharfe, rigide Klassifikation hinauswollen (indem eine bestimmte Ausprgung des Redekriteriums als generell lyriktypisch fixiert werden soll, whrend andere Ausprgungen andere Gattungen fundieren sollen), dass sie statt dessen aber in der realen Lyrikpraxis ein bestndiges Changieren der Sprecherinstanzen feststellen mssen, ohne diesen Befund in eine flexible Typologie lyrischen Sprechens berfhren zu kçnnen. Regelmßig fhrt so die Feststellung, wonach in ‘Lyrik’ nicht Exklusivitt, sondern allenfalls Dominanz bestimmter Besetzungen der Sprecherposition herrscht, zum Scheitern der lyrikklassifikatorischen Bemhungen. Zustzlich erschwert wurde die rinascimentale Theoriebildung durch Aristoteles’ Anmerkung in Poetik Kap. 24, der Dichter solle mçglichst wenig in eigener Person reden, da er sonst keine Mimesis betreibe. Da man hufig gerade in der Lyrik einen dominant ‘in eigener Person redenden Dichter’ zu sehen glaubte, stellte sich die Frage, ob jene Bemerkung des Aristoteles zum Ausschluss der Lyrik aus der Dichtung fhren msse, obwohl man einen solchen Ausschluss durch die Einfhrung des Redekriteriums in Kap. 3 der Poetik nicht gefordert sah. Nicht oft wurde dieses Problem so entschieden vom Tisch gewischt wie bei Pomponio Torelli, der

sondern auch bukolische Texte herangezogen werden, stellt ihm ein ‘genus exegeticon / enarrativum’ zur Seite, das er durch große Teile von Vergils Georgica sowie durch die lehrhafte Dichtung des Lukrez exemplifiziert, und komplettiert das Schema durch ein ‘genus commune / mixtum’, fr das epische Großtexte beispielhaft stehen (Ilias, Odyssee, Aeneis), zu dem im weiteren Verlauf der Argumentation aber auch Jambos, Elegie und Satire gerechnet werden.

2.1 Lyriktheorie nach Aristoteles: ein prekres Projekt der Systematisierung

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Kap. 24 zu einer aristotelischen Aussage erklrte, die allein fr die Epik relevant sei – die also bei der Lyrikdefinition vernachlssigt werden konnte. Die insgesamt vorherrschende berkreuzung heterogener poetologischer Theoreme, mit der die Renaissancepoetologie der petrarkistisch dominierten Praxis italienischer Renaissancelyrik in Abgleich mit der antiken Tradition gerecht zu werden und damit auf die Auswirkungen des bembistischen Projekts zu reagieren suchte, ließ trotz des sehr betrchtlichen analytischen und definitorischen Aufwands, den das Cinquecento in seiner Lyriktheorie betrieb, keine befriedigende Lçsung der Lyrikfrage zu. Solange lyrische Texte, die nach rigiden dialektischen Klassifizierungsverfahren nicht befriedigend zu theoretisieren waren, nach Maßgabe von Familienhnlichkeiten nur ahnungshalber und ohne die planmßige Zuweisung eines Makro-Etiketts ‘Lyrik’ zusammengeordnet wurden, und solange eine plausible und flexible typologische Lyrikdefinition selbst bei einem komplexen Denker wie Tasso nicht widerspruchsfrei zu etablieren war, blieb die Definition einer Makrogattung Lyrik ein ungelçstes Problem von erheblichen Ausmaßen. Der italienischen Literaturtheorie des 16. Jahrhunderts ist freilich das Verdienst nicht abzusprechen, das Problem zum ersten Mal erkannt und es mit der beachtlichen Energie seines versammelten theoretischen ‘p thos’ angegangen zu haben.

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2. Lyrik als Makrogattung

2.2 Die Integration formalistischer Poetologie in den Aristotelismus: Giovan Giorgio Trissinos Poetica Trissinos Poetica ist in sechs Abschnitte (sog. ‘divisioni’) gegliedert, von denen die ersten vier Abschnitte bereits 1529 in Vicenza erschienen sind und somit den zeitlichen Beginn der cinquecentesken Lyriktheorie im engeren Sinn markieren.64 Die Publikation der fnften und sechsten ‘divisione’ wird am Ende der vierten ‘divisione’ angekndigt.65 Tatschlich sind diese beiden letzten Kapitel aber erst nach Trissinos Tod – er starb im Jahr 1550 – publiziert worden: Die Verçffentlichung erfolgte 1562 in Venedig. Trissino hat offensichtlich in den letzten Lebensjahren eifrig an der Neufassung der in den 1520er Jahren bereits in einer ersten, uns nicht mehr greifbaren Version vorliegenden Schlussabschnitte seiner Poetica gearbeitet. Dabei drfte er die zu dieser Zeit verstrkt einsetzende Bemhung um die Exegese der Poetik des Aristoteles grndlich rezipiert haben: 1548 hatte Francesco Robortello In librum Aristotelis De arte poetica explanationes publiziert, 1549 erschien Bernardo Segnis italienische bersetzung der aristotelischen Poetik. 66 Außerdem war die einflussreiche griechisch-lateinische Edition von Alessandro de’ Pazzi schon seit 1536 erhltlich, und 1541 hatte in Padua Bartolomeo Lombardi mit der Reihe seiner spter von Vincenzo Maggi fortgesetzten Interpretationsvorlesungen zum Grundlagentext des Aristoteles begonnen. 64 Vgl. die kommentierende Anmerkung von Weinberg zu Trissino [1529] 1970, Anmerkungsapparat S. 590. Zur Entstehungsgeschichte von Trissinos Poetica vgl. neben den folgenden Nachweisen auch Javitch 1988, 197 f. 65 „La quinta divisione di quest’opera, ne la quale si tratta de la invenzione de la poesia e de la tragedia, comedia, heroico, e canzoni, e di tutte quelle parti che le constituiscono; e parimente la sesta divisione, la quale de le comparazioni de le figure e de gl’altri ornamenti poetici ragiona, non si sono al presente possute stampare; ma tosto piacendo a Dio si stamperanno“ (Trissino [1529] 1970, 158. Hier und passim ist aus technischen Grnden und wegen der besseren Lesbarkeit die spezifische Orthographie Trissinos normalisiert, der griechische Buchstaben in das lateinische Alphabet integriert hat, um Unterschiede in der italienischen Aussprache – wie offene vs. geschlossene Vokale – zu markieren). 66 Vgl. Herrick 1962, 16, der auf das Inventar von Trissinos Nachlass verweist. Dort findet sich die einschlgige Notiz, Trissino habe unter anderem „volumeni Robortelli, Petrarca, Retorica et Poetica de Aristotile vulgare, Catullo, Properzio, Virgilio“ besessen. Herrick merkt dazu an: „This entry is no proof, to be sure, that the volume of Robortello was the commentary on the Poetics, but Robortello’s Explicationes was his most important work, and it was just the sort of work that Trissino would have wanted to own and to study“.

2.2 Die Integration formalistischer Poetologie in den Aristotelismus

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In der Forschung hat es sich angesichts der Tatsache, dass die Anfnge einer verstrkten Rezeption der Poetik des Aristoteles zeitlich zwischen der Publikation der ‘divisioni’ I bis IV und der Publikation der letzten beiden Abschnitte (V und VI) liegen, eingebrgert, von einer frheren voraristotelischen und einer spteren aristotelischen Teilpoetik Trissinos zu sprechen.67 In der Tat sttzt sich etwa, wie wir sehen werden, Trissinos Behandlung der einzelnen lyrischen Kurzformen in den ersten vier Kapiteln zu weiten Teilen auf poetologische Hypotexte aus dem Sptmittelalter, whrend die ‘divisioni’ V und VI sich schwerpunktmßig mit aristotelischen Theoremen auseinandersetzen. Dessen ungeachtet ist nachweisbar, dass Trissino bereits vor 1529 mit dem Text des Aristoteles vertraut war:68 Die an Papst Leo X. gerichtete, auf 1524 datierte Widmungsvorrede der Tragçdie Sofonisba charakterisiert die Gattung Tragçdie in Termini, „[which] came straight from the Poetics, in particular from the early part of the second chapter“:69 […] sapendo etiandio, che la Tragedia, secondo Aristotele, preposta a tutti gli altri poemi, per imitare con soave sermone una virtuosa, e perfetta actione, la quale habbia grandeza; e come Polygnoto antico pictore nele opere sue imitando faceua e corpi di quello che erano migliori, e Pauson peggiori, cosi la Tragedia imitando fa e costumi migliori, e la Comedia peggiori, e per ci essa Comedia muove riso, cosa che partecipa di bruttezza, essendo ci, che ridiculo, difettoso, e brutto, Ma la Tragedia muove compassione, e tema, con le quali, e con altri amaestramenti arreca diletto agli ascoltatori, et utilitate al vivere humano.70

Angesichts dieser frhen Bekanntschaft Trissinos mit der Dichtungstheorie des Aristoteles berrascht es nicht, dass Trissino bereits in der ersten ‘di67 Vgl. bspw. Herrick 1962, 17 f. und bes. Weinbergs kommentierende Anmerkungen zu Teil I bis IV der Poetica („La teoria della poetica nel Cinquecento incomincia con uno dei suo pi importanti documenti; che per rimane, purtroppo, un documento rivolto pi verso il Medio Evo che verso il Rinascimento“; Anmerkungen zu Trissino [1529] 1970, dort Kommentarteil S. 590) sowie zu Teil V und VI („Dopo aver fatto, nei primi quattro libri della sua Poetica, una specie di arte metrica medievale, il Trissino diventa un uomo del suo secolo quando, nella Quinta e la Sesta Divisione, fa una parafrasi piena della Poetica di Aristotile“; Anmerkungen zu Trissino [1562] 1970, dort Kommentarteil S. 653). Das Klischee von der durch und durch aristotelischen ‘zweiten’ Poetik Trissinos wird zu Recht modifiziert durch Javitch 1988, 198. 68 Vgl. Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 369 f.; Herrick 1962, 17; Lieber 1997, 344. 69 Herrick 1962, 17. 70 Zitiert nach Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 369 Anm. 29. Weinberg spricht bezglich Trissinos Widmungstext von „the earliest extensive exploitation of the Poetics in Italian among the documents we shall examine“ (ebd. 369).

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2. Lyrik als Makrogattung

visione’ bei der anfnglichen Festlegung der Poetica auf eine neuartige systematische Behandlung aller Aspekte von Dichtung („tratter di tutte le parti della poesia, le quali tutte per aventura non furono in quella loro [Dantes und Antonio da Tempos] et conosciute e forse da essi per tal cagione abbandonate“)71 deutlich Bezug auf die mimetische Dichtungsdefinition des Aristoteles nimmt (Nheres dazu sogleich). Diese Bezugnahme wird am Anfang der fnften ‘divisione’ wieder aufgegriffen,72 wenn es dort heißt: „La poetica, adunque, come nel principio dell’opera dissi, tutta imitazione, la qual cosa fu prima da Platone ingegnosamente considerata e poi da Aristotele dottamente affirmata.“73 Es schließt sich mithin um die Behandlung der lyrischen Kleinformen des ‘volgare’ bereits in ‘divisione’ I bis IV unbeschadet ihrer v. a. formalistisch-metrischen Betrachtungsweise eine Art aristotelisierende Klammer.74 Diese Klammer verbindet sich mit einem allgemeinen Bemhen um die Klassifizierung von Dichtungsformen, welches in Genus und Species zu unterscheiden trachtet. Die grundstzliche dialektische Untersuchung nach Gattung und Art tritt bereits bei der Frage in den Vordergrund, ob die italienische Dichtungssprache (die Trissino nicht als ‘vulgare’ bezeichnen mçchte, „per essere la lingua ne la quale essi [Petrarca, Dante, Cino da Pistoia, Guido Cavalcanti u. a.] hanno scritto alquanto differente da quella del vulgo“)75 als ‘lingua toscana’ oder aber als ‘lingua italiana’ zu bezeichnen sei: Trissino definiert ersteren Begriff als Species zum Genus, das in letzterem Begriff benannt sei, und folgert: „se ben la lingua di costoro [der genannten Dichter] fosse pura toscana, come non , ella si potrebbe con verit dimandare italiana; perci che ogni specie sempre si pu col nome del suo genere nominare, ma non gi ogni genere col nome de la sua specie si pu dire […]; cos ogni parola toscana si pu dire italiana, ma non ogni parola italiana si pu dir toscana“.76 Im Folgenden reflektiert Trissino ber die 71 72 73 74

Trissino [1529] 1970, 24. Vgl. Lieber 1997, 344 f. Trissino [1562] 1970, 8 (Kursivierung durch die Verf.). Schon insofern wird man skeptisch gegenber Forschungspositionen sein mssen, die von zwei ganz disparaten Poetiken bei Trissino ausgehen wie etwa Lecercle 1984, 75 – 79, hier 77: „deux po tiques autonomes, l’une technique et qui invoque Antonio da Tempo, l’autre th orique et qui se r clame d’Aristote, sont mises bout  bout. D’origine disparate, les deux th ories sont difficilement compatibles et, sur certains points, contradictoires“. Vgl. zur Gesamtstruktur der ‘beiden’ Poetiken auch das oben Folgende. 75 Trissino [1529] 1970, 25. 76 Trissino [1529] 1970, 25.

2.2 Die Integration formalistischer Poetologie in den Aristotelismus

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Mçglichkeit einer Kombination einzelner Arten untereinander, die dann nicht mit den Namen der Species bezeichnet werden kçnnten, sondern insgesamt und generell unter den Gattungsbegriff zu subsumieren seien: „le specie con altre specie mescolate non si possono tutte insieme col nome di alcuna specie nominare, ma bisogna nominarle col nome del genere“.77 Dass ein nach Gattungen, Arten und Unterarten differenzierender Ansatz fr Trissino nicht nur in der ‘questione della lingua’, sondern allgemein Gltigkeit besitzt, belegt das unmittelbar folgende Kapitel „De la generale elezione de le parole“, an dessen Anfang Trissino smtliche Wortarten, somit die Gattung „parole“, aufgliedert nach: A parole formate di nuovo vs. B parole usate da altri B1 parole usate da persone viventi vs. B2 parole usate da autori morti B2i parole che l’uso ha abandonate vs. B2ii parole che sono restate ne l’uso de’ contadini e montanari.78 Mit solchen Anstzen bewegt sich Trissino bereits hin zur fr das mittlere 16. Jahrhundert charakteristischen Phase der poetologischen Systematisierungsversuche. Er zeigt bereits das bei Scaliger und anderen dann deutlicher prsente Streben, seinen Stoff ‘dialektisch’ zu fassen. Denn was Jçrg Robert mit Blick auf Scaliger sagt, lsst sich fr Trissino wiederholen: „Das Verfahren der Dialektik ist bekannt: Es besteht darin, einen Sachverhalt mithilfe von meist dichotomischen Dihresen (‘divisiones’) aufzuschließen, um am Ende zu einer Definition eines Gegenstands oder eines ganzen Wissensbereichs zu gelangen. Dazu bedient sie sich mçglichst signifikanter Differenzkriterien (diavoqa¸, differentiae). Eine solche divisio ergibt dann ein strukturiertes Feld, das sich als graphisches Tableau durch Baumdiagramme darstellen lsst“.79 Trissinos Ausfhrungen zu den unterschiedlichen ‘parole’ (s. o.) verfahren nach dem Differenzkriterium des Wortgebrauchs in dichotomischen ‘Divisionen’ und wren in der Tat auch als Baumdiagramm darstellbar.80 Ein solches Verfahren nach Maßgabe poetologisch angewandter Dialektik ist im Cinquecento „keinesfalls ein […] ‘Anachronismus’ […], sondern im zeitgençssischen Wissenschafts77 78 79 80

Trissino [1529] 1970, 26. Vgl. Trissino [1529] 1970, 27. Robert 2007, 181. Vgl. zur Dialektik als Grundlage einer nach Genus und Species differenzierenden, dihairetisch-dichotomisch verfahrenden Poetologie Trappen 2001, bes. 37 – 53.

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2. Lyrik als Makrogattung

diskurs schlechthin synonym mit ‘Methode’.“81 Trissino situiert sich somit im Zentrum des Erkenntnisinteresses hochrinascimentaler Dichtungstheorie. So unausgegoren bei ihm die angezielte Systematisierung auch noch ausfallen mag, scheint es vor diesem Hintergrund doch kaum gerechtfertigt, seinen Ansatz mit Weinberg und bspw. auch mit Quondam als schlichtweg ‘mittelalterlich’ oder ‘prrinascimental’ einzustufen.82 Systematisch angelegt ist auch Trissinos Versuch, die formalistische, auf lexikalisch-stilistische Probleme und auf metrische Strukturen konzentrierte Behandlung der Dichtung, wie sie in der ‘ersten’ Poetik (I – IV) vorgenommen wird, in einen umfassenden konzeptionellen Rahmen einzubauen, der vom Aristotelismus bezogen wird. Denn nach seiner bereits zitierten Ankndigung, er werde alle Arten der Dichtung planmßig besprechen, setzt Trissino folgendermaßen an: Dico, adunque, che la poesia (come prima disse Aristotele) una imitazione de le azioni de l’homo; e faccendosi questa cotale imitazione con parole, rime et harmonia, s come la imitazione del dipintore si fa con disegno e con colori, fia buono, inanzi che ad essa imitazione si vegna, trattare di quello con che essa imitazione si fa, cio de le parole e de le rime, lasciando la harmonia o vero il canto da parte; perci che quelle ponno fare la imitazione senza esso, e di queste due il poeta considera e lascia il canto considerare al cantore. Adunque comincier da la elezione de le parole, e poi dir de le rime, ne le quali sar alquanto diffuso, per non essere state a questi nostri tempi cos bene intese come s’intendevano ai tempi di Dante e del Petrarca e degl’altri buoni autori […].83

Damit bezieht sich Trissino auf das erste Kapitel der aristotelischen Poetik. Er stellt bereits am Beginn seiner ‘ersten’ Poetik die Dichtung insgesamt unter das Mimesispostulat und kndigt an, zunchst den Aspekt der ‘Mittel der Mimesis’ zu traktieren. Nach Aristoteles wren dies Rhythmus, Sprache (‘lgos’) und Harmonie, was Trissino tendenziçs auflçst in „parole, rime et harmonia“, um letzteren Aspekt (interpretiert als ‘Harmonie’ des gesanglichen Vortrags) weglassen zu kçnnen und sich auf die Aspekte „parole“ und „rime“ konzentrieren zu kçnnen. Diese beiden Aspekte (also Lexik und Metrik) behandelt er dann in dieser Reihenfolge in den ersten vier ‘divisioni’, die somit die nach Trissino wesentlichen Details der aristotelischen Instrumente dichterischer Mimesis untersuchen. Fr die Fortsetzung seiner ‘zweiten’ Poetik kndigt Trissino, wie gesehen, die Behandlung der „invenzione de la poesia“ und entsprechend eine Analyse der einzelnen 81 Robert 2007, 180. 82 Siehe zu Weinberg die weiter oben zitierten Passagen und vgl. Quondam 1980, 76. 83 Trissino [1529] 1970, 24.

2.2 Die Integration formalistischer Poetologie in den Aristotelismus

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Dichtungsgattungen Tragçdie, Komçdie, Epos und „canzoni“ (den Begriff ‘Lyrik’ im Sinne einer Makrogattung verwendet Trissino nicht) an. Die fnfte ‘divisione’ knpft ausdrcklich an die vorherigen ‘divisioni’ an, wenn sie nicht nur (wie gesehen) auf den Aristoteles-Bezug vom Beginn der ersten ‘divisione’ zurckverweist, sondern auch das Thema der zuvor traktierten Metrik nochmals anspricht und erneut auf die aristotelische Mimesis gemß der Unterscheidung von mimetischen Mitteln, Gegenstnden und Modi zu sprechen kommt: Ora essendo la poesia (come si detto) tutta imitazione, penso che a volere di essa ottimamente trattare sia bisogno essaminare e considerare tre cose. L’una quello con che si fa questa tale imitazione; l’altra quali siano quelle cose le quali devemo imitare; la terza poi a che modo imitare le devemo.84

Die dann folgende, schon seit 1529 angekndigte Behandlung der Einzelgattungen verfhrt nach den drei hier aufgezhlten aristotelischen Grundkategorien und geht somit auch auf die in der ‘ersten’ Poetik Trissinos explizit noch nicht besprochenen Gegenstnde und Modi der Mimesis ein. Vor diesem Hintergrund geriert sich die ‘erste’ Poetik Trissinos dezidiert als die Behandlung eines aristotelischen Einzelaspekts (der Mittel dichterischer Mimesis im Sinne von „parole“ und „rime“), die in der konkreten Detailarbeit mittels unaristotelischer Elemente durchgefhrt, in der ‘zweiten’ Poetik dann aber durch eine umfassende mimesispoetologische Untersuchung (s.u.) ergnzt wird. Die besondere Wichtigkeit, die Trissino der ‘Lyrik’ zuweist, zeigt sich darin, dass diese von Aristoteles nicht behandelte Gattung in der aristotelischen Rahmung der ‘divisioni’ I bis IV den zentralen Referenzbereich von ‘Poesie’ schlechthin darstellt.85 Die ‘erste’ Poetik Trissinos nutzt mithin den Aristotelismus, um eine umfassende systematische Untersuchung zu prtendieren, die fr Dichtung insgesamt valent sein soll und dann zunchst am Parameter lyrischer Texte durchgefhrt wird. In den aristotelisierenden Rahmen eingelagert sind dabei heterogene andere Anstze.86 ber die ihn besonders interessierende Problematik der spezifisch dichterischen Gestaltungsmittel87 spricht Tris84 Trissino [1562] 1970, 10. 85 ‘Lyrik’ wird dabei, wie oben angedeutet, nicht als Begriff fr eine Makrogattung behandelt, sondern in die literarhistorisch bekanntesten lyrischen Formen des ‘volgare’ aufgegliedert. 86 Vgl. Bartuschat 2000, bes. 181 – 186. 87 Vgl. Bartuschat 2000, 183: „Rispetto alla precedente tradizione retorica si nota la volont di definire la poesia attraverso un’analisi degli artifici specifici del linguaggio poetico. Quello che il cuore della teoria canonica dell’elocutio, l’analisi delle figure retoriche, viene rigettato nell’ultima parte della Poetica trissiniana.“

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2. Lyrik als Makrogattung

sino zunchst ausfhrlich anhand des dichterischen Mimesis-Mittels „parole“. In den Abschnitt „De la particulare elezione de le parole“ legt er eine ausfhrliche Behandlung „De le forme del dire“ ein. Damit sind die ‘formae dicendi’ aus der Abhandlung Per iden des Hermogenes von Tarsos gemeint. Trissino diskutiert sie alle nacheinander, wohl unter Rckgriff 88 auf die lateinische Darstellung in den Rhetoricorum libri quinque des Georgius Trapezuntius89 und unter der Nomenklatur „chiarezza“, „grandezza“, „bellezza“, „velocit“, „costume“, „verit“ und „artificio“.90 Dabei wird die Behandlung der sieben ‘id ai’ von Trissino ausdrcklich auf Fragen der Wortwahl („elezione delle parole“) eingeengt, whrend alle weiteren Aspekte sprachlicher Gestaltung außen vor bleiben: non solamente le sentenzie e le parole fanno le forme di dire, ma anchora ci voleno i modi, le figure, i membri, la composizione, la deposizione e la rima […]. Ma io, che intendo solamente di trattare in questo luoco de la elezione de le parole, lascio quelle altre cose che constituiscono le forme di dire da canto come non pertinenti a la presente intenzione.91

Diese Einschrnkung Trissinos verrt das Bemhen, die hermogenianischen Rubriken der eigenen, in grober Orientierung an Aristoteles entworfenen Hauptgliederung zu unterwerfen. Sie ist in der Forschung kritisch beurteilt worden. So schreibt Hermann Grosser ber Trissinos Verengung der Perspektive auf Per iden: Tale programmatica limitazione fa sostanzialmente perdere alla dottrina ermogeniana gran parte del suo senso: ne un esempio il possibile raffronto tra le categorie della ‘venerazione’ (semntes, dignit, gravit, etc.) e dello ‘splendore’ (lamprtes), che nella trattazione del Trissino in pratica non mostrano diversit alcuna. Egli mostra di accorgersi del problema subito dopo, constatando che il ‘vigore’ ha ‘le medesime parole e sentenzie che hanno la asperit e la vehemenzia’, e infatti precisa che ‘non solamente le sentenzie e le parole fanno le forme del dire, ma anchora ci voleno i modi, le figure, i membri, la composizione, la deposizione e la rima’ (p. 34). Ma, appunto, queste categorie 88 Den Rekurs auf Georgius Trapezuntius vermutet Grosser 1992, 137. 89 Vgl. Georgius Trapezuntius 2006, 493 – 617. 90 Vgl. zu den unterschiedlichen lateinischen und italienischen bersetzungen der griechischen Zentralbegriffe des Hermogenes Patterson 1970, 45, ferner Grosser 1992, 41, Tallini / Minturno 2008, 25, Tallini 2008, 85 und die Einleitung von Deitz in Georgius Trapezuntius 2006, XVI. Die Klassifizierung des Hermogenes fußt teils auf stilistischen, teils auf kontenutistischen Beobachtungen und Parametern; dies setzt sich in der Hermogenes-Rezeption der Renaissance (vgl. dazu allg. Patterson 1970) fort, so bei Georgius Trapezuntius und auch bei Trissino (vgl. Bartuschat 2000, 183). 91 Trissino [1529] 1970, 34.

2.2 Die Integration formalistischer Poetologie in den Aristotelismus

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esulano dal suo assunto. Esempio analogo fornito dalla trattazione della ‘bellezza’ che tende a confondersi, in modo curioso, o con la ‘purit’ o con l’‘artificio’ (che la deintes), perdendo la propria specificit. Tal modo di tradurre ‘deintes’, poi, a ben vedere, potrebbe attribuire un senso ancora diverso rispetto agli altri trattatisti a questa settima, controversa categoria del retore greco.92

Tatschlich drfte Trissino aber die Einpassung der ‘id ai’ vor allem mit dem Ziel der Flexibilisierung seiner eigenen stilpoetologischen Ausfhrungen vorgenommen haben. Die Ausfcherung einer Siebenzahl von stilistischen Kategorien, die z. T. kongruierende Bereiche aufweisen bzw. sich an den Rndern deutlich berlappen, vermeidet die hier kaum erwnschte Akzeptanz der traditionelleren Lehre von den drei Stilen (hoher, mittlerer und niedriger Stil). Htte Trissino diese Lehre anstatt der sieben ‘id ai’ in seine Besprechung der poetischen ‘parole’ integriert, so wre gerade im Horizont der anstehenden Diskussion lyrischer Formen, die die ‘divisioni’ I bis IV fhren, eine Auseinandersetzung mit Bembos prominenter Verengung der Stillage von Dichtung im ‘volgare’ auf einen gemßigten, prinzipiell an Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta orientierten Stil mittlerer Lage unvermeidlich gewesen.93 Durch die unscharfe Ausbreitung der sieben ‘id ai’ dagegen gelingt Trissino problemlos die parataktische Behandlung von Exempeln nicht nur aus Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta, sondern auch aus den Trionfi und vor allem aus Dantes Commedia. Die Weichzeichnung der ‘formae dicendi’ erlaubt es, den ‘harten’ Monologismus von Bembos ausschließlicher Privilegierung Petrarcas als alleinigen Stilvorbilds zu unterlaufen: Es geht somit nicht um ‘den’ lyrischen (mittleren, ausgewogenen, bembismuskompatiblen) Stil, sondern (durchaus vergleichbar der ursprnglichen Darstellung bei Hermogenes selbst) um die Besprechung einer unterschiedlich abgestuften Reihe von Ausformungen dichterischen Sprechens, die miteinander kombinierbar scheinen (daher die von Grosser inkriminierten Gleichheitsfeststellungen, die Trissino zu einzelnen ‘id ai’ vornimmt) und von daher ein ganz un-bembesk weites Spektrum von dichterischen (und dann im engeren Sinn auch lyrischen) Nuancen erlauben. Analoges lsst sich schon zu Hermogenes festhalten, wo man es unter Bercksichtigung der weiteren Ausdifferenzierung einzelner ‘id ai’ „mit 20 oder mit 21 Ideen zu 92 Grosser 1992, 137 f. 93 Zu dieser Stilprogrammatik, die Bembo in den Prose della volgar lingua 1525 (also nur wenige Jahre vor dem Erscheinen von Trissinos ‘erster’ Poetik) u. a. in Rckgriff auf die ‘klassische’ Lehre von den drei Stillagen installiert hat, vgl. detaillierter Huss 2011.

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tun hat, die sich auf verschiedene Weise miteinander verbinden kçnnen und stilistische Analysen von erstaunlicher Komplexitt erlauben“.94 Um die Erçffnung solcher Komplexitt ging es Trissino – und er erçffnet sie gerade am Beispiel der Wortwahl, was (die reiche Zahl an dantesken Beispielen zeigt es) exzellent geeignet ist, Bembos nachhaltige Isolierung der absoluten Exemplarik von Petrarcas lyrischen Texten zu unterlaufen.95 Zudem erlaubte es die Einarbeitung der ‘id ai’, unter der Kategorie des ‘costume’ (bei Hermogenes: ‘Þthos’) Elemente des Personendecorums zu integrieren: Denn unter anderem ist es Eigenheit der (so die lateinische Begrifflichkeit von Georgius Trapezuntius) ‘morata oratio’, „dare a tutte le persone che se introducono nei poemi le consuete proprie e convenevoli loro parole“96. Dieser Abgleich der poetologisch interpretierten ‘id a’ des Hermogenes mit rhetorisch perspektivierten Decorumsvorstellungen ist schon bei Georgius Trapezuntius vorformuliert.97 Solche Scharnierstellen erlauben es Trissino, die Poetik auf die Rhetorik hin zu çffnen. Ein dezidiert in diese Richtung gehendes Interesse lsst sich prominent zu Beginn der ‘zweiten’ Poetik greifen, also am Anfang der ‘quinta divisione’. Denn schon die ersten Dichtwerke, die Menschen berhaupt verfasst haben, dienten prononciert rhetorisch-çffentlichkeitswirksamen Zwecken: „E cos primieramente nacquero queste due sorti di poemi, cio laudare imitando et ammirare i buoni, et imitando deleggiare e vituperare i cattivi.“98 Poesie ist mithin ursprnglich eine mit spezifischen Verfahren kunstvoll ausgestaltete Form epideiktischer Rede. Ist die Dichtung also schon in ihrem zeitlichen Ursprung mit originr rhetorischen Funktionen versehen, so berrascht es nicht, dass Trissino solche Funktionen der Poesie auch direkt in aristotelisierende Gedankengnge integriert. Nachdem er beispielsweise in seiner Diskussion der Tragçdie in der ‘quinta divisione’ den qualitativen Teil der ‘costumi’ diskutiert hat, geht er zur ‘di noia’ (von ihm verstanden als diskursive Dimension des Tragçdientextes, eigentlich aber: ‘Erkenntnisfhigkeit’ oder ‘intellektuelle Kompetenz’ der Tragçdienfiguren, vgl. Aristoteles Poetik Kap. 6) mit einer dezidierten Betonung einer rhetorischen Dimension literarischer Texte ber: „Il discorso poi, o vero concetti, i quali Aristotele nomina ‘dianea’, si 94 So Luc Deitz in der Einleitung zu Georgius Trapezuntius 2006, XVI. 95 Zur anti-bembistischen Weite und Offenheit des lyrischen Spektrums in Trissinos Poetologie vgl. u. a. Floriani 1980, 64 f.; Griffith 1986/1987, 144 f. 96 Trissino [1529] 1970, 36. 97 Vgl. Georgius Trapezuntius 2006, 579 f. 98 Trissino [1562] 1970, 10.

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denno pigliare dalla retorica, per essere cose proprie di quell’arte; al qual discorso si appertengono tutte quelle cose che si convengono preparare dal sermone, le parti del quale sono dimostrare, solvere, muovere le passioni, come misericordia, ira, e simili.“99 Die Basis fr diese Rhetorisierung von Dichtung bezieht Trissino nach einer Vermutung Bernard Weinbergs100 aus einer kurzen Stelle am Anfang der aristotelischen Poetik (Kap. 4, 1448b 24 – 28),101 wo die Dichotomie von lobender und tadelnder Dichtung freilich nicht durch rhetorische Kategorien fundiert, sondern durch die Charakteranlage der jeweiligen empirischen Autoren begrndet wird. Trissino nutzt diese Stelle im zeitgençssischen Interesse einer Vermittlung der lteren rhetorischen Decorumspoetik mit dem neuartigen aristotelisierenden Ansatz.102 Erleichtert wurde ihm dies mçglicherweise durch seine Kenntnis des Averroes, der „in seiner Paraphrase der Poetik“ [des Aristoteles] die Auffassung vertrat, „wonach die Dichtung im Sinne des ‘genus demonstrativum’ als ‘laus’ und ‘vituperatio’ verstanden wird“.103 Die Rangstellung der Lyrik in der Poetica Trissinos ist insgesamt ambivalent. In den ‘divisioni’ I bis IV werden (wie gezeigt) zunchst zahlreiche Aspekte des Mimesis-Instruments „parole“ an lyrischen Texten demonstriert. Danach handelt Trissino in der metrischen Sektion zum MimesisInstrument „rime“ in der ‘terza divisione’ Grundelemente (‘lettere’, ‘syllabe’, ‘accenti’, ‘piedi’, verschiedene Versmaße, Reimwçrter, Reimarten und Reimschemata) ab, um im anschließenden vierten Abschnitt die lyrischen Formen Sonett, Ballata, Canzone, Madrigal und Serventese durchzunehmen. Die lyrischen Formen sind mithin privilegiertes Demonstrationsobjekt der gereimten italienischen Dichtungssprache im 99 Trissino [1562] 1970, 32. 100 Weinberg [1961] 1974, Bd. 2, 751. 101 In der bersetzung von M. Fuhrmann: „Die Dichtung hat sich hierbei nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentmlich waren. Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gewçhnlicheren jedoch die von Schlechten, wobei sie zuerst Rgelieder dichteten, die anderen hingegen Hymnen und Preislieder.“ 102 Vgl. dazu bspw. Buck 1964, VIII: „Was die Ausbildung der normativen Poetik im allgemeinen charakterisiert, ist der enge Kontakt zur Rhetorik. […] Die Bercksichtigung der Wirkung auf das Publikum ist einer jener wesentlich durch die Rhetorik geprgten Zge der Dichtungstheorie des 16. Jahrhunderts, die auch nach der Rezeption der aristotelischen Poetik erhalten bleiben. Denn auch die aristotelische Poetik wird durch ihre Interpreten bis zu einem gewissen Grade rhetorisiert.“ 103 Buck 1964, VIII.

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Sinne eines ‘Mittels’ dichterischer Darstellung.104 Auch in der ‘zweiten’ Poetik Trissinos treten lyrische Formen zunchst prominent in Erscheinung. Trissino erçffnet, wie schon kurz erwhnt, zu Beginn der ‘quinta divisione’ eine systematische Darstellung der Dichtung nach den bekannten aristotelischen Differenzkategorien (Gegenstand, Mittel und Modus der Mimesis). Bei der Diskussion des mimetischen Modus rcken die lyrischen Formen des ‘volgare’ mit in den Mittelpunkt des Interesses: La terza cosa poi che avemo detto di essaminare il modo col quale devemo esse azioni e costumi imitare. E questo di tre maniere: l’una, che ‘l poeta parla sempre in sua persona e non induce mai altre persone che parlino, come sono quasi tutte le elegie, le ode, le canzoni, e le ballate, e li sonetti e simili; l’altra che il poeta mai non parla in sua persona, ma solamente induce persone che parlano, come sono comedie, tragedie, egloghe e simili; la terza che ‘l poeta parte parla et enunzia e parte introduce persone che parlano, come sono li eroici di Omero e di Vergilio e le cantiche di Dante et i Triomfi del Petrarca, e la nostra Italia liberata da’ Gotti, e simili.105

Diese Einteilung nach dem sog. ‘Redekriterium’ entspricht nicht exakt der Formulierung des Aristoteles.106 Mçglicherweise schreibt Trissino vor der Folie der platonischen Dreiteilung des Redekriteriums (Politeia 3.394b – c),107 kannte jedoch sicherlich auch die fr das Mittelalter und die Renaissance sehr einflussreiche Einteilung aus der Ars grammatica des Diomedes.108 Der zentrale Punkt an der von Trissino vorgenommenen 104 Dies freilich auch deswegen, weil Trissino fr andere Gattungen wie die Tragçdie (Sofonisba) und das Epos (L’Italia liberata da’ Goti) den reimlosen ‘endecasillabo sciolto’ propagierte. 105 Trissino [1562] 1970, 13. 106 In Kap. 3 der Poetik unterscheidet Aristoteles einen berichtenden von einem dramatischen Modus der Mimesis und differenziert den berichtenden Modus nach Wandelbarkeit bzw. Unvernderlichkeit der Erzhlerinstanz. 107 So vermutet Hempfer 2008, 45 (wohl im Anschluss an Behrens 1940, 72 f., die freilich auch den Diomedischen Begriff des ‘genus mixtum’ ins Spiel fhrt, vgl. die folgende Anm.). Bei Platon heißt es in der Schleiermacher-bersetzung, „daß von der gesamten Dichtung und Fabel einiges ganz in Darstellung besteht, wie du sagst die Tragçdie und die Komçdie, anderes aber in dem Bericht des Dichters selbst, welches du vorzglich in den Dithyramben finden kannst, und noch anderes aus beiden verbunden, wie in der epischen Dichtkunst und auch vielfltig anderwrts“. 108 Abschnitt De poematibus: „Poematos sunt tria genera. aut enim activum est vel imitativum, quod Graeci dramaticon vel mimeticon, aut enarrativum vel enuntiativum, quod Graeci exegeticon vel apangelticon dicunt, aut commune vel mixtum, quod Graeci joimºm vel lijtºm appellant. dramaticon est vel activum in quo personae agunt solae sine ullius poetae interlocutione, ut se habent tragicae et comicae fabulae; quo genere scripta est prima bucolicon et ea cuius initium est,

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Klassifikation ist, dass hier anders als bei den antiken Theoretikern die lyrischen Formen (insbesondere die Lyrik im ‘volgare’) unter die Gattungen rubriziert werden, die sich nach den Kategorien aristotelischer Mimesis beschreiben lassen. Die Lyrik ist nach der Vorbereitungsarbeit der ‘prima divisione’ nun gnzlich im Strahlungsbereich der Dichtungstheorie des Aristotelismus angekommen.109 Ungeachtet dieses prominenten Hervortretens der Lyrik bei der Explikation des Redekriteriums wendet sich Trissino zunchst der Behandlung der ‘aristotelischen’ Gattungen Tragçdie, Komçdie und Epos sowie der Ekloge zu. Die Lyrik des ‘volgare’ verschwindet aber dennoch keineswegs, denn bei nherem Hinsehen zeigt sich: Auch bei der Diskussion ganz unlyrischer Gattungsmuster scheint die Dominanz der petrarkisch geprgten italienischen Lyrik immer wieder durch. Wenn Trissino bspw. in der tragçdienzentrierten ‘quinta divisione’ die ‘sentenzie’ bespricht, die exhortative Funktion haben, kombiniert er zwei eigene Beispiele, zwei aus Dante und gleich vier aus Petrarca (davon drei aus den lyrischen Rerum vulgarium fragmenta).110 Wo immer die sprachliche Gestaltung der ‘hohen’, in ihrer Dignitt zweifelsfrei gesicherten Gattungen behandelt wird, ist der lyrische Petrarca fr Trissino ein Beispielspender ersten Ranges. Die aristotelisierende Theoretisierung nicht-lyrischer Gattungen wird mithin durch die italienische Lyriktradition elokutionell unterfttert. Dass sich die Lyrik in Trissinos mit der Situation des ‘volgare’ befasster Theorie immer wieder solchermaßen vordrngt, ist nicht nur durch die literarhistorische Realitt des 16. Jahrhunderts bedingt, sondern auch durch Trissinos eigene Theoriebildung gesttzt. Denn die dem ‘volgare’ ursprnglich offenbar autochthone Form von Dichtung ist die der lyrischen Kleinform. Wenn Dante als erster Italiener Langtexte in dichterischer Manier verfasste, entsprach dies schon nicht mehr dem ‘Urzustand’: ‘quo te, Moeri, pedes?’ exegeticon est vel enarrativum in quo poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione, ut se habent tres georgici et prima pars quarti, item Lucreti carmina et cetera his similia. joimºm est vel commune in quo poeta ipse loquitur et personae loquentes introducuntur, ut est scripta Ilias et Odyssia tota Homeri et Aeneis Vergilii et cetera his similia“ (Diomedes [1857] 1981, 482). 109 Hempfer 2008, 45 fhrt dies auf die reale literarhistorische Situation des Cinquecento zurck: „Damit [sc. mit Trissinos Klassifikation] entsteht eine vçllig neue Systematik, die sich wohl dem schlichten Druck der Faktizitt volkssprachlicher Dichtungsproduktion verdankt. Mit Petrarca […] war die Einpassung dieser Praxis in eine Dichtungstheorie, die explizit, wie Trissinos Poetik, auf die volkssprachliche Dichtung zielte, unumgnglich.“ 110 Trissino [1562] 1970, 38 f.

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E penso che Dante fosse il primo che scrivesse cose lunghe e continuate in rima, perci che avanti lui non si vede che siano state scritte in versi altro che canzoni, o sonetti, o ballate, o mandriali, e simili poemi piccioli.111

Im literarischen ‘Urzustand’ vor Dantes Eingreifen gab es also im Italienischen Canzonen, Sonette, Ballate, Madrigale und ‘hnliche Kleingedichte’ – das petrarkische Formenspektrum ist mithin der genuine Ausdruck volkssprachlichen Dichtens, oder anders gesagt: Originr dichtet Lyrik, wer im ‘volgare’dichtet. Es entspricht ganz dieser Zentralstellung der italienischen Lyriktradition, wenn Trissino am Ende seiner ‘zweiten’ Poetik den Versuch unternimmt, nachzufassen und die Lyrik nochmals systematisch einzufangen und zu integrieren. Nachdem nmlich die ‘erste’ Poetik die Lyrik unter der Maßgabe der Mittel der Mimesis diskutiert und die ‘quinta divisione’ zu Beginn die Lyrik unter der Maßgabe des Modus der Mimesis rubriziert hatte, versucht die ‘sesta divisione’ an ihrem Ende, die Lyrik nun auch unter der Maßgabe des Gegenstands der Mimesis aristotelisch zu klassifizieren: Quanto poi alle canzoni, e serventesi, e sonetti, e ballate, e mandriali, et altri simili piccioli poemi, non diremo molto, avendo nella Terza e nella Quarta Divisione di questa opera della composizione di essi copiosamente trattato. E solamente diremo che se ben questi tali sono cose picciole, pur sono diversi poemi perci che imitano diverse azioni, s di materia di amore come di laudi e di altro. Vero che alcuna volta si faranno dui o tre di questi poemi di una istessa azione, come sono le tre canzoni che fece il Petrarca in laude degli occhi di Laura le quali manifestamente sono di una azione sola, onde tutte tre sono un solo poema. Ma questo non avvien sempre, come si pu vedere nelle canzoni e sonetti della morte di Laura le quali, avvegna che siano di una medesima cosa, cio della morte di lei, nondimeno quasi tutte hanno diverse azioni o diversi concetti; come lo apparergli in sogno, il vedere il luoco ov’ella nacque, il venirgli voglia di innamorarsi in altre donne, e simili. Delli quali concetti amorosi esso Petrarca tanto copioso e tanto vario che cosa meravigliosa. Adunque ogni canzone, o sonetto, o ballata, o mandriale, piglieremo comunemente per un poema, salvo che i serventesi, cio le terze rime dei Triomfi del Petrarca e dell’opera di Dante e di altri; ch per essere di una sola azione grande, la quale ha principio e mezzo e fine, sono un solo poema.112

Trissino unternimmt hier den Versuch, die Gegenstnde der Lyrik im ‘volgare’ durch eine Neufassung des Begriffs der Handlung (‘azione’, nach Aristoteles der eigentliche Mimesisgegenstand jeder Dichtung) in die

111 Trissino [1562] 1970, 47. 112 Trissino [1562] 1970, 88 f.

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aristotelische Systematisierung einzubeziehen.113 Seine Formulierung „poemi […] che imitano diverse azioni, s di materia di amore come di laudi e d’altro“ verrt freilich ebenso wie die ganze Argumentation, dass ‘azione’ hier – und zwar exklusiv fr den Bereich derjenigen Texte, die wir auch heute im engeren Sinn als ‘lyrisch’ bezeichnen wrden – so viel bedeutet wie ‘Thema’ (Trissino verwendet im obigen Zitat auch den Begriff ‘concetto’ als Quasi-Synonym zu ‘azione’).114 Mit dieser quation von ‘Handlung’ und ‘Thema’ verheddert sich Trissino gerade im Angesicht von so bekannten Texten wie den ‘Augenkanzonen’ Petrarcas: Die berhmten ‘tre sorelle’ behandeln ja manifestermaßen ein einziges Thema. Nach Trissinos Gleichsetzung ergibt sich daraus, dass sie auch ein und dieselbe ‘azione’ vertexten. Nicht zuletzt weil sie unmittelbar aufeinanderfolgen, stellt sich die Frage nach den Grenzen des ‘poema picciolo’ und der Anwendbarkeit jener Gleichung. Die Augenkanzonen stellen (so der Zwang dieser Logik) „un solo poema“ dar. Doch auch viele andere lyrische Texte Petrarcas behandeln immer wieder nur das Thema der Laura-Liebe. Sind auch sie ein einziger zusammenhngender Text, eine einzige lyrische Dichtung? Offensichtlich nicht, eine solche Position lsst sich von Trissino theoretisch nicht halten.115 Von daher verfllt Trissino auf das Strategem, zwischen ‘bergeordnetem gemeinsamem Thema’ („una medesima cosa“) und der serialisierten paradigmatischen Variation petrarkischen Dichtens („diverse azioni o diversi concetti“) zu unterscheiden, um die Autonomie der Einzelgedichte sichern zu kçnnen, aus denen die Rerum vulgarium fragmenta bestehen. Der schwierige Handlungsbegriff ist nicht das einzige Problem, mit dem Trissino bei seinem Bestreben zu kmpfen hat, die Lyrik aristotelisch zu theoretisieren. Eine weitere Schwierigkeit verursacht nmlich die von uns bereits besprochene Zuweisung einer grundstndig epideiktischen 113 Weinberg [1961] 1974, Bd. 2, 755 (mit Anm. 63) weist darauf hin, dass Trissino auch fr die pastorale Ekloge die Mçglichkeit von unvollstndigen „attioni picciole“ erwogen hat, um sie unter den aristotelischen Handlungsbegriff subsumieren zu kçnnen. Weinberg spricht hier vom „principle of the incomplete plot“. 114 Dies ist nur fr die Lyrik notwendig. Wie das obige Zitat zeigt, rckt Trissino von der Gleichsetzung ‘azione = concetto (Thema)’ sofort wieder ab, wenn von Texten wie den Trionfi oder der Commedia die Rede ist: Diese nmlich lassen sich als ‘azione grande’ mit Anfang, Mitte und Ende aristotelisch problemlos verbuchen (vgl. Aristoteles, Poetik Kap. 7: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat“ [bers. Fuhrmann] und den dortigen Kontext). 115 Nachhaltiger wird in eben diese Richtung Minturno zu argumentieren versuchen; vgl. Kap. 2.4.

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2. Lyrik als Makrogattung

Funktion, die der Dichtung originr eigen sein soll. Aristoteles (Poetik Kap. 2) hebt in gattungstheoretischer Hinsicht explizit die Tragçdie als Dichtung ber ‘bessere’ und die Komçdie als Dichtung ber ‘schlechtere’ Menschen hervor. Da die Renaissance dies als gattungsmßige Fixierung laudativer bzw. vituperativer Dichtungsformen verstand, kann die epideiktische Funktionalisierung ‘der’ Dichtung fr die Lyrik als Gattung keine theoretische Trennschrfe mehr haben, zudem sich mit Leichtigkeit im Bereich der Lyrik sowohl Beispiele fr ‘lobende’ als auch Beispiele fr ‘tadelnde’ Dichtung finden lassen. Daher muss Trissino konstatieren: Vero che questa tale sorte di poemi, cio le canzoni et i serventesi e gli altri, riceve […] tutti due i generi della poesia, cio quello di laudare et ammirare le cose migliori, come fa la tragedia e lo eroico, e quello di dileggiare e biasmare le cattive, come fa la comedia.116

Die theoretische Griffigkeit und Kohrenz des Begriffsinhalts von ‘Lyrik’ geht im Folgenden vçllig verloren, wenn Trissino betont, die laudativen Lyrikformen bedienten sich derselben Mittel wie die Tragçdie, die vituperative Lyrik dagegen verwende dieselben Mittel wie die Komçdie.117 Die Chance, die Verwendung der ‘rime’ zumindest theoretisch fr die Lyrik als distinktives Merkmal zu postulieren, hat Trissino nicht ergriffen. Dies nicht nur wegen der immer wieder gegebenen Schwierigkeit, die Commedia wegen ihrer ‘terza rima’ dann als Lyrik (nherhin als ‘serventesi’, s. o.) bezeichnen zu mssen, sondern insbesondere auch wegen des im aristotelisierenden Argumentationszusammenhang suspekten Verskriteriums. Aristoteles hat den Vers als definierendes Merkmal von Dichtung bekanntlich in Kap. 1 der Poetik explizit abgelehnt. Angesichts der italienischen Lyrikproduktion konnte der aristotelisierende Trissino aber nicht umhin, den Einsatz von ‘rime’ (die er ja in seiner ‘ersten’ Poetik ausfhrlich als Mittel der Mimesis behandelt hatte) am Schluss seiner ‘zweiten’ Poetik vor Aristoteles geradezu zu entschuldigen: „Bench nelle materie di amore e delle laudi (come ho altre volte detto) le rime stanno molto bene, per essere cosa di suavit e di vaghezza non picciola“.118

116 Trissino [1562] 1970, 89. 117 Trissino [1562] 1970, 89 f. 118 Trissino [1562] 1970, 89.

2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’

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2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’: Die heterogene Poetologie des Julius Caesar Scaliger Die beraus umfangreichen Poetices libri septem Scaligers,119 von einem Italiener in Frankreich verfasst, postum 1561 in Lyon und Genf publiziert und europaweit gesehen vermutlich die einflussreichste Poetik der Renaissance, sind in Italien mit einer gewissen Skepsis aufgenommen worden.120 Diese Skepsis hngt sicherlich mit Scaligers vielschichtigem und kaum orthodoxem Umgang mit Aristoteles und dem Aristotelismus zusammen, der grundlegende gattungspoetologische Fragestellungen betrifft und von uns im Folgenden eingehend zu diskutieren ist. Scaligers Text tritt 1561 zu einem Zeitpunkt auf den Plan, da die Diskussionen um die aristotelisierende Literaturtheorie in Italien auf einem Hçhepunkt anlangen.121 Scaliger selbst nennt aber in seinem programmatischen Vorwort, einem an seinen Sohn Sylvius gerichteten Brief, als poetologische Vorgngertexte nur die Poetiken des Aristoteles, des Horaz und die 1527 erschienenen drei Bcher De arte poetica von Marco Girolamo Vida.122 Er stellt diesen Werken seinen eigenen Text als die erste ‘vollstndige’ Dichtungstheorie gegenber.123 Damit signalisiert er ein erstes Mal seinen systematischen Gesamtanspruch. Zugleich verschweigt er bewusst eine ganze Phalanx von dichtungstheoretischen, hochaktuellen Abhandlungen und Dialogen, die zeitgençssisch debattiert wurden, ebenso wie er bei seinen Quellenbelegen viele allgemein bekannte Schriftsteller

119 Zu allen grundlegenden Fragen bezglich der Entstehung und Verbreitung des Textes sowie bezglich seiner Hypotexte vgl. neben den im Folgenden gegebenen Hinweisen bes. die große kommentierte Ausgabe von Luc Deitz und Gregor VogtSpira (Scaliger 1994 – 2003). 120 Die Poetices libri septem waren nachweislich u. a. Minturno, Castelvetro, Piccolomini und Tasso bekannt, wurden aber in der italienischen Diskussion insgesamt mit erkennbarer Zurckhaltung aufgenommen; vgl. detailliert die Nachweise bei Baldassarri 1986, 88 m. Anm. 6. 121 Vgl. zu einer detaillierten bersicht ber die bis dahin erschienenen poetologischen Hauptschriften Buck 1964, VII Anm. 12. Zu Scaligers Rekursen auf die aristotelisierende Gattungspoetologie vgl. allg. Solervicens 2011, 120 – 126. 122 Zu Scaliger und Vida vgl. Reineke 1988, 23 – 26; Rolfes 2001; s. zu Vida ferner Blnsdorf 1980 und Vogt-Spira 1997. 123 Vgl. Buck 1964, VII f.; Reineke 1988, 21 – 23; Robert 2009, 177 f.

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2. Lyrik als Makrogattung

anfhrt, aber etliche seiner erudit-kompilatorischen Basistexte nicht nennt.124 Die Gesamtstruktur der sieben Bcher stellt sich im Groben folgendermaßen dar:125 Das erste Buch mit dem Titel Historicus versucht die Dichtung mitsamt ihrem Wirkungsziel zu definieren, bietet eine historische Entwicklungslinie der Dichtung und bringt einen panoramatischen berblick ber die einzelnen Gattungsformationen der Literaturgeschichte. Das zweite Buch benennt sein Thema durch seinen Titel Hyle, also ‘materia’, womit nicht der thematische Stoff, sondern die nach metrischen Regeln konfigurierten Wortfgungen gemeint sind, mit denen die Dichtung etwas zur Darstellung bringt.126 Das dritte Buch (Idea) stellt im Wesentlichen die Dinge in den Mittelpunkt, die als Themen bzw. Objekte dichterischer Darstellung der Dichtung die ‘forma’ verleihen, insofern sie in der metrisch gestalteten ‘materia’ aufscheinen. Buch 4 (Paraskeve) diskutiert die stilistische Dimension poetischer Texte. Buch 5 (Criticus) und Buch 6 (Hypercriticus) behandeln im Kontext der durch die rhetorische ‘imitatio auctorum’ gegebenen Kanonproblematik griechische und lateinische Autoren in ausfhrlichen Vergleichen; prominent ist dabei insbesondere der Vergleich zwischen Homer und Vergil. Auch neulateinische Autoren werden dabei ausfhrlich kritisch diskutiert.127 Buch 7 ist unter dem passenden Titel Epinomis ein großer Nachtrag von bislang nicht Behandeltem und mittlerweile neu Perspektiviertem.128 Diese Gesamtanlage, zu deren versuchsweise aristotelisierender Begrndung noch ein Wort zu sagen sein wird, verrt einen umfassenden programmatischen Anspruch Scaligers unter der Devise von „Totalitt, Kohrenz, Methode“.129 Das insgesamt verfgbare poetologische Material soll zugerichtet, klassifiziert, gebndigt und im Hinblick auf Tauglichkeit fr eine an ‘imitatio’-Verfahren orientierte Dichtungspraxis umfassend gesichtet und systematisch dargestellt werden.130 124 Vgl. zu Scaligers Hypotexten die Nachweise in der genannten Ausgabe Deitz / Vogt-Spira, ferner Sellin 1986 und Deitz 1994 (dort bes. 95 f. zu den literarischen ‘genera minora’). 125 Vgl. auch Lardet 1982, 71 f. und Robert 2009, 179 f. 126 Vgl. in diesem Sinne programmatisch Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 444/446 (B. 2, Kap. 1: „Materia poeseos“). 127 Vgl. Ludwig 1979; Reineke 1988. 128 Fr die Lyriktheorie interessant sind insbesondere die Bcher 1, 3 und 7, auf die wir uns binnen Kurzem konzentrieren werden. 129 Robert 2007, 268. 130 Vgl. Robert 2007, bes. 255 – 266.

2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’

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La force de l’expos tient  une passion taxinomique qui anime l’ouvrage entier. Scaliger met un soin m ticuleux et comme obsessionnel  ordonner sa mati re. Il jongle avec les cat gories, multiplie les classifications, organise, distribue, formalise avec acharnement.131

Dieser umfassende Anspruch schreibt sich in eine Phase cinquecentesker Poetik ein, die insgesamt in ihrem Rekurs auf topische Stofforganisation durch den Umbau der grundlegenden Topik zur „Ordnungswissenschaft“132 und durch ein besonderes Streben nach „Ordnung, Methode, System“133 gekennzeichnet ist. In ihr erscheinen Autoren wie Trissino und Minturno mit Scaliger durch „eine gemeinsame Tendenz zur Objektivierung des Gegenstandsbereichs“ verbunden.134 Diese „Systempoetik mit ihren regulativen und taxonomischen Idealen“135 erhebt ausdrcklich das Postulat einer ‘wissenschaftlichen’ Behandlung dichtungstheoretischer Fragestellungen und will die sektoralen Begrenzungen, traditionsgeschichtlich bedingten Heterogenitten und theorieoptionalen Disparitten herkçmmlicher Poetologie „in einer ‘Universalpoetik’ auf[…]heben, die den Gegenstandsbereich vollstndig, begrifflich exakt und methodisch reflektiert erfaßt“.136 Mit dem Streben nach dem Aufbau einer solch allgemeinverbindlichen Universalpoetik ist es faktisch auch gegeben, dass Scaliger sich ungeachtet seiner stofflichen Konzentration auf griechische und lateinische Autoren zu Fragen der Poetologie in einer Weise ußert, 131 Lardet 1982, 71. Vgl. auch Lardet 1986a, 363 zu Scaliger als „un obs d de la d finition […] qui proc de avec un sens aigu des sym tries et une profusion de taxinomies.“ 132 Robert 2007, 271. 133 Mller / Robert 2007, 26. 134 Mller / Robert 2007, 26. 135 Mller / Robert 2007, 27. 136 Mller / Robert 2007, 27. Vgl. zum Kontext der Systempoetik bei Scaliger auch Baldassarri 1986, 96 („una sorta di grande ‘teatro’ dello scibile classico, i cui materiali, preventivamente destrutturati, vanno incontro a processi molteplici di nuova interconnessione“) und bereits Buck 1964, XIX, der allerdings – wie Baldassarri – in seiner Formulierung eine (so nicht gegebene) Rckwrtsgewandtheit Scaligers anzudeuten scheint („Was man an ihm schtzte, war die Systematisierung eines beraus umfangreichen und schwer bersehbaren Gedankengutes in einer Art Fazit der jahrzehntelangen dichtungstheoretischen Erçrterungen“). Korrigierend ist dem entgegenzuhalten, dass hnlich wie etwa Minturno auch Scaliger einen „progressiven Klassizismus“ vertritt, der „keineswegs restaurativ, sondern traditionskritisch verfhrt“ (Mller / Robert 2007, 27). Im brigen hebt sich Scaligers Darstellung von jenen ‘jahrzehntelangen Erçrterungen’ insbes. der italienischen Theoretiker deutlich ab, wie im Verlauf unserer obigen Darstellung deutlich werden sollte.

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deren Verbindlichkeit sich auf einzelne Nationalsprachen, Nationalliteraturen oder epochale Zeitrume programmatisch nicht beschrnken lsst. Mit anderen Worten (und dies hat die ltere Forschung oft verkannt):137 Die Poetices libri septem sind auch fr die volkssprachlichen Literaturen und Literaturformen der Frhen Neuzeit relevant,138 und dies erklrt zu einem großen Teil ihre insgesamt enorme Breitenwirkung.139 Der systematisch-taxinomische Ansatz ist programmatisch unverkennbar. Dennoch hat sich in der Forschung bisweilen Unbehagen angesichts der konkreten Gesamtmasse der sieben Bcher Poetices eingestellt. Musste dieses Unbehagen auch nicht so weit gehen, Scaliger zu unterstellen, statt der Absicht zu systematisieren habe er in Wahrheit die Absicht gehabt anzuhufen und zu kontaminieren,140 so war doch festzustellen, dass Scaligers Darstellung insgesamt einem prtendierten Systematismus und dem Postulat von methodischer Kohrenz nicht immer gerecht zu werden schien.141 Die Verfechter eines scaligerianischen Systematismus in der Forschung142 tendieren dazu, diesen Befund mçglichst weit in den Hintergrund zu schieben. Er ist aber, wie sich zeigen wird, unabweisbar. Global gesehen drfte er damit zusammenhngen, dass bei Scaliger mehrere Di137 Vgl. etwa die von Behrens 1940, 89 zustimmend referierte ußerung von Brinkschulte 1914, 117, wonach Scaligers „Poetik berhaupt nur fr eine wieder zu belebende klassische Poesie geschrieben ist“. In diesem irrigen Sinne noch Plett 1983, 359: „he [Scaliger] was not particularly interested in contemporary vernacular literature. He was concerned rather to restore Latin poetry to the heights of classical achievement“. Diese angebliche Interesselosigkeit Scaligers dementiert sich bereits bei einem Blick auf seine eigene lyrische Produktion, die vor dem Hintergrund aristotelisierender Poetologie zentrale Motive von Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta und des volkssprachlichen lyrischen Petrarkismus verarbeitet; vgl. Haugen 2007. 138 Vgl. Guerrero 2000, 100: „[…] il s’agit d’assurer l’intronisation de la classe dans le champ litt raire antique, ou, plutt, dans le champ litt raire tout court. Car la po tique est une pour les th oriciens, et ses lois ne changent pas avec la diversit de temps et de langues“; s. ergnzend ebd. Anm. 33. 139 Vgl. hier auch Buck 1964, XII. 140 In diesem etwas naiven Verstndnis Deitz 1994, 94: „The longer one reads the Poetics, the more one becomes convinced that its purpose is not to sort out, to discriminate, and to put into perspective, but rather to amass, to pile up, and to conflate, with little regard for truth, relevance, or consistency.“ 141 Vgl. in diesem Sinne etwa schon Corvaglia 1959, 219: „[…] oltre i reiterati tentativi di sistemazione universale che vagheggi [Scaliger] e che non superarono lo stadio di superstrutture, riusc tuttavia a delineare in tratteggiato un immanentismo assoluto in una grandiosa ispirata intuizione unitaria.“ 142 Vgl. dazu bspw. Ferraro 1971, eine geradezu panegyrisch-begeisterte Feier des genialen Systematikers Scaliger (s. dort etwa 115 f., 168 – 172, 186).

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mensionen der Darstellung koprsent sind. Zum einen ein klassifikatorisches Bemhen um Taxinomie, „la tentative, d’origine fortement aristot licienne, d’ laborer des classifications  crit res multiples“,143 das Streben nach dem Erreichen einer taxinomischen Aufgliederung, die sich hufig in Form von baumartigen Diagrammen darstellen ließe.144 Zum anderen dagegen ein katalogisierendes Bemhen um eine mçglichst vollstndige Erfassung des empirisch verfgbaren Materials, das nach unterschiedlichen Parametern in lineare Ordnungsmuster gebracht wird.145 Die Engfhrung der beiden Darstellungsweisen fhrt bei Scaliger des fteren dazu, dass die durch dialektische Aufgliederung entstehenden Baumdiagramme durchschossen werden von reihenden Mustern und die Diagramme sich am selben Objekt zu vervielfltigen drohen. In jedem Fall ergibt sich eine Spannung zwischen einer Ebene der ‘th orisation’ und einer Ebene der ‘th saurisation’,146 die sich uns im Bereich der Gattungspoetologie binnen Kurzem im Gewand einer Kontraritt von dialektisch-abstrakter Gattungsdifferenzierung und literarhistorisch-konkreten Gattungsformationen zeigen wird. Wie bereits kurz angeklungen ist, wird in der Forschung der Systematismus Scaligers hufig mit seiner Orientierung an Aristoteles in Verbindung gebracht. Diese Orientierung ist dabei keineswegs unumstritten. Scaliger selbst bezeichnet Aristoteles in der Epinomis in einem vielzitierten Wort als „imperator noster, omnium bonarum artium dictator perpetuus“147 und betont, er folge in seinen theoretischen Darlegungen dem Aristoteles so weit wie nur irgend mçglich.148 Ungeachtet dessen wird Aristoteles von Scaliger an etlichen Stellen in teils scharfen Worten kriti-

143 Lecercle 1986, 91. 144 Vgl. Robert 2007, 272 zu den auf topisch-dialektische Wissensorganisation rckfhrbaren Baumdiagrammen, die auch fr Scaliger aufgestellt werden kçnnen. 145 Vgl. Lecercle 1986, 91 mit einer sehr guten Analyse, an der nur zu bemngeln ist, dass die empirisch-katalogisierende Materialerfassung unreflektiert als „la forme mdivale du catalogue, qui enregistre en les juxtaposant les cat gories l gu es par la tradition“ bezeichnet wird (Kursivierung durch die Verf.); vgl. ebd. auch 95 („proche encore du catalogue cher aux po ticiens m di vaux“, „ ne pas se d marquer, pour les genres, des habitudes m di vales du catalogue“). 146 Vgl. Lecercle 1986, 94, der ebd. auch von der „impuissance  matriser, par un nombre fini de cat gories, l’in puisable diversit des mati res“ spricht. 147 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 5, 594 (B. 7, Teil 2, Kap. 1). 148 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 5, 592 (B. 7, Teil 2, Kap. 1): „Verum magnopere nostra interest, qui quoad licet Aristotelis exemplo rerum causas investigamus […]“.

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siert, und das Procedere der Poetices libri septem kann im Detail an vielen Stellen nicht auf eine aristotelische Matrix zurckgefhrt werden.149 Die ‘diaphora ’ des aristotelischen Mimesisbegriffs, die die aristotelischen Theoretiker fr gewçhnlich mit dem Primrziel einer Gattungsdifferenzierung einzusetzen pflegen, sollen dem Systematiker Scaliger zuallererst eine Gesamtgliederung eines Großteils seiner Darstellung, genauer: der Bcher I bis IV, liefern, wie er zu Beginn des dritten Buchs verkndet: Cum igitur poema, quemadmodum dictum est, imitatio quaedam sit, quattuor quaerenda fuere: primum, quod imitemur; alterum, quare imitemur; tertium, quo imitemur; quartum, quomodo imitemur. Sic enim etiam acutius quam Aristoteles. Atque in primo quidem libro poetices usum ostendimus atque eius originem simul et finem, quare imitemur: ut scilicet humana vita compositior fiat. Quomodo autem imitemur, dicemus libro sequenti. Nam in superiore digesta sunt versuum genera ac rationes, quibus imitaremur. Nunc quid imitandum nobis sit, videamus.150

Demnach sollen also in den ersten vier Bchern Scaligers aristotelisierende Kategorien verhandelt sein: Buch 1 bertrifft Aristoteles sofort durch eine ‘aristotelische’ Zusatzfrage an Genauigkeit („acutius quam Aristoteles“), nmlich durch die Frage nach dem Zweck der dichterischen Nachahmung („quare imitemur“); Buch 2 fragt nach ihren Mitteln („quo imitemur“); Buch 3 nach ihrem Gegenstand („quod imitemur“); Buch 4 schließlich nach ihrem Modus („quomodo imitemur“). Die Fllung der Kategorien durch Scaliger ist freilich keineswegs aristotelisch zu nennen. So behandelt er unter der Frage nach den Mitteln der Nachahmung (Buch 2) keineswegs Rhythmus, Sprache, Melodie (Aristoteles, Poetik Kap. 1), sondern in enormer Detailfreude spezifisch metrisch-verstechnische Fragestellungen, wobei Aristoteles’ Verdikt gegen den Vers als Dichtungsdefiniens unterlaufen wird. So behandelt er unter der Frage nach dem Gegenstand der Nachahmung (Buch 3) nicht die aristotelisch diskutierte Frage nach der Mimesis von Handlungen (versus Mimesis von Gefhlen oder ethisch bewertbaren ‘Haltungen’), wie wir sie aus den anderen Theoretikern kennen, sondern 149 Vgl. zur Vielschichtigkeit von Scaligers Aristotelesrekurs Brinkschulte 1914, 43 – 82; Weinberg 1941/1942; Dolce 1973, bes. 453 – 459; Sellin 1979, 911 – 914 (hlt Scaliger im Kern fr einen Horazianer, nicht fr einen Aristoteliker); Jehasse 1986, bes. 70; Lecercle 1986, bes. 95 f.; Mazzacurati 1993, 158 f. (weist auf den unaristotelischen Charakter eines großen Teils von Scaligers Material hin); Guerrero 2000, 94; Trappen 2001, bes. 55 – 60; Trappen 2002, 90 – 96; Marsh 2004, 671 f.; Robert 2009, 176 – 178, 184 f. 150 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 2, 60 (B. 3, Kap. 1).

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eine breite Palette von dichterisch darstellbaren Gegenstnden, Zeitrumen, rtlichkeiten und Personen, die unter rhetorischen Decorumsaspekten zergliedert werden (etwa: Personendecorum nach Alter, sozialer Stellung usw. usf.),151 und schließt an eine Erçrterung von vier dichterischen Kardinaltugenden (‘prudentia’, ‘varietas’, ‘efficacia’, ‘suavitas’, ab Kap. 24), die den Gegenstand der Dichtung allenfalls im Sinne rhetorischer Wirkeffekte betreffen, eine ausfhrliche Behandlung zahlreicher ‘figurae’ an (die er in Kap. 28 – 31 immerhin substanziell rckbinden will, die aber als das ‘Was’ der Mimesis trotzdem kaum unmittelbar einleuchten). So behandelt er unter der Frage nach dem Modus der Nachahmung in Buch 4 einen Katalog unterschiedlicher Stilformen, Stilqualitten und Stilmittel152 und keineswegs die aristotelische Differenzierung in unterschiedliche Dichtungsgattungen nach Ausformung des Redekriteriums. Scaliger setzt mithin die aristotelischen ‘diaphora ’ als Grundfragen zwar ein, aber sie fhren in aller Regel nicht (wie bei Trissino oder Minturno) im Sinne einer topisch-dialektischen Ausdifferenzierung zu einzelnen, durch je ein gemeinsames Merkmal umrissenen ‘species’, sondern zu einer reihenden Darstellung einzelner Aspekte, die in sich je unterschiedlich organisiert sein kann, im Grundmuster aber linear verfhrt. Das Prinzip des Merkmalskatalogs berlagert eine dialektisch erzeugte Gruppenbildung. Dies ist auch bereits in Buch 1 im Wesentlichen der Fall. Wenn Scaliger nmlich in dem obigen Zitat behauptet, das „quare imitemur“ im ersten Buch durch die Behandlung des erbaulichen und gesellschaftlich ntzlichen Wirkungszwecks der Dichtung, „ut […] humana vita compositior fiat“, behandelt zu haben, so unterschlgt er dabei die auffllige Ausfaltung einer gattungsmßig gestaffelten Entwicklungsgeschichte der Literatur insgesamt, die in Buch 1 im Wesentlichen nach generischen Alterskriterien reihend verfhrt und ab Buch 1, Kap. 4 mit den Hirtengedichten als der ‘ltesten Dichtungsgattung’ beginnt – brigens setzt diese lineare Literarhistorie exakt nach einer sehr spezifischen Diskussion des aristotelischen Redekriteriums ein (Buch 1, Kap. 3, dazu in Krze), damit einer Frage, die fr den orthodoxen Aristoteliker nicht zum Zweck, sondern zum Modus dichterischer Darstellung gehçrt. 151 Vgl. zu den prsumptiven philosophischen Hintergrnden, nmlich einer bei Scaliger stoizistisch statt genuin aristotelisch eingefrbten Begrifflichkeit des Allgemeinen in der Dichtung und somit einer generalisierenden Rckbindung von verallgemeinerten Eigenschaften an dichterisch dargestellte Personen, Zeuch 2009. 152 Vgl. zu Scaligers Stiltheorie die Anmerkungen am Schluss dieses Abschnitts.

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Es ergibt sich also aus dem basalen Einsatz der aristotelischen ‘diaphora ’ nicht eine Gruppierung von einzelnen unter ein ‘genus’ (Dichtung) gehçriger ‘species’, sondern eine auf bersichtlichkeit reduzierte Palette thematischer berschriften, unter denen Scaliger das empirisch gesammelte Material verschiedener Provenienz gruppiert. Scaliger benutzt die aristotelischen Differenzkategorien aus Kap. 1 bis Kap. 3 der Poetik in der Hauptsache nicht zur Gattungsdifferenzierung.153 An einem aristotelischdialektischen Modus orientiert er sich dominant nicht im Sinne eines inhaltlichen Anschlusses an die aristotelische Poetik,154 sondern vielmehr im Sinne eines methodischen Anschlusses an den Logiker, Dialektiker und Topiktheoretiker Aristoteles.155 Seine Ausdifferenzierung von Gattungen am Ende von Kap. 3 des ersten Buches der Poetices libri septem erfolgt nicht mithilfe der Differenzkategorien aus der Poetik, sondern mithilfe der gnzlich anders gelagerten Kategorien ‘nobilitas’ (ergibt eine Rangordnung 153 Sehr scharf bereits gesehen von Lecercle 1986, 95: „la th orie scalig rienne des genres reste en dehors du mouvement le plus important chez les contemporains, qui consiste  d finir,  partir des crit res aristot liciens de l’instrument (mots, rythme, harmonie), de la matire (meilleure, semblable, pire) et du mode (direct, indirect, mixte), une combinatoire […]. On peut s’ tonner que Scaliger n’ait pas emprunt une voie qui avait pourtant de quoi s duire un taxinomiste si ardent, puisque la combinatoire repr sente une sorte de triomphe de l’ordre […] il est assez remarquable que Scaliger, dans son examen des genres, n’ait jamais recours  ces crit res – et songe encore moins  les combiner“ (Kursivierungen im Original). Daran ist lediglich nicht ganz richtig, dass Scaliger auf die aristotelischen ‘diaphora ’ im gattungspoetologischen Kontext nie zurckgreife – die Diskussion des Redekriteriums in B. 1, Kap. 2 f. etwa beweist anderes. Insofern ist der Relativierung von Lecercle durch Spies 1994, 262 zuzustimmen. 154 Wie mçglich gewesen wre, denn in der Tat ist die Ausdifferenzierung einzelner Knste nach den ‘diaphora ’ in Aristoteles, Poetik Kap. 1 – 3 „eine schulmßige Dihrese […], worauf auch Robortello in seinem Kommentar zur Poetik hinweist“ (Robert 2009, 185; dort Anm. 62 das Zitat aus Robortello). Zumindest suggeriert scheint uns eine Rckfhrung scaligerianischer Gattungs-Dialektik direkt auf den Beginn der aristotelischen Poetik bei Trappen 2002, 90 f.; vgl. bereits Trappen 2001, 55 – 57. Das ist im Sinn des von uns soeben Gesagten zumindest missverstndlich. 155 Vgl. in diesem Zusammenhang Scholz 2008, 77 f. und Robert 2007, 270: „Diese Ordnung [bei Scaliger] und mit ihr die in der Vorrede erwhnten ‘philosophischen Prinzipien’ bezogen sich konkret auf zwei von Aristoteles maßgeblich geprgte Teildisziplinen: Topik und Dialektik. Wenn Scaliger in der Vorrede behauptet, die Grundstze seiner Darstellung aus Aristoteles entlehnt zu haben, so meint er nicht den Autor der Poetik, sondern den der Topik.“ Vgl. in weiterem Zusammenhang zum philosophischen Hintergrund bei Scaliger (v. a. den problematischen Begriff des ‘Allgemeinen’ als Objekt von Dichtung betreffend) eingehend Zeuch 2009.

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der dichterischen Gattungen nach Dignitt) bzw. ‘tempus’ (ergibt die o.g. literarhistorische Reihung). In beiden Formen werden aber erneut nicht ‘species’ als Gruppen mit einem gemeinsamen Merkmal konstituiert, sondern reihende Verfahrensweisen erçffnet.156 Man kann dies etwa bei der literarhistorischen Reihung der Gedichtformen in Buch 1 als Interferenz zwischen einem dialektischen Organisationsprinzip, das auf die Etablierung abstrakter Gattungskategorien aus ist, und der Erfassung einer literarhistorischen Realitt gattungshaft untergliederter Schreibpraxis deuten.157 Dessen ungeachtet ist Scaliger ein im Sinne der aristotelischen Poetik dialektisches Verfahren zur Gattungsdifferenzierung durchaus bekannt. Nichts anderes wird zum Abschluss des zweiten Kapitels von Buch 1 kurz durchgefhrt, wenn es dort heißt: Differunt autem poemata modis tribus. Hi sunt: quae imitamur, quibus imitamur et quomodo imitamur. Imitatur Medeam eandem Ovidius in Metamorphosi quam Seneca in tragoedia. Res igitur eadem, at versus quibus imitantur diversi, modus quo imitantur diversus, quippe aliter in scaena per personas dramata, aliter in epico mixtum genus videtur. Iidem versus in Aeneide et Tityro; res et modus alii. Idem modus in Tityro et in comoediis; res et versus non iidem.158

Dies ist – die nçtigen Abstriche vorausgesetzt: Ausblendung des Handlungsbegriffs, Einsatz des Verskriteriums – exakt, was Lecercle, wie gesehen, bei Scaligers Behandlung der Gattungen vermisst hat, nmlich ein aristotelisch-dialektisches Verfahren, das die ‘Kombinatorik’ der konkreten Elemente betont, die den durch ‘diaphora ’ erzielten einzelnen ‘species’ jeweils angehçren. Ein literarhistorisch existierendes Werk gruppiert sich in den einzelnen aristotelischen Rubra jeweils spezifisch ein, und aus der Merkmalskombination gemß den drei Differenzierungskategorien ergibt sich die charakteristische generische Physiognomie des Einzeltextes. Diese Ebene ist zu unterscheiden von den abstrakten ‘species’ wie: alle Texte mit dramatischem Modus, alle Texte mit narrativem Modus, alle Texte mit ‘gemischtem’ Modus, die sich ihrerseits abstrakt kombinieren lassen mit den abstrakten Textklassen, die Merkmalszuweisungen nach den anderen beiden ‘diaphora ’ (Gegenstand, Mittel) erhalten.

156 Insofern sind die Befunde von Trappen 2001, 68 und Robert 2009, 181 zu modifizieren. 157 Vgl. Trappen 2001, 68 – 77. 158 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 91 (B. 1, Kap. 2).

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Diese Kombinatorik gibt Scaliger allerdings gleich in der Folge, zu Beginn des 3. Kapitels von Buch 1, auf, wenn er sich auf eine Einteilung der einzelnen Dichtungsformen allein nach dem Modus (hier durchaus noch – anders als im schon diskutierten Auftakt von Buch 3 – im Sinn des Redekriteriums verstanden) konzentriert und eine Dichtungseinteilung allein danach versucht: Modi igitur sic dividuntur. Alius in narratione simplici consistit, quale est Lucretii poema; hoc Graeci digcglatijºm et 1ngcglatijºm et !podigcglatijºm. Alius est in collocutionibus positus, cuiusmodi in comoediis; a Graecis diakocgtijºm prima et summa ratione. […] Hoc genus diakocgtijºm etiam ab gestu et actione dqalatijºm appellatum fuit. […] Mixtum autem est, in quo et narrat poeta et introducit collocutiones. Graeci lijtºm recte, joimºm minus recte. Compositum enim e partibus est, at nemo dicat compositum esse partibus commune; ipsae namque partes totum sunt. Alia quippe ratio, cum dicimus genus esse commune speciebus. Sane genus pars est specierum; comprehendit enim eas praedicatione, non ambitu. Modos idcirco diximus, non autem species propterea, quod ii et simul conveniunt et miscentur, species autem numquam.159

Die Auseinandersetzung, die Scaliger hier mit den bei Diomedes in der Diskussion des ‘gemischten’ Redemodus verwendeten Begriffen lijtºm und joimºm fhrt, beweist seine Aufmerksamkeit fr dialektische Probleme:160 Eine Mischform von ‘species’ kann es bei der Ausdifferenzierung von ‘species’ unter einem ‘genus’ logisch nicht geben, weswegen hier nicht von ‘species’, sondern eben (aristotelisch-poetologischem ‘mainstream’ entsprechend) von einzelnen ‘modi’ zu sprechen ist. Damit hat Scaliger darauf hingewiesen, dass eine diaphorisch verfahrende, dialektische Vorgehensweise bei Orientierung an den Gegebenheiten literarischer Darstellungsverfahren bereits auf der abstrakten Ebene der Etablierung ‘passender’ ‘diaphora ’ nicht in jedem Fall zur Etablierung von logisch ‘sauberen’ ‘species’ (hier: der Differenzkategorien als logischer Untergliederungen des globalen mimetischen Dichtungsbegriffs) gelangen kann. Bei der detaillierten Diskussion des dramatischen Modus wird an dieser Stelle allerdings sogleich deutlich, dass Scaligers Orientierung an der Poetik des Aristoteles eine sehr individuelle ist. Er unterscheidet nmlich nicht eine ‘eigene’ Sprecherrolle des Dichters von der Einfhrung von Personen, die in Ablçsung des Dichter-Sprechens eine Vielheit von Sprecherrollen bernehmen. Vielmehr geht er etymologisch argumentierend vom Begriff ‘dialogetikn’ aus, den er gegenber dem Begriff ‘dramatikn’ als ur159 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 90/92 (B. 1, Kap. 3). 160 Vgl. Trappen 2001, 60 f.

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sprnglicher fr die Bezeichnung des dramatischen Redemodus setzt. ‘Dialogetisch’ fhrt ihn zum Begriff des ‘Dialogs’, und dieser Begriff bringt ihn auf literarische Streitgesprche, was Anlass zu einer kurzen Diskussion des literarischen Dialogs liefert. Sekundr diskutiert Scaliger den dialogischen Modus im Sinne eines bhnenmßigen ‘dramatikn’, wobei weniger die Vielheit der Sprecherrollen als vielmehr der performative Aspekt der dramatischen Darbietung von Bedeutung ist.161 Schon hier erweist sich, dass Scaligers Interesse nicht auf die systematische Ausformulierung einer auf Aristoteles’ Poetik und ihren drei Differenzkriterien (Mittel, Gegenstand und Modus der Mimesis) basierenden Gattungssystematik gerichtet ist.162 Vielmehr wird jede Gelegenheit genutzt, unterhalb der – voneinander isolierbaren! – Rubra, die die ‘diaphora ’ liefern, eine lineare Darstellung des Empirischen ins Werk zu setzen. So geht Scaliger sofort nach der oben zitierten Textstelle dazu ber, bezglich der ‘dramatischen’ Dichtung festzuhalten, deren lteste Ausformung sei das Hirtengedicht. Damit ist das Stichwort zur Abwgung der oben schon besprochenen (nicht-aristotelischen) ‘diaphora ’ ‘tempus’ versus ‘nobilitas’ gegeben; das ‘tempus’ trgt letztlich den Sieg davon und erçffnet den literarhistorischen Katalog.163 Was die konkrete Ausdifferenzierung von Gattungen nach dem Redekriterium und damit die Frage nach der Lyrik angeht, ist den Ausfhrungen in Kap. 3 des ersten Buchs zusammenfassend zu entnehmen, dass der ‘narratio simplex’ lehrhafte Texte (Lukrez) entsprechen sollen, der ‘dialogischen’ Modalitt die dramatischen Gattungen Hirtengedicht, Komçdie, Tragçdie, dem ‘mixtum’ schließlich das Epos. Die Lyrik spielt hier zunchst keine Rolle. Gemß der ‘nobilitas’ gruppiert Scaliger, immer noch in Kap. 3, anschließend eine Rangordnung Hymnen und Pane, melische Dichtungen (‘mele’), Oden und Skolien, Epen (in denen heroisches und 161 Vgl. insgesamt Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 90/92 (B. 1, Kap. 3). 162 Auch dies wre mçglich gewesen, ebenso wie eine ‘orthodoxer aristotelische’ Behandlung des Redekriteriums. Scaliger kennt nmlich durchaus die Frage nach der ‘persona’des Sprechers bzw. der sprechend Handelnden, worunter Aristoteles selbst das Redekriterium diskutiert. Vgl. dazu Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 188 (B. 1, Kap. 12, zur Satire): „A ratione poematis tres sunt: simplex digcglatijºm et dqalatijºm et lijtºm. Narratio simplex ex persona auctoris, ut prima Iuvenalis. Activa ex personis constituta duplex: aut enim personae sunt sine nomine, ut prima Persii, aut nominatae, ut Catii et Damasippi. Mixtae vero sunt, ut illa pulcherrima ac plenissima munditiarum: ‘Ibam forte via sacra.’“ 163 Vgl. insgesamt Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 92/94 (B. 1, Kap. 3). Vgl. zu Scaligers aristotelisch heterodoxem Vorgehen Guerrero 2000, 94 f.

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2. Lyrik als Makrogattung

anderes Personal vorkomme) und Tragçdie, ferner Komçdie, Satyrspiele, Exodien, spielerische Versgedichte (‘lusus’), Hochzeitsgedichte, Elegien, Monodien, Gesnge (‘cantiones’), Epigramme. Ganz richtig merkt Brinkschulte hierzu an: „Die Stelle ist unklar. Ob Sc. die Lyrik als selbstndige Dichtgattung gelten lsst oder sie zu der Epik rechnet, ist bei ihm nirgends genau zu ermitteln.“164 Und ergnzend sagt Behrens, ebenso zutreffend: „Unverkennbar ist das Vorbild von Diomedes in der Gruppe der ‘einfachen Erzhlung’, welche der lehrhaften Dichtung eingerumt ist. Und hnlich wie Diomedes scheint Scaliger im Mixtum zu verfahren und ihm neben dem Epos auch die lyrischen Gattungen zuzuweisen. Ganz klar wird das aber nicht gesagt, weshalb Brinkschulte […] im Zweifel ist, ob die Lyrik von Scaliger als selbstndige Gattung gezhlt wird oder einen Teil der Epik bildet.“165 Es zeigt sich also eine grundstndige Schwierigkeit in der Rubrizierung der Lyrik durch Scaliger.166 Dies setzt sich in den Poetices libri septem auch spterhin fort. Whrend Scaliger in Buch 7 (Teil 1, Kap. 8) eine Polemik gegen die (auf Athenaios, Deipnosophistae 14, 630c – d zurckgehende) Untergliederung in ‘szenische’ und ‘lyrische Poesie’ fhrt, dabei aber eine Gattung Lyrik nicht scharf hervortreten lsst, versucht er zu Beginn desselben siebten Buchs, die Lyrik im Kontext eines aristotelisierenden Mimesisbegriffs zu behandeln. Und whrend, wie gesehen, bei dem zu Beginn von Buch 1 kurz angedeuteten Versuch einer aristotelisierenden Gattungsdifferenzierung der Status der Lyrik wesentlich unklar geblieben war (und in diesem Zusammenhang das Redekriterium am Ende von Kap. 2 und am Anfang von Kap. 3 unterschiedlich behandelt worden war), hat Scaliger nun, in Buch 7, zwar das Bestreben, diesen Status zu erhellen. Es ergeben sich ihm aber unberwindliche Schwierigkeiten der Anwendung einer Mimesispoetik auf die lyrischen Formen. Diese hngen damit zusammen, dass Scaliger den semantischen Gehalt von Mimesis / ‘imitatio’ auf kleinem Raum zweimal unterschiedlich fasst, womçglich aufgrund einer Irritation durch das von uns schon mehrfach besprochene Kap. 24 aus der Poetik des Aristoteles.167 Scaliger setzt zunchst wie folgt an: 164 165 166 167

Brinkschulte 1914, 2 Anm. 3. Behrens 1940, 90; vgl. auch Buck 1964, XVI m. Anm. 41. Vgl. in diesem Sinne auch Guerrero 2000, 96 f. Die dortige ußerung des Aristoteles („Homer verdient in vielen Dingen Lob, insbesondere auch darin, daß er als einziger Dichter nicht verkennt, wie er zu verfahren hat. Der Dichter soll nmlich mçglichst wenig in eigener Person reden; denn insoweit ist er nicht Nachahmer. Die anderen Dichter setzen sich fortwhrend selbst in Szene und ahmen nur weniges oder nur selten nach. Homer dagegen

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Quarum igitur artium instrumentum oratio est, eae omnes imitatione constituuntur. At imitatio non uno modo, quando ne res quidem. Alia namque est simplex designatio, ut Aeneas pugnat, alia modos addit atque circumstantias, verbi gratia ense, armatus, in equo, iratus. Iam hic est pugnantis etiam facies, non solum actio. Ita adiunctae circumstantiae loci, affectus, occasionis, temporis, orationis, eventus pleniorem adhuc atque torosiorem efficiunt imitationem, qua oritur praeter aequabilitatem atque tenuitatem delineationis umbra, lux, recessus, partium promotio, vigor, efficacia. Haec igitur omnia cum poetae opera effingantur, eius finem totum fecit Aristoteles imitationem […].168

Hier wird die gesamte Sprachkunst als ‘imitatio’ definiert. Durch die beigegebenen Beispiele wird unterstrichen, auch ein sehr knapper und schmuckloser berichtender Modus falle unter dieses Konzept – erst recht gehçren dann rhetorisch reicher ausgestaltete narrative Texte hierher, wie Scaliger deutlich macht. Mimesis ist hier zuallererst ‘Bericht’. Dies wrde implizieren, dass neben den ganz schlicht narrativ gehaltenen selbstverstndlich auch alle anderen mit dem Redekriterium erfassbaren Texte als ‘Dichtung’ im aristotelischen Sinne gelten drften. Im unmittelbar folgenden Passus169 polemisiert Scaliger aber gegen Aristoteles und scheint insbesondere die Gleichbehandlung der unterschiedlichen sprachlich verfassten Literaturformen, die ohne ‘Rhythmus’ und ‘Melodie’ verfahren, durch die aristotelische Kategorie der mimetischen Mittel zu meinen. Er stçßt sich hierbei an der Tatsache, dass diverse literarhistorische Gattungen wie das Epos, der Mimos und der philosophische Dialog durch Verwendung einer abstrakten dialektischen ‘diaphor ’ unter dasselbe Rubrum (gekennzeichnet durch die Merkmale: Sprache+, Rhythmus–, Melodie–) zusammengefasst werden. D.h. es ergibt sich fr ihn eine irritierende Konfrontation zwischen aristotelisierender Abstraktion und der an konkreten Literaturformen orientierten ‘empirischen’ Praxis, ‘klassische’ (im Sinne Trappens:170 un-dialektische) Gattungsbegriffe (wie Epos, Mimos, Dialog usw.) zu verwenden. Ferner lßt nach kurzer Einleitung sofort einen Mann oder eine Frau oder eine andere Person auftreten“; bers. Fuhrmann) wurde hufig als kontrr zur Behandlung des Redekriteriums bei der Diskussion des Modus der Mimesis am Anfang der Poetik (Kap. 3) aufgefasst, so als sei einmal (Kap. 3) der narrative Modus als mimetisch, dann wiederum (Kap. 24) als nicht-mimetisch begriffen (in letzterem Fall kme allenfalls dem ‘genus mixtum’ und jedenfalls dem dramatischen Modus Mimesischarakter – und damit Kunstcharakter und literarische Dignitt – zu). 168 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 5, 492 (B. 7, Teil 1, Kap. 2). 169 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 5, 494 (B. 7, Teil 1, Kap. 2). 170 Vgl. nochmals Trappen 2001 und Trappen 2002.

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2. Lyrik als Makrogattung

stçßt sich Scaliger, der ja immerhin zu Beginn von Buch 3 (Kap. 1) seine gesamten Ausfhrungen zu Metrum und Vers unter das Rubrum der aristotelischen Mittel der Mimesis gestellt hatte (s. o.), hier auch an der bekannten Ausschließung des Verskriteriums als Dichtungsdefiniens, die Aristoteles in Kap. 1 (mit Kap. 9) der Poetik bei der Diskussion der Mittel der Mimesis vornimmt. Diese beiden Irritationen fhren Scaliger zu einer Kritik am Mimesisbegriff insgesamt, die auch auf die Unklarheit der Behandlung des Redekriteriums durch Aristoteles eingeht und schließlich dazu gelangt, nicht nur allgemein die Definition von Dichtung als ‘imitatio’ zu bestreiten, sondern auch die soeben selbst getroffene quation von Mimesis und ‘Bericht’ (‘apangel a’ bei Aristoteles, ‘epangel a’ bei Scaliger) zweifelhaft werden zu lassen: […] non est poetices finis imitatio, sed doctrina iucunda, qua mores animorum deducantur ad rectam rationem, ut ex iis consequatur homo perfectam actionem, quae nominatur beatitudo. Quod si sola imitatio poeseos finis est, si quicumque imitatur is poeta est, etiam Socratica persona in dialogis, etiam orator poeta fiet in prosopopoeiis, etiam Plato poeta erit in suis Legibus, quibus excludit a suis legibus poetam. Etiam in mercatu erit institor poeta, cum heri iussa suis verbis explicabit. Praeterea epicus ubi introducet poeta erit, ubi loquetur ipse non erit. Simul Ilias et poema erit ex personis fictis, ex Homeri persona non erit.171

Hier wird nun also in etwas kruder Gedankenfhrung angenommen, Mimesis sei (gerade anders als zuvor angenommen) das Gegenteil von Bericht i.S. des ‘genus narrativum’, und somit suggeriert: Texte im berichtenden Modus wren nach aristotelischen Begriffen keine ‘imitatio’ und kçnnten folglich nicht unter die allgemeine mimesispoetologische Dichtungsdefinition fallen (was augenscheinlich als absurd ausgewiesen werden soll). Weiterhin nun unterstellt Scaliger unter diesen Vorgaben, lyrische Texte seien ausschließlich durch ‘epangel a’, also nicht durch mimetische Verfahren i.S. dramatischer Verfahren, charakterisiert.172 Daher 171 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 5, 494 (B. 7, Teil 1, Kap. 2). 172 Dies ist ein Widerspruch zur Behandlung der aristotelischen ‘diaphora ’ in B. 1, Kap. 3, wo fr den berichtenden Modus der ‘narratio’ das Lehrgedicht mit dem Beispiel Lukrez eingetreten war (s. o.). Als Grundlage dieses Widerspruchs lsst sich nicht zuletzt die unterschiedliche Fllung des ‘genus narrativum’ bei Platon (Dithyrambos), Aristoteles (Epos in strikt narrativer Ausprgung) und Diomedes („exegeticon est vel enarrativum in quo poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione, ut se habent tres georgici et prima pars quarti, item Lucreti carmina et cetera his similia. […] Exegetici vel enarrativi species sunt tres, angeltice, historice, didascalice“: Diomedes [1857] 1981, 482) anfhren. Vgl. Behrens 1940, 28, 90.

2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’

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erfolgt der Ausschluss der Lyrik aus einer aristotelisch verfassten Definitorik: Ad haec multa sunt genera carminum, multa poematum, quorum nullum iam hoc in censu reponeretur: lyrica, scolia, paeanes, elegiae, epigrammata, satyrae, sylvae, epithalamia, hymni, alia in quibus nulla exstat imitatio, sed sola nudaque 1paccek¸a, id est enarratio aut explicatio eorum affectuum, qui ex ipso proficiscuntur ingenio canentis, non ex persona picta.173

Somit scheint sich Scaliger insgesamt zu erweisen, dass die aristotelische Mimesispoetologie zur Gattungsdefinition nicht taugt, weil Aristoteles unter dem Rubrum der mimetischen Mittel die dichtungskonstitutiven Versifikationsverfahren ausblendet und weil die Mimesispoetologie unter dem Rubrum der mimetischen Modi bezglich des Redekriteriums widersprchlich agiert. Dies steht immerhin im Einklang zu Scaligers in Buch 3, Kap. 1 vorgenommener Beanspruchung der Kategorie mimetischer Modi fr die in Buch 4 erfolgende Diskussion der stilistischen Dimensionen von Dichtung statt fr eine Diskussion des Redekriteriums (s. o.). Die gesamte hier aufgeworfene Frage steht erkennbar im Zeichen von Scaligers Unsicherheit, inwieweit ‘imitatio’ produktionssthetisch gefasst als Dichtungsdefiniens zu gebrauchen sei. Diese Unsicherheit ist nicht zuletzt durch die Vielschichtigkeit von Scaligers Begriffsverstndnis von ‘imitatio’ bedingt. Denn zwar hatte Scaliger gleich zu Beginn der Poetices libri septem unter Rekurs auf die aristotelische Differenzierung von Geschichtsschreibung und Dichtung (Poetik Kap. 9) versucht, Dichtung als ‘imitatio’ zu definieren.174 Aber Scaligers Vorstellung von ‘imitatio’ ist nicht beschrnkt auf eine aristotelische Bedeutung von ‘Darstellung menschlicher Handlungen’175 und auch nicht auf einen weiteren, vulgraristotelischen Begriff von ‘imitatio naturae’. Vielmehr verschrnkt sich bei 173 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 5, 494 (B. 7, Teil 1, Kap. 2). Vgl. Buck 1972, 43 und Guerrero 2000, 99, der diese Passage mit einer kritischen Frage kommentiert: „Il convient de se demander comment Scaliger conciliait cette position radicale  propos de la mimsis avec les louanges au ‘omnium bonarum artium dictator perpetuus’; et, plus encore, comment l’historiographe du classicisme a pu faire des Poetices libri septem le texte fondateur de l’orthodoxie aristot licienne“ (Kursivierung im Original). 174 „Hanc autem poesim appellarunt propterea, quod non solum redderet vocibus res ipsas quae essent, verum etiam quae non essent quasi essent, et, quo modo esse vel possent vel deberent, repraesentaret. Quamobrem tota in imitatione sita fuit“ (Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 61; B. 1, Kap. 1). Vgl. dazu Brinkschulte 1914, 49 f., der insgesamt die hier in Rede stehenden Passagen der Poetices libri septem wegen widersprchlicher Aussagen heftig kritisiert. 175 Vgl. Aristoteles, Poetik Kap. 2 und Kap. 9.

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2. Lyrik als Makrogattung

Scaliger die allgemeine Vorstellung von einer ‘Nachahmung der Natur’ in komplexer Weise mit der rhetorisch perspektivierten ‘imitatio auctorum’ der traditionellen Nachahmungspoetik. „Diese Homogenisierung der Mimesis-Komponenten beruht auf einem Kurzschluss von Natur- und Vorbildbegriff: Denn fr den Dichter muss es gleichgltig sein, ob sich seine imitatio auf die Dinge selbst oder auf deren dichterische Reprsentation richtet. Beide Nachahmungsvarianten sind komplementr, gehçren jedoch verschiedenen Kulturstufen an. […] Naturnachahmung und freie inventio sind kulturgeschichtlich lter, zivilisatorisch berlegen ist ihnen jedoch die imitatio veterum.“176 Doch auch die ‘imitatio auctorum’ ist letztlich fr Scaliger eine ‘Naturnachahmung’, insbesondere im Fall einer Nachahmung des stets exzellenten Vergil, den Scaliger als Verkçrperung einer vervollkommneten ‘zweiten Natur’ profiliert.177 Der direkte Bezug der ‘imitatio’-Kategorie auf Vergils Texte steht im Einklang mit einer Orientierung auf die empirische Literarhistorie, die bei Scaliger den Aufbau abstrakter Klassifikationsmodelle bestndig durchkreuzt. So gewinnt, wie bereits gesehen, in Buch 1 (das nach Ausweis von Buch 3, Kap. 1, ja das „quare imitemur“, also den Zweck der Dichtung darstellen sollte, sich aber alsbald zu einem literarhistorischen Katalog streckt) nach der erfolglosen Diskussion des Redekriteriums (Kap. 2 f.) und der ersatzweisen Etablierung des Differenzkriteriums ‘tempus’ (im Sinne des Ursprungsalters einzelner Gattungen) die historisch reihende Darstellungsweise die Oberhand, die in ihrem Streben nach umfassender Vollstndigkeit neuartigerweise „nunmehr auch poetische Kleinformen registriert […], die im Horizont traditioneller Gattungspoetik bislang unbercksichtigt geblieben waren“.178 In Kap. 44 dieser langen Reihe kommt Scaliger dabei auf die ‘Lyrica’ zu sprechen, die er von den Hymnen (Kap. 45), Dithyramben (Kap. 46), den Tanzgedichten (Kap. 47) ebenso unterscheidet wie von den Trauer- und Festgedichten, unter die er Threnoi, Hymenaioi und Elegien rechnet (Kap. 50). Die kollektionsartige Darstellungsweise wird besonders evident, wenn die Darstellung gegen Ende, in Kap. 56, unter dem Titel „Manipulus poematum“ („Eine Handvoll anderer Gedichte“) einen verbliebenen 176 Robert 2007, 258 f. Vgl. weiterhin zur Polyvalenz von ‘imitatio’ bei Scaliger: Dolce 1973, 456 f.; Sellin 1979, 912 f.; Baldassarri 1986, 93. 177 Siehe u. a. Scaliger 1994 – 2003, Bd. 5, 44 (B. 6, Kap. 1), Bd. 2, 310 (B. 3, Kap. 24) und bes. Bd. 2, 102 (B. 3, Kap. 4): „Haec omnia quae imiteris habes apud alteram naturam, id est Vergilium“. Vgl. Reineke 1988, 28; Robert 2009, 187 und ergnzend Robert 2007, 257 – 263. 178 Robert 2009, 189.

2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’

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Restbestand aufsammelt, zu dem u. a. die Epigramme und die Elogia gerechnet werden. Die ‘Lyrica’ insgesamt sind zunchst an das Vorhergehende (Rhapsodie, Epos, Parodie, Centoni) durch eine Rangfolge in der Dignitt angeschlossen: „Proxima heroicae maiestati lyrica nobilitas.“179 Somit hat Scaliger das innerhalb der historischen Reihung eigentlich grundlegende Differenzkriterium ‘tempus’ zugunsten des zuvor (B. 1, Kap. 3) alternativ diskutierten Differenzkriteriums ‘nobilitas’ vernachlssigt.180 Was sich im Kap. 44 nun unter ‘Lyrica’ gruppiert, ist nicht immer trennscharf von den anderen Gedichtarten unterschieden, die in anderen Kapiteln besprochen werden. So behandelt einerseits Kap. 45 die Hymnen separat von den ‘Lyrica’, sagt aber in verwaschener Weise sogleich auch: „Hymni paeanibus simillimi, tametsi alio carminis genere confici consueverint […]“.181 Damit scheint eine metrisch-formale ‘differentia specifica’ der Hymnen diskutiert, whrend bezglich der modal-performativen ‘diaphor ’ die Hymnen im Kapitel ber die ‘Lyrica’ mitbehandelt werden kçnnen, und zwar hinsichtlich ihrer pragmatischen Funktion parallelisiert mit Panen und Epinikien.182 Es kommen also divergente, in bestndigem Wechsel einander ablçsende und miteinander kombinierte ‘diaphora ’ zum Tragen. Die ‘Lyrica’ insgesamt sind grundstzlich ber die modal-performative Differenz zu einer Gruppe zusammengefasst: Schon ihre Bezeichnungen „ode et l´kor et lokp¶“183 deuten darauf hin, dass es sich um Gesangstexte handelt, die zur Begleitung durch die Lyra vorgetragen wurden: „Neque enim ea sine cantu atque lyra pronuntiabant, unde et lyricorum appella-

179 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 378 (B. 1, Kap. 44). 180 Dies ist vermutlich Ausweis eines Unbehagens ber die Schwierigkeit einer genauen historisch-linearen Einordnung der sehr vielfltigen Einzelformen der ‘genera minora’, die ab Kap. 44 darzustellen sind. 181 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 396 (B. 1, Kap. 46). Je nach den innerhalb einzelner Kapitel mikrostrukturell angesetzten Differenzkriteria erscheinen, wie das obige Beispiel der Hymnen deutlich macht, Einzelformen, die in Kap. 44 („Lyrica“) erfasst sind, auch in anderen Gruppierungen wieder. So sind manche der fr Scaliger eindeutig ‘lyrischen’ Horaz-Oden auch unter das Rubrum der Palinodie (separat behandelt in Kap. 54) zu zhlen, die wiederum auf das Lobgedicht zurckgefhrt erscheint, zu dem aber auch die in Kap. 44 gleichfalls unter ‘Lyrik’ diskutierten Hymnen, Pane und Skolien gehçren (Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 422/424; B. 1, Kap. 54). 182 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 386 (B. 1, Kap. 44). 183 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 378 (B. 1, Kap. 44).

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2. Lyrik als Makrogattung

tio.“184 (Beleg hierfr sind insbesondere die Oden des Horaz, schon angesichts ihres Titels, wie Scaliger betont.)185 Aber Scaliger belsst es nicht bei der Profilierung der Lyrik durch den Performanzaspekt: A premi re vue, il semble la [die ‘Lyrik’] concevoir dans ce passage moins comme une cat gorie englobante que comme un synonyme d’ode et melos. Mais, en r alit , ‘po sie lyrique’ est aussi pour lui une sorte de m gatype ou archigenre qui comprend de nombreuses sous-classes.186

Diese Unterklassen werden von Scaliger, wie angedeutet, durch die Massierung unterschiedlicher Differenzkriterien herausgearbeitet. So unterscheidet er einzelne Gruppen von ‘Lyrica’ nach strukturellen Kriterien (Anzahl und Struktur von Strophen),187 ergnzend nach rhythmisch-tnzerischen Aspekten,188 immer wieder auch nach der pragmatisch-funktionalen Einbindung in soziale Zusammenhnge und Anlsse,189 und vor allem (wie zu erwarten) nach thematischen Aspekten:

184 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 378/380 (B. 1, Kap. 44). Vgl. zu dem modal-performativen Aspekt die ausfhrlichen Darlegungen zu „Lyricorum harmoniae et instrumenta“ in Kap. 48. 185 Die Bezeichnung ‘m los’ problematisiert Scaliger brigens umgehend wieder und macht sich darber Gedanken, dass einerseits Melos als Gattungsbezeichnung fr ‘Lyrik’ zu dienen schien, andererseits aber „allen Liedern“ Melodien zugeschrieben worden seien: „Quamquam autem l´kor lyricorum tantum fuit, melodia tamen est omnibus cantionum sonis attributa. Sic Chamaeleon in libro quem de Stesichoro scripsit lekydgh/mai non solum ait lyrica, verum etiam et Archilochi et Hesiodi et Mimnermi et Phocylidae et Homeri. Quare harmoniam etiam invenias melodiam appellatam“ (Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 380; B. 1, Kap. 44). Die letztere Substitution von ‘Melodie’ durch ‘Harmonie’ (die brigens konform ginge mit der Nomenklatur der mimetischen Mittel in Aristoteles, Poetik Kap. 1) soll erkennbar den Begriff ‘Melodie’ tendenziell wieder fr die ‘Lyrica’ freimachen, obwohl das Scaligers Ausfhrungen soeben unmçglich gemacht haben. 186 Guerrero 2000, 97 (Kursivierung im Original). 187 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 382/384 (B. 1, Kap. 44). 188 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 382 (B. 1, Kap. 44). 189 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 382 (B. 1, Kap. 44): Unterscheidung von Prozessionsgedichten („epipompeutica“) und Siegesliedern („epinicia“); Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 386 (B. 1, Kap. 44): „Epinicia erant, quae in certaminibus victori canebantur; paeanes, quibus gratulabantur diis immortalibus pro victoria in proeliis, non in certaminibus; hymni, qui ad aras diis dicebantur.“ Die Elegien und Trauergedichte werden in Kap. 50 nach diesem pragmatisch-funktionalen Aspekt gruppiert, wobei die modal-performative und die metrische Dimension weitgehend ausgeblendet bleiben.

2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’

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Lyricorum genera multa; melos sive ode, quibus curas amatorias decantant. […] Alia genera in laudibus heroum, locorum laudationibus, rerum gestarum narrationibus; hilaritates, convivia.190

Mithin gibt es unter thematischer Differenz vor allem zwei Arten von ‘Lyrik’: epideiktische Lyrik mit laudativer Thematik und Liebeslyrik.191 Dabei sieht Scaliger ungeachtet der immer wieder betonten epideiktischen Dimension der ‘Lyrica’192 berraschend am Ende des ‘Lyrik’-Kapitels doch einen deutlichen quantitativen berhang von amourçser Lyrik, die hier mit der sympotischen Lyrik enggefhrt erscheint: „Lyricorum tamen usus plurimus in amoribus et lusibus et potationibus, in quibus exercuit sese imprimis Sappho.“193 Da Scaliger die Lyrik im ‘volgare’ literarhistorisch nicht diskutiert, erfolgen neben der Nennung von Sappho nur Verweise auf Anakreon, Alkman und Pindar, aber ein bermaß an Liebeslyrik ist im Cinquecento doch nur vor dem Hintergrund des ber die Maßen erfolgreichen Petrarkismus zu konstatieren. Scaliger versucht mithin, in Buch 1 der großen Menge dichterischer Kleinformen durch Einschreibung einzelner Gruppen unter die klassifizierenden Rubra ganz unterschiedlicher ‘diaphora ’ Herr zu werden. Dabei scheinen sich die konkreten Texte bereits vor Scaligers Zugriff in historische Gattungsbegriffe fassen zu lassen: ‘Hymnen’, ‘Pane’, ‘Epinikien’ usw. werden von Scaliger nicht erst grundstndig definiert, sondern sind bereits als Gruppen vorhanden, bevor Scaligers Darstellung greift. Oberhalb dieser Ebene literarhistorisch konkreter Formationen siedeln sich Scaligers abstraktere Differenzkriterien wie Funktion / Pragmatik, Metrik / Struktur, Thema an, ohne zu klar abgrenzbaren Gruppierungen fhren zu kçnnen. Auch hier lsst sich ein schwieriges Verhltnis zwischen abstrakt-diaphorischen Gattungsgruppierungen einerseits und andererseits der Ebene jener gewissermaßen apriorisch prsupponierten literarhistorischen Gruppenbildungen erkennen. Im Gesamtrahmen der Darstellung von Buch 1 ist berdies, wie gezeigt, zunchst ein historisches Anordnungsprinzip vorherrschend, das am Beginn der Darlegung zur Lyrik durch das Kriterium der Dignitt abgelçst wird – die einzelnen Kleinformen waren nicht mehr in eine große historische Linie einzuordnen, so dass hier der darzustellende 190 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 380 (B. 1, Kap. 44). 191 Die zugleich genannte sympotische Lyrik ist (wie auch Scaligers weitere Ausfhrungen erkennen lassen) zunchst weniger thematisch als vielmehr durch ihren sozialen Verwendungskontext bestimmt. 192 Vgl. auch Guerrero 2000, 99. 193 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 394 (B. 1, Kap. 44).

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2. Lyrik als Makrogattung

Stoff plçtzlich die Wahl der ‘diaphor ’ (‘nobilitas’ statt wie zuvor ‘tempus’) bestimmt, weil die ‘diaphora ’ ihrerseits die Selektion und Gruppierung des literarhistorischen Beispielmaterials nicht mehr steuern kçnnen. In Buch 3 sucht Scaliger eine Reihe prskriptiver Feststellungen unter Decorumsaspekten zu treffen, die fr die Dichtung insgesamt gelten. Dabei wird insbesondere auch von den Stoffen gehandelt, die fr einzelne Gattungen tauglich seien. Zur ‘Lyrica’, die nicht mehr exakt deckungsgleich mit der Definition von Buch 1, Kap. 44 ist,194 heißt es: Lyricorum materiam plane demonstravit Horatius. Mihi ita videtur: quaecumque in breve poema cadere possunt, ea lyricis numeris colligere ius esse: laudes, amores, iurgia, insectationes, comessatoria, obiurgatoria, vota, ad indulgendum genio exhortationes; contra sobrietatis commendationes; gestorum summarias explicationes, desideria, conquestiones, locorum, temporum explicationes, nova consilia, deliberationes, negotiorum susceptiones, susceptorum repudiationes, invitationes, repulsiones, dehortationes, detestationes et alia si qua sunt.195

Hier zeigt sich, dass das thematische Kriterium nicht geeignet ist, die konkrete Vielfalt dichterischer ‘genera minora’ in eine nachvollziehbare Gattungsgruppierung zu berfhren. Dies umso mehr, als eine flankierende Eingrenzung durch das modal-performative Kriterium aus dem ersten Buch nun nicht mehr erscheint: Im Gegenteil spricht Scaliger in diesem Lyrik-Kapitel im Anschluss an die soeben zitierte breite thematische Palette von Gedichten, die man vor Menschenversammlungen, von Gedichten, die man auf Gastmhlern, von Gedichten, die man auf dem Forum oder whrend eines Spaziergangs ‘singt oder vortrgt’ („vel canuntur vel recitantur“), desgleichen noch von Gedichten, die man in der Volksversammlung zum Vortrag bringt.196 ‘Gedichte’ aller Art also, die augenscheinlich kaum alle zur Lyra gesungen werden kçnnen. Wenn die ‘Lyrica’ aber durch die Modalitt des Vortrags nicht mehr eingegrenzt sind und thematisch in eine nahezu unbegrenzte Pluralitt von Mçglichkeiten zerfallen („et alia si qua sunt“ schließt ja die obige Aufzhlung), dann ist der Versuch gescheitert, abstrakte Gattungsdefinition und dichtungspraktische Vielfalt in ein theoretisch transparentes Verhltnis zu bringen.

194 So werden bspw. die in B. 1, Kap. 44 zur „Lyrica“ gezhlten „sylvae“ in B. 3, Kap. 99 ganz getrennt vom ‘Lyrik’-Abschnitt B. 3, Kap. 123 verhandelt. 195 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 198 (B. 3, Kap. 123). 196 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 200 (B. 3, Kap. 123).

2.3 Aristotelisierende Dialektik und literarhistorischer ‘Empirismus’

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Scaligers Stillehre197 leistet im brigen kaum einen Beitrag zur Lçsung des gattungstheoretischen Dilemmas, da sie angesichts eines hufig rhetorikpoetologischen Zugriffs auf ‘Dichtung’198 generell ohne direkten Zusammenhang mit Scaligers Versuchen bleibt, Gattungen zu definieren.199 Scaliger hat versucht, die traditionelle 3-Stile-Lehre mit den sieben Stilformen des Hermogenes zu vermitteln,200 wobei er zu einem substanziellen Fortschritt201 durch die Etablierung eines abgestuften Systems von drei ‘formae dicendi’ kommt (‘altiloqua’, ‘aequabilis’, ‘infima’), denen jeweils eine Anzahl von ‘affectus proprii’ beigesellt wird, whrend eine weitere Anzahl von ‘affectus communes’ allen drei ‘formae dicendi’ gleichermaßen zukommt. Das (in sich freilich nicht gnzlich kohrente) System erscheint dadurch flexibel, dass sowohl die ‘affectus proprii’ als auch die ‘affectus communes’ in ‘affectus perpetui’ und ‘affectus non perpetui’ auseinandertreten.202 Scaliger unternimmt aber nicht den Versuch, die drei ‘formae dicendi’ mit einzelnen Gattungen oder grçßeren gattungsmßig definierbaren Lagen fix zu relationieren.203 Dem widersprche auch, dass 197 Vgl. zu einem allgemeinen berblick Reineke 1988, 34 – 98; Grosser 1992, 82 – 88. 198 Vgl. Buck 1964, XVI; Dolce 1973, 469 f.; Plett 1983, 363, 373 (der auf die ontologische, substanzialistische Begrndung stilistischer Verfahren durch Scaliger hinweist). 199 Richtig gesehen etwa von Grosser 1992, 83 sowie von Trappen 2001, 58: „Die weitere Disponierung seines Stoffes hat Scaliger in der Weise vorgenommen, daß die Diaphora ‘res’ und ‘versus’ im zweiten respektive dritten Buch erschçpfend dargestellt werden. Dies geschieht in der Form einer rhetorischen Inventio-Lehre (‘res’) und einer Metrik. Den Zusammenhang mit literarischen Genera entwickelt Scaliger dort allerdings nicht mehr explizit und konsequent“. 200 Vgl. Till 2006, 106 – 110; siehe zur Nomenklatur, mit der Scaliger die Begriffe des Hermogenes ins Lateinische bertrgt, das Tableau bei Grosser 1992, 41. 201 Vgl. Grosser 1992, 88. 202 Vgl. die tableauartigen bersichten bei Reineke 1988, 36 und Grosser 1992, 85. 203 Vgl. dazu etwa Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 322 (B. 4, Kap. 2): Hier gibt Scaliger einen berblick ber sein oben referiertes Stilsystem (drei ‘formae dicendi’ und jeweils dazugehçrige ‘affectus proprii’, diese ebenso wie die ‘affectus communes’ aufgeteilt in ‘affectus perpetui’ und ‘affectus non perpetui’) und spricht im Anschluss daran ber die spezifische Physiognomie des ‘erhabenen Stils’ („grandiloquus“). Dabei werden im Sinn des Stndedecorums wrdevolle Personen (Gçtter, Heroen, Kçnige, Heerfhrer) angegeben, die zu diesem Stil passen. Dennoch unterbleibt jede Referenz auf hochlagige Gattungen. – Zu Scaligers Abstufung und Flexibilisierung der drei ‘formae dicendi’ vgl. bes. B. 4, Kap. 23 („Gradus in characteribus“). Die traditionelle Rckkoppelung der drei ‘formae dicendi’ an entsprechende Gegenstandsbereiche kollabiert manchmal geradezu, etwa in folgendem Passus: „Tenues enim res grandiore oratione describet al-

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2. Lyrik als Makrogattung

Scaliger sich weniger auf die Herausprparierung von ‘Stilarten’ im klassifikatorischen Sinne als vielmehr von ‘Stilqualitten’ konzentriert.204 Trotz Scaligers ausgefeilten stilistischen Analyseapparates scheinen hier die Reflexion ber Stilfragen und die Reflexion ber Gattungsprobleme kaum Berhrungspunkte zu haben. Insofern zeigt sich Scaliger als ein Antipode der stil- und gattungstheoretischen berlegungen Torquato Tassos.

tiloquus, ut in mediocri fecit poeta, cum apum gentem dixit et: ‘Sub moenibus urbis aquantur.’ Et: ‘[…] parvosque Quirites.’“ (Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 560/ 562; B. 4, Kap. 45). 204 Vgl. Reineke 1988, 41.

2.4 Das Scheitern des Systematikers? Minturnos Lyriktheorie

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2.4 Das Scheitern des Systematikers? Antonio Sebastiano Minturnos Lyriktheorie zwischen Aristotelismus, rhetorischer Perspektivierung und literarischer Praxis Minturno hat zwei bedeutende Poetiken (De poeta und L’arte poetica) verçffentlicht, die in ihrem poetologischen Zuschnitt zahlreiche bereinstimmungen aufweisen. De poeta von 1559, ein lateinischer Dialogtext in sechs Bchern, beschftigt sich vor allem mit der Theorie der antiken Dichtung. Die Verbindung zur zeitgençssischen italienischen Literatur ist dabei allerdings von Minturno stets implizit und auch explizit mitgedacht. Der Versuch Minturnos, eine systematische Poetik zu entwerfen, zielt auf den Entwurf einer einzigen solchen Poetik, fr die eine trennende Unterscheidung in Literatur des ‘volgare’ und Literatur der Latinitt ebenso wenig Sinn htte wie etwa eine Trennung von lateinischer und griechischer Dichtung.205 Der Sprach- und Zeitgrenzen berwçlbende Zugriff Minturnos zeigt sich nach De poeta besonders in seiner Arte poetica von 1564, die in ihrem Untertitel u. a. la dottrina de’ sonetti, canzoni, & ogni sorte di Rime Thoscane, dove s’insegna il modo, che tenne il Petrarca nelle sue opere ankndigt, in der Betitelung ihrer vier Bcher und durchgngig in der Kopfzeile als Werk Della poetica Thoscana bezeichnet wird und so die Behandlung der volkssprachlichen Dichtungsgattungen in plakativer Weise zentral stellt. Eine ltere Forschungskontroverse um den Aristotelismus Minturnos, der z. T. zugunsten einer platonismusorientierten Interpretation bestritten wurde (so Toffanin, dagegen u. a. Croce, Saitta, Sonora206), darf heute als berholt gelten. Minturno ist in der Struktur an Cicero orientiert, in der Gattungstheorie dagegen ganz dominant Aristoteliker: Er bernimmt die strukturelle Anlage von De poeta ebenso wie Teile der situativen Gestaltung und auch eine Reihe argumentativer Muster aus Ciceros De oratore,207 whrend ein deutlicher Schwerpunkt in der dichtungstheoretischen Dimension beider Großtexte Minturnos auf einer 205 Vgl. Weinberg 1942, 127 f.; Guerrero 2000, 100 f. m. Anm. 33. Zur von Minturno schon frh postulierten Kontinuitt zwischen den antiken Literaturen und der volkssprachlichen Literatur vgl. D’Alessandro 2005, 616 – 621, s. in diesem Kontext ferner Tallini / Minturno 2008, 22 (Minturno als poetologischer ProtoRomanist). Minturno betreibt in De poeta bisweilen explizit die Analogisierung der Literaturen, vgl. bspw. seine Koppelung der ‘numeri Hetrusci’ eines Petrarca mit der Diskussion von Pindars Lyrik (Minturno [1559] 1970, 399 f.). 206 Vgl. die Skizzen dieser lteren Forschungsdebatte bei Werner 1977, 34 – 36; Pugliese 1991, 87 f.; Tallini / Minturno 2008, 32. 207 Vgl. Colombo 2002 und Burkard 2007.

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aristotelisierenden Poetologie liegt208 – was sich sagen lsst, ohne damit zu verhehlen, was wir bereits in der Einleitung angedeutet haben: Dass nmlich neben dem aristotelisierenden Grundansatz auch Bezge auf die Tradition der horazischen Poetologie manifest sind, die ja bereits im Titel der Arte poetica deutlich als Bezugsgrçße markiert ist. Der dichtungstheoretische Aristotelismus Minturnos tritt in der volkssprachlichen Poetik noch etwas weiter in den Vordergrund als in De poeta. 209 Anders als in der Forschung gemeinhin angenommen, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass die Arte poetica nicht lediglich eine Weiterentwicklung von Konzepten aus De poeta ist, sondern daneben in erheblichem Umfang Theoreme aus einem frheren, heute verlorenen Dialog Minturnos mit dem Titel Accademia aufgreift.210 Im Rahmen seines sogleich detailliert zu betrachtenden aristotelisierenden Ansatzes, den wir aufgrund der volkssprachlichen Ausrichtung v. a. am Beispiel der Arte poetica untersuchen, hat Minturno an mehreren Stellen seiner Poetiken eine Dreizahl von Makrogattungen211 zu etablieren 208 Vgl. die etwas apodiktische Position von Burkard 2007, 57 f.: „Minturno folgt in beiden Traktaten in allen wesentlichen Punkten der aristotelischen Poetik. Jeglicher Zweifel an Minturnos Aristotelismus in De poeta lsst sich nur mit ungengender Textkenntnis oder Verkennung der advocatus diaboli-Technik [sc. im inszenierten Figurendialog] erklren.“ Burkards Betonung von Minturnos poetologischem Aristotelismus ist aber im Recht gegenber Colombos relativistischem Fazit „vanno ben distinti il livello strutturale, dove Minturno ciceroniano, ed il livello teorico, dove Minturno eclettico“ (Colombo 2002, 200). 209 Dies erkennt bereits Behrens 1940, 86. 210 Vgl. detailliert D’Alessandro 2005. 211 Der missverstndliche Begriff ‘Hauptgattungen’ wird in der obigen Darstellung vermieden. Obwohl man Minturno diesbezglich bisweilen falsch verstanden hat, hat seine Gattungstrias mit der bekannten Trias des spteren 18. Jh.s nichts zu tun, und Minturno diskutiert nicht das sptere Verstndnis von Gattungen als ‘Grundformen’. Zu unreflektiert daher z. B. Ferroni / Quondam 1973, 50: „il Minturno concede ampio spazio non soltanto all’epica, ma anche alla lirica, introducendo quella tripartizione tra i grandi ‘generi’ che ha continuato a persistere fino in epoca moderna, ad esempio nell’Estetica hegeliana“. – brigens ist Behrens 1940, 76 (vgl. ebd. 85) nicht zu folgen, wenn sie die Poetica von Bernardino Daniello (1536) zur Vorluferin von Minturnos Dreiteilung erheben will. Daniello unterscheidet an der fraglichen Stelle, einer Parenthese in seiner Hauptargumentation, nicht (wie Behrens will) in Drama, Epos und Lyrik, sondern behandelt neben Epos und „i lirici“ die Komçdie und die Tragçdie distinkt: „perci che ad alcuni s come a’ comici sogliono essere materia le pi famigliari e domestiche operazioni, per non dir basse e vili, a’ tragici, le morti degli alti re e le ruine de’ grandi imperi; agli eroici, i pi eccelsi fatti degli imperatori e di altri uomini nell’armi magnanimi e valorosi, s come quelli d’Achille e d’Ulisse furono ad

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versucht. Ein erstes Mal begegnet die Trias in De poeta, und zwar bereits hier unter Rekurs auf aristotelische Kategorien: Tria profecto sunt, ex quibus omnem omnino sumi poematum varietatem opportet. Id enim omne, quo illa inter se differunt, aut in rebus quae describuntur; aut in his positum est, quibus rerum fit expositio, quod genus quidem versus tum nudos esse, tum vestitos, ornatosque cantu constituunt; aut in ipsa versatur exponendi ratione; de qua meminisse potes multa evidenter sane, & aperte disputata iam eße, cum vel simpliciter narremus, vel cum imitatione, vel tum hoc modo, tum illo. Itaque omnis quidem poesis, ut in principio dictum est, in treis summatim dividitur parteis. Quarum unam Epici vendicant; eaque poemata omnia continentur, quibus neque cantu neque saltatione opus sit. Aliam Scenici; Qua & Tragoediam, & Comoediam, & Satyram complectimur, caeteraque eiusmodi, quae spectanda in Theatrum proferuntur. Tertiam Melici; quae sine vocum sonorumque concentu constare non potest.212

Minturno diskutiert hier in Orientierung an Aristoteles eine Differenzierung der Dichtungsgattungen nach dem Gegenstand („in rebus quae describuntur“), den Mitteln („aut in his […], quibus rerum fit expositio“) und dem Modus („in ipsa […] exponendi ratione“) dichterischer Darstellung, wobei letztere als ‘expositio’ gefasst ist, Minturno den MimesisBegriff an dieser Stelle also noch vermeidet. Unterschieden werden die drei Makrogattungen durch ein etwas brchiges aristotelisierendes Strategem, das dem Sinn von Aristoteles’ Ausfhrungen kaum entsprechen kann.213 Omero, a Virgilio d’Enea; ai lirici, le lode degli iddii e quelle degli uomini parimente, l’amorose giovenili cure, i giuochi, i conviti e le feste; altri hanno i pianti, i lamenti e le miserie, altri i campi, le selve, gli armenti, le gregge e le capanne“ (Daniello [1536] 1970, 249). 212 Minturno [1559] 1970, 417. Vgl. dort bereits die programmatische Ankndigung der Trias im Vorwort: „Omnis enim poesis cum in tres dividatur partes, quarum una Scenica, altera Lyrica vocatur; Tertia, quae Epica dicitur, omnium maxima est, plurimaque genera complectitur“ (n. pag.). Ergnzend zur obigen Argumentation ist zu sagen, dass es Minturno in De poeta nicht gelingt, die Dreizahl konsequent durchzuhalten. So zerfallen ihm die dramatischen Gattungen immer wieder distinkt in Tragçdie und Komçdie, whrend der ‘melica’ oder ‘lyrica’ die ‘dithyrambica’ gleichberechtigt zur Seite gestellt wird: vgl. bspw. Minturno [1559] 1970, 23 f., 27, 104. Letzteres ist im Kontext von Minturnos Versuchen zu sehen, ‘Lyrik’ bzw. ‘Melik’ mit wechselnder Schwerpunktsetzung als Oberbegriffe fr lyrische Untergattungen zu definieren, vgl. Minturno [1559] 1970, 379 f., 392, und Minturno [1564] 1971, 169. 213 Vgl. Guerrero 2000, 86 f. (m. Anm. 24), der – wohl berflssigerweise – eine Kontamination des Rekurses auf Aristoteles mit der Unterscheidung in ‘lyrische’ und ‘szenische’ Dichtung aus Athenaios 14.631c annimmt (gemeint dort aber wohl: 630c – d).

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Minturno erweitert nmlich die aristotelischen Mittel der Mimesis (Kap.1 der Poetik: Rhythmus, Sprache, Melodie) durch das von Aristoteles selbst erst im 6. Kapitel der Poetik bezglich der dramatischen Gattungen unter den sog. qualitativen Teilen der Tragçdie eingefhrte Moment der Inszenierung (oben: „quae spectanda in Theatrum proferuntur“). Dieses Moment ist fr Aristoteles aber kein Differenzkriterium auf der oberen Ebene einer ersten Unterscheidung von ‘Makrogattungen’. Minturno whlt zur ersten Etablierung einer Gattungstrias folglich Unterscheidungsmerkmale, die sich bei Aristoteles auf differenten argumentationslogischen Ebenen situieren – dies ist nicht zuletzt Ausweis eines Lçsungsversuchs der systemischen Schwierigkeit, ‘Lyrik’ zu definieren und von den anderen Gattungen aristotelisch abzusetzen: Denn die Festlegung des Moments der Inszenierung als ‘differentia specifica’ der Dramatik ließ erst den ‘vocum sonorumque concentus’ gnzlich fr die Definition der ‘Lyrik’ frei werden. Der manifeste logische Bruch mit Aristoteles, den diese Stelle vollzieht, war nicht aufrechtzuerhalten. Daher schaltet Minturno in der Arte poetica gewissermaßen um.214 Nunmehr soll nicht mehr die Kategorie der dichterischen Mittel, sondern diejenige des Darstellungsmodus und somit das Redekriterium zur Begrndung einer Dreizahl von Makrogattungen dienen: Percioche tre sono i modi della poetica imitatione: l’uno de’ quali si f semplicemente narrando: l’altro propriamente imitando: il terzo dell’uno e l’altro composto. Perche narrar veramente si dice il poeta, quando ritiene la sua persona, n in altrui si trasfigura: il che f le pi volte il Melico, sicome il Petrarcha nelle canzoni, e ne’ sonetti. Ma propriamente si dice imitare, chi deponendo la sua persona, si veste dell’altrui, si come fa il Comico, & il Tragico poeta: il qual mai non parla, ma introduce altrui per tutto il Poema a parlare. Questo modo tenn’io nelle Egloghe, e nel Sonetto, che comincia, Io che fuggendo  le Thessaliche onde: ove fingo, che parli il lauro. Il terzo modo si vede nell’Epico il qual’hor parlando ritiene la sua persona, il che f sempre nel principio dell’opera, si come il Petrarca, Nel tempo che rinuova i miei sospiri: e Dante, Nel mezzo del camin di nostra vita. Hor depone la sua persona, e f parlare altrui. Qual’ , quando il Petrarca induce  parlar seco M. Laura, e cominciare, Riconosci colei: che prima torse I passi tuoi dal publico viaggio.215

Einen ersten Hinweis auf die Schwierigkeit einer kohrenten Ausdifferenzierung der Gattungen mittels des Rekurses auf das Redekriterium 214 Die Begrndungen der Trias sind mithin in De poeta und in der Arte poetica nicht ‘analog’, wie Hempfer 2008, 47 Anm. 46 annimmt. 215 Minturno [1564] 1971, 6.

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liefert bereits die Tatsache, dass Minturno zunchst erwartbarerweise dem ‘dramatischen’ Modus den komischen und den tragischen Dichter beigesellt, dann aber seine eigenen ‘Egloghe’ und ein Sonett als weitere Beispiele fr diesen Modus nennt. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass Minturno die aristotelische Differenzierung des Modus (einerseits dramatischer Modus, andererseits epischer Modus in zwei Varianten: rein narrativ bzw. als Mischung narrativer Partien mit Figurenrede) zugunsten der klareren platonischen Dreiteilung verlsst216 und das narrativ-berichtende Redekriterium im Fall der Lyrik umdeuten muss, sofern bei ihm „‘Erzhlen’ […] nicht wirklich Erzhlen meint, sondern ‘in eigener Person Sprechen’ […], weswegen denn auch die Lyrik im Allgemeinen und der Petrarca des Canzoniere im Besonderen als Autor von Kanzonen und Sonetten beispielhaft genannt werden.“217 Minturno stellt diese erneut prekre Etablierung einer Gattungstrias keineswegs an den Anfang seiner Darlegung, sondern gliedert sie in eine allgemeine Behandlung der aus Aristoteles abgeleiteten Dreigliederung von Gegenstand, Mitteln und Modus der Mimesis ein, die in unterschiedlicher Akzentsetzung jeweils auch Probleme bzw. Charakteristika einzelner Gattungen bespricht: So leitet die ‘Epica’die Diskussion der dichterischen Mittel ein,218 whrend bei der Differenzierung nach dem Gegenstand sofort die ‘Melica’ vorgezogen wird.219 Erkennbar stehen die historischen Gattungsformen, ihr jeweiliges Prestige und ihr Rezeptionserfolg fr Minturno bereits an dieser frhen Passage quer zu seinem Bemhen, eine theoretische Systematik der Gattungsbegriffe zu entwickeln.220

216 Vgl. dazu Kap. 2.2. Die ‘klassische’ Stelle bei Platon ist Politeia 3.394b – c. Minturno [1564] 1971, 6 verweist im folgenden Text ausdrcklich auf Platons Fassung des narrativen und des dramatischen Modus. 217 Hempfer 2008, 47. Dieses Verstndnis des ‘narrativen’ Modus ist bei Minturno sicherlich mit beeinflusst von Diomedes’ Definition des ‘genus enarrativum’: „exegeticon est vel enarrativum in quo poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione“ (Diomedes [1857] 1981, 482). 218 Minturno [1564] 1971, 3. 219 Minturno [1564] 1971, 5. 220 Dieses Problem, das am Fall von Scaligers Poetik von Trappen 2001, 37 – 77 ausfhrlich diskutiert worden ist (dort spricht Trappen von einem Widerspiel dialektischer und ‘klassischer’ Gattungsbegriffe), hat mithin fr die cinquecentesken Versuche, eine systematische Gattungspoetik zu entwickeln, allgemeine Valenz. Vgl. zu Scaliger im Einzelnen Kap. 2.3. Siehe bzgl. Minturnos und seiner ‘vertikalen’ Relationierung abstrakter Gattungsbegriffe und der Gattungsphysiognomie konkreter literarischer Texte ferner Guerrero 2000, 119.

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Vor diesem Hintergrund ist auch die Manier zu beurteilen, in der Minturno in seiner Darstellung passim Beispiele aus literarhistorischen Ausformungen einzelner Gattungen (insbesondere lyrische Texte) heranzieht, um seine durch dialektisch-aristotelische221 Begriffsdifferenzierung erzielten Gattungskategorien zu illustrieren. Dabei ergeben sich sehr auffllige Verwerfungen: Etwa wenn zur Erhellung des Begriffs der Peripetie u. a. das dritte Gedicht aus Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta herangezogen wird,222 etwa wenn im ersten Buch der Arte poetica die theoretische Behandlung des Epos gespickt erscheint mit Beispielzitaten aus lyrischen Texten, ferner wenn aus den qualitativen Teilen der aristotelischen Tragçdiendefinition (Poetik Kap. 6) unter Ausgrenzung der Inszenierung und der Melodik die Phalanx ‘favola’ (Mythos), ‘costumi e affetti’ (Ethos / Charakter), ‘sentimenti’ (Dianoia / eigtl. Erkenntnisfhigkeit) und ‘parole’ (Sprache) konstruiert wird und diese dann teils auf die Behandlung der Epik umgelegt wird (‘favola’, ‘costumi’ / ‘affetti’), teils aber auf diejenigen Teile von Minturnos Darlegung verschoben wird, die sich mit den anderen Gattungen befassen.223 Innerhalb des dritten Buchs (zur Melik / Lyrik) kommt es zu einem neuen Anlauf, die aristotelischen qualitativen Teile der Tragçdie auf die Lyrik zu projizieren (in der Reihung ‘favola’, ‘affetti’, ‘sentimenti’, ‘parole’, ‘canto’ und ‘apparecchiamento’).224

221 Zu diesem Terminus vgl. Trappen 2001, bes. 56 bzgl. der gattungstheoretischen ‘Dialektik’ des Aristoteles, dessen Unterscheidung in Mittel, Gegenstnde und Modus der Mimesis drei dialektische Differenzen (‘diaphora ’) herausarbeitet, die das Gattungssystem fundieren sollen. Siehe in diesem Zusammenhang auch Trappen 2002 sowie Kap. 2.3 zu Scaliger. 222 Minturno [1564] 1971, 42 f. 223 Vgl. Minturno [1564] 1971, 64 und den Kontext. Schon in De poeta waren die qualitativen Teile (der aristotelischen Tragçdiendiskussion) als maßgeblich fr jede Dichtungsart erschienen: vgl. Minturno [1559] 1970, 109 – 111. 224 Vgl. Minturno [1564] 1971, 176 und den Kontext. Die qualitativen Teile ‘canto’ und ‘apparecchiamento’ werden von Minturno offensichtlich auf zeitgençssische Auffhrungssituationen bezogen, leider ohne konkrete Nennung von Beispielen (einen kurzen Verweis auf Boccaccios Decameron, freilich kein wirklich ‘zeitgençssisches’ Dokument, ausgenommen): „Voi dir volete del canto, e dell’apparecchiamento, di che con brevissima risposta potr soddisfarvi: conciosiacosa, ch’io v’habbia dimostrato i versi e le rime del Melico cantarsi al suono de’ Musici istromenti nelle pompe, e nelle feste degl’Idij, e degli huomini illustri, e nelle publiche, e nelle private allegrezze, e ne’ conviti nel cospetto di molti; e, come solevano gli antichi, ne’ theatri, e, com’hoggi si costuma, ne’ tempij, e ne’ palazzi, e talvolta nelle piazze. B. Con ballo, o senza? M. Hor nell’uno, hor nell’altro modo. Ma, che ballando talvolta la Melica compositione si canti, il vi significa il nome di

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Auch diese abstrakten, verglichen mit Aristoteles erheblich ausgeweiteten Begrifflichkeiten will Minturno wieder mit einer großen Anzahl von lyrischen Beispieltexten vermitteln, wobei sich die fr die zeitgençssische Theorie insgesamt bedeutsame Schwierigkeit ergibt, die auf Tragçdie und Epos gemnzte ‘Einheit der Handlung’ auch fr die Lyrik aufzuweisen.225 hnlich verhlt es sich mit der Ausdehnung des aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs: ‘verosimiglianza’, bei Aristoteles zuallererst ein Effekt der gelungenen Konstruktion einer dramatischen Handlungsfgung, ist aus Minturnos aristotelisierender Warte ein Merkmal auch lyrischer Texte.226 Vergleichbar ist die Ausweitung des in der aristotelischen Poetik (Kap. 18) bezglich der Tragçdie getroffenen Unterschieds einer ‘pathetischen’ und einer ‘ethischen’ Form der Tragçdie227 auf die Erçrterung der verschiedensten realen Gattungsformen, die wahlweise einem quella maniera di Canzone, che Ballata si chiama [folgt der Verweis auf Boccaccio „nel fine di ciascuna giornata“]“ (Minturno [1564] 1971, 178). 225 Vgl. Minturno [1564] 1971, 176 und bereits De poeta: Minturno [1559] 1970, 387. 226 Vgl. Minturno [1559] 1970, 387 f. 227 Nicht weiter erçrtern kçnnen wir an unserer Stelle, dass die Passage des Aristoteles korrupt ist und schwere Interpretationsprobleme aufwirft. Die ‘pathetische’ Tragçdie meint eigentlich die von schwerem Leid gekennzeichnete, und neben ihr und der ‘ethischen’ (Charakter-)Tragçdie gibt es bei Aristoteles noch die (strukturell) komplizierte Tragçdie und die eher schattenhaft bleibende ‘Unterweltstragçdie’. Die Antithese von ‘patheticum’ vs. ‘moratum’ wird erwartbarerweise mit rhetorischen Kategorien kurzgeschlossen (vgl. Minturno [1559] 1970, 137 – 140): Die Begriffe ‘Þthos’ und ‘p thos’ waren auch aus der Rhetorik bekannt; vgl. Cicero, Orator 37.128: „Duae res sunt enim quae bene tractatae ab oratore admirabilem eloquentiam faciant. quorum alterum est quod Graeci Ahij¹` m vocant, ad naturas et ad mores et ad omnem vitae consuetudinem accomodatum; alterum quod idem pahgtij¹m nominant, quo perturbantur animi et concitantur, in quo uno regnat oratio. illud superius come iucundum ad benivolentiam conciliandam paratum, hoc vehemens incensum incitatum, quo causae eripiuntur; quod cum rapide fertur, sustineri nullo pacto potest.“ Im System der Rhetorik gehçrt der Gegensatz zwischen ‘Þthos’ und ‘p thos’ insbes. zu den ‘p steis technoi’ (‘probationes inartificiales’). ‘thos’ und ‘p thos’ in diesem Sinne bezeichnen gemß Aristoteles (Rhetorik 1356a 1 – 20) den in der Rede publikumswirksam darzubietenden Charakter des Redners bzw. die Emotion, in die der Zuhçrer durch die Rede gebracht werden sollte. Darauf rekurriert Cicero an der soeben zitierten Stelle nur sehr verwaschen; vgl. aber De oratore 2.182 – 187 (mit 2.121, 2.128), woraus sich u. a. ergibt, dass das sanfte ‘Þthos’ (im Gegensatz zum heftigen ‘p thos’) der rhetorischen Wirkung des ‘conciliare’ zuarbeitet. Dionysios von Halikarnass unterscheidet dementsprechend im Demosthenes den erhabenen vom schlichten Stil dahingehend, dass der erste den Geist der Zuhçrer erschttere (also auf das ‘p thos’ hinauslaufe), der letztere dagegen besnftige (also auf das ‘Þthos’ hinauslaufe).

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„genus patheticum“ bzw. einem „genus moratum“ zugeordnet werden kçnnen,228 und zwar auch innerhalb einer Gattung wie etwa der Lyrik: Hier werden lyrische Texte mit ‘milderer’ Affektmodellierung dem ‘genus moratum’, dagegen Texte mit heftiger Emotivitt dem ‘genus patheticum’ zugeschlagen.229 Auch die Zuordnung von Elegie und Epigramm zum Bereich des Epos230 sowie die ungeachtet dessen vorgenommene Behandlung des Epigramms im ‘melischen’ dritten Buch der Arte poetica 231 statt im ‘epischen’ ersten Buch gehçrt in dieses Spannungsfeld aus systematischen Begrifflichkeiten und historisch konkreten Grçßen der Gattungstheorie. Minturno selbst benennt das Problem, das bei ihm freilich als Vorteil des systematischen Zugriffs erscheint: Die aristotelische Begrifflichkeit der Mimesis („imitazione“) hat allgemeine Valenz nicht nur fr die Dichtung, sondern darber hinaus fr alle Knste: „nella quale [imitazione] cos tutta la poesia, come ogni arte di pingere, e di sculpire si contiene“.232 Diese abstrakte Ebene wird von Minturno im Folgenden sogleich mit der (eigentlich nach Aristoteles eingeschrnkt gattungsspezifischen, weil am Beispiel bestimmter literarischer Texte wie Tragçdie und Epos erçrterten) Begrifflichkeit der Handlungseinheit („ogni compiuta facenda ha il principio & il mezzo, & il fine“ usw.) gekoppelt und umgehend mit literarhistorischen Beispielen aus der antiken und zeitgençssischen Tragçdienproduktion erlutert: Auch hier versucht Minturno zwischen verschiedenen Bereichen zu vermitteln, und zwar zwischen interdisziplinrer Theorie, literatur- und gattungsspezifischer Poetologie und literarhistorisch konkreter Textproduktion. Die Detailprobleme, die sich Minturno bei seinem versuchsweise systematisch und umfassend angelegten Zugriff ergeben, zeigen sich am klarsten anhand seiner Erçrterung der drei aristotelischen ‘diaphora ’. 1. Die Mittel der Mimesis. Am Beginn der theoretischen Differenzierung der Arte poetica steht eine deutlich erkennbare Bezugnahme auf den Beginn der Poetik des Aristoteles, wenn Minturno hier versucht, zunchst 228 Vgl. bspw. Minturno [1559] 1970, 391 und den Kontext. 229 Vgl. Minturno [1564] 1971, 177 f. und bereits De poeta: Minturno [1559] 1970, 388 f. Der Sache nach s. hierzu das in der obigen Anm. gebrachte Zitat aus Cicero, Orator 37.128. 230 Vgl. Behrens 1940, 88 sowie Kap. 3.5 zur Elegie und Kap. 3.2 zum Epigramm. 231 Vgl. Minturno [1564] 1971, 278 – 281. Diese Passage bildet den Schlussteil des dritten, eigentlich der Lyrik gewidmeten Buchs, und doch heißt es dort am Ende zum Epigramm: „N si pu negare, che non sia particella dell’Epica Poesia, a cui non fa mestiere n canto, n rappresentatione“ (281). 232 Minturno [1564] 1971, 75.

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die allgemeine Definition der ‘poesia’ mittels eines Rekurses auf die Kategorie der ‘imitatione’ durchzufhren,233 dabei die drei ‘diaphora ’ bereits anzudeuten und sie anschließend weiter zu przisieren.234 Nach einem kurzen (fr die Lyrik nicht unmittelbar relevanten) Vorgriff auf das Thema des dichterischen Gegenstands235 kommt Minturno ein erstes Mal im Kontext seiner Erçrterung der dichterischen Mittel auf die Lyrik zu sprechen: Diverse anchora sono le cose, con le quali si fa l’imitatione. […] Usa nell’imitare la poesia o solamente le parole, qual’ quella, che Epica da’ Greci, e da’ Latini nominata; o l’harmonia posta ne’ concenti o delle voci, o de’ Musici istromenti, com’ la Musica; o pur’ i tempi, qual’ la Ballatrice. Et usa le parole in due maniere, o sciolte de’ legami delle syllabe, che con determinato & certo numero fanno i versi, quali sono i Dialogi di Platone e d’Alessamene, & i Mimi di Sophrone, e di Xenarcho; & i ragionamenti del Boccaccio; o pur insieme con misura stabilita, & ordinata di voci legate, e ristrette; che versi nominiamo, qual’ l’Heroica; overo con le parole anco il canto, & il ballo, com’ la Dithyrambica, e la Nomica; o pur alle parole hora il canto solo aggiunge, hora il canto col ballo, qual’ la Comica, e la Tragica anchora.236

Trotz dieser verwirrend vielgestaltigen Ausfaltung von Gattungsrealitten fasst Minturno unmittelbar danach die Dichtung insgesamt unter die schon diskutierten drei Makrogattungen: „l’una si chiama Epica, l’altra Scenica, la terza Melica, o Lyrica che dir vi piaccia.“237 Minturno versucht offensichtlich, mit dieser Formulierung der Trias seinen Versuch abzuschließen, die drei aristotelischen Mittel (Poetik Kap. 1: Rhythmus, Sprache, Melodie) in ihren mçglichen Kombinationen vollstndig zu diskutieren und dabei (wie Aristoteles) auch musikalische und tnzerische Kunstformen zu bercksichtigen. Allerdings wird die Transparenz dieses Versuchs gesprengt durch die mittig eingelagerte Auffcherung in Prosa („le 233 „VESP. Che cosa la Poesia? M. Imitatione di varie maniere di persone, in diversi modi, o con parole, o con harmonia, o con tempi; separatamente, o con tutte queste cose insieme, o con parte di loro“ (Minturno [1564] 1971, 2). Man beachte: Der Gegenstand ist hier mit „varie maniere di persone“ außerordentlich schwammig und nicht wirklich ‘aristotelisch’ definiert und wird nicht zuletzt bezglich der Lyrik von Minturno zu retuschieren sein. Weiteres s. im Folgenden. 234 „Tre cose in ogni imitatione considerarci conviene. Prima quel, che ad imitar prendiamo; poi con che imitiamo; al fine in qual modo. Le cose, che ad imitar prendiamo, sono i costumi, gli affetti, & i fatti delle persone; le quali sono di tre qualit […]“ (Minturno [1564] 1971, 2). 235 Minturno [1564] 1971, 2. 236 Minturno [1564] 1971, 3. 237 Minturno [1564] 1971, 3.

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parole […] sciolte de’ legami delle syllabe“) und Versdichtung („insieme con misura stabilita, & ordinata di voci legate, e ristrette; che versi nominiamo“). Damit ist das Verskriterium prominent ins Spiel gebracht, das Aristoteles bekanntermaßen bei seiner Diskussion der mimetischen Mittel ausdrcklich als irrelevant fr die Definition von Dichtung bezeichnet hat. Minturno kommt aus seiner Sicht nicht umhin, das Verskriterium dennoch zu diskutieren. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der literarhistorischen Bedeutung der Vers- und Reimtradition im ‘volgare’.238 Dabei lçst die im Gegensatz zu Aristoteles affirmative Bercksichtigung des Verskriteriums im dritten Buch der Arte poetica, das der Lyrik gewidmet ist, eine ausfhrliche formalistische Behandlung von unterschiedlichen metrischen Formen, Reim- und Strophenschemata aus.239 Dieser Teil der Darstellung rekurriert auf das traditionelle Verstndnis des Verskriteriums als ‘differentia specifica’ von Dichtung und knpft an die Tradition eines Antonio da Tempo240 und an die Formalismen der ‘ersten’ Poetik Trissinos241 an. Er ist kaum in den systematischen aristotelisierenden Rahmen integriert, der (wie gesehen) eigentlich die dichtungstheoretische Grundlage von Minturnos Arte poetica bildet. In diesen formalistisch-metrischen Großabschnitt (und nicht etwa in eine genuin aristotelische Erçrterung) ist die Behandlung der volkssprachlichen lyrischen Einzelgattungen (Sonett, Madrigal, Ballata usw.) eingelagert. Whrend somit der grundlegende programmatische Zugriff Minturnos eine Diskussion der Lyrik nach Maßgabe der aristotelischen ‘diaphora ’ erfordern wrde, werden die wichtigsten lyrischen Formen des ‘volgare’ in einer methodisch disparaten Weise in den Argumentationsgang eingefhrt, die sich an die aristotelische ‘diaphor ’ des Mittels dichterischer Mimesis nur indirekt anschließen lsst – und nur, indem Aristoteles’ Verdikt gegenber dem Verskriterium absichtlich ignoriert wird. Anders ausgedrckt: Aus der berkreuzung von aristotelisierender Systematik und literarhistorischer Gegebenheit ergibt sich an sich die Notwendigkeit, die italienische Lyriktradition nach Maßgabe einer der aristotelischen ‘diaphora ’ zu behandeln. Die Durchfhrung dieser Behandlung aber hebelt eine systematisch kohrente argumentative Integration der ‘diaphora ’ ber betrchtliche Strecken aus. 238 Minturno [1564] 1971, 176 hebt ausdrcklich als unterscheidendes Charakteristikum volkssprachlicher Dichtung die „rime, che nella nostra favella usiamo“ hervor. 239 Minturno [1564] 1971, 180 – 270. 240 Vgl. Kap. 3.2. 241 Vgl. Kap. 2.2.

2.4 Das Scheitern des Systematikers? Minturnos Lyriktheorie

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Erst innerhalb der formalistisch-metrischen Behandlung der einzelnen lyrischen Formen tritt wieder ein Rckgriff auf aristotelische Begrifflichkeiten und Definitionen auf, die auf der mittleren Ebene (der Ebene der Ausfhrungen zu Versarten, Reimschemata, Strophenformen) vorbergehend ganz außer Kraft gesetzt waren. Auf dieser mittleren Ebene spielen Aspekte der Gattungstheorie allenfalls eine sehr deutlich nachgeordnete Rolle.242 Diese Beobachtung lsst sich nicht nur fr das dritte Buch der Arte poetica treffen, sondern ist zu verallgemeinern: Die Vermittlung von Stil- und Gattungstheorie gelingt Minturno kaum. Wo er etwa in großer Ausfhrlichkeit die sieben stilistischen ‘id ai’ oder ‘formae dicendi’ nach Hermogenes diskutiert,243 wird kaum je eine Vermittlung dieser Kategorien mit einer gattungspoetologischen Spezifikation von Formen lyrischer Rede versucht oder gar erreicht. 2. Der Gegenstand der Mimesis. Unmittelbar nach seiner zu Beginn vorgenommenen Dichtungsdefinition, die in Analogie zu Aristoteles formuliert ist (s. o.), legt Minturno in einem von uns bereits zitierten Passus als dichterischen Gegenstand fest: „Le cose, che ad imitar prendiamo, sono i costumi, gli affetti, & i fatti delle persone; le quali sono di tre qualit […]“.244 Minturno modifiziert damit den bei Aristoteles einzig zentralen Begriff der Handlung bzw. handelnden Menschen als Gegenstand der Mimesis: Die aristotelische ‘azione’ wird zu ‘i fatti’ reduziert, was augenscheinlich schon mit Blick auf eine Etablierung der Lyrik als dritte Makrogattung geschieht: „Waren die Gegenstnde der Handlung bei Aristoteles […] ‘handelnde Menschen’ (prttontas), definiert Minturno sie als ‘i costumi, gli affetti, & i fatti delle persone’, wo der Handlungsbegriff nur mehr in ‘i fatti’steckt, insgesamt aber eine Ausweitung vorgenommen wird, die vor allem durch die explizite Erwhnung der Affekte die Integration der Lyrik ermçglicht.“245 Allerdings ist hier sogleich anzumerken, dass Minturno an den von ihm selbst genannten ‘affetti’ nicht konsequent als lyrische Gegenstnde festhlt. So definiert er in Buch 3 die ‘melica poesia’ aristotelisierend neu als:

242 Vgl. allg. Grosser 1992, 79 Anm. 46, 135 – 137. 243 Minturno [1564] 1971, 429 – 443. Vgl. zu Minturnos Behandlung der Hermogenianischen ‘id ai’ Patterson 1970, 13 – 15, 45 (und passim, s. Index S. 236 s.v. „Minturno, Antonio“); Tallini 2008, 84 – 86; Tallini / Minturno 2008, 24 – 26. 244 Minturno [1564] 1971, 2. 245 Hempfer 2008, 46.

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2. Lyrik als Makrogattung

Imitatione d’atti hor gravi & honorati, hor piacevoli e giocondi, sotto una intera e perfetta materia di certa grandezza compresi; la qual dilettevolmente si fa con versi non certo semplici & ignudi, ma d’harmonia vestiti & ornati.246

Scheint hier der Begriff der ‘atti’ zunchst eine etwas ungelenke Einholung quasi-aristotelischer ‘Handlungen’ von in literarischen Texten vorkommenden Figuren zu sein, so gestaltet sich dies in Minturnos Ausfhrungen zum Begriff der „favola“ (als Handlungsgegenstand deriviert aus Aristoteles’ qualitativen Teilen der Tragçdie, s. o.) etwas anders. Dort heißt es ber die Lyrik: Percioche, si come in ciascuna altra Poesia, cos in questa la favola esser dee perfetta et una. E, se in qualche atto esser si dice, chi in parlamento lauda, o biasima, accusa, o difende, sospinge o richiama: chi in laude degl’Iddij, o degli huomini narra le cose divine, o l’humane: chi l’honeste commenda, chi le brutte riprende, chi prega, chi tratta le materie vere e gravi; chi le festevoli e vane; niuno atto far? [folgen Beispiele fr solche ‘atti’ bei Petrarca]247

Hier dient der Begriff des ‘atto’ dazu, die aristotelische ‘Handlung’ aus dem diegetischen oder binnenfiktionalen Bereich erzhlerischer oder dramatischer Texte auf die lyrische Sprecherinstanz zu berspielen. Durch den hier als solchen bezeichneten ‘atto’ wird offenbar eine ‘favola’ erst vermittelt. Kaum wird man anders formulieren kçnnen, als dass hier ‘atto’ so viel zu heißen scheint wie ‘Sprechakt’,248 und die ‘favola’ so viel wie den ‘Inhalt’ oder das ‘Thema’ eines literarischen Textes bezeichnet.249 Damit ist der Weg frei fr weitere Argumentationsschritte. (a) Im aristotelischen Sinn 246 Minturno [1564] 1971, 175. 247 Minturno [1564] 1971, 176. Vgl. dazu neben dem oben Gesagten auch Guerrero 2000, 92: „On pourrait lui r torquer que le po te m lique ‘n’imite’ pas de telles actions mais qu’en g n ral il les ‘r alise’, il ne faut cependant pas sous-estimer la capacit argumentative des th oriciens de l’ poque. Il suffit d’indiquer pour l’instant dans quel sens Minturno dit que l’objet de la po sie m lique est ‘l’imitation d’actions’, et comment on arrive  une affirmation qui, toute h t rodoxe qu’elle paraisse, n’en repr sente pas moins un des points culminants de la reconstruction renaissante de la cat gorie antique.“ 248 Vgl. dazu auch De poeta: „An non vertitur in actione, qui vituperat, aut laudat?“ (Minturno [1559] 1970, 403). 249 Vgl. Guerrero 2000, 162: „ce que le po ticien consid re comme ‘action’ est quelque chose de g n ral, enti rement ind pendant de la composition d’une histoire au point de pouvoir abriter en son sein une s rie d’actes de paroles li s aux classifications rh toriques et sans aucun rapport avec la pens e aristot licienne. Enfin, le mot ‘fable’ fonctionne dans les deux trait s comme un quivalent de ‘contenu’ ou ‘argument’, dans la plus pure tradition rh torico-horacienne et tr s loin du sens originel de muthos.“

2.4 Das Scheitern des Systematikers? Minturnos Lyriktheorie

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nimmt Minturno sich gleich nach der soeben zitierten Stelle des dritten Buchs der Arte poetica die ‘costumi’ und ‘affetti’ als lyrische Themen vor und definiert „costumi“ als „cortese maniera di affetti“, der er eine „grave & ardente maniera di passioni“ gegenberstellt, „che Pathetica si chiama“. Beide lyrischen Affektgrade sind an Petrarca bestens zu belegen; der Teil der Rerum vulgarium fragmenta ‘in vita’ sei, so Minturno, vor allem durch „affetti soavi e benigni“ charakterisiert, whrend im Teil ‘in morte’„la pittura delle pungenti passioni“ vorherrsche.250 (b) Wo Minturno eine allgemeine Beispielpalette fr die Vermittlung von ‘costumi’ (i.S.v. milden Affekten) bzw. ‘passioni’ (i.S.v. heftigen Affekten) ausbreitet, beschreibt er eine Reihe von Sprechakten. Fr erstere nennt er: „il sodisfare, il pregare, il chieder perdono, il dimandar licenza, il cedere, il lamentarsi amichevolmente, il rallegrarsi, il render gratie, il dar laude, il commendare, l’ammonire, il giuocare in parole, il consolare, il confortare, lo ‘nvitare a’ piaceri“, fr letztere dagegen „quando acerbamente biasimiamo, quando n’adiriamo; quando ne lamentiamo; quando ira, dolor, timore, invidia suscitiamo.“251 Die unmittelbare Beziehung dieser Beispiele zu rhetorischem Gefhlsausdruck bzw. rhetorisch bezweckter Erweckung von Gefhlen ist evident. Rhetorisch perspektiviert sind hier nicht zuletzt die Sprechhandlungen des sanften und wohlwollenden Lobs sowie des bitteren und scharfen Tadels. Diese, genannt bezglich lyrischer Texte, stellen einen Rckbezug her zur Abgrenzung der Lyrik von Epik und Dramatik, wie sie zu Beginn des ersten Buchs der Arte poetica unternommen wird. Denn dort erscheinen der Lyrik speziell die sie auszeichnenden Aufgaben des Lobens und dann auch des Tadelns zugewiesen: E benche propriamente l’Epica e la Tragica imitatione sia delle migliori, e delle grandi persone; la Comica e la Satyrica delle piggiori, e delle minori; la Melica di quelle, che son degne di laude: nondimeno in ciascuna poesia l’imitatione di queste varie maniere troverete. […] Nella melica similmente, come che i semidei, e gli huomini illustri, e gl’Iddij si lodino, pur senza dubbio si legge, che Timotheo e Philosseno i Persiani & i Cyclopi discrissero, per essempio di cattivi e biasimevoli costumi.252

Die Lyrik ist somit fr Minturno eine genuin epideiktische Gattung.253 Mit diesem Gedanken, der dem poetologischen Aristotelismus nicht eigen 250 251 252 253

Minturno [1564] 1971, 177 f. Minturno [1564] 1971, 177. Minturno [1564] 1971, 5 f. Vgl. dazu De poeta: Minturno [1559] 1970, 384 f. Vgl. zu Minturnos Einordnung der Lyrik in das ‘genus demonstrativum’ Regn 1987, 392.

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2. Lyrik als Makrogattung

ist,254 sich aber umso leichter mit der herkçmmlichen horazisch-rhetorischen Traditionslinie der Dichtungstheorie vereinbaren lsst, kontert Minturno die aus der Sicht aristotelisch-systematischen Reduktionsinteresses potenziell beunruhigende faktische Vielfalt lyrischer Formen.255 Denn Minturno stellt die epideiktische Funktion der Dichtung an den Anfang eines historischen Entwicklungsmodells: Die Lyrik erscheint als lteste aller dichterischen Gattungen. Sie hatte ganz zu Beginn ihrer Entwicklung allein die Aufgabe der „divine lode“ zu erfllen. Dieser Funktion des Gotteslobs gesellten sich dann nach und nach die anderen lyrischen Sprechweisen hinzu.256 Sie alle will Minturno schließlich nach ihrer Ausfaltung wieder unter einem Oberbegriff zusammenfassen, nmlich ‘Melos’.257 Unter diesen Oberbegriff fallen historisch sowohl die antiken Meliker-Lyriker als auch die Lyriker des ‘volgare’: Minturno sieht auch hier keinen zeitlichen Bruch und keinen kategorialen Unterschied zwischen antiker und volkssprachlicher Poesie.258 ber sein historisches Entwicklungsmodell konstituiert Minturno mithin eine ursprngliche Funktion der Lyrik (die epideiktische, die zunchst laudativ ausgerichtet ist) und lsst dieser Funktion historisch begrndete Zusatzfunktionen nach und nach hinzutreten.259 Realiter ist Minturno hier freilich darum bemht, die Synchronie

254 Die Stelle Aristoteles, Poetik Kap. 4 ist anders gerichtet (Rgelieder und Preislieder der dichterischen Frhzeit hngen hier vom persçnlichen Charakter der einzelnen Autoren ab, nicht von einer lyrischen Gattungsphysiognomie), arbeitet aber Minturnos oben beschriebener Installierung eines historischen Entwicklungsmodells der Literatur mit einer epideiktischen ‘Urstufe’ zu. 255 Vgl. zu dieser Vielfalt bspw. Minturno [1564] 1971, 172: „Ma, chi vedr bene l’opere di Pindaro, non chiuder tra corti e stretti termini la materia del Melico Poeta. Percioche egli cant in quattro libri le quattro feste da’ Greci mirabilmente celebrate; e le vittorie, che di quelle si riportavano. Cant le sollennit de’ giorni consecrati a gl’Iddij, le lode delle vergini, le coronationi de’ Re, i sacrificij di Baccho, e di Phebo i Peani, in laude d’alcuno Iddio i balli di lode degli huomini illustri, le Canzoni ad honor de’ morti, le Canzoni delle nozze, i motteggevoli, & i gravi detti de’ conviti.“ Dies besttigen die Siegeslieder des Simonides, dies ergnzen die Liebeslieder und sympotischen Gesnge Anakreons (ebd.). 256 Minturno [1564] 1971, 167 f., vgl. Minturno [1559] 1970, 378 f. 257 Vgl. Minturno [1564] 1971, 169 f. Wir haben bereits zuvor darauf hingewiesen, dass bei Minturno bisweilen ‘Lyrik’ als Oberbegriff in Konkurrenz zur ‘Melik’ tritt. 258 „Dopo gli antichi Lyrici vennero i nostri; i quali a scriver cominciarono Ballate, che come l’istessa voce significa, si cantavano ballando, poi scrissero Sonetti e Canzoni, che dal suono e dal canto hebbero il nome“ (Minturno [1564] 1971, 170). 259 Vgl. Minturno [1564] 1971, 170 – 173. Vgl. zum Entwicklungsmodell der Lyrik auch De poeta: Minturno [1559] 1970, 380 – 386. Dort wird wiederholt auf den

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einer Vielzahl von literarhistorischen Lyrikformen diachron zu integrieren. Dabei ist auffllig, dass die ‘leichte’ lyrische Materie (Beispiel ist die konviviale Poesie) ber die horazisch abgesicherte Funktion des ‘delectare’ angeschlossen wird. Dieser ‘diletto’ wird zum einen in eine beruhigende Nhe zur Freude religiçser Festlichkeit gerckt, zum anderen wird seine potenzielle (in der Renaissance meist wenig erwnschte) Eigenmchtigkeit dadurch gebndigt, dass das ‘delectare’ erwartbarerweise umgehend durch ‘prodesse’ (also moralischen, sozialen usw. Nutzen von Dichtung) komplementiert erscheint.260 Wo die Lyrik zum ‘dilettare’ imstande ist, dort soll sie auch durch ‘movere’ imstande sein, eine belehrende Funktion (‘insegnare’) auszuben. Dieser „officio del Melico“ schlgt sich primr in der Fhigkeit des „laudare“ und des „pregare“ nieder. Dem treten unter dem Vorzeichen horazisch-rhetorischer Erbaulichkeit alle anderen Weisen lyrischen Sprechens zur Seite (wie ‘confortare’, ‘commendare’, ‘rallegrarsi’, ‘riprendere’, ‘vituperare’, ‘biasimare’, ‘lamentarsi’, ‘accusare’, ‘ammonire’ und andere).261 Sein historisches Entwicklungsmodell lyrischen Sprechens fasst Minturno mit Blick auf den jeweiligen dichterischen Gegenstand wie folgt zusammen: Laonde chiaramente veggiamo, che la materia di tal poesia da prima tutta era posta nelle cose divine; e, dapoi che discese a’ fatti humani, cadde nel grembo dell’amorose ciancie, e delle vanit del mondo: si come nelle Canzoni d’Anacreonte, & in non poche di quelle d’Horatio veder possiamo.262

Dieses gesamte historische, diachron angelegte Modell projiziert Minturno nun auf die Synchronie italienischer Lyrik:263 In Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta finden sich Belege fr lyrische Sprechweisen smtlicher Entwicklungsphasen. Die ursprngliche Phase des religiçsen Gebets weist Minturno durch Verweis auf das Sonett Padre del ciel, dopo i perduti giorni (RVF 62) nach. Die betende Sprechweise wird in der Mariencanzone (Vergine bella, che, di sol vestita, RVF 366) flankiert durch christlich grundiertes Lobpreisen. Die „fatti humani“ behandelt Petrarca sodann im Modus politischer Adhortation in Gedichten wie der Canzone O aspectata in ciel beata et bella (RVF 28; Minturno: „conforta all’impresa contro 

260 261 262 263

Ursprung der Lyrik in der rhetorischen Epideixis hingewiesen (z. B. 383: „cum autem plurimum vertatur in genere demonstrativo“). Siehe im Detail Minturno [1564] 1971, 170 f. Minturno [1564] 1971, 171. Minturno [1564] 1971, 173. Alle folgenden Belege: Minturno [1564] 1971, 173.

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2. Lyrik als Makrogattung

gl’infedeli“), der Canzone Spirto gentil, che quelle membra reggi (RVF 53; Minturno: „[conforta]  ristorar l’antico imperio di Roma“) und der Canzone Italia mia, bench ‘l parlar sia indarno (RVF 128; Minturno: „[conforta] alla pace d’Italia“). Die „amorose ciancie“ und die „vanit del mondo“, die Minturno bereits in der Antike als spte Entwicklungsstufen lyrischer Rede ausgemacht hatte, werden von Petrarca gleichermaßen bedient, allerdings – verglichen mit anakreontischen Gedichten – in ethischer Positivierung: „come d’honesto Amore si canti, e la bellezza laudare si convenga; il Petrarca capo e fonte dell’amorosa poesia nelle sue rime ci sar maestro“.264 Dass die synchronische Koprsenz der in der Antike nach und nach ausgefalteten lyrischen Sprechweisen sich im ‘volgare’ nicht auf Petrarca beschrnkt, signalisiert Minturno, indem er an die Petrarkischen Beispiele fr laudatives Sprechen Exempel von mehreren seiner eigenen Canzonen anschließt, und zwar mit der Funktion des Lobpreises von „le vittorie, & i triomphi degl’huomini illustri“, des Lobpreises Verstorbener („ad honor de’ morti“) sowie – bergang zur amourçsen Materie, aber noch im zelebrativen Register – der Feier von Hochzeitsanlssen („come si celebrino le nozze“).265 Somit sind auch in Minturnos Lyrik, die ‘pars pro toto’ fr das zeitgençssische Dichten steht, die unterschiedlichen Thematiken der abendlndischen Lyrikgeschichte, die sich ursprnglich nacheinander ausgefaltet haben, synchron prsent. Damit versucht Minturno, wie angedeutet, dem realen literarhistorisch prsenten Themenspektrum der Lyrik gerecht zu werden. Dabei geht freilich ber betrchtliche Strecken die Orientierung an einem halbwegs orthodox aristotelisch zu verstehenden Gegenstand dichterischer Rede verloren. Die teilweise Verlagerung des aristotelisierenden Begriffs der lyrischen ‘azione’ bzw. der lyrischen ‘fatti’ und ‘costumi’ auf den ‘atto’ im Sinne eines lyrischen Sprechakts (s. o.) ist von daher auch als eine prophylaktische Maßnahme zu verstehen, die die im Wesentlichen rhetorisch perspektivierte Behandlung jenes konkreten lyrischen Themenspektrums aristotelisch einfangen soll: Jedwedes Thema wird durch einen im Sinne der unterschiedlichen von Minturno angefhrten Sprechweisen je spezifisch charakterisierten Sprechakt vorgetragen, und sofern lyrische ‘azione’ in solchen ‘atti’ besteht, scheint das Problemgebiet des Gegenstands der Mimesis 264 Minturno [1564] 1971, 173. Vgl. zur ethischen Positivierung der Liebeslyrik bei Petrarca auch ebd. 185: „E, benche il Petrarca il pi del suo Canzoniero in parlar de’ diletti d’amor consumi; non per mai nel corso della penna a’ vili piaceri dell’humil plebe discende.“ 265 Minturno [1564] 1971, 173.

2.4 Das Scheitern des Systematikers? Minturnos Lyriktheorie

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bewltigt. Freilich lçst Minturno damit nicht das von uns bereits angesprochene Grundproblem: In all diesen Beispielen ‘imitiert’ der lyrische Text nicht primr ein Objekt im Sinne des Aristoteles, sondern er ‘realisiert’ durch seine Sprechakte die Behandlung eines Gegenstands im Sinne einer bestimmten Grundhaltung und Intention des lyrischen Sprechers.266 Die lyrischen Gegenstnde im engeren Sinn kçnnen dabei im brigen angesichts der Vielfalt historischer Einzelformen der Lyrik dezidiert ‘unlyrische’ Dimensionen annehmen, die freilich zur rhetorischen Epideixis problemlos zuzuordnen sind: Dies zeigt sich etwa an der Behandlung einer ‘materia heroica’ in vielen Canzonen: „a questa maniera di Canzoni certo niuna altra materia sta cos bene, come la grave & illustre; la qual’Heroica si chiama“.267 Angesichts dessen verwundert es nicht, dass Minturno Schwierigkeiten hat, Gattungs- und Stiltheorie miteinander abzugleichen. So versucht er zum einen, als den „proprio stile della Melica poesia“ einen Stil der ‘piacevolezza’ festzulegen (der, wie aus Minturnos Erluterungen hervorgeht, im Wesentlichen als Stil der mittleren Lage konzipiert ist).268 Zum anderen aber relativiert er die Trennschrfe der Stillageneinteilung umgehend wieder: Schon innerhalb der Vertextung eines auf eine bestimmte Stillage hin genau zuzuordnenden Stoffes gibt es Stilistika, die dieser Stillage nicht genau entsprechen269 – umso strker muss die Abweichung von einem lyrischen ‘stile piacevole’ sein, wenn lyrische Gegenstnde weder einer mittleren noch einer niedrigeren, sondern wie im Falle jener ‘materie heroiche’ einer hohen Lage zugehçrig sind. Whrend dabei der Fall von Einsprengseln niederer oder hoher Lage in einen berwiegend als ‘piacevole’ zu bezeichnenden Stil noch durch den Rekurs auf eine lyrische Stildominante zu bewltigen ist, lsst sich bei Texten, in denen der ‘stylus gravis’ dominiert (wie etwa in den ‘heroischen’ Canzonen), zwar von einem vorherrschenden Stil sprechen, der stillagenpoetologisch aber kaum mehr im Sinne einer Prponderanz lyrischer Rede theoretisierbar ist. 266 Vgl. Guerrero 2000, 92. 267 Minturno [1564] 1971, 184. Vgl. ebd. 185: „Percioche di trattare le cose grandi & Heroiche niuna altra Lyrica compositione cos degna, come questa.“ 268 Vgl. Minturno [1564] 1971, 325 f. (Zitat: 326). 269 Vgl. Minturno [1564] 1971, 326 : „N meraviglia fia, se nella piacevole, o nell’humil materia sien voci, che con strepito,  con aspro suono udir si facciano: & allo’ncontro nella grave, e terribile quelle, che piacevolmente; o pur humilmente sonino. conciosia, che s pura cosa non si truovi; nella qual non si vegga alcuno mescolamento d’altra qualit. Ma baster, che in ciascuno stile il pi sia d’un modo.“

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2. Lyrik als Makrogattung

3. Der Modus der Mimesis. Wie wir eingangs gesehen haben, installiert Minturno zu Beginn seiner Darlegungen in der Arte poetica eine Differenzierung der lyrischen Gattungen nach dem Redekriterium: Percioche tre sono i modi della poetica imitatione: l’uno de’ quali si f semplicemente narrando: l’altro propriamente imitando: il terzo dell’uno e l’altro composto. Perche narrar veramente si dice il poeta, quando ritiene la sua persona, n in altrui si trasfigura: il che f le pi volte il Melico, sicome il Petrarcha nelle canzoni, e ne’ sonetti. Ma propriamente si dice imitare, chi deponendo la sua persona, si veste dell’altrui, si come fa il Comico, & il Tragico poeta: il qual mai non parla, ma introduce altrui per tutto il Poema a parlare. Questo modo tenn’io nelle Egloghe, e nel Sonetto, che comincia, Io che fuggendo  le Thessaliche onde: ove fingo, che parli il lauro. Il terzo modo si vede nell’Epico il qual’hor parlando ritiene la sua persona, il che f sempre nel principio dell’opera, si come il Petrarca, Nel tempo che rinuova i miei sospiri: e Dante, Nel mezzo del camin di nostra vita. Hor depone la sua persona, e f parlare altrui. Qual’ , quando il Petrarca induce  parlar seco M. Laura, e cominciare, Riconosci colei: che prima torse I passi tuoi dal publico viaggio.270

Wie aufgezeigt, verwendet Minturno die Kategorie des Redekriteriums hier weniger orthodox aristotelisch als vielmehr in platonisierender Weise, zugleich orientiert an der Behandlung des Redekriteriums in Diomedes’ Ars grammatica, indem er eine Dreiheit konstituiert (narrativer Modus [i.S.v. Sprechen in eigener Person],271 dramatischer Modus, Mischform). Dabei ist es an sich sein Ziel, zu einer Etablierung von drei Makrogattungen zu gelangen, deren eine die Lyrik sein soll. Schon an unserer Stelle wird aber klar: Diese drei Makrogattungen kçnnen ber das Redekriterium nicht theoretisch sauber abgegrenzt werden, insofern es sich beim lyrischen Merkmal des dichterischen Sprechens in eigener Person nur um eine Dominante und nicht um ein dialektisch funktionierendes Differenzkriterium handelt: „Perche narrar veramente si dice il poeta, quando ritiene la sua persona, n in altrui si trasfigura: il che f le pi volte [!] il Melico, sicome il Petrarcha nelle canzoni, e ne’ sonetti.“ Auch fr den ‘dramatischen’ Modus findet Minturno ja umgehend ein Beispiel aus seiner eigenen Lyrik. Dennoch hlt Minturno im ersten Buch der Arte poetica an der dominanten

270 Minturno [1564] 1971, 6. 271 Vgl. erneut Diomedes’ Definition des ‘genus enarrativum’: „exegeticon est vel enarrativum in quo poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione“ (Diomedes [1857] 1981, 482).

2.4 Das Scheitern des Systematikers? Minturnos Lyriktheorie

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Zuweisung der Lyrik zum ‘narrativen’ Modus ungemischter Form fest.272 Er versucht diese Zuweisung im weiteren Verlauf seiner Argumentation sogar noch zu vereindeutigen, indem er das Dominanzkriterium („il che f le pi volte il Melico“) in den Hintergrund treten lsst und die Lyrik nahezu exklusiv diesem Modus der Narratio zuweist: E riguardando al modo del narrare, tre narrationi faremo: l’una delle quali  semplice, e propria de’ Lyrici; & , quando parla il Poeta senza vestirsi dell’altrui persona. di che vi saranno essemprio la pi parte delle rime del Petrarca, e delle mie. L’altra pura imitatione, e propria de gli Scenici; e si fa, quando il Poeta deposta la sua persona si veste dell’altrui: il che leggerete nelle Egloghe mie. La terza mista dell’uno e l’altro modo, e propria degli Epici; e si fa, quando eglino parte per loro stessi, parte per le persone a parlare introdotte ragionano; si come ne’ Triomphi del Petrarca troverete.273

Doch ungeachtet dieses Versuchs, den solchermaßen verstandenen ‘narrativen’ Modus fr die Lyrik zu reklamieren, zeigt schon Minturnos Behandlung des Redekriteriums an verschiedenen Stellen von De poeta, wie unsicher die Differenzbildung hier ausfllt. Unter Annherung des Dithyrambos an die Lyrik und unter Vermischung eines platonischen Mimesisbegriffs (Mimesis beim Redekriterium = dramatischer Modus, whrend der Dithyrambus fr die ‘apangel a’, den Bericht, des narrativen Modus steht) mit dem aristotelischen Mimesisbegriff (Poetik Kap. 1: Dithyrambus ist, wie die anderen Formen von ‘Dichtkunst’, Mimesis), stellt Minturno dort die Zuordnung der Lyrik zu den alternativen Ausformungen des Redekriteriums generell in Frage:

272 Dies gilt auch fr eine strker aristotelisierende Fassung des Redekriteriums (narrativer Modus in zwei Varianten vs. dramatischer Modus): „Adunque il poeta f la sua imitatione in duo modi, l’uno narrando gli atti o de gli huomini, o de gl’Iddij, e questo o ritenendo la propria persona, come le pi volte fanno i Lyrici, o veramente hora tenendola, hora spogliandosene, qual’ il costume dell’Heroico. l’altro dell’altrui persona vestendosi in atti & in parole, com’usa il Tragico, & il Comico parimente“ (Minturno [1564] 1971, 7; Kursivierung durch die Verf.). 273 Minturno [1564] 1971, 18 (Kursivierung durch die Verf.). Vgl. dazu bereits De poeta: „Ac si modum narrandi consideremus, triplicem ponemus narrationem. Una est simplex […], qua Dithyrambici, Lyricique utuntur, cum ipse Poeta sic loquitur, ut personam cuiusquam non sumat. Altera est quaedam imitatio, quae & Tragicorum, & Comicorum est. Cum personam Poeta ponit suam, induit vero alienam. Tertia est utroque modo coniuncta. In qua Heroici versantur, cum partim per se ipsi; partim per eosdem illos quidem, quos loquentes inducunt, exponunt“ (Minturno [1559] 1970, 114).

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2. Lyrik als Makrogattung

At quomodo in hac materia Melicus, num simpliciter narrando, an potius imitando vertatur, non temere constitueris, cum Dithyrambicis simplicem Plato narrationem, imitationem vero tribuat Aristoteles.274

Im unmittelbar folgenden Satz referiert Minturno ohne explizite Einschrnkung die Meinung der ‘grammatici’, die die Lyrik der bei Platon und Diomedes konstatierten Mischform zuwiesen (also gerade derjenigen Form, der als einziger die Lyrik zu Beginn der Arte poetica [s.o.] nicht zugewiesen worden war): Cum enim omnium consensione tria sint genera poematum, quorum quod simplicissimum est, in exponendo versatur, Alterum in effingendo, Tertium ex utroque coniunctum est, in hoc postremo lyricam poesim Grammatici posuerunt.275

Dessen ungeachtet und obwohl er diese Zuordnung der Lyrik zum ‘genus mixtum’durch eine Reihe von Beispielen aus Horaz belegt, kehrt Minturno danach wieder zur Festlegung eines dominant ‘narrativen’ (i.S.v. Sprechen in eigener Person) Modus fr die Lyrik zurck und mçchte (angesichts des Verdikts aus Aristoteles, Poetik Kap. 24: der Dichter solle die Rede in eigener Person vermeiden, da er in diesem Modus keine Mimesis vollziehe) nur noch klren, ob dieser ‘narrative’ Modus als mimetisch bezeichnet werden drfe.276 Endgltig aufgegeben wird dagegen die Tendenz, die Lyrik dem ‘genus enarrativum’ zuzuordnen, im dritten Buch der Arte poetica, und damit kaum zufllig dem Buch, in dem Minturno mit der konkreten Vielfalt lyrischen Sprechens im ‘volgare’ konfrontiert ist. Auf den ersten Blick scheint Minturno hier erneut ein ‘genus mixtum’ fr die Lyrik festzulegen: Ma, percioche al parer di tutti sono tre maniere di poemi, delle quali la pi semplice consiste in narrare; l’altra in imitare; la terza mista e partecipe 274 Minturno [1559] 1970, 386. 275 Minturno [1559] 1970, 386. 276 Minturno [1559] 1970, 387: „Quia vero plerunque personam Lyricus tenet suam, videndum est, nunquid tum etiam imitetur“ (Kursivierung durch die Verf.). Minturnos Antwort verweist erwartbarerweise auf die allgemeine Zuordnung aller Dichtkunst zur Mimesis (Aristoteles, Poetik Kap. 1), definiert dann aber ‘imitari’ als Gestaltung unterschiedlicher Stoffe nach Maßgabe rhetorischer Evidenz: „Nam Aristoteles docet imitationem adhiberi non modo in agendo, cum omnino nostram ponimus personam, sed etiam in narrando, sive induamus alienam, sive nostram geramus. Ac sane is mihi quidem imitatur, qui probe vel corporis formam effingit, vel exprimit affectus, vel mores notat, seu quid aliud ita describit, ut oculis subiectum id putes“ (Minturno [1559] 1970, 387). Vgl. in diesem Sinne auch L’Arte poetica: Minturno [1564] 1971, 175.

2.4 Das Scheitern des Systematikers? Minturnos Lyriktheorie

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dell’una e l’altra: in quest’ultima i Grammatici pongono la Melica poesia: e ragionevolmente.277

Freilich dient (ungeachtet der jeweils unterschiedlichen Differenzierungen) bei Platon, bei Aristoteles und bei Diomedes fr eine gemischte oder kombinierte Redeweise stets die Epik als Beispiel. Dies hat zur Voraussetzung, dass epische Texte als umfangreiche Makrostrukturen aufgefasst werden, innerhalb derer es teils narrativ-berichtende Passagen, teils dramatisch-unmittelbare Passagen der Figurenrede gibt. Minturno nun fasst nicht nur einzelne Gedichte der Rerum vulgarium fragmenta, in denen es einen Wechsel der Redeinstanz gibt, als Beispiele fr die ‘maniera mista’ auf.278 Vielmehr deutet er den gesamten Petrarkischen Canzoniere als eine zusammenhngende Makrostruktur und damit als lyrisches quivalent zu einem narrativen Großtext.279 So kann er auch Gedichte, in denen jeweils fr sich genommen nur eine einzige Ausformung des Redekriteriums festzustellen ist, in ihrer hinsichtlich des Redekriteriums jedenfalls variablen syntagmatischen Gesamtkombination, in ihrer bald ‘narrativ’, bald 277 Minturno [1564] 1971, 173. 278 Vgl. hierzu und zum Folgenden die Argumentation und die Beispiele in Minturno [1564] 1971, 173 – 175. 279 Diese Auffassung des Lyrikzyklus als kohrente Struktur analog zum breiten Erzhltext zeigt sich auch, wenn Minturno die quantitativen Teile der Lyrik diskutiert (was in Orientierung an den Ausfhrungen des Aristoteles zu den quantitativen Teilen der Tragçdie geschieht). Hier bertrgt er das ganz ursprnglich auf rhetorischen Kategorien basierende (vgl. Lausberg 1990, 148 – 190), dann in der Vergilexegese (so bei Servius zu Vergil Aeneis 1.8; vgl. auch Donat in der Einfhrung zu Aeneis B.1: Donat [1905] 1969, 7 f.) auf die Literatur bertragene Schemata von ‘propositio’ / ‘exordium’, ‘invocatio’ und ‘narratio’ in der abgewandelten Form ‘proemio’, ‘invocatione’, ‘narratione’, ‘uscita’ auf die Rerum vulgarium fragmenta insgesamt. Demnach haben nicht nur einzelne lyrische Texte ‘proçmiale’ und ‘erzhlend durchfhrende’ Teile (vgl. Minturno [1564] 1971, 179 f. mit Beispielen aus Petrarca und Minturnos eigener Lyrik, sowie Minturno [1559] 1970, 391 f. zu ‘propositio’ und ‘narratio’ v. a. bei Horaz). Vielmehr ist die gesamte Makrostruktur von Petrarcas Canzoniere nach diesem Muster zu gliedern: Die Funktion des ‘proemio’ bernimmt Sonett no. 1, die ‘narratione’ beginnt mit Sonett no. 2 (analog lsst sich, wie Minturno einflicht, auch seine eigene Lyriksammlung syntaktisch gliedern), whrend die ‘uscita’ durch die Mariencanzone no. 366 erfolgt. Fazit: „E cos la costui poesia par, che habbia tre parti il Proemio, la Narratione, e l’Uscita. Tra le quali, come che la Narratione sia lunga, e molte e varie compositioni comprenda; nondimeno il Proemio si contenta d’un Sonetto, e l’Uscita d’una Canzone“ (Minturno [1564] 1971, 180). Vgl. in diesem Zusammenhang zu Minturnos ‘Episierung’ der Rerum vulgarium fragmenta D’Alessandro 2005, 626 – 628.

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2. Lyrik als Makrogattung

‘dramatisch’ ausgestalteten linearen Reihung, einem als lyriktypisch gedachten ‘genus mixtum’ zuordnen. Was eigentlich eine Serialisierung einzelner Texte mit unterschiedlichen mimetischen Modi ist (und insgesamt allenfalls ein ‘genus alternativum’ genannt werden kçnnte), das fasst Minturno durch Zusammenschau des Lyrikzyklus in eine Großform als Beleg fr eine Mischform. Dann freilich zieht er folgendes Fazit: „Laonde chiaramente si vede, che la Melica compositione hor tutta narratione, hor tutta imitatione, hor mista dell’una e dell’altra.“280 Damit hat Minturno letztlich ungewollt konstatiert: Das Redekriterium taugt nicht dazu, unter der Rubrik des Modus der Mimesis die von Minturno angezielten drei Makrogattungen zu differenzieren, jedenfalls nicht mit der Melik / Lyrik als eine dieser Gattungen, da sie sich nach dem Redekriterium in alle (maximal drei) dichterischen Species eingliedern ließe. Nur konsequent ist da Minturnos gleichzeitig unternommener Versuch, innerhalb des Feldes der Lyrik an der lyrischen Sprechinstanz selbst die Ausformungen unterschiedlicher Personenrollen nach Maßgabe des Redekriteriums zu konstatieren. Demnach gibt es in lyrischen Texten nicht nur die ‘berichtende’ Rolle des lyrischen Ichs und nicht nur ‘dramatisch’ sprechende weitere Figuren (wie Laura, Amor usw.), sondern daneben die Sprechrolle des lyrischen Ichs als lyrischer Liebender oder sonstiger Gesprchspartner von binnentextuellen Adressaten, mithin eine andere ‘persona’ als die ‘eigene’ des Dichters: „quando il Poeta parla ad altrui; par, che deponga la persona del Poeta; e ne prenda, o tenga un’altra. Percioche nel Petrarca due persone intender possiamo: l’una del Poeta, quando egli narra; e l’altra dell’amante, quando dirizza a Madonna Laura il suo dire […] O quando parla a qualunque altra persona.“281 Damit freilich hat Minturno das eigentlich als ‘diaphor ’ einer bergeordneten Ebene der Gattungsdifferenzierung gedachte Redekriterium in ein Instrument zur Binnendifferenzierung unterschiedlicher lyrischer Sprechrollen verwandelt.282

280 Minturno [1564] 1971, 175. 281 Minturno [1564] 1971, 175. In De poeta sind diese beiden Rollen des lyrischen Sprechers explizit ergnzt durch die dritte Mçglichkeit einer Einfhrung anderer binnentextueller Sprecherfiguren: „Narrat autem adeo simpliciter is idem poeta, ut personam plerunque teneat suam, idque bifariam, quemadmodum facit etiam lyricus. Aut enim aliena dicta, factave exponit […] Aut ita loquitur, tanquam se ipse loquentem, quod sane quidem est perinde, ac si quem alium fingat […]. Interdum etiam alienam sumit, ut est apud Horatium, cum Canidiam respondentem inducit“ (Minturno [1559] 1970, 403 f.). 282 Vgl. auch Chevrolet 2007, 466 f.

2.5 Der moralisierte Aristoteles

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2.5 Der moralisierte Aristoteles: Pomponio Torellis wohlanstndige Neujustierung der systematischen Lyriktheorie Pomponio Torelli hat als fhrendes Mitglied der Accademia degli Innominati von Parma vor seinen Mitakademikern in den 1580er Jahren die Poetik des Aristoteles in einer ausgedehnten Serie von Vortrgen interpretiert.283 In den Kontext dieser Aristoteles-Exegese gehçrt auch die siebenteilige Serie von Lezioni, aus denen Torellis Trattato della poesia lirica besteht: „Il Trattato della poesia lirica […] concepito sin dall’inizio come indispensabile corollario, e forse anche come ideal compimento, di questo sforzo esegetico“.284 Torellis Traktat, der von Bernard Weinberg im vierten Band seiner Trattati di poetica e retorica del Cinquecento publiziert und pauschal auf 1594 datiert wurde, scheint tatschlich das Ergebnis langer Studien und wiederholter berarbeitung zu sein und in seiner Genese bis auf ca. 1575 zurckzugehen.285 Die Programmatik der Akademie, die im Wesentlichen als im Sinne der Gegenreformation restaurativ bezeichnet werden kann, drfte im Hintergrund von Torellis Versuchen stehen, die Lyrik einerseits aristotelisierend zu theoretisieren und ihr zugleich doch eine sehr deutlich herausgestellte erbaulich-moraldidaktische Funktion zuzuschreiben.286 Dominant aristotelisierend ist der Traktat Torellis im Sinne einer Dominanz der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik zu nennen,287 ungeachtet der angestrengten Versuche des Poetolo-

283 Vgl. die Einleitung von Gianluca Genovese zu Torellis Lyriktraktat in Torelli 2008, 563. 284 Genovese in Torelli 2008, 563. Vgl. zuvor Denarosi 2003, 89 f.: „[…] il Trattato della poesia lirica, nato in margine e quasi potremmo dire a completamento del commento alla Poetica aristotelica tenuto in Accademia a partire dai primi anni ‘80, si configur come una sorta di poetica aristotelica non scritta e assai liberamente ricostruita […].“ 285 Vgl. die ‘nota al testo’ in Torelli 2008, 667 f. 286 Vgl. Genovese in Torelli 2008, 564 f. und fr den weiteren Kontext Denarosi 2003. 287 Vgl. in diesem Sinne auch Frezza 2001, 282: „In pi punti Torelli ribadisce la sua fedelt ad Aristotele, e tutto il Trattato pu essere considerato un testo aristotelicamente ortodosso per l’ispirazione di fondo, le argomentazioni, il modo stesso di procedere all’analisi della lirica. Quest’ultima per, da elemento marginale nella discussione aristotelica, diventa ora il centro stesso dell’impegno speculativo, spingendo Torelli a dedicarsi con ingegno e energia a una puntuale confutazione di tutti i precedenti commentatori della Poetica.“

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2. Lyrik als Makrogattung

gen, platonistische Argumente in seinen aristotelisierenden Argumentationsgang glttend zu integrieren.288 Der aristotelisierende Ansatz ist systematisch ausgerichtet. Torelli hlt es fr geboten, angesichts der Unvollstndigkeit der Poetik des Aristoteles, die ihm ursprnglich eine vollstndig ausgearbeitete normative Abhandlung mit einer ausfhrlichen Behandlung der Lyrik gewesen zu sein scheint,289 die berlieferten Aussagen des Stagiriten im Sinne einer systematischen Vervollkommnung auf die Behandlung des theoretischen Gegenstands Lyrik auszudehnen. Diese Herausforderung ist fr Torelli insbesondere angesichts der Tatsache unabweisbar, dass in der Volkssprache eine beraus reiche Lyrikpraxis festzustellen war (und angesichts der Wirkungsmacht des lyrischen Petrarkismus der Eindruck aufkommen konnte, die Literatur im ‘volgare’ sei berhaupt vor allem lyrisch verfasst). Dies bedingt fr den systematischen Aristoteliker Torelli, der zugleich selbst Lyriker gewesen ist, notwendig die Erfassung des dominanten Genus italienischer Dichtung durch die aristotelisierende Poetologie. Das ist ihm eine viel vordringlichere Aufgabe als die Diskussion von Aristoteles’ Theoremen zu den ‘großen’ Gattungen Tragçdie und Epos, mit denen sich die zeitgençssische Literaturtheorie zu Unrecht schwerpunktmßig beschftigt habe: Percioch Aristotele, che di dar ferme regole s’affatic ai Poeti, con le quali, non errando e superati gli assalti degl’invidi, pervenissero a fine di giovar ad altri nella vita e procacciar a se stessi fama doppo la morte, s come a longo tratt delle Tragedie et Epopeie, cos verisimile che trattasse di tutto l’artificio lirico. Nondimeno di quelle due parti, bench lacero, il suo trattato abbiamo, di quest’altra pur parola scritta da lui non si trova; et i moderni nostri, che sopra li Tragici et Epici componimenti e quanto circa di loro scrisse Aristotele fanno forse pi romore di quello che bisogneria, di questa, che bisogno avria di aiuto, quasi niente parlano. E quello ch’ pi da meravigliarsi, quanto pi povera la Lirica Poesia di regole che ce la insegnino, tanto pi la vediamo noi ricca di compositori, e le compositioni tanto diverse che dalla lettura loro pi tosto confusione per la contrariet che certezza per l’osservatione se ne potria cavare.290

Entsprechend der hier aufscheinenden Intention, die Lyrik als Gattung in eine systematische poetologische Behandlung einzugliedern, die zugleich 288 Vgl. hierzu bes. die zweite der sieben Lezioni des Trattato. 289 Damit stellt sich Torelli insbesondere gegen Castelvetros These eines Entwurfsstatus der berlieferten aristotelischen Poetik; vgl. detailliert Vernazza 1964, 22 – 29. 290 Torelli 2008, 569.

2.5 Der moralisierte Aristoteles

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auf der Basis akademischer Lyrikpraxis einen Anstoß zur Normbildung liefern soll,291 verkndet Torelli, er werde in seiner Darstellung der Reihe nach den „fine di tutta la Poesia“, den „fine della Poesia Lirica“ und die spezifischen „mezzi“ der Lyrik untersuchen.292 Die Behandlung des ersten Problems, also der Frage nach dem Wirkungszweck der Dichtung insgesamt, stellt Torelli unter das Hauptthema einer Valorisierung des dichterischen ‘diletto’. Erwartbarerweise bringt Torelli im Rahmen dieser Problematik sowohl die horazische Doppelung von ‘prodesse’ und ‘delectare’, von ‘utile’ und ‘dulce’,293 als auch die aristotelische Feststellung in die Diskussion ein, es sei eine anthropologische Konstante, dass die Mimesis dem Menschen ‘Freude’ bereite.294 Torelli setzt sich in der Frage nach der Wertigkeit des dichterisch erzeugten ‘diletto’ ausfhrlich nicht nur mit Aristoteles, sondern auch mit zeitgençssischen Aristoteles-Auslegern auseinander (Robortello, Maggi, Piccolomini), um schließlich zu einer Definition des ‘fine della poesia’ zu gelangen, die eine strikte Rckkoppelung des ‘diletto’ an einen moraldidaktischen Nutzen postuliert: […] la Poesia non intenda altro che di ridur gli affetti alla mediocrit, e […] questo sia il suo proprio fine, che altro non che di render gli animi ben composti […], porremo un fine stabile e vero e degno di quest’arte, ch’essendo nobilissima non deve avere un fine da burla.295

Mit dieser Betonung des unabdingbaren moralischen Nutzens der Dichtung, auf dem Torelli im unmittelbaren Kontext wiederholt insistiert,296 wird nun aber nicht eine traditionelle rhetorisch-protreptische Argumentation verbunden, sondern es erfolgt eine Koppelung mit der aristo291 Vgl. Torelli 2008, 570: „a voi [die akademischen Zuhçrer von Torellis Lezioni] star […] di ampliar finalmente e formar talmente quest’arte che di questa Academia, dalla quale tante e s leggiadre compositioni tutto ‘l giorno nascono, ne derivi anco qualche norma per la quale altri rettamente componghi.“ Zur normativen Ausrichtung des Trattato vgl. Frezza 2001, 282: „[…] il Trattato si presenta come uno dei rarissimi tentativi di applicare alla lirica gli strumenti d’indagine propri della Poetica per passare, cos come era stato fatto con la poesia drammatica, dall’imitazione empirica alla formulazione di un ordinato sistema di regole.“ 292 Vgl. Torelli 2008, 570. 293 Vgl. Horaz, Ars poetica 333 f., 343 f. 294 Vgl. Aristoteles, Poetik Kap. 4. 295 Torelli 2008, 579 f. (Kursivierung durch die Verf.). 296 Vgl. bspw.: „[…] un solo piacere sar che, co’l buono convertendosi, inutile non potr essere, poich cosa bona non che utile non sia“ (Torelli 2008, 577 f.) und im Folgenden: „[…] non sar piacere alcuno che per fine non risguardi ad altro e che in se stesso utile non sia“ (Torelli 2008, 578).

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2. Lyrik als Makrogattung

telischen Katharsis-Lehre (die, wie Torelli weiß, genuin zur Gattung Tragçdie gehçrt, aber von ihm aufgrund seines oben skizzierten systematischen, textrestaurativen Gesamtentwurfs auf die Lyrik projiziert wird): Il fondamento di questa opinione [gemeint ist das von uns soeben zitierte Postulat eines dichterischen ‘ridur gli affetti alla mediocrit’] sar l’autorit d’Aristotele nella diffinitione della Tragedia dove, poi che ha detto ch’ immitatione d’attion grave, grande, illustre, con parlar soave, in ultimo conclude del fine, cio che co’l mezzo della compassione e terrore purghi gli animi da cos fatte perturbationi e passioni. La ragione di questa opinione questa: la Poesia arte, ogni arte indrizzata al bene, dunque la Poesia deve risguardar no ‘l diletto ma il vero bene.297

Die Ntzlichkeit von Dichtung soll folglich auf kathartischem Weg umgesetzt werden und auf das aristotelische Ideal eines ethischen Mittelmaßes, hier speziell im Bereich des Affekthaushalts, ausgerichtet sein. Dabei weist Torelli, dem es offensichtlich um eine mçglichst umfassende Anwendbarkeit seiner Theorie auf diverse Formen (bes. lyrische Formen) von Literatur zu tun ist, der dichterischen Katharsis gleich mehrere der zeitgençssisch diskutierten Funktionsweisen auf einmal zu: Tal vide egli [Aristotele] ch’era la Poesia, per la quale l’animo nostro, commosso dal dolore, vedea tranquillarsi co’l piacere; trasportato dall’ira, sedarsi con la misericordia, e languido per pigritia nella maggior calma dell’otio, con l’aura de i versi sollevarsi all’honore et alla lode. […] ricorre Aristotele a questa che, co’l mezzo del piacere allettando et ingannando in uno istesso tempo, raffrena l’animo che corre spontaneamente a quello che stima essere piacevole et apporta pi noia che non aveva promesso piacere. Cos co’l mezzo de gli affetti tempera l’affetto, hora co’l contrario contemperandolo, hora facendolo minore con lo istesso, come nella Tragedia co’l mezzo della misericordia e del terrore purga lo istesso terrore e misericordia, non scacciandoli del tutto […], ma […] riducendoli al mezzo. Percioch vedendo noi co’l compassionevole e terribile che ci rappresentano i Tragici la poca stabilit delle fortune humane, veniamo a mitigare il desiderio che abbiamo posto nelle grandezze e le speranze di conseguirle, e per manco temiamo di caso sinistro che ci possi avenire a noi, e ci moviamo a compassione de gli altri tanto solamente quanto si conviene.298

Damit reklamiert Torelli fr die dichterische Katharsis alle drei Haupttendenzen der zeitgençssischen Katharsisdiskussion:299 Zum einen die emotionale ‘Abhrtungstheorie’, „die davon ausgeht, daß sich durch das hufige Erregen von Furcht und Mitleid die Kraft dieser Affekte abnutzt […]. Voraussetzung dieser Deutung ist, daß es im Menschen ein selb297 Torelli 2008, 580 (Kursivierung durch die Verf.). 298 Torelli 2008, 588 f. 299 Vgl. dazu ausfhrlich Kappl 2006, 266 – 311, s. ferner Kappl 2011.

2.5 Der moralisierte Aristoteles

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stndiges Affektpotential gibt, das durch wiederholte Entladung auf einen niedrigen Pegel gebracht werden kann.“300 Zum anderen die emotionale ‘Verdrngungstheorie’: Fr sie „werden die Affekte nicht mit dem Ergebnis erregt, daß sie sich abnutzen, sondern mit dem Ergebnis, daß die von der Tragçdie geweckten Affekte die ihnen entgegengesetzten aus der Seele des Zuschauers verdrngen“.301 Und schließlich den rationalistisch-apotreptischen Ansatz, wonach die Katharsis „einen Erkenntnisprozeß bzw. die Folge eines Erkenntnisprozesses“ meint, wonach „das Lernziel in der Einsicht in die conditio umana“ besteht und der Mensch als Resultat daraus Schicksalsschlge weniger frchtet als zuvor und sich vor allzu heftigen Affektwallungen in Acht nimmt.302 Insgesamt betont Torelli im Sinne seiner These eines Ideals vom ausgewogenen affektischen Gleichgewicht, dass keine vollstndige Verdrngung oder Ersetzung einzelner ‘passioni’, sondern nur eine vernnftige Mßigung der Leidenschaften angezielt sein kçnne. Wie sich bei nherem Hinsehen alsbald zeigt, verwischt oder ignoriert Torelli absichtlich das zeitgençssisch heiß umstrittene KatharsisProblem, ob mit den Objekten der Purgation allein die beiden Leidenschaften ‘Furcht’ und ‘Mitleid’ oder vielmehr eine breite Palette ‘hnlicher’ Gemtszustnde gemeint seien. Dass diese beiden Alternativen hier nicht explizit werden, hngt sicherlich mit der Orientierung von Torellis Gedankengang hin auf die Definition der Wirkungsweise von lyrischer Dichtung zusammen. War die ‘Abhrtungstheorie’, die affektische Mßigung versprach, tragçdientheoretisch auf eine Mßigung von ‘ leos’ und ‘phbos’ orientiert, so konnte fr eine kathartisch argumentierende Lyriktheorie, die immerhin auf die Abhrtungstheorie nicht verzichten mochte, die Alleinstellung dieser tragischen Wirkaffekte nicht von Interesse sein. Die Vielheit der hier erçffneten Wirkoptionen wird von Torelli selbst allerdings alsbald wieder gefhrdet, wenn er selbst im Anschluss nur noch von einem „purgar l’animo dalle passioni con l’istesse passioni, co’l mezzo del diletto“ spricht.303 300 301 302 303

Kappl 2006, 307. Kappl 2006, 307. Kappl 2006, 308 (Zitate ebd.). Torelli 2008, 589. Auch am Ende der letzten Lezione rekurriert Torelli nochmals kurz auf das Katharsis-Problem, vereindeutigt dabei aber erneut sein zuvor erçffnetes Spektrum von Wirkoptionen auf die homçopathisch funktionierende Variante, die er nun im Sinne einer moralisierenden Apotreptik versteht und insofern mit einer rationalistischen Dimension versieht: „Resta l’ultima particella della diffinitione, che concerne il fine, ch’era di purgar l’animo da gli stessi affetti che s’immitavano. [Es folgen Beispiele aus Petrarca RVF 1, Horaz, Tibull.] Onde

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2. Lyrik als Makrogattung

Der dichterische ‘diletto’ wird von Torelli in ein Wirkgefge eingelassen, das sowohl der von Aristoteles vorgenommenen Junktur von Mimesis und Freude als auch der Funktionalisierung des ‘prodesse’ hin auf das ‘delectare’ Rechnung tragen soll:304 So sei der ‘diletto’ einerseits das Wirkungsziel (‘fine’) der ‘imitazione’. Andererseits aber sei er selbst nur ein Mittel (‘mezzo’), das zur Akzeptanz der dichterischen Katharsis (‘purgazione’) fhren solle, die wiederum in einen moralisch ‘gereinigten’ Zustand der ‘onest’ zu mnden habe. Horazische Protreptik ist fusioniert mit aristotelischer Katharsislehre. Wie das obige Zitat zeigt, sieht Torelli den ‘diletto’ insbesondere als eine von der mimetischen Dichtung hervorgerufene Verlockung, die den Rezipienten ber die Hrte der aufs Moralische abzielenden kathartischen Maschinerie zunchst heilsam hinwegtuscht.305 In welche Abgrnde den um Systematisierung bemhten Theoretiker sein Systemabgleich fhren kann, zeigt sich bei einer nheren Betrachtung der zweiten Lezione, in der platonistische Positionen mit Torellis basalem Aristotelismus vermittelt werden sollen. Hier wird nun nmlich nicht nur der ‘furor divinus’ mit dem „officio e fine della Poesia di ridur gli affetti a mediocrit e purgar gli animi co’l mezzo del diletto dal soverchio delle perturbationi“, also mit dem kathartischen Wirkmechanismus gleichgesetzt, sondern der ‘diletto’ in seiner hçchsten Form auch als das Resultat der Stillung eines platonisch verstandenen ‘Wissensdurstes’ („desiderio dell’intendere“) begriffen.306 Dabei ist der forcierte Wille zum Abgleich der unterschiedlichen philosophischen Theorieoptionen von demselben Sysnon per altro cantarono gli amori, che per farci fuggire gli amori lascivi e ridurci al vero e perfetto amore. N per altro gli adirati ci depinsero, se non perch in loro come in uno specchio vedessimo quanto questo affetto ci tollesse di quella bella sembianza che abbiamo della ragione, e per ce ne guardassimo“ (Torelli 2008, 660). 304 Im Folgenden fassen wir die Argumentation von Torelli 2008, 582 – 584 zusammen. 305 Vgl. Genovese in Torelli 2008, 564, der das Postulat dieser Art von Katharsis in den Kontext der gegenreformatorischen konservativen Programmatik der Accademia degli Innominati stellt. 306 Torelli 2008, 591 f. (Zitat: 591). Dass hier Philosopheme unterschiedlicher Provenienz agglomeriert erscheinen, die kontrre programmatische Implikationen haben, ist der sprlichen Forschung hufig gar nicht recht bewusst geworden; vgl. exemplarisch Rinaldi in Torelli 2008, XXII. Man vergleiche zur Verdeutlichung nur die oben genannte platonistische Form des ‘diletto’ mit dem zugleich reklamierten ‘aristotelischen’ Wirken des ‘diletto’, wonach es „dilettando e commovendo gli affetti“ zu jenem „ridur gli affetti a mediocrit“ komme (Torelli 2008, 589).

2.5 Der moralisierte Aristoteles

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tematisierungsdruck bestimmt, der dazu fhrt, dass Torelli die Poetik ber die von ihm als Dichtungsziel bestimmte Affektregulierung strikt in den Rahmen einer aristotelisierenden Ethik eingliedern mçchte.307 Bereits jene platonistische Deutung des ‘diletto’ als die Erfllung eines ‘desiderio dell’intendere’ weist auf Torellis Zielpunkt einer Theorie nicht nur der Dichtung im Allgemeinen, sondern insbesondere der Lyrik. Denn als Musterbeispiel einer Umsetzung eines platonistischen ‘diletto’ in Literatur erscheint der Canzoniere Francesco Petrarcas: L’oggetto del piacere ‘l bello, percioch nel bello si gode ogni piacere. Le bellezze sono tre, d’animo, di corpo, d’oratione; quindi e tre desiderii e tre diletti risultano. Ma quello forse sar piacere compiuto, quando con bell’oratione si celebraranno i belli effetti che fa un bell’animo per mezzo d’un bel corpo; di che leggendo le rime di Messer Francesco Petrarca come van lette, se ne potr sentir qualche gusto.308

Hier wird freilich sogleich deutlich, dass der spezifisch lyrische ‘diletto’ nun aus einem ‘piacere’ bestehen soll, das nicht kathartisch, sondern vielmehr epideiktisch hervorgerufen wird: durch ‘celebrare i belli effetti che fa un bell’animo per mezzo di un bel corpo’. Hier ist nicht mehr von dichterischer Katharsis, sondern mit einem Mal von epideiktisch gefeierter Exemplarik die Rede.309 Es zeichnet sich exakt an dem Punkt, da Torelli von der allgemeinen Erçrterung des ‘fine della poesia’ zum Wirkungsziel der Lyrik bergeht, ein komplexes Verhltnis von (rhetorischer) Epideixis und (aristotelischer) Katharsis ab. Zu Beginn der dritten Lezione, die auf die systematische Theoretisierung der Lyrik zusteuert, betont Torelli wiederholt die Multiformitt lyrischer Praxis310 als Herausforderung poetologischer Unifizierung: „che unit di fine potr aver un’arte con materia tanto diversa?“311 Diese 307 Vgl. bes. Torelli 2008, 587 f. 308 Torelli 2008, 592. 309 Solche Exemplarik wird der Dichtung als Funktion auch von Platon zugewiesen, wie Torelli affirmativ hervorhebt. Der Sinn von Platons mimesiskritischen ußerungen im 10. Buch der Politeia sei es, „che si leggano i Poeti non perch essi essattamente ci rappresentassero il vero e per seguirli in ogni cosa, ma come immitatori del bene e del male – dell’uno per fuggirlo, dell’altro per seguirlo – avendo sempre l’occhio a quello ch’essi intendono, non a quello che dicono“ (Torelli 2008, 593; Kursivierung durch die Verf.). 310 Die Lyrik erscheint als „cosa, le parti della quale mostrano differenza grandissima e tale che pare che non solo a diversi fini ma a contrari siino dirizzate“ (Torelli 2008, 594 f.). Das „trovare un fine istesso“ zu solcher Vielgestaltigkeit ist folglich „difficilissimo“ (Torelli 2008, 594). 311 Torelli 2008, 595.

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2. Lyrik als Makrogattung

Herausforderung besteht fr Torelli insbesondere deshalb, weil er sich nicht mit Versuchen frherer Aristoteleskommentatoren (die Auseinandersetzung erfolgt namentlich mit Robortello und Maggi) zufriedengeben will, die Lyrik als Unterart oder unvollkommene Ausformung von Dichtung zu begreifen, sondern ausdrcklich auf der Gleichrangigkeit der Lyrik mit den anderen von Aristoteles theoretisierten Gattungen beharrt: „[Aristotele] dice che la Tragica, l’Epica, la Comica, la Ditirambica, la Lirica convengono nell’imitare“; „la proposition sua universalissima nella 2a particella, cio che tutte le spetie di Poesia immitano, includendovi anco la Lirica“; „la Lirica spetie perfetta di Poesia e non parte delle parti […] o parte imperfetta“.312 Somit ergibt sich die volle Dignitt der Lyrik als den Makrogattungen ranggleiches Genus: „Perfetto dunque il Lirico, e per ci da perfetto principio a perfetto fine bisogna che sia condotto.“313 Der somit erforderten umfassenden theoretischen Einordnung der Lyrik sucht Torelli unmittelbar im Anschluss dadurch gerecht zu werden, dass er ihr (zunchst ausschließlich) Funktionen des ‘genus demonstrativum’ zuweist: „Loda il Poeta Lirico, e loda principalmente Dio. N lodaria Dio se non fosse inspirato da Dio; et inspirato, posto fora di s , anzi sopra di s alzatosi s’unisce a Dio.“314 Nicht nur ein vage platonistisch und zugleich religiçs konnotiertes Lobpreisen Gottes kommt dem Dichter zu, sondern auch ein hufig nur allegoretisch zu verstehender (weil paradoxerweise Lob bedeutender) Tadel Gottes.315 Damit ist die Lyrik zunchst rein epideiktisch-rhetorisch funktionalisiert.316 Dies wird nun umstandlos mit der zuvor etablierten moralisierenden Katharsisdeutung kurzgeschlossen: Ma torniamo al nostro fine de i Lirici, il quale se stabiliremo con Aristotele, vedremo che altro non cercarono i Lirici che di acquetare gli animi dalle passioni, il che nella parte che loda i D i e gli Heroi potiamo facilmente comprendere. Percioch se li faremo senza passioni, con il lor essempio acqueteremo meglio le nostre soprabondanti; se con passioni, da quelle istesse perturbati ci reduremo pi tosto al mezzo della Virt . Che pi ci incita alla gloria che le lodi de gli huomini valorosi? e chi loda pi che ‘l Lirico, che a molti componimenti de’ suoi non diede nome che di lode?317 312 313 314 315 316

Alle Zitate: Torelli 2008, 598. Torelli 2008, 598. Torelli 2008, 599. Torelli 2008, 599. Zur Bedeutung der Epideixis fr Torellis Lyrikbegriff vgl. auch seine Deutung von Pindars Texten: s. Vernazza 1964, 122. 317 Torelli 2008, 599 f.

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Fr diese These braucht es zwar nicht mehr wirklich einen Prozess der Katharsis in der Lyrik. Doch auf der Basis der lyrisch-rhetorischen Prsentation vorbildhafter Exempla wrde sie immerhin im affirmativen Modus einer Protreptik des Nacheiferns funktionieren kçnnen. Doch wie gliedert sich die (fr den volkssprachlichen Bereich zentral wichtige) Lyrik mit amourçser und vergleichbarer Thematik in dieses Konzept ein? „Ma che diremo noi di quella parte che tratta gli amori? che immita atti lascivi? che non ha per soggetto che banchetti, vino, querele d’esclusi, disperation de i sprezzati?“318 Die neben der antiken Linie sympotischer Poesie damit insbesondere angesprochene Tradition der Liebeslyrik kann bei einer Rubrizierung ins ‘genus demonstrativum’ nur den Charakter eines abschreckenden Exempels annehmen. Liebeslyrik und sympotische Poesie wird von den Dichtern somit geschrieben, um in erzieherischer Absicht moraldidaktische Apotreptik ins Werk zu setzen: perch veggendo la giovent nella rappresentation ritratta la deformit del vizio, pi facilmente s’armeranno a resisterli, pi s’induranno a sprezzarli, meglio potranno abhorrirli. […] E perch il piacere come tiranno della vita nostra non solo scorge ma precipita la giovent , per ci i Poeti Lirici in se stessi pi volte ce lo rappresentano, quanto sia vano, quanto fuggitivo, quanto fallace.319

Die Lyrik stellt sich hier also in den Dienst eines „imparare con l’essempio“,320 und dies gilt im Bereich des ‘volgare’ zuvçrderst auch fr die Lyrik von Francesco Petrarca: „Il fine del quale [Messer Francesco Petrarca], come di tutti gli altri Poeti amorosi, tengo io che sia di scacciar da gli animi nostri l’eccesso di questa passione amorosa ch’ l’amor lascivo con l’immitatione delle sue passioni“.321 Diese moralisch negativierte, nur fr epideiktische Apotreptik taugliche italienische Liebeslyrik scheint nun zunchst mit dem aristotelischen Ansatz der Definition von Dichtung und speziell Lyrik nichts zu tun zu haben. In der Tat hatten wir zuvor bereits festgestellt, dass Epideixis und aristotelisierende, auf Katharsisprozesse abhebende Dichtungsdefinitionen in potenziellem Widerspruch stehen. Dessen ungeachtet setzt Torelli nun zu einer umfassenden aristotelisierenden Definition von Lyrik an – die freilich die affirmativ vorbildhafte, mit rhetorischen Strategien des Lobens hantierende Lyrik wieder außen vor lsst: 318 319 320 321

Torelli 2008, 600. Torelli 2008, 601. Torelli 2008, 601. Vgl. dazu insgesamt auch Vernazza 1964, 120 f. Torelli 2008, 602.

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2. Lyrik als Makrogattung

ð adunque il fine de i Lirici di purgar l’eccesso delle passioni co’l mezzo del diletto che dall’immitatione dell’istesse passioni e costumi de gli appassionati ci proviene. N altro diremo che sia la Poesia Lirica che immitatione di costumi e affetti diversi, fatta con diversa sorte di versi, congionti in un tempo con l’harmonia de i versi e ritmo de i piedi, per purgar gli animi da gli istessi affetti. Percioch cos sar differente e nella materia e ne gli istromenti e nel modo dall’Epica e Tragica e Comica Poesia.322

Mit der Doppelung von ‘affetti’ und ‘costumi’ als Gegenstand lyrischer Poesie hat sich Torelli die Mçglichkeit offengehalten, die epideiktische Dichtung erneut unter der Hand in diese Definition zu integrieren: Denn zwar hat man zu Recht festgestellt, dass im Gegensatz zu den (fr die Theoretisierung von Liebeslyrik zentral notwendigen) ‘affetti’ Torellis Begriff der ‘costumi’ dazu tendiert, sich teilweise recht schnell wieder zu verflchtigen.323 Aber Torelli holt die ‘costumi’ als Dichtungsgegenstand exakt dann wieder hervor, wenn es ihm um die Integration laudativer Lyrik vom Schlage Pindarischer Oden geht.324 Wie Torelli am Schluss seiner Lyrikdefinition betont, weist er ihr absolut distinktive Qualitt zu. Die Lyrik soll sich im Anschluss an diese Definition nach den aristotelischen ‘diaphora ’ Gegenstand („materia“), Mittel („istromenti“) und Modus („modo“) der Mimesis trennscharf von den anderen drei Makrogattungen Epik, Tragçdie, Komçdie abheben lassen. Dennoch sieht Torelli drei Hauptprobleme bei dieser aristotelisierenden Differenzierung bzw. drei mçgliche Einwnde gegen sie.325 Diese betreffen: (i) das Redekriterium und damit den Modus dichterischer Mimesis. (ii) den Gegenstand dichterischer Mimesis. (iii) das Verhltnis zwischen einer Auffassung von Poesie als Affektmimesis und einer Auffassung von Poesie als Epideixis.

322 Torelli 2008, 602 f. Vgl. zu dieser Definition auch Denarosi 2003, 104. 323 Vgl. Guerrero 2000, 171 f.: „Notons toutefois que, dans les trois ou quatre lignes qui s parent la d finition du commentaire, les coutumes disparaissent. […] Torelli laisse ainsi dans l’ombre les coutumes, gÞnantes, et, parall lement, rehausse de plus en plus la place qu’occupent les affects, traÅant le profil d’une po sie essentiellement amoureuse et en accord avec la finalit cathartique de la d finition.“ 324 Vgl. Torelli 2008, 604: „Sono dunque in Pindaro le vittorie occasioni di lodare, non cose lodate, e ci che si loda sono i costumi de gli Heroi.“ 325 Vgl. dazu auch Vernazza 1964, 119 f.

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ad (i). Unter Verweis auf das 24. Kapitel der aristotelischen Poetik 326 hlt Torelli ausdrcklich fest, der lyrische Dichter spreche zumeist in eigener Person, woraus sich die problematische Auffassung ergeben kçnne, er sei kein mimetischer Dichter (das hieße aber fr den Aristoteliker: er wre berhaupt kein Dichter): La prima [difficolt] sar che il Lirico non immita parlando egli sempre in propria persona. [folgt Verweis auf die genannte Stelle des Aristoteles] Ivi Aristotele, lodando Homero, vole che l’immitare sia parlare in persona d’altro. Il che facendo pochissime volte il Lirico, perch e Pindaro spesso et Horatio e il Petrarca quasi sempre conservano la persona loro, seguir che il Lirico contra la diffinition data immitator non sia.327

Diesen Einwand entkrftet Torelli umgehend mit dem Hinweis, die Ausfhrungen des Aristoteles in Kap. 24 betrfen (im Gegensatz zu der Mimesistheorie vom Beginn der Poetik) allein die epische Dichtung und seien fr die Lyrik nicht relevant.328 Zum Abschluss seiner Ausfhrungen zeigt sich, dass Torelli insgesamt bestrebt ist, das Redekriterium in der Lyriktheorie nicht dominant werden zu lassen. Ungeachtet einer quantitativen Prponderanz des lyrischen In-eigener-Person-Sprechens unterstreicht Torelli nmlich ausdrcklich die Freiheit des lyrischen Dichters 326 „Homer verdient in vielen Dingen Lob, insbesondere auch darin, daß er als einziger Dichter nicht verkennt, wie er zu verfahren hat. Der Dichter soll nmlich mçglichst wenig in eigener Person reden; denn insoweit ist er nicht Nachahmer. Die anderen Dichter setzen sich fortwhrend selbst in Szene und ahmen nur weniges oder nur selten nach. Homer dagegen lßt nach kurzer Einleitung sofort einen Mann oder eine Frau oder eine andere Person auftreten“ (bers. Fuhrmann). 327 Torelli 2008, 604. 328 „Perci io stimo che quella immitatione sia posta per spetie, non per genere, s come quel precetto a una spetie solamente, ch’ l’Epopeia, si appartiene. Percioch

Aristotele distinse chiaramente l’immitatione [folgt Verweis auf Kap. 3 der Poetik] ove dice che l’immitatione si fa o per via di narratione, e questa divide in due parti, o ponendo alle volte il Poeta se stesso in persona d’altri, come fa Homero, o conservando sempre la persona non mutata mai; nell’altro modo poi introducendo persone a negotiare. […] Dico ch’Aristotele in questa particella [Kap. 3] distinse l’immitation in universale in quanto serve a tutte le spetie di Poesia, e se disse di Homero, fu per l’essempio all’intelligenza, non per applicar ci all’Epico […]. Confessa dunque che l’immitatione propria narrando e conservando il Poeta la persona sua, n dice che questa sia meno immitatione o pi , poich tutte sono immitationi fatte a diversi modi. Ma nella particella 131 [Kap. 24] parla del modo dell’immitation Epica e l’applica quello ch’era proprio a quella parte, la quale chi non serva nell’Epico impropriamente immita, non come Poeta simplicemente ma come Epico, al quale la regola data“ (Torelli 2008, 607 f.). Vgl. dazu Regn 1987, 390; Chevrolet 2007, 465 f.

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bezglich des Redekriteriums, eine Ungebundenheit, die offenbar die Lyrik von anderen Gattungen unterscheidet: Sopra il modo mi si potria dire: perch non s’ detto ‘narrando’ o ‘introducendo altri a narrare’? […] Io perci mi risolvo che ne i modi sia il Lirico libero, ancorch per lo pi vi vegga il narrativo. Et ragione ch’essendovi chi narra solamente o facciasi in propria persona o in altra, come l’Epico, chi introduce solamente, come il Comico e Tragico, vi fosse anco nel campo della Poesia che l’uno et l’altro far potesse.329

Diese prinzipiell gegebene Nicht-Festgelegtheit der Lyrik auf eine bestimmte Ausformung des Redekriteriums macht allerdings selbiges als ‘diaphor ’ fr die Gattungssystematisierung weitgehend untauglich. Diese definitorische Schwachstelle hat Torelli erkannt und sucht sie zu unterlaufen, indem er ber weite Strecken unter dem ‘modo’ gar nicht mehr das Redekriterium versteht – obwohl ihm die Festlegung von ‘modo’ als aristotelischem ‘terminus technicus’ auf eben diesen Aspekt natrlich vertraut ist330 –, sondern den Begriff ‘modo’ zur Diskussion einer fr die Lyrik spezifischen Kombination der darstellerischen Mittel der Dichtung verwendet (ihn also vom Hauptbegriff der einen aristotelischen ‘diaphor ’ zu einem lyrikspezifischen Aspekt einer anderen ‘diaphor ’ transferiert): Denn unter Anspielung auf die aristotelische Diskussion der mimetischen Mittel (Poetik Kap. 1: Rhythmus, Sprache, Melodie bzw. Rhythmus, Melodie, Vers) theoretisiert Torelli im unmittelbaren Kontext seiner Lyrikdefinition unter dem Begriff ‘modo’ eine lyrikspezifische, nmlich synchrone Verwendung dieser drei Mittel: „Nel modo differisce [il Lirico] dal Tragico e Comico, congiungendo il ritmo et harmonia con i versi in un tempo istesso, dove essi li disgiungono.“331 Und Torelli insistiert: „Nel modo questa Poesia [la Lirica] per la diffinitione dall’altre differente, usando e ritmo et harmonia nell’istesso tempo, che l’Epico non usa et il Comico e Tragico 329 Torelli 2008, 659 f. Vgl. zum Problem des ‘modo’ bei Torelli auch Biagini 2008, 196 – 200, die allerdings nicht erkennt, wie Torelli den Begriff ‘modo’ phasenweise auf den Bereich der mimetischen Mittel verschiebt. 330 Vgl. neben der oben soeben zitierten Stelle etwa auch Torelli 2008, 622: „Questa divisione alla 3a si riduce che del modo da Aristotele chiamata, perch con diverso modo immitano quelli che la propria persona mantengono da quelli che altri a parlare introducono, o da quelli che parte introducendo altri, parte da se stessi parlando fanno l’immitatione.“ Torelli diskutiert brigens auch die in der Nomenklatur abweichende Behandlung des Redekriteriums durch Platon, vgl. Torelli 2008, 621 f. und s. Biagini 2008, 195 f. 331 Torelli 2008, 603.

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usano in vari tempi.“332 Somit bezieht sich der Begriff des ‘modo’ hier nicht mehr auf das Redekriterium, sondern auf eine spezifische, der Lyrik originre (allerdings im Lauf der Zeit augenscheinlich außer Gebrauch gekommene) simultane Form der Plurimedialitt.333 Whrend ‘modo’ im Sinne des Redekriteriums (wie oben gesehen) bei Torelli nicht zur Differenzierung der Gattung Lyrik beitragen kann, scheint er diesen neuen, nunmehr umdefinierten Begriff von ‘modo’ als differenzierendes Substitut verwenden zu wollen. An anderer Stelle konkretisiert er die Synchronie des Einsatzes von Vers, Rhythmus und Melodie als ursprngliche lyrische Wirkeinheit von Vers, Tanz und Gesang.334 Allerdings ist diese Wirkeinheit, mit der die lyrische Praxis Torellis definitorischem Zugriff gnzlich entsprechen wrde, durch die Entwicklung der zeitgençssischen Lyrikpraxis auf den reinen Textstatus zurckgestuft,335 soll heißen auf die spezifische Textur lyrischer Verse. Um die Lyrik hier trennscharf von anderen Gattungen separieren zu kçnnen, unterstreicht Torelli unter dem Rubrum der mimetischen Mittel wiederholt eine grundstzliche lyrische Heterometrie:336 L’istrumento dunque dell’immitation Lirica saranno la diversit de i versi, il ritmo e l’harmonia […] In questo sar il Lirico differente dall’Epico, che non usa che una sorte di versi, non usa numero o ritmo, n harmonia. Sar anco differente dal Comico e Tragico, che del Iambo solo si contentano, e se pur talhor lo volessero variare, di poco se ne partono, e diversit ordinaria di versi la sua non si p dire.337 332 Torelli 2008, 610. 333 Vgl. zum Medialittsaspekt Torellis ausfhrliche Diskussion der Relation von Malerei, Musik, Tanz und Dichtung in der fnften Lezione. 334 „Del modo s’intende quella particella ‘nello stesso tempo’ [Bezug auf Torellis eigene Lyrikdefinition, s. o. und vgl. Aristoteles, Poetik Kap. 1 Ende], percioch dato che talhora, come p facilmente occorrere, il Lirico usi il Iambo, non per ci conviene co’l Comico o co’l Tragico, se bene essi e del Iambo e dell’harmonia e del ritmo si servono, percioch essi lo fanno in vari tempi, non usando nell’attione il ritmo o ‘l canto ma ne i chori, parte diversa; dove che il Lirico e del Iambo e d’altra sorte di versi a questo corrispondente servendosi, la congionge sempre co’l canto e co’l ballo“ (Torelli 2008, 649). Vgl. dazu: „S’intende dunque quell’harmonia per la melodia delle voci refratte, che per la Muscia si conseguisce; et il ritmo per il moto de i piedi e di tutta la vita, che ballo da noi vien nomato“ (Torelli 2008, 655). 335 „Concluderemo hora che la Lirica co’l suono, co’l ballo e co’l verso fa la sua immitatione. N meraviglia se hora non s’usa accompagnarla, ch anco gli antichi si lamentavano che molte delle cose bene instituite erano andate in oblivione“ (Torelli 2008, 658). 336 Zur Rolle der Metrik in Torellis Theoriebildung vgl. allg. Vernazza 1964, 40 – 47. 337 Torelli 2008, 649.

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2. Lyrik als Makrogattung

Dabei muss Torelli freilich stillschweigend smtliche lyrischen Formen des ‘volgare’ als eine einzige kohrente Makrogattung zusammenfassen, innerhalb derer sich natrlich dann eine ‘Heterometrie’ ergibt. Ignorieren muss er dagegen, dass einzelne (und zwar teils sehr prominente) lyrische Formen wie das Sonett oder das Trecento-Madrigal ihre Isometrie reichlich unverhllt zur Schau stellen. Die Zuschreibung von Variation im Bereich der ‘numeri’ und der ‘harmonia’ wie berhaupt die Verwendung von ‘varie rime’ wird von Torelli durch das Gebot der Mimesis unterschiedlicher Affekte begrndet.338 Unter der Hand ergibt sich bei Torelli durch das Postulat der variierenden Affekte, die lyrikmimetisch darzustellen seien, eine Erosion der im Aristotelismus stets diskutierten Kategorie der gattungsdifferenzierenden ethischen Qualitt des in den Einzelgattungen jeweils zur Darstellung kommenden Personals.339 Damit ist die Reflexion erneut beim Problem des mimetischen Gegenstands angelangt. ad (ii). Die zentrale Schwierigkeit einer lyrikkompatiblen Definition des aristotelischen Gegenstands der Mimesis liegt in der Frage, ob und wie menschliche Handlungen340 als Gegenstand von Lyrik bestimmt werden kçnnen: Nasce la 2a difficolt contra la diffinition data dalla particella […] nella quale Aristotele conclude che chi immita, immita persone che facciano qualche cosa, e quindi inferisce le conditioni delle persone. Essendo dunque il soggetto dell’immitatione l’attioni humane, seguir contro la nostra diffinitione che o il Lirico non immitar, o immitando non immitar affetti ma attioni.341 338 Vgl. Torelli 2008, 649: „E se alcuno mi ricercasse perch tra tutti gli altri Poeti il Lirico usasse questa diversit di versi, io risponderei che ci procede dalla diversit de gli affetti“, dazu Vernazza 1964, 121; s. ferner Torelli 2008, 655, dort bes.: „E noi varie rime all’immitation di vari affetti adoperiamo, e chi altrimenti facesse, come pur troppo si fa, ridiculo appareria nel poetare.“ Vgl. Rinaldi in Torelli 2008, XXIII f. 339 Vgl. Torelli 2008, 650: „Dice Aristotele che le materie e soggetti dell’immitatione si variano per tre sorti di persone, per i megliori, per i peggiori, per i simili. Dove si scorgono meglio i megliori che nella Lirica, dove si celebrano le lodi de i D i? si cantano i pregi de gli Heroi? […] Dove si detesta pi i peggiori che in questa? […] Ne i simili vediamo per gli affetti humani di amore gli Elegi, di dolore hor gli stessi, hor i Giambi composti. S che per la diversit de gli affetti, per l’incerta qualit loro, ebbe bisogno il Lirico d’un s vario soggetto quale la diversit de i versi.“ 340 Vgl. Aristoteles, Poetik Kap. 2: „Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach“ (bers. Fuhrmann). 341 Torelli 2008, 604 f.

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Unter Berufung auf den Poetik-Kommentar von Piccolomini342 erweitert Torelli den Handlungsbegriff so weit, dass alle Arten von menschlichem Verhalten inklusive affektischer Haltung und charakterlicher Verfasstheit unter diesen Begriff fallen kçnnen. Derart erscheint ihm seine Lyrikdefinition hinsichtlich des mimetischen Gegenstands salviert: Alla 2a difficolt il Piccolomini intende per persone che facciano quel ‘fare’ universalmente in amplissima significatione, inquanto include non solo le vere attioni ma il parlare, il vedere, il sentire, il dormire e vegliare, e sino al verbo stare, che par che pi all’attione s’opponghi. Et inquanto questo verbo include affetti e costumi, si conoscono gli huomini o boni o rei, ch’era l’intento d’Aristotele in quella particella che per noi tutta. N noi neghiamo che a conoscer l’interior bisogna procedere a qualche esteriore; ma ben affermiamo che l’affetto et il costume il fine nella Lirica ancorch trattasse d’operatione.343

Dabei betont Torelli, ebenso wie die anderen Gattungen ihre ‘Handlungen’ nicht als partikulr, sondern unter Maßgabe der Wahrscheinlichkeit als universal konfigurierten, sei es auch dem Lyriker bei der Darstellungen von ‘affetti’ und ‘costumi’ nicht um partikulre Wahrheit, sondern um Allgemeingltigkeit zu tun.344 Quer zu dieser aristotelisierenden Argumentationslinie steht eine weiter ausgreifende in der vierten Lezione: Dort definiert Torelli (der in dieser Lezione u. a. platonistische Theoreme mit seiner aristotelischen Grundlinie vereinbaren will) generell „l’imagini“ als „materia“ der Dichtung.345 Daraus folge, dass „tutte le cose sensibili immitar si possino“, was sich zum einen in einer ‘immitatione’ von Dingen („cose“), andererseits in einer ‘immitatione’ von Worten („parole“) niederschlage.346 An letzteren Punkt knpft Torelli die Diskussion der „immitatione de i stili“ an und verweist explizit auf die Diskussion De imitatione von Pietro Bembo und Giovan Francesco Pico.347 Ganz offensichtlich kann Torelli angesichts der stilistisch-rhetorisch perspektivierten Diskussion um die rechte Weise der 342 Piccolomini 1575, 42. 343 Torelli 2008, 608 (vgl. dazu auch Chevrolet 2007, 470 f.). Weniger problembewusst ist dagegen die Vereinfachung, die Torelli spter vornimmt: „Dicemo dunque la prima differenza essere affetti e costumi, essendo la Lirica immitatione non d’attione, come la Comica, la Tragica, l’Epica, ma d’affetti e di costumi“ (Torelli 2008, 642). 344 Torelli 2008, 648. Vgl. allg. Vernazza 1964, 30 – 35. 345 Vgl. zu Torellis Theoretisierung von Dichtung als „astratta formazione di immagini mentali“ Denarosi 2003, 99; s. ferner Biagini 2008, 193 f. 346 Torelli 2008, 612. 347 Torelli 2008, 613.

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2. Lyrik als Makrogattung

‘imitatio auctorum’ nicht umhin, diesen Aspekt in die ganz anders gelagerte aristotelische Mimesisdebatte zu integrieren. Dies umso weniger, als jene Diskussion ber Pietro Bembos Installierung des orthodoxen lyrischen Petrarkismus eine stilistisch stark unifizierte und ber die Maßen erfolgreiche Praxis lyrischen Sprechens begrndet hatte.348 ad (iii). Das dritte Problem liegt in der Frage, ob epideiktische Lyrik es berhaupt mit Affektmimesis zu tun habe, und somit in der Frage, ob mit einem aristotelischen Ansatz die zuvor erfolgte epideiktische Funktionalisierung von Lyrik vereinbar sei: La 3a difficolt nasce ch’essendo una parte della Lirica che contiene le lodi de i D i e de gli Heroi, e ne i primi non essendo affetti, ne i secondi dalla virt heroica essendo sopiti, seguir che la diffinition a questa parte non convenghi, onde non abbracciar tutto il definito.349

Torelli scheint das von uns bereits diskutierte Strategem vergessen zu haben, der Epideixis weniger die ‘affetti’ als vielmehr die ‘costumi’ als Objekte zuzuweisen und sie somit der mit Mimesis sowohl von ‘affetti’ als auch von ‘costumi’ befassten Lyrik einzugliedern. Stattdessen behauptet er mit einer schlichten argumentativen Volte, die personifiziert dargestellten, laudativ zu behandelnden Gçtter wrden aufgrund der Personifikation auch mit ‘affetti’ ausgestattet.350 Dies stellt nicht nur die Selbstidentifikation der menschlichen Rezipienten mit den dargestellten Gçttern sicher und garantiert so eine moralische Wirkung der Dichtung, es sichert durch die Integration eines lyrischen ‘genus demonstrativum’ auch die Gltigkeit der aristotelisierenden Lyrikdefinition Torellis, die ansonsten („onde non abbracciar tutto il definito“, s. o.) in ihrer Tragfhigkeit und Tragweite invalidiert wre. Dass die Lyrik unter dem Vorzeichen des ‘genus demonstrativum’ dessen ungeachtet von Torelli als Schwierigkeit wahrgenommen wird, zeigt sich, wenn er in der siebten und letzten Lezione die lyrische Epideixis in ein historisches Entwicklungsmodell einzubauen versucht, wodurch epideik-

348 Zu Torellis Rekurs auf den Bembismus vgl. Genovese in Torelli 2008, 563. 349 Torelli 2008, 605. 350 „Alla 3a difficolt dicemo che a’ D i con le persone si danno gli affetti di misericordia e d’ira e d’amore, o per protegerci o per giovarci o per punirci, e questo giova a sedare e guarir le perturbation nostre, ch’ l’intento della Lirica.“ (Torelli 2008, 608).

2.5 Der moralisierte Aristoteles

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tische Hexametergedichte zur Urform von Dichtung werden.351 Dabei gert Torelli freilich in Gefahr, nicht nur die Grenze zwischen Lyrik und Epik formal zu verwischen, sondern auch, im Rckgriff auf das nunmehr (als sei es vçllig problemlos) auftauchende Moment der Nachahmung von Handlungen (‘attioni’), die zuvor mhsam etablierte Erweiterung des dichterischen Gegenstandsbereichs auf ‘affetti’ und ‘costumi’ wieder zu kassieren.

351 „Onde non come alcuni vogliono, che quel Heroico fosse una bozza del verso Heroico, ma come cosa commune all’Heroico e Lirico si deve riputare; e che Lirico prima per gli imni fosse, poi per immitation d’attioni humane Heroico divenisse. Perci vediamo i primi imni in essametri composti, onde pare che la Lirica partorisce e la Tragica e la Comica Poesia, poich la prima divisione di lode e vituperio, ch’ propria del Lirico, e le vili e le magnifiche attioni abbraccia. […] Anzi dove comenci la Poesia, sempre par che da Lirici avesse principio“ (Torelli 2008, 656 f.).

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2. Lyrik als Makrogattung

2.6 Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie und typologisches Gattungskonzept im Kontext mimetischer Poetik Dreh- und Angelpunkt von Tassos poetologischem Interesse ist das Heldenepos. Die berlegungen zum ‘poema eroico’ werden freilich im Rahmen einer systematischen Poetik entwickelt, die das neu zu formulierende Ideal eines zeitgençssischen Heldengedichts in Relation zu anderen Gattungen bringt und dabei insbesondere der Lyrik betrchtliche Aufmerksamkeit schenkt. So kommt es, dass der ambitionierte Poetologe des ‘poema eroico’ zugleich als ein Lyriktheoretiker Kontur gewinnt, dem es um einiges besser als den anderen Dichtungstheoretikern seiner Zeit gelingt, der Lyrik als zentraler Gattung rinascimentaler Dichtung ein im Ansatz einheitliches Geprge zu verleihen. Mit Tasso erhlt die Lyrik eine Matrix, die das vorwiegend metrisch bestimmte, additive Ensemble der ‘poesie picciole’, das gattungspoetologisch dem von Genette so genannten amorphen Gebilde einer „poussi re des petites formes“ zuzuschlagen wre,352 halbwegs berzeugend in eine Makrogattung mit erkennbarer Identitt zu berfhren vermag. Voraussetzung dafr ist, dass der berzeugte Aristoteliker sich, anders als Trissino, Scaliger oder Minturno, mit deren poetologischen Schriften er bestens vertraut war, und auch anders als prominente Kommentatoren der aristotelischen Poetik wie Piccolomini oder Vettori, die Tasso ebenfalls im Detail kannte,353 nicht lange mit den notorischen Integrationsproblemen aufhlt, die die Poetik des Stagiriten hinsichtlich der Lyrik aufwirft.354 Stattdessen lenkt Tasso sein Augenmerk ganz auf das Feld plural gewordener Stiltheorie. Der Versuch, die Gattung der Lyrik von der Stillehre aus zu konzipieren, bietet ihm die Mçglichkeit, das eher rigide dialektisch-differenzielle Gattungsdenken des Aristotelismus auf ein typologisches Gattungskonzept hin zu çffnen, dessen Flexibilitt dazu beitrgt, die Spannungen zu gltten, die aus der Interferenz von Gegenstandsdecorum und Gattungsaptum ebenso resultieren wie aus den Friktionen von intensionaler Neubestimmung der Gattung und ihrer traditionell vorausgesetzten Extension. 352 Genette 1986, 33. Gelegentlich wird das Ensemble der metrischen Formen, die in der Kategorie der ‘picciole poesie’ zusammengefasst sind, auch mittels des synekdochisch gebrauchten Begriffs der ‘canzoni’ benannt, so etwa bei Trissino oder Muzio. Vgl. dazu Behrens 1940, 72 u. 80. 353 Zu Tassos poetologischem Wissen vgl. Baldassarri 1999, 361 – 409. 354 Zu Trissino, Scaliger und Minturno vgl. die respektiven Kapitel in diesem Band; zu Vettori und Piccolomini vgl. Regn 1987, 390 f.

2.6 Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie

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Poetologische Schriften zur Lyrik. Sein stiltheoretisch fundiertes Lyrikkonzept entwickelt Tasso vor allem in den beiden poetologischen Discorsi: in den Discorsi dell’arte poetica,355 die, je nach Datierung, zwischen 1561 und 1564 entstanden sein drften, sowie in den Discorsi del poema eroico,356 die das Ergebnis einer in den Grundzgen 1587 durchgefhrten berarbeitung der frhen Discorsi sind, die aber – vermutlich nach einigen weiteren Retuschen – erst 1594 kurz vor Tassos Tod publiziert wurden. Komplementr zu den Discorsi ist eine Reihe von Briefen aus dem Corpus der Lettere poetiche, die vornehmlich aus den Jahren 1575 und 1576 stammen und in denen die Mçglichkeiten des Lyrischen im Epos mit den respektiven Briefpartnern ausgehandelt werden.357 Weniger komplementr als – zumindest auf den ersten Blick – eher antagonistisch zu der in den Discorsi formulierten Lyriktheorie sind die Lezione sopra il sonetto di Monsignor della Casa,358 die zwischen 1564 und 1567 entstanden sein drfte, sowie die Considerazioni sopra tre canzoni di M. Gio. Battista Pigna,359 die gemeinhin auf 1568 datiert werden: antagonistisch deshalb, weil die genannten Abhandlungen die Mçglichkeiten einer Lyrik erkunden, die sich dezidiert am ‘genus grande’ orientieren will und die deshalb mit der Lyrikauffassung der Discorsi nur schwer kompatibilisierbar zu sein scheint. Eine gewissermaßen vermittelnde Position kommt dem Dialog La Cavaletta ovvero della poesia toscana 360 zu, der aus dem Jahr 1585 stammt und damit aus einer Zeit, zu der die berarbeitung der Discorsi nicht mehr fern ist. In dieser ‘disputa’ ber die Lyrik im ‘volgare’ skizziert Tasso denn auch Kompromissmçglichkeiten, die die Widersprche zwischen den bis dahin vertretenen LyrikKonzepten wenigstens ansatzweise zu gltten versprechen und die dann in den Discorsi del poema eroico ihren Widerhall finden werden. Lyrik, concetti und favola. Fr Tasso ist die Poetik eine ‘ars’, deren oberstes Ziel es ist, allgemein gltige Dichtungsregeln zu formulieren. Orientierung gibt dabei die Autoritt der Alten, allen voran die des Aristoteles. Die in den Discorsi entworfene Poetik ist deshalb eine solche auf aristotelischer Grundlage. Dies bedeutet erstens, dass das Kriterium der Mimesis basales 355 Tasso 1977, 3 – 64 (= DAp). 356 Tasso 1977, 141 – 383 (= DPe). 357 Zum Corpus dieser Briefe vgl. Grosser 1992, 222 – 248. Von Belang sind vor allem die Briefe 25, 31, 70, 74, 75, 77, 78. Zhlung nach der Edition von Guasti (s. Tasso 1852 – 55). 358 Tasso 1823a, 42 – 60. 359 Tasso 1823a, 1 – 34. 360 Tasso 1965, 90 – 151.

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Definiens von Dichtung ist; es besagt zweitens, dass der Gegenstand der Nachahmung handelnde Menschen sein sollen, oder, in der umakzentuierenden Formulierung rinascimentaler Poetiker, „azioni umane“;361 und es impliziert drittens, dass die menschlichen Handlungen in geeigneter Weise zur „favola“362 geformt werden mssen, und zwar vor allem, aber nicht nur, mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit des Nachgeahmten.363 Wenn Tasso in den aristotelisch grundierten Discorsi auf die Lyrik zu sprechen kommt und diese dabei wie selbstverstndlich als gltige Realisationsform von Dichtung begreift – also als eine Species des Genus der ‘poesia’364 – dann ist eigentlich vorausgesetzt, dass die genannten Definitionsmerkmale der Dichtung auch fr die „poesia lirica“365 Gltigkeit besitzen. Anders als das Gros der rinascimentalen Aristoteliker, die entweder der Lyrik das volle Stadtrecht in einer mimetischen Dichtungskonzeption verwehren oder aber die semantischen Implikate der dichtungskonstitutiven Kriterien reformulieren – z. B. dahingehend, dass der Begriff der „menschlichen Handlungen“ dergestalt umgestellt wird, dass auch Phnomene wie die Leidenschaften darunter subsumierbar werden –,366 sucht Tasso sich des Problems hauptschlich durch den Rckgriff auf eine suggestive Rhetorik zu entledigen. In den Discorsi dell’arte poetica wird die Frage, wie Lyrik zu 361 Tasso 1977, 151 (DPe). 362 Tasso 1977, 22 (DAp). 363 Tassos ‘favola’ entspricht mithin dem, was wir heute ‘plot’ nennen: „favola chiamo la forma del poema che definir si pu testura o composizione degli avenimenti.“ (Tasso 1977, 22 (DAp)). hnlich, aber weniger przise die Formulierung von Tassos Zeitgenossen Giulio del Bene (1972, 192): „la […] favola altro non se non una composizione di uomini che fanno qualche azione“. Die Bedeutung von ‘favola’ bei Tasso unterscheidet sich somit von derjenigen, die der Terminus im voraristotelischen poetologischen Schrifttum hatte. Dort wurde mit ‘favola’ vorwiegend eine dem gngigen Wirklichkeitsmodell nicht verrechenbare, frei erfundene Geschichte bezeichnet (wie etwa die mythologischen ‘favole’ der Alten). Aristoteliker wie Tasso greifen auf den traditionell vorgeprgten Begriff der ‘favola’ deshalb zurck, weil in ihren Augen die Herstellung eines (wahrscheinlichen) Handlungsgefges in der Regel Akte des Fingierens erforderlich macht. 364 Prmisse ist die Feststellung: „La poesia ha molte spezie“ (Tasso 1977, 146 (DPe)). Wenn dann spter von der „poesia lirica“ (Tasso 1977, 338 (DPe)) die Rede ist, dann ist klar, dass die ‘lirica’ als eine Species der Dichtung begriffen wird. 365 Tasso 1977, 338 (DPe). 366 So etwa bei Pomponio Torelli, vgl. dazu Kap. 2.5. Gelegentlich wird der Handlungsbegriff bei den Aristotelikern ins Extreme gedehnt, so dass darunter auch „il parlare, il vedere, il sentire, il dormire“ fallen kçnnen, vgl. Piccolomini 1575, 42. Wird dieses Argument auf die Lyrik appliziert, so ist sie mimetisch salviert; vgl. dazu del Bene 1972, 197 – 204.

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bestimmen sei, im Kapitel ber die ‘elocutio’ verhandelt – die frhen wie spten Discorsi passen die aristotelische Poetik in das basale Gliederungsschema der Rhetorik ein und handeln die relevanten Aspekte mimetischer Dichtungslehre unter den Kategorien von ‘inventio’, ‘dispositio’ und ‘elocutio’ ab. Lyrik wird, wie bereits erwhnt, von der Stillehre her gedacht, wobei ‘Stil’ nicht einfach als bloßes Phnomen der ‘elocutio’ bestimmt ist, sondern vielmehr als Konditionierung des Wortmaterials (d.i. der Worte und ihrer Verbindungen) durch „concetti“367 genannte Vorstellungen von den darzustellenden Sachverhalten; Stil ist also die Verschrnkung von ‘concetti’ und ‘parole’, bei klarer Priorisierung der ‘concetti’: ð opinione de’ buoni retori antichi che, subito che ’l concetto nasce, nasce con esso lui una sua propriet naturale di parole e di numeri con la quale dovesse essere vestito.368

Wesenskern der Lyrik sind deshalb, noch vor allen Fragen von Metrik und Sprachgebung, die „concetti lirici“.369 Die konstitutive Bedeutung der ‘concetti’ fr sein Lyrikkonzept nimmt Tasso in den frhen Discorsi dell’arte poetica zum Anlass einer Vergleichung der Lyrik mit den evident handlungsbezogenen Gattungen, also Epos und Tragçdie. Fr den Lyriker seien die ‘concetti’ das, was fr den Epiker oder den Tragiker die ‘favola’ sei: Se vorremo trovare parte alcuna nel lirico che risponda per proporzione a la favola degli epici e de’ tragici, niun altra potremo dire che sia se non i concetti: perch s come gli affetti e i costumi si appoggiano su la favola, cos nel lirico si appoggia su i concetti. Adunque, s come in quelli l’anima e la forma loro la favola, cos diremo che la forma in questi lirici siano i concetti.370

Diese Feststellung beinhaltet eigentlich nicht weniger als das Zugestndnis, dass es der Lyrik an einer ‘favola’ (also einem ‘plot’) gebricht, deren Basis ja wiederum die fr die dichterische Mimesis konstitutiven menschlichen Handlungen sind. Der Passus gibt zudem unmissverstndlich zu verstehen, dass Tasso sich den in der Aristoteles-Kommentierung gelufigen Trick, Ethos und Leidenschaften ohne viel Federlesens zu Ausprgungen menschlicher Handlungen umzudeklarieren, gerade nicht zu eigen machen mçchte. Tasso freilich geht es nicht darum, mit diesem Abgleich der Lyrik 367 368 369 370

Tasso 1977, 49 (DAp). Tasso 1977, 58 (DAp). Tasso 1977, 63 (DAp). Tasso 1977, 57 f. (DAp). Eine Korrelierung von ‘concetti’ und (explizit als aristotelisch ausgewiesener) ‘favola’ nimmt Tasso auch in seiner Lezione ber das Sonett Della Casas vor, vgl. Tasso 1823a, 47. Zum Konnex von ‘favola’ und ‘concetto’ in der Lyriktheorie des Cinquecento vgl. auch Chevrolet 2007, 468 – 470.

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mit Epos und Tragçdie erstere als bloß unvollkommene Dichtung auszuweisen, im Gegenteil: Sein Ziel ist es gerade, die Lyrik ber die Postulierung einer vermeintlichen Funktionsquivalenz von episch-tragischer ‘favola’ und lyrischem ‘concetto’ suggestiv in das Strahlungsfeld mimetischer Dichtungsauffassung einzubringen.371 Dies scheint Tasso schon allein deshalb angezeigt, weil auch fr ihn Dichtung per definitionem Mimesis sein muss: „[l]a poesia non in sua natura altro che imitazione; e questo non si pu richiamare in dubbio“.372 Die suggestive Verknpfung von ‘concetto’ und ‘favola’ ist aber eine prekre Sache – sie kann, wie eben erwhnt, auch entgegen Tassos eigentlicher Intention als Beleg fr das mimetische Defizit der Lyrik genommen werden; Tasso trgt dem Rechnung, indem er in der Sptfassung der Discorsi das Argument kurzerhand streicht.373 Diese Entscheidung wird fr Tasso nicht zuletzt dadurch erleichtert, dass fr ihn seit Mitte der achtziger Jahre bereits das bloße „rassomigliare“,374 also die Verfertigung von dichterischen Bildern der „cose sussistenti“,375 zu einem potenziell – das ‘potenziell’ ist zu unterstreichen – mimetischen Akt gert: „imitare non altro che rassomigliare“.376 Epistemologisch ist diese Position platonistischer Herkunft und sie erçffnet – zumindest im Allgemeinen – die Mçglichkeit, die ‘concetti’ auf andere Weise als durch die eher dubiose Analogisierung mit der ‘favola’ in den Horizont der mimetischen Poetik einzurcken. Voraussetzung dafr ist brigens, dass fr Tassos Theorie der 371 Bloß vermeintlich ist die postulierte quivalenz deshalb, weil die logische Entsprechung der ‘concetti lirici’ in Tragçdie und Epos selbstredend die diesen beiden Gattungen gemßen ‘concetti’ sind und nicht die tragische bzw. epische ‘favola’. 372 Tasso 1977, 8 (DAp). 373 Vgl. dazu Regn 1987, 394 f. Tasso verzichtet darauf, bei der Behandlung der LyrikProblematik im 5. Buch der Discorsi del poema eroico eine (gegenber der Frhfassung neu hinzugefgte) Vorlage aus dem 1. Buch aufzugreifen, wo er – mit Blick auf die mimetische Salvierung Dantes – das Denken in Form der „contemplazione“ als „azione de l’intelletto“ (Tasso 1977, 148 (DPe)) und damit als eine spezielle Art menschlicher Handlung verortet und damit mimesisfhig macht. Warum er diesen Gedanken nicht nutzt, um die ‘concetti’ als solche zu potenziellen Manifestationen geistiger Ttigkeit und damit von menschlichem Handeln zu machen, gibt der Blick auf die Considerazioni sopra tre canzoni di M. Gio. Batista Pigna von 1568 zu erkennen. Dort gibt Tasso zu verstehen, dass Gedankliches vor allem dann als Ausdruck ‘innerer Handlungen’ gelten kann, wenn es sich zu einem „argomento continuato“ (ber mehrere Gedichte hinweg) fgt, gleichsam zu einer „immagine di favola“, was, wie mit Blick auf Petrarca vermerkt wird, in der Lyrik blicherweise nicht der Fall ist. Vgl. Tasso 1823a, 5 f. 374 Tasso 1977, 191 (DPe). 375 Tasso 1977, 182 (DPe). 376 Tasso 1964, 191.

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Dichtung im Lauf der Jahre die systematische berblendung des Aristotelismus durch platonisierendes Gedankengut eine immer strkere Bedeutung erlangt.377 Dass aber auch dieser potenzielle Ausweg mit Blick auf die mimetische Legitimierung der Lyrik ein bloß vermeintlicher ist, wird gleich zu sehen sein. Lyrik und aristotelisches Redekriterium. Die Strategie des Verschweigens, deren er sich in der Sptfassung der Discorsi hinsichtlich der Frage bedient, ob die Lyrik die von der aristotelischen Poetik geforderten Mimesis-Kriterien erfllt, praktiziert Tasso auch in Hinblick auf die im RenaissanceAristotelismus gerade bezglich der Lyrik viel diskutierte Frage des Redekriteriums. Die platonisch inspirierte (vgl. Politeia 3.392d – 394c) Bemerkung aus dem 24. Kapitel der Poetik, dass der Dichter desto mehr ein Dichter im Modus der Nachahmung sei, je mehr er seine Rede an andere Personen delegiere und je weniger er deshalb in eigener Person spreche – diese umstrittene Aussage des Aristoteles ignoriert Tasso in den Discorsi ganz einfach und entledigt sich so der hermeneutischen Qualen, die das Redekriterium den meisten Renaissance-Poetikern bereitet: Der narrative Modus wird in den Discorsi ohne weitere Debatte (und dies brigens durchaus im Einklang mit den Prmissen der Poetik des Stagiriten) als gltige Realisierungsvariante des Mimetischen angesetzt.378 Lyrik und Mittel der Nachahmung. Das prekre Verhltnis der Lyrik zur Mimesis betrifft aber nicht nur den Gegenstand der Nachahmung (die menschlichen Handlungen) und die Art und Weise der Nachahmung (das Redekriterium), sondern auch die sprachlichen Mittel, mit denen das „rassomigliare“379 bewerkstelligt wird. Dies deshalb, weil das hnlichMachen im Bereich der Dichtung an ganz spezifische Techniken sprachlicher Darstellung gebunden bleibt, fr die die Lyrik, so wie Tasso sie 377 Zum ‘rassomigliare’ und seiner Bindung an platonisierende Vorstellungen von Nachahmung vgl. mit Blick auf Tasso bes. Hathaway 1962, 48 – 50. 378 Die Problematik des Redekriteriums und die damit verbundenen Diskussionen kannte Tasso natrlich, aber er blendet sie in den Discorsi bezeichnenderweise aus, vermutlich um eine Hufung jener Aspekte zu vermeiden, die den mimetisch prekren Status der Lyrik allzu hell ausgeleuchtet htten. In anderen Schriften, in denen das Problem der Lyrik keine Rolle spielt, sucht er gelegentlich den Einklang mit dem Wortlaut der Poetik und deklariert das „parlare in persona propria“ zu einem mimetischen Modus geringerer Gte, vgl. etwa den ‘Giudizio’ ber die Gerusalemme liberata, in: Tasso 1823b, 300 f. 379 Tasso 1977, 191 (DPe).

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2. Lyrik als Makrogattung

versteht, wenig disponiert scheint. Zur zentralen Bedeutung des ‘ben rassomigliare’ fr die mimetische Poetik heißt es etwa bei Castelvetro: La dirittura dell’arte poetica consista nel sapere ben rassomigliare, cio presentare chiaramente agli occhi della mente con parole armonizzate quello che ci lontano o per distanza di luogo o per distanza di tempo, e farcelo vedere non altramente che se ci fosse dinanzi agli occhi della fronte e che in ci abbia la poesia la sua perfezione.380

Tasso teilt natrlich diese Auffassung, denn auch er setzt ja, wie oben schon festgehalten, hnlich-Machen und Imitieren in eins. Genau wie Castelvetro tut er dies mit Blick auf das Verfahren der ‘evidenza’, das in seiner rinascimentalen Interpretation zum bevorzugten Instrument mimetischer Sprachverwendung wurde:381 „ogni imitazione“, so Tasso, „ha seco l’evidenza“.382 Was nun im Prinzip gilt, erfhrt in Hinblick auf die Lyrik eine Einschrnkung, so dass auch die Kategorie des ‘rassomigliare’ nur bedingt die ihr eigentlich zugedachte Funktion eines Rettungsankers fr die mimetische Salvierung der Lyrik erfllt. Denn dadurch, dass Tasso – wie gleich noch nher erlutert wird – seine Vorstellung von Lyrik aus der Stillehre ableitet und dabei dem mittleren Stil eine tragende Rolle einrumt, beschneidet er der Lyrik bezglich der Mittel der Nachahmung ihr mimetisches Potenzial. Der mittlere Stil, der lustvoll auf die Flle des Redeschmucks setzt, taugt nmlich nur bedingt fr den Gebrauch der (wahlweise ‘energia’ genannten) ‘evidenza’: Non ha tanta forza di commover gli animi il mediocre stile quanto ha il magnifico, n con tanta evidenza il fa capace di ci ch’egli narra, ma con un soave temperamento maggiormente diletta. Stando che lo stile sia istrumento co ‘l quale imita il poeta quelle cose che d’imitare si ha proposte, necessaria in lui l’energia: la quale s con parole pone innanzi a gli occhi la cosa che pare altrui non d’udirla, ma di vederla.383

380 Castelvetro 1978 – 1979, Bd. 2, 239. 381 Zur mimetischen Karriere der ‘evidenza’, deren Basis die Verschmelzung von ‘en rgeia’ und ‘en rgeia’ ist, wobei wiederum ‘en rgeia’ in der Vettori-bersetzung der aristotelischen Rhetorik aufgrund eines Fehlers in der Textberlieferung begrifflich mit ‘m mesis’ identifiziert wurde, vgl. Regn 1987a, 397 – 399. Tassos ‘evidenza’ verknpft somit die partikularisierende Beschreibung (die ‘evidentia’ bzw. ‘illustratio’ der lateinischen Rhetorik) mit den Darstellungsverfahren dynamisierender Belebung (der aristotelischen ‘en rgeia’). 382 Tasso 1977, 365 (DPe). Begrifflich setzt Tasso ‘evidenza’ brigens mit ‘energia’ gleich, vgl. Tasso 1977, 363 (DPe). 383 Tasso 1977, 55 (DAp).

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Der Passus besagt nichts anderes, als dass die Lyrik ein wesentliches dichtungskonstitutives Kriterium nur unzulnglich erfllt. In der berarbeitung, die ja anders als die Frhfassung der Discorsi fr die ffentlichkeit gedacht war, greift Tasso auf seine bewhrte Taktik zurck und immunisiert das Problem, das er in der Frhfassung noch unverkennbar als solches markiert hatte, indem er den Konnex zwischen ‘energia’ / ‘evidenza’ und Lyrik ganz einfach auflçst und das Problem so aus dem Fokus der Wahrnehmbarkeit nimmt. In den Discorsi del poema eroico bleibt die Lyrik selbstredend auf das Ergçtzen bezogen; und ebenso selbstredend wird der ‘energia’ / ‘evidenza’ nichts von ihrer Wichtigkeit genommen. Doch ein Zusammenhang zwischen beiden Gegebenheiten wird nicht mehr hergestellt. Bei der Behandlung des Komplexes von ‘energia’ / ‘evidenza’ bleibt die Lyrik außen vor, und von ihrer geringen Tauglichkeit fr den mimetischen Sprachgebrauch wird ganz einfach kein Aufhebens mehr gemacht.384 Philosophische Implikationen des concetto-Begriffs. Tasso spielt bei seinen Ausfhrungen zur Lyrik die Mimesisproblematik also gezielt in den Hintergrund. Im Vordergrund des Interesses steht stattdessen eine von der Mimesisfrage entlastete Stildiskussion, deren gedanklicher Anker der Begriff des ‘concetto’ ist.385 Diesen fr sein Lyrikkonzept grundlegenden Begriff hat Tasso aus De anima bezogen und damit aus einem aristotelischen Traktat, der bereits seit der Sptantike tendenziell im Licht des Neuplatonismus rezipiert wurde.386 Whrend die Dinge außerhalb der menschlichen Seele existieren,387 sind die ‘concetti’ innerseelische Bilder der Dinge, die die Einbildungskraft (‘phantasia’) hervorbringt und die, wie sich noch zeigen wird, als Produkte des prrationalen Imaginationsvermçgens affektisch grundiert sind:

384 Die Ausfhrungen zur ‘energia’ / ‘evidenza’ finden sich in Tasso 1977, 363 – 369 (DPe). 385 Tassos Begriffsverwendung ist noch klar von der des sich bereits ankndigenden Konzeptismus geschieden: Dort meint ‘concetto’ in sehr viel eingeschrnkterer Weise die sprachlichen Produkte arguten Denkens. Die Provenienz des Begriffs aus De anima thematisiert der Tasso-Adept Pellegrino (1898, 332). 386 Vgl. Blumenthal 1996. Die neuplatonisch kolorierte Rezeptionsgeschichte von De anima erleichtert Tasso sein Unterfangen, Aristotelisches und Platonisches auch bei der Formulierung seiner Lyriktheorie miteinander zu verschmelzen. 387 „Cose sono quelle che sono fuori de gli animi nostri e che in se medesime consistono“ (Tasso 1977, 59).

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2. Lyrik als Makrogattung

Concetti non sono altro che imagini delle cose: le quali imagini non hanno soda e reale consistenza in se stesse come le cose, ma nell’animo nostro hanno un certo loro essere imperfetto; e quivi da l’imaginazione sono formate.388

Obschon die ‘concetti’ in ontologischer Hinsicht defizitr sind – Tasso spricht von ihrem „unvollkommenen Sein“ –, kçnnen sie auf dem Feld der Knste gleichwohl eine Basis fr die Idealformen bilden, nach denen die Knstler dann ihre konkreten Werke verfertigen. Solche Idealformen, deren Grundlage nach Tasso je spezifische Seelenbilder sind, sind beispielsweise die ‘genera dicendi’. Mit Blick auf derartige Idealformen przisiert Tasso, dass es sich bei ihnen nicht einfach um prexistente Ideen handelt, die nach (neu)platonischer Auffassung ihren Sitz in der ‘mens divina’ haben, sondern um ‘exemplarische Formen’, deren Ort die menschliche Seele ist. In dem spten Dialog Il Ficino ovvero dell’arte 389 lsst der ‘princeps sermonis’ dazu Folgendes verlauten: ð necessario che ne la mente siano avanti le forme essemplari di tutte le cose, ma ne la mente divina le sostanze solamente, perch de le cose artificiose non sono le divine idee; ma ne l’anima de l’artefice per opinione d’Aristotele ancora sono le ragioni artificiali de le cose operate, come dichiara Siriano nel XII de la Metafisica; e queste da noi sono chiamate idee, e cos chiam Marco Tullio quella del suo oratore, ed Ermogene le forme del parlare.390

Der Fortgang des Dialogs, dessen Wortfhrer ja nicht umsonst der berhmteste aller rinascimentalen Neuplatoniker391 ist, gibt der aristotelischen Argumentation dann eine unverkennbare Wendung ins Platonische, indem er klar macht, dass die Prinzipien der ‘cose artificose’ im Feld von Dichtung und Oratorik zwar keine gçttlichen Ideen sind, aber dennoch der menschlichen Seele gleichursprnglich. Sie sind damit anthropologische Universalien: Laonde si pu assolutamente affermare che prima d’alcun poema, o greco, o italiano, o ebreo o d’altra lingua, fosse l’arte et la ragione del poetare, nata peraventura insieme con l’anima nostra, la qual fu da Iddio composta di numeri armonici e di musiche proporzioni.392

388 389 390 391

Tasso 1977, 49 f. (DAp). Der Dialog stammt aus dem Jahr 1592. Tasso 1965, 384. Die neuplatonische Kolorierung wird zudem durch die Bezugnahme auf Syrian verstrkt, dessen Aristoteles-Kommentar ja einen dezidiert neuplatonischen Zuschnitt hat. 392 Tasso 1965, 385.

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Die Dichtkunst und die Rhetorik, die fr die ‘ars poetica’ auch im Rahmen der Neuentdeckung der aristotelischen Poetik von konstitutiver Bedeutung bleibt, haben mithin beide als ihr Ziel die Herausarbeitung von universell gltigen Regeln. Diese sollen sich in der Konturierung der respektiven ‘forme essemplari’ bzw. ‘idee’ niederschlagen, zu denen fr Tasso insbesondere die Gattungen (als Species des Genus der Dichtung) zhlen. Eine solche Species ist nicht nur das Heldenepos, von dem es ganz am Beginn der Discorsi del poema eroico heißt: „dovendo dunque io mostrar l’idea de l’eccelentissimo poema eroico, […] debbo […] insegnare come egli si possa fare“;393 vielmehr gehçrt auch die Lyrik zu den Dichtungsgattungen, die zentral gestellt sind und die wie das Heldenepos implizit als eine Art erster Ordnung behandelt werden.394 Mit anderen Worten: Auch die Lyrik reprsentiert eine ‘idea’. Greifbar wird diese Idee der Lyrik in dem ihr eigenen Stil, dem „stile del lirico“.395 Dessen Basis wiederum sind bestimmte Stile aus dem Ensemble der rhetorischen ‘genera dicendi’, die, wie zu sehen war, ebenfalls den Status von „Ideen“ im Sinn von „forme essemplari“ der „cose artificiose“396 haben. Lyrik und ‘genera dicendi’. Welches sind nun die ‘genera dicendi’, die fr den Stil des Lyrikers konstitutiv sind? In den Discorsi dell’arte poetica stellt sich die Sache einfach dar: Quelle des Lyrischen ist das ‘genus medium’ der Dreistiltheorie, wie sie vor allem durch die lateinische Rhetoriktradition berliefert worden war. Am Beginn der Ausfhrungen zur Stilproblematik, also am Anfang des Discorso terzo, hlt Tasso lapidar fest: „Tre sono le forme de’ stili: magnifica o sublime, mediocre ed umile“,397 und kurz danach heißt es:

393 Tasso 1977, 145 (DPe). 394 Terminologisch erwhnenswert ist, dass Tasso, wenn er von der Lyrik spricht, diese vorzugsweise metonymisch ber ihren Produzenten benennt, also den lyrischen Dichter: ‘il lirico’. Die Species erster Ordnung werden in unserer Darstellung mit Begriffen wie Makrogattung, Großgattung, zentrale Gattung etc. benannt. Die metrisch-strophischen Formen, also Sonett, Madrigal, Ballata etc. sind Unterarten der Lyrik und damit Species zweiter Ordnung. Vgl. dazu auch Tasso: „Aggiungasi che il sonetto parte, o specie della lirica poesia“ (Tasso 1823a, 46). 395 Tasso 1977, 49 (DAp). 396 Tasso 1965, 384. 397 Tasso 1977, 46 (DAp).

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2. Lyrik als Makrogattung

Lo stile del lirico poi, se bene non cos magnifico come l’eroico, molto pi deve essere fiorito ed ornato; la qual forma di dire fiorita (come i retorici affermano) propria della mediocrit. Fiorito deve essere lo stile del lirico […].398

Tassos Ausfhrungen konvergieren mit der lateinischen Rhetoriktradition. Dort, etwa bei Quintilian (Inst. Or. 12.59) ist ‘floridum’ die bevorzugte Bezeichnung fr den mittleren Stil; bei Cicero (Orator 91 – 92, 95) gilt, ebenso wie bei Tasso, die hohe Verdichtung des Ornatus als besonderes Kennzeichen des mittleren Stils.399 Auch die „soavit“,400 die Tasso als Charakteristikum des Lyrischen auffhrt, ist ciceronianisch gedeckt: sie entspricht der ‘suavitas’, die das ‘genus medium’ ebenso auszeichnet wie die Ornatdichte (Or. 91 – 92). Auch die besondere Eignung des ‘genus medium’ fr das Ergçtzen (‘delectare’) bertrgt Tasso von Cicero (Or. 69) auf die vom mittleren Stil her gedachte Lyrik.401 Die Zurechnung von Figuren wie der Antithese402 sowie auch der Kategorie der „bellezza“403 zum Lyrischen geben freilich zu erkennen, dass Tassos Stiltheorie von Anfang an auf ein breiteres Repertoire von Systematisierungen geçffnet war als das der Dreistiltheorie lateinischer Provenienz: Die genannten Aspekte kçnnen den hellenistischen Horizont sowohl der Vierstiltheorie des Pseudo-Demetrios wie den der Lehre des Hermogenes von Tarsos von den sieben Stilen evozieren. Die Relevanz der Stillehre des Hermogenes wie derjenigen des Pseudo-Demetrios ist denn auch bereits in der Lezione sopra il sonetto di Monsignor Della Casa explizit bezeugt – die Abhandlung ber das Della Casa-Gedicht ist chronologisch nicht allzu weit von den Discorsi dell’arte poetica entfernt; die Variationsbreite der Datierungsvorschlge fr die poetologischen Frhschriften Tassos lsst sogar eine zeitliche Konvergenz denkbar erscheinen.404 Die Idee des Lyrischen definiert sich vom Stil her – eine Determination, die so stark ist, dass Stil und Gattung gelegentlich zu zwei Bezeich398 Tasso 1977, 49 (DAp). 399 Zur „ricchezza dell’ornato“ in Ciceros Konzeptualisierung des mittleren Stils vgl. Grosser 1992, 26. 400 Tasso 1977, 60 (DAp). 401 Vgl. Tasso 1977, 50 (DAp). 402 Vgl. Tasso 1977, 53 (DAp). Antithesen etwa sind charakteristisch fr die Stilidee des ‘glaphyrs’ aus der Stillehre des Pseudo-Demetrios. 403 Tasso 1977, 60 (DAp). ‘Bellezza’ ist eine der Stilideen, die Hermogenes von Tarsos im Rahmen seiner Stillehre (Per iden) entwickelt, und die in enger Beziehung zum ‘glaphyrs’ des Demetrios steht. 404 Vgl. dazu auch Grosser 1992, 173, der die frhen Discorsi als „opera […] all’incirca coeva alla Lezione“ bezeichnet.

2.6 Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie

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nungen fr die gleiche Sache werden. In einem der poetologischen Briefe an Scalabrino ist deshalb auch die Rede von der „forma di dire mediocre, quale la lirica“.405 Diese Idee des Lyrischen also wird vom Stil aus bestimmt und dieser wiederum von den im Kern mittels einer affektiven Semantik definierten ‘concetti’. Die Begriffsreihe, mit der Tasso die ‘concetti’ des Lyrikers in der Sptfassung der Discorsi benennt, ist (in adjektivischer Denomination) grosso modo folgende: ‘ornato’, ‘soave’, ‘fiorito’, ‘piacevole’, ‘ameno’, ‘grazioso’, ‘venusto’, ‘vagho’, ‘bello’, ‘scherzoso’, ‘ridente’, ‘lascivo’.406 Die Begriffe der Reihe stecken einerseits die Variationsbreite des Lyrischen ab; andererseits definieren sie sich gegenseitig. So macht – um nur ein Beispiel herauszugreifen – etwa die Verschrnkung von ‘scherzoso’ mit ‘grazioso’, ‘venusto’ oder ‘bello’ deutlich, dass die ‘Scherze’ der Lyriker klar von denen der ‘comici’ geschieden sind.407 Lyrisch sind Texte fr Tasso mithin vornehmlich dann, wenn die genannten Begriffe mit ihrer Semantik eine textkonstitutive Bedeutung erlangen, wenn also das je Darzustellende im Licht dieser Semantik verarbeitet wird. Was damit gemeint ist, erlutert Tasso durch geeignete Beispiele. Mit Blick auf die gattungskonforme Darstellung der Frau erlutert er, dass ein Epiker wie Vergil die weibliche Schçnheit eher in einfachen Strichen zeichne, wenn er das Erscheinen Didos im Tempel mittels eines „semplicissimo concetto“408 beschreibe: „regina ad templum, forma pulcherrima Dido, / incessit“;409 ein Lyriker wie Petrarca dagegen male die „bellezza“ seiner „donna“410 in lustvoll-ornamentaler Detaillierung aus, so dass eine Vorstellung von ebenso anmutiger wie heiterer Geflligkeit entsteht: Ma se questa medesima bellezza avesse a descrivere il Petrarca come lirico, non si contenterebbe gi di questa purit di concetti; ma direbbe che la terra le 405 Tasso 1852 – 55, no. 78. 406 Vgl. dazu, sowie auch im Folgenden, Regn 1987b, 214 – 220. 407 In Abgrenzung von den lieblich-geflligen ‘scherzi’ der Lyriker heißt es ber die der ‘comici’: „A’ comici sono convenienti [gli scherzi] che mordono“ (Tasso 1977, 337 (DPe)). 408 Tasso 1977, 60 (DAp). 409 Aeneis 1.496 f. – ‘Semplicit’ ist eine Unterform des ‘Þthos’, das wiederum eine der sieben ‘id ai’des Hermogenes bildet; sie ist demnach nicht auf den niederen Stil der Dreistil-Lehre festgelegt, sondern mit verschiedenen anderen ‘id ai’ kombinierbar, nach Tassos Auffassung vor allem mit der ‘forma magnifica’ (die dem ‘m gethos’ des Hermogenes entspricht). In der Stillehre des Hermogenes (wie in der des Pseudo-Demetrios) sind die ‘virtutes’ der lateinischen Rhetorik-Tradition bis zur Unkenntlichkeit mit den ‘genera dicendi’ verschmolzen, vgl. dazu auch Grosser 1992, 51 f. 410 Tasso 1977, 60 (DAp).

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[gemeint ist die ‘donna’] ride d’intorno, che si gloria d’esser tocca da’suoi piedi, che l’erbe e i fiori desiderano d’esser calcati da lei, che ’l cielo percosso da’ suoi raggi s’infiamma d’onestade, che si rallegra d’esser fatto sereno da gli occhi suoi, che’l sole si specchia nel suo volto non trovando altrove paragone; ed inviterebbe insieme Amore che stesse insieme a contemplar la sua gloria. E da questa variet di concetti, che usasse il lirico, dipenderebbe poi la variet dello stile. Non avrebbe mai usato simili concetti l’epico […].411

Gegenst nde lyrischer Darstellung. Wie man sieht, spielen bei dieser als exemplarisch verstandenen lyrischen Detaillierung einschlgig semantisierte Gedankenfiguren – in Tassos Terminologie: „figure de le sentenze“412 – die zentrale Rolle, was bei dem quasi-synonymischen Verhltnis von ‘sentenza’ und ‘concetto’ nicht weiter berraschend ist. Doch auch die Gegenstnde selbst sind von Belang, und zwar dann, wenn sie bereits von ihrer Beschaffenheit her lyrische Qualitten aufweisen. Dies ist nach Tassos Auffassung etwa bei den „materie oziose“413 oder den „cose che paion graziose“414 der Fall.415 Was man sich darunter vorzustellen hat, erlutert Tasso in den Discorsi del poema eroico: Der „poesia lirica“ stnden jene Themen gut zu Gesichte, „de le quali piena la poesia del Petrarca“, nmlich „gl’imenei, e gli amori, e le liete selve, e i giardini, e l’altre cose somiglianti“.416 Diesen Themenkatalog hat Tasso aus Pietro Vettoris lateinischer bersetzung von Per hermene as entnommen, wo er im Zug der Beschreibung des ‘charact r glaphyrs’ (in der lateinischen bersetzung Vettoris: ‘forma ornata’) aufgefhrt wird. Modellautor des ‘glaphyrs’ ist beim Pseudo-Demetrios Sappho, an deren Stelle Tasso in seinen diesbezglichen Ausfhrungen ganz einfach Petrarca setzt.417 Dies nicht zuletzt deshalb, weil Petrarca fr Tasso unter allen Lyrikern den ersten Rang 411 412 413 414 415

Tasso 1977, 60 (DAp). Tasso 1977, 359 (DPe). Tasso 1977, 49 (DAp). Tasso 1977, 348 (DPe). Tasso bemht sich um eine begrifflich klare Trennung von ‘cose’ und ‘concetti’; in den Rhetorik- und Poetik-Traktaten der Renaissance besteht dem gegenber eine starke Tendenz, die Grenze zwischen den Termini zu verwischen, so dass ‘cose’ und ‘concetti’ nicht selten als Quasi-Synonyme gebraucht werden. Vgl. Gnsberg 1998, 11. 416 Tasso 1977, 338 (DPe). 417 „Sunt autem his quidem in rebus lepores, ceu nympharum horti, hymenaei, cupidines, tota Sapphonis poesis: huiuscemodi nanque, quamvis ab Hipponacte dicta fuerint, lepida sunt. & res hilaris sua sponte est“ (Victorius 1562, 122). An anderer Stelle lobt Tasso (1977, 348 (DPe)) Petrarca und seinen Vater Bernardo, „[che] composero le loro composizioni, intessendo gli amori e i lusignoli e i gigli e i ligustri e le rose ne la meravigliosa testura de le rime toscane“.

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einnimmt; er bertrifft also sogar die vorbildlichen Alten: „super […] il Petrarca tutti gli antichi lirici di vaghezza“.418 Die Priorisierung Petrarcas, der ja vor allem als Liebeslyriker geschtzt wurde, verleiht dem Liebessujet unter den lyrischen Themen eine privilegierte Rolle, die auch dadurch nicht beeintrchtigt ist, dass Liebe in der Nachfolge Petrarcas vornehmlich mit Leid und Klage zu tun hat. Der Herzschmerz ist Teil der „amorose giovenili cure“,419 die zum Kernbereich jener schwerelosen Thematik zhlen, die der Lyrik in optimaler Weise bei der Entfaltung ihres gattungsimmanenten Potenzials dienlich ist. Bereits die alterstypologische Einschrnkung des Liebesleides stellt sicher, dass es als eine „materia oziosa“420 behandelt werden kann. Potenzielles Korrelat des ‘frhen Leides’ sind brigens die „lascivie veneree“, die in der von Tasso prsupponierten aristotelischen Ethik fest mit den alterstypologischen „costumi dei giovani“ verbunden sind.421 Nicht zu vergessen ist, dass Tasso ‘lascivo’ als Teil jener Begriffsreihe behandelt, mit der er die Bandbreite der „concetti lirici“422 zu umreißen sucht. Nur am Rande vermerkt sei, dass die alterstypologischen Lizenzen, die die aristotelische Ethik der Renaissance auflistet, zwar universelle Gltigkeit beanspruchen, dass sie aber aus historischer Sicht nichts anderes als der unverkennbare Reflex einer hçfischen Kultur sind, in der Gattungspoetik und Sozialdecorum aufs engste ineinander greifen. Modalit ten lyrischer Sprachmodellierung. Es erweist sich also, dass auch fr die Lyrik, fr die Tasso ja eigentlich eine vçllig freie Gegenstandswahl ansetzt – darauf wird noch zurck zu kommen sein423 –, ein bestimmter Typus von ‘cose’ eine privilegierte Rolle spielt; Komplement dieser Privilegierung lyrischer Dinge ist auf der Seite der ‘elocuzione’ die Prferenz 418 Tasso 1977, 341 f. (DPe). 419 Die Formulierung ist von Daniello (1970, 249), der sie der horazischen Bestimmung des Lyrischen entnommen hat, wo die ‘iuvenum curae’ dem Kernbereich lyrischer Themen zugeschlagen werden: „Musa dedit fidibus divos puerosque deorum / et pugilem victorem et equum certamine primum / et iuvenum curas et libera vina referre“ (Horaz, Ars poetica 83 – 85). 420 Tasso 1977, 49 (DAp). 421 So in Piccolominis italienischer Version der aristotelischen Rhetorik: „Son dunque i Gioveni, quanto a i costumi appartiene, molto vehementi nelle loro cupidit. […] Et fra tutte le cupidit corporee, o ver sensuali, di quelle massimamente son seguaci, che son compagne di lascivie veneree“ (Piccolomini 1571, 158). 422 Tasso 1977, 63 (DAp). 423 An dieser Stelle sei nur die diesbezgliche Zentralaussage aus den Discorsi zitiert: „la materia del lirico non determinata; […] tratta ogni materia che occorra a lui“ (Tasso 1977, 59 (DAp)).

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fr ein lyrisch disponiertes Wortmaterial, dessen Aufgabe es ist, die vom Dichter entworfenen ‘concetti’ zu reprsentieren: „[…] le parole sono imagini de’ concetti, […] per deono assimigliarle“;424 die Worte (sowie ihre metrisch gefgten Verbindungen) sind durch die Konzepte konditioniert und insofern deren ‘natrliche’ Folge. Was sind nun charakteristische Merkmale lyrischer Sprachverwendung? Tasso nennt zunchst einmal ausgefeilte Parallelismen425 sowie Antithesen426 und Oxymora,427 die er als besonderes Kennzeichen der heimischen Dichtung ansieht;428 dabei hebt er es als einen der Gattung besonders zutrglichen Effekt hervor, wenn bei den antithetisch-oxymoralen Figuren die Epitheta die ‘semantische Hrte’ der Substantive, denen sie beigegeben sind, abmildern: i nostri poeti hanno usati gli aggiunti per ammollir l’asprezza del nome che sta per se, come us il Petrarca dicendo: ‘O viva morte, o dilettoso male’ […].429

Doch nicht nur die mit Blick auf die Sicherung der gattungscharakteristischen ‘dolcezza’ ausgerichteten Adjektive in dmpfender Funktion gehçren in den Bereich lyrischer Sprachverwendung, sondern, wie ja schon der Name besagt, auch die ‘epitheta ornantia’, oder, in Tassos Terminologie, „quella sorte d’epiteti che son detti oziosi e vani“.430 Und natrlich gehçren auch die Metaphern zur ‘forma ornata’, wenn sie, wie in Petrarcas „ridono i prati“ (RVF 310.5) Trger einer lyriksensitiven Semantik sind.431 Insgesamt kçnnen alle Figuren der lyrischen ‘forma ornata’ zutrglich sein, wenn sie sich ausnehmen wie „gemme intessute in un lavoro d’oro e di seta di vari colori“ – als Beispiel wird die ganze Oktave von Petrarcas Erano i capei d’oro a l’aura sparsi (RVF 90.1 – 8) zitiert.432 424 Tasso 1977, 306 (DPe). 425 Tasso spricht von den „minute diligenze, come di fare che membro a membro corrisponda“ (Tasso 1977, 53 (DAp)). 426 „[G]li antiteti, come ‘Tu veloce fanciullo, io vecchio e tardo’ […] sono proprie della mediocrit“ (Tasso 1977, 53 (DAp)). 427 „Bellissimi ancora sono ed ornatissimi gli aggiunti, i quali implicano contrariet e contradizione, come quelli: ‘e dannoso guadagno ed util danno’; […] Ed [… ]: ‘Pietosa tigre il Ciel ad amar diemmi’“ (Tasso 1977, 352 f. (DPe)). 428 „Ma questa figura propria de’ Toscani, quantunque da’ Greci e da’ Latini ne siano usate altre assai simili“ (Tasso 1977, 353 (DPe)). 429 Tasso 1977, 299 (DPe). 430 Tasso 1977, 290 (DPe; Kursivierung im Original). Als Figuren des Ornatus sind die poetischen ‘epitheta ornantia’ nicht gattungsgebunden und somit auch nicht auf die Heldenepik beschrnkt, vgl. Lausberg 1963, 101 f., § 310 f. 431 Vgl. Tasso 1977, 292 (DPe). 432 Vgl. Tasso 1977, 355 (DPe).

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Eine besondere Hervorhebung erfahren ferner die als ‘scherzi’ bezeichneten paronomastischen Wortspiele, deren Meister ein weiteres Mal Petrarca ist: Gli scherzi ancora, che allusiones furono dette da’ Latini, convengono a questa forma [ornata] pi ch’a tutte le altre, come quel del Petrarca: ‘L’aura, che ‘l verde lauro e l’aureo crine’; o quell’altro, nel quale graziosamente par che scherzi de la sua vecchiezza: ‘o s’infinge, o non cura, o non s’accorge/ del fiorir queste innanzi tempo tempie’ […].433

Von den Paronomasien ist es nur ein kurzer Weg zu den Klangeffekten, die in Tassos Lyrikkonzept eine bedeutsame Rolle spielen. Schon fr den Bembo der Prose della volgar lingua war Petrarca vor allem aufgrund der euphonischen Qualitten seiner Sprache Modell fr die Versdichtung, und Tasso macht sich diese Bewertung implizit zu eigen. Insbesondere mit Blick auf Petrarca erhebt er unter expliziter Berufung auf den Pseudo-Demetrios den „labdacismo“,434 also den alliterierenden Gebrauch der Liquid-Laute, zu einem wichtigen Merkmal des lyrischen Stils, denn „grandissima grazia e bellezza ancora suol nascere da quelle lettere che son dette liquide“.435 Doch auch der Gebrauch alliterierender ‘m’-Laute, durch den der Klageduktus der ‘giovenili amorose cure’ klanglich imitiert werden kann, fllt ins Repertoire prototypisch lyrischer Ausdrucksweisen.436 Lyrisch sind auch Figuren wie das von den Lateinern „similiter desinens“437 genannte Verfahren, weil es, wie wiederum das zitierte Petrarca-Beispiel aus RVF 265.12 f. („lagrimando, / pregando, amando etc“) belege, „dolcissim[o]“438 sei. Zudem ist beim Gebrauch der Reime auf den lyrischen Wohlklang zu achten. So sind vor allem vokalreiche Reimwçrter „pi dolci e pi atte in questa forma vaga e fiorita di poesia“.439 Insgesamt soll der Lyriker dafr Sorge tragen, dass seine Wçrter klangvoll sind („sonore“)440 und dass der 433 Tasso 1977, 351 (DPe; Kursivierung im Original). 434 Tasso 1977, 355 (DPe). 435 Tasso 1977, 355 (DPe). Als ein prgnantes Beispiel fr den ‘labdacismo’ fhrt Tasso den Petrarca-Vers „e le frondi e gli augei lagnarsi e l’acque“ (RVF 176.10) an, der den Euphonie-Effekt zustzlich durch eine kalkuliert eingesetzte polysyndetische Syntax verstrkt. 436 „Ma l’usar molte parole, le quali abbiano principio da la m, conviene al pianto, e peraventura in questa medesima forma [ornata] conveniente, come: ‘di me medesmo meco mi vergogno’“: Tasso 1977, 356 (DPe; Kursivierung im Original). 437 Tasso 1977, 354 (DPe). 438 Tasso 1977, 354 (DPe). 439 Tasso 1977, 354 (DPe). 440 Tasso 1977, 355 (DPe).

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Satz- und Versfluss sich ohne markante Brechungen (wie durch Hyperbata oder stark markierte Enjambements) entfalten kann.441 Auch die diversen Formen der Krze kçnnen Generatoren lyrischer Anmut sein. Als Beispiel nennt Tasso die „piccioli poemi“ und die „piccioli versi“.442 Die Charakteristika der Lyrik manifestieren sich fr Tasso vornehmlich im lyrischen Stil, der seinerseits aus geeigneten ‘genera dicendi’ der rhetorischen Stillehre gewonnen wird, ohne doch mit diesen identisch zu sein. Die Umlegung von der Rhetorik auf die Poetik erfolgt ber die Zwischenschaltung geeigneter Exempla aus dem Bereich der Dichtung. Die Vorschriften rhetorischer Stillehre werden zu Richtlinien fr den ‘lirico’ also vornehmlich dadurch, dass sie anhand von Beispielen aus dem Bestand der – hauptschlich heimischen – Lyrik, und hier wiederum primr aus dem Repertoire Petrarcas, anwendbar gemacht werden sollen und so zugleich einen Eindruck von der Idee (bzw. ‘forma essemplare’) der Lyrik vermitteln kçnnen. ber die Exempla lsst sich der aus der Rhetorik abgezogene Gattungsstil zudem mit dem tradierten Formenbestand der Lyrik, also dem Regelwerk der Metrik, verknpfen. Lyrik und Stilmischung. Wie zu sehen war, kombiniert Tasso die Vorgaben der Dreistiltheorie mit den hellenistischen Lehren von den vier bzw. sieben Stilen. Der mittlere, ‘blhende’ Stil der lateinischen Tradition wird mit dem ‘charact r glaphyrs’ des Pseudo-Demetrios ebenso berblendet wie mit zwei Stillagen aus dem Repertoire des Hermogenes: der ‘Idee’ des ‘k llos’ (it. ‘bellezza’) sowie der ‘glyky´tes’ (it. ‘dolcezza’), welche in Per iden als Unterform der ‘Idee’ des ‘Þthos’ figuriert. Die drei Vorgaben werden somit als kompatibel (und als einander ergnzend) erachtet; gleichwohl steht außer Frage, dass vor allem der ‘charact r glaphyrs’ des PseudoDemetrios den wichtigsten Beitrag fr die Ausformulierung von Tassos Lyrikkonzept erbracht hat. Wie schon in der Antike wurden in der Renaissance die verschiedenen ‘genera dicendi’ in der Regel als miteinander kombinierbar angesehen – Ausnahmen werden gegebenenfalls benannt.443 441 „Laonde tanto sono pi lodati i versi quanto meno sono interrotti e perturbati ne l’ordine de le sentenze e de le parole“ (Tasso 1977, 355 (DPe)). 442 Tasso 1977, 349 (DPe). 443 So schließt der Pseudo-Demetrios die Kombination von ‘megaloprep s’ und ‘ischns’ aus. Vgl. dazu Tasso 1977, 303 (DPe): „Demetrio, il qual divide le forme in quattro semplici: ne la tenue, o sottile che vogliamo dire, ne la magnifica, ne l’ornata e ne la grave, e ne l’altre che di queste son mescolate. Ma tutte non sono miste con tutte; ma l’ornata con la sottile, e l’ornata ne l’istesso modo con l’una e con l’altra; sola la magnifica non si mescola con la sottile“.

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Fr den Stil des Lyrikers heißt dies, dass er nach vielen Richtungen hin offen ist. Diese – der großen Bandbreite mçglicher Rede- und Darstellungsanlsse Rechnung tragende – Flexibilitt hat jedoch eine Grenze, die durch die Erkennbarkeit des fr die Gattung konstitutiven Stils bestimmt wird. Tasso thematisiert das Problem von Variett und Dominante in der Gattungspoetik primr mit Blick auf das Heldengedicht, streicht aber dabei ganz explizit heraus, dass das fr das ‘poema eroico’ Gesagte mutatis mutandis auch fr die Lyrik gelte: […] la determinazione della cosa si fa sempre da quella parte che signoreggia; ed hassi prima riguardo a quello che viene ad essere intenzione principale. Onde, bench l’epico usi alcuna volta lo stile mediocre, non deve per questo essere che lo stile suo non debba essere detto magnifico, come quello che principalissimo di lui; cos del lirico ancora, senza alcuna controversia, potremo dire.444

In den Discorsi hlt Tasso unmissverstndlich fest, dass der Lyriker bei aller Variationsbreite, die er nutzen darf und soll, den ihm zugehçrigen lyrischen Stil, der ja das zentrale Bestimmungsmerkmal der Gattung ist, als Dominante kenntlich halten muss – „quella parte che signoreggia“.445 Fr Tasso definiert sich die Lyrik mithin ber einen Kernbereich, den die ber einschlgige Exempla veranschaulichten ‘concetti lirici’ (und erst sekundr die von ihnen konditionierte ‘elocuzione’) abstecken. Die Gattung der Lyrik ließe sich somit kategorial ber so etwas wie einen Prototypenbegriff fassen. Der Prototyp der Gattung wre demnach jener konzeptionelle Kern, der dadurch konturiert wird, dass die theoretisch formulierten ‘concetti lirici’ durch ebenso konkrete wie modellhafte Reprsentationen (wie sie z. B. Petrarca offeriert) verfgbar gemacht werden. Ein derartiges Prototypenkonzept erlaubt es dann, durch Vergleichung zu befinden, ob konkrete Texte als dem Prototyp (der Gattung) zugehçrig zu denken sind, und wenn ja, wie diese Zugehçrigkeit nach dem Aspekt des mehr oder weniger zu skalieren ist.446 Dass das Ineinander von Gattungszugehçrigkeit einerseits und deren Skalierung andererseits eine intrikate Angelegenheit ist, deutet Tassos in der Sache mitunter beraus gewundene Argumentation an: Er geht, was nach dem bisher Gesagten selbstverstndlich ist, einerseits davon aus, dass ein Dichter auch auf andere ‘genera dicendi’ rekurrieren kann als auf die, die fr die von ihm gerade gewhlte Gattung (proto)ty444 Tasso 1977, 64 (DAp). 445 Tasso 1977, 64 (DAp). 446 Zur mçglichen Relevanz des Prototypenbegriffs fr die Gattungstheorie vgl. zuletzt Hempfer 2010, 21 – 23.

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pisch sind; andererseits aber fhlt er sich bemßigt, festzuhalten, dass der Ausgriff auf weitere als die gattungstypischen ‘genera dicendi’ kein bertritt in den Bereich des (qua ‘diaphor ’ abgegrenzten) kategorial Anderen ist. Mit Blick auf das ‘poema eroico’ heißt es schon in den frhen Discorsi: il magnifico, il temperato e l’umile dell’eroico non il medesimo co ’l magnifico, temperato e umile degli altri poemi.447

Tasso mçchte auf diese Weise offenkundig deutlich machen, dass, wenn aus Stilrepertoires anderer Gattungen geschçpft wird, das aus diesen anderen ‘genera dicendi’ Entnommene stets der aufnehmenden Gattung qualitativ anverwandelt wird. Tassos berlegung ist im Grunde jedoch nichts anderes als ein Beleg dafr, dass er die Probleme, die ein prototypisch konzipiertes Gattungskonzept fr die Sicherung der Gattungsidentitt potenziell aufwerfen kann, schon in seinen jungen Jahren mit einigem Unbehagen gesprt hat. Wie begrndet dieses Unbehagen ist, werden wir sehen, wenn wir einen Blick auf die Lezione sopra il sonetto ‘Questa vita mortal’ di Monsignor Della Casa werfen. Ungeachtet dieses Unbehagens lsst sich fr die Gattung der Lyrik, so wie Tasso sie denkt, festhalten, dass in seiner Theoretisierung der Zugriff klassifikatorischer Differenzbildung durch den einer typologischen Skalierung zurckgedrngt wird. Interferenz von Gegenstands- und Gattungsaptum. Die wirkliche Bedrohung fr die Identitt der Lyrik ist jedoch nicht deren prinzipiell mçgliche ffnung auf andere Gattungen (bzw. Gattungsstile), sondern die Sprengkraft, die die Interferenz von Gattungsdecorum und Gegenstandsaptum birgt. Anders als in der Tragçdie oder im Heldenepos ist der ‘lirico’ – so zumindest die Verlautbarung in den Discorsi – in der Wahl seiner Gegenstnde im Prinzip frei: La materia del lirico non determinata, perch s come l’oratore spazia per ogni materia a lui proposta […], cos il lirico parimente tratta ogni materia che occorra a lui; ma ne tratta con alcuni concetti che sono suoi propri, non comuni al tragico e all’epico […].448

Konstitutiv fr die Lyrik ist ein Gattungsaptum, das sich vom prototypischen Kern der Gattung her bestimmt, dessen Basis wiederum die ‘concetti lirici’ sind. Das traditionelle Gegenstandsaptum, dessen Gltigkeit die Poetiken meist wie selbstverstndlich als Norm rechten Dichtens ansetzen, 447 Tasso 1977, 47 (DAp). 448 Tasso 1977, 59 (DAp).

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sieht sich im Gegenzug stillschweigend außer Kraft gesetzt.449 Dies soll laut Tasso jedoch nur fr die Lyrik gelten. Fr das Heldenepos etwa behalten trotz der Einfhrung des ‘concetto’-Begriffs die alten und gekannten Verhltnisse grosso modo ihre Gltigkeit. Im Zentrum des ‘poema eroico’ stehen Vorstellungen aus dem Bereich des ‘megaloprep s’ (Pseudo-Demetrios) bzw. des ‘m gethos’ (Hermogenes) oder, in italienischer bersetzung, der ‘magnificenza’ bzw. ‘grandezza’. Ihr Pendant auf der Gegenstandsebene sind nun anders als in der Lyrik Dinge mit einer den ‘concetti’ eins zu eins korrespondierenden Semantik. Die ‘cose’ werden dabei (in regelrechter Umkehr jener Verhltnisse, die Tasso fr die Lyrik ansetzt) gar zu einer wesentlichen Ermçglichungsbedingung der eposadquaten ‘concetti’: La magnificenza de’ concetti sar, se si tratter di cose grandi; come di Dio, del mondo, degli eroi, di battaglie terrestri, navali e simili.450

Diese Auffassung wird in den Discorsi nicht nur wiederholt vorgetragen, sondern zudem dadurch bekrftigt, dass sie ausdrcklich gegen abweichende Auffassungen verteidigt wird wie etwa die Scaligers, der in Abrede gestellt habe, dass im ‘genus grande’ auch die verhandelten Gegenstnde notwendig groß zu sein htten.451 Das Kriterium der Grçße der darzustellenden Gegenstnde ist zwar auch im Epos flexibel handhabbar, aber doch eben nur in eher eng gezogenen Grenzen. Dazu zhlt die schon erwhnte Reprsentation weiblicher Schçnheit im ‘poema eroico’ ebenso wie vor allem der damit verbundene, große Themenkomplex der ‘amori’, dessen eposkonforme Gestaltung in den Lettere poetiche anlsslich der Revision der Gerusalemme eingehend diskutiert und dabei von Tasso auf argumentativem Wege zur legitimen Mçglichkeit der Gattung erklrt wird. Fr die Lyrik stellt sich die Problemlage angesichts der als Gattungsgrundsatz postulierten thematischen Offenheit anders dar, und das heißt: schwieriger. Tassos bevorzugte Antwort auf diese Schwierigkeit ist wie so oft die Strategie des Verschweigens. Zwar wird im Einklang mit dem 449 Wo nicht außer Kraft gesetzt, so doch gnzlich neu gefasst dadurch, dass Referenzpunkt des ‘aptum’ nicht mehr die ‘cose’, sondern eben die ‘concetti’ sind. 450 Tasso 1977, 50 (DAp). 451 „Le cose adunque possono ancora accrescer la magnificenza, quantunque Giulio Cesare Scaligero porti contraria opinione, dicendo che non necessario che nel caratter grande sian grandi le cose, […] ma che basta nel poeta l’usar parole scelte, sonore, depinte, e la composizione de le cose numerosa. Ma in queste parole doppiamente s’inganna: prima perch lascia a dietro i concetti e le sentenze, il qual errore insopportabile; da poi, perch esclude le cose“ (Tasso 1977, 308 (DPe)).

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‘ffnungsbeschluss’ grundstzlich festgehalten, dass Lyriker und Epiker den gleichen Gegenstand behandeln kçnnen, dass sie dies aber mit ihren je spezifischen Mitteln – und das heißt zuallererst: mit den ihnen eigenen ‘concetti’ – tun.452 In den Discorsi freilich wird die Frage, wie man sich eine lyrikkonforme Vertextung typischer ‘cose grandi’ mittels des Rckgriffs auf lyrische Perspektivierungsverfahren zu denken habe, explizit weder gestellt noch beantwortet. In der Cavaletta findet sich immerhin der knappe Hinweis, dass die ‘cose grandi’ in der Lyrik in einem hçheren Stil abzuhandeln seien als die ‘materie oziose’: „ne’ versi lirici gli amori de le donne e de’ fanciulli [sic] sono stati cantati, ma pi altamente le lodi de’ re e de gli eroi“.453 Hier wird, unter legitimatorischer Bezugnahme auf das horazische Lyrikkonzept (Ars poetica, 83 – 85), ganz einfach das tradierte Gattungsaptum ins Feld gefhrt, ohne dass freilich die zentrale Frage nach den Modalitten geklrt wird, die es zu erfllen gilt, wenn das Herrscher- und Heldenlob mit der in den Discorsi entwickelten Lyrikauffassung454 kompatibel werden soll – also die Frage, wie ‘concetti lirici’ bei Themen von Gewicht zum Tragen gebracht werden kçnnen. Die fehlende Beantwortung dieser Frage hat ihr Komplement in der Selbstverstndlichkeit, mit der Tasso in den Discorsi typische Verfahren des hohen Stils455 – „asprezza“, „versi spezzati“, „parlar disciolto“, Apostrophen, Hyperbata und Inversionen, Parenthesen, Prosopopeia, „lunghezza de’ membri e de’ periodi“, Wortwiederholungen, Allegorien, etc.456 – durch Beispiele aus der petrarkischen Lyrik illustriert. Auch hier verzichtet Tasso auf die Abklrung, inwiefern die Gedichte, aus denen die Belege zur Veranschaulichung der rhetorischen Verfahren des hohen Stils entnommen sind, in ihrer Gnze jeweils unter die in den Discorsi konturierte Idee des Lyrischen subsumierbar sind, inwieweit also dort das Lyrische die Dominante ist oder in Tassos eigenen Worten: „la parte che signoreggia“.457 Wrde diese Frage 452 Vgl. Tasso 1977, 59 f. (DAp). 453 Tasso 1965, 95. 454 Die ja gerade in der definitorischen Hintanstellung der Metrik ganz entscheidend von Horaz abweicht. 455 ‘Hoher Stil’ im Verstndnis einer berblendung von ‘(charact r) megaloprep s’, ‘(id a) m gethos’ und ‘genus grande’. 456 ‘Asprezza’: Tasso 1977, 316 f. (DPe); ‘versi spezzati’: Tasso 1977, 318 (DPe); ‘parlar disciolto’: Tasso 1977, 320 (DPe); Apostrophe: Tasso 1977, 333 (DPe); Hyperbaton: Tasso 1977, 335 (DPe); Inversion: Tasso 1977, 323 u. 333 (DPe); Parenthese: Tasso 1977, 334 (DPe); Prosopopeia: Tasso 1977, 359 (DPe); Wortwiederholungen: Tasso 1977, 323 (DPe); Allegorie: Tasso 1977, 357 (DPe). 457 Tasso 1977, 64 (DAp).

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positiv beantwortet, dann wren die zitierten Passagen nichts anderes als Ausdruck gattungskonformer Stilmischung, durch die dann die je konkreten Einzeltexte relational zum genuskonstitutiven Prototyp skaliert werden kçnnten. Doch dieser Frage versagt Tasso eine explizite Antwort. Sieht man sich die Petrarca-Zitate etwas nher an, dann drngt sich der Verdacht auf, dass Tasso hinsichtlich der Zurechenbarkeit der zitatspendenden Gedichte zu seiner Idealvorstellung von Lyrik gewisse Zweifel gehabt haben drfte und deshalb das Problem – salopp gesagt – einfach unter den Teppich gekehrt hat. Ein Großteil der Zitate stammt nmlich aus dem zweiten Teil des Canzoniere, in dem das von seiner semantischen Beschaffenheit her ja fraglos ‘schwere’ Todesthema im Zentrum steht, dessen Vertextung mittels prototypischer ‘concetti lirici’ alles andere als eine Selbstverstndlichkeit ist. Wie sehr die prinzipielle ffnung auf die ‘cose grandi’ das Lyrikkonzept in seinem Identittskern bedroht, besttigt der Blick auf die Lezione sopra il sonetto ‘Questa vita mortal ec.’ di Monsignore Della Casa. 458 Della Casa und die Lyrik im hohen Stil. Gegenstand des Gedichtes von Della Casa ist die gçttliche Schçpfung, deren Grçße sich dem in der Endlichkeit seiner irdischen Existenz befangenen Menschen allein durch Gottes Gnade erschließt. Ziel Tassos ist es, zu zeigen, dass das Gedicht als Ganzes im Einklang mit den universell gltigen Regeln der Dichtkunst ein erhabenes Thema mittels der dazu passenden ‘concetti’ sowie der diesen korrespondierenden Worte zur Darstellung bringt,459 und zwar im Rahmen der Sonettform, die Dante nach Tassos Meinung zu Unrecht als dafr ungeeignet erklrt hat.460 Die erhabene Vorstellung von Gottes Werk schlgt sich in einem sublimen461 Stil nieder, dessen hervorstechende Merkmale der „rompimento de’ versi“,462 also stark markierte Enjambements, die 458 Zur Lezione vgl. insbes. Raimondi 1980, 25 – 42; Grosser 1992, 159 – 173; Biagini 1999, 457 – 496. 459 „ð la forma magnifica, o sublime quella, che cose eccellenti contiene, dalle quali concetti conformi ad esse derivano, e con scelte parole illustri, e con numerosa composizione sono spiegati“ (Tasso 1823a, 45). 460 Vgl. dazu bes. Tasso 1823a, 45: „Ma prima che cominciamo ad investigare […] non sar forse fuor di proposito che si consideri, s’egli pur lecito che ‘l sonetto nella forma di parlare altissima si componga; che intorno a ci non picciol dubbio ci muove l’autorit di Dante.“ 461 Den Terminus ‘sublim’ gebraucht Tasso als Stilbegriff synonym zu groß, prchtig, gravittisch etc. 462 Tasso 1823a, 52.

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2. Lyrik als Makrogattung

Verdichtung klanglicher „asprezza“ vor allem durch den „concorso delle vocali“,463 die gezielte Abflschung antithetisch-parallelistischer Regelmßigkeiten, die „lunghezza delle clausule“464 oder die „parole scelte, onde la composizione magnifica si rende“465 sind. Tassos – gemessen am zeitgençssischen Standard – theoretisch bestens fundierte und interpretatorisch hçchst subtile Analyse erbringt, dass das Sonett von Giovanni Della Casa nicht einmal Spurenelemente jener Lyrikvorstellung aufweist, welche er schon in den frhen Discorsi zu propagieren sucht. Mit Blick auf die typologische Skalierbarkeit des Lyrischen besetzt Questa vita mortal damit den Nullpunkt. Mit anderen Worten: Della Casas Sonett fllt vollstndig aus Tassos Lyrikkonzept heraus. Wenn Tasso in der Lezione fr dieses Gedicht Della Casas gleichwohl den Begriff der Lyrik in Anschlag bringt, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass er den innovativen Gattungsbegriff, den zu entwickeln er sich in den Discorsi bemht, sang- und klanglos durch die traditionelle Vorstellung von Lyrik ersetzt, nach der in horazischer Manier die Metrik und ein daran gekoppeltes Themenspektrum das zentrale Kriterium bereitstellen, das bemisst, inwiefern Texte der Lyrik zuzurechnen sind oder nicht: Aggiungasi che il sonetto parte, o specie della lirica poesia, e la lirica poesia, come nella poetica d’Orazio si legge, canta delli Dii, e degli Eroi […].466

Ein Sonett, dessen Thema Gott ist, ist danach per definitionem Teil der Lyrik. Vor dem Hintergrund der Lezione ber das Sonett Giovanni Della Casas wird verstndlich, weshalb Tasso in der Sptfassung der Discorsi die Schwierigkeiten, die seinem Lyrikkonzept aus der ungebrochenen Geltungsmacht des Gegenstandsaptums erwachsen, so weit als mçglich zu berspielen versucht. Mit dem Verzicht, offen die Fragen zu diskutieren, die die Integration der ‘cose grandi’ in das in den Discorsi entworfene Lyrikverstndnis aufwirft, glaubt er – wie prekr auch immer dieser Glaube sein mag – die Funktionsfhigkeit seines typologischen Lyrikkonzeptes sichern zu kçnnen. Explizit thematisiert wird in den Discorsi allein der prototypische Kern der von den ‘concetti lirici’ aus entworfenen Lyrikvorstellung; deklariert wird darber hinaus die Offenheit fr andere Gattungsstile und damit die Skalierbarkeit des Lyrikkonzeptes; die drngende Frage freilich, ab wann man es mit einer – von den Prmissen der 463 464 465 466

Tasso 1823a, 54. Tasso 1823a, 44. Tasso 1823a, 55. Tasso 1823a, 46.

2.6 Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie

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Discorsi aus gesehen – ‘unlyrischen’ Poesie zu tun hat, die nach den tradierten Gattungsvorstellungen aber gleichwohl als Lyrik firmiert: diese Frage bleibt – und man mçchte sagen: wohlweislich – unbeantwortet. In den spten poetologischen Schriften seit Mitte der achtziger Jahre hat Tasso sich zudem sichtlich bemht, die Funktionsfhigkeit seines typologischen Lyrikkonzeptes durch eine gewisse Neujustierung seiner berlegungen zur Stilmischung zu strken. Ein wichtiges Indiz dafr findet sich in der Cavaletta. La Cavaletta und das Zusammenspiel von ‘piacevolezza’ und ‘gravit’. Im Zentrum des Dialogs ber die toskanische Lyrik steht die eher spezielle Frage nach der stilistischen Wertigkeit der in den Gattungsformen volkssprachlicher Lyrik mçglichen metrischen „testure“;467 ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die verschiedenen Reimstrukturen im Sonett gerichtet, die im Verbund mit potenziell denkbaren Klangstrukturen auf ihre Vereinbarkeit mit bzw. ihre Leistung fr die ‘genera dicendi’ geprft werden, die ihrerseits primr im Licht der Lehre von den drei Stilen abgehandelt werden. Wie bei Tasso blich figurieren die ‘concetti’ als der fr den Stil ausschlaggebende Faktor; gleichzeitig wird das Feld der lyrischen Formen fr alle drei ‘genera dicendi’ geçffnet, so dass das seit der Lezione ber das Sonett Della Casas bekannte Problem einer Lyrik wiederkehrt, die in hohem Stil „materie gravi“468 abhandelt. Wie in der Lezione geht Tasso in seinem Dialog mit keinem Wort auf das zentrale Postulat der in den Discorsi skizzierten Lyriktheorie ein, gemß dem der Lyriker, wenn er gewichtige Gegenstnde behandle, diese im Lichte der an das ‘genus medium’ gebundenen ‘concetti lirici’ zu vertexten habe. Auf den ersten Blick dominiert in der Cavaletta das Nahverhltnis zur Lezione. Bei genauerem Zusehen freilich zeigt sich, dass Tasso in dem Dialog aus dem Jahre 1585 die kompromisslose Option der frhen Lezione fr eine modellhafte Lyrik im Zeichen der Gravitas abschleift. Und genau diese Abmilderung erçffnet einen Ausweg aus dem Dilemma, infolge des letztlich unlçsbaren Konfliktes zwischen Gegenstandsaptum und Gattungsdecorum eine Lyrikpraxis in Anschlag bringen zu mssen, die vom Lyrikkonzept der Discorsi berhaupt nicht mehr gedeckt ist. Mit anderen Worten: Tasso sucht nach einem Weg, hochgeschtzte Gedichte wie Questa vita mortal vom lyrischen 467 Tasso 1965, 110. Weitere Themen des Dialogs, die fr den vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht ins Gewicht fallen, sind die Fiktionsproblematik sowie das Verhltnis von Rhetorik und Philosophie, vgl. Chiodi 1980, 497 – 503. 468 Tasso 1965, 112.

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2. Lyrik als Makrogattung

Nullpunkt zumindest ein Stck weit auf der typologischen Gattungsskala in Richtung auf den prototypischen Kern hin zu verschieben. In der Cavaletta wird bezglich des Repertoires der Formen der heimischen Lyriktradition nmlich die Stilmischung dergestalt zum Prinzip erhoben, dass Gedichte im Modus reiner „grandezza e […] gravit“469 berhaupt nicht mehr denkbar sind. Mit Blick auf das in Sachen ‘gravit’ exemplarische Sonett Della Casas heißt es nun nmlich: […] ciascuna maniera di parlare mescolata; n solamente ne le rime gi dette [damit sind Sonette der „forma temperata“470 gemeint], ma in quelle che sono stimate gravissime c’ qualche mistione di piacevolezza.471

Alle Gedichte weisen somit eine, im Einzelnen wie auch immer dosierte, Beimischung von ‘piacevolezza’ und damit von Lyrischem auf, denn ‘piacevole’ gehçrt, wie wir sehen konnten, zum Repertoire der Begriffe, mit denen Tasso das Feld des Lyrischen absteckt. Im gegebenen Kontext ist der Gebrauch von ‘piacevolezza’ aber noch in einer anderen Hinsicht aufschlussreich. ‘Piacevolezza’ tritt zusammen mit ‘gravit’ auf, und in genau dieser Verbindung evoziert der Terminus Bembos Prose della volgar lingua und damit die wichtigste Abhandlung des Primo Cinquecento zu Fragen von Sprache und Stil.472 In den Prose postuliert Bembo zum einen die Verbindlichkeit des Gegenstandsaptums fr den Gebrauch der ‘genera dicendi’;473 zum anderen macht er aus dem Geist klassizistischen Maßdenkens die Balance von ‘piacevolezza’ und ‘gravit’ zum normativen Regulativ: Erst im ausgewogenen Zusammenspiel von ‘piacevolezza’ und ‘gravit’, fr das vor allem Petrarca vorbildlich ist, erlangt Dichtung stilistische Vollkommenheit474 – die vorgngige Beachtung des Aptumsgebotes ist dafr gleichsam eine bloß notwendige, aber keine zureichende Voraussetzung. In seinen frhen Schriften ging Tasso erkennbar auf Distanz zu Bembos Klassizismus; die Lezione ber Della Casa war geradezu ein 469 470 471 472 473

Tasso 1965, 100. Tasso 1965, 103. Tasso 1965, 106. Vgl. dazu auch Grosser 1992, 255. „Da scegliere adunque sono le voci; se di materia grande si ragiona; gravi, alte, sonanti, apparenti, luminose: se di bassa et volgare; lievi, piane, dimesse, popolari, chete: se di mezzana tra queste due […]“ (Bembo [1525] 2001, 61 f.; Kap. 2.4.13). 474 „[…] due parti sono quelle, che fanno bella ogni scrittura, la Gravit et la Piacevolezza“ (Bembo [1525] 2001, 71; Kap. 2.9.12). „Dove il Petrarca l’una et l’altra di queste parti empi maravigliosamente in maniera, che scegliere non si puo in quale delle due egli fosse maggior maestro“ (Bembo [1525] 2001, 71; Kap. 2.9.17).

2.6 Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie

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anti-bembistisches Statement. In seinen spteren Jahren dagegen greift er wieder auf Bembo zurck, aber nur, um ihn den eigenen Belangen dienstbar zu machen. Bembos gattungsbergreifend gedachte Verschrnkung von ‘piacevolezza’ und ‘gravit’ wird nmlich auf die Gattungspoetik umgelegt, wo sie, wie die Cavaletta zeigt, zunchst einmal fr die Lyrik Bedeutung erhlt. Kurz nach der Cavaletta nimmt Tasso die berarbeitung der Discorsi dell’arte poetica in Angriff. Wir drfen deshalb davon ausgehen, dass die in der Cavaletta skizzierten Gedanken bei der Abfassung der Discorsi del poema eroico weiter virulent waren.475 Fr diese Vermutung spricht die gegenber den frhen Discorsi gesteigerte Bedeutung, die Tasso – im Einklang mit den Festlegungen in der Cavaletta – der Stilmischung einrumt. Hinsichtlich der Lyrik bedeutet die implizite Referenz auf Bembos Konzept der Koprsenz von ‘piacevolezza’ und ‘gravit’ zum einen, wie gesehen, die Exklusion ‘unlyrischer’ Lyrik: auch dort, wo ‘gravit’ den Ton angibt, bleibt Lyrisches (Lyrisch im Verstehen der Definition der Discorsi) wirksam. Zum anderen aber bedeutet es, dass die Idee des Lyrischen neu justiert wird. Vor dem Hintergrund der bembistischen Prose impliziert die Erhebung der Gattungsmischung zu einer verbindlichen Norm, dass eine wie auch immer dosierte ffnung auf den hohen Stil gleichsam dem Programm des ‘poeta lirico’ zugeschlagen wird. Der vollkommene Lyriker begngt sich also nicht mit einer Realisierung des prototypischen Kerns, den die ‘concetti lirici’ umreißen, sondern macht zugleich den potenziellen Ausgriff auf das ‘genus grande’ zum konstitutiven Teil dieser Realisierung.476 Das Genre der Lyrik kann dadurch in der Gattungshierarchie angehoben werden. Im Introduktionsgedicht seiner Rime, die erstmals 1591 publiziert wurden, expliziert Tasso in diesem Sinne, dass die eigentlich unter dem Signum der ‘dolcezza’ stehende Liebeslyrik sich in Richtung des ‘genus grande’ bewegen kçnne: vom „vario 475 In den Discorsi del poema eroico wird Bembo mit Blick auf die ‘contrapposti’ als Modell lyrischen Sprechens ausgiebig zitiert, vgl. Tasso 1977, 351 f. (DPe). Komplementr dazu wird Della Casa in den spten Discorsi nicht bloß als idealtypischer Reprsentant der ‘gravit’, sondern auch als vorbildlicher ‘lirico’ behandelt, und zwar in geradezu demonstrativer Weise: Als Modell lyrischen Sprechens fhrt Tasso Della Casas Gedicht Dolci son le quadrella ond’Amor punge an, und er zitiert dieses Sonett als einziges in den ganzen Discorsi in voller Lnge. Vgl. Tasso 1977, 355 f. (DPe). 476 Indem die ffnung der Lyrik auf das ‘genus grande’ gleichsam zum Normalfall der Gattung erklrt wird, verliert auch die Illustration der Verfahren des hohen Stils durch zahlreiche Beispiele aus der Lyrik Petrarcas viel von dem Irritationspotential, das eine rigide Einengung des Lyrikkonzeptes auf den prototypischen Kern der ‘concetti lirici’ erzeugt htte.

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2. Lyrik als Makrogattung

carme“ der Liebesdichtung heißt es, er kçnne „agguagliar il suon de l’arme, / E de gli Heroi le glorie, e i casti amori“.477 Dass die – stets der Kontrolle durch das ‘iudicium’ unterworfene – ffnung auf den hohen Stil der Matrix der Lyrik eingeschrieben werden konnte, wurde nicht zuletzt durch eine Besonderheit der Hermogenes-Rezeption befçrdert. Dort nmlich wurde die Stilidee des ‘k llos’ (it. ‘bellezza’) stets als Schnittstelle zwischen dem mittleren und dem hohen Stil gesehen. Wenn Tasso ‘bello’ als Stilbegriff gebraucht, dann tut er das, und zwar in vergleichbarer Hufigkeit, sowohl hinsichtlich der ‘forma ornata’ wie der ‘forma magnifica’. Die ffnung des lyrischen Genus auf den hohen Stil war damit auch von der Stillehre her autoritativ gedeckt. Die Identit t der Lyrik. Im Kontext rinascimentaler Gattungspoetik gebhrt Tassos Lyriktheorie ein besonderer Rang. Statt sich in die Problematik mimetischer Legitimierbarkeit der Lyrik zu verkmpfen, suchte Tasso nach einem Weg, der Lyrik jenseits des Ensembles der formal-metrisch bestimmten Kleinformen ein einheitliches Geprge auf semantischem Fundament zu verschaffen. Ermçglichungsbedingung dafr war die konzeptionelle Zurichtung der Gattung auf die Stiltheorie. Auf diese Weise konnte das Genre eine eigene Identitt erlangen. Die plural gewordene Stiltheorie und der dort vorgegebene Gedanke der Stilmischung befçrderten ein typologisches Gattungskonzept, welches es erlaubte, die Idealform des Lyrischen und die vielfltigen Konkretisierungen der Lyrik in eine – wenn auch prekre, so doch halbwegs akzeptable – Balance zu bringen. Der Weg dahin war schwierig, und er war alles andere als von argumentativer Gradlinigkeit und Transparenz: Verschweigen, Gltten, berspielen und Suggerieren waren immer wieder Tassos Mittel der Wahl. Doch Tassos Versuch einer einheitlichen Theorie des Lyrischen weist weit in die Zukunft: Das Ziel, Lyrik von der Idee des Lyrischen her zu denken und diese wiederum als eine semantisch bestimmte ‘Sprechweise’ zu begreifen, die anderes leisten will als eine bloß klassifikatorische Behandlung des traditionellen Formenbestandes, also der ‘Staubwolke’ der Kleingattungen wie Kanzone, Sonett, Ballata, Madrigal etc. – dieses Ziel verweist auf die Unterscheidung von Lyrischem (als einer Grundform) und Lyrik (als den je 477 Vere fur queste gioie, e questi ardori, Vers 3 f. (Text nach: Tasso 1592, 1). Der den Gedichten beigegebene Selbstkommentar (Tasso 1592, 2 f.) autorisiert die Stilhebung mit Verweis auf den griechischen Chorlyriker Stesichoros und indiziert dadurch, dass Tasso sein am ‘charact r glaphyrs’ ausgerichtetes Lyrikkonzept mit der traditionellen Vorstellung der ‘lyrica nobilitas’ kompatibilisieren mçchte.

2.6 Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie

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konkreten Texten, die diese Grundform mehr oder weniger typisch verwirklichen). In den Lyriktheorien seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wird diese Differenz in vielfltigen Abwandlungen fr die gattungstheoretischen berlegungen nutzbar gemacht. In Emil Staigers ‘Fundamentalpoetik’478 wird die konzeptionelle Entbindung der ‘Idee’ des ‘Lyrischen’ von ‘Lyrik’ als einem bloßen Sammelbegriff fr je historische Konkretisierungen der Gattung ihre konsequenteste Ausprgung finden.479 Der Blick auf Staiger zeigt aber auch, dass bezglich der Semantik des Lyrischen Tassos Theorie weniger ein Aufbruchsignal als eher ein Abschluss ist. Nicht stimmungsvolle Innerlichkeit480 ist das unifizierende Moment von Tassos Idee des Lyrischen. Im Gegenteil: Ihm geht es darum, mit seiner Theorie die um den ‘Klassiker’ Petrarca kreisende, einheimische Praxis der Lyrik gattungspoetologisch als ein in sich kohrentes Genre von intersubjektivem Zuschnitt verstehbar zu machen, fr das die Frage von Lyrik und Subjektivitt481 noch keine Rolle spielt.

478 Staiger 1971, 10. 479 Staiger 1971, 8 f. Zu Staiger vgl. auch Hempfer 1973, 19 f. u. 69 f. Vgl. ebd., 63 – 67 zu den Vorformen dieser Differenzierung, die bis auf Goethes Auffassung von den Naturformen der Dichtung, die von den je historischen Gattungskonkretisierungen geschieden sind, zurckgefhrt werden. Nur am Rande erwhnt sei, dass Tassos Konzentration auf drei Gattungen – Epos, Tragçdie und Lyrik – pragmatischer Natur ist und in keiner Weise auf die Ausbildung des systematisch orientierten triadischen Gattungsdenkens (mit der Lyrik als einer der drei ‘Naturformen’) bezogen ist, das seit dem spten 18. Jahrhundert ber eine lange Zeit hinweg die Gattungsdiskussion bestimmen sollte. Zudem erweitert Tasso die Trias, wenn seine Argumentation es erfordert, etwa mit Blick auf die komische Dichtung, vgl. Tasso 1977, 337 (DPe). 480 Vgl. dazu Staiger 1971, 46 f. 481 Das Subjektivittskonzept, das Hegel als Basis seiner Lyrikauffassung dient, ist bei Staiger unter dem Einfluss Heideggers fundamentalontologisch ‘umgebogen’, behlt dort aber, trotz aller anderslautenden Bekundungen (vgl. Staiger 1971, 45 f.), seine Prgekraft fr die Bestimmung des Lyrischen.

3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen 3.1 Die lyrischen Einzelgattungen zwischen Systembildung und Pluralisierung Die Wiederentdeckung und Neubewertung der Poetik des Aristoteles stellt fr die Dichtungstheorie der Renaissance einen Quantensprung dar. Fr die Poetologie bedeutet die Auseinandersetzung mit den berlegungen des Stagiriten zur ‘poiesis’ einen markanten Zugewinn an disziplinrer Professionalisierung. Dies gilt fr die kategoriale Begrndung von Dichtung, fr ihre systematische Rahmung und fr ihre gattungspoetologische Ausdifferenzierung. In dem letztgenannten Zusammenhang sind neben den Fragen von Epos und Tragçdie vor allem auch die Probleme der Lyrik von Belang. Fr die aristotelisch argumentierenden Dichtungstheoretiker der italienischen Renaissance stellt sich dabei unabweislich die Frage, wie die im Gefolge der Kanonisierung Petrarcas erfolgreichste zeitgençssische Dichtungsform, die Lyrik, in das Konzept einer Poetik eingebunden werden kann, von der die Lyrik gar nicht explizit als eigenstndige Gattung behandelt wird. Die Lçsungsmçglichkeiten, Schwierigkeiten und Widersprche, die sich dabei ergeben, hat Kapitel 2 nachzuzeichnen versucht. Im Kontext der aristotelischen Erçrterungen zur Lyrik-Problematik zeigt sich jedoch auf Schritt und Tritt, dass die tradierten Modi des poetologischen Zugriffs auf die lyrischen Genera durch den neuen ‘fundamentalpoetologischen’ Ansatz der Mimesistheorie keineswegs obsolet geworden sind. Im Gegenteil: Die durch die horazische Poetiktradition unterftterten und bis ins spte Mittelalter zurckreichenden Bemhungen, Lyrik auf der Grundlage hçchst detaillierter, metrisch-strophischer Erçrterungen zu bestimmen, behalten durch die gesamte Renaissance hindurch ihre Prgekraft. Lyriktheorie findet in der Renaissance mithin auch auf der Partikularebene einer Poetik einzelner lyrischer Gattungsformen statt. Eine betrchtliche und in sich durchaus heterogene Menge von Texten berliefert (meist) normativ konzipierte Beschreibungen metrischer Formen, deren Darstellung als Komplement zur Analyse der aristotelischen Systematisierungsversuche konstitutiver Teil einer Darstellung rinascimentaler Lyriktheorien sein muss. Hier bietet sich freilich weniger eine auf einzelne

3.1 Die lyrischen Einzelgattungen zwischen Systembildung und Pluralisierung 131

Theoretiker bezogene Rekonstruktion umfassender Argumentationen an als vielmehr eine vergleichende historische Darstellung der poetologischen Entwicklung der je einschlgigen Genera. Die Problemstellungen, die dabei nachzuzeichnen sind, sind mithin dominant solche einer Gattungstradition, nicht die eines Autors; ihre Analyse wird daher im Folgenden im Rahmen gattungsorientierter Kapitel geschehen. Im Einzelnen verhandelt werden Sonett und Epigramm, Canzone und Ode, Madrigal und Ballata und schließlich die Elegie und dazu affine Formen. Dies schließt freilich nicht aus, ja erfordert zustzlich, dass die jeweiligen Ausfhrungen zu einzelnen Gattungen zugleich auf ihre Stellung und Funktion innerhalb des Kontexts transparent gemacht werden, aus dem sie stammen. Die Abhandlungen, in denen Elemente einer Poetik der lyrischen Einzelgattungen zu finden sind, gehçren unterschiedlichen Texttypen und Diskurstraditionen an. Von zentraler Bedeutung sind hier Textsorten, die konstitutiv metrische Argumentationsschwerpunkte aufweisen. Sie stellen damit, ganz im Gegensatz zur aristotelischen Definition der Dichtung als Mimesis, gerade eine im Aristotelismus nicht definierende Eigenschaft der Dichtung zentral: eben ihre Verfasstheit als gebundene Rede. Damit stehen sie in einer Tradition der ‘ars metrica’, wie sie schon in der Sptantike (Caesius Bassus) und im frhen Mittelalter (Beda Venerabilis) gepflegt wird und teils auch die ‘poetriae’ des hohen Mittelalters prgt, aber auch in der horazisch-rhetorischen Tradition einen Platz hat.482 Diese Diskursformen werden in dem hier interessierenden Zeitraum von Antonio Da Tempos trecentesker Summa artis rithimici vulgaris dictaminis bis zu Einzeldarstellungen des Sonetts (Toralto 1589) oder des Madrigals (Massini 1588) fortgefhrt. Massinis Darstellung gehçrt jedoch zugleich einem anderen Typus an, nmlich demjenigen der ‘lezione’. Viele solche ‘lezioni’ stehen – wenn sie Einzelexemplare lyrischer Genera zum Gegenstand haben – auch der Tradition des Kommentars nahe. Auch diese ist im brigen ein bedeutendes Reservoir gattungspoetologischer Einzelbe482 Vgl. zum Stellenwert der Metrik in den mittelalterlichen Poetiken bereits den Titel von Johannes de Garlandias Parisiana poetria de arte prosaica, metrica et rhythmica (ca. 1324). Was die horazisch-rhetorische Tradition betrifft, so spielt die Metrik vor allem hinsichtlich der Stillagendiskussion eine Rolle. Ausgehend von den Versen 73 – 98 von Horaz’ Ars poetica, wo die Angemessenheit der Metren fr unterschiedliche Gattungen und Themen diskutiert wird, werden die Versarten in stillagenpoetologische Systematiken in der Tradition der Rota Virgilii eingepasst, etwa im Horazkommentar des Badius Ascensius (1500); vgl. hierzu Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 83.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

obachtungen; so finden sich etwa in Gesualdos großem Petrarca-Kommentar von 1533 neben ausfhrlichen Diskussionen zu Interpretationsund Wertungsfragen auch Anmerkungen zu den metrischen Gattungen des Canzoniere. Wie bei der Analyse der systempoetologischen Konstruktionen von ‘Lyrik’ sind auch bei der historischen Rekonstruktion der Poetiken lyrischer Einzelgattungen die bergreifenden Systementwrfe von Belang. Manche dieser Poetiken, etwa diejenige Trissinos, sind hybride Texte zwischen allgemeiner Poetik und metrischem Traktat. Auch ein aufs Ganze zielender Text wie Minturnos Dell’arte poetica (1564) nimmt in seine poetologische Systematik hochspezialisierte Ausfhrungen zur Metrik der lyrischen Genera hinein. Dabei ist bereits auf dem Titelblatt ein Versuch zu beobachten, eine an Petrarca orientierte Normierung metrischer Einzelgattungen in einen zwar synkretistisch-pluralen, aber dem Anspruch nach systematischen Rahmen einzuspannen.483 Eine weitere wichtige Textsorte, in der bis ins kleinste Detail Fragen der Metrik verhandelt werden, ist der Dialog, etwa Tassos Cavaletta oder Toraltos bereits erwhnte Schrift ber das Sonett, La Veronica. Auch Bembos Prose della volgar lingua variieren dieses Muster.484 Bei Dialogen ist in Anschlag zu bringen, dass die von den Dialogfiguren vorgebrachten Thesen nicht mit einer etwa vorhandenen Kernthese des Gesamttextes identisch sein mssen. Poetologische Stellungnahmen, die diesen Texten zu entnehmen sind, mssen also in manchen Fllen mit Blick auf den Dialogkontext relativiert werden. Insofern wird die Pluralitt der Textsorten, die fr die Theorie der Lyrik von Bedeutung sind, im Falle des Dialogs noch um eine potenzielle textinterne Pluralitt der Standpunkte erweitert. Bembos Prose, deren Einfluss gerade auf die Diskussion ber die Lyrik kaum berbetont werden kann, gehçren zudem noch einer weiteren Gruppe theoretischer Texte an: den Abhandlungen zur Sprachenfrage, zu denen auch Dantes De vulgari eloquentia zu zhlen ist. Die Frage ‘Latein oder Volkssprache?’ (und damit verbunden die zweite Frage ‘Wenn letztere, 483 Zum Titelblatt von Minturno [1564] 1971: Hier wird zunchst die angezielte Systematik mit dem Begriff „precetti“ normativ eingefrbt („i precetti Heroici, Tragici“ usw.). Sodann wird die „Dottrina de’ sonetti, canzoni, & ogni sorte di Rime Thoscane“ als Teil dieser bergreifenden „precetti“ situiert. Bei Letzterem wird dann das Versprechen gegeben, den „modo, che tenne il Petrarca nelle sue opere“ darzulegen, bevor sich mit der Aussicht, hier werde alles von Aristoteles, Horaz und anderen griechischen und lateinischen Autoren zur Poetik Gesagte aufbereitet, die Pluralitt vollends Bahn bricht. Vgl. zu Minturno Kap. 2.4. 484 Tasso 1958, Toralto 1589, Bembo [1525] 2001.

3.1 Die lyrischen Einzelgattungen zwischen Systembildung und Pluralisierung 133

dann welche Variett?’) spielt in verschiedenen Kontexten eine Rolle; am wirkmchtigsten wurde sie nicht im Hinblick auf pragmatische Textsorten, sondern im Zusammenhang mit Dichtung diskutiert. Sie stellt sich mithin als Frage nach einer poetischen Sprache. Beide, Dante wie Bembo, gehen den Problemkomplex der Lyrik von dieser allgemeineren Frage nach der Dichtungssprache her an, wobei bei Bembo der Aspekt der Schriftlichkeit besonderes Gewicht erhlt. In diesem Zusammenhang ist zu klren, warum berhaupt ein mittelalterlicher Traktat wie Dantes De vulgari eloquentia in eine Analyse rinascimentaler Poetik einfließen soll. Die Aktualitt dieses Textes fr das Cinquecento ergibt sich aus Trissinos Interesse daran, welches zu einer Neubersetzung ins ‘volgare’ fhrte. hnliches gilt fr die gleichfalls schon erwhnte Summa des Antonio Da Tempo: Auch sie wurde 1509 noch gedruckt und war somit zeitgençssisch als Referenztext nicht nur zugnglich, sondern eben auch aktuell.485 Die Gegenwrtigkeit von Dantes und Antonio da Tempos Schriften bedeutet zugleich, dass mittelalterliche metrische Normierungen im frhen Cinquecento nicht nur als implizite Regularitten einer poetischen Praxis prsent sind, sondern auch als explizite Regeln, die in potenziell autoritativen Druckschriften nachgelesen werden kçnnen. In der Tat tradieren viele sptere poetologische Texte, etwa diejenigen Minturnos oder Tassos, einzelne Elemente aus diesen beiden mittelalterlichen Quellen weiter und speisen sie in den rinascimentalen Kontext ein. Hier ist nicht nur eine Dualitt von tradierter dichterischer Praxis und neuer poetologischer Theorie zu beobachten, sondern auch ein Aufeinandertreffen mehrerer Theoriediskurse, nmlich des aristotelisierend-systematischen, des metrisch-formalen und des horazisch-rhetorischen. Mit der Rolle des Trecento fr die Renaissancepoetik gert ein Problem in den Blick, das vor allem die Einschtzung der Lyrik im 16. Jahrhundert betrifft. Neben das etwa von Weinberg und Hathaway486 umfassend dargestellte Neben- und Gegeneinander von horazisch-rhetorischer und aristotelisch-mimetischer Poetik tritt noch die Dualitt zweier ‘Klassiken’, nmlich der antiken und der trecentesken: Mit Petrarca kanonisiert Bembo einen Autor als Vorbild der Dichtung, der zwar wie kaum ein zweiter fr ein Programm der Antiken-Renovatio einstehen kann; dieser aber bedient sich dichtungspraktisch eines Formenrepertoires, welches gerade nicht in der 485 Venedig: Simon de Luere. Vgl. Richard Andrews: „Premessa“, in: Da Tempo 1977, VIII. 486 Dies sind zentrale Themen von Weinberg [1961] 1974 und Hathaway 1962.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Antike, sondern in dem vermeintlich ‘dunklen’ Zeitalter wurzelt, das Petrarca mit seinem Programm der Kulturerneuerung ja gerade berwinden wollte.487 Es gibt zwei grundstzliche Antworten auf die darin liegende Problemstellung, welche auch beide gegeben worden sind: Entweder muss eine konsequente Erneuerung antiker Verhltnisse auch die Ersetzung von Petrarcas metrischen Gattungen durch antikisierende Metren wie etwa die volkssprachliche Ode in sich begreifen. Oder es ist eine quivalenz zwischen den von Petrarca gepflegten Metren und denjenigen der Antike plausibel zu machen. Aus diesem Grund behandeln im Folgenden die beiden Kapitel zum Sonett (3.2) und zur Canzone (3.3) auch diejenigen Gattungen, die im Rahmen eines immer umfassenderen Interesses an der Antike als Konkurrenten oder quivalente dieser beiden Genera in Betracht kommen: Dies ist im Falle der Canzone die Ode, im Falle des Sonetts das Epigramm (aber in manchen poetologischen Ausfhrungen ebenfalls die Ode).488 Im Feld der Elegie lsst sich zudem beobachten, wie die Grenzen zwischen lateinischen und volkssprachlichen Gattungstraditionen auch verschwimmen kçnnen (vgl. Kap. 3.5). Verbunden mit dieser Problematik der Autoritt der volkssprachlichen ‘Klassiker’ ist die Frage nach dem Status der toskanischen Dichtung vor Petrarca. Die Texte der ‘antichi toscani’ werden seit der Raccolta Aragonese neu rezipiert und teils als autorisierbares Corpus wahrgenommen.489 Trissino oder Massini verwenden Beispiele aus diesem Repertoire als Belege fr ihre Argumentationen im Hinblick auf die Metrik lyrischer Einzelgenera.490 Insbesondere in den metrischen Traktaten, aber auch in den allgemeinen Poetiken wird Detailfragen der Reim- und Versordnung ein aus heutiger Sicht vielleicht berraschend hoher Stellenwert zugestanden.491 Dabei ist ein stndiges Changieren von Deskriptivitt und Normativitt zu beobachten, welches ein Symptom der spezifischen Autorisierungsstruktur dieser poetologischen Diskussion ist. In dem Maße nmlich, in welchem 487 Gemeint sind die „tenebrae“ von Africa 9.457. 488 Eine quivalentsetzung beider Formen, Canzone und Sonett, mit der antiken Ode findet sich etwa bei Segni [1573] 1972, 94 – 96; vgl. auch Gesualdo 1533, 3. 489 Unter dem Titel Raccolta Aragonese ist eine Sammlung lterer toskanischer Dichtungen bekannt, die Lorenzo de’ Medici 1476 – 1477 fr den neapolitanischen Prinzen Ferdinand von Aragn anfertigen ließ. 490 Vgl. etwa Trissino [1529] 1970, 131 und Massini 1588, 160 f. 491 Ein Beispiel ist die Detailfreudigkeit der Ausfhrungen zu metrischen Fragen hinsichtlich der Canzone in Minturno [1564] 1971, 199 – 223.

3.1 Die lyrischen Einzelgattungen zwischen Systembildung und Pluralisierung 135

nicht ein explizites Regelsystem, sondern ein Textcorpus vorbildlicher Realisierungen das Modell von Dichtung vorgibt, ist die deskriptive Erfassung von dessen Eigenschaften zugleich das Herausprparieren impliziter Regeln. Die Verszahl etwa, die sich in den Canzonen der kanonisierten Autoren finden lsst, ist dann zugleich die ‘richtige’ Verszahl fr eine poetologisch normgerechte Canzone. Deskription legt in einem solchen von der Imitatio-Poetik bestimmten Zusammenhang implizite Normen frei und geht daher bruchlos in explizite Normierung ber.492 Metrische Details werden also auch in den großangelegten cinquecentesken Poetiken im Einzelnen thematisiert. Dies geschieht jedoch keineswegs immer in Form einer bloßen Ansammlung von Details; vielmehr bemhen sich viele der Autoren, die Partikularitten zu grçßeren Tableaus zu ordnen. Bei Genera wie der Canzone und dem Madrigal (dazu Kap. 3.3 und 3.4) wird oft die spezifische Medialitt der Gattung (insbesondere die musikalische Darbietung) als Vorbedingung der metrischen Struktur mitbedacht; dadurch sind die formalen Einzelheiten in einer bergeordneten Gegebenheit rckgebunden. Eine solche Betonung der Medialitt ist bei nicht-musikalischen Gattungen wie dem Sonett und der Elegie weniger zu beobachten. Aber auch fr die Canzone wird im Laufe der Zeit zwischen Dante493 und Tasso494 die mediale Vorstrukturierung der Metrik immer weniger wichtig. Dazu kommt, dass diese Medialitt selbst Vernderungen unterworfen ist. Solche Modifikationen in der je vorausgesetzten medialen Gestalt machen sich bisweilen in terminologischen Verschiebungen in der Sprache der Poetiken bemerkbar.495 Die Medialitt gehçrt zu jenen Punkten, an denen bergreifende poetologische Systementwrfe und Einzelpoetiken einander berhren und bisweilen auch miteinander interferieren. Dies fhrt so weit, dass fr Einzelgattungen bisweilen mediale Eigenschaften postuliert werden, die zwar in die gewnschte Systematik passen, aber ganz offensichtlich nicht der zeitgençssischen Wirklichkeit entsprechen (vgl. die Einlassungen Tassos zum Sonett mit Instrumentalbegleitung496 oder Minturnos zur getanzten Ballata als moderner Form der antiken getanzten Chorlyrik497).

492 493 494 495 496 497

Vgl. etwa Trissino [1529] 1970, 143. Vgl. Dante 1957, 2.9.16. Vgl. Tasso 1958, 649. Vgl. etwa Dolce 1550, 105r ; hierzu Kap. 3.3. Vgl. Tasso 1958, 666. Vgl. Minturno [1564] 1971, 170 f. und 178.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Die bergreifenden Zusammenhnge, in die die Einzelgattungen eingepasst werden sollen, sind verschiedener Art. Die aristotelische Mimesispoetik, die im Mittelpunkt des 2. Hauptkapitels dieses Bandes stand, ist nur die prominenteste innerhalb einer Pluralitt bergreifender Systematiken. Neben der oben anhand von Tasso und Minturno gezeigten Einteilung nach medialen Gesichtspunkten spielen auch stillagenpoetologische Modelle und genetische Ordnungen (ursprngliche und abgeleitete, antikennahe und antikenferne Genera) eine Rolle. An Minturnos Entwrfen (vgl. Kap. 2.4) kann man beobachten, wie mehrere solcher Ordnungsbildungen einander berlagern, wie sie sich gegenseitig verkomplizieren oder wie sie dadurch gar gesprengt werden. Davon werden auch die Theorien der Einzelgenera erfasst. Ebenso plural wie die gattungspoetologischen Konstruktionen, in die die verschiedenen lyrischen Formen eingepasst werden, sind die je in den Diskussionen ber einzelne Genera vorherrschenden Themen und Fokusbildungen. Neben den schon angesprochenen Details der Metrik sind fast durchgngig die im rhetorischen Denken verankerte ‘res’ / ‘verba’Relation und die damit verbundene Dignitt der jeweiligen Gattung im Verhltnis zu anderen von Bedeutung: Im Sinne des rhetorischen Aptums ist das Repertoire denkbarer Themen hierarchisch geordnet und an eine parallele Hierarchie der Stillagen gebunden; die Zuordnung eines Themenspektrums impliziert daher auch die Zuordnung eines dazu passenden Stillagenbereichs. Beide Komponenten weisen eine Gattung als jeweils hçher oder niedriger stehend aus. Trotz dieser Gemeinsamkeiten sind die Akzentsetzungen in den einzelnen poetologischen Debatten aber je unterschiedliche. Beim Sonett ist beispielsweise der Widerstreit oder auch die Amalgamierung aristotelischer und stillagenpoetischer Definitionen ein zentraler Strang der Gattungspoetik. Sonett und Madrigal haben gemeinsam, dass bei ihrer Definition darber diskutiert wird, ob ihnen ein bestimmter thematischer Bereich zukommt oder ob sie in dieser Hinsicht vollkommen frei sind. Canzone und Sonett eint der bereits erwhnte Umstand, dass ber ihre Gleichsetzung mit antiken Gattungen verhandelt wird. Diese Pluralitt der poetologischen Kontroversen ist sowohl in der Sache als auch in der Episteme der Epoche begrndet: Das Unterfangen, disparate Objekte durch Rekurs auf verfgbare Autoritten zu einem einheitlichen Feld zusammenfassen zu wollen, muss mit der Verschiedenartigkeit der fr die jeweiligen Gegenstnde relevanten Gesichtspunkte fertig werden. Ihre Vielfalt ergibt sich, wie oben angedeutet, auch aus den ganz unterschiedlichen Zielsetzungen und Gattungskontexten der theo-

3.1 Die lyrischen Einzelgattungen zwischen Systembildung und Pluralisierung 137

retischen Quellen, in denen ber Lyrik nachgedacht wird. Versuche autoritativer Ordnungsbildung werden dabei immer wieder konterkariert durch ein Pluralisierungsdispositiv, das, weil epistemisch verankert, auch die Poetologie bis in die Diskussion metrischer Details prgt.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

3.2 Sonett und Epigramm Dignit t des Sonetts und fr he Formalpoetik des Sonetts. Das Sonett gilt Dante als eine Gattungsform, die einen relativ niederen Status einnimmt. In De vulgari eloquentia 2.3 hebt Dante die Canzone aus einer Reihe von Grnden auf das Podest der lyrischen Form mit der hçchsten Dignitt: Allein die Canzone sei, so Dantes Argumentation unter anderem, zur Erreichung ihres Wirkungsziels in autonomer Weise imstande, sei gewissermaßen autark,498 außerdem seien allein in der Canzone alle Kunstmittel der „ars cantandi poetice“ konzentriert vereint.499 Die Autarkie der knstlerischen Verfahren, die der Canzone zugeschrieben wird, zieht einen Vergleich mit der Ballata nach sich, und dieser Vergleich wird zu einer hierarchischen Ordnung von (in absteigender Reihenfolge) Canzone, Ballata und Sonett ausgebaut: „ergo cantiones nobiliores ballatis esse sequitur existimandas, et per consequens nobilissimum aliorum esse modum illarum, cum nemo dubitet quin ballate sonitus nobilitate excellant“.500 Im Folgenden schließt Dante an die somit etablierte Hierarchie eine spezifische Ausformung der Lehre von den drei Stillagen an, erlutert allerdings nur den ersten und hçchsten (‘tragischen’) Stil gattungsspezifisch, nmlich auf die Canzone bezogen: Deinde in hiis quae dicenda occurrunt debemus discretione potiri, utrum tragice, sive comice, sive elegiace sint canenda. Per tragediam superiorem stilum inducimus, per comediam inferiorem, per elegiam stilum intelligimus miserorum. Si tragice canenda videntur, tunc assumendum est vulgare illustre, et per consequens cantionem [oportet] ligare. Si vero comice, tunc quandoque mediocre, quandoque humile vulgare sumatur; et huius discretionem in quarto huius reservamus ostendere. Si autem elegiace, solum humile oportet nos sumere. Sed ommittamus alios, et nunc, ut conveniens est, de stilo tragico pertractemus.501 498 „quidquid per se ipsum efficit illud ad quod factum est, nobilius esse videtur quam quod extrinseco indiget: sed cantiones per se totum quod debent efficiunt, quod ballate non faciunt: indigent enim plausoribus, ad quos edite sunt“ (Dante 1957, 2.3.5). 499 „in artificiatis illud est nobilissimum quod totam comprehendit artem: cum igitur ea que cantantur artificiata existant, et in solis cantionibus ars tota comprehendatur, cantiones nobilissime sunt, et sic modus earum nobilissimus aliorum. Quod autem tota comprehendatur in cantionibus ars cantandi poetice, in hoc palatur, quod quicquid artis reperitur in omnibus aliis, et in cantionibus reperitur; sed non convertitur hoc“ (Dante 1957, 2.3.8). 500 Dante 1957, 2.3.5. 501 Dante 1957, 2.4.5 – 7.

3.2 Sonett und Epigramm

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Wie Dante selbst andeutet, war eine Behandlung der mittleren und unteren Stilebene sowie der dazugehçrigen Gattungen fr das vierte Buch von De vulgari eloquentia vorgesehen und augenscheinlich bereits vorbereitet. Da die Darstellung unterblieben ist, war die Frage nach der Einordnung des Sonetts und der Begrndung dafr durch Dante ungelçst und wurde im Cinquecento unterschiedlich beantwortet. Nicht ohne Wirkung auf die Sonettpoetik der nachfolgenden Generationen blieb Dantes ausfhrliche formale Behandlung der Canzone und ihrer Strophen. Denn die frhe Sonettpoetik vor dem Einsetzen gattungssystematischer und aristotelisierender Anstze ist zu großen Teilen eine formale (metrische, stilistische, lexikalische) Theorie, die sich an der von Dante ausgehenden Formalpoetik der Canzone orientiert.502 Whrend somit im Mittelalter bei der gattungstheoretischen Behandlung des Sonetts die Analogie zur Canzonenstrophe eine zentrale Rolle spielte,503 wird in der Frhen Neuzeit eine andere Analogierelation einen wichtigen, aber umstrittenen Aspekt der Theorie des Sonetts bilden: 502 Vgl. Borgstedt 2009, 16: „Die Sonettauffassung des ersten Jahrhunderts seiner Geschichte lsst sich in diesem Sinn an seiner Beziehung zur strukturell und historisch vorgngigen Gattung der provenzalischen Kanzone festmachen. Von dieser grenzt sich das Sonettschema einerseits in seinem Ursprung ab, die Variabilitt und spielerische Kombinatorik der Kanzonenform wirkt andererseits aber auch wieder auf die neue Gattung zurck. Die formale Beschreibung des frhen Sonetts folgt in den ersten Poetiken noch recht exakt derjenigen der Kanzone, so dass das Sonett in seiner frhesten Ausprgung als Sonderform einer mittelalterlichen Stollenstrophe beschrieben werden kann.“ Davon unberhrt ist die alternative Annahme einer Entstehung des Sonetts aus einer Kombination zweier unterschiedlich langer Formen des ‘strambotto’ bzw. aus einer neuartigen Erweiterung eines einzelnen ‘strambotto’; vgl. zu den Ursprungshypothesen neben der ‘klassischen’ Studie von Wilkins 1959, die zugleich die wichtigen lteren Forschungsanstze diskutiert, berblicksartig Fubini 1966, 162 – 167; Ruschioni 1985, 14 – 17. 503 Nachhall hiervon ist, dass noch in der Hochrenaissance das Sonett neben der Canzone etymologisch mit dem Bedeutungsfeld ‘Klang’, ‘Gesang’ in Verbindung gebracht wurde: s. etwa die Canzoniere-Lezione von Giovanni Talentoni [1587] 1730, 28. Vgl. zur spten Etymologie von ‘sonetto’ auch Toralto 1589, 11 (‘sonetto’ von „suono picciolo“ im Sinne von ‘eingngiger Klang’ mit einer bembistisch ausgewogenen Mischung aus „dolcezza“ und „gravit“). Diese Erklrungen haben in Antonio Da Tempo einen prominenten Vorlufer: „[…] sonetus ideo dicitur quia in rithimando bene sonat auribus audientium“ (Da Tempo 1977, 7; gleich danach gibt Da Tempo allerdings auch eine alternative Erklrung: Beliebigkeit des Namens, und relativiert die Bedeutung der diversen Etymologien des Gattungsterminus).

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

nmlich die Analogie zum Epigramm.504 Etabliert wird diese Analogie bereits im Quattrocento. Lorenzo de’ Medici ist in der Einleitung zu seinem Selbstkommentar einer ausgewhlten Anzahl eigener Sonette (Comento de’ miei sonetti) bestrebt, das Sonett im Gegenzug zu Dante als die lyrische Form mit der hçchsten Dignitt zu etablieren, und er tut dies durch einen ausdrcklichen und ausfhrlichen Verweis auf die formalen Probleme, die die weitgehend fixierte und vorgegebene Sonettform fr die Ausformulierung eines konzisen Gedankens stelle – eines konzis zugespitzten Gedankens, so kann man ergnzen. Und hier kommt fr Lorenzo die Analogie ins Spiel, die ihm das Epigramm zum scharf gedrngten Sonett zu bieten scheint. Er benennt fr die Gemeinsamkeit zwischen Sonett und Epigramm exakt die beiden Merkmale, die die Theorie auch spter immer wieder als fr das Epigramm typisch herausstellen wrde, nmlich Krze und Pointierung: La brevit del sonetto non comporta che una sola parola sia vana, e il vero subietto e materia de’ sonetti, per questa ragione, debba essere qualche acuta e gentile sentenzia, narrata attamente e in pochi versi ristretta, fuggendo la obscurit e durezza. Ha grande similitudine e conformit questo modo di stile con lo epigramma, quanto allo acume della materia e alla destrezza dello stile, ma degno e capace il sonetto di sentenzie pi gravi, e per diventa tanto pi difficile.505

Wie das Zitat zeigt, wird das Sonett von Lorenzo nicht nur mit dem Epigramm parallelisiert, sondern zugleich mit der Kapazitt versehen, ‘sentenzie gravi’ auszudrcken. Wrde man dies in den Kategorien der Stillagenpoetik fassen (was Lorenzo tunlichst vermeidet), wre das Sonett an exakt die Stelle zu rcken, an die bei Dante die Canzone zu stehen kommt, nmlich auf die Ebene des hohen Stils. Dies ist ein Vorverweis auf eine grundstzliche Schwierigkeit, die das Cinquecento auszufechten haben wird, nmlich auf die unklare stiltheoretische Profilierung des Sonetts. 504 Vgl. Borgstedt 2009, 16: „In der Frhen Neuzeit wird das Sonett […] unter dem Einfluss der humanistischen Poetik und mit der Rezeption durch andere Nationalliteraturen zunehmend mit dem antiken Epigramm identifiziert. Dies bewirkt einschneidende Vernderungen der Sonettdichtung auf allen relevanten Ebenen der Gestaltung.“ 505 De’ Medici 1991, 150 (Proemio §§ 115 f.). Dass Lorenzo brigens nicht nur dem Sonett, sondern implizit auch dem Epigramm sowohl eine ‘acuta sentenzia’ als auch eine ‘gentile sentenzia’ zuschreibt, kçnnte ein Verweis auf die beiden Rezeptionslinien des Epigramms sein, die sich zwischen Quattrocento und Cinquecento mit jeweils wechselnder Gewichtung abzeichnen: nmlich die des pointierten, ‘bissigen’ Martial und die des eleganten, ‘lyrischen’ Catull.

3.2 Sonett und Epigramm

141

Zunchst aber schlgt, wie gesagt, im Mittelalter (also vor der maßgeblich durch Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta bedingten formalen Stabilisierung einer ‘Standardform’ des Sonetts506) in Anlehnung an Dantes ausfhrliche Behandlung der Canzone der Gesichtspunkt des formalen Sonettaufbaus (Strophenform, Strophengliederung, Reimschema) maßgeblich zu Buche.507 Summiert erscheint dieser Aspekt am bergang zur Frhen Neuzeit in Antonio Da Tempos Summa artis rithimici vulgaris dictaminis (im Jahr 1332 Alberto della Scala gewidmet). Da Tempo behandelt das Sonett als eines von insgesamt sieben „rithimorum vulgarium genera“.508 Nur eingangs (Kap. 3) kommt Da Tempo kurz auf die semantische Dimension des Sonetts zu sprechen: Er habe den von ihm jeweils beispielshalber zitierten Sonetten erluternde Auszge aus religiçsen, dichterischen oder philosophischen Autoritten beigefgt, weil Sonette – im Gegensatz zu „aliis […] ballatis et rithimicis, quae ut plurimum amoris venerei causa compilantur“ – deutlich strker dazu tendierten, ‘gewichtige’ Gehalte zu vermitteln, darin nur noch bertroffen von den gnzlich ‘moralischen’ ‘cantiones extensae’.509 Nach dieser einleitenden Bemerkung, 506 Nmlich des vierzehnzeiligen isometrisch-hendekasyllabischen Sonetts, vorzugsweise mit den Reimschemata ABAB ABAB oder hufiger ABBA ABBA fr die Oktav sowie fr das Sextett CDC DCD, CDE CDE oder CDE DCE. Vgl. hierzu und zu selteneren Petrarkischen Reimschemata die „Tavola metrica“ in Petrarca 1996, 1569 – 1571. 507 Ein Nachklang dessen ist, dass auch im Cinquecento das Sonett bisweilen rein formal definiert werden kann. So heißt es in Muzios Dell’arte poetica: „[…] ‘l sonetto / Di quattro in quattro e di tre in tre vien chiuso“ (Muzio [1551] 1970, 175, Vers 374 f.). Und noch Giovambattista Strozzi hat in seiner 1574 gehaltenen Lettione sopra i madrigali die von Antonio Da Tempo verhandelten isometrischheptasyllabischen und die aus Elfsilblern und Siebensilblern heterometrisch gebildeten Sonette gegenber dem Regeltyp herausgestrichen, dies freilich v. a. mit Blick auf eine rechtfertigende Theoretisierung des Cinquecento-Madrigals; s. Strozzi 1635, 168 f. 508 Vgl. Da Tempo 1977, 6: „Rithimorum igitur vulgarium septem sunt genera. Nam primo est sonetus, secundo ballata, tertio cantio extensa, quarto rotundellus, quinto mandrialis, sexto serventesius sive sermontesius, et septimo motus confectus“ (Hervorhebung im Original). 509 Vgl. Da Tempo 1977, 6 f.: „Et primo de sonetis in quorum qualibet copula aut versu apposui exterius quasi in modum glossae quamdam auctoritatem alicuius sancti aut prophetae aut doctoris aut poetae vel alicuius sapientis; quae omnia sunt aut verba sancta aut moralia vel notabilia. Ita quod soneti omnes infrascripti super huiusmodi auctoritatibus fundati reperiuntur; quia quasi de verbo ad verbum auctoritates in rithimis compilavi, quod meo parvo intellectui fuit valde difficile, quod forte alias non fuisset difficile nisi ipsos ex auctoritatibus compilassem. In aliis vero ballatis et rithimis, quae ut plurimum amoris venerei causa compilantur,

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

die das Sonett im Vergleich zu Dante mindestens auf einen zweiten Platz gehaltlicher Dignitt zu schieben scheint, untergliedert Da Tempo die Gattung Sonett in 16 rein formal bestimmte Unterkategorien: „[…] sonetorum sexdecim sunt species: scilicet simplex, duplex, dimidiatus, caudatus, continuus, incatenatus, duodenarius, repetitus, retrogradus, semiliteratus, metricus, bilinguis, mutus, septenarius, communis et retornellatus“.510 Die formale Betrachtungsweise tritt sogleich bei der Behandlung des ‘sonetus simplex’ in den Vordergrund: Da Tempo setzt mit der metrischen Unterscheidung von ‘pedes’ und ‘voltae’ ein und behandelt sodann die Versart (Elfsilbler) und Probleme der metrischen Silbenzhlung. Anschließend fhrt Da Tempo den ‘sonetus simplex’ mit seiner Definition ein, der zu entnehmen ist, dass es sich um ein hendekasyllabisches Sonett mit der Oktav ABBA ABBA handelt, in dessen Sextett die Reime A und B nicht mehr vorkommen.511 Als Beispiel wird ein Sonett der ‘klassischen’ Struktur ABBA ABBA CDC DCD angefhrt. Sodann wird die abgewandelte Form mit dem Sextett CCD DEE unter der berschrift „De prima diversificatione voltarum soneti simplicis“ (Kap. 8) behandelt. „De secunda diversificatione voltarum“ (Kap. 9) bringt dann die Struktur mit dem Sextett CDE CDE. Et cetera. Ausfhrlich behandelt Da Tempo auch Formen, die von der spteren petrarkistischen Tradition marginalisiert werden, etwa die verschiedenen Ausformungen des 20-zeiligen ‘sonetus duplex’, bei dem in die Quartette jeweils zwei, in die Terzette jeweils ein Kurzvers (Siebensilbler) eingelagert wird (Kap. 12 – 14),512 oder heterometrische Viernullas auctoritates apposui, sed solum consistunt ex verbis amoris praedicti; licet in ipsis plurima verba moralia et notabilia ad bene esse scripta reperiantur; et maxime in cantione extensa, quae tota super virtutibus est fundata, et in motibus confectis qui ex verbis notabilibus compositi sunt, ut inferius in suis exemplis et titulis declaratur“ (Hervorhebung im Original). 510 Da Tempo 1977, 7 (Hervorhebung im Original). 511 Vgl. Da Tempo 1977, 10: „Sonetus igitur simplex sive undenarius debet fieri cruciatus cum rithimis longis in cruce consonantibus, et diversificare rithimos pedum a rithimis voltarum“. Notabene: Die Bezeichnungen ‘Oktav’ und ‘Sextett’ verwenden wir oben aus rein pragmatischen Grnden. Damit ist nichts ber eine etwaige ursprngliche theoretische Wahrnehmung kleinerer Einheiten, etwa einer Doppelzeile AB bzw. BA, als Grundstruktur des Sonettkçrpers ausgesagt. Vgl. zu dieser Problematik ausfhrlich Weinmann 1989. 512 Auch der von Da Tempo in Kap. 17 traktierte ‘sonetus caudatus’ ist nicht der in der Hochrenaissance u. a. von Francesco Berni verwandte Typ des Schweifsonetts, sondern eine Form, die jeweils in der Mitte und am Ende der Quartette sowie am Ende der beiden Terzette entweder einen Viersilbler (‘sonetus caudatus quaternarius’) oder einen Fnfsilbler (‘sonetus caudatus quinquenarius’) einschiebt.

3.2 Sonett und Epigramm

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zehnzeiler (Kap. 32), mehrsprachige Sonette (Latein und ‘volgare’ bzw. ‘volgare’ und „lingua francigena vel ultramontana“;513 Kap. 25 – 27), isometrisch siebensilbige Sonette (Kap. 30 f.) oder Sonette mit abschließendem einzeiligem bzw. zweizeiligem ‘ritornello’ (Kap. 33 f.). Dabei wird z. T. der sptpetrarkistische Manierismus, der schon in die Barockzeit weist, gewissermaßen vorweggenommen: Der als eigene Kategorie behandelte ‘sonetus retrogradus’ (Kap. 24), dessen Verse, Quartette und Terzette sich von vorn nach hinten ebenso wie von hinten nach vorn lesen lassen und dabei jeweils vollstndig korrekte Reimschemata ergeben, wrde einem sprachexperimentell verfahrenden Luigi Groto im spten Cinquecento alle Ehre gemacht haben. Es erweist sich insgesamt bei Da Tempo, dass die theoretisch interessierende Palette der formalen Ausprgungen des Sonetts vor Petrarca recht breit ist. Insofern ist die Anschauung, wonach die Sonettform grundstzlich einer dynamischen Kombinatorik Vorschub leistet,514 nicht von der Hand zu weisen. Der hier aufscheinende, großenteils sprach- und formexperimentelle Charakter der Sonettistik,515 den Da Tempos Bestandsaufnahme festhlt, zeugt von einer Variationsbreite der Gattungsform, die durch Petrarca und die Petrarkisten lange Zeit erheblich eingeschrnkt werden sollte. Dementsprechend ist es folgerichtig, dass im petrarkistisch dominierten Cinquecento die Frage nach der formalen Varianz des Sonetts gattungstheoretisch gar keine grçßere Aufmerksamkeit mehr auf sich ziehen konnte und von daher zurckgestellt war.516 513 Da Tempo 1977, 37. 514 Siehe Greber 1994, mit weiterfhrender Literatur. 515 Vgl. dazu Brewer 1937, 101 f.; Fubini 1966, 171 f.; Borgstedt 2009, 182 zum frhen Sonett des Duecento: „So wird die Isomorphie durch kontrollierte Erweiterungen und Hinzufgungen von ‘piedi’ und ‘volte’ in Richtung einer Heteromorphie des Sonetts berwunden […]. Spteren Sonettpoetiken, die die Form am vierzehnzeiligen Tableau festmachen, werden diese Kreationen Mhe bereiten, und sie werden fr mehr oder weniger hybrid erklrt werden. Ihre Modifikationen sind jedoch keine willkrlichen, sondern bewegen sich in einem recht klar abgesteckten Raum formaler Variation, wie ihn die Tradition der Kanzonendichtung vorgegeben hat, aus der das Sonett hervorgegangen war. Die Heteromorphie des frhen Sonetts im Duecento muss deshalb als integraler Bestandteil des Gattungskonzepts und der Gattungstopik betrachtet werden. Entsprechendes gilt fr die Reimvariationen […]“ (Hervorhebung im Original). 516 In diesem Sinne zeigt Mario Equicola in seinen postum erst 1541 publizierten Institutioni al comporre in ogni sorte di Rima della lingua volgare einen rinascimental gebndigten Antonio Da Tempo, wenn er ihm zwar mit Recht die Theoretisierung von sechzehn verschiedenen Sonetttypen zuschreibt (s. o.), dann aber nur einen einzigen, nmlich den vierzehnzeiligen Regeltyp als Beispiel fr „la divisione di Antonio del Tempo“ anfhrt: Equicola 1541, Bl. ijv.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Auf der Schwelle zwischen einer formalistischen und einer aristotelisierend gattungssystematischen Betrachtungsweise des Sonetts steht Gian Giorgio Trissino. Seine Poetica gliedert sich in zwei große Teile: einer umfasst die ‘divisioni’ I bis IV, der zweite die ‘divisioni’ V und VI des Werkes.517 Die ersten vier ‘divisioni’, die u. a. auf Dantes De vulgari eloquentia und auf der Summa von Antonio Da Tempo aufbauen, sind im Jahr 1529 publiziert. Sie zeugen von einer ersten Kenntnis der Poetik des Aristoteles.518 Diese mnzen sie nicht in einen kohrenten gattungspoetologischen Ansatz um,519 obwohl die formal-metrischen Betrachtungen dieser ‘ersten’ Poetik Trissinos durchaus in einen aristotelisierenden Rahmen eingestellt sind.520 Dagegen sind die vierte und die fnfte ‘divisione’, erst postum 1562 publiziert und wohl um 1549 verfasst, ein relativ konsequent aristotelisierender Traktat.521 Trissino kannte vermutlich die erste umfassende und detaillierte Kommentierung der aristotelischen Poetik von Robortello (erschienen 1548) und womçglich auch die kommentierte italienische Poetik-bersetzung von Bernardino Segni (erschienen 1549). So erscheint die Lyriktheorie Trissinos und auch seine theoretische Konzeption des Sonetts einmal im Wesentlichen formalistisch, und das zweite Mal grundstzlich aristotelisierend-mimesispoetologisch verfasst. Zunchst nun zu demjenigen Trissino, den Weinberg bedauernd als ‘mittelalterlich’ einstufen mçchte. ‘Mittelalterlich’ scheint der Trissino der ‘divisioni’ I bis IV nicht nur wegen seiner Konzentration auf die formale 517 Im Folgenden normalisieren wir aus pragmatisch-technischen Grnden die charakteristische Schreibweise Trissinos, der in das lateinische Alphabet mehrere aus dem Griechischen derivierte Buchstaben eingefgt hat, um die Aussprachemerkmale des ‘volgare’ in der Graphie quasi-lautschriftlich markieren zu kçnnen. 518 Vgl. Trissino [1529] 1970, 24. 519 Daher kommentiert der stark an der Rezeption der aristotelischen Poetik interessierte Bernard Weinberg Trissinos ‘erste’ Poetik mit einer gewissen Enttuschung: „La teoria della poetica nel Cinquecento incomincia con uno dei suo pi importanti documenti; che per rimane, purtroppo, un documento rivolto pi verso il Medio Evo che verso il Rinascimento. Ci che fa il Trissino nei quattro primi libri della sua Poetica, infatti, di collegarsi colla tradizione delle artes versificatoriae attraverso il De vulgari eloquentia di Dante e il De rithimis vulgaribus di Antonio Da Tempo“ (Weinbergs Trattati, Bd. 1, im Kommentar zu Trissino, S. 590). Vgl. in diesem Kontext allerdings unsere Beobachtungen zu der aristotelisierenden Klammer, die die ‘beiden’ Poetiken Trissinos ungeachtet ihrer systematischen Unterschiede verbindet: Kap. 2.2. 520 Vgl. dazu Kap. 2.2. 521 Weinberg hat in seinem Kommentar hier geradezu von einer „parafrasi piena della Poetica di Aristotile“ gesprochen (Trattati, Bd. 2, im Kommentar zu Trissino, S. 653).

3.2 Sonett und Epigramm

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Sonettstruktur zu sein. Vielmehr ist er auch im Spektrum der von ihm diskutierten Sonettformen sowie der von ihm herangezogenen Beispielautoren auf den ersten Blick nicht typisch fr das Cinquecento: Denn er begrenzt sich keineswegs auf Petrarca und auf die durch Petrarca kanonisierte ‘klassische’ Ausformung des Sonetts. Vielmehr zitiert er neben Petrarca auch ltere Autoren, und er behandelt auch Sonettschemata, die fernab der Pfade des orthodoxen Petrarkismus liegen. Dies hat man bisweilen, froh um den somit etablierten Kontrast, als klare antibembistische Positionsnahme Trissinos gesehen:522 Bembos Prose della volgar lingua mit ihrer Kanonisierung Petrarcas als des alleinigen Vorbildautors fr die italienische Versdichtung war 1525 in Venedig bei Tacuino zum ersten Mal erschienen, und eine Poetica, die Petrarca als einen unter vielen Lyrikern heranzog, mochte 1529 als Kontrapunkt zu Bembo erscheinen. Wie wir aber sogleich sehen werden, ist diese Sicht der Dinge zu modifizieren: Denn auch Trissino konnte sich der unmittelbar einsetzenden Sogwirkung der Prose della volgar lingua allenfalls zum Teil entziehen. Aber der Reihe nach. Von den lyrischen Einzelgattungen bespricht Trissino, der sich zu Beginn der vierten ‘divisione’ explizit auf Antonio Da Tempo beruft, das Sonett, die „forma pi usitata“,523 als erste vor den Ballate, Canzonen, Madrigalen und Serventesi: Die von Lorenzo betriebene Exaltierung des Sonetts ist inzwischen auf breiter Front literarhistorische Realitt geworden, und Trissino entspricht dieser schon rein quantitativen bermacht des Sonetts durch die Reihenfolge, in der er die lyrischen Formen durchnimmt. Getrennt geht er beim Sonett zunchst auf die Quartettstrukturen (Abschnitt „De le base“)524 ein und diskutiert im Anschluss die Terzettstrukturen (Abschnitt „De le volte“). Bei den Quartetten fhrt er erwartungsgemß als erste die kanonischen Reimschemata ABBA ABBA und ABAB ABAB an – bringt seine Beispiele aber nicht aus dem bembistisch autorisierten Petrarca, sondern aus Cino da Pistoia und aus Dante.525 Petrarca dagegen wird gerade bei den unregelmßigen Quartettformen ABAB BABA und ABAB BAAB als Belegautor herangezogen, nmlich mit In tale stella duo belli occhi vidi (RVF 260) und mit Soleano i miei pensier’ soavemente (RVF 295), zwei metrischen Solitren im 522 Vgl. Quondam 1980, bes. 72, 76, 84; ferner Griffith 1986/1987, 144 f. 523 Trissino [1529] 1970, 98. 524 ‘Base’ ist Trissinos Terminus fr die ‘piedi’ im Sinn von ‘Quartetten’, vgl. Trissino [1529] 1970, 98 f. Die Kombinatorik der mçglichen Strukturen von ‘quaternarii’ hat Trissino in der ‘terza divisione’ durchexerziert: vgl. Trissino [1529] 1970, 70 (Abschnitt „Del formare i quarternarii“) und s. dazu Borgstedt 2009, 202 f. 525 Trissino [1529] 1970, 99.

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Gefge des Petrarkischen Canzoniere. 526 Es scheint, als wolle Trissino den Namen und die Autoritt Petrarcas von den blichsten Sonettstrukturen fernhalten, um eine petrarkistische Verengung auf die Autorisierung gerade dieser Strukturen zu vermeiden, und stattdessen gerade strukturelle Abweichungen und Ungewçhnlichkeiten durch Petrarcas Beispiel legitimieren. Bei den Terzetten bespricht Trissino eine ganze Reihe unterschiedlicher Variationen (CDE CDE, CDE DCE, CDC DCD, CDC CDC, CDD CDD, CDD DCC) unter Zuhilfenahme seiner in den vorgngigen Abschnitten der Poetica konstituierten Terminologie (‘combinazione dritta’ fr die einfache Wiederholung eines Schemas, verschiedene ‘combinazioni oblique’ fr variierende Abwandlung im zweiten Terzett).527 Bei der Frage, welche Sextettformen mit welchen Oktavstrukturen zu verbinden seien (Abschnitt „Del congiungere le volte a le base“), scheint dann zum ersten Mal der petrarkistische (und somit bembistisch akzeptable) Normalfall als ein potenzieller Normfall durch. Denn hier sagt Trissino Folgendes: Dico adunque che ciascuna sorte di volte si pu indifferentemente congiungere a qualunque sorte di base che l’huom voglia; e tale congiunzione pu essere in tre modi; l’uno de li quali si che le volte habbiano le medesime rime che hanno le base; l’altro che non ne habbiano se non parte; il terzo poscia fia che le volte siano di rime in tutto differenti da quelle de le base; e questo il pi frequente et il pi usitato modo che sia.528

Damit ist ohne jede Namensnennung herausgestellt, dass der bei Petrarca allein belegte Fall (hier der dritte der mçglichen Flle) der bliche Fall ist. blich heißt fr Trissino, der sich gern auf die ‘buoni autori’ beruft: durch faktische Standardisierung bekrftigt und somit normiert. Insofern sieht man bereits hier, wie ungeachtet der ‘dugentesken’ Ausrichtung manches Beispiels, das Trissino verwendet, die petrarkistische Norm des Cinquecento auch bei ihm durchzuschlagen beginnt. Dies besttigt sich im Weiteren. Trissino diskutiert in Anlehnung an Antonio Da Tempo zwar auch die Sonettformen, die nicht orthodox petrarkistisch sein konnten. Er spricht mithin ber die heterometrischen Sonette, die neben Elfsilblern auch Siebensilbler verwenden (Abschnitt „Del ponere dimetri nei so526 Trissino [1529] 1970, 100. Dazu tritt als weiterer Beispielautor Cavalcanti mit L’anima mia vilment’  sbigotita fr das Schema ABBB BAAA, das bei Petrarca nicht belegt ist. (Trissino weist das Sonett Cino da Pistoia zu, was Borgstedt 2009, 203 unkommentiert so bernimmt. Trissinos Zuweisung wird auch von Minturno [1564] 1971, 244 ohne weitere Erluterung nachvollzogen.) 527 Vgl. zur Kombinatorik der Reime in den Terzetten den Abschnitt „Del formare i terzetti“ aus der ‘terza divisione’, Trissino [1529] 1970, 69 f. 528 Trissino [1529] 1970, 103.

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netti“529), ber isometrische Sonette aus ‘dimetri’, erwhnt auch die durch zustzliche Siebensilbler expandierten ‘sonetti doppi’ und bespricht die von Da Tempo gleichfalls diskutierten ‘sonetti caudati’.530 Insofern scheint er aus dem von Bembo konstituierten Erwartungshorizont auszuscheren. Dann aber folgt prompt die Relativierung des potenziellen Anti-Bembismus: Ma l’uso di questi tali sonetti, cos caudati come doppi, fu dopo Dante in tutto abbandonato; perci che non sono capaci di molta vagheza; come anchora non sono vaghi quelli sonetti che hanno uno o dui tornelli; cio che dopo le volta hanno uno o dui trimetri aggiunti, come sono alcuni sonetti del Boccaccio; e talhora in detti tornelli uno dimetro tra le volte e li dui trimetri; il che us molto il Burchiello; ma io non voglio trattare de le cose che sono state dai buoni autori schifate; per lascier non solamente tutti questi da canto ma anchora i sonetti repetiti, i retrogradi, gl’incatenati, i semilitterati e gl’altri, dei quali Antonio di Tempo tratta diffusamente.531

Trissino lsst also einen Großteil der ‘mittelalterlichen’ Sonett-Typen aus seiner Darstellung beiseite, verweist nur mehr summarisch auf die Darstellung Da Tempos und begrndet dies mit einer mangelnden ‘vagheza’ der nicht dem blichen Maß konformen Sonette. Dies ist bis in die sthetizistische Begrndung hinein dem Bembismus kompatibel. Wie deutlich zu sehen ist, schwankt Trissino also zwischen einer Relegierung Petrarcas in eine umfassende Phalanx ‘guter’ Autoren und der Aburteilung eines Gutteils von deren Texten als der ‘vagheza’ nicht entsprechend. Damit spiegelt Trissino den Normdruck, der insbesondere im Gattungsbereich der Sonettistik von Bembos Prose ausging, und der Versuch der Bemntelung des Dilemmas wird nur zaghaft unternommen. Dieser Befund lsst es keineswegs angeraten sein, Trissino einfach als Anti-Bembo zu portrtieren oder ihn als ‘mittelalterlich’ abzutun. Vielmehr steht er mit seiner Sonett-Theorie an der Grenze zwischen sptmittelalterlichem und frhrinascimentalem Sonett-Formalismus532 und dem hochrinascimentalen 529 Im Unterschied zu Da Tempo verwendet Trissino konsequent eine antikisierende Terminologie, sagt also zum Siebensilbler ‘dimetro’. 530 Vgl. Trissino [1529] 1970, 104 – 106. 531 Trissino [1529] 1970, 106. Vgl. zur Reduktion des ursprnglichen Formenreichtums auf wenige ‘akzeptable’ Sonettformen auch Ruscelli 1605, 69r–71r. 532 Im Zusammenhang damit sei verwiesen auf Borgstedt 2009, 204, der eine Analogie zur Canzonentheorie sieht: „Er [Trissino] beschreibt eine Kombinatorik von base und volte sowohl hinsichtlich ihrer internen Struktur wie ihrer ußeren Anordnung im Sonett, und er tut dies in Analogie zur Poetik der Kanzone.“ (Hervorhebung im Original.) Wo brigens spterhin die Analogie des Sonetts zur Canzone herausgekehrt wird, kann das durch Skepsis gegenber der Analogisie-

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

bembistisch-petrarkistischen Sonett-sthetizismus.533 In Trissinos Folge sollte die Konzentration auf den formalen Regeltyp (vierzehnzeilige Norm nach Petrarcas Vorbild) auch dort vorherrschen, wo an sich gerade die formale und numerische Gliederung des Sonettkçrpers als Problem aufgeworfen wurde.534 Die schon im Quattrocento (Lorenzo de’ Medici) virulente Frage nach der Dignitt des Sonetts535 verschrnkte und verstrkte sich im Cinquecento mit dem Aufkommen von Versuchen, nicht nur die ‘großen’ Gattungen (Epos, Tragçdie, Komçdie) in ein systematisches Gesamtraster rung von Sonett und Epigramm bedingt sein, die wir noch zu besprechen haben. Dies ist der Fall in Minturnos Arte poetica, wo auf die Frage „A questa usata maniera de’ Sonetti, quante, e quali parti si danno?“ die Antwort gegeben wird: „Quante, e quali se ne danno a ciascuna stanza della Canzone; dico la Fronte, e la Sirima doppia: n mi par, che questi nomi si debbano in lui cangiare: conciosiacosa, che ‘l Sonetto altro non sia, che una stanza di duo quartetti, e di duo terzetti“ (Minturno [1564] 1971, 243). 533 Ein sptes Echo dieses von Bembo inspirierten sthetizismus findet sich noch 1599 in Pietro Crescis Discorso, overo lettione sopra un Sonetto in lode del celebre luogo di Valchiusa: Hier werden nicht nur die Dichtungen im ‘volgare’ insgesamt qualitativ ber die antike Dichtung gestellt, sondern auch innerhalb des volkssprachlichen Gattungsspektrums der Lyrik das Sonett (abgeglichen mit Madrigal, Canzone, Ottava rima, Sestine, Terza rima) als hçchstrangige Lyrikform privilegiert – dies alles aus rein euphonischen und stilistisch-sthetischen Grnden; auf eine formalistische Argumentation wird vollkommen verzichtet. Siehe Cresci 1599, o.S., Lage A2 passim. 534 So versagt sich Cesare Crispolti in seiner Lezione del sonetto (ca. 1592) bei der Diskussion der Untergliederung der 14 Sonettzeilen (in 2x7, oder 1 – 4 plus 5 – 14, oder 2x4 plus 2x3) explizit jedes Eingehen auf die von der petrarkistischen Norm abweichenden Sonett-Typen: Crispolti [1592] 1974, 198. 535 Vgl. dazu in der Folge von Lorenzos Argumentation etwa Crispolti [1592] 1974, 195 („Il sonetto, s come di bellezza supera tutte l’altre poesie toscane, cos anco sovra tutti gl’altri componimenti il pi difficile che far si possa. Nasce questa difficolt da molte cagioni, ma principalmente dalla picciolezza sua“). hnlich argumentiert neben Girolamo Ruscelli in Del modo di comporre in versi nella lingua italiana (Ruscelli 1605, 65v– 66r) auch noch Pietro Cresci im Discorso overo Lettione Sopra un Sonetto in lode del celebre luogo di Valchiusa (Cresci 1599, o.S., Lage A4); s. zu Cresci die Skizze in Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 239 f. Den bereits von Lorenzo ins Feld gefhrten Sachverhalt der fixierten knappen Struktur des Sonetts, den auch Ruscelli (s. o.) bespricht, diskutiert Toralto 1589, 12 – 14 mit dem einprgsamen Bild des Sonetts als eines Prokrustes-Betts. Vgl. bei Toralto auch S. 27: „[…] in somma il sonetto corpo tale nella poesia, che se non costa di tutte le sue proportionate parti, sar mostro ridicolo, e vile, il che essendo cos, maggiormente per la sua picciolezza sar difficile“. Zu Toraltos Versuchen einer Nobilitierung des Sonetts vgl. insgesamt Huss 2008.

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einzugliedern, das auch Hierarchisierungen bedingte, sondern daneben auch die verschiedenen Formen, die wir heute als lyrisch bezeichnen wrden, zu systematisieren – ob die Systematisierung nun stillagenpoetologisch oder aristotelisierend perspektiviert sein mochte. Das Sonett und die Lehre von den drei Stillagen. In der stillagenpoetologischen Diskussion besteht Uneinigkeit bezglich der Einordnung des Sonetts in die distinkten drei Stillagen eines – mit der ‘klassischen’ Ausformung der Lehre von den drei Stilen gesprochen, wie sie etwa in der ‘Rota Vergilii’ des Johannes von Garland vorliegt536 – ‘gravis stilus’ (wie im Epos und ggf. der Tragçdie), ‘mediocris stilus’ (den man am Beispiel Vergils der Georgik zuschrieb) oder ‘humilis stilus’ (wie er der Bukolik eignen sollte). Beispielhaft lsst sich die Problematik an Cesare Crispoltis schon zitierter Lezione del sonetto aufzeigen, die ca. 1592 den Stand der cinquecentesken Diskussion zusammenfasst und sich dabei explizit mit zwei Vorgngermodellen auseinandersetzt, nmlich der Behandlung der verschiedenen Stillagen in Dantes De vulgari eloquentia und bei Bernardino Tomitano in den Ragionamenti della lingua toscana (1545). Dantes Position resmiert Crispolti wie folgt: E Dante fu di parere che lo stile grave e magnifico non fosse proprio del sonetto, perch’egli in quel suo volume che Della volgare eloquenza intitol, tutti i poemi in tre specie divide, cio in tragedia, in commedia, et in elegia. Sotto la prima spezie ripone tutti i poemi scritti in stile grave, sotto la seconda, i mediocri, e gli umili sotto la terza; e tra questi egli annovera il sonetto.537

Crispolti bezieht sich auf die von uns am Eingang des vorliegenden Kapitels diskutierten Stellen De vulgari eloquentia 2.3.5 und 2.4.5 – 7. Er unterstellt Dante hier (a) eine klare Scheidung in die drei ‘klassischen’ Stillagen, wie man sie bspw. aus der ‘Rota Vergilii’ kennt, und (b) eine klare Zuordnung des Sonetts zur untersten dieser drei Stillagen. Dies geschieht aus der Intention heraus, klare Systematisierungsentwrfe vorzustellen, mit denen man sich transparent und ggf. polemisch auseinandersetzen kann (denn Crispolti will, wie wir gleich noch sehen werden, der Position widersprechen, die er Dante hier zuschreibt). Aber es verfehlt die Komplexitt von Dantes Text. Denn: (a) Dante unterscheidet keineswegs die drei klassischen Stile trennscharf im herkçmmlichen Sinn. Vielmehr orientiert sich Dante 536 Vgl. dazu im Detail Quadlbauer 1962, 114 f. und die ergnzende Dokumentation und leicht korrigierende Argumentation bei Mengaldo 1978, 212 – 217. Zur Lehre von den drei Stillagen insgesamt Grosser 1992, 23 – 29. 537 Crispolti [1592] 1974, 201.

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an der bei Johannes von Garland tradierten Einteilung in ‘carmen tragicum’, ‘elegiacum’ und ‘comedia’. Daraus ergibt sich eine Inkonsistenz mit dem blichen Dreierschema: Dante scheidet nun zunchst […] per tragediam superiorem stilum inducimus, per comediam inferiorem, per elegiam stilum intellegimus miserorum. Der stilus miserorum kommt aus Johannes’ Deutung: elegiacum id est miserabile carmen (Poetria, p. 927 Mari). Einem konsistenten Dreier-Schema, das etwa einem: erhaben, schlicht, mittel gleichzusetzen wre, entspricht diese Gliederung nicht. Der stilus miserorum tanzt aus der Reihe. Die Unausgeglichenheit des Schemas erklrt sich leicht. Die drei Dichtungsgattungen bernahm Dante. Den Stil sieht er, wie miserorum deutlich zeigt, an Personentypen gebunden. Die Tradition, die in der Tragçdie die Darstellung hoher, in der Komçdie die gewçhnlicher, ‘niederer’ Personen sah, begnstigte diese Ansicht. Als Kind seiner Zeit denkt Dante bei personae natrlich auch an die Personentypen der artes dictandi, die ja in ihren Typenschemata auch Komparativtermini bringen; auch die Termini superiores, inferiores kommen vor […]; aber dazwischen stehen die equales (pares, medie). Und hier beginnt eben die Schwierigkeit Dantes. Er brauchte ein Zwischenglied zwischen den Gegenstzen, aber den stilus miserorum konnte man nicht zwischen superior und inferior einschieben. Die miseri passen an sich berhaupt nicht in dieses Schema, daher werden sie am Schluß eingereiht […].538

Ist bei Dante also an sich das Dreierschema schon nicht konsistent gebaut, weil einzig der ‘hohe’ Stil deutlich erkennbar lokalisiert wird, so entspricht dem (b) eine von uns weiter oben schon thematisierte Unklarheit der Einordnung des Sonetts: Zwar ist die Canzone eindeutig auf der oberen Stilebene lokalisiert, und der Ballata wie dem noch weiter zurckstehenden Sonett berlegen, aber wohin das Sonett exakt gehçrt, htte Dante erst im nicht existenten vierten Buch von De vulgari eloquentia verraten. Selbst wenn man es vermutungsweise dem ‘elegischen’ ‘stilus miserorum’ Dantes zuordnen wrde, wre damit nichts in Sachen stillagentheoretischer Fixierung gewonnen, denn dieser Stil lsst sich dem Dreierschema – wie soeben gesehen – gar nicht kohrent zuordnen. Crispolti539 vereindeutigt sowohl Dantes Stilschema, das er zu dem blichen Dreierschema transformiert, als auch die Danteske Einordnung 538 Quadlbauer 1962, 150 f. (Hervorhebung im Original); zu dieser Problematik auch Curtius 1954, 362. Vgl. zum elegischen ‘stilus miserorum’ bes. Mengaldo 1978. 539 Weinberg deutet in seinem Kommentar der Trattati zu Crispoltis Lezione an, Crispolti habe mçglicherweise die italienische bersetzung von De vulgari eloquentia verwendet, die Trissino 1529 verçffentlicht hatte. Allerdings gibt es bei Trissino an der Dante-Stelle, die vom ‘stilus inferior’ handelt und dann die ‘Elegie’ als Beispielgattung fr den ‘stilus miserorum’ nennt, einen Textausfall (vgl. Ali-

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des Sonetts: Er weist das Sonett demjenigen Stil zu, in dem die ‘poemi umili’ verfasst sind, also dem niederen Stil.540 Dies geschieht aus dem Interesse, eine klare Stil- und Gattungshierarchie zu etablieren, dieser durch eine alternative Einordnung des Sonetts zu widersprechen (s.u.) und sie obendrein mit dem anders gelagerten Modell von Tomitano vergleichend in Bezug setzen zu kçnnen. Tomitano nmlich habe, so Crispolti (der davon ausgeht, das Sonett msse auf jeden Fall in das Dreierschema zu ordnen sein),541 folgende Position bezogen: […] il Tomitano nelle sue prose afferma che la testura del sonetto temperata, s come all’incontro gravissima e matura quella delle canzoni e dimessa quella che nelle ballate e nelle stanze si ricerca.542

Crispolti spielt damit auf eine Passage aus dem zweiten Buch von Tomitanos Ragionamenti della lingua toscana an. Dort heißt es in der Tat: Perci che la testura delle canzoni, diremo esser gravissima & matura: si come dimessa quella che nelle ballate & nelle stanze si ricerca, & temperata quella del sonetto. Et per conchiuder tosto quello che io ne sento, diremo sotto lo stile grave mettersi la canzone, doppo la sestina, &  quella di dietro il Madriale. sotto il dimesso staranno le ballate, poscia le stanze, ultimamente gli capitoli; come etiandio sotto il mezzano lo solo & semplice sonetto.543

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ghieri / Trissino 2007, 132). Es ist also eher unwahrscheinlich, dass Crispolti Dantes lateinisches Original nicht zur Kenntnis genommen htte. Wohlweislich vermeidet Crispolti es aber, explizit den Terminus ‘stilus humilis’ zu verwenden – Indiz dafr, dass ihm die Schwierigkeit seines Vorgehens bewusst gewesen sein drfte. Deutlich vorsichtiger als Crispolti war brigens Minturno in der Arte poetica verfahren, wo es von der Canzone heißt: „[…] tiene il primo luogo nella Melica poesia. Dopo la quale pone Dante la Ballata, & l’antipone al Sonetto“ (Minturno [1564] 1971, 185). Minturno referiert Dante also nur kurz (kndigt brigens gleich danach bereits seinen spteren Einspruch gegen die Danteske Bewertung der Gattungen an), relationiert aber Dantes Wertung der einzelnen Gattungen nicht mit einem Stillagenschema. Vgl. Crispolti [1592] 1974, 201: „Poich’ vario il soggetto di cui si tratta nel sonetto, le parole ancora con le quali esso deve essere spiegato saranno varie e con quello si conformeranno; per che se il soggetto sar facile, lo stile dovr esser tale; se sar grave et alto, far di bisogno usare, con l’ampiezza e maest delle sentenze, quasi una regal presenza di parole a tal soggetto accommodate.“ Es folgt die Zusammenfassung der Position Tomitanos, die wir oben zitiert haben. Crispolti [1592] 1974, 201. Tomitano 1545, 173. Vgl. in diesem Zusammenhang außerdem Tomitano 1545, 228 f.: „Il sonetto riguarda tutti gli affetti generalmente, alcuni  se propri ne ricerca la Sestina, si come le cose piu gravi & piu magnifiche la Canzone. Alle ottave stanze dannosi le materie basse, si come le mezzane al sonetto.“

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Viel weniger wahrscheinlich ist Weinbergs im Kommentar der Trattati z. St. geußerte Vermutung, bei Crispolti liege ein Bezug auf eine Passage aus Tomitanos drittem Buch vor.544 An der von Weinberg ins Spiel gebrachten Stelle spricht Tomitano ber Versbau und Rhythmus und sagt unter anderem: Dove primieramente da avertire, il numero ricever partimento secondo la differenza della testura del verso. Percio che tale numero ricerca il sonetto, che al Capitolo non starebbe bene: che tale al Capitolo, che non alla Canzone. intendendo che le leggi de i componimenti Toscani vengono  variarsi secondo che con voci hora sonore, hora basse, hora mezzane, vengono  comporsi.545

Bei diesen kurzen Andeutungen zu einem stilistischen Lagenunterschied zwischen den genannten Gattungen belsst es Tomitano im dritten Buch und geht dann ausdrcklich zu Normen ber, die nicht einzelne Stillagen oder Gattungen, sondern die Dichtung insgesamt betreffen: „Ma lasciamo questi precetti particolari, & prendiamo i generali, che  tutte le specie de i componimenti convengono“.546 In den folgenden Ausfhrungen fordert Tomitano ganz allgemein eine sße dichterische Stilmischung: „dico il poeta dovere co ‘l giudicio dell’orecchia mescolare insieme le voci rotonde, con l’humili, l’humili con le sonore, le sonore con le languide, & queste con le gravi. onde la grandezza dell’une ratemperata con la humilta dell’altre venga  fare una mescolatura perfetta, & un condimento soave.“547 Auf die Ballata geht Tomitano im Anschluss nur ganz kurz ein, weil er das Thema ‘Kurzverse’ bespricht und die Ballata als Beispiel fr Gedichte nennt, die (heterometrisch) Kurzverse einlagern.548 Crispolti greift also insbesondere auf die oben zitierte Stelle aus dem zweiten Buch der Ragionamenti della lingua toscana zu. Er tut dies mit Begehrlichkeit, weil er unbedingt behaupten will, Dante habe das Sonett in den niederen Stil, Tomitano dagegen in den mittleren Stil eingeordnet, um endlich seinen Trumpf ausspielen zu kçnnen: Gemß der These, die er gleich zu Beginn seiner Lezione del sonetto aufgestellt hat („mi son risoluto di ragionarvi al presente del sonetto, poema sovra ogn’altra poesia toscana nobile et eccellente“),549 ist das Sonett stillagenpoetologisch klar zuzuordnen, und zwar – Behandlung entsprechender Sujets vorausgesetzt – in 544 545 546 547 548 549

Vgl. Tomitano 1545, 408 – 410. Tomitano 1545, 408 f. Tomitano 1545, 409. Tomitano 1545, 409. Vgl. Tomitano 1545, 409 f. Crispolti [1592] 1974, 195.

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die oberste, hçchste und nobelste Lage: „Con tutto ci (e sia detto con pace di Dante e del Tomitano), s’egli leccito, come provato abbiamo, che nel sonetto soggetto grave e magnifico abbia luogo, sar parimente leccito che le parole siano gravi e magnifiche“.550 Daraus folgt die Einordnung des Sonetts in die hohe Stillage, die Dante fr die ‘tragedia’, Tomitano fr die Canzone vorgesehen haben. Unter Rckgriff auf die herkçmmliche Lehre von den drei Stilen sucht Crispolti somit das Sonett zu exaltieren. Dies drfte weniger dem Geist der rhetorisch geregelten Decorumsvorstellungen entsprechen, die hinter dem stilistischen Dreierschema stehen, als vielmehr der literarhistorisch zentralen Rolle des Sonetts: Die wichtigste lyrische Form der Renaissance wollte sich offensichtlich nicht problemlos auf einer ‘nur mittleren’ Stilebene denken lassen. Hier lsst sich in Anlehnung an Hermann Grosser ein allgemeines paradoxes Charakteristikum der Renaissancepoetologie markieren: Ein schwieriges Nebeneinander, oftmals geradezu eine ‘unlogische’ berkreuzung von Stiltheorie und Gattungstheorie erzeugt inkohrente Systematisierungsanstrengungen.551 brigens kollidiert Crispoltis Versuch, dem Sonett die hohe Stillage offenzuhalten, durchaus mit seinem unmittelbar darauf folgenden Unternehmen, dem Sonett eine bembistisch korrekte Mischung aus „gravit“ und „piacevolezza“ zuzuschreiben.552 Denn Bembos Festschreibung eines durch eine Verbindung dieser beiden Extrempole konstituierten lyrischen Stils steht gerade quer zu einer trennscharfen Untergliederung einzelner Stillagen.553 Wie prekr ein Versuch wie der von Crispolti war, das Sonett als hohe Gattung zu etablieren, zeigt das in derselben Frage hçchst unentschiedene Schwanken eines anderen, fast zeitgleich publizierenden Theoretikers: Vicenzo Toralto d’Aragona hadert in seiner Veronica, o del sonetto dialogo 554 ebenso wie andere Theoretiker des lyrischen Stils (neben Crispolti etwa Torelli und Tasso) mit dem Problem, dass faktisch nicht nur die Lyrik insgesamt, sondern insbesondere das Sonett weder hinsichtlich seiner Gegenstnde noch in seinem Stilniveau eindeutig definierbar war, ja dass es geradezu eine prinzipielle Gesetzesfreiheit zu geben schien, die die Lyrik 550 Crispolti [1592] 1974, 201. 551 Vgl. Grosser 1992, 135: „In generale […] le principali trattazioni complessive di fatto mostrano notevole difficolt o addirittura l’incapacit di integrare il discorso sui generi con quello sugli stili, che vengono svolti separatamente“. S. ferner ebd. 140 (zu Trissino). 552 Vgl. Crispolti [1592] 1974, 202 – 204. 553 Vgl. dazu ausfhrlicher Huss 2011. 554 Vgl. dazu ausfhrlicher Huss 2008.

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dem stilpoetologischen Zugriff stets wieder zu entziehen drohte:555 Jede der klassischen drei Stilarten schien lyrisch bedienbar, und dementsprechend jede Sujetlage zugelassen.556 Angesichts dessen sucht Toraltos Dialogsprecher Partenopeo die Anforderungen einer primr rhetorisch perspektivierten Stilpoetik durch mikroskopische Przisierungen zu erfllen: Er bemht sich, hnlich wie Tasso in den stilpoetologischen Abschnitten seiner dichtungstheoretischen Schriften (u. a. in der Cavaletta sowie den Discorsi del poema eroico, B. 5 und 6), bis hin zu den Details der Effekte in der Verwendung einzelner Buchstaben und Laute zu definieren, welche stilistischen und klanglichen Textverfahren im Sonett welche Stilhçhe erzeugen, und welchem bestimmten thematischen Niveau sie dadurch angemessen sind.557 Der Versuch Toraltos, mit den herkçmmlichen Mitteln einer breit ausgelegten Stilpoetik die Gattung insgesamt theoretisch zu kontrollieren, ist von dem Streben bestimmt, die literarhistorisch existierende Sonettistik komplett abzudecken. Dabei sucht Toralto das herkçmmliche stilpoetologische System in seiner Anwendbarkeit auf das Sonett zu retten: Im 555 Vgl. allg. Behrens 1940, 77; s. Ruscelli 1605, 66r, und insbes. Torelli [1594] 1974, 308; Tasso 1823, 45 f.; Tasso 1958, 619, 629 f., 633 f. und den dort folgenden Argumentationsgang; Tasso 1964, 223 (vgl. zur Problematik von Tassos Stiltheorie Regn 1987a und Regn 1987b, 212 – 220, s. ferner Kap. 2.6). 556 Vgl. Toralto 1589, 19 – 24 und das daraus gezogene Fazit, 24: „da quanto dunque s’ detto si puote raccogliere il modo da mostrar nelle rime gravit, piacevolezza, dolore, & affanno, e da far lo stile hor alto, hor mezano, ed hora humile secondo la qualit del soggetto.“ Zu einem vergleichbaren Ergebnis sollte zehn Jahre spter auch Alessandro Guarini in seiner 1599 vor der Accademia degli Invaghiti in Mantua vorgetragenen ‘lezione’ zu Della Casas Sonett Doglia, che vaga donna al cor n’apporte gelangen: „Che se i coturni gli [dem Sonett] si convengono, non gli disdicono per i socchi, e se le grandi, e gravi sentenze venerabile il rendono, le dolcezze, ed i sali, ond’egli va sovente condito, arguto, e dilettevole il fanno. A lui indifferente ogni genere di stile. Il grande, l’umile, il mediocre, ed il grave; tutti con decoro egualmente sostiene […].“ (Guarini [1599] 1728, 342; Guarini geht von einer an Ps.-Demetrios, Per hermene as, orientierten Vierzahl der Stile aus, vgl. dazu allg. Grosser 1992, 43 – 52 und 89 – 91). Vgl. ebd. 344: „il Sonetto corre, qual vittorioso, tra tutte l’altre poesie il campo dell’eloquenza poetica, […] in tutti i generi di stile tanto sopra tutti gli altri poetici componimenti s’avanza.“ Der Versuch, dem Sonett in smtlichen ‘Stilgenera’ eine Spitzenstellung einzurumen, ist gattungspoetologisch ruinçs: Solchermaßen gehçrt das Sonett berall und nirgends hin, ist ungeachtet des Zugriffs auf eine aristotelisierende Gattungssystematik, den Guarini mit seinen stillagenpoetologischen Erçrterungen koppelt, gattungstheoretisch nicht klassifizierbar. 557 Toralto 1589, 19 – 24.

3.2 Sonett und Epigramm

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Gegensatz zu einem Theoretiker wie Crispolti und teils auch zu Tasso558 lsst er seinen Partenopeo nachdrcklich dafr pldieren, der Gravittsgrad der Sonettdichtung sei begrenzt, so dass sich die Notwendigkeit ergibt, die Sonettistik im System der Stillagen nach oben hin gewissermaßen abzuriegeln.559 Gerade Tasso wird hier zum Vorwurf gemacht, in seinen Sonetten eine zu ‘hohe’ Tonlage anzustimmen: „alla grandezza del suo stile, non proportionato instromento la lira“.560 Dementsprechend wahrt Partenopeo auch zu dem forciert ‘gravittischen’ Lyriker Giovanni Della Casa eine sehr kritische Distanz.561 Damit distanziert sich Toralto von der orthodoxen und ernsten hohen Lage des Cinquecento-Petrarkismus, obwohl er zu Beginn seiner Darlegungen fr die Sonettistik einen ‘schweren’ Inhalt postuliert hatte. Toraltos Veronica macht letztlich das Angebot, fr die Sonettistik alle drei herkçmmlichen Stillagen zuzulassen, wobei beim hohen Stil eine Kautele vorgenommen wird: Er ist nur vereinzelt akzeptabel und jedenfalls nicht voll auszubauen. Dementsprechend gilt auch, dass in der Lyrik keine „cose molto gravi“ behandelt werden sollen.562 Somit wre die Lyrik, die Toralto im Wesentlichen in der Ausprgung der Sonettistik behandelt, gemß den blichen Decorumsvorstellungen von den hohen Gattungen wie Epos und Tragçdie hierarchisch separiert. Nun wird aber in der Veronica dieser stilpoetologische Ansatz konterkariert von einer aristotelisch begrndeten Aushebelung eben jener Gattungshierarchie. Partenopeo setzt nmlich in Anspielung auf Aristoteles’ Poetik voraus, anders als von manchen angenommen m sse die Tragçdie nicht eine historisch verbrgte Handlung („attione vera“) enthalten, so dass der „obligo dell’attione vera“ auch nicht als aristotelische ‘differentia specifica’ fr die Gattung Tragçdie gelten kçnne.563 So trgt fr Partenopeo aus aristotelischer Warte weder die Tragçdie noch auch (und darauf kommt es vor allem an) das Sonett eine solche Verpflichtung – beide Gattungen befinden sich insofern auf Augenhçhe zueinander. Dies als gegeben annehmend, lsst Partenopeo wieder jene uns u. a. schon aus Lorenzo de’ Medicis Comento bekannte Annahme einfließen, die auf die alte Vorstellung der Dichtung als technisch-‘handwerkliches’ Produkt einer ‘ars poetica’ verweist: Je schwieriger eine Dichtungsform zu erzeugen sei, desto 558 559 560 561 562 563

Tasso 1823, 44 f. (vgl. den dort folgenden Argumentationsgang). Toralto 1589, 18. Toralto 1589, 18. Toralto 1589, 33 – 37. Toralto 1589, 18. Toralto 1589, 29.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

hçher sei ihre gattungshierarchische Wertigkeit anzusetzen. Da das Sonett mit seiner formal gedrngten Krze besondere gestalterische Schwierigkeit aufweise, whrend die Tragçdie von der anders gearteten Schwierigkeit der historisch referenzierbaren Darstellung gerade entlastet sei, gelte: „toltone [nmlich von der Tragçdie] l’obligo dell’attione vera, io direi, che pi sia difficile far buoni sonetti, che tragedie“.564 Die unerhçrte, aber deutliche Konsequenz, dass somit das Sonett hierarchisch ber der Tragçdie zu stehen kommt, versucht Partenopeo wenig spter noch mit dem Hinweis zu relativieren, es handle sich bei seiner Behauptung um eine bertreibung („f per modo di Iperbole“): Denn immerhin – und hier schlgt erneut die ‘klassische’ Stilpoetik durch – gehçre zur Tragçdie ja die „estrema gravit“, und auch die bedinge durchaus einen betrchtlichen Schwierigkeitsgrad.565 Damit ist aber nur notdrftig kaschiert, dass Toralto an dieser Stelle der historisch wirkungsmchtigsten Dichtungsform der italienischen Renaissance im Gattungsspektrum eine Spitzenposition noch oberhalb der Tragçdie zuzuweisen sucht.566 Dieses gattungspoetologisch perspektivierte Argument kollidiert in der Veronica mit jener stillagentheoretischen Warnung, das Sonett weit in den Bereich des gravittischen Dichtens der oberen Stilebene eindringen zu lassen. Somit zeigt sich auch bei Toralto eine spannungstrchtige Interferenz zwischen Gattungstheorie und Stillagenpoetologie. Die grundstzliche Problematik einer Stillagentheorie des Sonetts bringt ein Text wie die Cavaletta overo de la poesia toscana von Torquato Tasso auf den Punkt: Ausgehend von der Multiformitt des Sonetts, das verschiedene Gegenstnde vermitteln und sich in verschiedenen Stillagen bewegen kçnne, diskutiert Tasso bis in die einzelnen sonettistischen Reimschemata hinein die Frage, wie das zwischen ‘dolcezza’ und ‘gravit’ 564 Toralto 1589, 29. 565 Toralto 1589, 29. 566 hnlich sucht Alessandro Guarini zu verfahren: Zum einen verweist er auf die Exzellenz des Sonetts in smtlichen Stillagen, durch die es ber alle anderen Gattungen erhaben sei (s. das bereits angefhrte Zitat aus Guarini [1599] 1728, 344). Zum anderen behauptet er khn, innerhalb der Dichtungsgattungen zeichne sich das Sonett durch eine besonders große Universalitt aus, whrend Epos und Drama (Tragçdie wie Komçdie) eher partikulre Stoffe behandelten; deshalb gilt ihm unter ausdrcklichem Verweis auf Aristoteles’ Poetik (Kap. 9) das Sonett gewissermaßen als Dichtung in Potenz und von daher hçherwertig (Guarini [1599] 1728, 344). In Hinsicht auf die dramatischen Gattungen sieht Guarini diese Hochstufung des Sonetts dadurch noch verstrkt, dass es die jeweiligen dramatischen Wirkaffekte („misericordia“ und „terrore“ bzw. „riso“ und „piacere“) effizienter hervorrufe als Tragçdie und Komçdie (ebd.).

3.2 Sonett und Epigramm

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changierende Sonett als eine Form der ‘maniera temperata’ beschrieben werden kçnne. Dabei wird sowohl das Unbehagen an einem durchaus durch Zitate belegten ‘stilus humilis’ des Sonetts greifbar567 als auch die durchlssige Grenze von der mittleren zur hohen Stillage problematisiert: Seit der Zeit Dantes, so insinuiert der Forestiero Napolitano im Dialog, zeige die Entwicklungslinie des Sonetts kontinuierlich vom mittleren hinauf zum hohen Stil: Ma io lascerei i sonetti a le materie gravi e a la forma ancora; e se pur io talvolta gli abbassassi, non passarei la mediocrit, e mi parrebbe di riporli nel primo stato loro pi vicino al nascimento; perch Dante e gli altri inanzi pi volentieri composero il sonetto con stile mezzano: laonde egli in que’ suoi libri ch’intitol De la volgare eloquenza disse di voler trattar del sonetto nel quarto, dove dovea trattare del volgare mediocre, e, paragonando il sonetto a la ballata, afferm che ‘l modo de la ballata era pi nobile: da la quale opinione s’allontan il Petrarca e ‘l Bembo e ‘l Casa e ‘l Capello e ‘l Tasso. Per mi pare che del sonetto coltivato da loro, sia avenuto quello ch’aviene d’alcune erbe, che per la coltura s’inalzano e trapassano ne la natura di piante.568

Speziell bei Tasso liegt eine sehr komplexe Gemengelage in der stillagentheoretischen Wertung des Sonetts vor: Zum einen mçchte er gerade fr das eigene Dichten einen ‘sßen’ lyrischen Stil festschreiben. Zum anderen aber vertritt er – auch außerhalb eines in dieser Hinsicht recht eindeutigen Textes wie der Lezione sopra un sonetto di Monsignor della Casa, die einen prononciert ‘schweren’ Autor behandelt – hufig die Position einer grundlegenden Hochschtzung der gravittischen Stillage im Sonett.569 567 Fr die niederen Gegenstnde sei, so Tassos Gesprchsfigur des Forestiero Napolitano, das Madrigal angemessener als das Sonett, und zwar vor allem das heterometrische Cinquecento-Madrigal, da sich (vom Sonett ganz abgesehen) schon Petrarcas isometrisch-hendekasyllabische Madrigale der mittleren Stilebene zu nhern scheinen: „Ma per le materie umili e per l’umili diciture assai convenevole la forma de’ madrigali, e fra’ madrigali quelli ancora sono pi convenienti a l’umil dicitore, i quali veggiamo ripieni d’eptasillabi, o regolari o irregolari ch’elli siano: percioch quelli altri che sono stati tenuti dal Petrarca in assai artificiose testure de’ versi endecasillabi, potrebbono ad alcuno parer del carattere mediocre“ (Tasso 1958, 635 f.). 568 Tasso 1958, 635. Vgl. diesen Gedanken noch prgnanter dann in den Discorsi del poema eroico: „[…] quel che del sonetto avvenuto, il quale con la coltura acquist grandezza e magnificenza“ (Tasso 1977, 378). 569 Vgl. zu Tasso Kap. 2.6. In der ‘lezione’ zu Della Casa referiert Tasso u. a. kritisch die uns schon bekannte Stillagentheorie aus De vulgari eloquentia. Auch Tasso vereinheitlicht wie Crispolti aus polemischen Grnden Dantes komplexe und uneindeutige Darstellung, indem er bei Dante neben dem hohen Stil (der ‘Tragçdie’) und dem mittleren Stil (der Komçdie) auch einen ‘stilo umile’ definiert sieht, dem

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Die Stillagenpoetologie hat die frheren, vergleichsweise sicheren Pfade einer rein metrisch-formalistischen Bestimmung des Sonetts verlassen. Sobald das Sonett nicht mehr einfach ber seine Versart(en) und seine mçglichen Reimschemata definiert werden soll, sondern die Decorumsrelation zwischen dem sonettistischen Stil und einem den Stil bedingenden Inhalt in den Mittelpunkt des definitorischen Interesses rckt, wird die Mannigfaltigkeit der in Sonetten angesprochenen Themen nicht nur bewusst, sondern (wie nun hufig gesehen) zum großen Problem. Auf dem kontenutistischen Weg gelingt die Gattungsabgrenzung des Sonetts ganz offensichtlich nicht. Es wird in eine zum Teil schwierige Affinitt zum Madrigal gebracht,570 seine Grenzen zur Canzone werden diskutiert,571 die Frage nach der Relation zwischen Sonett und Ballata572 wird virulent und (wie gesehen) selbst die Beziehung zu den traditionell als hoch gesehenen Gattungen wie Tragçdie573 und Epos574 erweist sich als vielgestaltig und nicht sonderlich stabil.575

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das Sonett zugerechnet werde; vgl. Tasso 1823a, 45. Gegen diese Position hat Tasso als Exeget des gravittischen Della Casa naturgemß zu argumentieren. Insbesondere wenn das Madrigal sich auch formal dem Sonett nhert, nmlich als Vierzehnzeiler auftritt und sich nur noch durch Heterometrie (Einlagerung einiger Kurzverse) vom Sonett unterscheidet (das wohlgemerkt vorpetrarkisch auch heterometrisch sein konnte), kçnnen die theoretischen Grenzen zwischen den beiden lyrischen Gattungen verschwimmen: s. etwa Filippo Massinis Lettione del madrigale (Massini 1588, 184). Und abgesehen von formaler hnlichkeit bzw. Unhnlichkeit, um die die Aristoteliker nicht zentral besorgt waren: Wo man die ‘materia amorosa’ im Sinne von mimetisch dargestellten Liebesleidenschaften als Sujet der Lyrik ansetzte, waren Sonett und Madrigal (sowie die Canzone) allenfalls nach dem Grad der Heftigkeit der darzustellenden Liebespassion unterscheidbar: s. Strozzis Madrigal-Vortrag von 1574 (Strozzi 1635, 174 f.). Vgl. etwa Minturno [1564] 1971, 240 f., der die Similaritt zwischen Sonett und Canzone hier allerdings vor allem betont, um die Analogie zwischen Sonett und Epigramm bekmpfen zu kçnnen. Vgl. Tasso 1958, 635; s. dazu oben. Erneut zeigt sich hier: Insbesondere wenn die formale Struktur der literarischen Gattungen an Bedeutung hinter der Erwgung aristotelischer Wirkkategorien von Literatur zurcktritt, verschwimmen auch Gattungsgrenzen, denen man relativ hohe Stabilitt zutrauen mçchte. So kçnnen dem spten, aristotelisierenden Trissino problemlos Verse aus Petrarca-Sonetten als Beispiele verschiedener ‘sentenzie’ dienen, wie sie in der Tragçdie zum Einsatz kommen. Siehe Trissino [1562] 1970, 38 f. Analoges wie soeben zur Relation von Lyrik (bes. Sonettistik) und Tragçdie gesagt gilt fr Lyrik / Sonettistik und Epos: Dem Aristoteliker Minturno bspw. dienen Passagen aus den Rerum vulgarium fragmenta problemlos als beispielhafte Zitationen narrativer Verfahren im Rahmen seiner Erçrterungen der erzhlerischen

3.2 Sonett und Epigramm

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Sonett und aristotelisierende Gattungssystematik. Gnzlich anders ausgerichtet als die formalistischen und stillagentheoretischen Zugriffsweisen auf die Sonettistik ist der aristotelisierende Versuch, das Sonett in eine umgreifende Systematik der Gattungen einzugliedern. So entspricht die Definition, die Minturno vom Sonett gibt, seiner fr die einzelnen Gattungen immer wieder neu abgewandelten Literaturdefinition, die sich an der Tragçdiendefinition aus der aristotelischen Poetik 576 orientiert. Demnach ist das Sonett wie folgt definierbar: „Compositione grave e leggiadra di parole con harmonia di rime, e con misura di syllabe tessute sotto certo numero di versi, e sotto certo ordine limitata.“577 Crispolti zitiert diese Definition und erlutert mustergltig, warum hier, ausgehend von einem aristotelischen Grundschema von ‘Dichtung’, das Genus Poesie durch die Angabe interner Differenzierungen in einzelne Species zerlegt wird bzw. das Genus Poesie in diesem Fall auf die Species des Sonetts enggefhrt wird:578 Ora, venendo alla sua [scil. del sonetto] definizione, dico insieme con il signor Antonio Minturno nel terzo libro della sua Poetica toscana ch’il sonetto altro non che ‘composizione grave e leggiadra di parole con armonia di rime e con misura di sillabe, tessuta sotto certo nummero di versi e sotto certo ordine limitata’. La voce composizione sta in vece del genere, perch d’ogni sorte poesia

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Großtexte (Heldenepos, Romanzo): vgl. Minturno [1564] 1971, 23, 51 – 64, u. ç.; vgl. bspw. auch 441 – 443. Ein Versuch, den Unwgbarkeiten der kontenutistischen Gattungsabgrenzung zu entkommen, ist die Definition einzelner Gattungen nach ihren medialen Voraussetzungen, den Tasso in der Cavaletta unternimmt: Whrend das Epos nur auf seine textuelle Verfasstheit wirklich angewiesen ist, tritt bei der Canzone als definitorisch notwendiges Medium der ‘canto’ hinzu, beim Sonett weiterhin der ‘suono’, bei der Ballata außerdem der ‘ballo’. Siehe Tasso 1958, 666. Die Tragçdiendefinition des Aristoteles (Kap. 6 der Poetik) baut auf den zu Beginn der Poetik eingefhrten Kategorien ‘Gegenstand der Mimesis’, ‘Mittel der Mimesis’, ‘Modus der Mimesis’ auf. In der bersetzung von Arbogast Schmitt lautet sie: „Die Tragçdie ist also Nachahmung einer bedeutenden Handlung, die vollstndig ist und eine gewisse Grçße hat. In kunstgemß geformter Sprache setzt sie die einzelnen Medien in ihren Teilen je fr sich ein, lsst die Handelnden selbst auftreten und stellt nicht in Form des Berichts geschehene Handlungen dar. Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefhle. Ich meine mit kunstgemß geformter Sprache eine Sprache, die Rhythmus und musikalische Gestaltung und Melodie hat, mit der gesonderten Verwendung der Medien aber, dass einiges nur in Sprechversen ausgefhrt wird, anderes wieder in Liedform“ (Aristoteles 2008, 9). Minturno [1564] 1971, 240. Der Aristotelismus bedient sich hier der in der zeitgençssischen Literaturtheorie verstrkt eingesetzten Verfahren dialektischer Untergliederung; vgl. dazu Trappen 2001, 37 – 76 und Trappen 2002.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

si dice. L’altre voci formano le differenze. E perch si detto il sonetto esser composizione grave e leggiadra di parole, in questo diverso da quelle composizioni ch’i Greci e i Latini chiamano ‘epigramma’, perci ch’in questo n

gravit n leggiadria di parole principalmente e di necessit si richiede, ma s bene acutezza di motti e di sentenza. […] L’altre qualit ancora poste nella definizione del sonetto fanno ch’esso sia molto dell’epigramma differente, come questa: tessuta sotto certo nummero di versi e sotto certo ordine limitata, avenga che l’epigramma non abbia prescritto, com’ha il sonetto, certo nummero di versi […]. Queste istesse parole, tessuta sotto certo nummero di versi e sotto certo ordine limitata, fanno ch’il sonetto sia ancora dalla canzone diverso, conci sia che ad esse n certo nummero di stanze n alla stanza certa quantit di rime si dia […].579

Wie hier sogleich erkenntlich wird, soll nicht stillagenpoetologisch, aber auch nicht metrisch-formal vorgegangen werden. Vielmehr bildet die Ausgangsbasis eine aristotelisierende Literaturdefinition, die eine gemeinsame Gattungsbasis durch Genus-Definition liefern soll und davon ausgehend durch dialektische Etablierung von ‘differentiae specificae’ von der allgemeinen Gattungsdefinition Arten dieser Gattung ableiten lassen soll: Sonett, Epigramm, Canzone, usw. Unklar bleibt allerdings, was genau der Oberbegriff sein soll, in dem sich die Gattung konstituiert: Um welche Ausprgung von ‘Dichtung’ handelt es sich? Der Lyrikbegriff ist hier zwar angezielt, aber nicht etabliert (Crispolti kaschiert das, wenn er sich unter Berufung auf Minturno schon mit dem Oberbegriff ‘composizione’ als Ausdruck von ‘d’ogni sorte poesia’ zufriedengibt). Dies ist nicht weiter verwunderlich. Um nmlich einen stabilen Oberbegriff fr die diversen lyrischen Formen und von da ausgehend eine Definition des Sonetts bilden zu kçnnen, die tatschlich aus aristotelischer Warte valide sein kçnnten, msste Minturno zunchst am Beginn des dritten Buchs die ‘melica poesia’ stringent nach den aristotelischen Kategorien definiert haben.580 Ferner 579 Crispolti [1592] 1974, 196 f. (Hervorhebungen im Original). 580 Genau das gelingt Minturno dort (Minturno [1564] 1971, 175) aber nicht. Vielmehr werden bei der allgemeinen Definition der ‘melica poesia’ fr den Gegenstand der Nachahmung und den Modus der Nachahmung jeweils mehrere Alternativen zur Wahl gestellt. Vgl. dazu im Detail Kap. 2.4. hnlich prekr verbleibt der Versuch von Alessandro Guarini [1599] 1728, 340 – 342), das Sonett als eine Unterform der nach Epik und Dramatik dritten Makrogattung ‘Lyrik’ zu definieren: Einerseits wird diese Makrogattung als ein Sammelcontainer fr „Inni“, „Encomi“, „Elegie“, „Ode“, „Distici“ und „Epigrammi“ im Bereich der antiken Dichtung definiert, dem aus dem ‘volgare’ ohne weitere Problematisierung einfach nur das Sonett zugewiesen wird. Andererseits lsst sich das Sonett bei Guarini durch die aristotelischen Mimesiskategorien nicht faktisch von anderen Gattungen differenzieren: Hinsichtlich des Gegenstands der Mimesis ist es nicht

3.2 Sonett und Epigramm

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msste er an unserer Stelle neben den Ausfhrungen zu den sonettistischen Mitteln der Nachahmung („parole“, „armonia di rime“, „misura di sillabe“, „certo nummero di versi“) auch etwas zum (zuvor fr die ‘melica poesia’ generell gerade nicht fixierten) sonettistischen Modus der Nachahmung sagen, also die Frage nach dem sog. Redekriterium beantworten, und v. a. sofort eine sonettspezifische Terminierung des (gleichfalls fr die ‘melica poesia’ im Allgemeinen nicht eindeutig spezifizierten) Gegenstands der Nachahmung vornehmen. Erst durch diese Angaben ließe sich eine aristotelisierende Systematik581 tatschlich differenzierend ausfalten. Eben dies kann Minturno aber nicht gelingen, insbesondere deswegen nicht, weil (wie ganz allgemein im Bereich der Lyrik) die Frage nach dem Redekriterium nicht stringent zu beantworten ist582 und weil der Gegenstand der Nachahmung (aristotelisierend ließe sich sagen: die Nachahmung von ‘affetti’ oder ‘costumi’583) allenfalls womçglich ein Charakteristikum von ‘Lyrik’, aber kein Differenzkriterium fr das Sonett als lyrische ‘Untergattung’ sein kann.584 Die Differenzqualitt der von Minturno fr die einzelnen lyrischen Formen verwendeten aristotelisierenden Definitionen ist wider Erwarten (pace Crispolti) gering. So unterscheidet sich die

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festgelegt, hinsichtlich der Mittel der Mimesis zeichnet es sich allein durch die Verwendung des Verses aus, hinsichtlich des Modus der Mimesis scheint es zwischen einem expositorisch-epideiktischen und einem sekundr-dramatischen Modus zu schwanken; Guarinis Formulierung ist hier nicht sehr transparent: „Quelle [die dramatischen Gattungen] rappresentano le azioni, operando, per cos dire, e, quanto al modo di trattare, sono operatrici, e questo [das Sonett], se le rappresenta, lo fa, non operando, ma esponendo solamente, essendo di esso puro celebratore, o vituperatore, o imitatore con sole parole, onde, dal sufficiente novero delle parti, possiamo noi conchiudere, che il Sonetto dee nel terzo luogo riporsi, e appellarsi lirica poesia“ (Guarini [1599] 1728, 341). Zu den Schwierigkeit des aristotelisierenden Zugriffs auf ‘Lyrik’ vgl. generell Kap. 2.1. Vgl. hier nochmals die in der obigen Anmerkung zitierte Passage aus Guarini [1599] 1728, 341. Auch der aristotelisierende spte Trissino gelangt mithilfe des Redekriteriums nicht zu einer Differenzierung der gngigsten lyrischen Formen des Italienischen; vielmehr weist er „quasi tutte le elegie, le ode, le canzoni, e le ballate, e li sonetti, e simili“ insgesamt der Variante des Redekriteriums zu, bei der „‘l poeta parla sempre in sua persona e non induce mai altre persone che parlino“ (Trissino [1562] 1970, 13). Vgl. Minturno [1564] 1971, 2: „Le cose, che ad imitar prendiamo, sono i costumi, gli affetti, & i fatti delle persone“; dazu Hempfer 2008, 46. Siehe insgesamt oben Kap. 2.1 und 2.4. Vgl. zu den Problemen der aristotelisierenden Gattungsdefinition insgesamt oben Kap. 2.1.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Canzone definitionsgemß vom Sonett allenfalls dadurch, dass die schwierige, auf Bembos Prskription rckfhrbare Stilcharakteristik (sowohl ‘grave’ als auch ‘leggiadra’ zu sein) wegfllt und als ein mçgliches (!) Medium der Darbietung einer Canzone der ‘canto’ hinzutritt. Mithin wird die Canzone lediglich definiert als „compositione di parole con harmonia sotto certo numero, e sotto certa misura tessute, & ordinate, & atte al canto“.585 Notgedrungen geht auch Minturno zur genaueren Umgrenzung dessen, was unter ‘Canzone’ und ‘Sonett’ jeweils zu verstehen ist, ganz in der Art Dantes, Antonio Da Tempos und des frhen Trissino auf Reimschemata und Strophenbau recht detailliert ein:586 Die althergebrachte Formalpoetik muss dem hilflosen Aristotelismus zur Seite stehen. Der verlegenheitsartige Rckgriff auf die formalistische Beschreibung des Gedichtkçrpers geht so weit, dass die zu Minturnos Zeiten lngst weitgehend obsoleten Sonetttypen etwa der ‘sonetti doppii’, ‘caudati’, ‘continovi’, ‘tornellati’, ‘incatenati’, ‘ripetiti’, ‘retrogradi’ usw. angefhrt und kurz besprochen werden,587 ganz als befinde man sich noch in der Zeit der Summa Da Tempos. Indiz ist dies nicht fr ein Interesse, das der metrischstrophische Formalismus per se beanspruchen kçnnte, sondern der formalistische Rekurs ist Supplement fr die Defekte einer angesichts der Vielfalt lyrischer Rede versagenden Systematisierungsanstrengung des Aristotelikers Minturno. Epigrammatik. Quer zu den Versuchen, das Sonett als distinkte Gattung systematisch von anderen Ausprgungen der Lyrik zu unterscheiden, die ihrerseits wieder untereinander zu differenzieren wren, steht die Analogisierung des Sonetts mit anderen (teils antiken, teils vernakularen) poetischen Formen. Wie wir bereits gesehen haben, wird in der italienischen Tradition das Sonett (schon wegen der Hypothese seines Ursprungs aus einer isolierten Canzonenstrophe und seiner formalen hnlichkeit zu deren Aufbau) hufig mit der Canzone in Beziehung gesetzt. Im Verlauf des Cinquecento tritt dem als Alternative immer vernehmlicher die Vergleichung von Sonett und Epigramm zur Seite. Voraussetzung fr diese dichtungspraktisch wie theoretisch folgenreiche Entwicklung ist die zu585 Minturno [1564] 1971, 186. Analoges ließe sich zur Definition der Ballata sagen, ebd. 247: „vaga, e piacevole compositione di parole, con harmonia sotto certo numero, e sotto certa misura tessute, & ordinate; & atta al canto, & al ballo; e divisa in parti ad un sentimento dilettevole indirizzate; e sotto certo canto, e sotto certo ordine limitata“. 586 Vgl. zum Sonett Minturno [1564] 1971, 243 – 246. 587 Minturno [1564] 1971, 246.

3.2 Sonett und Epigramm

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nehmende Prominenz antiker Epigrammatik im Cinquecento.588 Catull und Martial waren mit ihrer Epigrammatik seit Langem schon bekannt und zu wechselnden Anteilen wirkungsmchtig gewesen – im Humanismus des Quattrocento und darber hinaus wurde der ‘lyrische’, ‘sße’ Catull insgesamt hçher gewertet als der ‘beißende’, ‘bittere’ Martial, whrend sich das Verhltnis im Cinquecento umkehrte589 und die pointierte, scharfe Dichtungsart martialscher Prgung im lyrikpraktischen Bereich erheblich zur epigrammatischen Zuspitzung verschiedener Gattungen beitrug, vor allem des Madrigals und insbesondere auch des Sonetts.590 Im Cinquecento tritt zur Prsenz der beiden rçmischen Dichter die Sammlung der Anthologia Graeca in der Gestalt der Anthologia Planudea, die seit ihrer Erstverçffentlichung (durch Janus Lascaris in Florenz bei Laurentius Francisci de Alopa im August 1494) immer breitere Rezeption fand.591 So produktiv fr die Dichtungspraxis die zunehmende Vertrautheit mit der epigrammatischen Tradition der Antike war, so herausfordernd es sein mochte, in antikisierendem, am quantitativen Metrum orientierten Versmaß Epigramme im ‘volgare’ zu schreiben, so schwierig war die Epigrammatik fr die Dichtungstheorie – insbesondere deswegen, weil aus der 588 Diese Prominenz fhrt, wie oben angedeutet, vor allem zu einer verstrkten dichtungstheoretischen Diskussion ber das Epigramm und ber seine Affinitt zu lyrischen Formen des ‘volgare’, ferner zu einem Prozess, den man literarhistorisch als ‘Epigrammatisierung’ von lyrischen Gattungen wie Sonett und Madrigal bezeichnet hat; vgl. dazu Schulz-Buschhaus 1969, bes. 148 – 252 (Kap. „Das epigrammatische Madrigal“). Demgegenber sind die Versuche, volkssprachliche Epigramme in antikisierendem Gewand zu schreiben, wie sie Bernardo Accolti, Claudio Tolomei und in anderer Form dann Luigi Alamanni unternommen haben (vgl. dazu Hutton 1935, 49, 58 f.; Mott-Petavrakis 1992, 47 – 53), numerisch eher berschaubar geblieben – fr die zeitgençssische Physiognomie des Epigramms insgesamt sind sie aber doch von einiger Bedeutung. 589 „Sobald aus ‘lepor’ ‘argutia’ wird, sobald man die Essenz des kleinsten aller lyrischen Genera im scharfen Witz erblickt, weicht die Autoritt des Catull vor der Martials“: so Schulz-Buschhaus 1969, 152. Vgl. dort insgesamt 149 – 154 (Abschnitt „Martial contra Catull – ein Topos cinquecentesker Literaturkritik“), ungeachtet der Einschrnkungen von Hausmann 1972, 8 f. – Zur Catull-Rezeption in der lateinischen Literatur des Cinquecento vgl. Parenti 2009, der auch Seitenblicke auf die volkssprachliche Lyriktradition wirft. 590 Dabei ist interessant zu beobachten, dass ‘epigrammatische Kontakte’ des Sonetts zunchst sektoral relativ begrenzt erscheinen: etwa bei Bandello auf die experimentelle Zone des Pastoralsonetts; vgl. Danzi 1983, 105 f. (s. auch 111 f.). Spter ndert sich das auf breiter Front. 591 Vgl. dazu insgesamt die ‘klassische’ Studie von Hutton 1935 sowie den berblick bei Mott-Petavrakis 1992, 45 – 48.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Antike so gut wie keine verwertbaren theoretischen Aussagen zum Epigramm vorlagen.592 So setzte man bei der theoretischen Beschreibung des Epigramms gern da ein, wo das auch heute noch geschieht: Bei der etymologisch unterftterten (‘epi-gramma’ als ‘Auf-Schrift’), entstehungsgeschichtlich orientierten Definition des Epigramms als „Inschrift[] auf Grabsteinen, Weihegaben, Gefßen, Gerten, Waffen, Gebuden und Denkmlern“,593 und suchte in der einen oder anderen Weise von hier aus einen Brckenschlag zur Funktion der Epigramme als einer „Sorte von literarischen, ‘sofort fr das Buch gedichteten’ Texten“.594 Eben dieses Bemhen um einen Brckenschlag wird etwa in Minturnos Einfhrung des Epigramm-Themas deutlich, wenn er in De poeta sagt: Age ver de Epigrammate quod nobis impositum est, breviter exequamur. […] Ac dubium non est, quin antiquissimum esse scribendi hoc genus affirmare possimus. Ut prim m enim & donis templa Deorum exornari, & fieri coepta sunt monimenta, coepisse autem utrunque constat, c m religio sacrorum increbuisset, quam ortam eße cum homine consentaneum est, institutum eße arbitramur, ut in sepulchris, in simulachris, in parietibus sacrarum aedium versus inscriberentur, ad testificationem divini cultus, & ad memoriam hominum servandam. Nam quid alius erat Epigramma, qum ad praestandum hoc ipsum inscriptum carmen? Iamque Homerus, cuius poesi nihil in literarum monumentis haberi vetustius non pauci contendunt, scripsit multa id genus.595

Whrend Minturno in einer Entwicklungsgeschichte des Epigramms offensichtlich die beiden Stufen (Epigramm als Inschrift und Epigramm als Literatur) distinkt hlt und ber die Figur Homer ineinander bergehen lassen mçchte, vermischen sich beide Aspekte im weiteren Verlauf der Diskussion hufig – dies wohl nicht zuletzt, weil die epideiktische Funktion des Hervorhebens, Lobens, Rhmens, aber auch des Tadelns, einerseits 592 593 594 595

Vgl. Hutton 1935, 55; Hess 1989, 27 – 30. Verweyen / Witting 1994, 1273. Verweyen / Witting 1994, 1273. Minturno [1559] 1970, 411. Derselbe Gedankengang auf Italienisch dann im 3. Buch der Arte poetica: Minturno [1564] 1971, 278 f. Noch in der 1624 gedruckten Abhandlung De epigrammate, oda, et elegia von Vincentius Gallus heißt es am Eingang des Abschnitts „De Epigrammatis notatione, & definitione“ unter Berufung auf Minturnos Ausfhrung ber das hohe Alter der Gattung: „Epigrammatis nomen apud veteres amplum, lateque patens erat. Nam referebat inscriptionem, sive titulum, ac elogium rei alicuius, ut puta statuis, tropheis, imaginibus, clipeis, navibus, sepulchris, monumentis, templis, libris, & literis additum; vel sententiam honoris, dedecorisve gratia prolatam. Gramma enim scriptum, & epigramma inscriptum significat“ (Gallus 1624, 9).

3.2 Sonett und Epigramm

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den Inschriften per se eignete, andererseits der Dichtung aus der Warte einer rhetorisch perspektivierten Poetik mit Vorliebe zugeschrieben wurde. Inschriftliches und literarisches Epigramm waren somit nicht zuletzt sprachfunktional analogisierbar. Exemplarisch dafr kçnnen die abbreviaturhaften Precetti della poetica (1562) von Orazio Toscanella stehen, die Kurzdefinitionen wie diese liefern: „Della epigrammatografa: la epigrammatografa quella nella quale i poeti laudano o vero vituperano la milizia, le statue, i colossi, et altre cose di questa sorte.“596 Alternativ zu dieser Vermischung von Inschrift und Gedicht konnte aber auch behauptet werden, die Bezeichnung von Gedichten als Epigramme sei eine rein konventionelle bertragung. So sagt Vincentius Gallus nach seinen Ausfhrungen zum inschriftlichen Epigramm: Verum modo loquendi consuetudine proprium nomen est poematis effectum, varium, & multiplicem usum habens. qud ad quamlibet rem eleganter, urban , acut , & breviter cum versu dicendam, etiam absque inscriptione referatur.597

In diesem Sinne hatte schon Tommaso Correa598 in seiner zeitgençssisch gut rezipierten einschlgigen Abhandlung De toto eo poematis genere, quod epigramma vulgo dicitur zu Beginn ganz davon abgesehen, das Epigramm als Inschrift oder ‘titulus’ zu diskutieren und war sogleich in die Diskussion der literarischen Dimensionen des Epigramms eingestiegen.599

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Toscanella [1562] 1970, 564. Gallus 1624, 10. Zu Correas Epigrammtheorie berblicksartig Hutton 1935, 65. Correa 1569, 19. Auch wo Correa im Folgenden auf die Etymologie von ‘epigramma’ zu sprechen kommt, drngt er die inschriftliche Charakteristik epigrammatischer Texte ganz in den Hintergrund (diskutiert also z. B. nicht, auf welchen Gegenstnden solche ‘inscriptiones’ angebracht wurden) und hebt fast ausschließlich auf die (dichtungskonforme) epideiktische Valenz der ‘inscriptiones’ ab: „Epigramma veteribus cuiuslibet rei inscriptio, sive de aliquo testificatio appellatur: seu dictum, sententia, iudicium honoris, dedecorisve causa prolatum, in quo aliquid insit reprehensione, laude, commendatione, memoria dignum. Ac etsi quamcunque scriptionem nomen indicet […] tamen loquendi consuetudine, poetarumque usu proprium nomen effectum est, eius generis poematis, quod laudem vel vituperationem contineat: sive utriusque rationem brevitate, & concinnitate perfectum“ (Correa 1569, 25). Hier findet sich nun also dieselbe Annahme einer bertragung des Epigrammbegriffs „loquendi consuetudine“ wie dann auch bei Gallus (s. o.).

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Julius Caesar Scaliger ist der bei weitem einflussreichste rinascimentale Theoretiker des Epigramms geworden.600 Er bringt noch vor jeder nheren Behandlung des Epigramms das Problem auf den Punkt: „Epigrammatis nomen valde amplum, ad quamvis inscriptionem“,601 daher „Epigrammatum species multae“.602 Bereits wenn man das Epigramm lediglich als inschriftliche Textsorte betrachtete, ließ sich eine Vielzahl unterschiedlicher Schrifttrger und im Zusammenhang damit differenter Funktionen dieser Gattung nicht von der Hand weisen, die jede semantisch oder sprachfunktional ausgerichtete Definition zumindest erheblich erschwerte, wo nicht unmçglich machte. Auch die dem inschriftlichen Epigramm zugewiesene Epideixis zerfaserte bei nherem Hinsehen in viele Unterarten. Die bertragung epideiktischer Funktionen der Inschrift auf den Bereich epigrammatischer Literatur ließ die theoretische Griffigkeit des Epigramms auch hier prekr werden. Und dies galt nicht nur fr den Bereich der Epideixis im Sinne der lobenden bzw. tadelnden Rede, sondern grundlegende Schwierigkeiten ergaben sich schlechthin fr die rhetorikpoetologische Behandlung des Epigramms nach den ‘genera causarum’: Sobald man nmlich feststellen konnte, dass das Epigramm alle drei rhetorischen Genera bediene, es also epigrammatische Entsprechungen sowohl zur Lob- und Prunkrede als auch zur beratenden und abwgenden Rede als auch zur Gerichtsrede gebe,603 taugte exakt das herangezogene rhetorische Schema zu keinerlei gattungstheoretischer Differenzierung mehr. 600 Vgl. zu Scaligers Epigrammtheorie den berblick bei Hutton 1935, 64 f. Bekanntermaßen war Scaliger auch Epigrammdichter und als solcher ein frher Rezipient der Anthologia Graeca; vgl. Magnien 1984, 406. 601 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 428 (B. 1, Kap. 56). 602 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 432 (B. 1, Kap. 57). 603 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 206/208 (B. 3, Kap. 125) weist dem ‘genus iudiciale’ Epigramme mit apologetischem Inhalt (Selbstverteidigung des Sprechers) zu, dem ‘genus deliberativum’ Liebes- und Bittepigramme, dem ‘genus demonstrativum’ Epitaphien und Elogien. Auf den Punkt gebracht und mit dem rhetorischen System korreliert ist dies unter dem Titel „De epigrammate ex generibus causarum“ konzis bei Gallus 1624, 23: „Idem Scaliger epigrammata ad genera causarum oratoriarum redigenda esse tradidit, totque esse, quot illa. Itaque illa, quibus laudamus, vituperamus, illudimus, gratulamur, gratias agimus, aliquid dedicamus, commendamus, & risum excitamus, ad exornativum genus revocantur. Ea, quibus suademus, dessuademus [sic], hortamur, dehortamur, petimus, deprecamur, invitamus, & consolamur, ad delibrativum. Ea, quibus aliquem accusamus, reprehendimus, exprobramus, minamur, insimulamus, invehimur, defendimus, & expostulamus, ad iudiciale. Quorum praecepta tradimus in Rhetore.“

3.2 Sonett und Epigramm

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So ist es kein Zufall, dass die folgenreichste Bestimmung des Epigramms als literarischer Gattung (diejenige, die Scaliger selbst vorgenommen hat) diese epideiktisch-rhetorische Interpretation der Gattung in den Hintergrund drngt und sich statt dessen auf eine im Wesentlichen formal-strukturelle Definition konzentriert, die durch die Unterscheidung ‘einfacher’ und ‘zusammengesetzter’ Epigramme zugleich den Unterschied inschriftlicher und literarischer Epigrammtexte zu integrieren versucht: Epigramma igitur est poema breve cum simplici cuiuspiam rei vel personae vel facti indicatione aut ex propositis aliquid deducens. Quae definitio simul complectitur etiam divisionem, ne quis damnet prolixitatem. Est simplex indicatio rei, ut anathematis; donaria namque non sine inscriptione. […] Alia vero composita sunt, quae deducunt ex propositis alius quiddam, idque aut maius aut minus aut aequale aut diversum aut contrarium. Brevitas proprium quiddam est, argutia anima ac quasi forma. Quare non est verum epigramma esse maioris poematis partem. Brevitatem vero intellegemus non definitam; nam et monostichon est apud Martialem et aliquot satis longa, si alia spectes.604

Whrend in dieser spterhin (auch von Correa und Gallus) hufig aufgenommenen Definition also das ‘epigramma simplex’ im Wesentlichen mit inschriftlichen Texten und ‘tituli’ identifiziert wird, whrend das ‘epigramma compositum’ mit literarischen Beispielen belegt werden kann, und whrend diese Bestimmung formalistisch bleibt, lsst sich unter pragmatischem oder kontenutistischem Aspekt nicht weiter differenzieren: Denn, so Scaliger, das Epigramm kçnne „omne genus poeseos“ enthalten, womit gemeint ist: jede mçgliche Ausprgung des Redekriteriums.605 Somit kann das Epigramm ‘dialogische’ (d. h. ‘dramatische’), ‘erzhlende’ und ‘gemischte’ Form annehmen.606 Es ist mit anderen Worten hinsichtlich 604 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 204 (B. 3, Kap. 125). 605 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 204/206 (B. 3, Kap. 125). 606 Scaliger bezieht sich auf die Terminologie, mit der in der Sptantike die schon von Platon und Aristoteles reflektierte Problematik des Redekriteriums dichterischer Texte belegt worden war. Vgl. Diomedes, Ars grammatica 3, Abschnitt „De poematibus“ (Diomedes [1857] 1981, 482): „Poematos genera sunt tria. aut enim activum est vel imitativum, quod Graeci dramaticon vel mimeticon, aut enarrativum vel enuntiativum, quod Graeci exegeticon vel apangelticon dicunt, aut commune vel mixtum, quod Graeci joimºm vel lijtºm appellant“. Im Folgenden werden die drei ‘genera poematos’ von Diomedes ausfhrlich diskutiert. – Vor Scaliger hatte Minturnos De poeta bereits die verschiedenen pragmatischen Varianten des Redekriteriums durch Aufzhlung einer Reihe von Zitatbeispielen dem Epigramm allesamt zugeschrieben (Minturno [1559] 1970, 412 f.), und nach Scaliger betonte Minturno in der Arte poetica diesen selben Sachverhalt in konziser Zusammenfassung; im Epigramm gelte, dass der Dichter „hor semplicemente

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

des Redekriteriums entdifferenziert, also pragmatisch nicht weiter definierbar. Kontenutistisch lsst es sich gleichfalls nicht fixieren, denn Scaliger betont im selben Atemzug ausdrcklich: „Epigrammatum autem genera tot sunt quot rerum.“607 (Von daher rhrt auch das Unbehagen der zeitgençssischen Theoretiker, wenn es darum geht, das Epigramm gegen andere lyrische oder sonstige Literaturgattungen abzugrenzen: Die Multiformitt des Epigramms macht Grenzziehungen und damit auch die Beschreibung von Nachbarschaftsrelationen prekr.)608 Auch nach Versart oder lexikalisch-grammatikalisch-stilistischen Kriterien lassen sich Epigramme nicht weiter klassifizieren: Scaliger ist der Ansicht, es gebe im Epigramm schlichtweg smtliche mçglichen Versarten und alle in irgendwelchen Kulturen nachweisbaren Wçrter, Wortformen und Wortfiguren.609 So bleiben neben der Differenzierung in das ‘epigramma simplex’ und das ‘epigramma compositum’ nur zwei grundlegende Merkmale des Epigramms bestehen, die allseitige Valenz zur Gattungsdefinition haben, nmlich „brevitas et argutia“.610 Mit dieser Definition hat Scaliger nicht

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narra, hor parla egli ad altrui, hor del tutto della sua persona si spoglia“ (Minturno [1564] 1971, 280). Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 206 (B. 3, Kap. 125). Vgl. bspw. Correa 1569, 77 – 79 (Epigramm und Ode), Minturno [1564] 1971, 281 (Epigramm und Epos, s. unten). Gallus 1624, 10 f. versucht das Epigramm dadurch von den anderen dichterischen Gattungen abzugrenzen, dass er gerade seine indistinkte Stoffvielfalt zur ‘differentia specifica’ macht – die das Epigramm dann allerdings in die Nhe einer rhetorischen Textgattung rckt („Epigrammatario materia cum oratore communis est“). Bei Autoren wie Scaliger, Correa und Gallus werden außerdem mit Blick auf die antike Tradition ganze Reihen von ganz unterschiedlichen Untergattungen des Epigramms konstruiert, wie konzeptistische Echo-Epigramme, Epitaphien, Naenien, Monodien, Elogien usw. Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 206 (B. 3, Kap. 125). Auch Minturno war schon der Ansicht gewesen, dem Epigramm zwar – aufgrund seiner formalen Krze und seiner ‘argutia’, die beide eine gewisse ‘Politur’ zu bedingen schienen – eine „verborum elegantia“ und gar ‘splendor’ zuschreiben zu mssen, hatte aber relativierend dazugesetzt: „Quanqum ut non unum genus rerum pertractat, sic in sententiarum, verborumque delectu non unam profect rationem consectatur“ (Minturno [1559] 1970, 414). Vgl. zur epigrammatischen Stilvariett auch Minturno [1564] 1971, 280 f.: „lievemente, e lentamente tocca le cose leggiere; quelle, che son da ridere, festevolmente, e cortegianamente; le triste, & aspre severamente; le gravi incitatamente; e nel vero, quanto la brevit dell’opera gli permette.“ Diese theoretisch festgestellte Stilvariett des Epigramms konnte seine Analogisierung mit dem Sonett noch begnstigen, da gerade die stillagenpoetologische Einordnung des Sonetts mit einer vergleichbaren Vielfalt zurechtkommen musste. Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 206 (B. 3, Kap. 125).

3.2 Sonett und Epigramm

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nur die martialsche Epigrammform privilegiert (es folgt an dieser Stelle prompt ein Lob fr Martial und entsprechend Kritik an Catull),611 sondern auch die Mçglichkeit erçffnet, das Epigramm und das Sonett in eine gewisse Analogie zu setzen – galt doch schon sptestens seit Lorenzo das Sonett als durch sein enges (vierzehnzeiliges) Formkorsett charakterisiert, dem man einen konzis zugerichteten Gedanken einzupassen hatte. Wie wir schon gesehen haben, lag fr Lorenzo selbst der Vergleich des so konzipierten Sonetts mit dem Epigramm auf der Hand; Scaligers Sonettdefinition verstrkte die Tendenz zur Analogisierung der beiden Gedichtformen unabsehbar. Dazu in Krze noch einiges mehr. Vorderhand bleibt zu klren, warum Scaliger in seine oben zitierte Epigrammdefinition den Verweis eingeflochten hat: „Quare non est verum epigramma esse maioris poematis partem.“ Es handelt sich um einen Seitenhieb auf den gnzlich anders ausgerichteten Versuch einer Epigrammdefinition, den der Aristoteles-Kommentator Francesco Robortello unter expliziter Berufung auf die aristotelische Poetik unternommen hat.612 In den Explicationes de satyra, de epigrammate, de comoedia, de elegia von 1548 sucht Robortello der multiplen Physiognomie des Epigramms dadurch gerecht zu werden, dass er 611 Der Gegensatz Martial vs. Catull, den wir oben schon problematisiert hatten, liegt in der Epigrammtheorie unterschwellig auch zu Grunde, wenn das Problem verhandelt wird, dass Epigramme sowohl in pointierter als auch in urban-eleganter Manier auftreten kçnnen. Vgl. bspw. Correa 1569, 49 – 51: Dort wird zunchst ein im Sinne der ‘argutia’ zugespitzter Epigrammtyp skizziert („exitus tamen, & conclusio arguta, & admirabilis expectatur. quae novitate, concinnitate, argutia, pondere, sale excitet legentium mentes, & oblectet“), dem alsbald ein ‘weicher’, lieblicher Epigrammtyp zur Seite tritt („Sunt igitur quaedam epigrammata mollia, tenera, varijs diffusa affectibus, amoris, & benevolentiae; quo in genere laus est maxime, & decorum languor quidam. exigit enim haec forma animi quasi quandam mollitiem, decore adhibitam“). Dass es beide Varianten des Epigramms gab, erleichterte im brigen eine Analogisierung des Epigramms mit dem Sonett nicht unerheblich. Scaliger selbst fhrt die Unterscheidung der beiden Epigrammtypen brigens direkt auf die ‘exempla’ Martial bzw. Catull zurck: vgl. Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 212 (B. 3, Kap. 125). Der der ‘argutia’ verpflichtete Epigrammtyp mndete stilistisch gesehen in prbarocke Manierismen, so dass aus der Rckschau Gallus 1624, 36 – 42 unter der berschrift „De argutia ex artificio carminum“ die typisch manieristischen Kunstmittel, angefangen mit ‘versus correlativi’, Echo-Effekten, Anagrammen usw. allesamt der Gattung Epigramm als charakteristisch zurechnen kann. Vgl. allg. zur Epigrammatik als ‘Urgrund’ des lyrischen Manierismus Kçnig 1973, bes. 15, 19. 612 Weiteres zu Robortellos aristotelisierender Epigrammtheorie im Folgenden. Siehe dazu auch Hutton 1935, 60 – 62.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

unter Verweis auf die Ansicht des Aristoteles, eine Komçdie oder Tragçdie sei jeweils als ‘particula’ des umfangreicheren epischen Genus aufzufassen,613 das Epigramm als eine je nach seiner individuellen Spezifik aus der einen oder anderen grçßeren Gattung derivierte ‘particula’ begreift: Poematum genera haec ferme connumerantur a veteribus: tragoedia, comoedia, epopoeia, dithyrambica, legum poesis. Grandia sunt haec poemata; sed brevia satyra et quam appellavit Horatius ‘epistolam’, et Statius ‘sylvam’. Horum omnium particulam quandam valde exiguam existimaverim epigramma; nam sicuti comoedia aut tragoedia una particula est epopoeiae grandioris poematis – ducitur enim ex uno illius episodio, ut satis patet et aperte declarat Aristoteles in Poetice – ita quoque epigrammata multa ducuntur ex una particula comoediae aut tragoediae – adeo ut aliquis iure appellare possit ipsum epigramma particulam unius alicuius particulae comoediae, tragoediae et aliorum poematum.614

Somit lsst sich fr Robortello auch die Stoffvielfalt und sonstige Diversitt der Epigrammdichtung erklren: Der jeweils ganz unterschiedliche Stoff, den das eine oder andere Epigramm behandelt, rhrt schlicht aus dem Gattungsareal her, dem das jeweilige Epigramm individuell entlehnt ist: Materies epigrammatum multiplex est: nam cum sit particula quaedam exigua singulorum generum poetices facultatis, nunc huius nunc illius, plane necesse est ut qualis in singulis generibus fuerit materies, talis quoque sit in epigrammate. Hinc fit ut tam multa atque inter se valde diversa cernantur epigrammate perbelle tractari.615

So kommt Robortello zu sehr speziell gelagerten Erklrungen fr die einzelnen Facetten der Epigrammtradition: Epigramme auf Heroen etwa (die fr Scaliger, Correa und andere durch Verweis auf epideiktische Sprechintentionen erklrt wrden, s.u.) fhrt Robortello auf einen genetischen Zusammenhang mit dem Gattungsbereich der Tragçdie zurck, desgleichen epigrammatische Trauergedichte, „sepulcralia“ (epitaphische Epigramme also, die hier nun gerade nicht durch Verweis auf die inschriftliche Origo des Epigramms erklrt werden).616 Die spçttischen und 613 Die Anspielung drfte auf das Ende von Kap. 23 der Poetik gehen; dort sagt Aristoteles freilich gerade, man kçnne aus den raffiniert konstruierten Epen wie Ilias oder Odyssee nur je eine oder hçchstens zwei Tragçdien machen, dagegen aus den Kyprien oder der Kleinen Ilias sehr viel mehr. Vgl. aber auch Kap. 18 (epische Handlungsstrukturen bedingen Handlungsvielfalt) und Kap. 26 (die Ilias und die Odyssee bestehen aus einer Vielzahl von Handlungen). 614 Robortello [1548] 1970, 508. 615 Robortello [1548] 1970, 509. 616 Robortello [1548] 1970, 510.

3.2 Sonett und Epigramm

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satirischen Epigramme der Martial- und auch der Catull-Tradition sind – jetzt ist das zu erwarten – aus ihrer Derivation von der Komçdie zu erklren, die sich berhaupt nur durch ihre Lnge und das durchweg dramatisch gehaltene Redekriterium vom Epigramm zu unterscheiden scheint.617 Wo hingegen das Epigramm „laudationes“ und „fabulosa“ biete, kçnne dies nur aus dem Motivspeicher des Epos bezogen sein.618 Aristotelisierende Epigrammtheorie. Robortello stellt, wie bereits festgehalten, seine Epigrammtheorie unter das theoretische Rubrum des Aristotelismus;619 der genaue Titel seiner Abhandlung lautet dementsprechend „Eorum omnium quae ad methodum et artificium scribendi epigrammatis spectant explicatio. Ex Aristotelis libro De poetica magna ex parte desumpta“.620 Robortello sucht insofern einen eigenen Weg zu gehen, als bei ihm weder das Epigramm als inschriftliche Gattung noch die epideiktische Dimension epigrammatischer Texte von grçßerer Bedeutung sind. Der oben skizzierte Ansatz einer Bestimmung des Epigramms als ‘particula’ jeweils anderer grçßerer Gattungen ist noch an einem konkreten Bezug auf die Poetik des Aristoteles festgemacht. Sobald sich Robortello freilich einen Schritt weiter von der Poetik entfernt, ergeben sich seinem aristotelisierenden Zugriff auf das Epigramm Schwierigkeiten. So muss er buchstblich schon auf der ersten Seite des Textes das aristotelische Hauptkriterium fr die Definition von Dichtung schlechthin, nmlich das Mimesis-Kriterium, teilweise fallen lassen, um mit dem Epigramm zurande zu kommen.621 Robortello bringt sich selbst in Schwierigkeiten, weil er ‘imitatio’ im engen Sinn als Reprsentation von Handeln fasst, die im rein narrativen Darstellungsmodus nicht gegeben sei.622 So muss er angesichts der von uns 617 Robortello [1548] 1970, 511 f., dort bes.: „Neque ulla in re epigramma differt a comoedia praeterquam forma et ratione tractandarum rerum: illa enim fusius ac per collocutionem, hoc autem brevius atque simplici quadam narratione.“ 618 Robortello [1548] 1970, 513. 619 Vgl. zu Robortellos aristotelisierender Poetologie allg. Solervicens 2011, 104 – 109. 620 Robortello [1548] 1970, 508. 621 Scaliger sollte spter vehement die Berechtigung jedweder Nachahmungspoetik in Bezug auf eine Reihe von kurzen Versgattungen, darunter das Epigramm, bestreiten: s. Scaliger 1994 – 2003, Bd. 5, 494 (B. 7, Teil 1, Kap. 2). 622 Diese enge Argumentationsfigur legt die Poetik des Aristoteles an ihrem Beginn (Kap. 1 in Verbindung mit Kap. 3) so nicht nahe. Vielmehr ist bei Aristoteles dichterische Mimesis auch durch die reine Erzhlerstimme (ohne Einlagerungen von Figurenrede oder dergleichen) mçglich (vgl. zum Redekriterium im Kontext des Aristotelismus Kap. 2.1). Wie brigens Robortellos Kommentierung von Kap. 3 der Poetik (Robortello [1548] 1968, 24 – 26) deutlich werden lsst, besteht

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

schon angesprochenen redepragmatischen Vielfalt epigrammatischer Texte eine unaristotelische Konzession machen: „An vero contineat imitationem, siquis quaerat, respondeo aliquando quidem in epigrammate imitationem inesse aliquam; aliquando vero non esse, sed simplicem tantum narrationem.“623 Somit gibt es nur in manchen Epigrammen ‘imitatio’ (Mimesis), in anderen dagegen nicht. Als Beispiel fr ein Epigramm ‘mit imitatio’ nennt Robortello Catull no. 45, wo zwei Sprecher in einer Minimalhandlung befangen auftreten und direkte Rede ußern; als ein Epigramm ‘ohne imitatio’ wird auf Catull no. 84 hingewiesen (der Text weist nur ein lyrisches Ich mit berichtender Funktion auf ); ein Epigramm mit eher schwacher ‘imitatio’ („seu allocutio potius quaedam“)624 sei Catull no. 48 (in diesem Gedicht berichtet der lyrische Sprecher nicht, sondern spricht einen Adressaten direkt an, so dass der Eindruck eines ‘halben Dialogs’ entsteht). Aufgrund dieser gewissermaßen unnçtig defensiven und zurckhaltenden Position in Sachen Mimesis ist eine kohrente Verhandlung des Epigramms im Sinne der aristotelischen Poetologie kaum mehr mçglich; dementsprechend wird die Frage nach einem epigrammspezifischen Gegenstand und den entsprechenden Mitteln der Mimesis gar nicht erst gestellt. Die Bezge der Epigrammtheorie Robortellos auf Aristoteles bleiben punktuell: so auch, wenn den von der Tragçdie derivierten Epigrammtypen implizit die aristotelischen Wirkkategorien des ‘dolor’ (entsprechend dem nach Aristoteles auf der Tragçdienbhne zu sehenden ‘p thos’) und der ‘commiseratio’ (bei Aristoteles: tragisches ‘ leos’) zugewiesen werden625 – wobei ‘dolor’ / ‘p thos’ fr Aristoteles ja nicht wirklich bei ihm eine gewisse Unsicherheit bezglich des rein narrativen Darstellungsmodus: Er ist dort unsicher, ob die reine Narration an der Instanz einer Figur (eines primren intradiegetischen Erzhlers) oder an der Instanz des extradiegetischen Erzhlers erster Ordnung festzumachen sei (den Robortello nur ‘poeta’ nennen kann, woraus sich ihm das Problem u. U. erst ergibt). Robortellos Epigrammtheorie scheint allerdings dem Druck jenes Satzes aus Kap. 24 der Poetik nachzugeben, wo bezglich des Epos gesagt wird, der Dichter solle so wenig wie mçglich in eigener Person reden, weil er sonst kein Nachahmer sei. – Wie ein Versuch der Linderung von Robortellos Problemen mit dem Redekriterium nimmt sich der u. a. auf die Epigrammatiker gemnzte Satz von Minturno [1559] 1970, 48 aus: „Nec ver is michi tantum imitabitur, qui personam induerit agentis, sed etiam qui narrando speciem quandam eorum, quae describet, conformaverit, qua cuiusque vim, & naturam animorumque studia, motus, cogitationes plan perspiciam.“ 623 Robortello [1548] 1970, 508. 624 Robortello [1548] 1970, 509. 625 Robortello [1548] 1970, 510: „Tragoediae quidem proprium est tractare res serias quae in se multum doloris et commiserationis habeant, neque parum admirationis,

3.2 Sonett und Epigramm

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ein Wirkaffekt, sondern eines der drei Grundelemente der Tragçdienhandlung als solcher ist (Pathos, Anagnorisis, Peripetie, vgl. Poetik Kap. 11), hier bei Robortello aber den Wirkaffekt der Furcht (‘phbos’) unter der Hand ersetzen muss: Denn ein Epigramm kann vielleicht ‘Schmerz’ und ‘Mitleid’ erzeugen, aber kaum in Angst und Schrecken versetzen. Dagegen lsst sich fr Robortello – „admirabilia sunt fortuita“626 – das epigrammatische Moment der berraschenden Pointierung vorderhand ohne grçßere Probleme mit der aristotelischen Kategorie des ‘Wunderbaren’ kurzschließen. Somit ergibt sich hier eine eher pseudoaristotelisch zu nennende Theorie des Epigramms. Flagrant gegen aristotelisierende Grundpositionen des Cinquecento wird gar in Sachen Wahrscheinlichkeitspostulat verstoßen: Sobald nmlich Robortello zugegeben hat, die Epigrammatik beziehe aus dem Gattungsareal des Epos unter anderem die „fabulosa“ (s. o.), weil sie solche „fabulosa“ aus der an Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit gebundenen Dramatik gar nicht beziehen kçnne,627 hat er sich das Problem eingehandelt, dass es Epigramme „praeter verisimile illud de quo loquimur ex Aristotelis sententia“628 gebe – bei Catull und Martial vielleicht weniger, aber bei den ‘recentiores’ durchaus, und auch in der Anthologia Graeca, aus der Robortello pflichtbewusst ein Beispiel ‘praeter verisimile’ zitiert.629 Eine Erçrterung des Epigramms, die im Sinne des Aristoteles „lehodij_r“ vorginge, ist Robortellos Schrift trotz dieses am Schluss programmatisch hervorgehobenen Anspruchs630 nicht. Ihr Aristotelismus ist ein punktueller, selektiver Aristotelismus, der an die schillernde Gattung des Epigramms nur ausgesuchte, vermeintlich passende Kategorien herantrgt. Im Gegensatz dazu versucht Vincentius Gallus offenbar, im Rckblick auf das aristotelisierende 16. Jahrhundert die Epigrammatik in ein aris-

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sicuti copiose explicat Aristoteles in Poetice. Dolorem afferunt omnia atrocia, ut verbera, vulnera, caedes; commiserationem afferunt eadem ipsa, si viro immerenti accidant, aut si inter consanguineos, utpote inter matrem et filium, vel inter fratres. Admirabilia sunt fortuita […]. Haec omnia aptissima sunt ad epigramma“. Robortello [1548] 1970, 510. Robortello [1548] 1970, 513: „Sed fabulosa quoque non aliunde sumuntur quam ex epopoeia. Nam neque comoedia neque tragoedia recipit antiquas illas fabulas de diis, de inferis, de nymphis et huiusmodi rebus, praeter admodum pauca quae in tragoediis est videre, quia poemata haec confinguntur ex necessario, aut verisimili quod sit e necessario ductum, sicut satis in Poetice explicat Aristoteles.“ Robortello [1548] 1970, 513. Robortello [1548] 1970, 513 f. Robortello [1548] 1970, 516.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

totelisches Gesamtsystem der Literatur einzubinden.631 Im ersten Kapitel seiner Abhandlung, „De poesi in genere“, fhrt er zunchst die Begriffe ‘imitatio’ und ‘fictio’ ein, verhandelt sodann kurz das Redekriterium (also den aristotelischen Modus der Mimesis) und setzt danach drei ‘genera poeticae imitationis’ an, nmlich in Anlehnung an den Beginn der Poetik des Aristoteles (Kap. 1) und unter Ausnutzung des dort verwendeten Terminus ‘Dithyrambus’ fr eine Installation eines dritten Hauptgenus: „Dramaticum, Epicum, Dithyrambicum, sive Lyricum“.632 Zum ‘genus Dithyrambicum, sive Lyricum’ nun gehçrt unter anderem das Epigramm, das nicht mehr als Inschrift, sondern als gesangstaugliches Gedicht verstanden wird: „Lyricum ea continet poemata, quae ad cantum sunt accomodata, veluti odae, hymni, elegiae, & epigrammata“.633 Es folgt eine systematische Gesamtdarstellung aristotelischer Grundkategorien, vor allem orientiert an den von Aristoteles in Kap. 6 genannten ‘qualitativen Teilen’ der Tragçdie bzw. den rinascimentalen Interpretamenten dieser qualitativen Teile: ‘fabula’ (mit den Problempunkten Einheit der Handlung, Dichtung vs. Geschichtsschreibung, ‘fabula morata’ vs. ‘pathetica’ vs. ‘mixta’, Lysis, Anagnorisis, Peripetie), ‘mores’, ‘sententiae’, ‘verba’.634 Vom Epigramm ist allerdings bei dieser systematischen Grundlegung nicht mehr die Rede. Das Epigramm wird erst in den folgenden Kapiteln wieder besprochen, dann freilich nicht mehr unter Bezugnahme auf das soeben etablierte aristotelische Gedankengebude, sondern unter Rckgriff auf die Kategorien v. a. Scaligers, unter anderem auf seine von uns schon diskutierte Unterscheidung einfacher und zusammengesetzter Epigrammformen. Whrend also Robortellos Epigrammtheorie auf den Aristotelismus durchgngig, jedoch nur selektiv zurckgegriffen hatte, affichiert Gallus zu Beginn ein vollstndiges aristotelisierendes System, in dem das Epigramm einen eigenen Platz zugewiesen erhlt, greift darauf aber bei der eigentlichen detaillierten Behandlung der Gattung Epigramm gar nicht mehr zurck. Verhltnismßig kohrent nimmt sich dagegen die knappe und summierende Einordnung Minturnos aus:635 Er weist dem Epigramm unter den Modi der Darstellung als dominierende Sprechhaltung die ‘narratio’ zu, als Gegenstand der Darstellung „i costumi, e le passioni“, als Mittel der 631 632 633 634 635

Zur Epigrammtheorie von Gallus vgl. berblicksartig Hutton 1935, 67 f. Gallus 1624, 1. Gallus 1624, 1. Gallus 1624, 2 – 8. Vgl. zu Minturnos Epigrammtheorie auch Hutton 1935, 62 f.

3.2 Sonett und Epigramm

175

Darstellung „arguti, e brevi sentimenti“ sowie „leggiadria di parole“ in unterschiedlichen Stillagen. Sodann gliedert er (mçglicherweise in Anlehnung an Robortello) das Epigramm als eine „particella“ der Gattung der „Epica Poesia“ an.636 Dem recht glatten systematischen Entwurf steht allerdings entgegen, dass der Systematiker Minturno auf die literarhistorisch gegebene Stoffvielfalt des epigrammatischen Spektrums kaum eingeht. Hier schwebt das System als durchgngiges Gebilde ber der konkreten Gattung und bezieht sich selektiv auf diese, um sich selbst stabil zu halten. Die drei unterschiedlichen aristotelisierenden Epigrammtheorien von Robortello, Gallus und Minturno zeigen auf, wie schwer dem an restringierender Systematik interessierten Aristotelismus eine Gattung fiel, die durch enorme gehaltliche und stilistische Variationsbreite ausgezeichnet war. Im Kontrast dazu ist das dialektisch ausfaltende und zugleich literarhistorisch summierende Vorgehen Scaligers der Realitt der epigrammatischen Gattung angemessener – vermutlich ist nicht zuletzt dies ein Grund fr den großen Rezeptionserfolg der Poetices libri septem gerade auf dem Gebiet der Epigrammatik. Die Tatsache, dass Scaliger nicht nur ein viel gelesener Theoretiker des Epigramms, sondern auch selbst Verfasser von Epigrammen gewesen ist, und zwar insbesondere von Epigrammen, die petrarkistischen Zuschnitt haben und gerade eine Reihe unter den prominentesten Sonetten aus Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta in das Genus des (lateinischen) Epigramms transferieren,637 ist ein Hinweis auf die schon von Lorenzo de’ Medici thematisierte Nhe von Sonett und Epigramm – und damit auf eine Affinitt zweier lyrischer Formen, die nicht nur die Voraussetzung fr die dichtungspraktische ‘Epigrammatisierung’ des Sonetts ist, sondern in der Dichtungstheorie des Cinquecento durchaus kontrovers diskutiert wurde.638 Sonett und Epigramm. Was Lorenzo frh festgehalten hatte, wird im Cinquecento nicht durchweg so gesehen. Erste Andeutungen einer zag636 Minturno [1564] 1971, 280 f. Minturno bewerkstelligt diesen Anschluss des Epigramms an das Epos offensichtlich unbekmmert darum, dass er unmittelbar zuvor einrumt, „l’Epigramma talhora una corta Iambica composizione“ (281). 637 Vgl. Haugen 2007, bes. 820 f. 638 Eine inverse Entsprechung zur Epigrammatisierung des Sonetts, die die Bewegung der beiden lyrischen Gattungen aufeinander zu begnstigt, ist die schon anhand der Dichtung von Marullus festzustellende ‘Petrarkisierung’ des (lateinischen) Epigramms; vgl. Corsinovi 1975, s. auch Bradner 1969, 205. Zu analogen Phnomenen in der Epigrammatik Scaligers s. hier oben.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

haften Vergleichung von Sonett und Epigramm639 finden sich in verschiedenen Akademievortrgen von Benedetto Varchi.640 Varchis ansatzweise berlegungen, die darauf hinauslaufen, den Sonettisten Petrarca nicht nur mit den antiken Odendichtern (Pindar, Horaz), sondern auch mit den antiken Epigrammatikern zu vergleichen, trafen in den Kreisen der italienischen Theoretiker zunchst nicht auf viel Widerhall. Ganz anders dagegen die Haltung der Franzosen: Bereits 1548 definiert S billet in seinem Art potique geradezu das Sonett durch die Gleichung mit dem Epigramm: „Sonnet n’est autre chose que le parfait pigramme de l’italien comme le dizain du franÅois“.641 So sicher war man sich in Italien hier bei Weitem nicht. Giambattista Pigna immerhin nhert in I romanzi das Sonett einerseits der ‘lyrischen’ Sparte an (in die die Canzone, die Sestine und die Ballata fallen sollen), andererseits der ‘epigrammatischen’ Sparte, in die das Madrigal recht entschieden eingeordnet wird: Similmente al Lirico s’acconcier la Canzone: & sotto essa la Sestina & la Ballata comprendo. & all’Epigramma il Madrigale. & all’uno & l’altro per diversa strada il Sonetto: il quale nondimeno alle volte tale, che ne in Lirico, ne in Epigramma il suo sentimento spiegare non si potr: si come spesso quello che nell’uno  nell’altro si contiene, in un sonetto malamente s’accomoda,  che in effetto bene non vi sta.642

Daran fllt allerdings vor allem auf, dass das Sonett den beiden Sparten zwar angenhert wird, aber offensichtlich eine gattungstypische Eigenart aufweist, die es gerade unmçglich macht, Sonett und Ode oder Sonett und Epigramm vollends in dieselbe Kategorie einzuordnen oder gar miteinander zu identifizieren. Wie der letzte Satz des Zitats nahelegt, ist es wohl vor allem die im Sonett ausgedrckte ‘materia’, die sich einer bruchlosen Verrechnung mit den anderen Gattungen sperrt, und man wird im italienischen Kontext des Cinquecento wohl kaum in der Annahme fehlgehen, dass es vor allem die petrarkistische ‘materia amorosa’ sein drfte, die Pigna in diesem Sinn als allein sonetttypisch und nicht kompatibel mit anderen Formen der Lyrik ansieht. Falls diese Vermutung trifft, lsst sich zugleich annehmen, dass aus Pignas Sicht um die Mitte des Cinquecento 639 Vgl. zu dieser Thematik neben den im Folgenden gegebenen Hinweisen insbes. Guzm n Arias / Ruiz S nchez 2009. 640 Vgl. die Hinweise bei Behrens 1940, 82. 641 Zitiert nach Hutton 1935, 56. Vgl. dort auch den weiteren Zusammenhang der Argumentation. In Fernando de Herreras Kommentierung von Garcilaso de la Vega wird gleichfalls ein enger Konnex zwischen Sonett und Epigramm (allerdings auch Ode und Elegie) etabliert; s. Brown 1975. 642 Pigna 1554, 62. Vgl. dazu Hutton 1935, 56 und Mott-Petavrakis 1992, 90.

3.2 Sonett und Epigramm

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die dichtungspraktische ‘Epigrammatisierung’ des Sonetts noch nicht so sprbar war, als dass sich Sonett und Epigramm problemlos htten engfhren lassen. Dennoch lsst Benedetto Varchi in seinem Dialog Ercolano (verfasst 1560 – 1565, publiziert postum 1570) die Annahme einer Entsprechung von Sonett und Epigramm schon wie eine selbstverstndliche Mçglichkeit erscheinen: I Greci furono in questa sorte di poesia [der epigrammatischen Dichtung] felicissimi; i Latini antichi, da quelli di Catullo, della Priapea, e pochi altri in fuora, si pu dire che ne mancassero; ma i moderni hanno in questa parte larghissimamente sopperito. Per la qual cosa, se il sonetto corrisponde all’epigramma, noi vinciamo di grandissima lunga, se il madriale, o mandriale, non perdiamo.643

In Tassos Cavaletta overo de la poesia toscana ist gegen Ende der Darlegungen das Hauptziel der Aufweis eines an den je spezifischen Argumentationsverfahren festgemachten Gegensatzes zwischen der Canzone und dem Sonett. Um diesen plastisch zu machen, zieht Tasso als Vergleich den Kontrast zwischen der antiken Ode und dem Epigramm heran, was eine Korrespondenz zwischen der Ode und der Canzone einerseits, dem Epigramm und dem Sonett andererseits impliziert: N solo questo metodo mi [es spricht der Forestiero Napolitano] par di riconoscere; ma ne la canzona veggio quasi una imagine o un’ombra del divisivo e nel sonetto del compositivo; percioch ne l’una si sparge e raccoglie ne l’altro, e l’una risponde a l’ode greca o latina, l’altro a l’epigramma. Ma ‘l considerar queste cose pi minutamente sarebbe fatica d’alcuno meno occupato.644

Mit dieser Analogie bezieht Tasso, dem es schon zuvor darum gegangen war, ‘acutezza’, argumentative Zuspitzungen (Pointierungen, die ‘epigrammatisch’ wirken konnten) und ihr Zustandekommen in der volkssprachlichen Lyrik zu verhandeln,645 eine diametrale Gegenposition zu der 643 Zitiert nach Mott-Petavrakis 1992, 91. Wie Mott-Petavrakis 1992, 90 außerdem festhlt, hat Girolamo Ruscelli in seinem Rimario das Sonett insofern mit dem Epigramm (aber auch mit der griechischen und lateinischen Ode) in Verbindung gebracht, als all diese Gedichtformen sich mit einem einzigen, innerhalb des Textes voll ausgefalteten Thema beschftigten, so dass die Texte jeweils fr sich selbst abgeschlossen lesbar sind. 644 Tasso 1958, 665. 645 Vgl. Mott-Petavrakis 1992, 93 f. In seiner ‘lezione’ zu Della Casas Sonett Questa vita mortal setzt sich Tasso, wie gesehen, kritisch mit Dantes vermeintlicher Einordnung des Sonetts in den ‘stilo umile’ auseinander. Ihm geht es darum zu klren, inwiefern Sonette (wie diejenigen Della Casas) sich auch der hçheren Stillage annhern kçnnen. Dabei entwirft er versuchsweise die Theorie, es gebe

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

einflussreichen aristotelisierenden Gattungsbestimmung von Minturnos Arte poetica. Kaum hat Minturno das Sonett in einer an Aristoteles’ Poetik zumindest programmatisch orientierten Weise definiert (s. o.), da leitet der Dialogsprecher sofort die Beobachtung in kritischer Frageform ab: „Adunque voi non assomigliate il Sonetto  quel, che e’ Greci & i Latini chiamano Epigramma?“646 Und die Antwort ist klar: Im Sinne des aristotelischen Grundschemas dreier Makrogattungen647 wird das Epigramm der Sparte ‘epische Dichtung’ zugewiesen, whrend das Sonett der ‘melischen Dichtung’ zugehçrt, was sich allein schon am Namen des Sonetts zeige, der auf den ‘Klang’ (suono) hinweise: Anzi credo, che [il sonetto] da lui [dall’epigramma] sia molto differente. Percioche l’Epigramma particella dell’epica poesia, il Sonetto della Melica: si come per lo nome istesso vi si d  conoscere. Conciosiacosa, che cos dal suono il Sonetto, come dal canto la Canzone si dica; n altro sia il suono, che canto.648

Das Epigramm dagegen zeichne sich durch die im Namen des Sonetts angedeuteten sthetischen Qualitten von ‘leggiadria’ und ‘vaghezza’ gerade nicht aus, sondern es gehe in ihm um die witzig-scharfe Pointierung des Gedankens: […] nell’Epigramma, n vaghezza, n leggiadria di compositione si richiede: ma agutezza di motteggio,  di sentenza. Nel Sonetto con le parole elette, e vagamente, e leggiadramente ordite, e composte hor grave, hor aguto, hor dolce sentimento.649

Zwar betont Minturno außerdem auch noch, das Epigramm unterscheide sich durch die freie Gesamtanzahl seiner Verse vom Sonett, das wesentliche Moment hat er aber im obigen Zitat benannt: Minturno sieht das Sonett einer letztlich bembistischen sthetik verpflichtet, in dem manches epigrammkompatible Element, das man als ‘aguto’ bezeichnen kçnnte, stets von der ‘gravit’ und der ‘dolcezza’ im rechten Maß korrigiert wird und letztlich der Eindruck des stilistischen Liebreizes und der Sße vorherrscht,

646 647 648 649

innerhalb der Sonettistik wiederum unterschiedliche differenzierbare Stillagen (die abhngig gedacht werden von den durch die Texte jeweils ausagierten ‘concetti’): Die Sonette des niedrigeren Typs seien mit den Epigrammen vergleichbar, die Sonette der hçheren Art dagegen mit der Ode: „Onde dubbio alcuno non v’ che la sua composizione talora non possa esser grave, e magnifica, tanto pi , che non sempre agli epigrammi, ma alcuna volta all’ ode dei Latini, e de’ Greci corrisponde, le quali sono poesia sublime, o magnifica“ (Tasso 1823a, 46). Minturno [1564] 1971, 240. Siehe dazu Kap. 2.4. Minturno [1564] 1971, 240. Minturno [1564] 1971, 240.

3.2 Sonett und Epigramm

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wie sie Bembo in der Balance von ‘gravit’ und ‘piacevolezza’ propagiert hatte. Die bereits im Schwange befindliche Epigrammatisierung des Sonetts wird hier aus der sptbembistischen Position heraus (die der Aristoteliker Minturno wohlgemerkt nicht explizit als solche benennt) noch zu bannen versucht: Minturno kann gar nicht umhin, eine manchmal hnliche ‘materia’ zu konzedieren, die Sonett und Epigramm einander augenscheinlich annhere (nmlich Stoffe, die auf epideiktisches Lob oder Tadel hin zugeschnitten seien). Er insistiert aber darauf, es gehe im Epigramm exklusiv um die „agutezza“, um das „dar laude,  biasimo argutamente“ und gerade nicht um die stilistisch-sthetische Qualitt der sonetttypischen „ornamenti del parlare, che tal materia richiederebbe“ – das Sonett differenziere sich mithin vom Epigramm ber „altro modo, & altro stile“.650 Dementsprechend ist nicht berraschend, dass Minturno der von ihm bestrittenen Affinitt zwischen Sonett und Epigramm eine petrarkistisch-bembistisch weit weniger schwierige (wenn auch natrlich nicht unproblematische) Affinitt entgegenhlt, nmlich die Affinitt von Sonett und Canzone:651 „Sia adunque il Sonetto composition grave e leggiadra, di parole con harmonia di rime, e con misura di syllabe, ordinatamente e limitatamente tessute.“652 Genau darin, so die Folgerung, die gleich nach diesem Satz gezogen wird, bestehe die hnlichkeit von Sonett und Canzone: „in questo non sar differente [il sonetto] dalla Canzone“.653 Diese beiden sollen sich also gemeinsam vom Epigramm durch ihre lyrisch-sthetische Dimension abheben und das sthetisch nicht ‘sße’ und somit ‘unlyrische’ Epigramm in den Bereich der narrativen Dichtung (‘epica poesia’) abdrngen. Insgesamt darf man vielleicht vermuten, dass die relativ deutliche Theorieresistenz der Italiener gegen eine Engfhrung von Sonett und Epigramm (mit der man in Frankreich, wie gesehen, recht frh beginnt) einen letztlich bembistischen Untergrund hat.654 Dass dieser Kampf selbst 650 Minturno [1564] 1971, 242 (dort alle Zitate). 651 Siehe dazu den bereits zitierten, raffinierteren Lçsungsversuch von Tasso, der ‘niedere’ Sonette mit dem Epigramm, ‘hçhere’ Sonette dagegen mit der Canzone verrechnet. Mit demselben Problem hat Minturno sehr bewusst gehadert, und er hat dabei fr die Differenz von Sonett und Canzone bei zugestandenerweise mçglicher ‘Gravitt’ des Sonetts vor allem dessen Knappheit ins Feld gefhrt; s. Minturno [1564] 1971, 242. 652 Minturno [1564] 1971, 242. 653 Minturno [1564] 1971, 242. 654 Man vergleiche dazu bspw. die Vorrede von Girolamo Muzios Rime diverse (1551), in der die Sonettistik zusammen mit den Ballate der lyrischen Sparte zugerechnet

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

gegen Ende des Cinquecento theoretisch offenbar nicht ausgefochten war, zeigt der Gegensatz von (a) Cesare Crispoltis Lezione del sonetto von 1592 und (b) Alessandro Guarinis ‘lezione’ zu Giovanni Della Casas Sonett Doglia, che vaga donna al cor n’apporte von 1599. (a) In gedrngter Form werden bei Crispolti die zentralen Argumente Minturnos fr die scharfe Differenzierung von Sonett und Epigramm nochmals zusammengefasst.655 Crispolti versucht dabei noch ein wenig heftiger zuzupacken als Minturno (vielleicht ist das ein Beleg fr die dichtungspraktisch immer deutlicher sich abzeichnende Verschmelzung sonettistischer und epigrammhafter Dimensionen), zugleich aber hat er ein grçßeres Problem als Minturno mit der Behandlung des Verhltnisses von Sonett und Canzone: Da Crispolti das Sonett ja theoretisch als die hçchste Gattung des ‘volgare’ schlechthin installieren mçchte (s. o.), ist die Canzone bei der Abgrenzung von Sonett und Epigramm nicht mehr so gut geeignet, das Sonett schtzend ein wenig unter ihre Fittiche zu nehmen. Vielmehr muss sofort hinzugefgt werden, das Sonett unterscheide sich nicht nur vom Epigramm, sondern selbstverstndlich auch von der Canzone, und zwar genauso wie vom Epigramm durch die (schwierige, prekre, herausfordernde, daher bedeutsame und prestigetrchtige) Fixierung seiner Verszahl.656 Wenn Crispolti wiederholt betont, die Materie des Sonetts sei auf keinen Fall „meno grave e illustre“ als die der Canzone,657 so verndert er damit die Stoßrichtung: Anders als Minturno geht es ihm letztlich darum, sowohl das Epigramm als auch die Canzone vom Sonett, dem Gipfel der Lyrik schlechthin, mçglichst weit wegzustoßen. Der Bembismus und die sthetische Fundierung einer Gemeinsamkeit von Sonett und Canzone sind bei Crispolti 1592 recht weit entschwunden. Ihm geht es vor dem Hintergrund diverser voll ausgefalteter Dichtungssystematiken und vor dem Hintergrund eines gleichzeitig (und zunchst in der Dichtungspraxis) sich andeutenden manieristischen und protobarocken Kollapses der gerade mhsam und keineswegs widerspruchsfrei aufgezogenen theoretischen Gattungsgrenzen darum, das Sonett fr die normative Poetologie durch die Zuweisung von Alleinstellungsmerkmalen zu retten. Will man freilich aus heutiger Warte von petrarkisch-bembistischer und sonstiger regelpoetischer Normierung abwird, fr die zunchst die Canzonen stehen (Behrens 1940, 80). Muzio hat in seiner Arte poetica insgesamt scharf gegen die Engfhrung der antiken Gattungen (darunter das Epigramm) mit den Gattungen des ‘volgare’ (darunter das Sonett) polemisiert: s. Muzio [1551] 1970, 171 (Vers 219 – 244). 655 Crispolti [1592] 1974, 196 f. 656 Crispolti [1592] 1974, 197. 657 Crispolti [1592] 1974, 199.

3.2 Sonett und Epigramm

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sehen, so hat sich das Sonett durch seine Epigrammatisierung womçglich seinem konzeptistisch-experimentell-kombinatorischen Gattungskern eher wieder strker angenhert als sich selbst fremd zu werden.658 (b) Weniger auf die Konzeptistik als gemeinsames Fundament von Sonett und Epigramm als vielmehr auf die schwierige Kategorie ihrer gemeinsamen stilistischen und thematischen Variabilitt und Flexibilitt hebt Alessandro Guarini ab: E per non diffondermi molto, la dove l’occasione non lo richiede, cosa molto manifesta, il Sonetto aver corrispondenza, e somiglianza coll’epigramma, e Greco, e Latino, se non se in quanto, quello non ha certo numero di versi, n legatura di Rima, ed di versi ineguali composto, cio l’uno di sei, l’altro di cinque piedi, onde furon detti, esametro il primo, pentametro il secondo. E questo per lo contrario si compone si forma [sic] di versi rimati eguali e di sillabe […] con certa legge di quattordici versi, e non pi , e non meno. Ma quanto alla capacit degli stili, ed all’universalit (per cos dir) de’ soggetti, sono essi di natura germani, questo nondimeno, come abbiam detto, molto pi di quello eccellente se non per tutti i riguardi, almeno principalmente per l’artificio, che senza dubbio molto maggiore nel Sonetto, che nell’Epigramma si scorge.659

Damit freilich macht er ganz am Ende des Jahrhunderts aus einer Not eine Tugend: Die Unmçglichkeit einer genauen gattungstheoretischen Eingrenzung, die Guarini im Verlauf seines Vortrags sowohl stillagenpoetologisch als auch aristotelisierend anzugehen versucht, soll eine gemeinsame Rubrik fr Sonett und Epigramm konstituieren. Diese Schublade, deren Boden und Seitenteile nicht aus Holz, sondern aus Luft bestehen, ist ein Fanal der Prekaritt cinquecentesker Definitionsversuche der Sonettistik insgesamt.

658 Vgl. Greber 1994, 62 zur Affinititt des Sonetts schlechthin zum Konzeptismus, zur ‘acumen’-Dichtung und zu epigrammatischen Vertextungsverfahren. 659 Guarini [1599] 1728, 345.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

3.3 Canzone und Ode Die Canzone ist im sechzehnten Jahrhundert lngst aus ihren ursprnglichen medialen Bedingungen (des einstimmigen Gesangs) und dem damit verbundenen Benutzungskontext der hçfischen Auffhrung gelçst; sie ist dadurch in besonderem Maße entpragmatisiert und frei fr neue semantische Aufladungen. Dieses neue semantische Potenzial der Canzone, insbesondere die Mçglichkeit, zeichenhaft auf den petrarkistischen Diskurs zu verweisen, verstrkt sich noch durch den Kontakt und die Alternativitt mit der durch ihren strophischen Bau der Canzone vergleichbaren Ode, die im Zuge humanistischer Interessen wieder auflebt und ihrerseits auf antike Diskurse verweist. Sind mithin die Gattungsstrukturen von Sonett und Madrigal zumindest zum Teil darauf ausgerichtet, Formen des sprechenden oder singenden Vortrags bereitzustellen, die fr die rinascimentale Gegenwart Aktualittsstatus besaßen, so verweisen diejenigen von Ode und Canzone eher auf zu bewahrende bzw. zu restaurierende Diskurse der Vergangenheit. Dies impliziert aber keineswegs Marginalisierung. Denn fr die Renaissance als eine zutiefst vom Humanismus geprgte Epoche ist es gerade dieser Verweis auf Vergangenes, der den beiden Gattungen ein hohes Prestige sichert. Im folgenden Kapitel soll zunchst die Entwicklung der Poetik der Canzone (einschließlich der Sestine, die im gegebenen historischen Kontext als deren Variante zu betrachten ist) bis zur Einfhrung der volkssprachlichen Ode rekonstruiert werden; im Anschluss daran wird die Ode insbesondere in ihrer Relation zur Canzone betrachtet, mit einem Ausblick auf die gattungspoetologischen und kulturpolitischen Implikate der Alternativitt der beiden Gattungen im Cinquecento. Spezifischer und unspezifischer Canzonenbegriff. Der theoretische Diskurs ber die Canzone wird in der Frhen Neuzeit befrachtet durch eine gewisse terminologische Ambivalenz zwischen einem unspezifischen Begriff von ‘canzone’ bzw. ‘cantio’ als jedwede singbare lyrische Gattung und dem spezifischen Begriff fr eine in Filiation mit der ‘canso’ der Trobadors stehende stollige mehrstrophige Komposition mit Geleit. Da die historische Variabilitt dieser konzeptuellen Grenze erstens relevant ist fr die Interpretation der einschlgigen poetologischen Texte und zweitens auch Implikationen fr die jeweilige Modellierung der Medialitt der Gattung hat, muss sie zuerst kurz dargestellt werden.

3.3 Canzone und Ode

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1551 berichtet Girolamo Muzio in seiner Verspoetik, die ‘Alten’ htten den Begriff ‘Canzone’ fr jedes gereimte Gedicht verwendet: Bench’ancor sia compreso dagli antichi Nel nome di canzon ciascuna rima, O sia sonetto o ballata o canzone.660

In der Tat begegnet diese Begriffsambivalenz bereits bei Dante, der sie in De vulgari eloquentia auch schon reflexiv einholt: „cum quicquid versificamur sit cantio, sole cantiones hoc vocabulum sibi sortite sunt.“ Das heißt, auch Ballaten und Sonette sind ‘cantiones’, insofern sie als ‘Lieder’ aufgefhrt werden kçnnen, aber nur die Canzone wird mit dem Begriff ‘cantio’ im spezifischen Sinne belegt; sie ist Canzone „per superexcellentiam“.661 Diese Unterscheidung findet sich noch in Torquato Tassos poetologischem Dialog La Cavaletta. 662 Die Canzone im engeren Sinn definiert Dante als Folge gleich gebauter Stanzen in hohem, ‘tragischem’ Stil und ohne Refrain, die zu einem durchgehenden Inhaltszusammenhang gefgt sind: „equalium stantiarum sine responsorio ad unam sententiam tragica coniugatio.“663 Auch die andere lyriktheoretische Autoritt des Trecento, Antonio da Tempo, kennt diese Unterscheidung zwischen Canzone im weiteren und Canzone im engeren Sinn. Allerdings steht der bergreifende Begriff von ‘cantio’ bei ihm nicht mehr fr die Lyrik insgesamt, sondern etwas eingeschrnkter fr eine neu definierte Teilmenge der als gesungen im Gegensatz zu gesprochen betrachteten Formen; dieser umfasst neben der Canzone im engeren Sinn zwar auch die Ballata, aber nicht das musiklos gedachte Sonett. Fr die aus heutiger Sicht ‘lyrischen’ Formen insgesamt whlt Da Tempo als Oberbegriff im Gegensatz zu Dante, dessen De vulgari eloquentia er vermutlich nicht kannte, nicht den Canzonenbegriff in seinem weiten Verstehen, sondern den Ausdruck ‘sonus’: ‘Sonus’ bezeichnet alle Formen, die etwas mit Klang zu tun haben. Anlsslich der Definition der seiner Auffassung nach davon abgeleiteten Form ‘sonetus’ (‘Sonett’) gibt Da Tempo zu verstehen, dass diese Klanglichkeit nicht mehr musikalisch, sondern dichterisch-sprachlich gedacht ist: „quia in rithimando bene sonat auribus audientium“; zudem gilt diese Definition „in quolibet 660 Muzio [1551] 1970, 179. 661 Dante 1957, 2.3.13 f. sowie 2.8.42. 662 Vgl. Tasso 1958, 639: Der Begriff ‘canzone’ existiert auch als allgemeiner „nome del genere, perch tutte le composizioni in rima le quali si cantano possono esser dette canzoni“. 663 Dante 1957, 2.8.43.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

rithimo“, also fr alle gereimten Genera.664 Nicht das ‘Liedhafte’, sondern die Klangwirkung der Reime ist nun die klangliche Grundlage der unter ‘sonus’ zusammengefassten Genera; die Melodie charakterisiert lediglich eine Teilmenge davon, eben die ‘cantiones’. Insgesamt gilt fr Da Tempo, dass bei ihm das Sonett, und nicht mehr die Canzone, die Leitgattung ist. Dennoch hat Antonio Da Tempo Anteil an der Begriffsambivalenz zwischen Canzone im weiteren (also dem Ensemble der Liedformen) und im engeren Sinne (also der Canzone nach heutigem Verstndnis). Fr Exemplare der letztgenannten Gattung verwendet Antonio auch den Ausdruck ‘cantiones extensae’;665 solche „canzone destese“ sind in den Worten von Da Tempos volkssprachlichem bersetzer Gidino da Sommacampagna im Gegensatz zu Ballaten „de lunga e prolixa materia“.666 Auch das frheste hier relevante theoretische Dokument, Francesco da Barberinos Selbstkommentar in den Documenti d’Amore (ca. 1310), kennt den Spezialbegriff ‘canzone distesa’.667 Diese terminologische Ambivalenz scheint noch 1564 in der Definition Minturnos auf: Er definiert zunchst allgemein die Canzone als „compositione di parole con harmonia sotto certo numero, e sotto certa misura tessute, & ordinate, & atte al canto“, wobei er, wie unten zu zeigen sein wird, fr diese ‘allgemeine’ Canzone Gesang und Tanz als idealtypische Auffhrungselemente ansetzt. Die Trobadorcanzone definiert er dann im engeren Sinne als „compositione magnifica e splendida, e divisa in parti ad un sentimento indrizzate“, Elemente der oben zitierten Definition Dantes bernehmend. Die einzelne Strophe einer solchen Canzone bezeichnet er als: „Testura di versi e di syllabe sotto certo canto, e sotto certo ordine limitata.“668 Minturno betont also bei den Canzonen im unspezifischen Sinne die nachtrgliche Vertonbarkeit („atte al canto“), bei den Strophen der Canzone im engeren Sinne hingegen die strukturelle Bedingtheit durch (potenziell oder aktuell) zumindest als vorgeordnet gedachte Musik („sotto certo canto“). Damit reagiert er recht sensibel auf die gleich noch darzustellende mediale Situation der Canzone im sechzehnten Jahrhundert und nimmt zugleich eine jahrhundertealte Unterscheidung auf. Gleichwohl 664 665 666 667 668

Da Tempo 1977, 7. Da Tempo 1977, 60. Gidino da Sommacampagna 1870, 105 f. Da Barberino 1924, Bd. 2, 260. Minturno [1564] 1971, 186. „Sotto certo canto“ ist ebenfallls ein Dantezitat: „sub certo cantu“ heißt es in De vulgari eloquentia 2.9.25.

3.3 Canzone und Ode

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wird er damit, wie sich gleich erweisen wird, dieser medialen Situation in ihrer historischen Konkretheit nur teilweise gerecht. Anderen Autoren schien es sinnvoller, die Unterscheidung von ‘cantio’ und ‘cantio extensa’ (bzw. ‘canzone’ / ‘canzone distesa’) aufzugeben und auf einen bergeordneten Begriff fr ‘Liedgut’ zu verzichten; sie handeln die Canzone nur noch als spezifische metrische Gattung ab. Symptomatisch ist hier die Begriffsverwendung Lodovico Dolces, der 1550 die Canzonenform in all ihren Eigenheiten darstellt. Bei der Diskussion einer besonderen Variante, bei der innerhalb der einzelnen Strophen keine Reimverbindungen auftreten, von Strophe zu Strophe aber alle Verse in Reimentsprechungen eingebunden sind (also ‘rimas singulars’ in ‘coblas unissonans’), schlgt er eine fr unseren Zusammenhang interessante Terminologie vor: Diese Canzonenart, von der die Sestine wiederum eine Abwandlung ist, nennt er, Gidino da Sommacampagnas und Francesco da Barberinos Begriff umdefinierend, „Canzoni […] Distese“, also ‘auseinandergezogene Canzonen’ – wohl, weil die Reimworte in großer Entfernung voneinander angeordnet sind.669 Dolce greift also einen bereits vorhandenen Terminus auf, gibt ihm aber eine neue Bedeutung. Durch den Verzicht auf einen musikfundierten Oberbegriff von Lyrik und mithin auf die Unterscheidung zwischen einem allgemeinen und einem speziellen Canzonenbegriff wird das definierende Adjektiv des letzteren (‘extensus’/‘disteso’) funktionslos und kann nun in einen neuen Kontext wechseln. Es bezeichnet jetzt eine Variante der metrischen Gattung ‘Canzone’ im engeren Sinn, und zwar eine solche, die in dem seit Bembos Prose vorherrschenden Rahmen der Stilbetrachtung an Relevanz gewonnen hat – in der Tat ist in der Tradition bembistisch geprgter Poetik der Abstand der Reimworte ein wichtiges Thema. Der poetologische Bedeutungswechsel des Adjektivs ‘desteso’ / ‘disteso’ von Franceso da Barberino und Gidino da Sommacampagna zu Dolce ist mithin Symptom der Vereindeutigung des Begriffs ‘Canzone’ in einem medial neu eingeteilten Feld der lyrischen Gattungen. Die Implikate, die diese Vernderung in den poetologischen Abhandlungen ber die Canzone zeitigt, gilt es als Nchstes zu rekonstruieren. Medialit t der Canzone. Um 1300 wird die Canzone (fortan stets: im engeren Sinne) zumindest in den theoretischen Stellungnahmen noch strukturell von der Musik her gedacht, wenngleich Dante in De vulgari eloquentia als Marginalfall des Begriffsgebrauchs von ‘cantio’ auch bereits 669 Dolce 1550, 105r.

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die schriftliche Form des bloßen Gedichts zulsst.670 Die potenziell musikalische Natur der Canzone ist also vorausgesetzt; dies spiegelt sich insbesondere in den metrischen Theorien (siehe unten), aber auch in der eben dargestellten lteren Auffassung, alle lyrischen Formen, auch die im Trecento nicht anders als musikalisch vorstellbaren Ballaten, seien gleichermaßen ‘cantiones’. Welche Rolle spielt aber tatschliche Musik (als melodische Ausformulierung oder als Auffhrung) in Dantes Auffassung von der Canzone? Dante definiert ‘cantio’ – neben der bereits referierten Definition als allgemeine oder spezifische Sachgruppe – an anderer Stelle auch als Ttigkeit: „Est enim cantio […] ipse canendi actus vel passio, sicut lectio passio vel actus legendi.“671 Die Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv stellt sich anhand von Dantes Beispiel (Vergil, Aeneis 1.1: „Arma virumque cano“) als komplex heraus: ‘Aktives’ Singen ist die Ttigkeit des Autors, der Vorgang des Verfassens; er manifestiert sich in Vergils ‘canere’ als textinterne Stimme eines sich als Snger stilisierenden Verfassers. ‘Passiv’ ist fr Dante die Auffhrung des Werks – durch den Autor oder einen anderen, mit oder ohne Musik („sive cum soni modulatione proferatur, sive non“),672 und zwar deshalb, weil bei der Auffhrung die Rezeption im Mittelpunkt steht, die als passiv gedacht wird.673 Aktives Singen ist Erfinden, passives Singen ist die Auffhrung und Rezeption des Erfundenen. Nun wird aber nur ber Letztere gesagt, sie kçnne mit oder ohne musikalische ‘modulatio’ stattfinden; die Frage stellt sich fr das aktive ‘canere’ des Autors anscheinend nicht. Darber hinaus grenzt Dante den Begriff ‘cantio’ noch so ein, dass er nie die Auffhrung allein bedeuten kann, wohl aber das Gedicht allein, selbst wenn es nur als beschriebenes Blatt Papier vorliegt: „sed armonizantes verba opera sua cantiones vocant; et etiam talia verba in cartulis absque prolatore iacentia cantiones vocamus“.674 ‘Snger’ ist also nur der produzierende Autor, ob in der Schrift 670 In De vulgari eloquentia 2.8.24 f. unterscheidet Dante zwischen ‘cantio’ als „fabricatio verborum armonizatorum“ und deren gesungener Auffhrung (‘sonus’, ‘thonus’, ‘nota’, ‘melos’). ‘Cantio’ ist die Erfindung eines Textes fr Musik, eventuell (aber nicht bei Dante selbst) auch einschließlich derselben, aber niemals deren Darbietung. Der Begriff kann nicht auf Instrumentalmusik ausgedehnt werden, ausnahmsweise jedoch („et etiam“) fr das niedergeschriebene Gedicht allein stehen (Dante 1957, 2.8.30). 671 Dante 1957, 2.8.8 – 10. 672 Dante 1957, 2.8.16 f. 673 Dante 1957, 2.8.17. 674 Dante 1957, 2.8.29 – 31.

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oder in der Darbietung durch einen reproduzierenden ‘prolator’, der seinerseits lediglich in Abhngigkeit von jenem textinternen ‘Snger’ noch ‘singt’ – aber nur ber den ‘Gesang’ des Letzteren wird in musikalischen Begriffen nachgedacht. Man muss hinzusetzen, dass die erwhnten ‘cartulae’ in der Schriftkultur der Dantezeit und insbesondere der Stilnovisten keine Notenschrift mitfhren. Die denkbare Interpretation, dass der Autor auch insofern ‘singt’, als seine Notation eine Melodie einschließt, ist also zumindest exzentrisch, wenngleich nicht unmçglich. Damit ist also das ‘Singen’ des ‘aktiven’ Autors nicht im eigentlichen Sinne musikalisch; eine Melodie ist nicht Bestandteil des Werkes, sondern ein mçglicher Aspekt der Darbietung. Der Plan der Musik, die Weise, die in der mndlichen Trobadorkunst Bestandteil des Werks war (denn in den spteren Sammelhandschriften wurde sie ja oft dazu geschrieben), fllt hier durch das Raster der fr Dante und den stilnovistischen Kontext erreichbaren Schriftkultur, die keine Notenschrift umfasst, und sie ist – vielleicht teils deshalb – auch kein Aspekt der Ttigkeit des Dichters. Dennoch ist die musikalische Darbietung nach Dantes Darstellung anscheinend ein hufiger Normalfall der bermittlung von Canzonen an ihre Rezipienten. Dies ist kein Widerspruch; vielmehr deutet es auf eine Arbeitsteilung hin, von der wir im Gegensatz zu den zahlreichen notierten Lyrikvertonungen in der Hochrenaissance lediglich wenige schriftliche Zeugnisse besitzen. Hier sind sowohl, insbesondere bei einstrophigen Formen, improvisierende Vertonungen durch die je gerade den Text darbietenden ‘prolatores’ denkbar als auch, nicht zuletzt bei mehrstrophigen Gedichten, feste Weisen, die ein bestimmter ‘prolator’ fr sich mndlich fixiert und fr eine bestimmte Canzone benutzt.675 Insgesamt ist nach Dante „cantio nichil aliud […] quam actio completa dicentis verba modulationi armonizata“, also die Ttigkeit des Dichters, der durch Metrum und Reim harmonisierte Worte hervorbringt (im Sinne eines augustinisch-boethischen Musica-Konzepts, aber auch in dem Sinne, dass Reime als quivalenzen ‘harmonisch’ sind), und zwar „modulationi“ – f r eine musikalische Darbietung. Mçglicherweise ist in diesem Akt des harmonischen Zurichtens auf eine Auffhrung eine Systemstelle fr die Erfindung einer Weise durch den Autor mitzudenken, die Dante und die Stilnovisten freilich selbst nicht besetzen; eventuell ist aber selbst diese 675 Vielleicht ist Casella in Dantes Purgatorio 2 ein solcher Fall. Zu dieser Thematik vgl. allgemein Pirrotta 1984 und Abramov-van Rijk 2009 sowie Kap. 3.4 und 4.

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denkbare Systemstelle bereits geschlossen, und die Weise ist ganz in den ‘passiven’ Akt der (Rezeption von) Performanz gewandert. Gleichwohl wird, wie sich gleich anhand der Metriktheorie zeigen wird, diese vom Autor nicht ausformulierte Melodie als determinierende potenzielle Vorstrukturierung sehr genau mitbedacht; erst im sechzehnten Jahrhundert, bei Tasso, wird diese ‘Vorzeichnung’ einer mçglichen Weise als Bedingung der Metrik verblasst sein. Die Entwicklung dahin bahnt sich jedoch schon im vierzehnten Jahrhundert an; neben der bereits referierten neuen Einteilung der lyrischen Gattungen unter der Dominante des ‘sonus’ findet sich bei Da Tempo und Gidino da Sommacampagna noch ein weiteres Indiz dafr, und zwar im Zusammenhang mit dem Congedo. In Gidinos volkssprachlicher Version heißt das Geleit nmlich ‘retornello’, ohne dass damit aber anscheinend impliziert wre, es werde tatschlich wiederholt – und in der Tat wre es dem Bedeutungsverlauf der meisten Canzonen mehr als abtrglich, wenn man das Congedo nach jeder Stanze vortrge.676 Hier wird die Schriftform der Canzone auf der Folie der Schriftform einer Ballata betrachtet: Beide haben am Ende eine Kurzstrophe, die eben bei der Ballata ein Refrain ist – aber sie aufgrund dieser graphischen hnlichkeit auch bei der Canzone als Ritornell zu bezeichnen, funktioniert nur, wenn man die musikalische Auffhrungspraxis der Canzone nicht mehr mitreflektiert. Dieser Begriffsgebrauch hat ein sptes Echo 1550 bei Lodovico Dolce und 1559 bei Girolamo Ruscelli, die das ‘commiato’ auch ‘ripresa’ nennen – ebenfalls ohne zu implizieren, hier werde etwas wiederholt und mithin ebenfalls ohne sich Gedanken ber eine Auffhrung zu machen.677 676 Gidino da Sommacampagna 1870, 107. 677 Dolce 1550, 101v und Ruscelli 1605, 60v. Dass die Vernachlssigung der Auffhrungsproblematik im Zusammenhang mit einem Ritornell dafr spricht, dass gerade musikalische Auffhrungen (und nicht etwa mndliches Vorlesen) aus dem Horizont der poetologischen Reflexion verschwinden, scheint deshalb ein gerechtfertigter Schluss zu sein, weil wçrtliche Wiederholungen wie der Refrain ihren Ort in der Musik haben; in musiklosen Auffhrungen sind solche Repetitionen umstndlich und unmotiviert – und kommen ja auch in spezifisch gesprochenen Genera wie dem Sonett nicht vor. Eine mçgliche alternative Interpretation dieser Terminologie (die hier nicht vorgeschlagen, sondern nur als weniger berzeugende Erklrung eingerumt werden soll) wre freilich, dass ein (ganz regulr am Schluss vorgetragenes) Congedo insofern bei einer Auffhrung als ‘Wiederholung’ empfunden werden kçnnte, als es musikalisch und metrisch nicht den zeitlich entfernten Strophenbeginn wieder aufgreift, sondern die eben erklungene zweite Hlfte der vorigen Strophe quasi ‘wiederholt’.

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Die Canzone ist mithin im vierzehnten Jahrhundert ‘singbar’, vielleicht auch (im Sinne einer festen Zuweisung einer Melodie, wenngleich weniger im Sinne einer Niederschrift) ‘vertonbar’, aber sie weist in ihrer Werkstruktur keine Weise mehr auf, und diese verblasst auch in der Theorie. In der polyphonen Musikpraxis der zweiten Jahrhunderthlfte spielt die Canzone keine nennenswerte Rolle, wohl weil sie fr die neuen Kompositionstechniken zu viel Text enthlt. Im fnfzehnten Jahrhundert hat die Canzone ohnehin in der Dichtung eine Randposition inne. Das sechzehnte Jahrhundert sieht nun einerseits eine neuerliche Lancierung der Canzone (etwa in Bembos Asolani), andererseits aber die italienweite Anverwandlung eines musikalischen Stils, der gerade mit der Vielstrophigkeit der Canzone kaum kompatibel ist: Die Varietas-sthetik der auf kontrapunktischen Entwicklungen aufbauenden ultramontanen Musikstile meidet wçrtliche Wiederholungen und bevorzugt daher nichtstrophische Texte. Wo Canzonen vertont werden, werden sie in Einzelstrophen zerlegt und dadurch dem nun in der Musik nicht nur terminologisch dominierenden Madrigal angeglichen (Nheres hierzu in Kap. 3.4).678 Im Cinquecento findet also die Canzone nur noch als ‘madrigalische’ Einzelstrophe in die Musik zurck, ist aber als anspruchsvolle Langform fr die Dichtung erneut von eminenter Bedeutung. Die Konsequenz ist, dass sie zwar dichtungspraktisch gepflegt, aber in der Gattungstheorie von der Musik gnzlich gelçst wird. Mario Equicola bemerkt in den zwanziger Jahren, diese Situation bereits in die Vergangenheit rckprojizierend: „La Canzone si pronunciava, la Ballata si cantava.“679 Aber auch ein Autor wie Minturno, fr dessen System der Dichtkunst eine ‘melische’ und also musikalische Gattung wie die Canzone von zentraler Wichtigkeit ist,680 trgt dazu bei, dass Musik im eigentlichen Sinne auch theoretisch nicht mehr als notwendiger Bestandteil der Canzone gedacht wird: Er bertrgt nmlich den im vierzehnten Jahrhundert noch fr eine unvertonte Canzone gebrauchten Begriff ‘ignudo’ auf die Unterscheidung zwischen ‘versi sciolti’ und ‘rime’;681 nicht mehr tatschliche 678 Ein prominentes Beispiel ist die zyklische, aber die Einzelstrophen als selbststndige Stcke prsentierende Vertonung der Mariencanzone Petrarcas durch Cipriano de Rore (1548), die als Madrigalsammlung auftritt (Musica di Cipriano Rore sopra le stanze del Petrarcha in laude della Madonna, Et altri Madrigali a cinque uoci). 679 Equicola 1541, o.S. 680 Nheres in Kap. 2.4 und unten. 681 Abramov-van Rijk 2009, 62 zeigt auf, dass im 14. Jahrhundert der Unterschied ‘nuda’ – ‘vestita’ bei einer Ballade oder Canzone den Status ‘noch unvertont’ vs. ‘bereits mit einer Melodie versehen’ meint.

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Musik macht die musikalische Einkleidung aus, sondern die metaphorische Musik der Reim-‘Harmonien’.682 Damit ist ein Prozess vollendet, der bereits bei Dante begonnen hat: Die Musik der Canzone findet, wie es sich insbesondere in Petrarcas ebenso differenzierter wie variationsreicher Praxis zeigt, auf dem Gebiet der Metrik statt. Metrik der Canzone. Die metrische Theorie der Canzone hat im sechzehnten Jahrhundert zwei voneinander unabhngige Ausgangspunkte: Zum einen wird zumindest in der ersten Jahrhunderthlfte der Traktat von Antonio Da Tempo aus dem ersten Drittel des vierzehnten Jahrhunderts noch rezipiert, da er seit 1509 gedruckt vorliegt.683 Zum anderen speist Trissino die von ihm wiederentdeckte und Da Tempo wohl unbekannt gebliebene Schrift Dantes, De vulgari eloquentia, neu in die Diskussion ein. Zentrum der metrischen Theorie ist die Beschreibung des Baus der Stanze. Dante leitet ‘stantia’ aus ital. ‘stanza’ (‘Zimmer’) her und deutet dies metaphorisch: Sie ist der Raum der Dichtkunst („mansio capax sive receptaculum totius artis“).684 Eine alternative, wenngleich ebenfalls auf ‘stare’ bezogene, Etymologie schlgt Minturno vor: Da Minturno die Canzone als ursprnglich getanztes quivalent zur antiken Ode betrachtet, interpretiert er ‘stanza’ als Moment des Stehenbleibens eines tanzenden Chores.685 Dante sieht die Stanze, deren gleichbleibenden Charakter in der Gesamtkomposition er betont, durch drei Aspekte definiert: die interne Aufteilung, die durch die Wiederholung musikalischer Abschnitte determiniert ist („circa cantus divisionem“), das Verhltnis dieser Abschnitte zueinander und die metrische Struktur der Verse.686 Dante weiß also, obwohl selbst kein Musiker, noch genau, dass der Bau der Canzone sowohl insgesamt (gleich gebaute Strophen als Korrelate der Wiederholung einer Musikstrophe) als auch gegebenenfalls innerhalb der einzelnen Strophe (stollige quivalenzen als Korrelate mçglicher Wiederholungen innerstrophischer Musikabschnitte) durch den melodischen Anteil determiniert ist. Je nachdem, ob nun ein Melodieabschnitt innerhalb einer Stanze tatschlich wiederholt wird oder nicht, beobachtet Dante 682 Vgl. Minturno [1564] 1971, 176. 683 Venedig: Simon de Luere. Vgl. Richard Andrews: „Premessa“, in: Da Tempo 1977, VIII. 684 Dante 1957, 2.9.8 f. 685 Vgl. Minturno [1564] 1971, 186. 686 Dante 1957, 2.9.16.

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entweder eine Korrespondenz gleich gebauter Abschnitte (Stollen, Volten) oder aber eine nicht stollige „oda continua“ wie in den Werken Arnaut Daniels.687 Stanzen, in denen ein melodischer Abschnitt wiederholt wird, haben nach Dante eine Diesis, also einen Einschnitt, vor oder nach dem ein solcher wiederholter Abschnitt liegt. Ist die erste Hlfte (vor der Diesis) in zwei oder mehr gleich gebaute Abschnitte unterteilt, spricht Dante von ‘pedes’, ist sie es nicht, spricht er von ‘frons’. Ist die zweite Hlfte in dieser Weise unterteilt, spricht er von ‘versus’, ist sie es nicht, von ‘sirma’ oder ‘cauda’ – im Gegensatz zu heutigem Sprachgebrauch, wo ‘piedi’ und ‘volte’ nicht Alternativen, sondern potenziell vorhandene Teilmengen der grundstzlich angesetzten Einheiten ‘fronte’ und ‘sirma’ sind.688 Trissino bernimmt in seiner Poetica diese Konzepte und schlgt volkssprachliche quivalente fr Dantes Begriffe vor.689 Nicht trivial ist das Implikat von Dantes Ausfhrungen, dass Stanzen, in denen nichts wiederholt wird, die also weder ‘pedes’ noch ‘versus’ haben, eben auch keine Diesis aufweisen und also auch die Unterscheidung von ‘frons’ und ‘sirma’ nicht rechtfertigen: Diese ‘odae continuae’ sind ohne jede Unterteilung. Die Verteilung der Verslngen und der Verszahlen auf die Komponenten der Stanze sowie die Wahl der Reimordnung ist ein freies Spiel der Kombinationen, fr das Dante zahlreiche Beispiele nennt. Dabei erlutert er die bekannten Besonderheiten ‘clavis’ (Waise mit potenzieller Entsprechung in anderen Strophen), ‘concatenatio’ (Paarreimverkettung von Aufund Abgesang) und ‘combinatio’ (Paarreim am Strophenende).690 Interessant sind manche Details seiner Darstellung, so das Verbot, den Aufgesang mit einem Paarreim zu beschließen (dies wrde mit der Mçglichkeit der ‘concatenatio’ kollidieren oder einen Dreifachreim erzeugen) oder auch das Folgende: Wenn in eine ansonsten aus hendekasyllabischen Versen gefgte Strophe nur ein einziger ‘settenario’ eingebaut werden soll, ist dies nur in einer ‘fronte’ oder einem ‘sirima’, also in einem nicht unterteilten Abschnitt, mçglich, denn in den symmetrisch mehrteiligen Komponenten msste diesem Siebensilbler ein zweiter entsprechen.691 Die Ausfhrlich687 Dante 1957, 2.10.12. 688 Vgl. Dante 1957, 2.10.21 – 26. 689 Bei der ‘divisa’ im Gegensatz zur ‘continua’ fhrt Trissino fr Dantes Diesis den Begriff ‘divisione’ ein, fr ‘frons’ sagt er ‘base’, fr ‘versus’ verwendet Trissino den Ausdruck ‘volte’ (Trissino [1529] 1970, 124). Dolce 1550, 102v bernimmt den Ausdruck ‘base’ von Trissino. 690 Vgl. zu diesen Dante 1957, 2.13.20 sowie 2.13.50 – 52. 691 Vgl. Dante 1957, 2.12.4 f.

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keit dieser Erklrungen, die ja bei gleichzeitiger musikalischer Praxis unnçtig wren (asymmetrische ‘piedi’ lassen sich nicht auf die gleiche Melodie singen), zeigt, dass Dante diese Praxis zwar kennt, bei seinen Lesern aber nicht mehr voraussetzt. Bei Torquato Tasso ist in der Tat der Moment erreicht, in dem dies nicht mehr selbstverstndlich ist. Allerdings schlgt Tasso aus der Verunklarung dieser Verhltnisse poetologisches Kapital, indem er daraus – unter Abwandlung von Dantes Vorgaben – Elemente einer spezifisch rinascimentalen sthetik der ‘sprezzatura’ entwickelt. Tasso lsst in der Cavaletta den Dialogteilnehmer Ercole Cavaletto zunchst Dantes metrische Konzepte recht genau darlegen. In einem nchsten Schritt interpretiert der Forestiero Napoletano Dantes Regel, am Ende der ‘pedes’ drfe kein Paarreim auftreten, dahingehend um, dass berhaupt keine Paarreime in den ‘piedi’ auftreten drften, und kann nun zeigen, dass Dante selbst in Donne ch’avete intelletto d’amore dagegen verstçßt, indem er in der Mitte der Stollen Paarreime platziert. Sein Zwischenergebnis: Dante selbst behandelte seine Regeln frei.692 Anschließend wird Dantes Canzone Donna pietosa e di novella pietate betrachtet, die Ercole Cavaletto auf Aufforderung korrekt nach den Regeln Dantes analysiert: Sie besteht aus ‘pedes’ und einem nicht unterteilten (weil eben – s. o. – hinsichtlich der ‘settenarii’ asymmetrischen) ‘sirima’, das aber, wie es Dante ausdrcklich erlaubt, lnger ist als der Aufgesang. Hier fhrt nun Orsina Cavaletta eine bei Dante nicht verbrgte berlegung ein, die ihr dazu dient, diese Einteilung in Zweifel zu ziehen: Questo aveva considerato anch’io; nondimeno, percioch allora chiamiamo l’ultima parte de la stanza sirima o ver coda, quando dopo la divisione non si fa la repetizione d’alcuna modulazione, e quando si fa, diciamo ch’ella ha versi, mi parerebbe che non dovesse esser grande il numero de’ versi il qual fosse cantato senza replicazion di modulazione: percioch dove si fa il punto fermo o la pausa, ivi mi par che si possa acconciamente replicar le modulazioni.693

Sie missachtet also Dantes berlegungen und nimmt ohne weitere Begrndung an, ein lngerer Versabschnitt kçnne nicht ohne Wiederholung gesungen werden und deshalb sei das ‘sirima’ zu unterteilen. Daher handle es sich hier um asymmetrische ‘versi’. Worauf Tasso, letztlich jenseits der traditionell von den Melodiewiederholungen determinierten Unterteilungen der Canzonenstrophe, hinauswill, ist Folgendes: Große Kunst braucht auch kleine Unregelmßigkeiten, um das allzu Regelhafte elegant 692 Vgl. Tasso 1958, 648. 693 Tasso 1958, 649.

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zu vermeiden. Der Forestiero bemerkt denn auch: „la dissimulazione de l’arte sommo artificio“.694 Dies gilt sowohl fr die Dichtung, die hier asymmetrische ‘piedi’ enthlt, als auch fr eine denkbare Musik, die ja dann in der Wiederholung mit Melodievarianten arbeiten msste, wenn sie berhaupt die Symmetrien der Strophe nachbildete. Soweit zu den Mçglichkeiten des Stanzenbaus bei Dante und deren Interpretation durch Tasso. Auch Francesco da Barberino betont wie Dante die Wahlfreiheit und die unzhligen Kombinationsmçglichkeiten bei den Strophen der ‘cantiones extensae’ („tot sunt modi, quot subtilis homo sciverit commutare“), die jedoch zugleich eine Bindung fr die folgenden Strophen nach sich ziehen.695 hnlich Bembo und vor allem Ruscelli, der dies bereits als eine Art Dialektik von Freiheit und Selbstbindung darstellt, nicht mehr als praktische Folge der Verwendung gleicher Musik fr alle Strophen.696 Dagegen betont noch Muzio 1551, der allerdings nicht zuletzt aufgrund der dichterischen Freiheit seiner Verspoetik hinsichtlich tatschlicher zeitgençssischer Auffhrungsformen eher sorglos ist, die Ordnung der Stanze durch die Melodiewiederholungen.697 Bei Dolce hingegen ist es weder die Notwendigkeit der melodischen Gestalt noch das Spiel von origineller Erfindung und Selbstbindung, die fr die formale Ordnung der Stanze maßgebend sind. Vielmehr ist die jeweilige Form nach dem Inhalt zu whlen: „le diversit delle materie ricercano diversa testura“.698 Die metrische Gestaltung wird unter das Aptumsgebot gestellt; Musterbeispiel dafr ist nach Dolces Auffassung Petrarcas Praxis. Minturno, der als einer der wenigen auch die Mçglichkeit einer einstrophigen Canzone erwhnt – vor allem, weil er auch bei Horaz einstrophige Oden konstatiert,699 – widmet dem Strophenbau einen langen Abschnitt von Dell’arte poetica. Er versucht zunchst, Dantes Begriff ‘oda continua’ in der Volkssprache zu umschreiben; Minturno verwendet dazu den Begriff ‘canto’, den er folgendermaßen definiert: „Harmonia di versi sotto certo numero composti; il qual, s’ continovo infin all’estremo senza concordanza alcuna di voci, e senza rinovar canto f continova la stanza: 694 695 696 697

Tasso 1958, 656. Francesco da Barberino 1924, Bd. 2, 262. Bembo [1525] 2001, 78; Ruscelli 1605, 60v – 61r. Muzio [1551] 1970, 179. Zu seiner Haltung gegenber zeitgençssischen Auffhrungsformen vgl. auch Kap. 3.4. 698 Dolce 1550, 101r. 699 Vgl. Minturno [1564] 1971, 186.

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s’egli distinto per alcuna divisione di parti, rende lei divisa.“700 Innerhalb der Definition dieses bertragenen Begriffs von ‘canto’ verwendet er noch einmal den nicht bertragenen musikalischen, wenn er sagt, ein solcher ‘Stanzengesang’ (‘canto’ im bertragenen Sinn) sei durchgngig (also eine ‘oda continua’), wenn darin keine Wiederholung der Gesangslinie („rinovar canto“ – im musikalischen Sinn) vorkommt. Mit Dante wertet Minturno Reimkorrespondenzen als Unterteilungssignale; als Beispiel einer vom Reim her nicht unterteilten Strophe fhrt er Petrarcas Verdi panni (RVF 29) an, also in Dantes Terminologie eine „stantia sine rithimo“,701 deren Reimlosigkeit, zumindest innerhalb derselben Strophe, in der Tat jede Unterteilung in korrespondierende Verse vereitelt. Hinsichtlich der Mçglichkeit der Unterteilung von Auf- und Abgesang, die auch dreifach sein kann, formuliert Minturno nun eine Regel, die mehr der Praxis Petrarcas als der Dantes und der Stilnovisten entspricht: Entweder ‘fronte’ oder ‘sirima’ muss unterteilt sein, nicht beide, aber auch nicht keines von beiden.702 Er betont, dass die Stollen bei aller metrischen Gleichheit nicht das gleiche Reimschema aufweisen mssen und zhlt Typen der Reimordnung fr Terzett- und Quartettpaare, aber auch fr grçßere Einheiten auf.703 Fr die paargereimten Verbindungen ‘concatenatio’ und ‘combinatio’ schlgt Minturno den italienischen Begriff ‘concento’ vor und weist darauf hin, dass ein Paarreim als Abschluss des Aufgesangs unzulssig ist.704 Er lobt außerdem Petrarcas Innovation, am Ende des Aufgesangs immer einen Elfsilbler zu positionieren.705 Dieser Abschnitt von etwa 24 Seiten enthlt eine komplexe Typologie mit zahlreichen Fallunterscheidungen; er dokumentiert eindrcklich, dass die kunstvolle Ordnung der Stanze im Cinquecento wesentlicher Gegenstand einer Poetik der Canzone ist. Neben der Ordnung der Stanze nach Metrum und Reim ist aber auch der Reim selbst Thema der Abhandlungen. Dante rt zu Vorsicht bei identischen Reimendungen, selbst bei homonymen Reimen („inutilis equivocatio“), und sieht bei den Reimen eine Mischung vor, die das allzu Raue abmildern soll („lenium asperorumque rithimorum mixtura“).706 Bei Minturno differenziert sich die Empfehlung hinsichtlich gleicher Reime in 700 701 702 703 704 705 706

Minturno [1564] 1971, 186 f. Dante 1957, 2.13.5. Vgl. Minturno [1564] 1971, 187; Dreiteilung: 188. Vgl. Minturno [1564] 1971, 189 – 194. Vgl. Minturno [1564] 1971, 197 – 199. Vgl. Minturno [1564] 1971, 223. Dante 1957, 2.13.65.

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eine Warnung vor identischen und ein Wohlwollen gegenber homonymen Reimen aus.707 Einzelne Waisen (im Gegensatz zu den ‘rimas singulars’ der ‘oda continua’) sollen, wie schon Dante schreibt, auch nach Minturnos Ansicht nur in nicht unterteilten Auf- oder Abgesngen vorkommen. Binnenreime als „ripercossa di rima“ wie in Petrarcas Mariencanzone (RVF 366) kçnnen der Vermeidung einer solchen Waise dienen, aber auch „per vaghezza“ angewandt werden.708 Dolce findet dagegen, dass ein solcher Reim mit Halbvers bzw. ein interner Reim eine ‘asprezza’ sei.709 Vor allem das sechzehnte Jahrhundert denkt ber die Mçglichkeit nach, die Zahl der Verse pro Strophe und der Strophen insgesamt explizit festzulegen. Dies beginnt in Trissinos Poetica. Trissino extrapoliert seine Zahlen aus einer extensiven Dichterlektre, folgt aber an anderer Stelle eher den theoretischen Vorgaben aus Dantes Traktat. Im Gegensatz zu Bembo wertet Trissino aber nicht dominant Petrarcas Werke aus; immer wieder spricht er von „Dante e Petrarca“;710 außerdem zieht er auch gerne besonders alte Beispiele heran (etwa „nei Siciliani, et in Guittone“).711 Diesen Lektren entnimmt er, dass eine bliche Strophenzahl zwischen Drei und Sieben liegt, selten hçher; gelegentlich beobachtet er einstrophige Canzonen.712 Der etwas spter publizierte Traktat von Equicola gibt als Eckwerte fr die Strophen die Zahlen Drei bis Elf und fr deren Verse Sieben bis 21 an.713 Dolce lsst fr die Strophe bis zu 20 Verse zu, mehr als zehn Strophen sollen es aber nicht sein.714 Ruscelli bernimmt fr die Strophen die Zahl Zehn als Empfehlung und meint, mehr als 15 seien jedenfalls ungnstig.715 Letztgenannte Strophenzahl lsst auch Minturno zu, empfiehlt aber ebenfalls eher eine geringere, damit keine Langeweile aufkomme.716 Fr einen Sonderfall der Canzone benutzt Minturno bereits den Begriff „canzone libera“, den er auch im Zusammenhang mit dem Madrigal einsetzen wird.717 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717

Vgl. Minturno [1564] 1971, 225. Vgl. Minturno [1564] 1971, 219 – 222. Dolce 1550, 105r. Trissino [1529] 1970, 133 und passim. Trissino [1529] 1970, 131. Vgl. Trissino [1529] 1970, 143. Vgl. Equicola 1541 (geschrieben vor 1525), o.S. Vgl. Dolce 1550, 101v. Vgl. Ruscelli 1605, 61r. Vgl. Minturno [1564] 1971, 233. Minturno [1564] 1971, 238. Vgl. hierzu auch Kap. 3.4.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Was schließlich die Verstypen der Canzone angeht, so wird im Laufe der Gattungs- und Theoriegeschichte die Auswahl durch Eliminierung des Fnfsilblers auf die zwei Grundverse des Italienischen reduziert: ‘endecasillabo’ und ‘settenario’. Deren Anwendung wird zwischen den Eckpunkten ‘Abwechslung’ und ‘Stillage’ diskutiert. Bereits Dante unterscheidet sie nach Nobilitt und empfiehlt, bei der Anlage der Strophe das Verhltnis zwischen dem edleren Elfsilbler und dem schlichten Siebensilbler gut zu whlen. Ein ‘settenario’ am Strophenbeginn etwa tçnt das Gedicht ins ‘Elegische.’718 Bembo greift diese Abstufung auf und bezieht sie auf die fr ihn so charakteristische Unterscheidung von Klangwirkungen: Die Tatsache, dass die ‘versi rotti’ mehr ins ‘piacevole’ als ins ‘grave’ gehen, hat fr ihn damit zu tun, dass kurze Verse die Reimdistanzen verkrzen – und kurze Reimabstnde sind anmutig und leicht im Gegensatz zur Schwere distanter Reime.719 Es liegt aber auch an der Dauer, an der grçßeren Ruhe eines Langverses, dass dieser schwerer wirkt. Deshalb ist Petrarcas Canzone Nel dolce tempo (RVF 23), die nur einen Kurzvers pro Strophe enthlt, „gravissima“.720 Dies bernimmt Dolce, der – trotz seiner oben referierten Ablehnung des Halbversreims – auch Bembos Zuordnung von ‘piacevolezza’ zu den „rime vicine“ reproduziert.721 Auch Ruscelli ordnet nahen Reimen und kurzen Versen die Qualitt der ‘dolcezza’, fernen Reimen die der ‘gravit’ zu; dies ist auf das gewhlte Thema abzustimmen. Im Gegensatz zu Bembo sieht Ruscelli hier aber auch eine Obergrenze; sie ist bei der Kombination von ‘rimas singulars’ mit ‘coblas unissonans’ berschritten, wie sie fr die Sestine, aber auch Canzonen wie Petrarcas Verdi panni (RVF 29) typisch ist: Dieser Kunstgriff hat fr Ruscelli nicht mehr den Effekt von ‘gravit’, sondern wird als ein „artificio molto vago“ gewertet, der wohl wegen seiner Verspieltheit zum Mittleren, nicht zum Hohen neigt.722 In jedem Fall sollen Canzonen nach Ruscellis Auffassung aus langen und kurzen Versen gemischt sein, keinesfalls isometrisch, und es drfen keine Reime wiederholt werden; in diesem Zusammenhang weicht er gelegentlich von seiner Bewunderung fr Petrarca ab und kritisiert Ein718 719 720 721 722

Vgl. Dante 1957, 2.12.6. Vgl. Bembo [1525] 2001, 81. Vgl. Bembo [1525] 2001, 82 – 84. Dolce 1550, 101r. Ruscelli 1605, 62v.

3.3 Canzone und Ode

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zelstellen des Canzoniere, die diesen Regeln widersprechen.723 Hier zeichnet sich bereits etwas ab, das erst an der Wende zum 17. Jahrhundert bei Alessandro Tassoni ausgeprgt in Erscheinung treten wird: In dem Augenblick, in dem die teils aus Petrarcas prototypischem Canzoniere extrapolierten Regularitten zu expliziten Regeln werden, verliert der Prototyp selbst seinen Modellcharakter.724 Am strksten zeigt sich der Abstand zwischen der Hochblte der mittelalterlichen Canzone und ihrer rinascimentalen Theoretisierung anhand des Congedos: So lobt Trissino etwa die historisch gesehen eher exzentrische Mçglichkeit, dieses als Vollstrophe auszubauen.725 Bei Minturnos Diskussion des Geleits zeigt sich besonders eindrucksvoll, wie weit sich die Canzonenpoetik im sechzehnten Jahrhundert von ihren Ursprngen entfernt hat. Zwar ist er sich noch der Notwendigkeit bewusst, das Congedo einem Teil der regulren Strophe gleich zu bauen, und kennt auch noch die Funktion dieser Kurzstrophe, die in der Anrede an die Canzone besteht (mit dem Ziel, so Minturno, sie in die Welt hinaus zu schicken oder auch nicht).726 Aber der Bau des Congedos erscheint bei ihm in einer ganz neuen Optik: Minturno nennt Canzonen, deren Congedo gleich gebaut ist wie die Strophe, antikisierend ‘monostrophiche’, solche, bei denen der Bau von Stanze und Commiato aber unterschiedlich ist, nennt er ‘epodiche’, als htten sie wie die pindarische Ode nach den metrisch gleichen Strophen eine davon abweichende Epode.727 In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass fr Minturno die Annherung an die Antike wichtiger ist als die ‘imitatio Petrarcae’, denn er lobt ltere Dichter wie Dante, die gelegentlich auch Envois geschrieben haben, welche nicht einem Teil der regulren Strophe quivalent sind: Je weiter sie nmlich davon entfernt sind, desto mehr entspricht dieser Usus der Epode in der pindarischen Ode.728 Was von Petrarca aus betrachtet vielleicht die Irregularitt der Anfnge sein mochte, erscheint in dieser antikisierenden Optik als besonders avancierte Mçglichkeit – eine potenzielle Interferenz der Betrachtungsweisen, anhand derer die Pluralisierung der poetologischen Modelle zwischen der ‘Klassik’ des Trecento und derjenigen der Antike unmittelbar im 723 724 725 726 727 728

Ruscelli 1605, 61v – 63r. Vgl. Tassoni 1609 und hierzu Mehltretter 2009a, Kap. IV.2. Vgl. Trissino [1529] 1970, 143 f. Vgl. Minturno [1564] 1971, 227 – 231. Vgl. Minturno [1564] 1971, 181. Vgl. Minturno [1564] 1971, 232.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

metrischen Detail greifbar wird; diese Problematik wird weiter unten im Zusammenhang mit der Ode noch einmal aufgegriffen werden. Canzone: Hierarchische Position und Stilhçhe. Als Leitgattung der Trobadorlyrik genießt die Canzone im Mittelalter besonderes Ansehen; Dante betrachtet sie bekanntlich als die hçchste metrische Gattung. Sie ist nach Auskunft von De vulgari eloquentia der Ballata berlegen, weil sie keine Hilfe von außen, in diesem Falle von Tnzern, bençtigt: Sie ist sich selbst genug. Die Ballata wiederum steht fr Dante ber dem Sonett – obwohl dieses doch wohl ebenfalls weniger Mitwirkende veranschlagt als die Ballata: Dante wechselt hier also das Kriterium.729 In Tassos Cavaletta wird diese Argumentation aufgegriffen und uminterpretiert. Dadurch wird die Inkonsequenz in Dantes Argumentation getilgt und zugleich der Anschluss an die vernderte Gattungshierarchie des Cinquecento hergestellt. Der Forestiero Napoletano meint, Dante hinsichtlich der Canzonen so verstehen zu mssen: Par dunque che ’l lor modo sia nobilissimo oltre tutti gli altri di questa specie e di questo genere, perch ha solo bisogno di chi le canta; ma i sonetti oltre il canto ricercano il suono, n le canzoni medesime il rifiutano, perch Aristotele dice ne’ Problemi che sono udite pi volentieri al suon di lira; e le ballate oltre il suono e ’l canto desiderano il ballo. Ma sovra le canzoni c’ un altro poema di un altro genere, il quale non ha bisogno d’esser cantato: e questo modo fu da lui conosciuto peraventura come si antiveggono le cose future, quando egli disse ch’alcuno sino a’ suoi tempi non avea cantato de l’armi, de le quali si suol cantare e scrivere ne l’epopeia in guisa che ’l canto non toglie alcun pregio a le cose scritte, ma giunge pi tosto: nondimeno sono bastevoli per se stesse, onde possono esser domandati non solo canti ma libri, ne’ quali s’ usata l’ottava rima, come quella ch’essendo pi uniforme, riceve minor variet di modulazioni.730

Tasso fhrt Dantes Argumentation zu einer Konsequenz, die dieser selbst nicht vorsah: Wenn die Mitwirkung anderer Kunstformen die Gattungen unvollstndig macht, dann ist die Ballata am unvollstndigsten, denn sie verlangt Gesang, Instrumentalbegleitung und Tanz. Das Sonett, das nach Tassos – mehr seiner Systematik als tatschlicher Praxis verpflichteter – Auskunft aufgrund des Etymons ‘sonus’ Instrumentalbegleitung und Gesang verlangt, aber nicht den Tanz, berholt damit die Ballata und gelangt an die zweithçchste Stelle innerhalb der poetischen Kleinformen, wie es der verbreitetsten Einschtzung des Cinquecento ja auch entspricht. 729 Vgl. Dante 1957, 2.3.19 – 22. 730 Tasso 1958, 666.

3.3 Canzone und Ode

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Die hçchste Form bleibt die Canzone, die nur Gesang, aber keine oder nur fakultative Instrumentalbegleitung verlangt.731 Darber ist nur eine lediglich gesprochene oder fakultativ gesungene Buchdichtung denkbar, die Tasso im Epos bzw. im Romanzo erblickt, welchen Dante vorausgeahnt habe. Die Ballata wandert also im Cinqecento ‘nach unten’ (vgl. Kap. 3.4), das Sonett ‘nach oben’ (vgl. Kap. 3.2). Es gibt sogar Versuche, das Sonett ber die Canzone zu stellen, etwa bei Crispolti, der das Sonett zum „poema sovra ogn’altra poesia toscana nobile et eccellente“ erhçhen mçchte.732 Bei der Mehrheit der Autoren bleibt freilich die Canzone die hçchste, aber vielleicht nicht mehr die wichtigste Gattung – allein die Einordnung des Sonetts bereitet aufgrund der immer grçßeren Versatilitt dieses Genres Schwierigkeiten. Die Dignitt einer Gattung hngt jedoch meist weniger von Aspekten wie Selbststndigkeit oder Nichtselbststndigkeit ab als von den in ihr darstellbaren Themen mitsamt den dazugehçrigen Stilhçhen. Dante schreibt der Canzone eindeutig den hohen, ‘tragischen’ Stil zu.733 Bernardino Daniello betont 1536 die Mçglichkeit der Canzone, hohe – etwa philosophische und theologische – Themen zu behandeln, und zwar im Einklang mit der Auffassung vom (auch lyrischen) Dichter als Lehrer der Menschheit. Musterbeispiel einer solchen hohen Lehrcanzone ist ihm Petrarcas Una donna pi bella assai che ’l sole (RVF 119).734 Die in den vierziger Jahren verçffentlichten Poetiken von Equicola (vor 1525 geschrieben) und Tomitano weisen der Canzone den hohen Stil zu. Equicola meint etwa: „la sua compositione lunga et grandiloqua, di parole gravi et sententie alte.“735 Dolce (1550) sieht sie eindeutig auf dem von Dante vorgegebenen Niveau.736 Torquato Tasso, der ihr in seinem bereits erwhnten Dialog La Cavaletta ein breiteres Spektrum einrumt,

731 Die Behauptung, die Canzone werde nur gesungen, nicht begleitet, speist sich eventuell noch aus Nachrichten ber ltere Auffhrungspraxen; im Cinquecento wird dies selten der Fall gewesen sein. Die Modifikation, dass Instrumente wie die Lyra hinzutreten kçnnen, ist natrlich durch den antiken Lyrikbegriff erzwungen. 732 Crispolti [1592] 1974, 195; vgl. Kap. 3.2. 733 Vgl. Dante 1957, 2.8.43. 734 Vgl. Daniello [1536] 1970, 245. 735 Equicola 1541, o.S.; vgl. Tomitano 1545, 173. 736 Vgl. Dolce 1550, 100v.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

sieht jedenfalls in der Canzone im hohen Stil eine typische Spielart der Gattung.737 Dagegen ist Girolamo Ruscelli 1559 der Ansicht, die Canzone kçnne grundstzlich stilistisch variabel sein, sei dabei aber auf eine Grundqualitt der ‘leggiadria’ festgelegt – und zwar einfach deshalb, weil die Siebensilbler keine ‘gravit’ htten, die Canzone aber heterometrisch zu sein und also Kurzverse zu enthalten habe. Ruscelli hlt daher Petrarcas Metamorphosencanzone Nel dolce tempo (RVF 23), die nur einen ‘settenario’ pro Strophe enthlt, fr zu schwer und herb geraten.738 Auch Minturno betont die Affinitt des Elfsilblers zu hohen, des Siebensilblers zu niedrigeren Themen und unterscheidet Canzonen nach ihrem diesbezglichen Mischungsgrad, wobei auch er generell eine Kombination beider Verstypen prferiert.739 Innerhalb des sehr speziell ausgestalteten Stilspektrums von Minturnos Poetik – es geht, wie in Kap. 2.4 ausgefhrt, auf die sieben ‘formae dicendi’ nach Hermogenes zurck – liegt dementsprechend die Canzone zwischen „La Leggiadra“ und „La magnifica, e maestevole“ (beides exemplifiziert an Petrarcas Nel dolce tempo, RVF 23).740 Sie bewegt sich also innerhalb eines bembistischen Misch-Stils mit mittlerer Ausrichtung. Ruscelli und Minturno denken die bei den meisten Theoretikern anzutreffende Zuordnung stilistischer Werte zu den einzelnen Verstypen zu Ende und leiten daraus und aus der vergleichsweise rezenten Norm der Heterometrie eine metrisch (durch die Anwesenheit des ‘settenario’) determinierte vorwiegend mittlere Stillage ab – in Minturnos Fall allerdings in latentem Widerspruch zu an anderer Stelle geußerten Einschtzungen. Um dies genauer erfassen zu kçnnen, mssen wir abschließend auf Minturnos Position nher eingehen, zumal hier die Canzone eine wichtige Position in einem grçßeren theoretischen Entwurf einnimmt. Minturno versucht (vgl. Kap. 2.4), eine Dreiheit der Dichtungsformen von epischer, szenischer und melischer (bzw. lyrischer) Dichtung zu etablieren, wobei er seiner Systematik mit dem (textinternen) aristotelischen Redekriterium einerseits und der (textexternen) Medialitt (bzw. Auffhrungspraxis) andererseits zwei miteinander nur teilweise vertrgliche Grundlagen

737 Tasso 1958, 639: Von der allgemeinen Canzone zu unterscheiden sei die spezielle Canzone, insbesondere „la tragica, la qual dev’essere scritta in volgare altissimo e con altissimo stile“. 738 Vgl. Ruscelli 1605, 61v. 739 Vgl. Minturno [1564] 1971, 220. 740 Minturno [1564] 1971, 430 – 432.

3.3 Canzone und Ode

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gibt.741 Was die Auffhrungspraxis betrifft, so ist die melische Poesie dadurch definiert, dass sie Dichtung, Gesang und Tanz durchgehend vereint; die szenische verwendet nur gelegentlich Musik und Tanz; die epische verzichtet auf beides. Eine Canzone im weiteren Sinn (vgl. oben zum spezifischen und unspezifischen Canzonenbegriff ) ist fr Minturno nun so etwas wie die Vollform der melischen Poesie (die lyrische, dithyrambische und nomische Dichtungen umfasst), nmlich eben eine gesungene Dichtung mit Tanz. Musterbeispiel dafr ist die Ballata, die er fr seine Zeit etwas anachronistisch als gesungen und getanzt ansieht (vgl. Kap. 3.4). Sie stellt Minturno in direkte Kontinuitt zu antiker getanzter Chorlyrik. Sonett und Canzone im engeren Sinn sind insofern abgeleitete oder defizitre Formen der Ballata, als sie medial nicht mehr vollstndig sind.742 Diese Canzone im engeren Sinn grenzt Minturno nun von anderen ab als „quella solamente, ch’ divisa in Volte,  pur in Stanze, che dir vogliamo: e per eccellenza, di questo nome detta, e tiene il primo luogo nella Melica poesia“.743 Die Definition ist nicht wasserdicht, denn auch die Ballata kennt Volten, aber der Kontext macht klar, dass Minturno innerhalb der Menge der Canzonen im allgemeinen Sinn die trobadorischen und petrarkischen Canzonen (und die Ode – dazu unten) als Canzonen ‘par excellence’ herausstellen und allen anderen Formen berordnen will. Minturno folgt an dieser Stelle offenbar Dante. Aber dieser hatte ja gerade aufgrund des Kriteriums des Tanzes die Ballata als weniger selbststndig und also weniger wrdig betrachtet als die Canzone und daraus seine Aufwertung der Canzone abgeleitet. Minturno hingegen betrachtet die Ballata, wie eben gesehen, gerade aufgrund des Tanzes als der Idealform nher als die Canzone – will sie dieser aber dennoch unterordnen. Es berkreuzen sich hier zwei Hierarchien: Die Entstehungshierarchie (die eine Systematik der Entfaltung vom Ursprnglichen zum Abhngigen impliziert), nach der die getanzte Canzone im allgemeinen Sinne, insbesondere die Ballata, die ursprngliche und idealtypische Form der melischen Poesie ist – und die danteske Stilhierarchie, derzufolge die Canzone im engeren Sinne allen anderen lyrischen Gattungen vorzuordnen ist, obwohl sie doch aus Minturnos Sicht hinsichtlich entscheidender Kriterien des Konzepts von melischer Poesie (Tanz, aber de facto auch Musik) im Vergleich zur Ballata defizitr erscheinen muss. 741 Vgl. Minturno [1564] 1971, 3. Zustzlich bezieht Minturno auch noch eine Unterscheidung zwischen Vers- und Prosadichtung mit ein. 742 Vgl. Minturno [1564] 1971, 169 f. 743 Minturno [1564] 1971, 185.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Der Wunsch, mit Dantes Einschtzung, aber auch mit antiken Auffassungen von der insbesondere pindarischen Ode konform zu gehen, zwingt Minturno im brigen auch, seine anderwrts getroffene stilistisch und thematisch mittlere Zentrierung der Canzone wiederum durch eine Betonung des Hohen zu modifizieren: „di trattare le cose grandi & Heroiche niuna altra Lyrica compositione cos degna, come questa.“744 Zur Sestine. Minturno und Torquato Tasso stellen im Anschluss an Dante die Sestine als aufflligste Form der ‘oda continua’ vor, da bei ihr jede Unterteilung der Stanze durch Reimkorrespondenzen ausfllt.745 Minturno erklrt in diesem Zusammenhang wie Dante auch die Technik der ‘retrogradatio cruciata’. Hinsichtlich des neuerlichen Vorkommens der Reimworte im dreizeiligen Envoi der Sestine nennt Minturno die nochmalige ‘retrogradatio cruciata’ im Vergleich zur letzten Vollstrophe als den Normalfall, hlt aber unzhlige andere Varianten fr mçglich.746 Die Reimwçrter der Sestine sollen „vaghe, leggiadre, rotonde, sonore“ sein und eher Substantive als Verben, dabei zweisilbig; freilich lsst er eine Variation der Wortart im Falle homonymer Reime zu. Minturno betont die Affinitt der Sestine zu Allegorie, Metapher und Vergleich.747 Was die Stillage der Sestine betrifft, so sind die Theoretiker verschiedener Ansicht, und zwar aufgrund der Verschiedenheit der dafr angesetzten Kriterien. Dies zeichnete sich oben bereits anhand der Einschtzung der nur von Strophe zu Strophe gereimten, innerstrophisch aber reimlosen ‘oda continua’ ab, deren Variante die Sestine ja ist. Bembo, der aufgrund seiner besonderen Aufmerksamkeit fr Klangwirkungen den Reimabstand in den Mittelpunkt stellt, hlt die Sestine fr besonders ‘schwer’, weil ja die Reimkorrespondenzen ber ganze Strophen hinweg gedehnt sind: „piu grave suono rendono le rime piu lontane […] gravissimo suono da questa parte quello delle Sestine.“748 Ruscelli hingegen betrachtet mehr das Raffinement der formalen Prozedur und bezeichnet die Sestine daher als „molto vaga & bella sorta di componimento“, die fr ihn folgerichtig auf Liebesthematik festgelegt ist.749 Dieser Einschtzung folgt Minturno, der ihren Stil so beschreibt: 744 745 746 747 748 749

Minturno [1564] 1971, 185. Vgl. Minturno [1564] 1971, 234; Tasso 1958, 641. Vgl. Minturno [1564] 1971, 235. Vgl. Minturno [1564] 1971, 236 f. Bembo [1525] 2001, 78. Ruscelli 1605, 64v.

3.3 Canzone und Ode

203

„Non secco; ma fiorito: non aspro; ma piacevole: non enfiato; ma pieno: e con parole elette, e soavi, ordite chiaramente, e vagamente tessute.“750 Damit entfernen Ruscelli und Minturno sich tendenziell von Dantes und Arnauts Vorgaben; was Petrarcas Praxis betrifft, so vermag sie wohl gleichermaßen fr Bembos wie fr Ruscellis und Minturnos Einschtzung der Sestine Argumente bereitzustellen. Zur Alternativit t von Canzone und Ode. In der poetischen Praxis des Quattrocento gert die Canzone an den Rand, whrend das Sonett – neben anderen, spezifisch musikalischen Formen wie dem ‘strambotto’ – besonders gepflegt wird. Um 1500 etablieren sich in der Musik zudem neue Varianten von Strophenliedern, die in humanistischer Optik als quivalente der horazischen Ode interpretiert werden. In dieser Situation setzt Bembo mit den Asolani (erste Fassung 1505) ein starkes Signal fr die Canzone (und gegen das Sonett, das er aus seinem Dialog heraushlt),751 sowohl in ihrer Vollform als auch als einstrophige Variante im Sinne des spteren Cinquecentomadrigals. Sie ist fortan Bestandteil einer umfassenden und philologisch informierten Petrarca-Imitatio. Die horazische Ode wird im Vergleich dazu in der Musikszene unter den Hofdamen nach dem Essen eher abgewertet.752 Daraus ergibt sich als Ausgangslage des sechzehnten Jahrhunderts zweierlei: eine neue Aktualitt der Canzone und die Frage nach der Alternativitt der beiden anspruchsvollen strophischen Gattungen Canzone und Ode. Nach Bembos programmatischer Setzung wird die Canzone wieder gepflegt; in den Literaturen der iberischen Halbinsel (nicht aber in Frankreich) wird sie gar als Symbol des Petrarkismus erst richtig eingefhrt. In der Praxis Bernardo Tassos und dann auch eines Garcilaso de la Vega erhlt jedoch auch ihre Konkurrentin, die horazische Ode, besonderes Profil. Vor allem aber die pindarische Ode wird von Trissino und Luigi Alamanni als Alternative zur Canzone in die volkssprachliche Literatur eingefhrt. Claudio Tolomei erprobt und reflektiert die Mçglichkeit, dabei sogar antikisierende Metren zu verwenden.753 In der impliziten Poetik der Lyriksammlungen und in der expliziten poetologischen Theorie ergeben sich in dieser Situation drei grundstzliche 750 Minturno [1564] 1971, 237. 751 Zur Textgenese und anderen wichtigen Aspekten der Asolani vgl. vor allem Berra 1996. 752 Vgl. Bembo 1991, 216. 753 Fr Nheres vgl. auch Mehltretter 2009b und 2011.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Mçglichkeiten: Entweder wird die Alternativitt von Ode und Canzone betont – oder aber deren letztliche Identitt behauptet; als dritte Mçglichkeit tritt zudem noch die Ablehnung jeglicher Eingemeindung antikisierender metrischer Gattungen in Erscheinung. Die Pluralitt von antiken und trecentesken poetologischen Normen kann also negiert, betont oder durch autoritre Ausgrenzung bekmpft werden. Die Identitt von Canzone und Ode setzt Trissino voraus, wenn er seine eigenen an Pindar orientierten Kompositionen im vierten Teil seiner Poetik von 1529 so beschreibt: Bench io ad imitazione di Pindaro (il quale fa la stropha e la antistropha simili e poi induce l’epodo diverso da loro) ho fatto canzoni le quali hanno le due prime stanzie simili di compositura a guisa di stropha e di antistropha ; e la terza diversa da esse come epodo […].754

Die Pindar-Imitatio tritt also zunchst als ‘pindarische Canzone’ in Erscheinung, wobei auch die Reimstruktur der Canzone (aber nicht das Verhltnis der Strophen zueinander) erhalten bleibt. Dies erlaubt es, rckblickend auch die Canzonen Petrarcas mit Pindars Oden quivalent zu setzen, obwohl sie natrlich keine metrische Differenz von Strophe bzw. Antistrophe versus Epode aufweisen. So nhert Giovanni Andrea Gesualdo in seinem Petrarca-Kommentar von 1533 Petrarca eher Pindar und Horaz (also den Odendichtern) als Callimachus und Tibull (also den Elegiendichtern) an; dies gilt bei ihm fr Canzonen und Sonette gleichermaßen.755 hnlich argumentiert Agnolo Segni 1573, der Petrarcas Rime fr „ode simili a quelle de’ lirici“ hlt, und zwar sowohl die Canzonen als auch die Sonette.756 Damit wendet er sich gegen eine verbreitete Ansicht, derzufolge die Canzone mit der Ode, das Sonett aber mit dem Epigramm quivalent zu setzen sei. Neben diesen Versuchen, die Ode als quivalent der Canzone (und des Sonetts) zu erklren, existiert vor allem die dichtungspraktische Mçglichkeit, sie im Rahmen einer Ausspielung der „Alternativitt der lyrischen Referenzsysteme“757 einander gegenber zu stellen. Alamanni vor allem inszeniert sich in seinen Opere toscane als Universaldichter, der antikisierende und toskanische Metren gleichermaßen beherrscht und sie mit allen ihren – auch semantischen – Implikaten przise zu trennen weiß. Dies gilt 754 Trissino [1529] 1970, 138: „De lo accordare le stanzie“ (die griechischen Buchstaben von Trissinos Schreibweise wurden latinisiert). 755 Vgl. Gesualdo 1533, Bl. 3r–v. 756 Segni [1573] 1972, 94 – 96. 757 So der Titel von Penzenstadler 1993.

3.3 Canzone und Ode

205

sowohl fr die Unterscheidung zwischen elegischer und petrarkistischer Dichtung als auch fr diejenige zwischen petrarkistischen Canzonen und pindarischen Oden, die Alamanni unter der Bezeichnung ‘Inni’ (‘Hymnen’) in einem Unterzyklus seiner Opere toscane platziert. Fr die griechisch derivierten Ausdrcke ‘Strophe’, ‘Antistrophe’ und ‘Epode’ verwendet Alamanni dabei die Bezeichnungen ‘ballata’, ‘controballata’ und ‘stanza’; dabei nimmt er Minturnos sptere Herleitung von ‘stanza’ aus ‘stare’ (Stehenbleiben eines tanzenden Chors) vorweg (s. o.).758 Alamanni hlt bei seinen ‘Inni’ wie Trissino bei seinen pindarischen Canzonen am Reim fest. Aber Trissino ist auch derjenige, der im zweiten Teil seiner Poetica als Erster umfassend darber nachdenkt, auch die antiken Metren nachzubilden. Dazu empfiehlt er Blankverse, die er in Versfße gliedern will. Sogar den Begriff ‘rima’ will er durch Re-Etymologisierung seinem Vorhaben dienstbar machen: „La rima quello che i Greci dimandano rithmo et i Latini numero“ – er bedeute einfach nur ‘Zahl’.759 Girolamo Muzio wird spter in seiner Poetica dieses Mançver aufgreifen und die (bei ihm nur fr die hohen Genera geforderten) Blankverse als „rime senza rime“ bezeichnen: Perch’a voler che senza alcuno intoppo Corra lo stil continuo, in quella vece Che gi gli antichi usar le sei misure, Porrem le rime senza rime; queste Sono oltra l’altre chiare, pure, et alte […].760

Fr Trissino sind die antiken Metren eine Mçglichkeit, die italienische Dichtung weiter auszubauen. Das Argument der prinzipiellen quivalenz von Canzone und Ode dient ihm vor allem dazu, die Anlagerungsfhigkeit der Oden an die Canzonentradition implizieren zu kçnnen. Eher auf eine Ablçsung laufen hingegen die Forderungen Claudio Tolomeis hinaus, die antiken Autoren in deren eigenen metrischen Formen auf Toskanisch nachzuahmen.761 Diese Radikalisierung wurde allerdings von den meisten Theoretikern nicht gut aufgenommen. Ruscelli etwa 758 Vgl. Penzenstadler 1993; zur Ode auch Mehltretter 2011. Auch Minturno entwickelt eine Terminologie fr die pindarische Ode: Strophe entspricht ‘volta’, Antistrophe wird zu ‘rivolta’, Epode wird ‘stanza’. Hier betont Minturno die quivalenz der Ode mit der Ballata aus zwei symmetrischen Abschnitten von Tanz und Gesang, gefolgt von einer Strophe ohne Tanzbewegung (vgl. Minturno [1564] 1971, 178). 759 Trissino [1529] 1970, 44. 760 Muzio [1551] 1970, 195. 761 Das ist die Grundtendenz von Tolomei 1536.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

berichtet von verbreiteter Ablehnung und begrndet diese damit, die antikisierenden Blankverse seien weniger harmonisch und sß als die volkssprachlichen Reime; er setzt also eine eher bembistische Lyrikauffassung gegen Tolomeis Antikenbegeisterung.762 Muzio, der, wie gerade gesehen, dem Blankvers an sich positiv gegenbersteht, hlt die Bezeichnung ‘Ode’ anstelle von ‘Canzone’ fr Etikettenschwindel und bekrftigt den Vorbildcharakter Petrarcas fr die lyrischen Genera: E per Dio, chi dice ‘oda’, che dice egli Se non dice ‘canzone’? In questa rima Chiuse ’l Petrarca il suon de’ suoi sospiri […]763

Vor allem meint er, die Versuche einer ‘metrica barbara’ seien grundstzlich zum Scheitern verurteilt: Ecco apparir chi vuole in lingua tosca Far risonare e dattili e spondei – E dattili non forma n spondei […].764

Minturno kehrt in den sechziger Jahren zurck zur Betonung der quivalenz von antiken und zeitgençssischen metrischen Gattungen, da er, wie oben dargelegt, sein Gattungssystem als Ausfaltung ursprnglicher antiker Gegebenheiten erklren will. Er betrachtet daher die „Canzone Pindarica“ und die Canzone in der Art Petrarcas als zwei Varianten der gleichen Gattung765 – wie gesagt: jener getanzten und gesungenen Dichtung, die die Grundform der ‘melischen’ Poesie darstellt (s. o.). Damit erfasst er zwar nicht mehr die zeitgençssische Medialitt der Canzone, wohl aber die Zukunft der (insbesondere dann anakreontischen) Ode und ihrer wichtigsten Variante, der Canzonetta, von Chiabrera bis hin zu Paolo Rolli im folgenden Jahrhundert. Chiabreras Odenformen werden vor allem ab 1600 hufig in Musik gesetzt, und in der Vertonung durch Willem de Fesch berlebt Rollis Solitario bosco ombroso bis in die Zeit des jungen Goethe.766

762 763 764 765 766

Vgl. Ruscelli 1605, 22r – 23r. Muzio [1551] 1970, 171. Muzio [1551] 1970, 172. Vgl. Minturno [1564] 1971, 182 f. Vgl. hierzu etwa Zapperi 2007, 16.

3.4 Madrigal und Ballata

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3.4 Madrigal und Ballata Die krzeren von der Musik her gedachten Formen, Madrigal767 und Ballata, sollen hier zusammen dargestellt werden, nicht nur weil frhneuzeitliche Reflexionen ber die beiden Gattungen oft miteinander verwoben sind, sondern auch weil in der dichterischen Praxis mancher Autoren die Unterscheidung der beiden Genera im Laufe des Cinquecento zusehends verschwimmt. Dies hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen verndert sich die mediale Grenzziehung zwischen den beiden Genera, zum anderen werden die (teils ebenfalls vernderten) metrischen Unterscheidungsmerkmale nicht mehr von allen durchschaut. Was den zweiten Punkt betrifft, so hat Ulrich Schulz-Buschhaus gezeigt, dass vom Quattrocento bis hin zu Ariost zunchst einstrophige Ballaten geschrieben werden, deren interne Gliederung verflacht, bis dann diese in sich weniger gegliederte und teils strukturell nicht mehr verstandene Ballata und das Madrigal nur noch unscharf voneinander getrennt werden.768 So bemerkt denn auch Trissino im fnften Teil seiner Poetik, dass im Zuge des Verfalls der Regelbeherrschung in der Dichtung „alcuni […] non sapeano distinguere i mandriali dalle ballate“.769 Diese Entwicklung hin zu einer sei es realen, sei es bloß vermeintlichen Strukturhnlichkeit der beiden Gattungen macht fr Schulz-Buschhaus die metrische Vernderung vom Trecento- zum Cinquecento-Madrigal verstndlich. Dies wird unten noch zu diskutieren sein. Fr den Augenblick gengt die Feststellung, dass im 16. Jahrhundert Ballata und Madrigal aufs Engste aneinander rckten. Diese Nhe ergibt sich nicht nur aus metrischen Gegebenheiten, sondern auch aus medialen: Die teils medial definierten Gattungsunterschiede zwischen Sonett, Canzone, Madrigal und Ballata werden ab dem

767 Zum Wort selbst: Massini 1588 verwendet die Form ‘madrigale’; Bembo [1525] 2001 und Dolce 1550 bevorzugen die Form ‘madriale’; Trissino [1529] 1970 sagt im Plural ‘mandriali’. Gidino da Sommacampagna 1870 (Mitte des 14. Jahrhunderts) hat den Plural ‘marighai’, whrend die frheste hier zu behandelnde Schrift, Da Barberino 1924 (um 1310), die lateinische Form ‘carmen matricale’ bietet. 768 Vgl. Schulz-Buschhaus 1969, 51 f. 769 Trissino [1562] 1970, 8. Trissino sieht dies als allgemeinen Verfall, der auch die Unterscheidung zwischen Ballata und Canzone betreffe und nur durch eine Explizitmachung der Regeln (wie sie schon der von Trissino wiederentdeckte Dante von De vulgari eloquentia betrieb) aufzuhalten sei.

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vierzehnten Jahrhundert nmlich nach und nach umstrukturiert – mit dem Ergebnis einer grçßeren Nhe zwischen Madrigal und Ballata. Zur medialen Unterscheidung von Madrigal und Ballata. Bei dem trecentesken Gattungstheoretiker Antonio da Tempo und seinem volkssprachlichen Interpreten Gidino da Sommacampagna (Anfang bzw. Mitte des 14. Jahrhunderts) unterscheidet sich die Ballata von der Canzone grundlegend dadurch, dass sie getanzt wird.770 Gemeinsam haben die beiden hingegen angeblich, dass sie gesungen werden und hauptschlich von Liebe sprechen, gelegentlich aber, so Gidino, auch „con parole morale e notabele“ von hierarchisch hçheren Themen.771 Die getanzte und einstimmig gesungene Ballata unterscheidet sich also zunchst klar von der nur gesungenen einstimmigen Canzone sowie vom meist gesprochenen Sonett und dem per definitionem mehrstimmig gesungenen Madrigal. Diese mediale Viererunterscheidung ist jedoch bereits bei Da Tempo in Bewegung. Vieles spricht nmlich dafr, dass der in der erwhnten Passage benutzte Canzonenbegriff (Da Tempo: ‘cantio’) ein unspezifischer ist, wie ihn bereits Dante kennt und auch noch Ruscelli diskutieren wird772 (vgl. Kap. 3.3). Denn weiter hinten in den Texten von Da Tempo und Gidino wird noch einmal speziell ber die ‘cantiones extensae’ (Trobadorcanzonen) berichtet. Hier sind die medialen Verhltnisse weniger klar; eventuell ist die Musik nicht mehr fester Bestandteil dieser Gattung. Mario Equicola jedenfalls (gestorben 1525), der weitgehend Da Tempo folgt, trennt in seinem 1541 postum erschienenen Traktat die Ballata von der Canzone unter anderem dadurch, dass er diese als gesprochen, jene als gesungen bezeichnet.773 Die Musik, die ursprnglich Canzone und Ballata verband, wird also mit der Zeit zum Abgrenzungskriterium zwischen beiden. Dies ist zumal deshalb von Interesse, weil die ursprnglich definierende Eigenschaft der Ballata, zum Tanz zu erklingen, selbst nach und nach verschwindet. Bembo verwendet Vergangenheitstempora, wenn er in den Prose die anfngliche 770 Vgl. Da Tempo 1977, 49 und Gidino da Sommacampagna 1870, 70. 771 Gidino da Sommacampagna 1870, 70. 772 Dante behandelt in De vulgari eloquentia zwar die Canzone im engeren Sinne als hçchste Gattung, betrachtet aber in einem weiteren Sinn auch „ballatas et sonitus, et omnia cuiuscunque modi verba sunt armonizata vulgariter et regulariter“ als „cantiones“ (Dante 1957, 2.8.33 – 35). Ruscelli 1605, 59v kennt ebenfalls noch einen allgemeinen Canzonenbegriff, den er als „genere universalissimo“ von dem spezifischen unterscheidet. 773 Vgl. Equicola 1541, o.S.

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Bestimmung der Ballata zum Tanz sowie ihre Auffhrungspraxis von SoloStrophen und chorischem Refrain darlegt; hnlich Trissino und Dolce.774 Equicolas Definition ersetzt dann, wie gesehen, das Kriterium des Tanzes durch dasjenige der gesungenen Darbietung. Die Differenz von Ballata und Canzone wird mithin auf einer Skala der Medienkombinatorik um eine Stelle verschoben: Bestand die Ballata ursprnglich aus Dichtung, Musik und Tanz, die Canzone nur aus Dichtung und Musik, so bleiben der Ballata nun Dichtung und Musik, der Canzone (wie dem Sonett) die Dichtung allein; die Musik wird zum Definiens der Ballata. Da aber gleichzeitig die Praxis der einstimmigen Vertonung im Rckzug ist und also auch die Musik der Ballata bereits ab dem Trecento polyphon wird, ist auch die Differenz zwischen dem stets polyphonen Madrigal und anderen gesungenen Formen, eben die Polyphonie, nicht mehr distinktiv. Es ergibt sich insofern jetzt ein nicht mehr vierstelliges, sondern nur noch zweistelliges Gattungssystem: Den eigentlich gesprochenen und nur in Analogie zum Madrigal vertonbaren Formen Sonett und Canzone stehen die tendenziell polyphon gesungenen Formen Madrigal und Ballata gegenber, ohne dass das Kriterium des Tanzes sie noch trennte. Aufgrund dieser Nhe werden die beiden Genera hier in einem Kapitel behandelt, zuerst das Madrigal, dann die Ballata. Madrigal: Allgemeines. Zentrales Problem einer Theorie des Madrigals im 16. Jahrhundert ist ein Widerspruch zwischen Eingrenzung und Entgrenzung: Einerseits ist ein Bemhen greifbar, das Madrigal als eine bestimmte Kunstform im Gegensatz zu anderen zu fassen, deren Eigenschaften ihre sthetische Rezeption berhaupt erst ermçglichen und insofern klar angegeben werden kçnnen: etwa ‘piacevolezza’ oder ‘grazia’ – Eigenschaften, die gemß der Aptumslehre sowohl fr die Thematik wie fr die Form gelten sollen.775 Nach diesen Zuschreibungen wrde also das Madrigal innerhalb des von Bembo fr die Lyrik festgelegten Spektrums, das ja eine wohltemperierte Mischung von ‘piacevolezza’ und ‘gravit’ unter einer Dominante des mittleren Stils vorsieht, eindeutig zu ersterer hinneigen. Andererseits weicht die Praxis, die von manchen Theoretikern 774 Bembo [1525] 2001, 80. Trissino [1529] 1970 sagt es unmissverstndlich: „Le ballate sono canzoni che anticamente si ballavano“ (106); vgl. auch Dolce 1550, 102v. Ruscelli 1605, 57r verfhrt hnlich, vermutet jedoch, dass bereits Petrarcas Ballaten keine solche praktische Verwendung als Tanzlieder mehr vorsahen (im Gegensatz, wie er meint, zu Boccaccios Ballaten am Ende der Tage des Decameron). 775 Vgl. z. B. Bembo [1525] 2001, 76.

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durchaus deskriptiv eingeholt wird, solche Grenzen bestndig auf und zwingt bis zu einem gewissen Grade die Theorie zur Anpassung. Dies gilt bereits fr solch scheinbar ußerliche Kennzeichen wie die Verszahl und die Festlegung der Versarten, vor allem aber fr die Relation von Form und Gehalt. Bevor nun auf diese beiden Bereiche einzugehen ist, ist es allerdings nçtig, die bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts immer wieder diskutierte Frage nach der Herkunft des Madrigals aufzuwerfen, denn Versuche verschiedener Theoretiker, der Gattung eine Identitt zuzuweisen, basieren oft auf Spekulationen ber deren Ursprnge. Der Madrigalbegriff und die Herkunft der Gattung. Im Zentrum der Debatte steht die Frage nach den pastoralen Ursprngen des Madrigals: Ist das Madrigal seiner Herkunft nach auf bukolische Thematik und damit den niederen Stil festgelegt? Wichtigstes Verbindungsstck zwischen den Anfngen und der Situation des frhen sechzehnten Jahrhunderts ist die bereits erwhnte, 1509 noch gedruckte776 und also noch rezipierbare trecenteske Summa des Antonio Da Tempo; noch Equicola bezieht seine Angaben zu den lyrischen Genera weitgehend aus diesem Text. Bereits Antonio – ebenso wie sein volkssprachlicher Interpret Gidino da Sommacampagna – spekuliert ber die pastoralen Anfnge der ‘madrigalibus’ (bzw. ‘marighai’), deren Bezeichnung beide Autoren ber lat. ‘mandrialis’ von ‘mandra’ (‘Herde’) ableiten;777 davon werden noch Bembo und Dolce zehren.778 Antonio und Gidino postulieren mithin in der Tat eine pastorale Herkunft der Gattung (Gidino: „primamente venne da li pastori inamorati“), die sich stilistisch in „parole grosse“ manifestiere sowie in einer anfnglich eher rustikalen musikalischen Einkleidung („e quelle cantavano ne le pive loro con grosso modo, ma naturalmente“). Sie bemerken jedoch, dass bereits die dichterische Praxis um 1350 stilistisch davon abweiche: „quamvis deo che li moderni facieno li marighali loro con pi sotile e pi ligiadre parole.“779 Aber selbst wenn diese stilistische Anhebung ausbleibe, 776 Venedig: Simon de Luere. Vgl. Richard Andrews: „Premessa“, in: Da Tempo 1977, VIII. 777 Da Tempo 1977, 70 und Gidino da Sommacampagna 1870, 132. Zu diesem Fragenkomplex vgl. auch Schulz-Buschhaus 1969, 18 sowie Spitzer 1948, 28. Den beiden modernen Autoren erscheint das Etymon ‘carmen matrialis’ als am wahrscheinlichsten. 778 Vgl. Bembo [1525] 2001, 77; Dolce 1550, 105v. 779 Gidino da Sommacampagna 1870, 133; vgl. Da Tempo 1977, 70.

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so sei in jedem Falle die musikalische Gestaltung auf wohlklingende Polyphonie festgelegt. Bei Gidino liest sich dies wie folgt: Onde li marighali se debbono compillare con parole vulgare e grosse. Ma lo sno, o sia lo canto de li ditti marighali, segondo l’uso moderno, dee essere bellettissimo; e dee essere cantato zaschaduno marigalo per tri cantatori, o almeno per duy cantatori, az che lo sno sia pi dolze per le concordancie de molte voci.780

hnlich, wenngleich etwas umstndlicher, formuliert Antonio Da Tempo, der allerdings zugibt, kein „magister in cantu“ zu sein.781 Der weitere Kontext der Argumentation macht zweifelsfrei klar, dass die polyphone Vertonung die ‘differentia specifica’ zwischen Madrigal einerseits und den monophon gedachten Genera Canzone und Ballata andererseits wird. Was die Canzone angeht, stimmt diese Abgrenzung – so weit Canzonen berhaupt mit Musik ausgestattet werden – auch mit der Praxis der Trecento-Komponisten berein, nicht jedoch im Hinblick auf die immer çfter ebenfalls polyphone Ballata. Im ersten Drittel des sechzehnten Jahrhunderts (bei Equicola) ist dann, wie bereits angedeutet, die Canzone auch in der Theorie nicht mehr mit Musik verbunden.782 In jedem Falle begreift die Definition des Madrigals Mehrstimmigkeit in sich. Der in der eben zitierten Passage greifbare Gegensatz zwischen dem Raffinement polyphoner Musik und einer gewissen Grobheit des Textes findet sich in der Theorie des Madrigals von Anfang an. Wohl der erste, der vom ‘carmen matricale’ spricht, ist Francesco da Barberino, und zwar im Selbstkommentar zu seinen Documenti d’Amore (ca. 1310). Eigentlich behandelt Francesco in der betreffenden Passage die ‘motti oscuri’, epigrammartige Gedichte in Terzinenform, die jeweils ein zu entrtselndes Wortspiel enthalten. Hier fgt er nun im Kommentar eine kurze volkssprachliche Metrik ein („de variis inven[iendi mo]dis“783), in der er – nach einer Auflistung der zu vermeidenden ‘vitia’ – unter anderem Sonette (‘sonitij’) und Canzonen (‘cantiones extensae’) behandelt. In dieser Zusammenstellung gibt er folgende Definition des ‘[carmen] voluntarium’: „voluntarium est rudium inordinatum concinium. ut matricale et similia.“784

780 781 782 783 784

Gidino da Sommacampagna 1870, 133. Da Tempo 1977, 71. Vgl. Equicola 1541, o.S. Da Barberino 1924, Bd. 2, 260. Da Barberino 1924, Bd. 2, 263.

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Das Madrigal wird also als Beispiel fr ein ‘voluntarium’ genannt, eine mehrstimmige (‘concinium’) vokale Improvisationsform ohne besonderen Bauplan (‘inordinatum’), die ‘rohen’ Volksgruppen (‘rudium’) zugeordnet wird. Das etwas spter entstandene anonyme Capitulum de vocibus applicatis verbis 785 spezifiziert die Faktur dieser madrigalischen Mehrstimmigkeit in einer Weise, die sowohl an mçgliche Improvisationsformen als auch an die Kompositionspraxis des Trecento denken lsst, wenn es nmlich als typische Struktur den Kontrapunkt zwischen einer eher melismatisch ausgearbeiteten Stimme und einem ruhigen Tenor beschreibt; inhaltlich wird das Madrigal auch hier auf lndliche Thematik festgelegt.786 Gemeinsamer Nenner dieser frhen Stellungnahmen ist die Betonung der Polyphonie, einer aus heutiger Sicht sehr entwickelten Kunstpraxis, die, wie gesagt, in Opposition zu stehen scheint zu der gleichfalls konstatierten rustikalen Grobheit der Texte und der niedrigen Herkunft der Gattung. Nun lge es nahe, dieses Motiv der niedrigen, quasi pastoralen Herkunft einfach als literarischen Topos abzutun, der als solcher kein Indiz fr historische Tatsachen sein msste. Die berlieferung vom Ursprung des Madrigals in der Welt der Hirten kçnnte eher etwas mit kulturspezifischen Mythen ber die Entstehung von Musik und Dichtung zu tun haben als mit einem nachweisbaren lebensweltlichen Ort der Gattung. Dies trifft sicher auch fr rinascimentale Fassungen des Motivs zu. Nicht zu erklren vermag eine solche Annahme freilich eine Formulierung wie die oben zitierte vom „rudium inordinatum concinium“, in der die pastorale Stilisierung noch gar nicht als solche greifbar ist: Hier geht es nur um das Grobe, nicht um Arkadien. Zumindest fr den Anfang der Theoriegeschichte des Madrigals ist der Widerspruch zwischen dem hoch Entwickelten und dem Primitiven auf diese Weise nicht in den Griff zu bekommen. Wie also passen ‘roher’ Text und hoch komplexe Musik zusammen? In den letzten Jahren hat sich in der Musikwissenschaft eine Betrachtungsweise der Mehrstimmigkeit des 14. und 15. Jahrhunderts ent785 In: Debenedetti 1906 – 1907. 786 Die Melismatik ist geradezu ein Kennzeichen des Madrigals im Trecento, vgl. Franco Sacchettis Novelle 74 aus den Trecentonovelle, wo eine durch die Erschtterungen des Reitens induzierte schluckaufartige Aussprache mit der Melismatik des Madrigals verglichen wird: „Costui s’andava con le gambucce spenzolate a mezze le barde, combattendo e diguazzando; e quello cotanto che diceva, lo dicea con molte note, come se dicesse uno madriale, secondo le scosse che avea, che non erano poche“ (Sacchetti 1993, 145). Vgl. hierzu Gallo 1985, 3 und Haar 1986, 16 sowie Abramov-van Rijk 2009, 55.

3.4 Madrigal und Ballata

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wickelt, in deren Licht dieser Gegensatz weniger erstaunlich erscheinen mag. Untersuchungen wie die von Pirrotta 1984 oder Abramov-van Rijk 2009 betonen die Nhe der polyphonen Kompositionspraxis zu Formen der Improvisation. Abramov-van Rijk leitet daraus die hçchst einleuchtende Annahme ab, der starke Rckgang der Musikberlieferung in Italien zwischen der Blte der Trecento-Musik und der Hochrenaissance kçnne damit zu tun haben, dass solche Improvisationspraxen, von denen wir naturgemß keine direkten schriftlichen Spuren haben, die musikalische Darbietung von Dichtung ber Jahrzehnte beherrscht haben kçnnen. Natrlich sind diese Techniken, so weit wir ber sie Bescheid wissen, spezialisierte, ‘hohe’ Fertigkeiten. Sie kçnnen jedoch durchaus in Kontinuitt stehen zu mndlich weitergegebenen Verfahren improvisierenden Gegeneinander-Singens, wie sie bis heute in populren Traditionen des lateinischen Mittelmeerraums zu finden sind. Mehrstimmigkeit muss also nicht per se gelehrte Ursprnge haben. Die oben angefhrte Beschreibung der musikalischen Faktur eines Madrigals im Capitulum de vocibus applicatis verbis wrde sowohl eine ‘hohe’, gelehrte, an musikalische Schriftkultur gebundene als auch eine ‘niedere’, improvisatorische Variante abdecken. Eine mçgliche Hypothese kçnnte also lauten: Das Madrigal hat tatschlich einen volkstmlichen, ja rustikalen Ursprung in einer musikalischen Improvisationspraxis, welche sich freilich bald in eine ‘populre’ und eine ‘elitre’ Ausprgung verzweigt haben kann. In dem Augenblick, in dem man die Polyphonie verschriftlicht, ergibt sich bereits aus medialen Grnden, nmlich aus der Komplexitt der Mensuralnotation selbst bzw. aus der rhythmischen Komplexitt der mensuralen Niederschrift improvisierter Linien, ein komplexes und dann immer ‘elitres’ Kunstprodukt, das in der schriftlichen Musikpflege eigene raffinierte Strukturen entwickeln kann. Dies bedeutet zunchst auch, dass der Begriff des Madrigals ein musikalisches, kein dichterisches Konzept meint. Die weitere Entwicklung der Theoriegeschichte des Madrigals, die dann auch eine Theorie des Madrigaltextes beinhaltet, wre von hier aus nachvollziehbar. Die Erinnerung an die rustikale Herkunft der Gattung wirkt verschiedentlich fort (etwa in den Aufforderungen, die Gedichte mssten „parole grosse“ enthalten), wird aber wohl sehr frh mythisiert: Die rustikale Gesellschaftsgruppe schlechthin ist fr den frhneuzeitlichen Dichtungstheoretiker diejenige der Hirten, mit deren ‘otium’ man die Gelegenheit zur Dichtung ebenso verband wie die Disposition zum mehrstimmig organisierten Gesang. So meint Bembo in den Prose, das Madrigal sei ursprnglich darin der Ekloge hnlich gewesen, dass es

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

„pastorali amori et altri loro boscarecci avenimenti“ behandelte.787 In diesem Zusammenhang entwickelt Bembo Da Tempos Etymologie zu der bekannten These weiter, der Begriff ‘Madrigal’ habe seine etymologischen Wurzeln entweder in ‘materialis’ („cose materiali e grosse“) oder aber in ‘mandra’ (‘Herde’) – in jedem Falle sei der Ausgangspunkt seiner Gattungsgeschichte im semantischen Raum des Niedrigen bzw. Lndlichen zu suchen.788 Minturno verallgemeinert diese Zuordnung fr die Gegenwart des Cinquecento mit seiner Formulierung, das Madrigal kreise „intorno a cose rustichette“.789 Insofern kçnnten sowohl die Mutmaßungen ber die pastoralen Ursprnge der Gattung als auch die Opposition zwischen polyphoner Komplexitt einerseits und niederem Stil andererseits Erbe einer bald nicht mehr durchschauten Entstehungsgeschichte sein. Daraus ergibt sich dann ein Problem der Vermittlung zwischen lndlichen Ursprngen und anspruchsvoller gegenwrtiger Praxis. Im Cinquecento wird dies (wie wir gleich sehen werden) so weit gehen, dass sogar eine dezidiert nicht pastorale und auch stilistisch hufig alles andere als schlichte Dichtung mit den pastoralen Anfngen verrechnet werden muss. Dies zeitigt Folgen fr das Verhltnis von Tradition und Innovation. Metrik des Madrigals. Mit dem Begriff ‘Madrigal’ und seinen quivalenten verbindet man seit der Renaissance bis auf den heutigen Tag zwei metrisch unterschiedliche Gebilde, deren erstes mit dem Trecento, das zweite mit dem Cinquecento assoziiert ist. Die Annahme einer metrischen Kontinuitt zwischen diesen beiden Madrigalformen in der Geschichte gilt (etwa nach der These von Ulrich Schulz-Buschhaus) als ebenso verbreitet wie unhaltbar.790 Die sptere Fortne dieser Annahme nimmt allerdings gerade von der Theorie des Madrigals in der Renaissance ihren Ausgang. Dort muss nmlich aufgrund der bembistischen Weichenstellung, Petrarca zum Modell der Dichtung zu erklren, stets eine historische Kontinuitt zwischen dem vierzehnten und dem sechzehnten Jahrhundert hergestellt – 787 Bembo [1525] 2001, 77; vgl. Massini 1588, 175 und Dolce 1550, 105 f. 788 Bembo [1525] 2001, 77. Ihm folgt Dolce 1550, 105. Trissino [1529] 1970, 149 geht ebenfalls von der Etymologie aus, die den Gattungsnamen aus ‘mandra’/ ‘mandre’ herleitet, formuliert jedoch die Bindung an lndliche Inhalte in der Vergangenheit: „in essi era solito cantarsi cose ben d’amore ma rurestri e pastorali, e quasi convenevoli a mandre.“ 789 Minturno [1564] 1971, 261; Bezugnahme bei Massini 1588, 159. 790 Vgl. Schulz-Buschhaus 1969, 11.

3.4 Madrigal und Ballata

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oder gelegentlich auch gegen die offensichtliche Sachlage behauptet – werden.791 bersetzt man die Madrigal-Poetik der Renaissance in die heutige Beschreibungssprache, so besteht das Trecento-Madrigal aus mehreren, oft isometrisch elfsilbigen, anfangs aber auch regelmßig heterometrischen792 Terzinenstollen, die unterschiedliche Reimschemata aufweisen kçnnen (die danteske Terzine ist nur eines davon); am Ende des Gedichts steht meist eine paargereimte isometrische Coppia. Je nachdem, ob sie vorhanden ist, spricht Gidino da Sommacampagna von „comuni“ oder „con retornelli“ (hnlich Da Tempo). Ob freilich der Begriff ‘retornello’ ein eindeutiger Beleg dafr ist, dass die Coppia als Refrain aufgefhrt wurde, bleibt zweifelhaft.793 Insgesamt ist das Gebilde als einstrophig, aber stollig zu bezeichnen. Das Cinquecento-Madrigal tendiert dagegen zu unregelmßiger Heterometrie (Elf- und Siebensilbler), das Reimschema ist ußerst frei und kennt sowohl große Reimdistanzen als auch Waisen; auch hier 791 Vgl. zu diesem Problemfeld etwa den Sammelband Regn 2004. 792 Hier ist eine Desambiguisierung der Darstellung von Schulz-Buschhaus vonnçten. Wenn er schreibt: „Bereits gegen Ende des 14. Jahrhunderts hatte sich Gidino da Sommacampagna […] nicht an die hendekasyllabischen Madrigalformen seiner Zeit […] gehalten, sondern fern aller zeitgençssischen poetischen Praxis die metrisch freieren Madrigalschemata restauriert, die fnfzig Jahre zuvor Antonio da Tempo empfohlen hatte“, so ist dies nicht so zu verstehen, dass etwa die Freiheit des Cinquecento-Madrigals bereits Anfang des 14. Jahrhunderts vorhanden und dann zwischendurch aufgegeben worden wre. Vielmehr beschreibt Antonio Da Tempo ca. 1332 eine Madrigalform, die streng stollig und regulr ist, aber innerhalb eines Variantenschemas auch Formen mit (fest positionierten) Siebensilblern zulsst. Gidino da Sommacampagna kehrt ca. 1380 nicht eigentlich zu ihm zurck, sondern liefert lediglich ein freies ‘volgarizzamento’ des Traktats von Da Tempo. In der Tat hat in der Zwischenzeit vor allem die Praxis Petrarcas und Sacchettis dafr gesorgt, dass die ‘versi rotti’ verschwunden sind; dies geht einher mit einer Anhebung des Madrigalstils. Aber Gidino hlt sich ja an den Text Da Tempos, in dem sich auch zahlreiche Beispiele der regelmßig heterometrischen (aber stolligen) Trecento-Variante finden. Vgl. Schulz-Buschhaus 1969, 28. Die Varianten des ‘comune’ sind nach Gidino: „tutto undenario“ (nur hendekasyllabische Terzinen in beliebiger, aber beibehaltener Reimordnung, 134); davon gibt es eine Variante mit ‘settenario’ als Mittelvers („comune undenario e septenario“), die umschließenden Reim haben muss (137). Es gibt auch „biseptenario, et undenario comune“ in anderen Ordnungen (aber immer durchgehalten), sowie ein reines SiebensilblerMadrigal („comune tutto septenario“) mit Reimverkettung. Vgl. auch Da Tempo 1977, 71 – 80. 793 Gidino 1870, 134 und Da Tempo 1977, 71. Der Begriff ‘retornello’ ist nicht ganz eindeutig, denn Gidino 1870, 107 verwendet ihn auch fr das Congedo einer Canzone, ohne damit zu implizieren, dieses werde wiederholt.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

steht meist ein Paarreim am Schluss, der jedoch auch zwei sich zueinander heterometrisch verhaltende Verse verbinden kann. Insgesamt entsteht so ein ebenfalls einstrophiges, aber nicht stolliges Gebilde. Beide kann man (wie auch das Sonett) als isolierte Canzonenstrophen erklren, einmal stollig, einmal nicht stollig.794 Schulz-Buschhaus vermutet, dass sich in der Aufgabe interner Unterteilungen beim Cinquecento-Madrigal Petrarcas Canzonenpraxis niederschlgt, die zu einer gewissen Asymmetrie mindestens der Reimordnung in den Stollen und zu einer Aufgabe der Teilung des Abgesangs in Volten tendiert.795 Eine direkte Entwicklung vom Tre- zum Cinquecento-Madrigal ist allerdings nicht zu belegen, da kaum (oder nach Schulz-Buschhaus’ Ansicht: keine) Zwischenstufen berliefert sind.796 Wie in der Einleitung dieses Kapitels schon dargelegt, stellt Schulz-Buschhaus das CinquecentoMadrigal außerdem in die Nhe zu einer nicht mehr in ihrer internen Gliederung verstandenen Ballata, deren Ripresa insbesondere nicht mehr identifiziert wurde; diese Verwischung kçnnte zur Entstehung der neuen Form beigetragen haben. Dieser mçglichen Erklrung ist allerdings die betrchtliche Verbreitung (sogar im Druck!) des Traktats von Da Tempo entgegen zu halten, der die beiden Gattungen suberlich trennt. Der wichtige Hinweis auf die Nhe zur Ballata vermag also die Innovation nur teilweise nachvollziehbar zu machen. Sieht man dieses Problem allerdings im Zusammenhang mit der Musik, so lsst sich noch auf andere Weise historische Plausibilitt fr diese Entwicklung gewinnen. Im Quattrocento kommt das Madrigal aus der Mode; die Hintergrnde sind noch unzureichend erforscht. Im ersten Drittel des Cinquecento wirken nun zwei Tendenzen zusammen, die zu einer Erneuerung des Madrigals fhren: Auf der einen Seite wird durch Bembos Einfluss Petrarca-Imitatio genauer und vollstndiger betrieben als zuvor, und dies bedeutet, dass auch die metrischen Formen des Canzoniere einschließlich des Madrigals strkere Relevanz gewinnen; dichterische Petrarcanachfolge muss nun auch jene einstrophige Gattung mitbercksichtigen, die dort immerhin viermal reprsentiert ist. Auf der anderen Seite gewinnt gegenber der improvisierten musikalischen Vortragspraxis nun die Ausformulierung und Niederschrift an den frankoflmischen Stil 794 Dies erkennt fr das Cinquecento-Madrigal bereits Massini 1588, 182. 795 Vgl. Schulz-Buschhaus 1969, 49. 796 Vgl. Schulz-Buschhaus 1969, 27 – 30. Eine Zwischenstufe kçnnte man in Boiardos Madrigal 1.8 Cantati meco erblicken, das Terzinen mit der Formgebung einer Canzonenstrophe kombiniert. Vgl. hierzu Carrai 1999, 49.

3.4 Madrigal und Ballata

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angelehnter weltlicher Vokalkompositionen mit italienischen Texten Bedeutung und drngt eventuell auch die improvisierenden Vortragspraxen bei der Lyrik zurck. Die Varietas-sthetik dieser gehobenen Mehrstimmigkeit aber meidet tendenziell Wiederholungen ganzer Abschnitte; sie bevorzugt daher nicht-strophische Texte ohne Refrain. Die naheliegendsten Kandidaten dafr sind die vereinzelte Canzonenstrophe und ihre Ableger, als die Sonett und Madrigal genetisch erklrt werden kçnnen. So rcken Madrigal, Sonett und vereinzelte Canzonenstrophe zusammen, die ja alle keine strophische Wiederholungsstruktur aufweisen und deren metrische Unterschiede sich im Wesentlichen aus der internen Gliederung von Auf- und Abgesang ergeben. Und in der Tat finden sich unter den Texten musikalischer Madrigaldrucke des sechzehnten Jahrhunderts metrisch gesehen neben Madrigalen zahlreiche Sonette; wo mehrstrophige Canzonen- und Oktavdichtungen eindringen, werden diese als Einzelstrophen behandelt und in Einzelkompositionen zerlegt, wenn nicht ohnehin nur eine Strophe vertont wird. Dazu passt, dass das von Schulz-Buschhaus beobachtete Einrcken der Ballata in den Horizont des Madrigals mit einer Verwischung gerade der Refrainstruktur zusammenhngt: Refrain und Mehrstrophigkeit sind gleichermaßen Korrelate der in der anspruchsvollen Polyphonie gemiedenen Wiederholung makrostruktureller Elemente. Das Madrigal steht also in Opposition zu strophischen und Kehrverse enthaltenden Formen, sowohl zu den niedrigen (Ballata, am Ende des Jahrhunderts auch: Balletto) als auch zu den (nicht mehr dominant musikalisch gedachten) hohen Formen (Canzone, Sestine, Stanze); wo letztere dennoch in Madrigalbchern in Vertonung erscheinen, werden sie durch Vereinzelung ihrer strophischen Natur entkleidet.797 Das Cinquecento-Madrigal ist nun aufgrund seiner Asymmetrie die ußerste Steigerung dieser Tendenz, denn es baut selbst stropheninterne Stollenquivalente ab: Die Asymmetrie, die durch den Verzicht auf Unterteilung von Auf- und Abgesang und damit auch durch den Abbau dieser Unterscheidung selbst entsteht, macht es besonders attraktiv fr eine auf polyphonen Entwicklungen beruhende, wçrtliche Wiederholungen meidende Musik. Diese neue Form wird nun von Bembo in den Asolani in 797 Deshalb wurde die zyklische Vertonung der Mariencanzone Petrarcas durch Cipriano de Rore (1548) als Madrigalsammlung prsentiert (vgl. Titel: Musica di Cipriano Rore sopra le stanze del Petrarcha in laude della Madonna, Et altri Madrigali a cinque uoci), und es wurden sogar einzelne Teile davon verschiedentlich als isolierte Madrigale nachgedruckt.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Gestalt des von der kçniglichen Hofdame gesungenen, aber noch nicht als solches bezeichneten Madrigals Amor, la tua vertute dezidiert gegen symmetrische und strophische Formen wie etwa die horazische Ode (Io vissi pargoletta) positioniert, die dagegen zumindest fiktionsintern wie „spenti e freddi carboni“ abfallen.798 Diese Form absorbiert sodann nach und nach den Madrigalbegriff und prgt ihn im Sinne der Aufgabe der Stollenunterteilungen um; sie bernimmt im Feld der ernsten vertonten lyrischen Genera die terminologische und sthetische Fhrungsrolle. ‘Madrigali’ sind dann in Musikdrucken alle einstrophigen Formen, seien es Sonette, Canzonenstrophen oder TrecentoMadrigale; das ‘madrigale’ par excellence aber ist das neue, nicht stollige Cinquecento-Madrigal, dem die bei Petrarca vorgefundene und zunchst weiterhin nachahmbare Form immer mehr als Variante untergeordnet wird. Dies sind die Verhltnisse in der Praxis sowie in eher implizit poetologischen Texten wie den Asolani. Die explizite poetologische Theoriebildung vollzieht diesen Wandel nur mit einer gewissen Verzçgerung mit. Hier wird bis weit ins sechzehnte Jahrhundert hinein die neuere Form zunchst ignoriert. Bis hin zu Trissino bleibt das ltere Modell des Madrigals (und zwar dominant in seiner isometrischen Version) fr die Theorie der Gattung grundlegend, auch wenn die Praxis bereits beginnt, davon abzuweichen – nicht zuletzt bei Trissino selbst.799 Auch Mario Equicola legt seinen 1541 publizierten Ausfhrungen die Trecento-Variante zu Grunde,800 ebenso Frosino Lapini 1569, wo das Trecento-Madrigal als „lepidum sane et amoribus et iocis aptum constans ex Hendecasyllabis“ beschrieben wird;801 beide Theoretiker schreiben in einer Zeit, in der das Cinquecento-Madrigal die ltere Form weitgehend abgelçst hat, nehmen aber praktisch keine Kenntnis von Letzterem. hnlich verfhrt Minturno, der zunchst das Madrigal als isometrisch elfsilbig beschreibt, acht bis elf Verse lang, und dann an Petrarca orientierte Typen der Einteilung in

798 Vgl. Bembo 1991, 217 und Mehltretter 2011. 799 Vgl. Trissino [1529] 1970, 149 – 153. Trissino unterscheidet beim isometrischen Madrigal noch eine Variante, die er „concorde“ nennt, von einer, die „discorde“ ist – dies bezieht sich auf die Reimordnung. Vgl. zu Trissino auch Schulz-Buschhaus 1969, 29. 800 Equicola 1541, o.S. (verfasst vor 1525). Dies liegt allerdings hauptschlich daran, dass er hinsichtlich der lyrischen Genera weitgehend Da Tempo folgt. 801 Lapini 1569, 319.

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Terzette und Coppie aufstellt.802 Er erklrt sodann die Cinquecento-Variante des Madrigals ebenfalls, aber unter einem anderen Namen: Hier spricht Minturno von „Canzoni […] scritte alla libera“.803 Durch diese Gattungsdifferenzierung ist bei Minturno eine Konkurrenz der beiden Modelle vermieden. Interessanter sind diejenigen Autoren, die die Verschiedenheit der beiden Varianten bereits bemerken und thematisieren oder darauf reflektieren. In der dichterischen Praxis schlgt sich dies darin nieder, dass zahlreiche Autoren nach beiden Schemata gedichtet haben, so Sannazaro, il Chariteo, Giovan Battista Strozzi, Torquato Tasso und Chiabrera.804 Aber auch in der Theorie des Madrigals gibt es den Umgang mit der Konkurrenz der Formen, die Reflexion auf Pluralitt. Insbesondere bei Bembo ist das theoretische Bemhen greifbar, die beiden so verschiedenen Modelle des Madrigals auf einen Nenner zu bringen: Er beschreibt zunchst das Madrigal als Musterbeispiel einer freien Form, muss diese aus der Beobachtung zeitgençssischer Praxis gewonnene Beschreibung jedoch im Hinblick insbesondere auf ltere Texte modifizieren: Ausnahmsweise kçnne diese Freiheit eingeschrnkt werden in einer Art von selbst gewhlter, strengerer Formvariante – zweifellos eine Spezifizierung, zu der ihn die vier Madrigale seines Modellautors Petrarca zwingen.805 Etwa zeitgleich mit der starken Verbreitung der musikalischen Madrigaldrucke und der zunehmenden Prominenz der neuen Form in diesen Drucken, aber auch in Texten wie Bembos Asolani, kehrt sich damit also die Erklrungsrichtung um: Nun gilt in der Tat das Cinquecento-Madrigal als Grundform, von der das Trecento-Madrigal nur eine besonders regelmßige Fassung darstellen soll. Lodovico Dolce folgt Bembo hier und legt sogar Petrarcas metrische Praxis recht genau dar, von den Terzinen bis zu den paargereimten ‘chiuse’.806 Von Girolamo Ruscelli 1559 bis Tommaso

802 Minturno [1564] 1971, 262 betont: „discorrendo per li Canzonieri degli antichi non troverete nel Madrigale verso rotto“ – das gilt sicherlich fr Petrarca und Sacchetti, aber beispielsweise nicht fr die in Da Tempos Traktat aufgefhrten Texte. 803 Minturno [1564] 1971, 268. Die Strukturhomologie zwischen dem Madrigal und der isolierten Canzonenstrophe bemerkt auch Massini 1588, 171 f. 804 Vgl. hierzu Schulz-Buschhaus 1969, 31. 805 Vgl. Bembo [1525] 2001, 77. 806 Dolce 1550, 106r–107r.

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Stigliani 1683 reicht dann eine Tendenz, die neuere Variante der alten als berlegen darzustellen.807 Torquato Tasso behandelt das Problem in charakteristisch differenzierter Weise in seinem Dialog La Cavaletta, und zwar im Zusammenhang mit der Frage, welche Genera besonders fr den ‘stilus humilis’ geeignet sind. Auch er betrachtet die beiden Gestalten des Madrigals als Varianten derselben Sache, unterscheidet sie jedoch nach Stilhçhen. Das Kriterium dafr ist fr ihn die Prsenz des stilistisch niedrigeren ‘settenario’. Weil Tasso die bei Da Tempo noch berlieferte regelmßig heterometrische Fassung des Trecento-Madrigals offensichtlich nicht mehr kennt, bedeutet dies, dass das regelmßige (Trecento-)Madrigal, das fr Tasso isometrisch elfsilbig ist, die hçhere Variante im Sinne eines „carattere mediocre“ darstellt, whrend das freiere neue Madrigal aufgrund der Gegenwart von Kurzversen mehr fr „materie umili“ geeignet ist: Ma per le materie umili e per l’umili diciture assai convenevole la forma de’ madrigali, e fra’ madrigali quelli ancora sono pi convenienti a l’umil dicitore, i quali veggiamo ripieni d’eptasillabi, o regolari o irregolari ch’elli siano: percioch quelli altri che sono stati tenuti dal Petrarca in assai artificiose testure de’ versi endecasillabi, potrebbono ad alcuno parer del carattere mediocre, quantunque da alcuni siano dette ballate.808

Man beachte, wie bei Tasso der Gedanke von Schulz-Buschhaus, die Entwicklung des neueren Madrigals stehe im Zusammenhang mit gattungspoetologischer Unsicherheit hinsichtlich der Grenze zwischen Madrigal und Ballata, Nahrung auf der Ebene der Gattungstheorie erhlt; allerdings hier insofern umgekehrt, als nicht die Verwischung der Umrisse der Ballata die Innovation des neueren Madrigals erklrt, sondern eher (nach Tassos Beobachtung) das nicht mehr verstandene ltere Madrigal mit der Ballata verwechselt wird. Einige weitere Details der Metrik sollen nun abschließend noch kurz anhand von Filippo Massinis ausfhrlicher ‘lezione’ Del Madrigale von 1588 gewrdigt werden, die als einzige selbststndige Schrift ausschließlich und umfassend das Madrigal darstellt. Eine Frage, hinsichtlich derer sich Massini mit Bembo, Minturno und Ruscelli auseinandersetzt, ist diejenige von Freiheit oder Regelgebundenheit der Gesamtzahl der Verse eines Madrigals. Er nimmt dabei eine Mittelposition zwischen der Auffassung Minturnos (8 – 11 Verse) und der Einschtzung Bembos ein, derzufolge das 807 Vgl. Ruscelli 1605, 56r–v (hier wird mit der alten Form sogar der ansonsten auch bei Ruscelli hoch geschtzte Petrarca abgewertet); Stigliani 1683, 205. 808 Tasso 1958, 635.

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Madrigal unter die freien Formen einzuordnen ist: Eine Beschrnkung der Lnge sei im Hinblick auf die Spezifik der Gattung sinnvoll, aber eine feste Zahl kçnne man kaum angeben; bis zu 21 Verse habe er in zeitgençssischen Madrigalen gezhlt.809 Dass Petrarca und Sacchetti ber die Zahl von 10 oder 11 nicht hinausgegangen sind, liege nicht an metrischer Selbstbindung, sondern daran, dass die je behandelten ‘concetti’ eben keinen lngeren Text erfordert htten.810 Damit befindet er sich klar in einer ‘modernen’ Argumentation gegen die Autoritten. Aber Massini will seine Beobachtungen an zeitgençssischer Praxis immer auch durch die Tradition legitimieren, und so fhrt er sofort Beispiele fr lngere Madrigale aus der lteren Literatur an, darunter allerdings nur ein Trecento-Madrigal (Qual pi dolce pensiero von Buonaccorso di Montemagno), ansonsten berwiegend isolierte Canzonenstrophen, die aufgrund ihrer unregelmßigen Mischung von Elf- und Siebensilblern in der Optik des Cinquecento als Madrigale erscheinen.811 Massini betrachtet also nicht nur (wie zahlreiche seiner Kollegen) die Madrigale des Trecento und des Cinquecento als Varianten der gleichen Form, sondern projiziert außerdem noch die Spielart des sechzehnten Jahrhunderts zurck in die ra Petrarcas. Dadurch gelingt ihm die Erstellung eines Textcorpus, das ihm die Vorgeschichte des Madrigals dokumentieren kann – allerdings aus heutiger Sicht um den Preis einer Umdeklaration metrischer Zuordnungen. Seine Obergrenze von 20 bis 21 Versen begrndet Massini denn auch aus der Praxis der Canzonenstrophe.812 Eine Untergrenze sieht er bei sieben Versen, in Fllen, in welchen das Madrigal „materie argute, & ingegnose“ behandle, sei sie bis auf fnf Verse absenkbar.813 Dadurch tritt eine Variante des Madrigals in den Blick, die Schulz-Buschhaus (neben der bei Massini ebenfalls prsenten ‘melischen’) fr eine der grundlegenden Mçglichkeiten des Madrigals im sechzehnten Jahrhundert hlt: das epigrammatisch zu809 Vgl. Massini 1588, 156 – 158. 810 Vgl. Massini 1588, 160. 811 Vgl. Massini 1588, 160 f. Die Texte im einzelnen: Cavalcanti: Poiche di doglia cor convien und Se m’hai del tutto obliato, Cino: Io piango [sic, gemeint wohl: prego], donna mia. Darber hinaus fhrt Massini mindestens ein Sonett hier als angebliches Madrigal an (Dante: S lungamente m’ha tenuto Amore; evtl. muss auch der hier erwhnte sehr irregulre Text von Buonaccorso, Inclita maest, als eine Art Sonett betrachtet werden). 812 Klassische und zeitgençssische Canzonenstrophen seien nie lnger als 20 Verse, selbst die „pi gravi“ wie Petrarcas Nel dolce tempo nicht (Massini 1588, 176). 813 Massini 1588, 177.

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gespitzte Madrigal. Charakteristisch ist freilich, dass Massini an anderer Stelle die generelle Forderung erhebt, jedes Madrigal solle mçglichst ein „concetto raro, & ingegnoso“ haben.814 Das Rare und Scharfsinnige, das epigrammatisch Zugespitzte, in spterem Sinn: das ‘Konzeptçse’, beginnt sich aus der Partikularitt einer Spielart in Richtung auf die Gesamtgattung zu verallgemeinern. Dieser Prozess der ‘konzeptistischen Gattungsnivellierung’ wird um 1600 bekanntlich alle Dichtungsformen erfassen.815 Was die Reimordnung angeht, so orientiert sich Massini einerseits an Bembo, andererseits an der Praxis der Canzonenstrophe. Daher empfiehlt er nicht mehr als fnf Reime (von denen keiner mehr als dreimal verwendet werden soll) und eine Waise.816 Das Madrigal soll sich von der stilistisch niedriger gestellten Frottola dadurch unterscheiden, dass es auf durchgehenden Paarreim verzichtet. Den ‘verso rotto’ schtzt Massini ebenso wie Tasso als stilistisch niedrigeren Vers ein; er soll wegen seiner „poca gratia“ jedenfalls nicht das ganze Gedicht beherrschen.817 Je hçher das Thema, desto grçßer sollte der Anteil an Elfsilblern sein. Die Lnge des Madrigals scheint bei Massini in direkter Proportion zur Hçhe der Thematik zu stehen, so dass die Hçchstgrenze von 20 Versen nur bei Madrigalen mit hoher Thematik erreicht wird (zu diesen unten). „Materia pi piacevole“ ist dagegen kurz abzuhandeln, eventuell auch mit oxytonalen Versenden (‘tronchi’), whrend eine von Massini ebenfalls theoretisierte Mischform aus dem Anmutigen und dem Erhabenen (mit „materia piacevole e grave igualmente“) eine Idealzahl von 11 bis 13 Versen aufweist, und zwar hinsichtlich der Verslnge als Mischung von „versi rotti con gl’ interi“.818 Insgesamt versucht Massini, innovative Entwicklungen der Form wie die Zunahme des Umfangs oder die (unten noch zu diskutierende) Entwicklung einer ‘hohen’ Variante des Madrigals unter Verdrngung der Diachronie als Varianten eines quasi synchronen Mçglichkeitsspektrums zu normieren. Dies ist eine logische Folge einer Poetik, die immer noch hauptschlich als Ausfaltung der Konstanten von Petrarcas Dichten verstanden wird; Innovation muss in einem solchen Bezugsrahmen immer als Variation oder Steigerung innerhalb eines festen Rahmens betrachtet werden. 814 Massini 1588, 181. 815 So die These von Schulz-Buschhaus 1981. 816 Vgl. Massini 1588, 174 – 176. Daraus ergibt sich freilich eine Lnge von maximal 16, nicht 21 Versen (vgl. oben). 817 Massini 1588, 180. 818 Massini 1588, 181.

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Der Preis, den Massini dafr zahlt, ist, dass er jede historische Besonderheit auch systematisch aus traditionellen Vorgaben erklren muss. So auch die horazische Ode bei Bernardo Tasso und Bembo, die (wohl weil Petrarca sie nicht kennt), nicht unter diesem Begriff behandelt werden kann, sondern ebenfalls unter die Madrigale fallen soll. Die kleinen Oden aus den Asolani (Io vissi pargoletta) erklrt er zu isometrischen Madrigalen,819 deren offensichtlich strophische Form er offenbar nicht fr gattungsrelevant hlt. Von zwei als Madrigale eingestuften vereinzelten Canzonenstrophen Cinos da Pistoia heißt es gar, sie seien „per accidente regolati“.820 Massinis Versuch, sowohl die horazische Ode als auch eine besonders symmetrische vereinzelte Canzonenstrophe als Sonderflle des strukturell freien Cinquecento-Madrigals zu erklren, zwingt ihn, die reale strophische bzw. stollige Symmetrie beider Formen als besondere Variationen innerhalb einer an sich asymmetrischen Form anzusetzen. Das Cinquecento entwickelt mithin eine metrische Theorie, die diachronische Vernderungen wie die vom Tre- zum Cinquecento-Madrigal tendenziell als freie Realisierungsvarianten innerhalb eines berzeitlich gltigen Systems erklrt. Dem nahe liegenden Einwand, dass es fr die Haltbarkeit dieser Theorie doch auch frhere Zeugnisse der cinquecentesken Variante geben msse, wird etwa bei Massini durch Umdeklarierung von Exemplaren anderer Gattungen zu Madrigalen Rechnung getragen. So ist Literaturgeschichte weitgehend nur die Ausfaltung von Mçglichkeiten, welche in den Schriften der Klassiker bereits beschlossen sind. Madrigal: Thematik und stilistische Qualit t. Das anfangs erwhnte Ringen um eine Eingrenzung des Madrigals auf eine bestimmte Eigenart oder aber eine Entgrenzung der Gattung ist in der Lyriktheorie des Cinquecento vor allem auf dem Gebiet der Res-Verba-Relation zu beobachten. Einigkeit 819 Vgl. Massini 1588, 183. Es handelt sich um die Oden Io vissi pargoletta in festa e ’n gioco, Io vissi pargoletta in doglia, e ’n pianto, Quand’io penso al martire aus den Asolani, außerdem aus den Rime rifiutate: Amor perch m’insegni und Amor, d’ogni mia pena. Nicht erwhnt wird in diesem Zusammenhang das auf die beiden erstgenannten Strophenlieder in den Asolani unmittelbar folgende innovative Cinquecento-Madrigal Bembos, Amor, la tua virtute, das in der Rahmenhandlung ja die vorgenannten Formen bertrumpft. Vgl. hierzu auch Mehltretter 2011. 820 Massini 1588, 183. Cino: Deh, piacciavi donare al mio cor vita und: Io piango [wohl: prego] donna mia. Allerdings sind beide Texte im Gegensatz zu Massinis Behauptung nicht vollkommen symmetrisch, sondern bestehen aus je einem Aufgesang zu zwei vierversigen ‘piedi’ und einem Abgesang aus zwei nur dreiversigen ‘volte’.

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scheint bei denjenigen, die sich zu der Frage ußern, darin zu bestehen, dass das Madrigal tendenziell eine Qualitt der Anmut und Leichtigkeit besitzen soll und kurz ist. Giulio del Bene fasst 1574 von dieser Definition her sogar einen antiken Odendichter wie Anakreon, der anmutige und leichtgewichtige Verse schrieb, als eine Art Vorlufer der modernen Madrigalisten: „Anacreon […] che noi per la brevit delle sue composizioni e per la dolcezza delle parole e per la piccolezza del verso possiamo, e per i concetti, assimigliarlo a quelli de’ nostri moderni che scrivono i madrigali.“821 Das Madrigal ist also ‘anakreontisch’. Antonio Sebastiano Minturno nennt es „vaga compositionetta di parole“; fr ihn ist es eher einem pastoralen Epigramm vergleichbar, hat aber „pi del vago e del piacevole“ als dieses.822 Filippo Massini nennt es „pi picciolo, e debol Poema (avengache vaghissimo, e leggiadrissimo) della Poesia Toscana“823 und spricht von „gratia“,824 „vaghezza“, „dolcezza“ und „armonia“.825 Allerdings mssen hier bereits Einschrnkungen vorgenommen werden: Zwar gelten diese Qualitten nach Massini weitgehend fr das Madrigal schlechthin. Er beobachtet jedoch in der dichterischen Praxis des Madrigals (wie in derjenigen der als noch leichtgewichtiger eingeschtzten Ballata) ein immer hufigeres Auftreten von schweren, ernsten Themen und einer dementsprechenden Form. Es gibt deshalb bei den Madrigalen neben den „pi piacevoli“, die im Besonderen durch „la gratia, la soavit, la vaghezza, la dolcezza, gli scherzi, e i giochi“ gekennzeichnet sind, auch „Madrigali pi gravi“, die „l’honest, la dignit, la maest, la magnificenza, la grandezza“ aufweisen.826 Diese ‘hohe’ Variante des Madrigals ist nun auf zwei Arten erklrbar: entweder als neue Errungenschaft – oder aber als schon lange im Mçglichkeitsspektrum des Madrigals angelegte Option. Nach Lodovico Dolces Auffassung ist sie Innovation (ebenso wie die Verwendung von ‘settenarii’): Neuere Autoren htten sich von der anfnglich vorherrschenden pastoralen Materie entfernt und sogar philosophische Themen eingefhrt.827 Massini optiert fr die gegenteilige Ansicht. Fr ihn ist die in seiner Gegenwart zu beobachtende stilistische und thematische Anhebung des Madrigals zwar 821 822 823 824 825 826 827

Del Bene [1574] 1972, 199. Minturno [1564] 1971, 261. Massini 1588, 155. Massini 1588, 180. Massini 1588, 181. Massini 1588, 181. Dolce 1550, 106v.

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einerseits eine auffllige ‘moderne’ Tendenz. Andererseits ist sie seiner Ansicht nach aber bereits bei Petrarca zu finden und stellt insofern eine schon lange existente Option der Gattung dar, die es lediglich zu entwickeln galt. Dies muss auch so sein, denn fr Massini sind die gegenwrtigen Mçglichkeiten, und seien es Innovationen, immer – wie es im Horizont der cinquecentesken Imitatio-Poetik auch nicht verwundert – von Petrarca, teils auch von dessen stilnovistischen Vorgngern her gedacht. Massini versucht dementsprechend, die zur ‘gravit’ tendierende Variante des Madrigals im Petrarkischen Textcorpus aufzuweisen – eine Aufgabe, die sich fr Lodovico Dolce (gegen den Massini hier polemisiert) nicht stellte, weil er Petrarcas Madrigale als weitgehend pastoral und damit different von der Praxis seiner Zeitgenossen einschtzte. Mit Bernardino Tomitano betrachtet Massini insbesondere Petrarcas Madrigal Perch’al viso d’Amor portava insegna (RVF 54) als „gravissimo“.828 Dabei betont er wiederum polemisch gegen Minturno, dass das Madrigal grundstzlich nicht auf eine bukolische Thematik festgelegt sei und deshalb eben hinsichtlich ‘res’ und ‘verba’ auch zu Hçherem aufsteigen kçnne. Massini meint nun, zu Bembo zurckkehrend, die Annahme einer pastoralen Natur des Madrigals gelte allenfalls – wenn berhaupt – fr ein mit Petrarcas Ausprgung der Gattung nicht identisches „madrigale antico“.829 Bereits Petrarcas Praxis weiche, so Massini, davon ab, und insbesondere RVF 54 kçnne wohl niemand als „rustichetto,  boscareccio“ bezeichnen.830 Diese Argumentation fhrt Massini in zwei Schwierigkeiten: Erstens muss er, wie es aus heutiger Sicht ja auch plausibel ist, eine Madrigalform vor der Zeit Petrarcas annehmen (fr die er jedoch keine Belege hat), um zeigen zu kçnnen, dass der von Bembo berichtete Ursprung des Madrigals eben gerade nicht die autoritativen Texte der Gattung mit einschließt (wir haben im Zusammenhang mit der Metrik ja bereits gesehen, wie Massini eine solche Vorgeschichte des Madrigals konstruiert). Zweitens aber muss er das Madrigal grundstzlich aus seiner anfnglichen Festlegung auf niedere bis mittlere Gegenstnde und Stilverfahren lçsen. Wenn es nmlich neben dem leichtgewichtigen auch ein schweres Madrigal geben soll und dieses sogar besonders prominent wird, dann unterluft diese Feststellung 828 Massini 1588, 170. 829 Bembo [1525] 2001, 77; bei Massini 1588, 165. In der Tat schreibt Bembo hier dominant in Vergangenheitstempora und erklrt die Etymologie, nicht die gegenwrtige Poetik des Madrigals. 830 Massini 1588, 167.

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Massinis am Anfang seiner ‘lezione’ getroffene allgemeingltige Charakterisierung des Genres als ‘debole’ und ‘vaghissimo’. Indem Massini behauptet, Petrarcas und Bembos Madrigale seien eigentlich nie ‘lndlich’, sondern tendenziell eher ‘schwer’,831 entzieht er seiner anderwrts verfolgten Strategie, die Gattung mit einer bestimmten sthetischen Qualitt der Grazie auszustatten, den Boden. Nun kann man hinsichtlich der vier gattungsfundierenden Texte Petrarcas auch anderer Meinung sein, wie man etwa an Dolces Lektre der vier Petrarca-Texte sehen kann.832 Massinis Einschtzung scheint eher dem erwhnten Bemhen geschuldet, die Legitimitt gegenwrtiger Praxis aus der Autoritt der Ursprnge im Trecento abzuleiten. Massini versucht also, durch Berufung auf die Klassiker die ‘schwere’ Variante des Madrigals neben der ‘leichten’ zu autorisieren; dabei gibt er freilich ein Stck weit letztere und damit seine eigene Einschtzung der sthetischen Spezifik der Gattung preis, scheint doch die anmutige Spielart angesichts seiner Beispiele kaum noch von der Autoritt insbesondere Petrarcas gedeckt. Besonders interessant aber ist nun die dritte Variante des Madrigals, die Massini anfhrt: Er beobachtet nmlich zustzlich auch eine gemischte Variante aus ‘grave’ und ‘piacevole’, die die ungemischten Ausgangsprodukte voraussetzt. Zu dieser gemischten Variante sind nun einige Bemerkungen nçtig. Die Begriffe ‘gravit’ und ‘piacevolezza’ bezeichnen seit Bembo nicht mehr nur verschiedene Stilregister, sondern auch die beiden Pole einer innerhalb eines gattungsspezifischen Stilspektrums (insbesondere der Lyrik) geforderten ‘varietas’.833 Massinis dritte Form des Madrigals hnelt also auffallend dem, was nach Bembo ein generelles Charakteristikum guter Dichtung ist. Tomitano 1545 spricht etwa von „la grandezza […] ratemperata con la humilta“, wodurch eine „mescolatura perfetta, & un condimento soave“ entstehen solle.834 Aber Massini betrachtet diese Mischung offenbar als erwhnenswerte Besonderheit. Dies deutet darauf hin, dass das Madrigal sich in Massinis Theorie (und wohl auch in den von ihm ausgewerteten Texten) bereits so weit aufgespalten hat in eine niedrige und 831 So seien diejenigen Bembos etwa „gravissimi, & artificiosissimi, non boscarecci“ (Massini 1588, 165). 832 Dolce 1550 bemerkt immerhin, dass alle vier Texte semantische Elemente des Lndlichen enthalten, seien dies „herba, o acque, o cose, che a ville e a soletari luoghi si appartengono“ (Dolce 1550, 106r). 833 Vgl. Bembo [1525] 2001, 71. Vgl. hierzu Regn 2006; dort auch der Hinweis auf Cicero, Orator 54.182. 834 Tomitano 1545, 409.

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insbesondere eine dezidiert hohe Variante, dass nun die bembistische Mischung des Anmutigen mit dem Erhabenen nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme, ja: die besondere Synthese darstellt. Neben diesen aus dem Corpus der Madrigaldichtung extrapolierten Argumenten fhrt Massini noch zwei aus der Lektre antiker Dichtung und Theorie gewonnene Grnde dafr an, dass das Madrigal nicht exklusiv an den niederen oder mittleren Stil gebunden sei: Erstens gelte auch fr antike Gattungen wie Epigramm, Ode und Elegie keine derartige Festlegung; auch sie seien hinsichtlich ‘res’ und ‘verba’ frei. Zweitens aber sei Dichtung, wie man bei Aristoteles lesen kçnne, ohnehin nicht durch „la qualit del verso“ bestimmt, sondern durch die „qualit della favola, e del concetto, che s’imprende a scrivere“.835 Die Art der ‘favola’ oder des ‘concetto’, also der Inhalt („il soggetto“), bestimme dann, wie Massini in Rekurs auf die Aptumslehre hinzusetzt, wiederum die Stilhçhe.836 Damit ist scheinbar bewiesen, dass nicht dem Madrigal als Gattung ein bestimmter Stil zugewiesen ist, sondern nur dessen je gewhlten Themen. Was aber ist die „qualit della favola“ eines Madrigals? Auf diese Frage bleibt Massini eine Antwort schuldig, nicht zuletzt deshalb, weil bekanntlich ußerst strittig ist, ob Lyrik eine Handlung und also eine ‘favola’ (vgl. ‘mythos’) nachahmt (gerade das Madrigal galt vielen Theoretikern in diesem Sinne als besonders wenig mimetisch)837 – aber auch, weil eine Festlegung bestimmter Inhaltstypen seinem Vorhaben, letztlich alle Arten von ‘res’ fr das Madrigal zuzulassen, wiederum entgegenstnde. Das scheinbar aristotelische Argument wird also eher als apologetische oder rhetorische Geste gebraucht. Und doch bringt Massini etwas spter noch eine weitere berlegung an, die nun eine im System des Aristoteles 835 Massini 1588, 169. Dies ist wohl mehr ein aristotelisierender Gestus als eine wirklich aristotelische Argumentation, kçnnte aber wohlwollend interpretiert auf Folgendes hinaus laufen: Aristoteles bindet die Dichtung im 1. Kapitel seiner Poetik bekanntlich nicht an die Versform, sondern an die Nachahmung; nachgeahmt wird ein ‘mythos’, was im Italienischen gerne mit ‘favola’ bersetzt wird; Aristoteles definiert Tragçdie und Komçdie teils durch Elemente dieses ‘mythos’ (etwa Arten von Handlungen): Also definiert er Gattungen bis zu einem gewissen Grad ber die Art der ‘favola’ (und außerdem natrlich ber ihre Wirkung; dies nimmt Massini ebenfalls auf – s.u.). 836 Vgl. Massini 1588, 169. Diese Gleichsetzung von ‘concetto’ und ‘favola’ ist typisch fr das Cinquecento. 837 Croce 1946, 109 f. nennt besonders Filippo Sassetti und Antonio Degli Albizzi als Skeptiker hinsichtlich der mimetischen Qualitt des Madrigals. Zu diesem Problem allgemein vgl. oben Kap. 2 allg., v. a. Kap. 2.1, aber auch Regn 1987 und Chevrolet 2007, 445 – 481.

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besonders wichtige Gattungsdifferenz in Anschlag bringt: die Wirkung bestimmter Genres, wie sie Aristoteles bei seinen Ausfhrungen zum Epos, vor allem aber zur Tragçdie beschreibt. In dieser neuen Optik erscheint fr Massini die ‘dolcezza’des Madrigals nicht mehr als Stileigenschaft, sondern vorzglich als die berraschende und ‘meraviglia’ hervorrufende Wirkung just der aus Anmut und Gravitas gemischten Variante. Hier soll nmlich aus der Kombination des Schweren mit dem Geflligen „sorgere un concento, & un’armonia soavissima, che empisse di maravigliosa dolcezza chi gli ascoltasse“.838 Was im bembistischen Klassizismus die Norm war, wird angesichts des Auseinandertretens des hohen und des schlichten Madrigals zur spezifischen ‘meraviglia’ der aus beidem gemischten Form. Dabei werden musikalische Termini wie ‘concento’ und ‘armonia’, die die mediale Erscheinungsweise der Madrigaltexte (nmlich als Musik) betreffen, auf die Ebene des Stils projiziert. Sie werden zu metaphorischen Garanten einer Einheit, die in Wirklichkeit gerade zu zerfallen beginnt. In Massinis argumentativem Mançver mit der Wirkungssthetik verbirgt sich darber hinaus bereits ein mçglicher Ansatzpunkt fr die Poetik des Barock: Der Ausdruck „maravigliosa dolcezza“ kndigt eine sthetik des Staunens an, die in der Tat sinnliche (‘dolcezza’) und intellektuelle (‘meraviglia’) berraschungen verbindet. Zur Ballata. Girolamo Muzios Verspoetik von 1551 denkt die Lyrik (die fr ihn bislang die hçchste Errungenschaft italienischer Dichtung ist) von der Ballata her: […] I buoni padri antichi, Render volendo onore al primo mastro De l’universo […] Cotal concento a tal fine ordinaro, Perch col destro regolato moto De le piante l’uom tutto si movesse, E la lingua cantando i be’ concetti De l’alme nostre, quelle in dolci giri Degli intelletti lor battesser l’ali; […] E perch ’l movimento in maggior pregio Fosse del Creator, quel fu ordinato A la sembianza del corso dei cieli.839 838 Massini 1588, 181. 839 Muzio [1551] 1970, 176.

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Die Verbindung von dichterischem Wort, Musik und Tanz bringt den Menschen, seine Seele, seinen Geist und seinen Leib, in einen Gleichschwung mit dem Tanz der Gestirne und mithin dem Kosmos im Sinne einer pythagoreisch-mittelalterlichen Musica-Konzeption.840 Auch Minturno zentriert in hnlicher Weise die Lyrik auf die Ballata, und zwar indem er eine direkte Kontinuitt zwischen der antiken getanzten Chorlyrik und der toskanischen Ballata annimmt. Er setzt sogar die drei Komponenten der pindarischen Ode – Strophe, Antistrophe und Epode – mit den auf Tanz, Gegentanz und Stehenbleiben bezogenen Teilen der Ballata – Volta, Rivolta und Stanza – quivalent. Die Ballata ist als Verbindung von Dichtung, Musik und Tanz die historisch und logisch vorgeordnete Form der ‘melischen Poesie’ in seinem System, sie garantiert die quivalenz antiker und moderner lyrischer Genera und in gewisser Weise auch die Dignitt der modernen Formen; außerdem ist sie von grundlegender Bedeutung fr Minturnos systematische Unterscheidung zwischen melischer, heroischer und szenischer Poesie. Durch den Wegfall des Tanzes entstehen dann nach Minturno die abgeleiteten Formen der Canzone und des Sonetts.841 Die besondere Hochschtzung der Ballata bei diesen beiden Autoren ist jedoch, wie wir gleich sehen werden, im Cinquecento eher der Ausnahmefall. Der Bau der Ballata wird bereits von Francesco da Barberino beschrieben als eine Variante der Canzonenstrophe (‘stancia’) aus Piedi und Volta, aber mit zustzlichem Refrain, der die gleiche Musik hat wie die Volta („responsum concordet cum volta“). Die Ballata beginnt mit der Ripresa, dann folgt die ‘stancia’. Ihr Aufgesang besteht aus zwei bis drei ‘pedes’, die in spterer Terminologie (etwa bei Gidino da Sommacampagna) ‘mutazioni’ heißen, und zwar weil sie musikalisch anders vertont sind als Volta und Ripresa; die beiden ‘mutazioni’ teilen jedoch untereinander die gleiche Musik. Dann folgt die Volta, wie gesagt mit der Musik der Ripresa, danach wieder die Ripresa.842 Logische Folge davon ist die metrische Gleichheit von Ripresa und Volta, einschließlich der gleichen Reime. Die ‘piedi’ kçnnen hingegen andere Reime haben. Wie bei der Canzone kçnnen Elf- und Siebensilbler gemischt werden. Der Umstand, dass die Ripresa vor und nach einem Abschnitt erklingt, der metrisch von ihr verschieden ist (eben der Stanza), wird brigens von Minturno mit einem eigenen Terminus bedacht, der darauf zielt, die Ballata wiederum 840 Vgl. hierzu Kap. 4. 841 Vgl. Minturno [1564] 1971, 170 f. und 178. 842 Vgl. Gidino da Sommacampagna 1870, 71; Da Tempo 1977, 49.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

mit antiken Vorbildern zusammenzubringen: Er nennt die regulren Ballate „Canzoni […] mesodiche“, weil das metrisch Andere inmitten zweier metrisch gleicher Teile steht.843 Interessant sind bei der Theorie der Ballata die Nomenklaturunterschiede. Nach der Lnge der Ripresa unterscheidet Da Tempo ‘magnae’ (4 Verse, davon hçchstens ein ‘settenario’), ‘mediae’ (3 Verse), ‘minores’ (2 Verse), ‘minimae’ (1 Vers); diese Terminologie wird von Trissino zitiert.844 Bembo nennt mehrstrophige Ballate „vestite“845 im Gegensatz zur Nacktheit einstrophiger Ballate (dies beruht eventuell auf einem Missverstndnis der ursprnglichen Bedeutung von ‘vestita’ oder doch auf einer historischen Bedeutungsverschiebung846). Darin folgt ihm Dolce, der aber bereits ein Stck Theoriegeschichte schreibt, wenn er nmlich den aus Da Tempos Begriff ‘ballatae magnae’ gewonnenen Terminus ‘ballate grandi’ mit Bembos Ausdruck ‘ballate vestite’ quivalent setzt und zugleich den historischen Nomenklaturunterschied thematisiert.847 Minturno hingegen gebraucht den Gegenbegriff zu ‘vestita’, die Bezeichnung ‘ignuda’, fr eine Ballata, bei der Ripresa, Mutazione und Volta jeweils nur einen Vers lang sind.848 Trissino bezeichnet mehrstrophige Ballate nicht wie Bembo als „vestite“, sondern als „replicate“ (ein Bewusstsein davon zeigend, dass mehrere Strophen ja auch die Wiederholung der Musik erfordern) und bezieht sich zugleich auf eine bisher von der Forschung nicht identifizierte Formulierung Guittones von Arezzo, der sie angeblich „spingate“ nennt.849 Hufig werden in der theoretischen Literatur Varianten inventarisiert. So behandelt Trissino als Sonderformen auch Ballate mit zwei Volte und mit drei Mutazioni.850 Dolce vergleicht Boccaccios mehrstrophige Ballate an den Enden der ‘giornate’des Decameron mit den mehrstrophigen Ballate Petrarcas: Wo Boccaccio die Reimentsprechung zwischen Ende der Ripresa („fronte“) und Ende der Stanza in jeder Strophe beachtet, setzt Petrarca sie 843 Minturno [1564] 1971, 181. 844 Da Tempo 1977, 50; vgl. Trissino [1529] 1970, 107 – 115 und Gidino da Sommacampagna 1870, 72 f.: ‘ballate grande’, ‘mezane’, ‘menore’, ‘pizole’, ‘minime’. 845 Bembo [1525] 2001, 78. 846 Abramov-van Rijk 2009, 62 macht darauf aufmerksam, dass im 14. Jahrhundert der Unterschied ‘nuda’ – ‘vestita’ bei einer Ballata oder Canzone den Status ‘noch unvertont’ vs. ‘bereits mit einer Melodie versehen’ meint. 847 Dolce 1550, 107v. 848 Vgl. Minturno [1564] 1971, 259. 849 Trissino [1529] 1970, 116. 850 Trissino [1529] 1970, 118 – 121.

3.4 Madrigal und Ballata

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nur bei der letzten Stanze ein.851 Einen hnlichen Unterschied beobachtet Minturno zwischen Dante und Cino da Pistoia.852 Insgesamt ist zu beobachten, dass vor allem Dolce versucht, historische Unterschiede herauszuarbeiten und sie im Gegensatz etwa zu Massini nicht zugunsten einer Kontinuittsannahme zwischen Trecento und Cinquecento verwischt. Wie schon angedeutet, sind Muzios und Minturnos Theorien hinsichtlich der Dignitt der Ballata im sechzehnten Jahrhundert eher randstndig, wenngleich sie Anteil an einer durchaus wichtigen, aber eben meist nicht auf diese Konsequenz hin ausgearbeiteten Theorietradition haben, die die Lyrik generell als inspirierte Musica zentral stellt (vgl. Kap. 4). Vor allem die Verbindung dieser Art von Ursprungshypothese mit der zeitgençssischen Ballata muss misslingen, denn Minturno geht ebenso wie Muzio von zu seiner Zeit bereits nicht mehr gltigen Auffhrungspraxen aus. Oben wurde schon aufgewiesen, dass die trecenteske viergliedrige mediale Differenz zwischen dem Sonett, das keine eigene Musik hat, wenngleich Sonette vor allem improvisierend gesungen werden kçnnen, der Canzone, die monophone Musik mit sich trgt, dem Madrigal mit seiner polyphonen Musik und der Ballata, die monophone Musik mit Tanz verbindet, im Laufe der Zeit zu einer zweigliedrigen umgebaut wird: Im sechzehnten Jahrhundert ist die Canzone (wie das Sonett) nicht mehr musikalisch gedacht (Einzelstrophen davon kçnnen freilich wie auch Sonette in Angleichung an das Madrigal vertont werden), die Ballata wird nicht mehr getanzt, und Ballata und Madrigal kçnnen gleichermaßen polyphon vertont werden, wenngleich dies bei der Ballata nur noch selten geschieht. Madrigal und Ballata werden also in einem neuen bipolaren System medial quivalent, ebenso wie auf der entgegengesetzten Seite des Systems Sonett und Canzone. Neben diese mediale quivalenz tritt eine metrische Verwischung: Die Unterscheidung zwischen den beiden wird, wie oben gezeigt, dadurch verunklart, dass im Laufe des Jahrhunderts (in dem Maße, in dem Bembo und seine poetologische Schule den Traktat von Da Tempo verdrngen) sowohl das Trecento-Madrigal als auch die Ballata immer weniger von allen Diskursteilnehmern gleichermaßen durchschaut werden: In der Praxis der Ballata ist im sechzehnten Jahrhundert eine Reduktion der Binnengliederung und sogar der Unterscheidung von Strophe und Refrain zu be-

851 Dolce 1550, 107v–108r. 852 Vgl. Minturno [1564] 1971, 261.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

obachten, die potenziell zu einer Aufweichung der Grenze zum Madrigal fhrt.853 In der Tat wird die Ballata im Cinquecento meist als das leichtgewichtigere Geschwister des Madrigals betrachtet; Ruscelli betont, ihr Stil sei im Allgemeinen „umilissimo, & conforme di dir comuni, & veramente domestiche, & donnesche“.854 Nach Minturno ist die Ballata inhaltlich auf die Liebe festgelegt.855 Massini schließlich bespricht die Ballata im Zusammenhang mit dem Madrigal als „pi piacevole“ unter allen Gedichtformen, also gewissermaßen eine Steigerung der Anmut des Madrigals. Aber wie dieses kann auch die Ballata aus dem dadurch umgrenzten Bereich heraustreten und schwerere Themen behandeln – vor allem, weil sie eben nicht mehr getanzt wird! Im Gegensatz zu Muzio und Minturno sieht Massini den Tanz also nicht als Verbindung zum Rhythmus des Kosmos, sondern als leichte Unterhaltung, die die Natur der Ballata ursprnglich prgte, deren Wegfall aber nun den Weg zu einer stilistischen Anhebung frei macht.856 Die Ambivalenz zwischen Eingrenzung und Entgrenzung, die auch die Theorie des Madrigals kennzeichnete, kehrt also hier wieder und betrifft am Ende (nicht nur hinsichtlich der Metrik) sogar den Unterschied zwischen Ballata und Madrigal. In der Tat wird das Madrigal die Ballata an der Wende zum siebzehnten Jahrhundert weitgehend in sich aufsaugen.

853 Vgl. Bausi / Martelli 1993, 162 f. 854 Ruscelli 1605, 60r. Auch Ruscelli kennt eine gehobene Variante, die dem Epigramm oder der kleinen horazischen Ode quivalent sei: vgl. ebd. 80. Minturno [1564] 1971, 247 definiert die Ballata ebenfalls als besonders anmutig, setzt sie aber vor allem zur Canzone in Beziehung. Seine Definition der Ballata ist geradezu eine abgesenkte Variante seiner Beschreibung der Canzone: „vaga, e piacevole compositione di parole, con harmonia sotto certo numero, e sotto certa misura tessute, et ordinate; et atta al canto, et al ballo; e divisa in parti ad un sentimento dilettevole indirizzate; e sotto certo canto, e sotto certo ordine limitata.“ 855 Vgl. Minturno [1564] 1971, 247. 856 Vgl. Massini 1588, 169, wo als Beispiel fr eine Ballata mit gehobenem Thema und Stil Bembos Signor quella piet angefhrt wird.

3.5 Elegie und affine Formen

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3.5 Elegie und affine Formen Die Elegie, die – obgleich ursprnglich keine volkssprachlich abgesicherte Form von Lyrik – fr die Literaturpraxis und Literaturtheorie der Renaissance erhebliche Bedeutung gewonnen hat, stellt die rinascimentalen Poetologen ebenso wie die heutige Literaturwissenschaft vor das Problem, dass sie theoretisch wie praktisch kein scharfes Profil besitzt.857 Dies gilt bereits fr die antike Elegie, und die damit gegebene Problematik fr eine dichtungstheoretische Einordnung der Elegie verschrft sich aus der Perspektive einer systematisierenden Poetologie. So weist Antonio Sebastiano Minturno in De poeta vor seiner eigenen Elegiedefinition, auf die wir noch zu sprechen kommen, ausdrcklich auf die grundstzliche Unsicherheit hin, die Elegie durch die Zuweisung zu einer Makrogattung858 fest zu definieren: Quod porr genus poematum hoc sit, non facil constituas. C m alijs Melicum, propterea quod ad Tibicinem principi canebatur. Alijs Epicum, e quod persaepe rerum expositiones, praeceptionesque contineat. Alijs utroque coniunctum esse videatur.859

Whrend Minturnos ußerung bereits das Bemhen verrt, die Elegie nach den aristotelisierenden Kategorien der mimetischen Medien („ad Tibicinem […] canebatur“) bzw. des darzustellenden Gegenstands („rerum expositiones, praeceptionesque contineat“) zu klassifizieren, versucht die theoretische Diskussion um die Elegie abseits des poetologischen Aristotelismus oftmals mit der etymologischen Eingrenzung der Form einzusetzen: Verbreitet ist hier der Rekurs auf die heute bisweilen, etwas irrefhrend, als ‘falsch’ bezeichnete Etymologie, die die ‘Elegie’ von einem Klageruf (‘ l gein’) ableitet.860 An diese Etymologie schließt sich eine in der Frhen Neuzeit vielbeachtete Stelle Scaligers an, der eine Ableitung von ‘e l gein’ (i.S.v. ‘Gutes ber die Verstorbenen sagen’) verwirft und statt dessen die Verbindung zwischen ‘ leos’ und ‘ l gein’ zieht: 857 858 859 860

Vgl. De Mald 1996, 109 f. Siehe dazu die Ausfhrungen zu Minturnos Ansatz in Kap. 2.4. Minturno [1559] 1970, 406. Es ist zwar richtig, dass der Gattungsbegriff ‘Elegie’ nicht unmittelbar von ‘ l gein’, sondern von dem Begriff ‘elegeon’ abzuleiten ist, der das Verspaar des elegischen Distichons bezeichnet. Aber ‘elegeon’ ist abgeleitet von ‘ legos’ (‘Klage’), und in der bereits antiken Etymologie des ‘ l gein’ scheint gerade der Versuch auf, den Begriff ‘ legos’ plastisch mit der Semantik von ‘Trauer’ zu relationieren; vgl. Etymologicum magnum 326.48 f. (= 935 Gaisford); Suda 2.241 Nr. 774 Adler s.v. 5kecor.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Neutiquam igitur quasi eqkec¸am paq± t¹ ew k´ceim to»r tehme_tar, ut ridicule autumant grammatici, sed a miseratione 5keom k´ceim. Idcirco miserabiles appellavit elegos Horatius.861 […] Simplicius quoque etymon 3 3 k´ceim ; idem enim quod aS aS in Aelino; nam utraque interiectio frequens omnibus tragicis.862

Damit ist die ‘threnetische’ Elegie angezielt, wie sie im antiken Spektrum der Gattung neben der patriotisch-parnetischen, der gnomischen und der erotischen Elegie eine wesentliche Rolle gespielt hat863 und wie sie schon aufgrund der einschlgigen Stelle in der Ars poetica des Horaz fr die rinascimentalen Poetologen unumgnglich zu diskutieren war.864 Dieses Gattungsspektrum versucht die einschlgige Abhandlung Francesco Robortellos von 1548 (s.u.) in eine aristotelisierende Systematik einzugliedern, wenn als mimetische Formen der Reihe nach die eigentlich threnetische Elegie („lugubris elegia ac funebris“), die politisch-legislativsentenzenhafte Elegie, die kriegerisch-militrische Elegie und die moraldidaktische Elegie verhandelt werden.865 Nach einer kurzen Atempause freilich kommt Robortello auf eine weitere Form der Elegie zu sprechen, als sei sie der Bedeutung nach lediglich eine neben den vielen anderen, die er soeben behandelt hat: „Elegia postremo amoribus, querelis, ac delitiis amantium videtur destinata“.866 Die somit angesprochene Liebeselegie, die historisch gesehen bes. in der lateinischen Literatur eine deutlich herausgehobene Position im Gattungsspektrum innehatte, wird in ihrer Abgrenzung zu den anderen Ausprgungen der Elegie von der rinascimentalen Theorie als Problem gesehen. Scaliger, der im ersten seiner Poetices libri septem noch die threnetische Form als Gattungsdefiniens herangezogen 861 Scaliger spielt an auf Horaz, Carmina 1.33.2 f. „neu miserabilis / decantes elegos“. 862 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 416 (B. 1, Kap. 50). Vgl. zur Rckfhrung auf ‘ l gein’ auch Minturno [1559] 1970, 405; Correa 1571, o.S., Lage c2. 863 Vgl. Gçrner 2009, 170; ausfhrliches Material zur antiken Elegie bei Bowie / Spoth 1997. 864 Vgl. Horaz, Ars poetica 75 – 78: „Versibus inpariter iunctis querimonia primum, / post etiam inclusa est voti sententia compos; / quis tamen exiguos elegos emiserit auctor, / grammatici certant et adhuc sub iudice lis est“. Horaz schließt an die formale Definition (‘versus impariter iuncti’: elegisches Distichon) die Definition der Klage an und erçffnet theoretisch zugleich einen berschneidungsbereich zwischen epigrammatischen und elegischen Distichen. Freilich konnte sich nicht nur die Theoretisierung der threnetischen Elegie auf Horaz berufen, denn der oben schon zitierte Passus aus Carmina 1.33 spricht gerade von liebeselegischen Versen. 865 Robortello [1548] 1970, 530 – 533 (Zitat: 530). 866 Robortello [1548] 1970, 533.

3.5 Elegie und affine Formen

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hatte (s. o.), nimmt dies in seinem dritten Buch zurck. Er lsst die zuvor prsentierte Meinung fallen und definiert die Elegie nunmehr als klagendes Liebesgedicht: Quid esset elegia, suo loco dictum est. Eius materiam primum aiunt fuisse lugubrem, quod et diximus in primo. Nobis non placet, sed ab amantium commiserationibus dictam puto. Vox est tragica 1kekeO, qua ad amicarum fores usos fuisse priscos arbitror.867

Dieser Widerspruch, der den Zeitgenossen nicht verborgen blieb,868 ist ein Hinweis auf die grundstzliche Schwierigkeit, die die Dichtungstheorie der Renaissance mit der Elegie haben musste. Die Mçglichkeit, die Elegie als Trauer- und Beerdigungsgedicht aufzufassen (Scaligers Schlagwort: „Elegiam […] in funeribus primum dictam“)869, schien keineswegs problemlos vereinbar mit der Mçglichkeit, in ihr die typische Form lyrischer Liebesklage zu definieren, obgleich vielfach versucht wurde, mit historischen Entwicklungsmodellen dieser Schwierigkeit Herr zu werden.870 Tommaso 867 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 200 (B. 3, Kap. 124). Die threnetische Elegie und verwandte Formen schließt Scaliger am Ende dieses Kapitels als gewissermaßen akzidentelle Sonderflle der Grundform Liebeselegie an: „Epicedia quoque et epitaphia et epistolae hoc genere poematis recte conficiuntur“ (ebd. 202). 868 Gallus referiert in seiner Abhandlung ber die Elegie die Lehren Scaligers zusammenfassend und hlt dabei fest: „Itaque Elegia lamentatio proprie dicitur. Scaliger libro primo poetices in funeribus prius fuisse dictam, atque habitam par esse sentit […]. Verum libro tertio mutata sententia existimat elegiam ab amantium commiserationibus esse dictam“ (Gallus 1624, 90 f.). 869 Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 414 (B. 1, Kap. 50). 870 Dementsprechend sagt Scaliger nach seiner Definition der Elegie als threnetisches Genus, wegen der klagenden Sprechhaltung des Trauergedichts habe die elegische Form sp terhin auch die Liebesklage mit einbezogen: „Translatus usus postea ad longe diversissima, scilicet ad amores, non tamen sine ratione. Nam et frequens conquestio in amoribus et verissima mors, quae a nobis amentissimis amentissimo atque ingratissimo sexui vivitur“ (Scaliger 1994 – 2003, Bd. 1, 414; B. 1, Kap. 50). Dass dieser Anschluss der Liebeselegie keineswegs bruchlos vonstatten geht, signalisieren die Worte „longe diversissima“, die den Liebesstoff als etwas von der Trauerthematik grundlegend Verschiedenes bezeichnen, sowie die unvermeidliche Metaphorisierung von ‘mors’: Der Threnos beweint echte Todesflle, die Liebeselegie traurige ‘Tode’ im bertragenen Sinn. – hnlich wie Scaliger argumentiert auch Minturno: „Genus autem, in quo praecipu versabatur haec poesis, honestum erat, & ver demonstrativum, c m positum esset in funebri lamentatione, atque in laudando, qui diem obijssent. Ad res deinde leviores defluxit, c m amatoriam illam poetae amoribus, delicijsque dediti fecissent […]. Queribundum enim suapte natura c m sit amatorium genus, iure quodammodo hanc vim poeticae facultatis sibi adscivit; qum in querimonijs positam cernebat“ (Minturno [1559] 1970, 406). Derselbe Gedankengang dann auch in der Arte poetica (Minturno [1564]

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Correa lehnt demgegenber mit nicht ganz gewçhnlicher Konsequenz die Erklrung der Elegie als threnetisch ab und sttzt sich allein auf die Auffassung, Elegie sei originr amourçse Klage: Sed ego non negarim ad conquestionem, & lamenta adhibitam fuisse Elegiam, genusque illud carminis aptum fuisse ad querellas exprimendas, & commiserationes; Verum existimo non  funeribus dictam, sed ab amantium commiserationibus, quibus veteres ad amicarum fores utebantur, & quia carmen aptum est conquestionibus, quia in tres syllabas terminatur, qarum duae semper sunt breves.871

Ohne dass dies hier explizit wrde, ist doch eindeutig, dass die besondere Rolle und die besondere Schwierigkeit, die der amourçsen Elegie in der Poetologie des Cinquecento zukommt, mit der literarhistorischen Realitt volkssprachlicher wie lateinischer Dichtung der Frhen Neuzeit unmittelbar zusammenhngt. Die elegische Gattung war seit geraumer Zeit nicht nur im Lateinhumanismus, sondern auch im Italienischen experimentell erprobt worden:872 Unterschiedliche Versuche wie bspw. Boccaccios Elegia di Madonna Fiammetta („un’eroide in prosa di stretta osservanza ovidiana, da cui il titolo di ‘elegia’“)873 mndeten in die ‘Geburtsurkunde’ der lyrischen Elegie im ‘volgare’, Leon Battista Albertis Mirtia. 874 Bereits im Ausklang des Mittelalters war die Elegie außerdem mit einem klagenden lyrischen Duktus identifiziert worden,875 was frh eine intrikate Verbin-

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1971, 269 f.), wo Minturno sein Fazit so zieht: „Dapoi discese  cose pi leggiere: e per quelli, che s’erano dati  gli amori, & alle delicatezze, divenne amorosa, e lasciva […]. Percioche gli amanti, essendo di lor natura atti; e disposti  lamentarsi, par, che ragionevolmente lor propria si facessero questa Poesia, la qual posta ne’ lamenti vedeano“ (270). Correa 1571, o.S., Lage c2. Im Folgenden beruft sich Correa auf Horaz, Ars poetica 75 f., obwohl dort von der Liebeselegie, wie gesehen, gerade nicht die Rede ist. Vgl. zur zeitlich parallelen Entwicklung der lateinischen und der italienischen Elegie sowie ihren Wechselbeziehungen De Mald 1996, bes. 117 ff., 126, 130 sowie mit je unterschiedlicher Perspektivierung Tateo 1987, Santoro 1987, Villa 1987 und Rati 1987. De Mald 1996, 115. Siehe dort passim sowie Vecchi Galli 2003 zu einem berblick ber die literarhistorische Linie der Elegie im ‘volgare’. Vecchi Galli 2003, 53 – 56 diskutiert auch eingehend „il ruolo cruciale di Boccaccio nella fondazione dell’elegia in volgare“ (54). Vgl. Gorni 1972. Wie zu Beginn des Sonett-Kapitels (Kap. 3.2) angefhrt, hatte Dante in De vulgari eloquentia die Elegie mit dem ‘stilus miserorum’ identifiziert. Im Hintergrund dieser Gleichung drften als ‘elegische’ Modelle u. a. die Lamentationes Ieremiae sowie Boethius stehen, dessen erster poetischer Text der Consolatio philosophiae (elegische Distichen mit dem Incipit: „Carmina qui quondam studio florente

3.5 Elegie und affine Formen

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dung mit (formal nicht-elegischer, weil nicht distichischer) Liebeslyrik im ‘volgare’ nur noch begnstigt hatte.876 Einerseits ist bereits in Francesco Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta das Modell der lateinischen Liebeselegie wirkungsmchtig rezipiert worden, was insbesondere im Fall von Properz sich nicht auf einzelne Motive und Stileme beschrnkt, sondern makrostrukturell gilt.877 Diese Tendenz zur Einschmelzung der lateinischen Elegie in volkssprachliche Liebeslyrik, gerade auch der petrarkistischen Tradition, setzt sich in der Folge fort.878 Andererseits wirken petrarkistische Elemente stark auf die Tradition der frhneuzeitlichen Elegie, auch in ihrer lateinischen Variante, zurck:879 Ein prominenter Beispielfall ist der Zyklus Xandra von Cristoforo Landino, der in komplexer Weise intertextuelle Bezge auf Petrarca und auf Properz und die lateinische Elegietradition verwebt.880 Sachlich und zeitlich passend dazu definiert Lorenzo de’ Medici die Elegie durch stoffliche Merkmale, die weniger auf Klage als vielmehr auf liebeslyrische Thematik ganz im Allgemeinen deuten; er spricht im Comento de’ miei sonetti von „cose non solamente leggieri e vane, ma troppo molle e lascive, le quali comunemente si trovono scritte nelle latine elegie“.881 Im Cinquecento drfte die Engfhrung von petrarkistischen Gedichtformen und Rekursen auf die lateinischen Elegiker dadurch eher noch beschleunigt worden sein, dass aus der Sicht des petrarkistisch ‘orthodoxen’ Bembismus formale Experimente um die Kreation einer italienischen Entsprechung zur lateinischen Liebeselegie kaum erwnscht waren, nachdem sie die Konzentration auf das petrarkisch, d. h. an

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peregi, / flebilis heu maestos cogor inire modos“) als Berufungstext fr die ‘larmoyante’ Deutung der Elegie im Mittelalter diente; vgl. Carrai 2003. Carrai (4 f.) zitiert u. a. Passagen aus Jacopo Alighieris Chiose all’Inferno („il quarto e l’ultimo [stile chiamato] ‘eligia’, sotto ‘l quale d’alcuna miseria si tratta, s come Boezio“) und aus Nicol de’ Rossi („Elegia dicitur loquutio de miseria et consolatione, ut Boethius“). Diese Verbindung von Elegie und italienischer Liebeslyrik konnte im Cinquecento umso bestimmender in den Blick treten, als die bei Scaliger (s. o.) noch ungelçste Junktur von Liebesklage und Threnos in der humanistischen Dichtungspraxis tendenziell aufgelçst wurde, indem „die Stoffe der threnetischen Elegie von der Gattung gesondert und im Epicedium behandelt werden“ (Kemper 1997, 430; Kursivierung im Original). Vgl. Tonelli 1998 und Tonelli 2003. Vgl. zu einem illustrativen Fallbeispiel, der Lyrik des Cariteo (Benedetto Gareth), Morossi 2003; siehe ferner Vecchi Galli 2003, 52 (zu Giusto de’ Conti). Vgl. Leoncini 1999, 450 f.; Robert 2003; Robert 2004 sowie, zu den ‘elegie volgari’ Luigi Alamannis, Berra 2003. Vgl. Mller 2007 und Tonelli 2009. De’ Medici 1991, 150 f. (§ 118).

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

den Rerum vulgarium fragmenta, abzusichernde ‘imitatio’-fhige Material unterlaufen htten (man hat sogar von einem „rigido ostracismo di matrice bembesca del genere elegiaco“882 gesprochen). Ein Experiment wie die ‘volgare’-Elegien des Luigi Alamanni, die zwar gehaltlich umfangreich auf die Rerum vulgarium fragmenta rekurrieren, sich formal aber von ihnen absetzen,883 stand von daher außerhalb des bembistischen ‘mainstream’ des Cinquecento. Gerade weil die Elegie also angesichts ihrer bembistischen ‘chtung’ gewissermaßen gezwungen war, sich entweder im Gewand petrarkistisch akzeptabler Sonette usw. zu verstecken oder aber mit anderen Traditionsstrngen zu verschmelzen, weist sie ungeachtet der immer deutlicheren Betonung der ‘lamentatio amorosa’ als ihres semantischen Gattungskerns in der Dichtungspraxis sehr unscharfe Rnder auf. Entsprechend hat die Poetologie große Schwierigkeiten, ‘Elegie’ trennscharf zu definieren.884 Dies soll im Folgenden anhand der theoretischen und dichtungspraktischen Affinitten der Elegie zur Bukolik, zum Capitolo sowie (in Krze) zu einigen anderen dichterischen Untergattungen nher in den Blick genommen werden. Elegie und Bukolik. Schon in der ‘Geburtsstunde’ der ‘elegia in volgare’ werden das elegische und das bukolische Register miteinander und gleichzeitig gezogen. Die schon erwhnte Elegie Mirtia des Leon Battista Alberti ist eine Antwort auf die ‘capitolo’-artige, in ‘terza rima’ gehaltene Dichtung Udite monti alpestri li miei versi von Giusto de’ Conti. Beide Autoren, Alberti wie Giusto, formulieren ihre Klagen als Hirtenklagen und lassen somit die Unterscheidung von Elegie und Ekloge bis auf eine rudimentre Differenzierbarkeit nach dem Redekriterium verschwimmen: Dal capitolo sperimentale di Giusto (a tutti gli effetti un’elegia), l’Alberti riprende, oltre all’incipit, alla materia amorosa e al modulo del lamento pastorale, anche l’eccentrica ripresa-ritornello […]. Il grado stilistico ‘medio’di questi versi ‘piangiosi ed inculti’ comunque sotto l’insegna della lira, piut882 De Mald 1996, 116; s. dort auch 123. 883 Dazu Berra 2003; zur anti-bembistischen Linie, auf der sich Alamanni mit seinen Elegien befindet, dort v. a. 179. Zu Alamannis Rekursen auf die Rerum vulgarium fragmenta vgl. dort passim, bes. 182 ff., 186, 188, 192, 199, 203 ff., 213. 884 Vgl. Vecchi Galli 2003, 37 („I caratteri dell’elegia italiana sono […] poco marcati rispetto a quelli della lirica coeva“), 47 („essa [l’elegia] finisce per trovarsi al confine con altri generi e altre convenzioni poetiche, e anche nel XV secolo pericolosamente identificabile con la poesia lirica tout court“), 71 – 78; s. auch De Mald

1996, 110 („l’elegia poetica, tanto latina che volgare, non mai stata dotata in Italia di un preciso e autonomo modello formale“).

3.5 Elegie und affine Formen

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tosto che della pastorale sampogna, invece adibita alla contigua bucolica, pure in metro ternario, ma caratterizzata da un contrappunto amebeo. Con una distinzione tra elegia ed egloga che , gi a questa altezza, quasi impercettibile. 885

Aber nicht nur dichtungspraktisch rckt die italienische Elegie in große Nhe zum bukolischen Genre,886 mit dem sie zu großen Teilen die Vermittlung eines elegischen ‘lamento pastorale’ gemein hat,887 sondern auch die Theorie birgt Tendenzen zu einer Verwischung der Grenzlinie zwischen Ekloge und Elegie. Dies gilt zunchst fr die Bestimmung der jeweiligen Gattungszugehçrigkeit nach der dichterischen ‘materia’: Die beiden Formen bedienen große thematische Bereiche gemeinsam, so dass bspw. Giovanni Antonio Viperanos De poetica libri tres (1579) bei der Aufzhlung von Stoffen, die fr die Bukolik charakteristisch sein sollen, unter anderem „vota“, „obtrectationes“, „altercationes“, „pollicitationes“, „conquestiones“, „gaudia“, „hilaritates“, „ioci“ und „amores“ nennen888 – all dies wre mit der einen oder anderen Gewichtsverschiebung bei einer traditionellen Definition der Elegie auch erwartbar.889 Besonders aber gilt es fr die gemeinsame Zugehçrigkeit von Ekloge und Elegie zu einer unteren Stilebene.890 Fr die Bukolik galt in der dichtungstheoretischen 885 De Mald 1996, 118 (Kursivierung des Schlusssatzes von den Verf.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Gorni 1972, 261: „Fin dalla nascita l’elegia contrassegnata dal carattere, prettamente bucolico, del canto amebeo, gestito da Battista e da Giusto ‘arcades ambo’“. 886 Wie dem Beispiel Albertis und Giustos zu entnehmen ist, bezieht sich dies auch auf die Formalie der Verwendung der ‘terza rima’, die sowohl als elegisches wie auch als bukolisches Versmaß (und darber hinaus als satirisches und als das Versmaß des Capitolo) auftritt; vgl. Kromann 1975, 374. Daraus ergibt sich brigens auch der Befund einer unklaren Grenze zwischen Ekloge und Capitolo (De Mald 1996, 115), die ihrerseits verwaschene Affinitten zur Elegie haben (s.u.). Vgl. zur Verquickung von Elegie und Ekloge im Cinquecento Tateo 1999, 365 – 367. 887 Vgl. De Mald 1996, 115. Kaum ein Zufall drfte in diesem Kontext sein, dass im frhen Cinquecento die Arte poetica des Marco Girolamo Vida Elegie und Ekloge nebeneinander und unter Betonung der jeweiligen Thematik von Trauer und Klage abhandelt: „sive elegis iuvenum lacrimas, quibus igne medullas / urit amor, seu pastorum de more querelas / et lites Siculi vatis modularis avena“ (Vida [1527] 1982, 74; B. 1, Vers 45 – 47). 888 Viperano [1579] 1967, 144. 889 Vgl. etwa die sehr hnliche Aufzhlung typisch elegischer ‘materiae’ bei Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 202 (B. 3, Kap. 125). 890 Vgl. dazu Vecchi Galli 2003, 44: „occorre prendere atto della versatilit di un genere che, traendo spunto anche dal mondo elegiaco-pastorale dei classici, magari filtrato dai volgarizzamenti tre-quattrocenteschi, aveva da tempo appaiato l’elegia alla bucolica, data l’identificazione delle tre opere virgiliane con i tre gradi suc-

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Tradition, die in der ‘Rota Vergilii’891 gipfelt, aber bis auf die VergilKommentare von Donat und Servius zurckgeht,892 die Festschreibung des ‘genus humile’ als kanonisch. In der Dichtungstheorie der Renaissance setzt sich dies fort, selbst da, wo die Bukolik aristotelisierend gefasst werden soll.893 Die Elegie wiederum war bekanntlich894 von Dante in De vulgari eloquentia als Gattung im ‘stilus miserorum’ definiert worden. Wenn dies auch nicht im Rahmen eines kohrenten dreilagigen Stilschemas geschah,895 so konnte dieses Schema doch im Sinne einer stilistischen Niedriglage der Elegie interpretiert werden, zumal Dante ihm zufgt: „Si autem elegiace [canenda videntur], solum humile oportet nos sumere.“896 Dante drfte bei seinen ußerungen zur Elegie die einschlgigen Passus Johannes von Garlands prsent gehabt haben, der die Elegie in seiner Poetria im Rahmen einer Verbundgattung „carmen elegyacum amabeum bucolicon ethicum“ diskutiert, dem er den „humilis stilus“ ausdrcklich als die unterste der drei Stillagen zuweist.897 Die theoretische Unschrfe

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cessivi dello stile. In tal modo il canto dei pastori spesso elegiaco, secondo un binomio pienamente ufficializzato dalle Bucoliche virgiliane.“ Vgl. dazu oben Kap. 3.2 und allg. zur Stillagenpoetologie Kap. 2.1. Donat spricht in der Erçrterung der Bukolik von „tres modi elocutionum, quos waqajt/qar Graeci vocant, Qswmºr, qui tenuis, l´sor, qui moderatus, "dqºr, qui validus intellegitur“ und setzt hinzu: „credibile erit Vergilium, qui in omni genere praevaleret, Bucolica ad primum modum, Georgica ad secundum, Aeneidem ad tertium voluisse conferre“. Servius schreibt zum selben Thema: „qualitas [bucolici carminis] autem haec est, scilicet humilis character; tres enim sunt characteres: humilis, medius, grandiloquus. Quos omnes in hoc invenimus poeta, nam in Aeneide grandiloquum habet, in Georgicis medium, in Bucolicis humilem pro qualitate negotiorum et personarum; nam personae hic rusticae sunt, simplicitate gaudentes, a quibus nihil altum debet requiri“. Zitate nach Quadlbauer 1962, 10, 12 (Kursivierungen im Original); vgl. dort den Kontext der Argumentation 10 – 14; siehe ferner Martellotti 1966, 336 f.; Krautter 1983, 20. Vgl. bspw. Viperano [1579] 1967, 146, der im Rahmen einer Diskussion der Bukolik nach den Kategorien ‘fabula’, ‘mores’, ‘sententia’ und ‘dictio’ zum letzteren Punkt ußert: „Dictio pura erit, & demissa sine sententiarum acumine & gravitate, sine verborum splendore & ornamentis: quae humilibus rebus conveniat“. Siehe Kap. 3.2. Vgl. zum elegischen ‘stilus miserorum’ in De vulgari eloquentia und zu den poetologischen Hypotexten Dantes grundlegend Mengaldo 1978; dort 214 f. Anm. 36 umfangreiche Nachweise zur mittelalterlichen Gleichung ‘elegiacum carmen’ = ‘carmen miserabile’. Zu den drei Stillagen vgl. allg. Grosser 1992, 23 – 29. Dante 1957, 2.4.6. Vgl. De Mald 1996, 110 f. (auch zu der etwas anders gelagerten Stelle 2.12.6); Carrai 2003, 1. „Verba cognata materie sumuntur in exemplo sequenti, quod est carmen elegyacum amabeum bucolicon. Elegyacum quia de miseria contexitur amoris; amabeum

3.5 Elegie und affine Formen

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zwischen Ekloge und Elegie wurde, von der Poetria des Johannes abgesehen, ganz allgemein dadurch begnstigt, dass die Bukolik schon seit dem Mittelalter variabel klassifiziert wurde898 und ihre Verschmelzung mit dem elegischen Register schon in karolingischer Zeit nachzuweisen ist.899 Die Annherung der beiden Genera setzt sich in unterschiedlichen poetologischen Anstzen der Renaissance in mannigfacher Weise fort. Ihre jeweils niedrige Stillage gilt auch im Cinquecento weithin als ausgemacht,900 zumindest dort, wo nicht zu ausschließlich an die individuelle Physiognomie einzelner literarhistorischer Beispiele wie Vergils Bukolik gedacht wird901 oder insgesamt sehr stark an die literarhistorische Gegenwart angeknpft wird.902 Ferner wird bspw. von Minturno nicht nur die Elegie,903 sondern auch die Bukolik904 dem lyrischen Register ab- und dem epischen Bereich

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quia representat proprietates amantum; bucolicon apo toy bucolon, idest ab hoc nomine bucolo, quod est ‘custodia boum’. Unde, secundum ordinem quem servat Vergilius, hoc carmen debet esse primum quia in eo observatur humilis stilus, quem sequitur mediocris et gravis“ (p. 894 Mari, zit. nach Mengaldo 1978, 216 (Kursivierung im Original); vgl. dort den Kontext der Argumentation 212 – 217). Die klare stillagenpoetologische Einordnung der Ekloge in das niedere Register wurde potenziell dadurch konterkariert, dass man ihr, bes. im Gefolge der hohen Prophezeiung von Vergils vierter Ekloge, eine besondere kontemplative Dimension zusprach, whrend gerade die hochlagige Aeneis ‘lediglich’ der ‘vita activa’ zuzuordnen schien; vgl. Krauß 1938, 180 – 183. Vgl. Mengaldo 1978, 217 Anm. 39 zu „l’incrocio e sovrapposizione medievale di elegia e bucolica (in particolare amebea): che presente gi con la massima evidenza nella prassi poetica carolingia“, mit Verweis auf weitere Literatur. Vgl. zur Bukolik: Minturno [1559] 1970, 163 f.; Viperano [1579] 1967, 140. Vergil nmlich scheint den Poetologen das niedere Register der Hirtendichtung zum Teil zu verlassen: vgl. Minturno [1559] 1970, 162 f., 166 sowie Viperano [1579] 1967, 146. Dann nmlich kann es wie z. B. bei Calmeta zu einer Verschiebung der herkçmmlichen Stillageneinordnung kommen. Calmeta teilt unter Verweis auf Tebaldeo die Elegie der mittleren Stilhçhe zu und flexibilisiert zugleich diese Stilhçhe intern: „La figura del dire [dell’elegia] deve essere mediocre, ma pi presto candida e affettuosa che piena di fuco o calamistri. Alcune elegie tengano una certa simplicit piena di ardore e affetti […]. Altre pi a la cultezza e ornato attendano, e in alcune pi arguzia e capistrarie se ritrovano. Ma in genere suo ciascuna el suo decoro e ordine deve servare: culto fu Tibullo, ardente Properzio, ingenioso Ovidio“ (Calmeta [1504] 1959, 54 f.). Vergleichbar in sich geschichtet erscheinen die bukolischen Gedichte bspw. bei Scaliger 1994 – 2003, Bd. 3, 61 (B. 3, Kap. 98), hier rckgebunden an das Personal: „Paulo grandiuscula bubulcis attribuuntur, minora opilionibus et caprariis; tenuior stilus holitoribus“. Vgl. Minturno [1559] 1970, 406 f.; Minturno [1564] 1971, 3, 270. Weiteres dazu s.u.. Minturno [1559] 1970, 105; Minturno [1564] 1971, 3.

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

zugesprochen. Auch ansonsten erweisen sich die beiden Genera dem aristotelisierenden Ansatz905 Minturnos als vergleichbar schwierig im definitorischen und differenzierenden Zugriff. Wie die Elegie, so macht auch die Bukolik Probleme bei einer stringenten Anwendung der aus Aristoteles’ Poetik abgeleiteten Kriterien: Minturno rumt etwa ein, die Ekloge sei nach dem aristotelischen Modus der Mimesis (Redekriterium) nicht definierbar,906 und auch von einer einheitlichen und fixierbaren bukolischen ‘fabula’ kçnne man nicht ausgehen.907 Grundstzlich unterschieden ist die Bukolik von der Elegie allerdings durch die schon seit der Zeit des Servius tradierte und diskutierte Annahme einer allegorischen Bedeutungsdimension,908 wie sie die antike Eklogendichtung Vergils nahelegen konnte. Die Mçglichkeit der Allegorese wird etwa von Minturno und von Viperano ausdrcklich fr die Eklogendichtung Vergils festgehalten.909 Wie Viperano andeutet, besteht in der Allegorisierung der Bukolik freilich ein Problem der Kollision mit der Sphre religiçser Wahrheitstexte, und dies heißt implizit auch, dass die Annahme der Allegorie eine Verschiebung des Dignittsgrades bukolischer Dichtung bedeuten kann, die sie nicht nur von ihrer eigenen herkçmmlichen stillagenpoetologischen Einordnung, sondern auch von der allegoriefernen Elegie distanziert. Elegie und weitere Formen: Capitolo, Sonett, Madrigal, Satire. Wie am Beispiel Dantes zu sehen war, hat der sptmittelalterliche Versuch, eine Gattung Elegie ber eine ‘elegische’ Stillage zu definieren, nicht fr dichtungstheoretische Klarheit gesorgt. So geht man in der Frhen Neuzeit dazu ber, die Elegie ber ihre metrische Charakteristik zu beschreiben. In der Elegiedefinition von Antonio Sebastiano Minturno, auf die wir unten 905 Zur aristotelisierenden Elegien-Theorie vgl. den einschlgigen Abschnitt in Kap. 3.5. 906 Es gibt, so stellen die Theoretiker fest, nmlich bukolische Dichtungen aller mçglichen Varianten des Redekriteriums: siehe Minturno [1559] 1970, 164 („Et si enim in hac poesi qui dicant introducuntur, Poeta ipse tamen nunc prorsus nusquam personam abijcit suam, quod rar fit, ut in Pollione, nunc per totum poema omnino suscipit alienam, ut in Tityro, in Daphnide, in Palaemone, nunc suam gerit in paucis, alienam in pluribus induit. Ut in Gallo, in Alexide, in Pharmaceutria“); Viperano [1579] 1967, 141 (bukolische Beispiele fr das ‘genus narrativum’, ‘activum’ und ‘mixtum’). 907 Minturno [1559] 1970, 166. 908 Vgl. dazu allg. Garber 2007, 287 f.; siehe ferner Martellotti 1966, 337 f. (Servius); Krautter 1983, 56 – 59, 156 und passim (Dante und die Frhrenaissance). 909 Minturno [1559] 1970, 162 f.; Viperano [1579] 1967, 146.

3.5 Elegie und affine Formen

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noch nher zu sprechen kommen, gilt es als eine ausgemachte Sache, dass die Elegie eine italienische Dichtung in ‘terza rima’ sei: Che cosa adunque l’elegia? – Imitatione d’una perfetta facenda propriamente lamentevole, la qual si f con terzetti,  se stesso,  pur altrui  lamentarsi il Poeta introduca, &  mostrare il piangevole, & il doloroso.910

Dass Minturno die Elegie als Gattung in ‘terzetti’ (in ‘terza rima’ nach dem fortlaufenden Muster ABA BCB CDC also) definiert, ist in der Geschichte ‘elegischer’ Verskunst in Italien bereits im bergang vom Mittelalter zur Frhen Neuzeit angelegt. Signifikanterweise hatte schon der Florentiner Notar Alberto della Piagentina in seiner bersetzung der Boethianischen Consolatio philosophiae ins ‘volgare’ (ca. 1322 – 1332) das von uns schon zitierte, im Mittelalter als typisch elegisch geltende Anfangsgedicht in Terzinen bertragen.911 Eine weitere bedeutende Spur frher ‘Elegie’ in ‘terza rima’ sind die Versteile von Boccaccios Comedia delle ninfe fiorentine, „un prosimetro amoroso […] le cui parti poetiche, tutte d’intonazione elegiaca, sono costituite rigorosamente da capitoli in terza rima“.912 So avanciert die ‘terza rima’ alsbald zum bevorzugten metrischen Medium des elegischen Dichtens. Dies freilich trgt nicht zu einer deutlichen gattungshaften Profilierung der Elegie bei, ist doch die ‘terza rima’ ein Container fr ganz unterschiedliche Dichtungsformen: Seit dem 15. Jh. dient die terzarima als quivalent des elegischen Distichons der antiken Literatur und der stichischen Dichtung in Hexametern in bersetzungen von Vergils Bucolica und Georgica und entsprechender italienischer Eklogendichtung, Lorenzos Corinto, Sannazzaros Arcadia, ferner fr Episteln und Elegien, fr die bersetzung von Ovids Heroiden und fr die Episteln eines Cariteo, Tebaldeo, Sannazzaro, Ariost; ferner fr die burleske Dichtung (Lorenzo il Magnifico, I beoni) und fr die Satire von Ariost ber Salvator Rosa zu Alfieri und Leopardi.913 910 Minturno [1564] 1971, 269 (Kursivierung durch die Verf.). 911 Vgl. Carrai 2003, 9 – 12; dort ist S. 8 das Incipit des Gedichts in Albertos bersetzung zitiert: „Io, che compuosi gi versi e cantai / Con studio fiorito, son costretto / Di scriver canti di tristizia e guai. / Ecco le laceranti nel mio petto / Muse mi dittan ora, e la mia faccia / Bagnan con veri pianti e con effetto / Di versi di miseria, che mi straccia / D’ogni conforto […].“ Man beachte, wie die „versi di miseria“ mit Dantes Definition des elegischen ‘stilus miserorum’ (s. o.) konform gehen. 912 Carrai 2003, 12. 913 Elwert 1984, 126 (§ 1). Vgl. dazu auch De Mald 1996, 115: „Nella poesia cortigiana […] il capitolo in terza rima godeva di una grande libert contenutistica. In questo metro potevano essere trattati sia i generi classici dell’epistola amorosa, che quelli romanzi della ‘dipartita’, della ‘ritornata’ e della ‘disperata’, gli epicedi

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Nicht originr, aber bis zum Cinquecento immer verbreiteter wird die ‘terza rima’ in der Form einer Terzinenserie, die mit dem Mittelreim der Schlussterzine noch einen Endvers bildet (ZYZ – Y.), als Capitolo bezeichnet.914 Das ‘capitolo amoroso’ wird im bergang vom Trecento zum Quattrocento zu einer Art Substitut der Canzone, wenn es um die Vermittlung ‘einfacher’ (d. h. gehaltlich und stilistisch nicht hochlagiger) Liebesstoffe geht.915 Die rinascimentale Ausbreitung der Capitolo-Dichtung – insbesondere in ihrer amourçsen Variante und vor der Etablierung des bembistischen Purismus – macht es schwierig, die Elegie vom Capitolo effektiv abzugrenzen: So versucht Paola Vecchi Galli in ihrer einschlgigen Studie (2003) eine ganze Zeit, „tener divise la forma e la storia dell’elegia in volgare da quelle del capitolo ternario contemporaneo“ (66) und gelangt schließlich doch zu dem Fazit, dem „equivoco terminologico tra una forma metrica onnicomprensiva (il capitolo ternario) e una sua ‘sopraffina’ variante (l’elegia)“ (78) sei kaum auszuweichen. Mit diesem ‘equivoco terminologico’ hadert denn auch die cinquecenteske Literaturtheorie.916 Vincenzo Calmeta hat sich in seinem poetolaudativi e consolatori; le invettive ‘de miseria humanae conditionis’ e, infine, i lamenti bucolici, temi tutti communi […] all’elegia.“ Illustrative Fallbeispiele fr die thematische Variabilitt der Dichtung in ‘terza rima’ bietet am Beispiel des quattrocentesken Florenz Peirone 1990, die auf die didaktisch-moralische, moralphilosophische, gnomische, religiçse, amourçs-allegorische, politisch-chronistische, laudativ-epideiktische, burleske und auch die eklogenhafte Variante eingeht, bevor sie mit einem Ausblick auf die ‘poesia bernesca’ des Cinquecento schließt. 914 Vgl. Elwert 1984, 126 (§ 2): „Im 14. Jh. war das capitolo vorwiegend ein Gedicht moralischen oder politischen Inhalts […]; bei den Manieristen des ausgehenden 15. Jhs., den sogenannten presecentisti (Cariteo, Tebaldeo, Serafino) dient das capitolo auch fr die Liebesdichtung; im 16. Jh. wurde das capitolo durch Berni und die poesia bernesca zur bevorzugten Form fr die burleske Dichtung“. Ob die ‘terza rima’ insgesamt als Capitolo bezeichnet werden drfe oder nicht, ist in der Forschung hufig unterschiedlich gesehen worden; vgl. Kromann 1975, 373 f. und passim. 915 Vgl. Vecchi Galli 2003, 56 – 58; siehe dort ferner 66 – 78 zu den enormen Kongruenzbereichen zwischen ‘Elegie’ und Capitolo-Dichtung. 916 Das Capitolo war, auch abgesehen von der engen Affinitt zur Elegie, angesichts seiner stofflichen Variabilitt ber sein basales Reimschema hinaus nicht leicht zu theoretisieren. So behauptet Bernardino Tomitano in den Ragionamenti della lingua toscana zwar, das Capitolo habe einen speziellen, gattungsdefinitorisch wirksamen Rhythmus: „Dove primieramente da avertire, il numero ricever partimento secondo la differenza della testura del verso. Percio che tale numero ricerca il sonetto, che al Capitolo non starebbe bene: che tale al Capitolo, che non alla Canzone“ (Tomitano 1545, 408 f.). Im Folgenden lsst Tomitano aber sofort

3.5 Elegie und affine Formen

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logischen Brief an Isabella d’Este spezifisch mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Elegie von anderen zeitgençssischen Formen zu unterscheiden sei. Insbesondere bemht er sich um eine Abgrenzung von Elegie und Capitolo. Diese ist aus seiner Sicht deswegen besonders virulent, weil sich die Elegie zwar von Formen wie dem Sonett und dem Madrigal (dazu siehe unten) formal durch ihre grçßere Lnge unterscheiden lsst, vom Capitolo aber gerade nicht. Die Differenzierung von Elegie und Capitolo ist aber unumgnglich, weil Calmeta um die Tendenzen weiß, die beiden Formen zu identifizieren und elegische Texte in ‘terza rima’ zu verfassen: Hanno li moderni poi e contemporanei nostri (o sia per la sonorit de la terza rima, o vero perch el terzetto pi cum la musica abia conformitade) a li ternari l’officio de la elegia assignato.917

Diese quation gefllt Calmeta nur sehr bedingt. Er betont angesichts metrischer Identitt eine inhaltliche Differenz zwischen den beiden Formen: „Altra cosa al capitulo e altra a la elegia, avvenga che ambi li stili siano in terzetti, se conviene.“918 Dies freilich kann Calmeta nur sagen, weil er einen spezifischen Begriff davon hat, welche Art von Terzinendichtung ein ‘capitulo’ sei: Ursprnglich bedeute ‘capitulo’ nmlich nichts anderes als „parte de libro“, ‘Kapitel’ im Sinne eines Buchabschnitts aus einem umfangreicheren Text also, und das ist fr Calmeta insbesondere an den Terzinen Dantes und Petrarcas ablesbar: Chi guarda a la osservazione de’ latini e vulgari che in composizioni siano stati memorabili, trovar che capitulo altro che parte de libro non vole inferire. E lassando da canto li latini, e volendo da Dante e Petrarca, doi occhi di nostra materna lingua, pigliare imitazione e osservazione, dico l’uno avere l’alta sua Comedia in capituli distinta, l’altro, de imitarlo non se desdegnando, li floridi Triunfi suoi medesmamente in capituli avere compartito. Il che chiaramente si comprende che capitulo altro che parte de libro, como abiamo detto, non significa.919

von dem Versuch ab, auf diese Weise Unterschiede lyrischer Einzelgattungen zu definieren, und geht von diesen ‘precetti particolari’ ber zu den fr die Dichtung insgesamt gltigen ‘precetti generali’. 917 Calmeta [1504] 1959, 52. 918 Calmeta [1504] 1959, 52. 919 Calmeta [1504] 1959, 52. In der Folge erçrtert Calmeta recht ausfhrlich, warum die ‘capituli’ als Terzinen-‘Kapitel’ eine relativ beachtliche Lnge zu erreichen pflegten, und er tut dies unter der grundlegenden Voraussetzung, dass in seinem Sinne ‘capituli’ narrative Teileinheiten grçßerer erzhltextlicher Zusammenhnge sind (Calmeta [1504] 1959, 53 f.).

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

Von der Prmisse ausgehend, ein ‘capitulo’ sei ein ‘Kapitel’ eines erzhlerischen Großtextes in reimverketteten Versen wie in der Commedia und den Trionfi, kann Calmeta nun vorderhand behaupten, es lasse sich im Sinne der Stillagenpoetologie ein grundlegender stilistischer Unterschied zwischen Capitolo und Elegie ausmachen. Capitolo-Dichtung nmlich zeichne sich aus durch „eroica altezza e grandiloquo stile“,920 weshalb denn auch Dante und Petrarca decorumskonform nur „alte materie e divine“ in Capitoli behandelt htten,921 whrend sie „li amorosi effetti [sic]“ in Canzonen dargestellt htten.922 Freilich muss Calmeta konstatieren, was auch die heutige historisch orientierte Literaturwissenschaft festhlt:923 Die Grenzen des Elegischen hin zu ‘terza rima’ und Capitolo sind fließend, und das Capitolo lsst sich in der literarhistorischen Realitt gerade nicht auf die Formel ‘episches Kapitel’ einengen. So fixiert Calmeta schließlich einen Befund, der seine eigene Anstrengung der Differenzierung von Elegie und Capitolo konterkariert: Or, essendo a li moderni poeti piaciuto volere che ‘l terzetto faccia de la canzone l’offizio e in quello, secundo li legi latini, flebili affetti e amorose lamentazioni esprimere, e talvolta ancora per missive epistole operarli, doveriano da quello effetto che fanno el nome sortire, a ci che li stili meno se venessero a confundere.924

Es folgt Calmetas von uns schon angesprochener Versuch, die Elegie in ihrer Stilhçhenvariett zu erfassen. Dabei will Calmeta auch der zeitgençssischen Dichtung etwa eines Tebaldeo gerecht werden, den er als Verfasser ‘elegischer’ Texte namentlich erwhnt – so gert er allerdings von der Elegie gleich wieder in den Zentralbereich dessen, was auch konservative Klassifizierungen heute als Capitolo-Dichtung einordnen.925 Calmeta spricht von einem trecentesken Idealzustand klar getrennter Gattungsbereiche, in dem die ‘heroische’ und hochlagige Terzinendichtung 920 Calmeta [1504] 1959, 52. 921 Dies ist keine auf den Brief an Isabella d’Este beschrnkte Einzelmeinung Calmetas; vgl. bspw. Tomitano 1545, 228: „i Capitoli per lo piu vengono ad imitare le cose alte, si come appare per l’essempio di quelli di Dante & del Petrarca.“ 922 Calmeta [1504] 1959, 53. 923 Siehe die obigen Verweise und Zitate und vgl. außerdem bspw. De Mald 1996, 116: „si verific […] una trasmigrazione del canone elegiaco nel doppio registro, aulico delle canzoni, e umile delle egloghe, dei poemetti, delle favole pastorali e degli idilli“. 924 Calmeta [1504] 1959, 54. 925 Vgl. das von uns oben bereits angefhrte Zitat aus Elwert 1984, 126 (§ 2).

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epische Funktionen erfllte, whrend der Ausdruck von Liebesaffekten der Canzone zugewiesen war.926 Dieser Zustand wird fr Calmeta, wie gesehen, dadurch erschttert, dass der originre Canzonenstoff der eigentlich ‘heroischen’ Terzine bertragen worden sei (woraus sich die besagte Schwierigkeit ergibt, Elegie und Capitolo voneinander zu trennen). Die solchermaßen entheroisierte Terzine soll fr die Liebesdichtung „secundo li legi latini“927 fungieren, also ein Substitut der antiken lateinischen Liebeselegie sein. Damit befindet sich die Terzine als Elegie-quivalent nun mit einem Mal in der thematischen Nachbarschaft nicht nur der Canzone, sondern insgesamt des ‘mainstream’ der Formen petrarkistischer Liebesdichtung. So ergibt sich fr Calmeta die theoretische Notwendigkeit, auch die Abgrenzung der elegischen ‘terza rima’ zu diesen Formen zu diskutieren: Dies freilich kann ihm (angesichts der von uns bereits diskutierten vielfltigen Relationen zwischen petrarkistischer Lyrik und lateinischer Liebeselegie) nur mit einer schwachbrstigen formalen Argumentation gelingen: Sonett und Madrigal unterscheiden sich von der Elegie in ‘terza rima’ schlicht dadurch, dass sie beide krzer sind (oder zumindest, so Calmetas przeptionelle Beschwçrung, sein sollten): Non deve essere meno la elegia de quindeci terzetti [gemeint sind: Terzinenverse], a ci che dal sonetto e da le madrigali quanto al numero sia distinta, e ogni cosa abia suo ordine e misura, como ancora fanno li latini, li quali non vogliano che lo epigramma ultra vinti versi si estenda, a ci che di elegia non prenda la forma.928

Dies legt im Umkehrschluss freilich nahe, dass (von der Lnge und dem Reimschema einmal abgesehen) die gngigsten lyrischen Kurzformen der Volkssprache allesamt ‘elegisch’ sind: Die Elegie hat sich also ganz auf die v. a. im rçmischen Bereich verwurzelte Form der Liebesdichtung eingeengt und zugleich ufert eine elegische Schreibweise in alle wichtigen Bereiche der Lyrik im ‘volgare’ aus. Calmetas Ausfhrungen zeigen insgesamt, dass ihm die Eingrenzung der Elegie nur rein metrisch-formalistisch und unter gewaltsamer Absonderung und Einhegung des Begriffs ‘capitulo’ gelingen kann.929 Dabei ist im brigen die Feststellung Calmetas, die Canzone sei 926 Vgl. Calmeta [1504] 1959, 52: „E perch da loro [Dante, Petrarca] solamente questi capituli in opere continuate erano operati, quando gli accadeva di qualche amoroso effetto fare espressione, le canzoni in tale officio operavano, di quelle in vice de elegie prevalendosi.“ 927 Calmeta [1504] 1959, 54. 928 Calmeta [1504] 1959, 54. 929 Auch vom ‘capitulo’ im Sinne eines ‘epischen Kapitels’ soll sich die Terzinen-Elegie der Lnge nach unterscheiden: Sie ist insgesamt auf ca. „vinticinque o trenta

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3. Die Poetik lyrischer Gattungsformen

mit ‘elegischer’ Liebesthematik befrachtet gewesen, welche man dann auf die Terzinendichtung berspielt habe, zugleich ein Hinweis darauf, dass Dantes frhere (in sich, wie gesehen, schon schwierige) Differenzierung eines hohen, ‘aulischen’ Bereichs der Canzone und des elegischen Klagestils angesichts der literarhistorischen Realitt mittlerweile gnzlich obsolet geworden ist.930 Fr Calmeta selbst ist 1504 noch nicht absehbar, dass die ‘terza rima’ im Verlauf des Cinquecento auch in Affinitt zu weiteren Gattungen wie der epistolaren Satire nach Art der Satire des Ariosto geraten wrde,931 so dass der mit der ‘terza rima’ korrelierte Begriff der ‘elegia’ aus der Perspektive eines Bernardo Tasso sich von der Liebeselegie hin zur Bezeichnung solcher in Terzinen gehaltener Versbriefe verschieben konnte.932 Aristotelisierende Elegientheorie. Der formalen und kontenutistischen Sackgasse, die bei der definitorischen Beschftigung mit der Elegie droht, will Antonio Sebastiano Minturno mit einem seiner wiederholten Versuche der aristotelisierenden Gattungsdefinition entgehen. Minturnos weiter oben schon angesprochene Definition der Elegie lautet wie folgt:

ternari“ beschrnkt (Calmeta [1504] 1959, 54), whrend fr die ‘epischen Kapitel’ gilt: „non manco de quaranta e cinque terzetti, e non pi de cinquanta o circa, se ritrovano“ (Calmeta [1504] 1959, 53). 930 Eine Entscheidung wie die des Alberto della Piagentina, jenes ‘elegische’ Klagegedicht des Boethius wegen der aulischen Hochlagigkeit der Canzone lieber im niederen Stil der ‘terza rima’ auszudrcken (dazu Carrai 2003, 10), ist fr Calmetas Position letztlich gar nicht mehr nachvollziehbar. Das Eindringen des lateinisch Liebeselegischen in die lyrische Welt des ‘volgare’ hat das zuvor schon nicht stabile Gattungsspektrum augenscheinlich erheblich durcheinandergewirbelt. Die Elegie ihrerseits wird von Correa 1571 zwar dem „genus dicendi tenue, & simplex“ zugerechnet, soll aber neben einer damit kongruierenden „mollissima, delicatissimaque dictio“ auch „sensus graves, magnificos, nobiles, praeclaros […]“ transportieren kçnnen (Correa 1571, o.S., Lage d), was stillagenpoetologisch natrlich auf den hohen und nicht auf den niederen Stil hindeutet und anzeigt, wie schwierig es geworden war, die Elegie in die herkçmmliche Lage des ‘stilus humilis’ einzuordnen. Dementsprechend versucht Correa wortreich, die Elegie im Rahmen einer expliziten Diskussion der Drei Stile unter das ‘genus tenue’ zu rubrizieren, wo sie sich aber nur „ut plurimum“ (!) befinde: Correa 1571, o.S., Lage e2. 931 Vgl. Kromann 1975, 373 f. 932 Vgl. De Mald 1996, 127 f. Zum hiermit zusammenhngenden Problem der Beziehung von satirischem und burleskem Capitolo vgl. Kromann 1975, 384 – 386 sowie Stella Galbiati 1987, 9 f. und passim.

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Che cosa adunque l’Elegia? – Imitatione d’una perfetta facenda propriamente lamentevole, la qual si f con terzetti,  se stesso,  pur altrui  lamentarsi il Poeta introduca, &  mostrare il piangevole, & il doloroso.933

Damit bietet Minturno eine Eingliederung der Elegie nach den bekannten Kriterien, die aus den Anfangskapiteln der aristotelischen Poetik abgeleitet und an der Tragçdiendefinition des Aristoteles (Poetik Kap. 6) orientiert sind. Wie alle Dichtung, fllt die Elegie unter das Rubrum der Mimesis („Imitatione“). Gegenstand der Nachahmung ist eine in sich geschlossene ‘Angelegenheit’ („facenda“: Minturno vermeidet das eindeutigere „azione“, da von Handlung im engeren Sinn in der Elegie kaum stets die Rede sein kann, sagt aber auch nicht „costume“, wie andernorts).934 Diese ‘Angelegenheit’ zeichnet sich durch das von Minturno historisch an die TrauerElegie rckgebundene Moment des Klagenden („lamentevole“) aus, wobei dieses Charakteristikum, gemessen an der definitorischen Syntax der Tragçdiendefinition des Aristoteles, die Stelle des dortigen Prdikats ‘bedeutend’ (‘pr xeos spouda as’) einnimmt. Mittel der Mimesis ist die Verssprache in der Organisationsform der ‘terza rima’ („si f con terzetti“).935 Hinsichtlich des Modus der Mimesis (Redekriterium) stellt Minturno fest, es gebe in der Elegie sowohl den narrativen als auch den dramatischen Modus bzw. die Elegie gehçre dem ‘genus mixtum’ an.936 Die Wirkintention der Elegie schließlich ist es, analog zur tragischen Erweckung von ‘ leos’ und ‘phbos’ Trnenerweckendes und Schmerzhaftes zur Schau zu stellen („mostrare il piangevole, & il doloroso“), was es Minturno ermçglicht, zumindest einen der beiden Wirkaffekte der Tragçdie auch der Elegie zuzuschreiben, nmlich „piet“ (als Entsprechung zu ‘ leos’).937 Die 933 Minturno [1564] 1971, 269. Vgl. die lateinische Fassung dieser Definition in De poeta: „Est igitur Elegia cuiusdam perfectae actionis, & propri quidem queribundae per versus intervallis numerorum coniunctos disparibus imitatio, sive se ipsum poeta, sive alterum fingit, qui queratur, & quod triste, luctuosumve est, exprimat“ (Minturno [1559] 1970, 407). 934 Vgl. zur grundstzlichen Problematik der aristotelisierenden Definition von Lyrik ber den Gegenstand der Mimesis Kap. 2.1. Die Nachahmung von Affekten im engeren Sinn wird der Elegie von Minturno hier nicht zugeschrieben, weil er sie nicht zur (affektnachahmenden) ‘melica poesia’, sondern eher zur ‘epica’ rechnen will (s. o.). – In der lateinischen Fassung von De poeta hat Minturno den Begriff der Handlung in der Definition der Elegie nicht vermieden; vgl. das Zitat von Minturno [1559] 1970, 407 in der vorhergehenden Anmerkung. 935 Vgl. auch Minturno [1564] 1971, 271: „ove chiaramente il poema esser di terzetti composto si vede“. 936 Vgl. dazu auch Minturno [1559] 1970, 407; Minturno [1564] 1971, 271. 937 Minturno [1564] 1971, 269.

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Problematik von Minturnos Definition ist, dass er zwar dem formalen Faktum der italienischen Terzinen-Elegie gerecht wird, aber ber die Bestimmung der elegischen „facenda“ als „propriamente lamentevole“ einen Gattungskern zu fixieren sucht, der eine elegische Dominante ausmachen soll (Klage und insbesondere Totenklage betreffend), aber der originren Gattungsvielfalt, die der aristotelisierende Gestus Minturnos an sich mit bewltigen kçnnen msste, nicht umfassend gerecht wird: Dies ist Minturno auch bewusst, und so lsst er den Gesprchspartner die Frage stellen: „ma, perche lamentevole?  nell’Elegiaca Poesia non troviamo scritte cose festevoli, & allegre?“ Und die Antwort lautet: „S bene: ma non propriamente, se riguardiamo al fine, perche ella f trovata.“938 Somit definiert Minturno gewissermaßen die Essenz der Elegie als klagend, und dementsprechend eine originre Gattungsintention des Ausdrucks von Klage. Die nicht-klagenden Formen der Elegie („cose festevoli, & allegre“) sind eine von Minturno historisch erklrte Erweiterung der Gattung, zu der auch die Liebesthematik insgesamt gehçrt.939 Das heißt aber, dass Minturno im Interesse der Trennschrfe seiner Definition diejenige Ausformung der Elegie, die seit der rçmischen Antike und dann in der Frhen Neuzeit im Zentrum des Gattungsspektrums steht, als Akzidens aus seiner um Stringenz bemhten Definition ausschließen muss. Gleiches gilt fr die nicht-klagende, sondern aus „sententie, e precetti di vita“ bestehende Elegie eines Theognis, die gleichfalls mit einer kurzen Bemerkung als eine dem threnetischen Gattungskern ferne Erscheinung abgetan wird.940 Eine andere definitorische Entscheidung Minturnos drfte dem gleichen Interesse entspringen, nmlich die Verschiebung der Elegie in den Bereich der ‘epica poesia’. Die Frage der Zuordnung der Elegie in den 938 Minturno [1564] 1971, 269. 939 Siehe hier im Zusammenhang eines historischen Entwicklungsmodells der Elegie bes. Minturno [1564] 1971, 270: „conciofusse cosa, che [l’elegia] consistesse in lamento funerale, & in lodare il morto. Dapoi discese  cose pi leggiere: e per quelli, che s’erano dati  gli amori, & alle delicatezze, divenne amorosa, e lasciva,  si lamentassero,  segni d’allegrezza mostrassero,  pregassero,  ammonissero,  riprendessero,  la donna loro commendassero,  loro stessi iscusassero,  perdono chiedessero,  qualunque altro affetto d’animo dimostrassero“ (vgl. die lateinische Fassung in Minturno [1559] 1970, 406). Obgleich dies im Folgenden auf die besondere Neigung der Liebenden zur Klage zurckgefhrt wird, ist in dieser Themenliste doch ersichtlich, dass auch die nicht-klagenden Formen der Elegie auf irgendeine Weise Bercksichtigung finden sollen, und Minturno rumt im unmittelbar folgenden Satz auch ein, es gehe in der Elegie ebenso um „allegrezze“ wie um „cordogli“ (Minturno [1564] 1971, 270). 940 Minturno [1564] 1971, 270; vgl. Minturno [1559] 1970, 406.

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Bereich einer Makrogattung war, wie eingangs gesehen, von Minturno selbst als schwierig und umstritten markiert worden. Obwohl Minturno den Gegenstandsbereich der Elegie andernorts in einer ‘typisch lyrischen’ Weise fasst (im zweiten Buch von De poeta wird festgestellt, Thema der Elegie sei die Exposition von exzessiven „amores“)941, verschweigt er dies bei seiner Hauptstelle zur Elegie, um stattdessen unter Verweis auf die fehlende musikalische und tnzerische Dimension der Elegie sowie auf das durchgngige Fehlen des Chores – Aspekte, die die aristotelischen Mittel der Mimesis betreffen – die Elegie in die Sparte der Epik einzuordnen.942 Angesichts von Minturnos grundstndigen aristotelisierenden Festlegungen der Charakteristika der Makrogattungen ist dies systemimmanent unausweichlich, wird aber weder den zeitgençssischen Theorieoptionen noch dem Spektrum der Dichtungspraxis gerecht, in dem (s. o.) die Relationierbarkeit der Elegie mit im engeren Sinne lyrischen Formen außer Zweifel stand. Minturno vereindeutigt durch seine aristotelisierende Kohrenzbemhung die Positionierung der Elegie und hebt somit implizit die Affinitten hervor, die zu nicht-lyrischen oder nur lyrikaffinen Bereichen (Capitolo, Satire, bukolisch-erzhlende Formen) bestanden.943 Entsprechend werden zu Beginn der Arte poetica neben den Elegien als weitere Elemente der „Epica in versi“ u. a. die „Bucolici poemi“ und die „terze rime“ mit den Beispielen der Commedia Dantes und der Trionfi Petrarcas genannt.944 Weniger zuversichtlich beurteilt Francesco Robortello aus gleichfalls aristotelisierender Warte das Genus der Elegie.945 Wie bereits gesehen, 941 „Amores enim intemperantius Elegiaci […] exponunt“ (Minturno [1559] 1970, 106). 942 Minturno [1559] 1970, 406 f.; Minturno [1564] 1971, 3, 270. 943 Dies erleichtert Minturno die bliche Durchfhrung der Analyse der Elegie nach den qualitativen Teilen ‘favola’, ‘costumi’ / ‘affetti’, ‘sentenze’ und ‘parole’ (Minturno [1564] 1971, 271; vgl. Minturno [1559] 1970, 408 f.), die in Orientierung an Aristoteles’ Behandlung der qualitativen Teile der Tragçdie vorgenommen wird, ebenso wie die bliche Klassifizierung in ‘poesia morale’ (‘poema moratum’) vs. ‘poesia passionevole’ (‘poema patheticum’) (Minturno [1559] 1970, 408; Minturno [1564] 1971, 271) und die Aufgliederung der quantitativen Segmente ‘propositio’ und ‘narratio’ (Minturno [1559] 1970, 409 f.; Minturno [1564] 1971, 271). 944 Minturno [1564] 1971, 3. 945 Robortellos aristotelisierende Behandlung der Elegie weist von vornherein eine Haltung des Zweifelns und der Skepsis auf, was die Mçglichkeit eines systematisch kohrenten Zugriffs auf die Gattung betrifft. So vermerkt er gleich zu Beginn seiner Abhandlung: „Imitatur vero elegia, ac diversis quidem modis pro ratione materiae.

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versucht Robortello, ausgehend zunchst vom Mimesispostulat, der stofflichen Vielfalt elegischen Dichtens (Trauerelegie, politische Elegie, kriegerisch-militrische Elegie, moraldidaktische Elegie, Liebeselegie) durch eine parataktische Anordnung seiner Darstellung gerecht zu werden. Bis hin zur Liebeselegie wird der Anspruch einer kohrenten mimesistheoretischen Einordnung aller dieser Ausformungen weitgehend aufrechterhalten.946 Bei der Besprechung der didaktischen Elegie – Theognis wird exemplarisch genannt – lsst Robortello das Mimesiskriterium mit einem Mal gnzlich fallen und ordnet die Elegie einer musikalischen Nomoi-Dichtung zu (erneut ganz kontrr zu Minturnos aus Systemzwang erfolgender Behauptung einer Musikferne der als ‘episch’ erachteten Elegie): „Carent igitur [die Elegien nach Art des Theognis] imitatione, sed concini possunt sicuti poemata legum, et ideo ad genus idem putarim esse referendam et hanc poesin elegis descriptam.“947 Obwohl die Mimesis also laut Robortello in der Elegie gar nicht gegeben sein muss (Mimesis ist mithin keine ‘differentia specifica’ der Elegie, die – ganz strikt aristotelisch gesprochen – von daher womçglich wie das Lehrgedicht gar keine Dichtung wre) und obwohl die Elegie fr Robortello eine originr zumindest zum Teil mit Musik verbundene Form der Dichtung ist, ordnet er sie dennoch (mit dem vorsichtigen Zusatz „fast immer“, „fere semper“) der epischen Dichtung zu, und zwar unter Verweis auf das in der Elegie gewçhnlich nicht oder kaum dramatisch ausgeprgte Redekriterium.948 Nam nullum poema plures mutationes recepit quam elegia, atque ideo difficile est ei certam attribuere materiam aut ad genus aliquod poematis redigere, nisi prius omnia distinguantur ac separentur“ (Robortello [1548] 1970, 530). 946 Bereits bei der kriegerisch-militrischen Elegie stellt Robortello die Schlssigkeit seiner Systematisierungsversuche allerdings ein erstes Mal in Frage und erwgt dabei – ganz gegen Minturnos Behauptung einer absoluten Distanz der Elegie zu jeglicher Musikalitt im mimetischen Modus – die Zuordnung zu anderen (musikalischen) Bereichen der Dichtung: „Quatenus igitur res bellicas elegia continet animosque pugnantium concitat ad furorem, sub alia specie poesis collocari debet, quod nondum mihi satis liquet, nisi fortasse malis redigere ad eandem legum poesin aut ad eam musicen quam veteres Phrygiam vocabant, valde aptam ad ciendos hominum animos et concitandos ad furorem“ (Robortello [1548] 1970, 532). 947 Robortello [1548] 1970, 533. 948 „In elegia, quando imitatur (non enim semper id facit), imitatio fere semper epica est. Nam habet !paccek¸am ipsius poetae, nihilque imitatur praeter verisimile aut necessarium“ (Robortello [1548] 1970, 535). Auch dies steht quer zu Minturnos Argumentation, der der Variabilitt des Redekriteriums in der Elegie durch eine Einordnung ins ‘genus mixtum’ gerecht werden will („mixtum autem hoc dicendi genus c m sit, poeta nunc suam tenet, nunc alienam sumit personam“: Minturno

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Mithin gelangt Robortello bezglich der groben Einrasterung der Elegie in das Spektrum der Makrogattungen zu einem hnlichen Ergebnis wie der gleichfalls unter Berufung auf Aristoteles vorgehende Minturno, beschreitet argumentativ aber vçllig andere Pfade. Trissino wiederum lsst seine einschlgige aristotelisierende Klassifikation auf dem Modus der Mimesis basieren, setzt fr die Elegie ein Redekriterium an, das eine einheitliche Sprecherrolle des ‘poeta’ annimmt, und ordnet von daher die Elegie zusammen mit „le ode, le canzoni, e le ballate, e li sonetti e simili“ in eine dezidiert ‘lyrische’ Kategorie ein.949 Dagegen fallen unter die Rubrik eines dramatisch gestalteten Redekriteriums die Komçdien, Tragçdien und Eklogen, whrend das gemischte Redekriterium fr epische Texte unter Einschluss der Commedia und der Trionfi gilt. Trissinos gleichfalls aristotelisierende Analyse fllt also im Ergebnis grundstzlich anders aus als die Versuche Minturnos und Robortellos. Die Vielfltigkeit der Resultate, die die aristotelisierende Elegientheorie zeitigt, beruht sicherlich (wie gesehen) auf teils systemimmanenten Brchen und Zwngen. Allerdings begnstigt auch die literarhistorische Situation der Elegie im Verlauf des Cinquecento keinen theoretisch konzisen Zugriff. War die Gattung schon in ihren frhrinascimentalen Anfngen mit einer prekren Physiognomie ausgestattet, so dehnt sie sich im Verlauf des Cinquecento immer weiter aus und wird eklektizistisch-verwaschener, bis sie schließlich deutlich vor der Schwelle zur barocken Transformation der literarischen Gattungen schon ausgedient zu haben scheint.950 Die Tatsache, dass Klage und Schmerz in den volkssprachlichen Formen, die besonders der Petrarkismus eifrig bediente, eine aus der Sicht der Zeitgenossen genuin wirkende Heimstatt gefunden hatten, wird den Prozess der elegischen Erosion allenthalben gefçrdert und beschleunigt haben.

[1559] 1970, 407; die identische Argumentation auf Italienisch in Minturno [1564] 1971, 271). Dagegen ist der spte Trissino sich mit Robortello einig: „[…] il modo col quale devemo esse azioni e costumi imitare. E questo di tre maniere: l’una, che ‘l poeta parla sempre in sua persona e non induce mai altre persone che parlino, come sono quasi tutte le elegie […]“ (Trissino [1562] 1970, 13). – Robortellos Verweis auf Wahrscheinlichkeit („verisimile“) und Notwendigkeit („necessarium“) erfolgt zur Absicherung des aristotelischen Interpretationsergebnisses und entspricht der vorhergehenden Argumentationskette nicht. 949 Trissino [1562] 1970, 13. 950 Vgl. De Mald 1996, 131; Leoncini 1999, 453; Tateo 1999, 358 f., 367.

4. Die lyrischen Genera und die Musik: Theoretische Entwrfe zwischen Mythos und konkreter Medialitt Es hat sich in Kapitel 2 gezeigt, dass eine an Aristoteles anknpfende Theoriebildung fr das Feld der Lyrik – neben der vielleicht entscheidenden Frage nach dem Vorliegen von Mimesis in den lyrischen Gattungen berhaupt und nach deren Gegenstand – wesentlich Fragen des Modus (Redekriterium) und der Darstellungsmittel (Rhythmus, Melodie, Vers) behandelt. In diesem letztgenannten Feld kommt der Musik eine wichtige Rolle zu. Die folgenden Seiten untersuchen daher den Stellenwert der Musik fr die theoretischen Entwrfe von Lyrik in der Renaissance. Neben der aristotelisierenden Frage nach der Musik als Darstellungsmittel sind vor allem zwei andere Aspekte fr das Verhltnis von Lyrik und Musik von Bedeutung: zum einen die Frage nach der tatschlichen Verbindung der Lyrik mit jeweils zeitgençssischer Musik; zum anderen ein lockeres Gewebe aus Historie und Mythos, das aus der Antike stammt und namentlich im Humanismus immer breiter ausgesponnen wird. Es geht in diesen Erzhlungen hauptschlich um den Ursprung der Dichtung im gçttlich inspirierten Gesang (hufig, aber nicht immer, im Zusammenhang mit platonischen ‘furor’-Theorien), manchmal verbunden mit Vorstellungen von der mitreißenden Macht der Musik (Orpheus, der die Tiere und sogar die Steine bewegt; Timotheus, der die Festgste zu kontrren Affekten hinreißt), manchmal auch im Zusammenhang mit MusicaKonzepten der Sptantike und des Mittelalters (hier geht es um Tonharmonien oder Rhythmusrelationen – auch rein sprachliche – als Analogon zu den Proportionen des Makrokosmos und des menschlichen Mikrokosmos). Darstellungen, die in dieser Weise die Dichtung insgesamt aus dem seherischen Singen der Lyriker (manchmal auch, aber seltener: der Epiker) herleiten, tendieren dazu, diesem Phnomen den besonderen Status eines Ursprungs zuzuweisen. Der Gesang zur Leier, insbesondere der strophische (Hymnus, Ode), kann in solchen Zusammenhngen als ‘Urszene’ der Dichtung erscheinen. Dies kann in manchen Fllen zu einer Aufwertung der kurzen Versgenera gegenber Epos und Drama fhren, die einerseits in latentem Konflikt zu ihrem traditionell niedrigeren Platz in der Hierarchie

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der Gegenstnde und Stile steht, andererseits aber dem mit dem Bembismus etablierten faktischen Status der Lyrik als so etwas wie einer Leitgattung durchaus entspricht. Dieser latente Widerspruch wird sich erst am Ende des sechzehnten Jahrhunderts entschrfen, wenn insbesondere die Mythen ber die Macht des Gesangs eines Orpheus oder Timotheus mit einer neuen Musikgattung, dem generalbassbegleiteten Sologesang, in Verbindung gebracht werden, die ihrerseits dann im Rahmen eines nicht mehr ‘lyrischen’, sondern dramatischen Projekts eine zentrale Position einnehmen wird: der zunchst als Wiederbelebung antiker gesungener Tragçdienpraxis gedachten Oper. Der privilegierte Status des dichterischen Gesangs geht in diesem Moment von der Lyrik auf ein traditionell hçher eingeschtztes und im Aristotelismus strker fokussiertes Genre ber; die Gattungshierarchie scheint wieder intakt. Dies ist jedoch nur ein kurzer Moment der Literaturgeschichte, denn in dem neuen Kontext kehrt das Problem in anderer Gestalt zurck: Die weiterhin vorherrschende Einschtzung der Arien, Arietten und Canzonetten als lyrische Genera mittleren Stils verhindert nmlich vorerst einen tatschlichen Ausbau der Oper als Tragçdie; stattdessen kommt es dominant zu pastoralen und tragikomischen Librettoformen. Im folgenden Kapitel werden zunchst die mythischen Ursprungserzhlungen ber den lyrischen Gesang dargestellt, sodann die theoretischen Reaktionen auf die zeitgençssische mediale Realitt der Lyrik zwischen gesprochenem und gesungenem Vortrag – mit einem Ausblick auf die Entstehung der Oper. Lyrik, Musik und Mythos. Die Mythen vom Ursprung der Dichtung im inspirierten Gesang, der einerseits Preis der Gçtter, andererseits sittliche Weisung fr die Menschen ist, werden in der Renaissance aus antiken Quellen entwickelt; gerne beruft man sich dabei auf Strabons Geographica. 950 Gegen Ende der uns interessierenden Periode wird dieses Themenfeld auch bereits in kritischem Vergleich der verschiedenen Quellen miteinander diskutiert.951 Dabei steht die strophische Dichtung, eventuell mit Begleitung eines Instruments wie der Leier, im Mittelpunkt: So gesehen geht es in diesen Darstellungen meist um ein Feld von krzeren Versgattungen im Sinne eines breiten Lyrikbegriffs, wenngleich etwa der ‘Nomos’ manchen heutigen Benutzern des Ausdrucks ‘Lyrik’ Schwierig950 Vgl. Strabon 2002, Bd. 1, Einleitung (18 C, 12 – 32), 42 – 44. 951 Vgl. Anonymus [vor 1588] 1972, 451. Der Anonymus optiert fr einen heiligen Ursprung der Dichtung, vermittelt durch Moses, Noah oder Abraham (ebd., 452).

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keiten bereiten drfte. Wenn auch gelegentlich die Hexameterdichtung einbezogen oder sogar in den Vordergrund gestellt wird, herrscht die ‘Lyrik’ in diesen Erçrterungen jedenfalls quantitativ vor, und so scheint es angemessen, sie hier unter dem Aspekt einer Nobilitierung der Lyrik als Ursprung der Poesie vorzustellen. Dass die frhen Dichter inspiriert singende Zivilisatoren der Menschheit gewesen seien, ist von der Antike bis in die Frhe Neuzeit so etwas wie ein topisches Motiv; der gesetzgebende Aspekt dieser Ttigkeit der Poeten schlgt sich im Allgemeinbegriff der nomischen Dichtung nieder, und auch der philosophische Aspekt ist Gemeinplatz. Im OrpheusMythos kommen die Gedanken der inspirierten Dichtung, der philosophischen Poesie und der Macht der Musik ber die Zuhçrer zusammen; noch Torquato Tasso bezieht sich auf die Rolle des Orpheus als Snger, Dichter und Theologe.952 Die topische Natur dieses Motivkomplexes spricht sicherlich dagegen, einzelnen Ausformulierungen desselben allzu große Originalitt zuzusprechen. Aber dies darf nicht dazu verfhren, die Relevanz des Topos fr die zeitgençssische Literaturtheorie zu unterschtzen – im Gegenteil, denn gerade das allgemein Gewusste ist in hohem Maße prgend fr die Form der Diskurse. Daher gilt es, einige historische Momente kurz nachzuzeichnen, in denen diese Topik hervorscheint. Am wirkmchtigsten hat wohl Marsilio Ficino diesen Topos in verschiedenen Schriften namentlich zum ‘furor poeticus’ ausformuliert. Ficino gibt ihm erwartungsgemß eine neuplatonische Fassung. Irdische Musik und Poesie stehen demnach in einem Analogieverhltnis zu jener himmlischen Musik, die die menschliche Seele vor ihrer Geburt kannte. Diese Vorstellung einer musikalischen Anamnese zehrt auch von pythagoreischem Gedankengut, denn die himmlische Musik, die die Seele in ihrer Prexistenz ‘hçrt’, steht der Harmonie der Sphren nahe. Der durch den ‘furor’ inspirierte Dichter ist von dieser gçttlichen Musik erfllt und kann dadurch sich und die Zuhçrer zum Gçttlichen hindrngen. Symbolfigur dieser Konzeption ist auch bei Ficino Orpheus.953 Ficinos Version wird in der Theorie der Dichtkunst schon frh rezipiert. Eine recht ausfhrliche Ausformung davon, die spter durch den lteren Giraldi ins Cinquecento eingespeist wird, findet sich in Polizians 952 Vgl. Tasso 1964, 253. 953 Dieser Themenkomplex ist in mehreren Schriften Ficinos ausgefhrt, etwa in dem Brief De divino furore an Peregrino Aglio (vgl. hier zur ‘divina musica’: Ficino 1990, 24). Fr Nheres vgl. Huss 2007, 43 f. und 52.

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Dialog Nutricia. Sie ist auch deshalb interessant, weil sie die bei Ficino bereits angelegte Verbindung zwischen der gçttlichen Inspiration des Seher-Dichters und dem (teils pythagoreische Vorgaben entwickelnden) mittelalterlichen Musica-Konzept weiter ausbaut. Dieses stellt eine Analogie her zwischen der Musik des Menschen und der Harmonie des Kosmos; oft spielt noch die Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie hinein, so dass sich Parallelen zwischen der Ordnung des Kosmos, den Proportionen des menschlichen Leibes und den Zahlenverhltnissen der Musik ergeben kçnnen. Philipp Jeserich hat aufgezeigt, dass solche Vorstellungen bis in die Frhe Neuzeit berlebt haben.954 Nach der in Polizians Dialog vorgestellten Fassung dieses Themenkomplexes ist es nun insbesondere das inspirierte Erleben der Himmelsharmonien, das den dichterischen Snger mit Harmonie erfllt und ihn so befhigt, seinen Gesang in dazu analoger Weise harmonisch zu gestalten. Auf der Seite der Wirkungssthetik verleiht dieses Geschehen dem Gesang des Dichters große berzeugungsmacht, die den Zuhçrer bannt. Aber die Verbindung mit der Himmelsmusik hat auch eine inhaltliche Dimension: In der harmonischen Ordnung der Sphren liegt eine sittliche Ordnung beschlossen, die der Gesang des Dichters den Menschen offenbart. Der letztgenannte Vorgang ist dabei keineswegs eine distanzierte Darlegung der Sittengesetze, er ist vielmehr eine Art Zwang – und zwar eben aufgrund der Gewalt der Harmonie, die Form und Inhalt der gesungenen Dichtung zugleich ist: Die mitreißende Macht der harmonischen Musik zivilisiert die vormals raue Menschheit, indem sie diese zum Mitschwingen in der kosmischen ‘musikalischen’ Ordnung bringt.955 Zahlreiche weitere Versionen dieses Topos sind berliefert. Weinberg fhrt etwa Francesco Patrizi, Bischof von Gaeta (nicht zu verwechseln mit 954 Vgl. Jeserich 2008. 955 Vgl. Poliziano 1996, 176 – 181, vor allem die Verse 146 – 198. In den Anmerkungen der zitierten Ausgabe auch Nachweis der Herkunft einzelner Motive, sei es aus Cicero (Somnium Scipionis und Kommentar des Macrobius hierzu) oder aber Lukrez. Zu Nutricia vgl. außerdem das ausfhrliche einschlgige Kapitel in Leuker 1997. Die eigentliche Zivilisationsgeschichte wird bei Polizian unmittelbar vor dem oben erwhnten Abschnitt erzhlt (34 – 138). Auf den Spuren von Lukrez (De rerum natura 5), Cicero (De inventione 1.2), Horaz (Ars poetica 391 – 401 und Sermones 1.3.99 – 114) und Manilius (Astronomica 1.66 – 112) wird berichtet, wie der ursprnglich tierische Mensch durch die Poesie die Gesetze gesitteten Zusammenlebens quasi als Offenbarung erhlt. Die Inspiration der Poesie stellt hier die offenbarten Gehalte bereit, aber sie bewegt auch den Gesang der Dichter so, dass die rohen Menschen (und sogar Tiere) von ihm gezhmt werden und sich beschmt als Wilde erkennen und bessern. Vgl. hierzu auch Paolini 1983.

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dem cinquecentesken Platoniker Francesco Patrizi da Cherso), als Vertreter der an Strabon und Ficino geschulten Auffassung vom Ursprung der Poesie am Ende des fnfzehnten Jahrhunderts an.956 Dass der Dichter von den Anfngen her als erster Philosoph und Zivilisator zu betrachten sei, ist auch die Meinung Lampridios in Bernardino Daniellos Dialog La poetica von 1536.957 Mario Equicola bezieht sich in seiner vor 1525 verfassten, aber erst 1541 publizierten Poetik explizit auf Strabon: Die Griechen htten die Dichtung als „prima Philosophia“ verstanden, und zwar weil sie dachten, che’l mondo tutto constasse di concento, & armania [sic], laquale per le sante Muse, & di quelle Duce Appollo, si nomina, & sotto lor nome tutta la poetica si celebra, chiamandosi le Muse nodo & vincolo delle scientie, & meritamente furono chiamate figliuole di Giove, & della memoria.958

Aufgrund der harmonischen (also zahlenhaften) Struktur des Universums ist die ‘poetica’, die in diesen Harmonien singt, der Knotenpunkt aller Wissenschaften, die ber dieses Universum spekulieren – eine stark pythagoreische Ausformung des Topos. 1545 trgt Lilio Gregorio Giraldi eine vor allem an Polizian orientierte Version dieses Motivkomplexes noch einmal in seiner monumentalen Literaturgeschichte Historiae Poetarum tam Graecorum quam Latinorum Dialogi decem vor. Hier fließen allerdings in noch deutlicherer Weise als bei Polizian platonische und christlich-neuplatonische bzw. ficinianische Elemente ein. So liegt nach Giraldi der Ursprung der Dichtung im Gesang der Engel vor der Schçpfung: Sie verstndigen sich durch Musik und loben zugleich singend den Schçpfer, und zwar wiederum im Einklang mit der Sphrenharmonie.959 Der Mensch ist mit dieser himmlischen Musik auf zweifache Weise verbunden, einmal (pythagoreisch) als harmonisch gebautes Wesen, zum anderen (platonisch) aufgrund der Erinnerung, die er auf Erden an die vor seiner Geburt im Himmel erlebten Harmonien bewahrt.960 Diese beiden Prdispositionen unterwerfen ihn der Macht der Musik, die in diesem Zusammenhang unter anderem mit Hilfe des Ti956 Vgl. Weinberg [1961] 1974, Bd. 1, 252. 957 Vgl. Daniello [1536] 1970, 12 und 15 f. Eine andere Dialogfigur, der Bischof von Fano, fhrt in diesem Text freilich sogleich als Gegenbeispiel die verderbliche Ritterroman-Lektre in Dantes Paolo-e-Francesca-Episode an. Der Bischof von Fano verteidigt hier aber insofern eine schwache These, als die heilsame Einsicht in die Gefhrlichkeit von Literatur in diesem Fall selbst von einem literarischen Text vermittelt wird. 958 Equicola 1541, o.S., Anfang des Haupttextes. 959 Vgl. Giraldi 1545, Dialog 1, 23, 29 f. 960 Vgl. Giraldi 1545, Dialog 1, 23 und 26.

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motheus-Mythos ausgefhrt wird.961 Der Seher-Dichter reißt die Menschen mit und kann sie „a fera agrestique vita ad humanum civilemque cultum pellexere, moresque ac leges constitutis civitatibus dedere“.962 Girolamo Muzio greift 1551 diese Motivik auf, bereichert sie jedoch durch das Element des Tanzes. Zum harmonischen Gesang tritt der Tanz als Analogon der geordneten Bewegung der Himmelskçrper hinzu: […] I buoni padri antichi, Render volendo onore al primo mastro De l’universo […] Cotal concento a tal fine ordinaro, Perch col destro e regolato moto De le piante l’uom tutto si movesse, E la lingua cantando i be’ concetti De l’alme nostre, quelle in dolci giri Degli intelletti lor battesser l’ali; […] E perch ’l movimento in maggior pregio Fosse del Creator, quel fu ordinato A la sembianza del corso dei cieli.963

Auch Minturno schreibt in seinen beiden Poetiken an diesem Topos weiter. In seinem teils Giraldis Ausfhrungen recht nahen lateinischen De poeta wird der gçttliche Ursprung der Poesie beschworen; dabei erscheinen die Lyriker als die ersten Dichter.964 In Minturnos italienischer Arte poetica von 1564 findet sich eine ausfhrliche Ursprungserzhlung, die Elemente der Versionen Polizians und Giraldis aufnimmt: Gott schuf nach Minturnos Auskunft zunchst die ‘Iddij’ (das heißt wohl: die Engel und himmlischen Intelligenzen), und sie dankten ihm dafr durch die geistige Musik der Sphren; dann schuf er die Menschen, und auch sie dankten ihm durch Musik, aber nun die irdische, die zur Sphrenmusik in einem Analogieverhltnis steht.965 Unentschieden bleibt allerdings in diesem zweiten Text, ob die heroische oder die lyrische Poesie zuerst aufgetreten sei, ja nicht einmal deren Scheidung sei fr die Anfnge gesichert.966 961 Vgl. Giraldi 1545, Dialog 1, 24. 962 Giraldi 1545, Dialog 1, 29. Das bei Horaz (Ars poetica 333) angebotene Entwederoder von „aut prodesse […] aut delectare“ wird denn auch aufgrund dieses gewichtigen Auftrags bei Giraldi (Dialog 1, 32) durch ein unkorrektes Zitat zu einem Beides-Zugleich: „Et prodesse volunt & delectare poetae“ heißt es dort. 963 Muzio [1551] 1970, 176. 964 Vgl. Minturno [1559] 1970, 13 – 15 und 378. 965 Vgl. Minturno [1564] 1971, 167. 966 Vgl. Minturno [1564] 1971, 168 f.

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In jedem Falle ist fr Minturno die ‘melische’ Poesie, die er medial definiert (s.u.), eine der Urformen der Dichtung. Sie begreift fr ihn die lyrische, dithyrambische und nomische Dichtung in sich, also thematisch den Lobpreis, das Bacchantische und die Gesetzgebung. Nheres wird in Kap. 2.4 ausgefhrt; an dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass Minturno vor allem die Liebesdichtung als exemplarisches Lob der Tugend und insofern eben als Lobpreis ausweist. Insbesondere im Frauenlob wird nach Minturno nmlich die Tugend gepriesen und dadurch die Hçrerschaft zu solcher Tugend angespornt. Zwar sei die Entwicklung der Lyrik vom Gotteslob zum Preis der Geliebten eine Art Abstieg, aber dieser sei zu verschmerzen, wenn „d’honesto Amore si canti“ wie es Petrarca getan habe, der Gipfel aller Liebesdichtung.967 So kann also in Minturnos Erzhlung die petrarkistische Liebesdichtung als Endpunkt einer Geschichte erscheinen, die in der Sphrenharmonie und der Musik der Engel vor der Erschaffung des Menschen ihren Ausgang nimmt – und in der die Lyrik eine fhrende Rolle spielt. Theoretische Modellierungen der Medialit t von Lyrik. Diese Erzhlungen vom Ursprung der Dichtung im Gesang der Lyriker mssen sich im sechzehnten Jahrhundert der Frage stellen, wie die lyrischen Gattungen sich zur tatschlichen Auffhrungspraxis und mithin zur medialen Erscheinungsweise der Lyrik als eines gesungenen, gesprochenen oder sogar nur gelesenen Textes verhalten. Diese historische mediale Realitt wird in den einzelnen Kapiteln zu den lyrischen Gattungen (Kap. 3.3 und 3.4) dieses Buches je gesondert dargestellt. An dieser Stelle sei daher nur zweierlei resmierend bemerkt: Erstens und einerseits muss man bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein mit improvisierenden und formelgesttzten gesanglichen Wiedergaben auch von solcher Lyrik rechnen, von denen uns keine schriftlich ausformulierte Vertonung vorliegt; die Medialitt von Lyrik (aber auch von Versepik) wird also in der tatschlichen Auffhrungspraxis noch deutlich musikalischer ausgefallen sein als es die uns (ohnehin in Flle) vorliegenden Notentexte suggerieren. Zweitens und andererseits verblasst die musikalische Dimension als Konstituens der Gattungspoetik in der Frhen Neuzeit bei einigen poetischen Formen. Dies ist an den Vernderungen vor allem der Gattungstheorien vom Sptmittelalter zur Hochrenaissance, aber auch in der Praxis ablesbar. 967 Vgl. Minturno [1564] 1971, 171 – 173.

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Im Trecento ist etwa die Ballata noch mit Musik und Tanz versehen, das Madrigal mit polyphoner Musik; die musikalische Natur der Canzone verliert Kontur, whrend das an sich nur gesprochene Sonett improvisierend gesungen werden kann. Bis zum Cinquecento verliert die Ballata das Element des Tanzes und spielt auch in gesungener Form eine untergeordnete Rolle; das Madrigal bleibt polyphon, whrend Sonett und Canzone als lediglich gesprochene Genera gelten. Sie kçnnen freilich unter Ausblendung ihrer Binnengliederung (im Falle des Sonetts: seiner Stollensymmetrie, im Falle der Canzone: ihrer strophischen und ihrer stolligen Natur) quasi an das Madrigal angeglichen und in Madrigalform, das heißt: polyphon und ohne Wiederholungssymmetrien, vertont werden. Nheres dazu, wie gesagt, in den Kapiteln zu den einzelnen Genera. In jedem Fall sind die Verhltnisse im Fluss und nur bedingt mit antiken Vorgaben vergleichbar. Mit dieser dynamischen zeitgençssischen Realitt mssen nun die poetologischen Theorien umgehen – obwohl sie doch in ihrer Anlage meist stark an einer statisch gedachten (vermuteten) antiken Wirklichkeit oder sogar, wie gezeigt, an idealisierten und also ebenfalls in ihrer Vollendung ruhenden mythischen Zustnden ausgerichtet sind. Dies lsst sich besonders gut an Minturnos Arte poetica zeigen, deren Teilhabe am DichterSnger-Topos gerade dargelegt worden ist. Minturno whlt die Auffhrungspraxis als eines seiner drei, einander teils widersprechenden Kriterien fr die Eingrenzung und Binnendifferenzierung der Dichtung: Sie unterscheidet sich erstens von Nicht-Dichtung durch ein breit interpretiertes Mimesisgebot (Nachahmung von Personen und deren ‘costumi’, ‘affetti’ und ‘fatti’); dadurch wird wie bei Aristoteles die Lehrdichtung ausgeschieden.968 Sie ist zweitens definiert und in sich gegliedert als epische, szenische und melische Poesie. Auf dieser zweiten Ebene sind die Darstellungsmittel, nherhin die Medialitt, das differenzierende Element: Die melische Poesie ist durch Musik (einschließlich der Musik der Verse – also keine Prosa) und durch Tanz definiert, jedenfalls im Idealfall.969 Epik ist im Gegensatz dazu Dichtung ohne Musik und Tanz, in Versen oder in Prosa; insofern unterscheidet sich Epik von Lyrik zumindest potenziell durch das bei Aristoteles ausdrcklich irrelevante Verskriterium – aber mçglicherweise ist dies nur eine sekundre Unterscheidung, die die Abwesenheit der ‘Musik der Verse’ als Spielart der Abwesenheit von Musik zulsst (zu dieser Gruppe 968 Vgl. Minturno [1564] 1971, 2 – 4. 969 Vgl. Minturno [1564] 1971, 6.

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gehçren nach Minturno: Epos, Elegie, Bukolik, Epigramm, Hymnus, Terzinendichtung, Oktave, Blankversdichtung, Prosimetrum).970 Die szenische Dichtung ist hingegen doppelt medial definiert, einmal durch die mçgliche, aber nicht durchgngige Verwendung von Musik und Tanz (dadurch nimmt sie eine Mittelstellung zwischen epischer und melischer Dichtung ein), zum anderen und eigentlich durch die Verwendung des Mediums ‘Theater’ (zu ihr gehçren: Tragçdie, Komçdie und Satyrspiel).971 Quer zu dieser medialen Klassifikation auf der Ebene der Auffhrungspraxis setzt Minturno auf der Ebene der Textstruktur drittens auch noch das aristotelisch-platonische Redekriterium an und unterscheidet die Mçglichkeiten „semplicemente narrando“ (der Dichter spricht in eigener Person bzw. erzhlt), „propriamente imitando“ (dramatischer Modus, in dem die Personen sprechen) und „composto“ (eine Kombination aus beidem).972 Die Verwerfungen zwischen diesen Systematiken werden in Kap. 2.4 genauer dargestellt. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, dass sich aus der Kombination der verschiedenen Raster einige fr heutige Begriffe berraschende, nur um den Preis der Aufgabe blicher Verstndnisse von ‘narrativ’ oder ‘dramatisch’ nachvollziehbare Aussagen ergeben: So ist melische Poesie wie Petrarcas Sonette und Canzonen insofern dem narrativen Modus zuzuordnen, als der Dichter in der ersten Person spricht. Dem dramatischen Modus sind natrlich szenische Werke verpflichtet, aber auch Eklogen und sogar Sonette, in denen ein anderer als der Dichter spricht. Die gemischte Form aus Erzhlung und dramatischer Darstellung kann sowohl in epischen als auch in melischen Texten auftauchen, aber nicht in szenischen.973 Minturno gelangt zur folgenden synkretistischen Definition der melischen Poesie: Imitatione d’atti hor gravi & honorati, hor piacevoli e giocondi, sotto una intera e perfetta materia di certa grandezza compresi; la qual dilettevolmente si f con versi non certo semplici & ignudi, ma d’harmonia vestiti & ornati: che 970 971 972 973

Vgl. Minturno [1564] 1971, 3 f. Vgl. Minturno [1564] 1971, 4 f. Vgl. Minturno [1564] 1971, 6. Nheres in Kap. 2.4. Vgl. Minturno [1564] 1971, 6 und 173. Die beiden Raster kçnnen auch zu komplex kombinierten Unterscheidungskombinationen verwendet werden, etwa fr die Epik: Epik arbeitet ohne Musik und Tanz im Gegensatz zur szenischen und melischen Poesie, aber sie unterscheidet sich von der szenischen, indem sie erzhlt, und von der melischen, indem sie dennoch andere Sprecher als den Dichter einfhrt (ebd., 14).

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volentieri e di lor natura con la musica e col ballo s’accompagnano: hor semplicemente narrando, hor altrui  parlare introducendo, hor l’uno e l’altro modo tenendo: affine che parimente diletti, e faccia profitto.974

Aus diesem Konglomerat sei hier nur der mediale Aspekt herausgegriffen: Es gibt eine musikalische Einkleidung der Melik, die per definitionem nicht fehlen darf: die ‘harmonia’ des Verses. Minturno bertrgt hier den Begriff ‘ignudo’, der sich im Mittelalter auf ‘mit oder ohne Melodie’ bezog (vgl. Kap. 3.4), auf die Unterscheidung zwischen ‘versi sciolti’ und ‘rime’. Daneben gibt es eine Medialitt, die tatschliche Musik und sogar Tanz umgreift und durch die Minturno seine Melik gerne charakterisieren mçchte, welche er aber angesichts zeitgençssischer Praxis als fakultativ ausweisen muss. Mit Tanz und Gesang begleiten sich diese Dichtungen laut vorstehendem Zitat „di lor natura“, also eigentlich grundstzlich, aber eben doch nicht immer, sondern nur „volentieri.“ Wie in Kap. 3.3 und 3.4 nher ausgefhrt wird, suggeriert Minturno eine direkte Kontinuitt der antiken getanzten Chorlyrik zur toskanischen Ballata; Canzone und Sonett sind dann gewissermaßen reduzierte Formen, bei denen mit dem Tanz bzw. sogar mit Gesang und Tanz Elemente der Medienkombination der Ballata wegfallen.975 Dies bedeutet, dass die Ballata (eine de facto im Cinquecento weniger gepflegte Gattung) die Vollform der melischen Poesie ist, die (auch in Minturnos System) eigentlich hçherwertige Canzone jedoch eine Schwundstufe derselben. Zu diesem Spagat wird Minturno gezwungen, weil er die Dichtung insgesamt erstens systematisch erfassen will, weil er sie zweitens mit verschiedenen poetologischen Traditionen harmonisieren mçchte, etwa der Hochschtzung der Canzone, und weil er sie drittens und vor allem aus einer Ursprungserzhlung ableiten will, die eine Systematik der Entfaltung hervorbringt. In einer solchen Erzhlung ist jedoch eine von einer gedachten vollkommenen Ausbildung verschiedene gegenwrtige Entwicklungsstufe nur entweder als Vorform oder als Verfallsstadium unterzubringen – was beides nicht in Minturnos Interesse liegen kann. Seine Lçsung besteht zumeist im Rekurs auf bloße Rhetorik und gelehrte Flle; aber in der Einschtzung des Verses als Sprachmusik findet er ein echtes Argument. Damit greift Minturno ein schon bei Dante vorfindliches Motiv auf, das letztlich in Augustins De musica seine erste wirkmchtige Ausformung erfahren hat und als ‘musica naturalis’ das 974 Minturno [1564] 1971, 175 f. 975 Vgl. Minturno [1564] 1971, 170.

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Mittelalter hindurch aktuell war.976 Mag es auch letztlich nicht als wasserdichtes, sondern nur graduelles Abgrenzungskriterium gegenber Versdramatik und Versepik taugen, so bietet es doch eine wichtige Mçglichkeit, auch nicht gesungene Lyrik noch als Musik zu begreifen und also die mediale Definition der Lyrik nicht gnzlich aufgeben zu mssen. Radikaler als bei Minturno wird ein solches Programm der Anknpfung an die Vorstellung der ‘musica naturalis’ bereits einige Jahre zuvor von Giovanni Pietro Capriano in seiner Schrift Della vera poetica umgesetzt. Auch Capriano geht von einer ursprnglich religiçsen Dichtung aus und berichtet von Orpheus als ‘poeta vates’. Aber die Musik dieser Dichtung ist dominant eine Wortmusik.977 Der Dichter ahmt mit dem Rhythmus, der harmonischen oder klanglichen Dualitt von Hoch und Tief sowie mit der Bedeutung der Worte nach; Wortmusik und Semantik sind einander also logisch gleichgestellt. Der Rhythmus wird von Capriano im Sinne der auf Augustins De musica zurckgehenden Tradition der ‘musica naturalis’ als Relation von sprachlichen Lngen und Krzen dargestellt – was allerdings nur auf das Lateinische zutrifft, nicht aber auf das Italienische: Il numero per prima, il quale non altro che tempo numerato per via e con ragion del moto, conci sia che nelle parole dal moto degli organi vocali ne nasce lo spirito e la percossion de l’aere e da questa la voce humana; et perch di queste percossioni alcuna si fa in minor spazio e momento di tempo et alcuna in maggiore, considerandole una rispettivamente all’altra di tempo semplice indivisibile e di doppio per il moto pi tardo et pi veloce de li organi cos naturalmente disposti, ne siegue necessariamente che tutte le prolazioni et cos le sillabe poi siano o longhe o brevi tutte, che proporzionatamente corrispondono al tardo et al veloce. Dissi in ciescuna parola di pi di una sillaba, perci che la unit non si pu propriamente o assolutamente chiamar numero. Da pi di questi numeri congionti attamente insieme ne nasce e ne proviene quello che da’ Greci fu et dimandato ‘ritmo’ nel parlare, il quale in gran parte produce la ‘energia’, che una efficace e viva espressione e rappresentazion di qualche cosa per la accommodata disposizione et applicazion d’essi secondo la natura di quella.978

Wichtig ist, dass hier die ‘musica naturalis’ mimetisch verstanden wird: Der Rhythmus ahmt den Gegenstand nach und macht ihn so dem Rezipienten gegenwrtig. Die Abfolge von Lngen und Krzen kann unterschiedliche Affekte darstellen, „or con numeri concitati, ora rimessi, ora temperati e 976 Vgl. hierzu vor allem Jeserich 2008. 977 Vgl. Capriano [1555] 1970, 319. 978 Capriano [1555] 1970, 320.

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misti, secondo gli diversi costumi, affetti, moti et altri accidenti e nature o qualit delle azioni e delle occasioni e quanto comporta la condizion del poema“.979 Dies gilt schon fr die poetische Rede allein, die bereits eine Art Musik ist. Kommt die ‘cantilena’ dazu, so entsteht nach Capriano eine ‘zweite Musik’, die in mancher Hinsicht der ersten analog ist: So wie die Dichter durch Rhythmus, so imitieren die Musiker durch ‘consonanze’ im ‘chromatischen, diatonischen und enharmonischen Genus’. An dieser die antike Einteilung der Tonsysteme zitierenden Ausdrucksweise zeigt sich (wie schon an der Fixierung auf die Silbenlngen im Vers), dass Capriano grundstzlich von antiken Gegebenheiten ausgeht. Freilich versucht er im gleichen Kapitel, zwischen den antiken musikalischen Modi wie Phrygisch etc. und den modernen ‘aeri’ (wohl den typischen durch Bassfiguren und modale oder rhythmisch-metrische Identitten definierten Arienmustern des Cinquecento) wie „ispano, francese et altri“ eine quivalenz herzustellen, die es ihm erlaubt, die antiken Verhltnisse in den gegenwrtigen wiederzufinden.980 Auch Bernardino Daniello spricht in diesem Sinne von mimetischer Wortmusik als „imitazione […] con numeri, et harmonie“.981 Der Versuch Caprianos, Klang- und Bedeutungsmittel einander gleichgeordnet zu denken, findet außerdem ein Echo in Giulio Corteses Avertimenti nel poetare von 1591. Cortese gibt zunchst eine an Bembo geschulte Anweisung guter Klangwirkungen in der Sprache; dann aber unterscheidet er „suono di concetto“ von „suono […] di voci“, also inhaltlichen und sprachlichen Klang: Inhaltlicher Wohlklang ist eine Art Harmonie im Geist des Lesers, die sich einstellt, wenn das Auszudrckende mit passenden Vorstellungsinhalten verbunden wird. Andernfalls wrde sich eine Disharmonie zwischen dem gehçrten Wort und dem im Inneren des Hçrers aufgerufenen Gedanken einstellen: „Strano sar mentre si pensa una cosa e s’ode risonare un’altra.“982 Semantisches Zusammenpassen wird hier geradezu als Zusammenklang eines ausgesprochenen Wortes und eines implizit aufgerufenen Konzepts betrachtet. Aber diese Tendenzen, die Musik ausschließlich in der Dichtung selbst zu suchen, bleiben nicht unkontestiert. Dass die gesungene Darbietung zumindest theoretisch immer noch als Normalfall des Lyrikvortrags an979 980 981 982

Capriano [1555] 1970, 321. Vgl. Capriano [1555] 1970, 320. Vgl. Daniello [1536] 1970, 25. Vgl. Cortese [1591] 1974, 187.

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genommen wird, zeigt sich etwa in Francesco Patrizis Gebrauch des aristotelischen Terminus ‘psilometr a’ (‘Nacktmetrum’: Poetik Kap. 2) fr jene speziellen Gedichte, die „scompagnati da canto, da armonia e da ritmo“ sind.983 Pomponio Torelli empfiehlt 1594, die dichterische Nachahmung durch musikalische Mimesis zu flankieren; er verweist dabei auf die Einreihung der Musik unter die mimetischen Knste bei Aristoteles. Die Lngen, Krzen, hohen und tiefen Tçne und Silbenzahlen des Verses ahmen nach Torelli fr sich betrachtet nmlich noch nicht nach, sondern sind lediglich Ornament: Ma questa harmonia, che dal numero risulta per conseguenza tanto necessaria che forse per questo ne i Cieli la pose Platone, non diciamo noi che sia posta per immitare, ma teniamo che sia solamente un condimento del verso che lo faccia un parlar soave, come lo chiam Aristotele nella particella 34 dove diffin la Tragedia.984

Nur selten seien die Klanggestaltung oder der Rhythmus der Sprache wirklich mimetisch, das sei Aufgabe der Inhaltsseite; klangliche Nachahmung sei daher durch Vertonung herzustellen. Dies wird streng aus Aristoteles (und nicht etwa durch Beobachtung von Texten und ihren Auffhrungen) begrndet: Weil Aristoteles einerseits die Musik als nachahmend betrachtet, andererseits aber bekanntlich den Vers als fr die Mimesis irrelevant bezeichnet, folgert Torelli, eine klangliche Nachahmung sei in der Lyrik eben nicht durch den Vers zu erreichen, sondern nur durch Hinzufgung von Musik. Gesang ist fr Torelli, hnlich wie fr Minturno, idealtypisch notwendig fr die Lyrik, so wie neben der theatralischen Auffhrung der Gesang auch fr die Tragçdie nçtig sei (hier geht er ber Minturno etwas hinaus) – „come la Tragedia ha bisogno dello stesso [sc. canto] e del Theatro per recitarsi“.985 Damit nimmt Torelli bereits an den berlegungen der neunziger Jahre des sechzehnten Jahrhunderts teil, ob nicht die Tragçdie gesungen werden sollte; dazu gleich. Torelli hlt sich in seiner weiteren Darstellung der Medialitt von Lyrik (vgl. zum argumentativen Kontext Kap. 2.5) eng an Minturno, wenn er ausfhrt, der Tanz sei zwar wegge983 Patrizi 1970, 95. Abramov-van Rijk 2009, 61 f. weist auf die (angesichts der Tatsache, dass Aristoteles’ Poetik im Mittelalter im Westen nicht bekannt war) wohl zufllige semantische Nhe dieses Begriffs zu dem Oppositionspaar ‘nudo’ – ‘vestito’ hin, das im 14. Jahrhundert den Unterschied zwischen einem unvertonten und einem vertonten Gedicht markierte (und das Bembo spter im Zusammenhang mit seiner Theorie der Ballata umdefinierte – vgl. Kap. 3.4). 984 Torelli [1594] 2008, 654. 985 Torelli [1594] 2008, 659.

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fallen und insofern sei die zeitgençssische Lyrik vielleicht eine etwas reduzierte Form („non perfetta“), aber der Gesang bleibe ‘differentia specifica’ der Lyrik. Zwar kçnne auch der Epiker singen, aber das sei nur Zutat „per avivar la voce“, whrend dies bei der Lyrik „per necessit del Poema“ der Fall sei.986 Wie in Kap. 2.5 ausgefhrt wird, versucht der Trattato della poesia lirica fr die Lyrik eine eigene Version der aristotelischen Katharsis zu etablieren, nmlich im Sinne einer Reinigung des Affekthaushalts. Die Zuhçrer sollen insbesondere von Exzessen des Affekts durch dessen lyrisch-musikalische Mimesis purgiert werden.987 Damit wird Torelli in doppelter Weise zu einem Vordenker der Oper: Er betrachtet die Tragçdie, wie gesagt, als gesungene Form und er sieht in gesungener Dichtung ein Mittel der Nachahmung von Affekten, die die Zuhçrer mitvollziehen kçnnen – mit dem Ziel einer Katharsis; der affektische Sologesang ist in der Tat die wichtigste musikalische Zutat der frhen Oper. Will die Musik sich freilich zur Tragçdie aufschwingen, so muss sie selbst dem hohen, erhabenen Stil angenhert werden. Das Problem, dass Musik dazu tendiere, allzu ungemischt das Gefllige und Weichliche und mithin einen abgesenkten Stilwert zu realisieren, diskutiert bereits Tasso im Zusammenhang mit der Lyrik. In seinem Dialog ber die toskanische Poesie, La Cavaletta, fordert er im Sinne des dort verfolgten Stilideals der bembistischen Mischung von ‘gravit’ und ‘piacevolezza’ (vgl. Kap. 2.6) eine edlere Kunstmusik, die antike Standards wieder erreichen kçnne; dies erhofft sich der Forestiero Napoletano von Musikern wie Striggio, Giaches de Wert und Luzzasco Luzzaschi: F.N.: Dunque lasciarem da parte tutta quella musica la qual degenerando divenuta molle ed effeminata, e pregheremo lo Striggio e Iacches e ’l Lucciasco e alcuno altro eccelente maestro di musica eccelente che voglia richiamarla a quella gravit da la quale traviando spesso traboccata in parte di cui pi bello il tacere che ’l ragionare. E questo modo grave sar simile a quello che Aristotele chiama dorist , il quale magnifico, costante e grave e sopra tutti gli altri accomodato a la cetera. O.C.: Cotesto non mi spiace; ma pur niuna cosa scompagnata da la dolcezza pu essere dilettevole. F.N.: Io non biasimo la dolcezza e la soavit, ma ci vorrei il temperamento […].988 986 Torelli [1594] 2008, 659. 987 Torelli [1594] 2008, 660. 988 Tasso 1958, 668.

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Diese ‘Temperierung’ ist das Problem der sich kurze Zeit spter herausbildenden Oper. Es wurde anfangs schon angedeutet, dass der gewisse Widerspruch zwischen der Hochschtzung der gesungenen Lyrik als Ursprung der Poesie sowie ihrer faktischen Leitfunktion einerseits und ihrer mittleren Position in der Hierarchie der Stile andererseits sich im Projekt der Oper an der Wende zum 17. Jahrhundert scheinbar auflçst: Die melische Poesie, die gesungene Dichtung, auch der damit verbundene Gedanke der Macht der Musik ber die Affekte (exemplifiziert an den Mythen von Orpheus und Timotheus) finden ihren Weg in den Versuch einer Rekonstruktion der antiken (und durchaus aristotelisch gedachten) angeblich durchgngig gesungenen Tragçdie; dabei steigert der generalbassbegleitete Sologesang den Vortrag zu vormals ungeahnter expressiver Qualitt. Das Projekt ‘Oper’ verspricht, der theoretisch postulierten orphischen Macht der musikgesttzten Dichtung zum praktischen Durchbruch zu verhelfen und sie mit der Leitgattung Tragçdie zu verbinden; dadurch scheint diese Kluft zunchst geschlossen. Sie bricht jedoch in einem zweiten Schritt wieder auf, denn die tatschlichen Umsetzungen des Plans einer gesungenen Tragçdie sind keine Tragçdien, sondern Pastoralen, und zwar nicht zuletzt, weil man den ‘lyrischen’ Gesang nicht fr tragçdienfhig hlt: Kçnige singen keine Arien (nur Hirten und, aus ganz anderen Grnden, Gçtter kçnnen dies), und die canzonettenhaften Verstexte, die zunchst den Arien zu Grunde liegen, entsprechen nicht dem hohen Stil der Tragçdie. Dazu kommt, dass lngst nicht alle Teilnehmer an der musikdramaturgischen Diskussion von der Mçglichkeit der Musik berzeugt sind, die von Tasso geforderten ernsten Tçne zu erreichen, wenngleich die Verfolgung dieses Ziels eine der Haupttendenzen der Musik des Frhbarock ist.989 In der Tat kçnnte man die frhe Pastoraloper mit ihrer Kombination von potenziell pathetischem Rezitativ und den weitgehend anmutigen Canzonetten der Chçre und kleinen Arien zwar als Realisierung des von Tasso fr die Lyrik wie fr die Musik geforderten ‘temperamento’ be989 Vgl. etwa Doni [ca. 1639] 1969, 203, wo erstens behauptet wird, die Komponisten htten jene Melodie noch nicht gefunden „che veramente convenevole a’ soggetti gravi, e maestosi“, und zweitens darauf hingewiesen wird, die Pastorale, die „di soggetti amorosi e con stile fiorito e soave“ abgefasst sei, drfe deshalb und aufgrund der musiknahen Sprechform der arkadischen Hirten auch durchgehend gesungen werden – „se gli potesse concedere di avere la melodia in tutte le sue parti, massime perch la musica era naturale e la favella quasi poetica“. Zum Kontext der Musikdramaturgie des Frhbarock gibt es eine Flle von Literatur; herausgegriffen seien Palisca 1968 und Lindenberger 1980.

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zeichnen, aber eben deshalb gerade nicht als Umsetzungen eines einheitlich tragischen Stils. Die in der Theorie angezielte Versçhnung der Ansprche hoher gesungener Dichtung und tragischer Poesie scheitert an fr den Manierismus typischen Verwerfungen innerhalb einer Pluralitt gleichzeitig gltiger gattungspoetischer Normen. Erst die metastasianische Opera Seria wird diese Konflikte in gewisser Weise lçsen kçnnen.

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